Wie viele Gesichter hat die Souveränität?: Beiträge eines deutsch-italienischen Kolloquiums in der Villa Vigoni, Loveno di Menaggio 17.5. – 19.5.2022 [1 ed.] 9783428589784, 9783428189786

Der Band versammelt die Beiträge eines deutsch-italienischen Symposiums, das im Mai 2022 in der Villa Vigoni stattfand.

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Wie viele Gesichter hat die Souveränität?: Beiträge eines deutsch-italienischen Kolloquiums in der Villa Vigoni, Loveno di Menaggio 17.5. – 19.5.2022 [1 ed.]
 9783428589784, 9783428189786

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 203

Wie viele Gesichter hat die Souveränität? Beiträge eines deutsch-italienischen Kolloquiums in der Villa Vigoni, Loveno di Menaggio 17.5. – 19.5.2022

Herausgegeben von

Fernando D’Aniello und Verena Frick

Duncker & Humblot · Berlin

FERNANDO D’ANIELLO und VERENA FRICK (Hrsg.)

Wie viele Gesichter hat die Souveränität?

Beiträge zur Politischen Wissenschaft

Band 203

Wie viele Gesichter hat die Souveränität? Beiträge eines deutsch-italienischen Kolloquiums in der Villa Vigoni, Loveno di Menaggio 17.5. – 19.5.2022

Herausgegeben von

Fernando D’Aniello und Verena Frick

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany

ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-18978-6 (Print) ISBN 978-3-428-58978-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der vorliegende Band versammelt die Beiträge eines deutsch-italienischen Gesprächs zum Thema „Wie viele Gesichter hat die Souveränität?/Quante facce ha la sovranità?“, das von 17. bis 19. Mai 2022 in der Villa Vigoni, dem Deutsch-Italienischen Zentrum für den Europäischen Dialog in Loveno di Menaggio am Comer See, stattgefunden hat. Wir möchten uns zunächst bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bedanken, dass sie unserer Einladung gefolgt sind und sich auf den interdisziplinären Dialog zwischen Politik-, Rechts- und Geschichtswissenschaft sowie Philosophie eingelassen haben. Die Beiträge dieses Bandes zeugen von der enormen Furchtbarkeit dieser interdisziplinären Perspektive. Die Villa Vigoni ist der ideale Ort für eine Auseinandersetzung über politische und juristische Begriffe aus verschiedenen Disziplinen und insbesondere aus der deutsch-italienischen Perspektive. Unser besonderer Dank gilt daher der Villa Vigoni und insbesondere Frau Dr. Christiane Liermann Traniello, die dieses Gespräch ermöglicht hat, für die großartige Unterstützung während der Planung und Vorbereitung des Gespräches. Für die enge Zusammenarbeit während seiner Realisierung danken wir allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Villa Vigoni, insbesondere Frau Sandra Bruni, Herrn Dr. Roberto Luppi, Frau Clara Mutton, Frau Aglaia Pimazzoni, Frau Veronica Ponti und Herrn Dr. Matteo Scotto. Zum Gelingen nicht minder beigetragen hat auch die Fritz Thyssen Stiftung, die die Tagung sowie die Veröffentlichung des vorliegenden Sammelbandes großzügig unterstützt hat, auch dafür unser herzlicher Dank. Für die Formatierung und Vorbereitung der Beiträge für den Druck danken wir außerdem Frau Camila Gabriel und Herrn Philipp Tubbe. Wir hoffen, dass unser deutsch-italienisches Gesprächsformat nicht episodisch bleibt, sondern vielmehr das erste in einer langen Reihe ist – eine Reihe der bilateralen Studien zwischen Deutschland und Italien, die selbstverständlich auch in einer langen und bedeutenden Tradition steht. In diesem Sinn hoffen wir, unseren „Generationenbeitrag“ in der Tradition der wissenschaftlichen deutsch-italienischen Beziehungen hiermit zu leisten. Napoli/Göttingen, im Mai 2023

Fernando D’Aniello, Verena Frick

Zum Geleit Das Thema der Souveränität steht (wieder) ganz oben auf der Agenda von Politik, Recht, Wirtschaft. Es beschäftigt die Staaten Europas auf allen denkbaren Ebenen: von der Wahlabstinenz des Souveräns, welche die gesamte Konstruktion von Demokratie nach westlichem Modell in Frage stellt, bis zu dem Wunsch, für die einzelnen europäischen Staaten und die Union insgesamt Verfügungsgewalten zurückzugewinnen, die sie einst besaßen, die sich aber irgendwie verflüchtigt hatten und lange Zeit von kaum jemandem vermisst worden waren. Die Villa Vigoni bietet der Auseinandersetzung mit dem ebenso klassischen wie hochaktuellen Thema der „Souveränität“ eine Plattform, denn hier ist ihr Wesenskern als binationales Zentrum angesprochen, das den deutsch-italienischen Dialog in einer europäischen Perspektive entfaltet und zugleich analysiert. Wie werden die großen Grundbegriffe der Politik und des Rechts in den politischen Kulturen der beiden Länder dekliniert? Welche Rolle spielt die Wiederkehr beziehungsweise die Neuerfindung von Souveränitätsvorstellungen in Deutschland und in Italien für Europa? Im Mai 2022 konnte in der Villa Vigoni nach schmerzhafter covidbedingter Abstinenz endlich wieder ein deutsch-italienisches Kolloquium in Präsenz stattfinden, das die Frage, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir von „Souveränität“ sprechen, zuspitzte: Wie viele Gesichter hat die Souveränität? Exzellente junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich auf der Grundlage ihrer eingereichten Problemskizzen an dem Treffen beteiligt. Tatsächlich schien ja die drastische Frage „Wer entscheidet?“, „Quis judicabit“ gewissermaßen altbacken und überholt in Zeiten kommunikativer, paritätischer Konsenssuche. Aber die schweren Belastungen der zurückliegenden Jahre und der Gegenwart des Jahres 2023 haben die Figur des Entscheiders aufgewertet. In der Vielfach-Krise aus Klimawandel, Pandemie und russischem Krieg erscheint die Rückeroberung von „Souveränität“ als notwendiges Antidot gegen Abhängigkeit und Fremdbestimmtheit, in gesundheitspolitischer, energie- und sicherheitspolitischer, geostrategischer und militärischer Hinsicht, um nur die aktuell drängendsten Handlungsfelder zu nennen. Tatsächlich steht die Gegenwart im Zeichen der Überzeugung, dass es früher irgendwie mehr Souveränität gab und dass sich die Akteure nicht nur traditionelle Hoheitsattribute wie militärische Ausstattung und Entscheidungsgewalt zurückholen sollten, sondern dass neue souveräne Ermächtigungen hinzukommen und auf neue Felder ausgeweitet werden müssten, zum Beispiel auf eine Politik zur Verhinderung der Klimakatastrophe.

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Für diese lebhafte Debatte mit einem Ausgang, der angesichts der fluiden globalen Kräftekonstellationen völlig offen ist, bietet der vorliegende Band hervorragende Denkanstöße. Besonders zu danken ist der Fritz Thyssen Stiftung, die von Anfang an von der Dringlichkeit der Fragestellung überzeugt war und das deutsch-italienische Kolloquium großzügig unterstützt hat. Verena Frick und Fernando D’Aniello danke ich herzlich für die großartige Arbeit, die sie mit der Konzeption und Organisation des Kolloquiums im Deutsch-Italienischen Zentrum für den Europäischen Dialog Villa Vigoni und mit der Veröffentlichung der Beiträge geleistet haben und leisten. Ihr Buch markiert einen wichtigen Fortschritt in den Debatten um „Souveränität“, indem es auf der Pluralität der Bedeutungen von „Souveränität“ beharrt. Es zeigt: Die wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch die Praxis von Politik, öffentlicher Rede und Rechtsprechung beziehen sich oft auf ganz unterschiedliche Ideale und Zielvorstellungen, wenn sie von „Souveränität“ sprechen. Das macht diesen Begriff, dieses Konzept so attraktiv für eine Vielzahl von Projektionen und Erwartungen, beginnend bei der Frage, wer überhaupt Träger/Inhaber von „Souveränität“ sein kann, bis zu der Frage, welche unverzichtbaren Bestandteile und Bedingungen gegeben sein müssen, um „Souveränität“ für sich reklamieren oder jemandem zuschreiben zu können. Der Umgang mit einer solchen begrifflichen Uneindeutigkeit bildet das „täglich Brot“ der Villa Vigoni. Ihre Mission ist es, das universale Potential politischer und juridischer Leitkonzepte zu ergründen, ohne die Diversität der Kulturen, aus denen sie stammen und in denen sie aktiv umgesetzt werden, zu negieren. Das ist ein „work in progress“, ein ständiges Experimentieren an der Schnittstelle von politischer Praxis und Wissenschaft, auf das sich die Fritz Thyssen Stiftung im Falle von „Wie viele Gesichter hat die Souveränität?“ dankenswerterweise eingelassen hat. Den Ausgangspunkt des Buchs bildet die Spannung zwischen nationalen (Verfassungs-)Gerichten und der europäischen Ebene. Hier steht insbesondere das Bundesverfassungsgericht im Zentrum der fachlichen und öffentlichen Aufmerksamkeit. Seine Urteile werden bekanntlich konträr und oft polemisch ausgelegt: Sehen die einen in ihm das letzte Bollwerk gegen den Brüsseler Leviathan, betrachten es die anderen als juristisch verbrämte Stimme des deutschen Nationalismus, der sich der europäischen Integration und Solidarität widersetzt. Das alte „Quis judicabit?“; wem gebührt der Vorrang? wer hat das letzte Wort? wird hier dramatisch und medienwirksam zugespitzt. Die Beiträge zeigen aber – nicht nur am Beispiel der Verfassungsgerichtsbarkeit – dass „Souveränität“ auch weniger monolithisch verstanden werden kann, als man es oft tut. Souveräne Gestaltungsspielräume können ausdifferenziert und abgestuft werden. Allerdings wird auch deutlich, dass damit die Frage nach der verbindlichen Letztentscheidung nicht verschwindet, und dass hieraus eine typisch europäische Dauerspannung erwächst. Die europäische Methode, die sich die Villa Vigoni als „VigoniMethode“ zu eigen gemacht hat, legt es nahe, darauf nicht mit dem Versuch der Zer-

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schlagung des gordischen Knoten zu reagieren, sondern Lösungen immer wieder neu auszuhandeln, ohne diese mit sakralem Ewigkeitswert auszustatten. Andreas Vosskuhle zeigt am Beispiel des großen Alcide De Gasperi, dass europäische Einheitsbildung und Vielfaltssicherung zumindest zusammen gedacht, wenn auch nicht immer reibungslos in die Praxis umgesetzt werden kann. Ein gemeinsamer Nenner der Aufsätze scheint mir folgerichtig in dem Plädoyer zu liegen, dass die Europäer diese Dialektik eben aushalten müssen, ja, dass sie sie sich am besten aktiv zu eigen machen. Darin könnte eine neue Form von europäischer Souveränität liegen, und daher ist es der große Wunsch der Villa Vigoni, dass dieses von den Verfassungen und Verfassungsgerichten ausgehende „Souveränitätsgespräch“ eine deutsch-italienisch-europäische Fortsetzung findet. Christiane Liermann Traniello Generalsekretärin des Deutsch-Italienischen Zentrums Villa Vigoni

Inhaltsverzeichnis Fernando D’Aniello und Verena Frick Wie viele Gesichter hat die Souveränität? Zur Idee eines Italienisch-Deutschen Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Souveränität zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtsstaatlichkeit Edoardo Caterina La rappresentazione della sovranità nei dibattiti costituenti italiani e tedeschi del secondo dopoguerra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alessandra Di Martino Souveränität und Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive. Zugleich Bemerkungen zu Verfassungsidentität und Verfassungskulturen . . . . . . . . . . . . .

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Martin Nettesheim Souveränität – rechtlicher Kampfbegriff in politischen Machtkonflikten . . . . . .

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Maria Daniela Poli Der Souveränitätsbegriff im Dialog der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Giorgio Ridolfi Sovranità e Rechtsstaatlichkeit nella prospettiva del Tribunale costituzionale federale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Filomena Medea Tulli La sovranità degli Stati tra immunità dalla giurisdizione e tutela dei diritti fondamentali . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Johann Justus Vasel Vom unsouveränen Umgang mit der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Andreas Voßkuhle „In Vielfalt geeint“ – eine „Ode an die Quadratur des Kreises“ . . . . . . . . . . . . . 201

II. Perspektiven des Staats- und Souveränitätsbegriffs Eva Marlene Hausteiner Staatenverbund und Desintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Isabel Hilpert Nationale Souveränität im europäischen Grenzregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

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Gennaro Imbriano Stato e sovranità. Lineamenti di una storia concettuale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Barbara Lippert Die neue Debatte über die europäische Souveränität der EU – eine Skizze . . . . 267 Marcus Llanque Souveränität als ideenpolischer Akt: Selbstermächtigung zum Handeln mit Anspruch auf Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Olimpia Malatesta Wilhelm Röpke und das Problem der Souveränität in Europa. Eine Kritik der Massen und der Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Anna Meine Souveränität und Freiheit. Zu Status und Beziehungen politischer Ordnungen in der europäischen Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Eva-Maria Schäfferle Wer gehört zum Volk? Eine Rekonstruktion der Unionsbürgerschaft im Lichte gegenwärtiger Boundary Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Villa Vigoni – Call for Papers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Wie viele Gesichter hat die Souveränität? Zur Idee eines Italienisch-Deutschen Gesprächs Von Fernando D’Aniello und Verena Frick

I. Einleitung Als der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle im Mai 2020, noch in der ersten Welle der Covid-19-Pandemie, das Urteil zur Verfassungsbeschwerde gegen die Pläne der Europäischen Zentralbank (EZB), das sog. PSPP-Urteil,1 verlas, betonte er, dass die Entscheidung des Gerichts nur für die bereits verabschiedeten Pläne der EZB galt, nicht aber für die noch zu ergreifenden Maßnahmen gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie.2 Diese Erläuterung war gewiss nicht notwendig, aber sie zeigte, wie sehr sich die Verfassungsrichter der historischen Dimension ihrer Entscheidung und deren Auswirkungen in Europa bewusst waren. Tatsächlich geschah es zum ersten Mal, dass das Bundesverfassungsgericht eine europäische Maßnahme für in Deutschland nicht anwendbar hielt und somit den deutschen Institutionen, insbesondere der Bundesbank, verbot, die Pläne der EZB umzusetzen.3 Für die Entscheidung bemühten die Richter die im sog. Beschluss Solange I4 von 1974 entwickelte juristische Formel, nach der die bundesdeutsche Rechtsordnung sich dem europäischen Recht öffnet, die beiden Rechtsordnungen aber nicht in einem hierarchischen Verhältnis stehen. Daher ist die Öffnung der nationalen Rechtsordnung nicht unbeschränkt. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht keine Kompetenz, die Gültigkeit der europäischen Normen zu überprüfen, sehr wohl aber deren 1

BVerfGE 154, 17 (PSPP-Programm der EZB). Vgl. die Pressemitteilung des Gerichtes Nr. 32/2020 vom 5. Mai 2020: https://www.bun desverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-032.html (abgerufen am 13. 03. 2023). 3 Die Radikalität der Entscheidung war aber von der Gelegenheit, die Maßnahmen ex post zu rechtfertigen, sehr gemildert. Es ist genau das passiert als der Bundestag am 2. Juli 2020 einen Antrag mit großer Mehrheit zugestimmt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat auch einen Antrag für eine Vollstreckungsanordnung abgelehnt, die die Beschwerdeführer des Falles PSPP vorgelegt hatten, weil sie die vom Bundestag geführte Maßnahme als unzureichend hielten, vgl. Beschluss des Zweiten Senats vom 29. April 2021 – 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15 – Rn. (1 – 111), http://www.bverfg.de/e/rs20210429_2bvr165115.html. 4 BVerfGE 37, 271. 2

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Anwendbarkeit in Deutschland. Obwohl der Solange-I-Beschluss für Diskussionen in Deutschland wie in Europa sorgte, sollte es 46 Jahren dauern, bis Karlsruhe mit diesen Worten und in diesem Sinne eine europäische Norm für „nicht anwendbar“ erklärte. Nur wenige Monaten vor dem Beschluss (im Dezember 1973) war die italienische Corte costituzionale zu einem ähnlichen, wenn auch nicht identischen Urteil gekommen. Das italienische Verfassungsgericht hat damals ausdrücklich „die Selbstständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung gegenüber der innerstaatlichen Rechtsordnung (Entscheidung Nr. 98 aus 1965)“ wieder betont, aber auch die Bedeutung des Gerichts der Gemeinschaft für die „Rechtmäßigkeitskontrolle über die normativen Akte des Rates und der Kommission“ anerkannt. Daher war eine direkte Kontrolle der einzelnen Verordnungen durch das italienische Verfassungsgericht ausgeschlossen. Die Sprache der Corte costituzionale war schon damals diplomatischer als die des Bundesverfassungsgerichts, zugleich hatte die Corte jedoch auch ein gewisses Verständnis für die vom Bundesverfassungsgericht gestellte dogmatische Frage erkennen lassen: „Es ist offensichtlich, daß falls dem Art. 189 eine so abwegige Auslegung gegeben werden sollte [die dazu führen sollte, die Grundprinzipien der italienischen Verfassungsmäßigen Ordnung oder die Menschenrechte zu verletzen], bei dieser Annahme immer die Garantie der Rechtskontrolle durch dieses Gericht über die fortdauernde Vereinbarkeit des Vertrages mit den vorerwähnten Grundprinzipien gewährleistet wäre“.5 Die PSPP-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 bildete den Anlass für das italienisch-deutsche Gespräch Wie viele Gesichter hat die Souveränität?, das von 17. bis 19. Mai 2022 in der Villa Vigoni, Lovenio di Menaggio, stattgefunden hat. Das Urteil hat die Diskussion über das Wesen des europäischen institutionellen Projekts und die Rolle der verschiedenen Akteure, die zu seiner Weiterentwicklung beitragen sollen, erneut befeuert. Deutlich wird daran nicht zuletzt, wie prekär die europäische Institutionenordnung noch immer ist und wie sehr sie von nationalen Alleingängen und bilateralen Rechtsprechungsallianzen, die zudem andere Gerichte zur Nachahmung animieren könnten, herausgefordert werden kann. Zugleich lässt sich gerade an diesem Urteil ein charakteristisches Merkmal der gegenwärtigen europäischen Verfassung erkennen, deren Entwicklung einer Vielzahl von Akteuren und Institutionen anvertraut ist und die daher von einem höheren Maß an Pluralismus und Friktionen gekennzeichnet ist, als es der um Vereinheitlichung und Konsistenz bemühte Europäische Gerichtshof glauben machen will. Doch abgesehen von rechtspraktischen Fragen der Autonomie, Heteronomie, Hierarchie und Heterarchie im Verhältnis von europäischem und nationalem Recht verweisen die entlang der Frage des Vorrangs nationalen oder europäischen 5 Corte costituzionale sentenza 183/73, deutsche Übersetzung in Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 2, 1975, S. 311. Nach der Zeitschrift stand diese Entscheidung der Corte costituzionale im Widerspruch mit der Entscheidung Solange I des Bundesverfassungsgerichts.

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Rechts geführten Verfassungskonflikte auf die tieferliegende Frage, welche Bedeutung (nationale) Souveränität in einem Mehrebenen- oder Verbundsystem eigentlich hat bzw. noch haben kann. Sind die Verfassungskonflikte Ausdruck der Persistenz der Souveränitätsidee und beobachten wir gegenwärtig sogar ihre Renaissance? Oder hat sich Europa im Gegenteil längst von der Idee der Souveränität verabschiedet und sind die Konflikte eher Rückzugsgefechte einzelner nationaler Akteure, die sich (noch) weigern, dies zur Kenntnis zu nehmen? Gibt es jenseits der Diagnosen vom Ende bzw. der Renaissance der Souveränität auch vermittelnde Positionen, Souveränität unter den Bedingungen europäischer Interdependenz zu denken? In welcher Weise sind die Antworten auf diese Fragen selbst von nationalen Denk- und Entwicklungspfaden beeinflusst? Diese Fragen standen im Zentrum unserer italienisch-deutschen Diskussion, die darauf zielte, in interdisziplinärer Perspektive die nationalen, europäischen, rechtlichen, ideengeschichtlichen und politiktheoretischen „Gesichter der Souveränität“ zu erhellen. Ausgehend von der Karlsruher Rechtsprechung und ihrer Rezeption in Italien stand eine grundsätzliche Vergewisserung über das Konzept der Souveränität im Mittelpunkt der Tagung. Dabei ging es weniger darum, die Vereinbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit europäischem Recht und der europäischen Rechtstradition zu prüfen, als vielmehr die verfassungsgerichtlichen Urteile als Ausdruck von und Bezugspunkt für politische Selbstverständigungsprozesse über das Konzept (nationaler) Souveränität in Europa zu verstehen. Das verdeutlichen nicht zuletzt die zahlreichen „Gesichter der Souveränität“, die uns in der tagespolitischen Debatte begegnen: So ist etwa die Rede von strategischer Souveränität, digitaler Souveränität, Energiesouveränität, ökonomischer Souveränität oder militärischer Souveränität. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie auf die variantenreiche Semantik des Souveränitätsbegriffs verweisen.

II. Souveränitätskonflikte im (europäischen) Recht Spätestens seit seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon (2009) hat das Bundesverfassungsgericht nicht aufgehört, Tempo und Bedingungen der deutschen Teilnahme am europäischen Integrationsprozess durch eine Rechtsprechung mitzugestalten, die gewiss viel kritisiert wird,6 aber konsequent fortfährt, Ultra-vires- und Identitätskontrolle nicht als Bremse der Integration einzusetzen, sondern vielmehr dazu, die Beziehungen zwischen den europäischen Institutionen und denen der Mit6 Vgl. exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Daniel Halberstam/Christoph Möllers, The German Constitutional Court says „Ja zu Deutschland“, German Law Journal, 8, 2009, S. 1241; Monika Polzin, Verfassungsidentität. Ein normatives Konzept des Grundgesetzes?, Tübingen, 2018. Für die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie ihre Folgerung vgl. die Aufsätze in Andreas Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichte, Berlin, 2021.

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gliedstaaten, in diesem Falle der Bundesrepublik, normativ zu erläutern und zu klären. Es sei auch daran erinnert, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner PSPPEntscheidung eine neue Stufe in seinem schwierigen Dialog mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erreicht hat, indem es die Entscheidung des EuGH, dem es die Pläne der EZB vorgelegt hatte, um deren Kompatibilität mit den Gründungsverträgen der EU zu überprüfen, als ultra vires bezeichnete. Diese Entscheidung des EuGH wurde von den Karlsruher Richtern als nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich bezeichnet, eine gewiss nicht diplomatische, aber wohl rhetorisch notwendige Ausdrucksweise, um einen Akt als ultra vires zu qualifizieren.7 Dadurch wurde die Auseinandersetzung weiter angefacht, in Deutschland wie in Europa, so dass sich nun, laut Meinung der Kritiker, wieder die Frage stellt, wer in Konflikten zwischen EU-Recht und nationalem Recht das letzte Wort behält. Heinrich August Winkler hat die Entscheidung so kommentiert: „Mit dieser beispiellosen Rüge trat das Bundesverfassungsgericht dem Anspruch des Luxemburger Gerichtshofs entgegen, in Fragen der Auslegung von EU-Recht unter allen Umständen und in jedem Fall das für alle Mitgliedstaaten verbindliche letzte Wort zu behalten“.8 Plakativ ausgedrückt: Es geht hier um die Frage nach der souveränen Kompetenz, der KompetenzKompetenz.9 In seinem Kommentar zu dem Urteil wenige Tage später sprach Sabino Cassese vom guinzaglio tedesco (der deutschen Leine) – einem Bild, das zwei Interpretationen zulässt: So mag diese „Leine“ einerseits als Bremse des Integrationsprozesses erscheinen, andererseits aber auch als Versuch, diesen Prozess aus einer nationalen Perspektive zu lenken und anzuführen, zudem noch einer deutschen.10

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BVerfGE 126, 286 – 331. Heinrich August Winkler, Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen, München, Beck, 2020, S. 229. 9 Man kann in der Pressemitteilung des EuGH (n. 58/2020) lesen: Um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu wahren, ist nur der zu diesem Zweck von den Mitgliedstaaten geschaffene EuGH befugt, festzustellen, dass eine Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht versto¨ ßt. Meinungsverschiedenheiten der mitgliedstaatlichen Gerichte über die Gültigkeit einer solchen Handlung wären nämlich geeignet, die Einheit der Unionsrechtsordnung aufs Spiel zu setzen und die Rechtssicherheit zu beeinträchtigen. Vgl. https://curia.eu ropa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-05/cp200058de.pdf. 10 Sabino Cassese äußerte sich sehr kritisch über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über Europa. Schon 2009, als er die Entscheidung Lissabon kommentierte, schrieb er, dass er die Entscheidung: „für selbstverständlich hält, dass sich eine echte Demokratie nur in einem Staat vollzieht und mit dem parlamentarischen System entspricht […]“ und noch mit einer Anspielung, die den Karlsruher Richter nicht gefallen würde, aber auch Zustimmung in der deutschen Wissenschaft gefunden hat und er hielt fest: „Carl Schmitt muss als Herkunft der Entscheidung betrachtet werden“, vgl. Sabino Cassese, L’Unione europea e il guinzaglio tedesco, Giornale di diritto amministrativo, 2, 2009, S. 1003. Die Meinung Casseses über die Entscheidung 2020 findet sich in Fonda sovranista a Berlino, Il foglio, 19 maggio 2020, S. 1, Übersetzungen der Verf. 8

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Tatsächlich sahen bereits andere in der EU-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem Maastricht-Urteil (1993) einen Versuch, dem Integrationsprozess ganz bestimmte Grenzen zu setzen, das Bundesverfassungsgericht also zu einer Art „Metronom“ der europäischen Einigung zu machen. So wurde einerseits mit der Ultra-vires- und Identitätskontrolle und deren Ableitung aus dem Grundrecht auf Demokratie der deutschen Bürgerinnen und Bürger klargestellt, dass die aktuelle Fassung des Grundgesetzes einen direkten Übergang in eine europäische Föderation ausschließt. Es sei hier nur kurz angemerkt, dass manche Kritiker darin eine Referenz auf ein sehr spezielles Souveränitätsverständnis der Bundesrepublik wie schon der Weimarer Republik erkennen, konkret der an Carl Schmitt orientierten Staatslehre. Andererseits hat die deutsche bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung dazu geführt, dass das Bundesverfassungsgericht über diese neue Terra incognita wacht und die Entscheidungen anderer Verfassungsorgane, etwa des Bundestags und der Bundesregierung, überprüft. Ohne Frage kann daher die juristische ebenso wie die politologische Diskussion nicht daran vorbeigehen, den bei der Ausarbeitung der europäischen Rechtsordnung von Juristen sowie insbesondere den Verfassungsrichtern geleisteten Beitrag in den Blick zu nehmen. Jenseits der verhärteten Positionen, die typischerweise nach der Veröffentlichung von Entscheidungen vorherrschen, scheinen gemäßigtere Töne zuzunehmen, die eine ruhigere Bewertung ermöglichen.11 Dann zeigt sich, dass die Instrumente der Ultra-vires- und der Identitätskontrolle dazu dienen können, ein institutionelles Verfahren normativ zu bestimmen, nach dem europäische und nationale Institutionen – im Besonderen der EuGH und, in Deutschland, das Bundesverfassungsgericht – zusammenarbeiten, um das Risiko einer Verletzung des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung zu umgehen. Gerade die Entscheidung vom Mai 2020 zeigt, dass dieser Dialog nicht im rechtsleeren Raum geführt wird, der das immerhin mögliche Risiko eines Zusammenbruchs der politischen und juristischen Einigungsprozesse mit sich brächte. Ganz im Gegenteil erfolgen diese Prozesse auch mit Hilfe der gewiss manchmal komplexen Vermittlung der Gerichtshöfe, die in der Geschichte der EU stets zu wichtigen Akteuren wurden, wenn die politische Initiative schwächelte. Mit dem Verfassungsgerichtsverbund wurde sogar eine institutionelle Ebene für diesen Dialog eingeführt. Dieser soll nicht dazu dienen, politischen Kompromisse zu finden, sondern Grundlagen für eine gemeinsame und europafreundliche Hermeneutik schaffen, die die schärfsten Konflikte neutralisiert und eben durch die Stärkung der Idee einer europäischen Rechtsgemeinschaft verhindert, dass diese sich zu einem Zusammenbruch der Union auswachsen könnten.

11 Vgl. zum Beispiel Ulrich Haltern, Revolutions, real contradictions, and the method of resolving them: The relationship between the Court of Justice of the European Union and the German Federal Constitutional Court, International Journal of Constitutional Law, 19, 2021, S. 208.

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So gesehen ließe sich der Vorstellung eines „souveränen“ Gerichts damit widersprechen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Gegenteil für eine Vervielfachung und Vervielfältigung der Akteure sorgt, die zur Entwicklung der Einigung beitragen, und damit die Konzentration auf ein einziges nationales oder europäisches Subjekt vermeidet, dem die Aufgabe zukäme, die kontinentale Souveränität zu vertreten, zu repräsentieren und hochzuhalten.12 Bei den derzeitigen Schwierigkeiten der Politik, einige kritische Schwellen des Einigungsprozesses zu überwinden, könnte dieser zum Teil institutionalisierte Verfassungsgerichtsverbund für eine gewisse Stabilität sorgen und sogar juristische Instrumente anbieten, die geeignet sind, die Einigung zu vertiefen, vielleicht in Form einer ever closer cooperation anstelle einer ever closer union. Es geht somit nicht darum, die Selbständigkeit der europäischen Rechtsordnung in Frage zu stellen und sie den staatlichen Rechtsordnungen unterzuordnen, sondern darum, ihre Komplexität zu begreifen bzw. die Unmöglichkeit, sie auf ein Modell der Entwicklung zu reduzieren, wie sie die (europäischen) Nationalstaaten erfuhren, deren Funktionen und Institutionen durch zunehmende Zentralisierung entstanden. Und damit nicht die Diskussion wiederzueröffnen, ob postnationale oder übernationale Zusammenschlüsse in der Lage sind, das notwendige Zugehörigkeitsgefühl unter ihren Rechtsgenossen zu erzeugen, wie es den Nationalstaaten gelang. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Widerstände gegen den Einigungsprozess wachsen, wie sich bereits 2005 zeigte, als der Vertrag über eine Verfassung für Europa von zwei Volksabstimmungen gekippt wurde. In dieser Hinsicht könnte die Kritik an den Verfassungsgerichten die Politik und die nationalen Regierungen dazu anregen, nicht nur oder nicht so sehr weitere Schritte in Richtung der institutionellen und juristischen Einigung zu unternehmen, sondern vielmehr gemeinsame Projekte in strategischen Bereichen zu entwickeln, angefangen bei Verteidigung und Sicherheit, Umweltschutz und Digitalisierung. Nicht unterschätzt werden darf auch, dass die massive Kritik am Bundesverfassungsgericht vielfach auf der Idee einer (vermeintlichen oder realen) Verteidigung nationaler Interessen beruhte, was Casseses Leinen-Metapher – wahrscheinlich unabsichtlich – auch zum Ausdruck bringt. Insbesondere wurde die Gefahr der Aushöhlung beschworen, die der europäischen Rechtsordnung drohen könnte, wenn weitere nationale Verfassungsgerichte den Primat des EuGH in Frage stellen, wie es in den letzten Jahren etwa das polnische Verfassungsgericht tat. Mit anderen Worten: Eine nationale Grenzziehung für das europäische Projekt auf der Grundlage der jeweiligen Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten – wie sie im Übrigen auch der EU-Vertrag (Art. 4 Abs. 2 AUEV) vorsieht, allerdings eher im Sinne einer zu achtenden Tradition, denn als normative Grenze des Integrationsprozesses – könnte dazu führen, dass weitere Staaten und Verfassungsgerichte ähnliche Ansprüche formulieren könnten, 12 Wir sind uns vollkommen bewusst, dass die Meinungen und die Einschätzungen über diese Rechtsprechung sich unterscheiden. Vgl. hierzu die Aufsätze von Maria Daniela Poli, Giorgio Ridolfi, Martin Nettesheim und Justus Vasel in diesem Band.

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deren Tätigkeit sich jedoch weit weniger europafreundlich gestaltet als in Karlsruhe, so dass die europäische Rechtsordnung insgesamt in Frage gestellt würde. Die Kritiker sind sich darin einig, dass diese Entscheidung aus Karlsruhe auch als Wiederkehr der nationalen Souveränität interpretiert werden muss, zumindest in dem Sinne, als dass sie der noch zu definierenden europäischen Souveränität eine Grenze setzt. Ebenso einig ist man sich darin, dass die Entscheidung die Zentralität des Bundesverfassungsgerichts unterstreichen soll, das zumindest in der Auslegung der deutschen Rechtsordnung superiorem non recognoscens. Vor diesem Hintergrund wird kritisiert, dass europäische Staatlichkeit und mit ihr eine europäische Souveränität verunmöglicht wird, da sie nie in der Lage sein würde, den Wettstreit mit den nationalen Souveränitäten zu gewinnen. Allerdings hat sich auch die italienische Corte costituzionale, jenseits der bekannten Auseinandersetzung mit dem EuGH in den Fällen Taricco13, für ihr Urteil von 2014 in einem sehr komplizierten, jahrealten Fall (der privatrechtlichen Entschädigung italienischer Zivilisten für die Verbrechen des Dritten Reichs im Zweiten Weltkrieg14) explizit auf die sogenannte Theorie der Controlimiti („Gegengrenzen“) berufen und ihr Urteil damit begründet. Diese Controlimiti – den Begriff findet man nicht in der Verfassung, er wurde von der Rechtswissenschaft geprägt und von der Rechtsprechung erstmals 2014 benutzt – dienen dazu, die Grundsätze und Grundrechte der italienischen Verfassung zu schützen, die von keinen externen Normen, unabhängig von deren Ursprung oder Rang, eingeschränkt werden dürfen.15 Diese Theorie erkennt das Zusammenwirken einer Pluralität von Rechtsordnungen an, bestreitet jedoch im Falle der EU-Rechtsordnung deren bedingungslosen Vorrang vor 13 Mit den Fällen Taricco I und II ist ein sehr langer Dialog zwischen der Corte Costituzionale, manchen italienischen Gerichten und dem EuGH über Grundrechte und noch genauer den Kern der italienischen Verfassung sowie die sog. Gegengrenze, Controlimiti, gemeint. Manchmal wird Taricco in der wissenschaftlichen Literatur auch als spezifisches Beispiel zur Haltung des Bundesverfassungsgerichts in der Rechtsprechung Europa genannt. Vgl. u. a. Marius Gappa, Der Schutz der mitgliedstaatlichen Verfassungsidentität im Unionsrecht anhand der „Taricco Saga“: C-105/14 (Taricco u. a.) und C-42/17 (M.A.S. u. a. – „Taricco II“), ZEuS 4/2020, S. 641; Giovanni Piccirilli, The ,Taricco Saga‘: the Italian Constitutional Court continues its European Journey, European Constitutional Law Review, 14/2018, S. 814. 14 Corte Costituzionale sentenza 238/2014. Zur Entscheidung und ihrer Folgen vgl. den Beitrag von Filomena Medea Tulli in diesem Band. Über die Frage der Reparationen aus einer historischen Perspektive: Filippo Focardi/Lutz Klinkhammer, Il ritorno del passato: la „riscoperta“ dei crimini nazisti e la riapertura della questione degli indennizzi per le violenze nazionalsocialiste, in: Monica Fioravanzo/Filippo Focardi/Lutz Klinkhammer (Hrsg.), Italia e Germania dopo la caduta del Muro. Politica, cultura, economia, Roma, 2019, S. 85 – 118. 15 An dieser Stelle seien daher nur einige Beispiele genannt: Pietro Faraguna, Ai confini della Costituzione. Principi supremi e indentità costituzionale, Milano, 2015; Massimo Luciani, I controlimiti e l’eterogenesi dei fini (a proposito della sent, Corte cost. n. 238/2014), in: Scritti in onore di Gaetano Silvestri, Torino, 2016, S. 1261, auch online auf Questione giustizia, 1/2015. Und noch Alessandro Bernardi (Hrsg.), I controlimiti. Primato delle norme europee e difesa dei principi costituzionali, Napoli, 2017, in diesem letzten Fall ist die Einleitung von Bernardi sehr hilfreich..

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der nationalen Rechtsordnung, um ihren nicht zur Disposition stehenden Kern zu schützen. Es besteht somit eine Grenze für die Einführung europäischer Normen in die italienische Rechtsordnung. Wir wollen hier keinen Vergleich zwischen dem Vorgehen der beiden Verfassungsgerichte anstellen (der gewiss nicht in einer Einleitung abgehandelt werden kann, weil er nicht nur die Unterschiede zwischen den beiden Gerichten, sondern auch deren völlig unterschiedliches Gewicht im institutionellen und politischen Gleichgewicht der beiden Länder berücksichtigen müsste16). Vielmehr ist hervorzuheben, dass die Auseinandersetzung auch jenseits der spezifisch juristischen Mechanismen, auf die sie sich bezieht, eine ganze Reihe von Begriffs- und Anwendungsunterschieden zwischen den beiden Ländern aufruft. Auch Casseses Leinen-Metapher bezieht sich auf das Vorhandensein einer nationalen Komponente, die den Integrationsprozess abzubremsen oder zumindest zu lenken versucht („Das Bundesverfassungsgericht hatte im Sinn, die Union dauerhaft unter Kontrolle zu stellen und sich selbst ein ,droit de regard‘ vorzubehalten.“17). Mit einem Wort: Die Souveränität des Staates oder, wie andere noch präziser meinen, des Bundesverfassungsgerichts. Eine Souveränität, die sich durch zwei Aspekte ausdrückt, die sie dogmatisch seit jeher kennzeichnen: Nämlich den Anspruch auf a) den Ausschluss jeglicher anderen Befugnisse (in diesem Fall des Europäischen Gerichtshofs) und b) uneingeschränkte Befugnisse. Tatsächlich stellt die vom Bundesverfassungsgericht beanspruchte Kompetenz nicht nur die Frage nach dem Verhältnis zwischen der nationalen und der europäischen Rechtsordnung, sondern auch, innerhalb des Verfassungsstaates, die zwischen Parlament und Verfassungsgericht. Und das nicht nur aufgrund des Demokratiebegriffs, den Karlsruhe in den letzten Jahren – insbesondere im Lissabon-Urteil – entwickelt hat, sondern auch infolge der immer massiveren Einmischung der Verfassungsgerichte in das Leben der einzelnen Staaten. Doch die kritische Metapher von Sabino Cassese, der allerdings mit ähnlichen Worten ein Urteil der italienischen Corte costituzionale von 2014 kritisierte, führt noch zu einem anderen Punkt, und zwar der „schleichenden Entfremdung“ zwischen Italien und Deutschland.18 Denn bei aller Ähnlichkeit der beiden Verfassungstraditionen stieß der Aktivismus des Bundesverfassungsgerichts in Italien, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Presse, auf Ablehnung oder höchstens auf ein ge16

Vgl. Armin von Bogdandy/Davide Paris, Building Judicial Authority: A Comparison Between the Italian Constitutional Court and the German Federal Constitutional Court, MPIL – Research Paper Series No. 2019-01, verfügbar online. 17 S. Cassese, Fonda sovranista a Berlino, S. 2, Übersetzung der Verf. 18 Gemeint ist hier der bekannte Ausdruck Gian Enrico Rusconis, mit welchem jener den kritischen Zustand der Beziehungen zwischen Italien und Deutschland beschrieb, vgl. Gian Enrico Rusconi/Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.), Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer, München, 2009. Darüber kann man auch lesen: Angelo Bolaffi, Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise, Stuttgart, 2014.

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wisses Maß an Respekt auf Grund seiner Fähigkeit, seiner Fähigkeit, die nationalen Interessen Deutschlands zu wahren19. Spätestens damit ist indes die Diskussion über das Verfassungsrecht hinaus eröffnet und setzt eine ganze Reihe von Streitfragen im deutsch-italienischen Verhältnis wieder auf die Tagesordnung: die Zukunft der europäischen Einigung, die sture Umsetzung der Fiskalregeln, den (aus italienischer Perspektive) Widerwillen Deutschlands gegen jeglichen Kompromiss bei der Reform der EU-Verträge und nicht zuletzt die (aus deutscher Perspektive) Unfähigkeit Italiens, Ordnung in seinen Staatshaushalt zu bringen.

III. Zur Renaissance des Souveränitätsbegriffs In diesem Kontext fand das deutsch-italienische Gespräch statt, das den Anlass für die hier veröffentlichten Beiträge bildet, insbesondere im Bewusstsein der Bedeutung einer Frage, die über die Grenzen des konkreten Falls – die Pläne der EZB und generell die Probleme des EU-Einigungsprozesses – hinausreicht und die Notwendigkeit einer Diskussion über Wesen und Entwicklung des Souveränitätsbegriffs neu stellt.20 Denn eine der möglichen Ursachen, die die notorische „Entfremdung“ 19 Viel komplexer und bunter ist die wissenschaftliche Diskussion. Nur zum Beispiel kann man auf die folgenden kritischen Beiträge verweisen: Paolo Ridola, Stato e costituzione in Germania, Torino, 2021, S. 168; Luigi Cavallaro, Una sentenza memorabile, Bari, 2021; Pietro Faraguna, Il Bundesverfassungsgericht di fronte all’Unione europea: l’egemone non riluttante, in: Giorgio Repetto/Francesco Saitto (Hrsg.), Temi e problemi della giustizia costituzionale in Germania, Napoli, 2020, S. 191; Agostino Carrino, Una corte „nazionalista“? Il Bundesverfassungsgericht tedesco tra sovranità e ,patriottismo costituzionale‘, in: ders., Il suicidio dell’Europa. Sovranità, Stati nazionali e „grandi spazi“, Modena, 2016; Cesare Pinelli, La giurisprudenza costituzionale tedesca e le nuove asimmetrie fra i poteri dei parlamenti nazionali dell’eurozona, in Costituzionalismo.it, 1 (2014) (on-line). Die Rechtswissenschaft hat sehr darauf geachtet, die Komplexität der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu erfassen, die Lage stellte sich in der öffentlichen Debatte gänzlich anders dar: Repubblica, eine der wichtigsten italienischen Zeitungen, kommentierte ihre Finanzbeilage mit der Überschrift: Un giudice a Berlino per sistemare Karlsruhe (Ein Richter in Berlin, um Karlsruhe zurechtuweisen), 11 Mai 2020, S. 8. 20 In den letzten Jahren erschien eine Reihe von Beiträgen, die die verschiedenen Aspekte beleuchten, den Begriff und seine Aktualität klären und Souveränität dogmatisch re-intepretieren, zum Beispiel: Diego Quaglioni, La sovranità, Roma-Bari, 2004; Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität, Tübingen, 2007; Dieter Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin, 2009; Paul W. Kahn, Political Theology. Four new chapters on the concept of Sovereignty, New York, 2011; Richard Bellamy, A European Republic of States. Cosmopolitanism, Intergovernmentalism and Democracy in the EU, Cambridge, 2019; Carlo Galli, Sovranità, Bologna, 2019; Luigi Ferrajoli, La costruzione della democrazia. Teoria del garantismo costituzionale, Roma-Bari, 2021; Oliver Eberl (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatlichkeit: Intermediäre Organisation und Räume demokratischer Selbstgesetzgebung, Baden-Baden, 2022; Christian Volk, The Problem of Sovereignty in Globalized Times, in Law, Culture and the Humanities, 18 (3), 2022 , S. 716 – 738. Siehe dazu auch die

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wenn nicht hervorruft, so doch zumindest verschärft, liegt gerade im unterschiedlichen Umgang mit dem Begriff der Souveränität in den beiden Ländern: Deutschland mit seiner bundesstaatlichen, föderalen Tradition und Italien als ausgeprägt zentralistischer Staat. Diese normative Perspektive war in den letzten dreißig Jahren durch eine oft schroffe Debatte geprägt, deren Auf und Ab von der konkreten Entwicklung des europäischen Projekts beeinflusst wurde, man denke nur an die Debatten im Zusammenhang mit dem Vertrag über eine Verfassung Europas Anfang der 2000er Jahre. Ein weiterer Indikator besteht in der Debatte, die sich aus den Reaktionen auf die Urteile des Karlsruher Gerichts ergab. Jürgen Habermas hob mehrfach die Notwendigkeit einer Konstitutionalisierung Europas hervor, gegen diese These wiederum wandte sich Dieter Grimm, der die Form des Nationalstaats für unumgänglich und nicht einfach durch moderne Demokratietheorie ersetzbar hält. Eine ähnliche Debatte fand auch in Italien statt, insbesondere über den europäischen Verfassungsprozess und seine Grenzen, und sie war ebenso geprägt von all den Krisen, die es seit dem Scheitern des Verfassungsprojekts 2005 und vermehrt seit 2008 zu bewältigen galt. Es ist daher kein Zufall, dass in den letzten Jahren die Bemühungen zunahmen, diesen Verfassungsübergang als einen Prozess mit offenen Ausgang zu begreifen: Wieder einmal – denn wird von ihm [dem Verfassungsübergang] wie auch von verhandelter, geteilter, demokratischer und sogar einer bereits verschwundenen Souveränität gesprochen, so entstammt diese Wortwahl der langen Geschichte des Verfassungsbegriffs. Zu diesem theoretischen Bemühen um eine Kodifizierung der gegenwärtigen Situation hat sich eine politische Diskussion der Souveränität im Sinne einer Rückgewinnung nationalstaatlicher Macht gesellt: Der Brexit mit seiner vereinfachenden Vorstellung einer größeren Entscheidungsfreiheit (We take back control) ist dafür sinnbildlich geworden, bei den Analysten ebenso wie bei den auf dem gesamten Kontinent immer weiter verbreiteten politischen Bewegungen, die die Kritik an supranationalen Institutionen einschließlich der Europäischen Union zum Inbegriff ihres Angebots gemacht haben. Die „Wiederkehr“ der Souveränität ruft ein größeres begriffliches Feld auf, in dem der Souveränitätsbegriff stets eine zentrale Rolle gespielt hat und dessen Begriffe (Staat, Nation, Staatsbürgerschaft, Regierung, Volk) sich gegenseitig beeinflussen. Neben der normativ-funktionalen und der politikwissenschaftlichen ist in unserem Austausch daher auch die Perspektive der Begriffs- und Ideengeschichte vertreten.21 Wenn also wiederkehrt, was Hans Kelsen das „Dogma der Souveränität“ nannte und Luigi Einaudi in der Assemblea Costituente als „Mythos für die Aktion“ definierte, und die Rechtswissenschaft ebenso wie Politikwissenschaft und Philosophie nicht Vorlesung von Mario Draghi an der Bologna Universität: La sovranità in un mondo globalizzato, 2019, online auf der Internetseite der EZB. 21 Siehe dazu insbesondere die Beiträge von Marcus Llanque, Anna Meine und Eva Hausteiner in diesem Band.

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in der Lage scheinen, darauf zu verzichten, ist es das Gebot der Stunde, über das Wesen dieser Souveränität und die Verwendung des Begriffs in der Vergangenheit nachzudenken. Auch weil das semantische Feld der Souveränität unmittelbar auf das des Staates und auf die Beziehung zwischen den beiden verweist: eine Verbindung, die, wenn wir an den europäischen Einigungsprozess denken, die Frage ihrer Weiterentwicklung oder endgültigen Entsorgung aufwirft22. Dieses Ziel kann unserer Meinung nach nur aus einer interdisziplinären Perspektive in Angriff genommen werden – ebenso wie die Analyse der Entscheidungen der nationalen Verfassungsgerichte nicht nur Aufgabe der juristischen Dogmatik sein kann. Zunächst, weil es politische Fragen sind, mit denen sich die Verfassungsgerichte in ihrer Rechtsprechung zu Europa auseinandergesetzt haben: allein in seinem Lissabon-Urteil hat sich das Bundesverfassungsgericht mit den Begriffen der Demokratie, der Staatsbürgerschaft und den Theorien des Parlamentarismus beschäftigt. Zweitens wollen wir jenseits der Karlsruher Perspektive aufzeigen und diskutieren, wie der Souveränitätsbegriff in unterschiedlichen, teils nicht kodifizierten Formen und Bereichen wiederkehrt. Carlo Galli schreibt völlig zu Recht: „Mit der Souveränität wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen Einheit und Pluralität, Politik und Wirtschaft, Politik und Recht, Norm und Ausnahme, Ordnung und Individuum, Politik und Raum, Krieg und Frieden, Staat und Föderation, Identität und Kosmopolitismus verhandelt.“23 Es geht also darum, Instrumentarien und Kategorien zu entwickeln, die geeignet sind, einen Begriff zu analysieren, dessen Vielschichtigkeit es gebietet, den Partikularismus der Disziplinen zu überwinden. So erklärt sich auch unsere Entscheidung, bereits im Titel des Gesprächs und dieser Aufsatzsammlung den Plural Gesichter zu verwenden. Noch etwas muss erklärt werden, nämlich die binationale, deutsch-italienische Natur dieses Gesprächs. Natürlich könnte diese Diskussion auf europäischer Ebene geführt werden oder sogar darüber hinaus: Schließlich geht es um einen Begriff, der nicht nur für die politische Geschichte dieser beiden Länder entscheidend war. Und tatsächlich bietet die zunehmende Internationalisierung der Sozialwissenschaften, der Disziplinen und auch der Studiengesellschaften zahlreiche Gelegenheiten, Veranstaltungen und Debatten auf multinationaler Ebene zu planen. In unserem Fall wollten wir aber nicht nur verschiedenen Disziplinen, sondern den Verfassungstraditionen zweier Länder, die zahlreiche Ähnlichkeiten, aber auch große Unterschiede aufweisen, eine Bühne bieten. Deutschland und Italien werden oft unter die Kategorie der verspäteten Nationen gefasst, da beide Länder erst Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Einigung erlangten; nicht zu unterschlagen ist zudem die tiefere Verbindung durch die gemeinsame, wenn auch unvollendete Erfahrung als Teile des Heiligen Römischen Reichs. Doch auch wenn in diesem Bild ei22 Siehe dazu die Beiträge von Eva Maria Schäfferle, Barabara Lippert und Gennaro Imbriano in diesem Band. 23 C. Galli (Fn. 20), Sovranità, S. 8, Übersetzung der Verf.

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niges an Wahrheit steckt, vor allem in den oft herausgearbeiteten historischen Verbindungen,24 erscheint es produktiver, sich den Unterschieden zu widmen, die zu den Schwierigkeiten beitragen, ein gemeinsames Verständnis des Souveränitätsbegriffs zu entwickeln. Die Geschichte der italienischen Einigung beginnt im Kampf gegen lo straniero („den Fremden“, also die Österreicher) und in der Verhandlung mit der Macht des Papstes, die aber nach der französischen Niederlage 1870 mit Gewalt beendet wird. Von Anfang an zeichnet sich der italienische Staat durch einen ausgeprägten Zentralismus nach französischem Vorbild aus; die ersten zögerlichen Versuche, eine föderalistische Struktur einzuführen, müssen (für die nächsten 100 Jahre!) zurückgestellt werden, als in Süditalien eine Revolte ausbricht, die die Legitimität des Staates selbst in Frage zu stellen droht. Christian Dippler hat es treffend zusammengefasst: „Italien – das war bei der Gründung, aber noch auf Jahrzehnte hinaus ein Nationalstaat ohne Nation, Deutschland dagegen eine Nation auf der Suche nach ihrem Staat.“25 Genau diese Suche hat die deutsche Geschichte geprägt, von der multinationalen Dimension des Kaiserreichs bis zur föderalistischen Struktur der Weimarer Republik.26 So verfügt Deutschland über eine größere Flexibilität in der Analyse mehrschichtiger Systeme und auch bei dem Versuch, normative Antworten auf gegenwärtige Fragen zu finden – das zeigt sich etwa an dem Begriff der Kompetenz-Kompetenz, der sich kaum ins Italienische übersetzen lässt, da der Begriff an sich in Italien fehlt27. Das Ziel des Gesprächs bestand also darin, Wissenschaftler nicht nur verschiedener Disziplinen, sondern aus zwei ähnlichen aber auch völlig unterschiedlichen Verfassungstraditionen zu versammeln, um gemeinsam eine Grammatik für die Formulierung und Benutzung eines historisch so tief verwurzelten Begriffes zu entwickeln wie der Souveränität, die unauflöslich mit der Verfassungs- und politischen Tradition der Nationalstaaten verbunden ist. Dieses italienisch-deutsche Gespräch will daher nur der erste, notwendige Schritt auf einem Weg der Annäherung in den Souveränitätsvorstellungen verschiedener Disziplinen der beiden Länder sein. 24

Nur als Beispiel: Rusconi, Cavour e Bismarck. Due leader fra liberalismo e cesarismo, Bologna, 2011. 25 Christof Dipper, Ferne Nachbarn. Vergleichende Studien zu Deutschland und Italien in der Moderne, Kohl, Weimar/Wien, 2017, S. 102 26 Dieter Langewiesche, Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte, Stuttgart, 2020. 27 Hans Kelsen hat schon die Bedeutung der föderalen Staaten gezeichnet, um die Niederlage des Souveränitätsbegriffs zu zeigen: „Die Vereinigten Staaten von Amerika, die Schweiz, das Deutsche Reich sind Staaten, die durch die Verbindung von Staaten entstehen, ohne daß diese al Glieder des neuen Staates die Würde und den Rang von Staaten aufgeben wollen“, vgl. H. Kelsen, Souveränität, Die Neue Rundschau, 4/1929, S. 433 – 446 (444).

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Das ist der Grund, warum unser Gespräch eine unzweifelhaft politische Dimension anstrebt, und zwar im Sinne des Versuchs, wenigstens etwas der schleichenden Entfremdung zwischen Deutschland und Italien entgegenzusetzen, die in der politischen Berichterstattung immer nur noch weiter vorangetrieben zu werden scheint: „Sachliche Argumente vermischten sich dabei mit moralisierendem Pathos, was durchaus noch in der aktuellen politischen Debatte – man denke an die europäische Wirtschafts- und Flüchtlingskrise, wo südeuropäische Regierungen nicht selten vom Berliner Mainstream abweichende Meinungen vertreten! – Spuren hinterlässt“.28 Eine Überwindung oder zumindest Begrenzung dieser Entfremdung erscheint aber als auch für die Zukunft des europäischen Projekts notwendiger Schritt. Der Versuch ist nicht neu: Schon Benedetto Croce schrieb, als er an den Ersten Weltkrieg erinnerte, und zwar zu einer Zeit (im Dezember 1943), als die deutsche Wehrmacht in Italien Massaker beging, die das Land bis zum Ende des Krieges in Blut tauchen sollten, über die Beziehungen der beiden Länder: „Die Waffen hatten entschieden, wie sie entschieden hatten; die Diplomaten und die Politiker hatten einen widersprüchlichen Frieden gebastelt, der auf allen Seiten wankte; ich hoffte aber, dass die gegenseitige Kenntnis, die Wiederaufnahme der Forschung sowie des Nachdenkens, ein neues Europa sowie eine klügere Politik reifen konnten“29. So versuchen auch wir, unseren eigenen und hoffentlich originellen Beitrag zu einer sehr langen Tradition des Dialogs zwischen den beiden Ländern zu leisten, auch wenn diese eine (manchmal unvermeidliche) widersprüchliche Dimension aufweist. Als wir gerade mit der Planung einer „üblichen“ wissenschaftlichen Veranstaltung begonnen hatten, hat der russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine diese Debatte mit einem Mal auf eine andere Ebene gehoben, eine ebenso neue wie „traditionelle“ Ebene: Die Souveränität des Volkes zeigte sich wortwörtlich in seinem Widerstand gegen den russischen Versuch, der Ukraine ihren Status als Staat und Nation abzuerkennen. Plötzlich kehrt der Begriff der Souveränität, über dessen Notwendigkeit oder Schwinden das gesamte „kurze Jahrhundert“ über gestritten wurde, in seiner radikalen Materialität wieder. Bundeskanzler Olaf Scholz hat von einer Zeitenwende gesprochen: Wenn das so ist, mag es nicht als scholastisches Divertissement erscheinen, wieder über die Geschichte, Verwendung, die Grenzen und Möglichkeiten dieses Begriffes nachzudenken, der die gesamte politische Moderne des Westens geprägt hat und noch nicht an sein Ende gelangt zu sein scheint.

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Klaus Bergdolt, Kriminell, Korrupt, katholisch? Italiener im deutschen Vorurteil, Stuttgart, 2018, S. 20. Der Autor bezieht sich insbesondere auf die Deutschen aber wir gehen davon aus, dass die Idee verallgemeinert werden darf. Siehe dazu den Beitrag von Isabel Hilpert in dem Band. 29 Benedetto Croce, Il dissidio spirituale della Germania con l’Europa, Scritti e discorsi politici (1943 – 1947), Bd. I, Napoli, 1993, S. 148, Übersetzung der Verf.

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IV. Konzeption des Bandes Inhaltlicher und begrifflicher Bezugspunkt der hier versammelten Beiträge ist das Konzept der Souveränität, das gegenwärtig eine Renaissance in der politischen Debatte erfährt. Als begrifflicher und analytischer Rahmen ist der Souveränitätsbegriff deswegen besonders geeignet, weil es sich um einen Brückenbegriff handelt, der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen als Referenzpunkt dient und zudem ein Begriff der politischen ebenso wie der wissenschaftlichen Sprache ist. Wie alle politischen Begriffe zeichnet sich auch der Souveränitätsbegriff durch seine wesentliche Umstrittenheit aus. Mit Walter Gallie kann man ihn als „essentially contested concept“30 verstehen, dessen semantischer Gehalt nicht eindeutig festgelegt werden kann, sondern vielmehr wesentlicher Bestandteil eines wechselvollen umkämpften Deutungsprozesses in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft ist.31 Schon allein aufgrund dieser begrifflichen Eigenschaften lassen sich daher anhand des Souveränitätskonzepts das spannungsreiche Wechselverhältnis von wissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis reflektieren sowie gesellschaftspolitische Transformationsprozesse gleichsam seismographisch verfolgen und problematisieren. Dem gehen die Beiträge in diesem Band nach. Dabei folgt der Band einer groben Zweiteilung: Der erste Teil versammelt Beiträge, die die verfassungsrechtlichen Deutungskämpfe um den Souveränitätsbegriff in den Blick nehmen, während die Beiträge des zweiten Teils Perspektiven des Souveränitätsbegriffs für das Projekt der Europäischen Einigung ausloten. Den Anfang macht Edoardo Caterinas verfassungsgeschichtlicher Beitrag, der den Bedeutungsgehalten des Souveränitätsbegriffs in den Verfassungsdebatten des Parlamentarischen Rates nachspürt. Er unternimmt den Versuch, die deutsche Diskussion mit der italienischen und insbesondere mit den Beiträgen von Piero Calamandrei und Giorgio La Pira für eine pluralistische Vorstellung der Souveränität sowie für eine besondere Beziehung zwischen der nationalen und der internationalen Rechtsordnung zu vergleichen. Nicht zufällig betont Caterina dabei die Beziehungen von Calamandrei und La Pira zu dem Rechtshistoriker Francesco Calasso, der 1945 ein Buch veröffentlicht hatte, das eine bedeutende Rolle in der italienischen wissenschaftlichen Diskussion haben sollte, I glossatori e la teoria della sovranità: studio di diritto comune pubblico, Die Glossatoren und die Theorie der Souveränität: Studie für öffentliches Gemeinschaftsrecht. Danach folgen Beiträge, die insbesondere die Tradition des Souveränitätsbegriffs in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts analyiseren: Martin Nettesheim geht in seinem Beitag der Funktionalität des Souveränitätsbegriffs in der bundesverfassungsgerichtlichen Urteilsbegründung nach. Ausgehend von der These, dass der Souveränitätsbegriff eine Positionierung des jeweiligen Trägers in Machtkonflikten impliziert, wird die Funktionalität des Souveränitätsbegriffs insbesondere darin ge30

Walter Bryce Gallie, Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society, Vol. 56, 1956, S. 167 – 198. 31 Vgl. Gerhard Göhler/Matthias Iser/Ina Kerner, Politische Theorie: 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, 2. Aufl., Wiesbaden, 2011.

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sehen, Akteure von der Rechtfertigungsnotwendigkeit ihres Handelns zu befreien. Gerade in dieser Funktion verschwinde der Souveränitätsbegriff, so die Diagnose Nettesheims, in Deutschland jedoch zunehmend aus dem Verfassungsrecht. Auch Johann Justus Vasel konzentiert sich in seinem Beitrag auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und attestiert ihr einen unsouveränen Umgang mit Souveränität. Der Beitrag rekonstruiert in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vier Dimensionen der ,Unsouveränität‘ und plädiert vor diesem Hintergrund für eine Abkehr vom Souveränitätsbegriff. Über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts berichtet auch Giorgio Ridolfi, der aus rechtsphilosophischer Perspektive versucht, die Europa-Rechtsprechung mit der deutschen rechtsphilosophischen Tradition zu vergleichen. Auf dem Weg der Auseinandersetzung mit der deutschen Diskussion ermöglicht es Ridolfi insbesondere den italienischen Lesern, die philosophischen Koordinaten der Diskussion über den „sozialen Rechtsstaat“ als mögliche Werkzeuge für die Interpretation der Rolle des Bundesverfassungsgerichts zu erhellen. Der Beitrag von Filomena Media Tulli behandelt zwei zentrale Fragen. Aus einer rein juristischen Perspektive stellt der Fall der Reparationen für die Verbrechen des II. Weltkrieges eine echte Saga dar, in der die Corte costituzionale eine bedeutende Rolle bei der Entscheidung von 2014 gespielt hat. Dabei stehen die Beziehungen zwischen Rechtsordnungen sowie der Schutz der Grundrechte und die Entwicklung der Verfassungslehre im Zentrum. Tulli kritisiert die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs als staatsfokussiert. Der Fall ist indes symptomatisch für die politischen sowie kulturellen Beziehungen beider Länder, was die Auseinandersetzung umso interessanter im Kontext des italienisch-deutschen Gesprächs macht. Der Beitrag von Maria Daniela Poli erweitert die Perspektive und vergleicht die Semantik des Souveränitätsbegriffs in der italienischen und deutschen Rechtsprechung und untersucht davon ausgehend die Folgen für die Positionierung der Gerichte gegenüber dem EuGH. Sie argumentiert, dass das Verhältnis des italienischen Verfassungsgerichts kollaborativer angelegt ist, während das Bundesverfassungsgerichts stärker auf Konfrontation setzt. Auch Alessandra Di Martino verfährt in ihrem Beitrag rechtsvergleichend, erweitert aber die komparative Perspektive, indem sie einerseits neben der deutschen und italienischen Rechtsprechung auch die französische Rechtsprechung in den Blick nimmt, und andererseits die Verfassungskulturen der drei Länder zueinander in Beziehung setzt. Entlang der Interpretation des umstrittenen Terminus der Verfassungsidentität verdeutlicht Di Martino nicht zuletzt, wie sich politische Konflikte um das Projekt Europa im Recht spiegeln und dort verarbeitet werden. Den Abschluss des ersten Teils des Bandes bildet der Beitrag von Andreas Voßkuhle. Dieser Beitrag gibt einen in der Bocconi Universität am 16. Mai 2022 gehaltenen Festvortrag aus Anlass der Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen an den ehemaligen Ministerpräsidenten der Italienischen Republik Alcide De Gasperi vor 70 Jahren (1952) wieder. Entlang des europäischen Leitsatzes „In Vielfalt vereint“ vermisst Voßkuhle darin den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union und entwickelt Perspektiven für einen dialektischen Prozess aus Ein-

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heitsbildung und Vielfaltssicherung mit besonderem Blick auf die deutsch-italienischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Beitrag bildet zugleich die Überleitung zum zweiten Teil des Bandes, der politikwissenschaftliche, philosophische und ideengeschichtliche Perspektiven auf den Souveränitätsbegriff zusammenführt. Eva Hausteiner widmet sich in ihrem Beitrag der Konfliktivität des Souveränitätsbegriffs, die sie darauf zurückführt, dass Macht- und Rechtfertigungsfragen mit ihm aufgerufen werden, die in föderalen Kontexten besonders umstritten sind. In ihrem Beitrag vergleicht sie Föderalismus und EU-Diskurs und arbeitet am Beispiel des Problems der Desintegration den Spannungsreichtum der Souveränitätsfrage heraus. Diesen Spannungsreichtum verfolgt Isabel Hilpert in einem konkreten Policy-Feld, nämlich der Migrationspolitik. Am Beispiel der europäischen Grenzpolitik untersucht Hilpert Souveränität als empirisches Phänomen und verdeutlicht auf diese Weise das Spannungsverhältnis von Souveränität, Nationalstaatlichkeit und Grenzen in praxi. Gennaro Imbriano beschäftigt sich mit der langen Begriffsgeschichte der Souveränität, insbesondere in dem deutschsprachigen Raum aber auch mit den Klassikern der politischen Moderne, und zeigt den strittigen sowie widersprüchlichen Weg zu ihrem demokratischen Verständnis. Dieses stellt jedoch nicht das „Ende der Geschichte“ dar, sondern stellt wiederum neue Herausforderungen für die gegenwärtige Verwendung des Begriffs. Aus einer philosophischen Perspektive versucht Olimpia Malatesta, sich mit der ordoliberalen Reflexion über den Staat und insbesondere mit der Theorie von Wilhelm Röpke über den Begriff von Souveränität kritisch auseinanderzusetzen. Die Überlegungen Röpkes über die Beziehungen zwischen Europa und „Volkssouveränität“, so Malatesta, sind zwar nicht unmittelbar auf die heutige Lage anwendbar, sie können jedoch als eine Art Werkzeug genutzt werden, um die aktuellen Fragen des europäischen Konstitutionalismus historisch und philosophisch einzuordnen und zu verstehen. Anna Meine wiederum nimmt den konzeptuellen Zusammenhang von Freiheit und Souveränität in den Blick und diskutiert, welches Freiheitsverständnis unter den Bedingungen von Globalisierung und Interdependenz für Prozesse politischer Ordnungsbildung jenseits des Staates angemessen ist. Dabei plädiert sie für ein Verständnis von Freiheit als Nicht-Beherrschung, das unter den Bedingungen pluraler politische Ordnungen eine überzeugende Verbindung von Souveränität und Autonomie ermöglicht. Eva-Maria Schäfferles Beitrag setzt bei der Frage an, wie angesichts der Pluralität politischer Ordnungen Grenzen der Mitgliedschaft gezogen werden können bzw. die Frage beantwortet werden kann, wer zum Volkssouverän gehört. Schäfferle exponiert die Unionsbürgerschaft als eine überzeugende Antwort auf diese Frage, die im Gegensatz zu liberal-nationalstaatlichen und kosmopolitischen Lösungen ein inklusives Migrations- und Mitgliedschaftsregime ermöglicht, ohne gleichzeitig den Fortbestand nationaler Gemeinschaften aufs Spiel zu setzen.

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Vor dem Hintergrund der notwendigen Umstrittenheit des Souveränitätsbegriffs und der in den Beiträgen vielfach angesprochenen Konfliktivität des Begriffs vermisst Marcus Llanque die ideenpolitische Dimension des Souveränitätsbegriffs und seine politisch-praktische Funktionalität. Eine These lautet dabei, dass Souveränität keine Zuschreibung ist, sondern vielmehr ein zunächst sprachlicher Akt der Selbstermächtigung, der den Anspruch zum Ausdruck bringt, maßgeblicher Bezugspunkt politischer Macht zu sein. Damit untrennbar verbunden ist die Erwartung, dass der Behauptung von Souveränität auch die tatsächliche Fähigkeit, souverän handeln zu können, entspricht. Der von Llanque herausgearbeitete ideenpolitische Zusammenhang zwischen dem Souveränitätsbegriff und dem Anspruch auf politische Handlungsfähigkeit verdeutlicht zugleich, warum sich Souveränität in der politischen Praxis und Rhetorik ungebrochener Beliebtheit erfreut. An diese ideenpolitische Perspektive schließt der abschließende Beitrag von Barbara Lippert an, die den gegenwärtigen Diskurs um „Europäische Politik“ in den Blick nimmt und ihn als eine Debatte um die Selbstbehauptung Europas als handlungsfähiger Akteur im globalen Konzert der Mächte liest. Lippert beobachtet bei unterschiedlichen nationalen und europäischen Akteuren eine Vielzahl kaum einheitlicher und konsistenter Verknüpfungen der Begriffe Souveränität, Autonomie, Strategie und Europa. Obgleich es der Debatte an begrifflicher Schärfe mangelt, sieht Lippert sie als Ausdruck eines Ringens um Selbstbehauptung der Europäer in der internationalen Politik sowie um selbstbestimmtes außen- und sicherheitspolitisches Handeln und aktives Gestalten der internationalen Ordnung. Und so zeigt auch dieser Band am Ende die ungebrochene Relevanz des Souveränitätsbegriff gerade in seiner klassischen Eigenschaft als „Stichwort für Freiheit und Unabhängigkeit eines Volkes nach innen und außen“.32 Literatur Bellamy, R., A European Republic of States. Cosmopolitanism, Intergovernmentalism and Democracy in the EU, Cambridge, 2019. Bergdolt, K., Kriminell, Korrupt, katholisch? Italiener im deutschen Vorurteil, Steiner, Stuttgart, 2018. Bernardi, A. (Hrsg.), I controlimiti. Primato delle norme europee e difesa dei principi costituzionali, Napoli, 2017. Bolaffi, A., Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise, Stuttgart, 2014. Carrino, A., Una corte „nazionalista“? Il Bundesverfassungsgericht tedesco tra sovranità e ,patriottismo costituzionale‘, in: ders., Il suicidio dell’Europa. Sovranità, Stati nazionali e „grandi spazi“, Modena, 2016. 32 Helmut Quaritsch, Souveränität, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Darmstadt, 1996, S. 1104 – 1109.

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Fernando D’Aniello und Verena Frick

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I. Souveränität zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtsstaatlichkeit

La rappresentazione della sovranità nei dibattiti costituenti italiani e tedeschi del secondo dopoguerra Di Edoardo Caterina

I. La sovranità dei vinti In questo contributo si cercherà di mettere a confronto i dibattiti che si ebbero in Italia e in Germania nella fase costituente dell’immediato dopoguerra. Ci si occuperà in particolare, come richiesto dall’occasione, del tema della “sovranità”. Ovviamente, dato lo spazio limitato della sede, non si potrà che dare alcune pennellate e fornire alcune suggestioni, rinunciando senz’altro a ogni ambizione di completezza dell’indagine. La domanda di partenza è tanto semplice quanto impegnativa: come si figuravano i padri e le madri costituenti le nuove vesti del sovrano dopo le terribili vicende degli anni precedenti? Si sarebbe portati a pensare che l’apertura all’ordinamento internazionale della Costituzione italiana e della Legge fondamentale tedesca sia semplicemente una di quelle “dure repliche della storia” che spiegano spesso i mutamenti radicali del pensiero. Si sarebbe cioè in presenza né più né meno che di una reazione antitetica al disprezzo dei regimi totalitari per ogni regola del diritto internazionale volta ad assicurare la pacifica convivenza dei popoli. Vi sarebbe poi da considerare che le note di queste due costituzioni sgorgano dall’arpa di due popoli sconfitti, per forza di cose piegati all’accettazione di un ordine nato sopra le loro teste. Ciò varrebbe soprattutto nel contesto tedesco, dove si ebbe una vera e propria debellatio e successiva prolungata occupazione militare da parte delle potenze vincitrici. Quest’ultima impressione può essere rafforzata dalla lettura di parte della pubblicistica dell’epoca, dove non si mancò di polemizzare sulle circostanze in cui era sorta la nuova Legge Fondamentale. Si pensi, a titolo di esempio, alle parole usate da un importante giuspubblicista tedesco come Werner Weber, allora professore a Gottinga; questi, in un opuscolo del 1949 si doleva del fatto che a dimostrarsi “determinanti ai fini della stesura della Costituzione” furono “più ampie realtà”; “si tratta” – prosegue Weber – “in primo luogo, delle forze di occupazione delle potenze occidentali e, oltre a ciò, del ruolo marginale giocato dall’apparato statale tedesco, componente, per ora passivo, di ordinamenti e costellazioni politiche maggiori”1. Se questa era la situazione nella Accademia Pedagogica di Bonn, neppure a Roma la Costituente poteva dirsi del tutto libera da influssi di “più ampie realtà”. Qui le interferenze però, almeno se ci 1

Werner Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, 1949, p. 8.

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limitiamo a esaminare il processo costituente, non venivano tanto dal comando alleato, quanto dalla Chiesa Cattolica. In Italia non si hanno notizie di particolari desiderata degli Alleati con riferimento a singole disposizioni costituzionali (come invece vi furono in Germania), ma è ben noto quanto in là si fosse spinta la Chiesa nel fornire istruzioni ai vari deputati cattolici2. In realtà, l’apertura internazionale delle nuove costituzioni e la nuova concezione di “sovranità” da esse recata non si spiega esclusivamente (e, se vogliamo, “meccanicisticamente”) sulla base delle pure contingenze storiche. Queste ebbero certamente un peso decisivo, ma costituiscono soltanto una parte del quadro. Come ci si sforzerà di spiegare, dietro il nuovo disegno costituzionale si celavano delle idee e delle concezioni della sovranità ispirate a una ben preciso pensiero politicofilosofico. Ciò posto, un’adeguata contestualizzazione storica ci consente senz’altro di comprendere meglio i riferimenti che venivano fatti nei dibattiti costituzionali. Se si guarda puramente al dato testuale, la parola “sovranità” (Souveränität) venne evocata dai costituenti in Germania soprattutto quando a venire discusso era il Preambolo della Legge Fondamentale, in Italia quando invece ebbero luogo le focose dispute su quello che sarebbe diventato l’attuale art. 7 della Costituzione3. Quindi nell’orizzonte dei Costituenti di Bonn la sovranità era un qualcosa da ricomporre dopo il disastro dell’annientamento militare, quasi un vaso mandato in frantumi dalla storia. Non a caso si voleva qualificare la nuova compagine statuale come uno Staatsfragment, un frammento di Stato. La ricomposizione dello “Stato frantumato” passava inevitabilmente dai rapporti con le potenze occupanti. In Italia il vaso si era, per così dire, sbeccato, ma c’era ancora. E però vi era la Chiesa Cattolica a volersene servire riempendolo dei propri contenuti.

II. L’ebbrezza del sovrano: il problema della continuità dello Stato Si è accennato al Preambolo della Legge Fondamentale. Questo fu uno dei punti più accesamente dibattuti in Germania, non tanto a Bonn, quanto sul Chiemsee, in Baviera, dove era riunito il cosiddetto Verfassungskonvent. Il Verfassungskonvent era una commissione di delegati dei Länder e di esperti della materia che, con straordinaria rapidità, impostò, nell’agosto del 1948, la prima bozza di costituzione, destinata ad essere poi ripresa, nelle linee principali, dai costituenti di Bonn. Il delicato problema che si pose sul Chiemsee era quello di inquadrare lo status della Germania occidentale e il fondamento della sua sovranità parzialmente riacquistata. 2 Si vedano i documenti raccolti in: Giovanni Sale, De Gasperi, gli USA e il Vaticano all’inizio della Guerra Fredda, 2005. 3 Così con riferimento al contesto italiano: Alessandro Levi, La sovranità popolare, in: P. Calamandrei, A. Levi (a cura di), Commentario sistematico alla Costituzione italiana, vol. I, 1950, p. 9 (p. 15).

Sovranità nei dibattiti costituenti italiani e tedeschi

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Era questo il nodo preliminare da sciogliere nel Preambolo. Nel Generalbericht del Verfassungskonvent si distingue tra la sovranità e la potestà organizzativa dello Stato, sul presupposto che la nuova compagine statuale potesse qualificarsi come uno Staatsfragment, un frammento di Stato4. I membri di quel consesso erano concordi nel ritenere che il processo costituente in corso avrebbe condotto a una nuova organizzazione dello Stato tedesco-occidentale; maggiori incertezze sorgevano invece sulle attribuzioni sovrane di tale Stato che, a seconda della loro modulazione, potevano condizionare in modo differente il dispiegamento della nuova Staatlichkeit5. Insomma, nella costruzione della nuova Germania occidentale si poteva intravvedere l’apparente paradosso di uno Stato senza statualità, in quanto privo di tutte le classiche attribuzioni della sovranità. Su questa premessa si innestava la vera vexata quaestio: lo Stato tedesco, il Reich, si era dissolto con la capitolazione o sopravviveva ancora? La sovranità popolare veniva ri-creata, grazie al volere delle potenze vincitrici, o veniva invece ereditata dal precedente assetto? Tali interrogativi animavano gli animi dei costituenti tedeschi e andavano a formare quella che in tedesco può chiamarsi “die Frage nach der Kontinuität des Staates”. In Italia, sia detto per inciso, nessuno pensava in questi termini che lo Stato fosse scomparso. La continuità dello Stato fu qui un dato storico di fatto, rappresentata dal passaggio dallo Stato fascista al “Regno del Sud” e quindi dal regime costituzionale provvisorio alla nuova Repubblica. Quando si parla del problema della “continuità dello Stato” con riferimento al contesto italiano si vuole intendere il problema della mancata epurazione dei funzionari fascisti dagli apparati dello Stato6. Tornando alla Germania, la discussione che sorse sulla natura del nuovo ordinamento è probabilmente quella di taglio più accademico di tutte. La contrapposizione che si ebbe sul Chiemsee tra Carlo Schmid e Hans Nawiasky è veramente memorabile ed è un vero peccato che i Kurzprotokolle della Prima Sottocommissione del Verfassungskonvent siano ancora inediti7. Occorre rammentare che Carlo Schmid, che del processo costituente tedesco fu uno dei principali protagonisti (se non il protagonista8), era un internazionalista di formazione. Nel 4 Cfr. Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949; Akten und Protokolle, Bd. 2, Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1981, pp. 508 s. 5 Cfr. Der Parlamentarische Rat (nota n. 4), p. 508. 6 A tal proposito non si può non citare l’importante opera di Claudio Pavone: Claudio Pavone, Alle origini della Repubblica: scritti su fascismo, antifascismo e continuità dello Stato, 1995. 7 Chi scrive ha potuto consultare i protocolli stenografici custoditi alla Biblioteca del Bundestag: Protokolle der Sitzungen der Unterausschu¨ sse: Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, Unterausschuss I: Grundsatzfragen. 8 Il ruolo di indiscusso protagonista ricoperto da Schmid nella stesura delle previsioni costituzionali relative ai rapporti internazionali è evidenziato e ricostruito con accuratezza in: Sabine Kurtenacker, Der Einfluss politischer Erfahrungen auf den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2017, 331 ss.

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1929 si era abilitato all’Università di Tubinga con uno studio sulla giurisprudenza della Corte permanente di giustizia internazionale. Hans Nawiasky invece era uno dei migliori costituzionalisti di area tedesca del suo tempo9. Già professore a Monaco di Baviera, emigrato poi in Svizzera durante il nazismo, era tornato in Baviera dove, essendo molto vicino a Hoegner, aveva partecipato alla stesura della Costituzione del 1946. Nawiasky era della cerchia (ristretta in Germania) vicina alle teorie di Kelsen. Come Kelsen sosteneva che lo Stato tedesco fosse scomparso e dopo la debellatio lo scettro della sovranità primigenia fosse tornato al popolo10. Riteneva che i Länder fossero le prime entità statuali ricostituitesi dopo la guerra e che quindi precedessero il nuovo Stato tedesco-occidentale. Il 17 e il 18 agosto le due diverse concezioni si opposero in seno alla Sottocommissione in uno scontro che assumeva i toni di un convegno scientifico. Schmid tenne una vera e propria prolusione, ben consapevole che avrebbe dovuto tenere ferme le sue tesi davanti a un avversario bene armato. Schmid propose un interessante paragone: a suo modo di vedere, la Germania era come una persona che fosse stata inabilitata e sottoposta a un curatore provvisorio per via del suo alcolismo (“Es ist etwa in der Rolle eines nach bürgerlichem Recht wegen Trunksucht unter vorläufige Vormundschaft Gestellten”) e poi, tornata a costumi più sobri, avesse riacquisito la sua capacità giuridica. Così anche la Germania, conclusa l’occupazione, riacquisiva, almeno in parte, la sovranità. La risposta di Nawiasky su questo punto fu netta: “Il Reich tedesco è stato distrutto con la debellatio” (“Das Deutsche Reich ist durch die debellatio zerstört worden”). La sovranità ora ritorna non perché sia stata ricreata, ma perché lo hanno stabilito da un lato la forza degli Alleati e dall’altro la volontà dei singoli Länder. E su questa volontà la forza ha peraltro posto una vera e propria ipoteca, ragion per cui Nawiasky parla di “eine Staatsgewalt cum grano salis, eine bedingte Souveränität, eine geteilte Souveränität”. Il nodo non fu sciolto sul Chiemsee e il Verfassungskonvent sottopose al Parlamentarischer Rat due versioni alternative di Preambolo, anche se va detto che nella relazione finale la versione di Nawiasky viene indicata come la proposta della minoranza. Nawiasky, a differenza di Schmid, non andò anche a Bonn a propugnare le tesi di Kelsen. Il Parlamentarischer Rat optò quindi per la tesi della continuità e infatti nel Preambolo del 1949 si parla di un nuovo ordine dato alla vita dello Stato e il soggetto non sono i Länder, bensì il popolo tedesco. Quale significato profondo dare alla diatriba tra Schmid e Nawiasky? Quello più evidente sta nel diverso ruolo dei Länder che per Nawiasky erano i veri fondatori della nuova compagine statuale e quindi i detentori originari della sovranità a esso ceduta. In altri termini, Nawiasky usava le posizioni di Kelsen per sostenere le tesi federalistiche à la Max von Seydel. Oltre a questa lettura ve ne è poi un’altra meno 9 Su Nawiasky si vedano i contributi raccolti in: Ehrenzeller/Schindler (Hrsg.), Hans Nawiasky – Leben, Werk und Erinnerungen, 2012. 10 Sulle teorie di Kelsen a tal proposito si veda per tutti: Fernando D’Aniello, Quando uno Stato muore. Note sulla teoria giuridica di Hans Kelsen nel confronto con la Staatslehre dominante tra Weimar e Bonn, Materiali per una storia della cultura giuridica 2021, p. 489.

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immediata che riguarda i rapporti tra diritto interno e diritto internazionale. La tesi kelseniana della debellatio è una tesi che faceva leva sulle categorie del diritto internazionale, quella invece della continuità sembrava implicitamente affermare l’esistenza di ulteriori categorie che andassero oltre quelle classiche internazionalistiche, se non addirittura oltre le stesse categorie del diritto. Appare quindi non casuale che l’opzione per la continuità, nonostante l’isolata e autorevole voce di Nawiasky, si affermasse anche in Germania.

III. Il profumo della sovranità: contro il monismo Questo della “continuità dello Stato” non è che il primo dei filoni tematici relativi all’idea di sovranità dei costituenti italiani e tedeschi. Ed è il filone che si riallaccia più da vicino alle contingenze storiche dell’immediato dopoguerra. Riprendiamo ora il discorso lasciato in sospeso prima di questa incursione nei dibattiti di Herrenchiemsee. La nuova concezione della sovranità dei costituenti in Italia e in Germania era solo un riflesso degli eventi storici e dei rapporti di forza tra vinti e vincitori? O c’era dell’altro? Per rispondere vorrei tornare in Italia e in particolare nella mia città, Firenze. Qui durante i periodi più bui della guerra avreste potuto trovare uno dei più grandi storici del diritto italiani intento a lavorare su di un saggio che a prima vista non avreste giudicato proprio di stretta attualità: era intitolato “I glossatori e la teoria della sovranità: studio di diritto comune pubblico”. Venne pubblicato nel 1945 per i tipi Le Monnier, ma la prefazione reca la data del 1944. Nonostante le apparenze, il volume conteneva in realtà un messaggio attualissimo. Per rendersene conto basta leggere proprio la prefazione dove si esalta il pluralismo dell’ordinamento giuridico medievale e insieme con Pietro Dubois si condanna la “folle concezione dell’unus monarcha”. La paura del “dominio di un solo su tutta la terra” era, secondo Calasso, “il segno più sicuro della consapevolezza politica raggiunta dopo secoli di lotte”11. Francesco Calasso era un antifascista ed era molto vicino a due colleghi fiorentini che di lì a poco avrebbero avuto un ruolo decisivo all’Assemblea Costituente: Calamandrei e La Pira. Non si può certamente ipotizzare un’influenza diretta di Calasso sul pensiero dei Costituenti, si deve però senz’altro concludere che fosse questa la temperie culturale in cui si muovevano i fondatori del nuovo ordine costituzionale. In questa visione antimonistica si deve indubbiamente ritrovare lo spirito del nuovo approccio dei costituenti12.

11 Francesco Calasso, I glossatori e la teoria della sovranità: studio di diritto comune pubblico, 1945, p. XIV. 12 Sul monismo come antitesi del pluralismo si veda per tutti: Pietro Costa, Il “pluralismo” politico-giuridico: una mappa storico-concettuale, Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 50 (2021), p. 29.

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Dalla lettura dei lavori costituenti italiani e tedeschi emerge con chiarezza l’idea di una nuova concezione pluralistica della sovranità dello Stato. Tale concezione non è tanto il frutto della sconfitta militare dei due paesi, e della relativa imposizione di una sovranità limitata da parte delle potenze vincitrici, quanto di una filosofia condivisa che intendeva opporsi al monismo degli Stati totalitari, al “chiuso nazionalismo dell’epoca fascista”13. In altri termini, l’aspirazione a una sovranità condivisa tra vari attori si combinava perfettamente con le intonazioni giusnaturalistiche che miravano a negare l’onnipotenza creatrice dell’ordinamento statuale. Nella celebre Relazione tenuta da La Pira sui “princìpi relativi ai rapporti civili” si esalta da un lato la “concezione pluralista”, dall’altro si propugna “l’esistenza di diritti originari dell’uomo che facciano da limite alla ‘assoluta’ sovranità dello Stato”14. Sarà questo il Leitmotiv dei discorsi della componente democristiana, e in particolare del gruppo “dossettiano”15. Di La Pira vale la pena rammentare, oltre alla Relazione, il discorso tenuto in Assemblea l’11 marzo 1947. Qui viene messo ancora una volta sul banco degli imputati Hegel e si evidenziano i riflessi che ebbe sull’ordinamento internazionale la sua concezione “totale” della sovranità: E poi per Hegel la questione si pone in termini ancora più gravi, perché quando lo Stato è l’incarnazione totale della sovranità, è inconcepibile una comunità internazionale se non in termini dialettici, cioè di guerra. […] La guerra è, in parola elegante, la dialettica degli Stati perché, essendo lo Stato il valore assoluto e quindi sovrano, la sua vita non può manifestarsi che dialetticamente, cioè nel contrasto fra gli Stati. La pace è un armistizio; la guerra è, invece, lo stato normale, vitale e salutare delle nazioni. Io non faccio una critica a questa concezione! Ora, com’è che era venuta fuori questa concezione così inumana? È quella famosa visione metafisica; se voi vi riconducete alla visione pluralistica, avrete la comunità internazionale che precede lo Stato; se vi riconducete all’altra visione, avrete lo Stato assoluto il quale non è membro che provvisoriamente della comunità internazionale.16

13 Antonio Cassese, Gli Stati e la comunità internazionale (Gli ideali internazionalistici del costituente), in: Commentario Branca-Pizzorusso, Principi fondamentali (art. 1 – 12), 1975, p. 461 (p. 462). 14 Giorgio La Pira, in: Assemblea Costituente. Atti della Commissione per la Costituzione. Relazioni e proposte, 1946, p. 14. 15 Al di fuori dei dibattiti costituenti si veda la relazione del mons. Graneris alla Settimana sociale dei cattolici italiani tenutasi a Firenze nel 1945 dove si condanna come “illusoria e delittuosa” quella “quella assoluta, scontrosa, esasperata sovranità” (Giuseppe Graneris, in: Aa.Vv., Atti della XIX Settimana sociale dei cattolici d’Italia, 1946, p. 53, p. 74). 16 In: Assemblea Costituente. Discussioni, 1947, p. 1989. La critica a Hegel, tipica di quella temperie culturale, univa i costituenti tedeschi a quelli italiani: cfr. Edoardo Caterina, Il ritorno del diritto di natura nel costituzionalismo europeo del secondo dopoguerra, Diritto pubblico 2022, p. 1 (in part. p. 25).

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Occorre poi dare conto anche del breve dibattito che si ebbe il 3 dicembre 1946 in seno alla Prima Sottocommissione17. Qui si confrontarono due formulazioni proposte per l’art. 2 del progetto: da un lato quella di Cevolotto (“Tutti i poteri spettano al popolo che li esercita o li delega secondo la Costituzione e le leggi”), dall’altro quella di Dossetti (“La sovranità dello Stato si esplica nei limiti dell’ordinamento giuridico costituito dalla presente Costituzione e dalle altre leggi ad essa conformi”). Ne venne fuori una proposta comune: La sovranità dello Stato si esplica nei limiti dell’ordinamento giuridico formato dalla presente Costituzione e dalle altre leggi ad essa conformi. Tutti i poteri sono esercitati dal popolo direttamente o mediante rappresentanti da esso eletti.

Ai cattolici interessava parlare di “sovranità dello Stato” per delimitare negativamente questo concetto minaccioso. Alle sinistre e ai laici interessava parlare della sovranità del popolo. I due orizzonti non si escludevano reciprocamente, anzi si integravano vicendevolmente, come si vide fin da subito in quella seduta dicembrina della Prima Sottocommissione. Infatti, come venne osservato già dai primi commentatori18, “sovranità del popolo” è cosa ben diversa da “sovranità dello Stato”. Se quest’ultima evoca il Leviatano, il potere dello Stato-apparato sui sudditi, la prima è conciliabile con la prospettiva democratica e la tutela dei diritti dei singoli nei confronti degli abusi del potere pubblico. A difendere la formulazione di Dossetti da quanti la ritenevano troppo dottrinaria prese la parola Aldo Moro19: Dopo venti anni di arbitrio del potere esecutivo che avevano portato alla creazione di una dottrina per la quale la sovranità dello Stato consisteva nell’assoluta potenza, o prepotenza, si deve affermare nella Costituzione che il potere dello Stato è un potere giuridico, e che lo Stato comanda nei limiti della Costituzione e delle leggi ad essa conformi. Questa precisazione è tanto più necessaria in relazione all’articolo 3 formulato dall’onorevole Dossetti, nel quale si precisa come al singolo, o alla collettività, spetti la resistenza contro lo Stato, se esso avvalendosi della sua veste di sovranità, tenta di menomare i diritti sanciti dalla Costituzione e dalle leggi. Solo dopo aver dichiarato che la sovranità dello Stato è nell’ambito dell’ordinamento giuridico, si ha la possibilità di sancire nella Costituzione il diritto di resistenza contro gli atti di arbitrio dello Stato.

Non occorre aggiungere altro a parole tanto chiare, se non che esse vennero fatte proprie anche da Togliatti, il che non deve sorprendere più di tanto se si tiene presente il favore che il leader comunista aveva già espresso pochi mesi prima per l’o.d.g. Dossetti relativo alla precedenza della persona sullo Stato20. Così Togliatti21: 17

In: Assemblea Costituente. Atti della Commissione per la Costituzione, Prima Sottocommissione, 1947, pp. 448 ss. 18 Si veda: Levi (nota n. 3), pp. 13 ss. 19 In: Assemblea Costituente. Atti della Commissione per la Costituzione, Prima Sottocommissione, 1947, p. 449. 20 Sia consentito il rinvio a: Caterina (nota n. 16), p. 26.

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Edoardo Caterina In netta opposizione a quella profonda deviazione verificatasi nella dottrina giuridica, in senso assolutistico e reazionario, per opera del diritto tedesco attraverso una deformazione dell’hegelismo, ritiene che in una Costituzione fatta dopo il fascismo, un’affermazione, quale quella proposta dall’onorevole Dossetti, non sia da respingere, a condizione che si affermi anche che il depositario della sovranità è il popolo.

Nel corso del dibattito in Assemblea il monarchico Lucifero, che si era opposto in Sottocommissione alla formulazione di Dossetti, intervenne nuovamente sul problema della sovranità. Tornò tuttavia non tanto sulla “sovranità (limitata) dello Stato”, quanto sull’altro corno della questione, e cioè sulla sovranità popolare. Ne sorse una curiosa disputa linguistica che fece risaltare ancora meglio la complementarità dei punti di vista emersi in Sottocommissione. Nel testo del progetto di Costituzione si riprendeva la formula usata nella Costituzione di Weimar: “la sovranità emana dal popolo …” (Die Staatsgewalt geht vom Volke aus – Art. 1, comma 2, WRV). La formula fu abbandonata e alla fine, come noto, fu preferita la dizione “la sovranità appartiene al popolo”22. All’origine di questa riformulazione, apparentemente di stile, vi furono proprio le osservazioni di Lucifero, il quale ebbe modo di fare dello spirito sull’impiego del verbo “emanare” nella seduta del 4 marzo 1947: Due volte ho già proposto in sede di Sottocommissione e di Commissione che l’articolo primo fosse modificato, laddove si dice che la sovranità emana dal popolo. Anche l’onorevole Conti una sera disse che gli sapeva di profumo questa emanazione di sovranità. A me sa anche di qualche altra cosa. Io temo questa sovranità che emana. Emanare ha un senso di moto; poi l’emanazione non torna più indietro, e sappiamo dove si va a finire con queste sovranità delegate23.

Vi era quindi un punto su cui la concezione pluralistica dei cattolici convergeva quindi con quella giacobina delle sinistre e perfino con quella dei laici moderati come i repubblicani e i liberali: il rigetto della stretta identificazione tra “Stato” e “Sovranità”. Ora, nella concezione cattolica, in nome di un diritto naturale sovrapositivo, ora, in quella laica e delle sinistre, in nome della primogenitura popolare. Il rigetto, in altri termini, di una concezione monistica della sovranità legata a doppio filo con un’idea di “assolutismo di Stato”.

21 In: Assemblea Costituente. Atti della Commissione per la Costituzione, Prima Sottocommissione, 1947, p. 449. 22 Questa differente formulazione, ispirata a quella della Costituzione della IV Repubblica francese (Art. 3, comma 1: La souveraineté nationale appartient au peuple français), fu proposta dapprima da Umberto Merlin, poi ripresa da Fanfani in un suo emendamento e quindi approvata, con il consenso della Commissione, il 22 marzo (Assemblea Costituente. Discussioni, 1947, pp. 2374 ss.). 23 Assemblea Costituente. Discussioni, 1947, p. 1732.

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Simili accenti si ritrovavano anche in Germania24. Sul versante cattolico vi fu l’importante figura costituente di Adolf Süsterhenn, il quale potrebbe essere a buon diritto definito un “dossettiano tedesco”25. Nella sua prolusione tenuta a Bamberga nell’ottobre del 194726 si ritrovano in sostanza tutti i punti che compaiono nella Relazione di La Pira di un anno prima: precedenza della persona umana sullo Stato, limitazione della sovranità, esistenza di un diritto di natura che prevale sul diritto dello Stato, pluralismo. In seno al Parlamentarischer Rat Süsterhenn avrebbe ripreso gli stessi concetti applicandoli più in concreto alla configurazione del nuovo ordinamento costituzionale. Oltre al discorso-manifesto tenuto al Plenum l’8 settembre 194827, è da rammentare ad esempio l’intervento all’Hauptausschuss del 30 novembre 1948 in cui si condanna il monismo à la Rousseau (esattamente come aveva fatto La Pira in Italia) e si porta avanti un’idea di separazione dei poteri che in realtà rispecchiava l’idea di una sovranità condivisa, plurale, all’interno del medesimo ordinamento statuale28. Del tutto convergenti su questo punto paiono anche, sul versante socialdemocratico, le considerazioni di Schmid che, durante i lavori costituenti a Bonn dichiara apertis verbis di avversare il “feticcio della sovranità presuntamente indivisibile dello Stato”29. In precedenza, sul Chiemsee, aveva ancora più chiaramente sostenuto che la sovranità dovrebbe essere concepita in senso pluralistico: Dr. Schmid denkt etwa an den Fall, dass die grossen Vorkommen an Bodenschätzen in Europa entnationalisiert und eine Art von Gemeinschaftsverwaltung unterstellt werden sollen, die völlig aus dem Staatlichen herausgehoben wird und neben dem Staate steht. Dann müsse die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten durch den Bund auf die übernationale Administration bestehen. Jm übrigen könne er sich nicht an den Gedanken der Unteilbarkeit der Souveränität gewöhnen. Die Souveränität sei durchaus pluralistisch denkbar.30 24 Sia consentito il rinvio a: Edoardo Caterina, Alle origini del personalismo della Legge Fondamentale: un viaggio nei dibattiti costituenti tedeschi del dopoguerra (1946 – 1949), Diritto pubblico 2021, p. 485. 25 Sul pensiero e l’opera costituente di Su¨ sterhenn: Kurtenacker (nota n. 8), passim. 26 Adolf Su¨ sterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens, in: Su¨ sterhenn/Ru¨ fner (Hrsg.), Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens: mit Quellentexten zur Naturrechtslehre u. Staatsauffassung, 1948, p. 24. 27 In: Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 9, Plenum, 1996, p. 46. Sia consentito il rinvio anche a Caterina (nota n. 24), p. 507. 28 Cfr. Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14, Hauptausschuss, 2009, p. 311 (118 seduta dell’Hauptausschuss): “Wir wollen eine pluralistische Staatsgestaltung haben, eine Verteilung der Staatsgewalt auf eine Reihe von Organen nicht nur im Sinne der Gewaltenteilung in Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz gemäß der klassischen Theorie, sondern daru¨ ber hinaus im Sinne einer weiteren Verteilung der Macht”. 29 Der Parlamentarische Rat. 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14, Hauptausschuss, p. 927 (318 seduta, 7 gennaio 1949). 30 Inedito, corsivo dell’ultima frase aggiunto. Seduta della Prima Sottocommissione, 18 agosto 1948: Protokolle der Sitzungen der Unterausschu¨ sse: Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, Unterausschuss I: Grundsatzfragen, foglio 61.

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Edoardo Caterina

Da questo intervento si vede molto bene che Schmid nell’agosto del 1948 aveva in sostanza già in mente la configurazione della futura CECA. Il presupposto teorico perché fosse possibile conferire funzioni amministrative comuni a un ente sovranazionale è dato da una concezione pluralistica della sovranità e dalla fine del dogma della indivisibilità del potere sovrano. Precisamente la fine di quella che Calasso chiamava la “folle concezione dell’unus monarcha”.

IV. Attraverso la crosta dello Stato: l’apertura all’ordinamento internazionale Al rigetto di ogni concezione monistica si affiancava una istanza di rifondazione dell’ordine internazionale che evitasse il ripetersi della tragedia della guerra. In questo si può scorgere anche una certa influenza della Chiesa cattolica che nei drammatici anni del conflitto aveva auspicato un profondo rinnovamento dell’ordine internazionale31. Tale rinnovamento doveva passare dalla conversione della nefasta “volontà di potenza” degli Stati in una volontà di giustizia internazionale32. È interessante notare che la dottrina della Chiesa non abbracciava un ingenuo cosmopolitismo, ma proponeva appunto, più realisticamente, la costruzione di un modello di relazioni internazionali fondato sul diritto e sul vincolo giuridico. Scrive Gonella nel 1942, commentando i messaggi di Pio XII: “ogni Stato è ‘portatore’ di un duplice ordine di doveri: i doveri verso i propri sudditi ed i doveri verso gli altri Stati”33. Portato più concreto di questa concezione stava nella proposta di una “giurisdizione internazionale obbligatoria”34. Schmid aveva criticato negli anni precedenti alla guerra, all’epoca della Società delle Nazioni, la dottrina dominante che teneva per impossibili cessioni di sovranità da parte degli Stati nazionali: Kurtenacker (nota n. 8), pp. 42 ss. (e cfr. anche p. 332). 31 In particolare è da ricordare il radiomessaggio di Pio XII del Natale del 1941 in cui si delineano i presupposti morali di un ordine internazionale, radiomessaggio poi commentato da Gonella: cfr. Guido Gonella, Presupposti di un ordine internazionale: note ai messaggi di S.S. Pio XII, 1942. Va ricordato che Gonella non prese direttamente parte ai lavori costituenti italiani, essendo impegnato da un incarico ministeriale, ma spiegò su di essi una notevole influenza. Si deve infatti a Gonella un importante documento “propedeutico” ai lavori costituenti che va affiancato, quanto a importanza, al rapporto della Commissione Forti. Si tratta del “Programma per la Costituente” approvato dal primo congresso nazionale della DC nell’aprile del 1946. Cfr. Giuseppe Dalla Torre, Guido Gonella e le origini della Costituzione, 2009. 32 Così Gonella (nota n. 31), p. 108. 33 Gonella (nota n. 31), p. 116. 34 Cfr. Gonella (nota n. 31), pp. 301 ss. Gonella si premura di chiarire che un tale sistema di risoluzione delle controversie “non è in contrasto con la sovranità degli Stati, poiché gli arbitri derivano la loro qualità dalla volontà delle parti. Quindi gli Stati […] non abdicano alla loro sovranità, ma abdicano solo ad un presuntuoso e malinteso sentimento dell’onore nazionale” (p. 302). Si tratta di una argomentazione invero piuttosto speciosa e poco convincente, probabilmente dovuta al fatto che il libro fu pur sempre pubblicato nel 1942.

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Venivano quindi delineati, e qui sta il terzo filone di indagine, dei limiti alla sovranità derivanti dall’ordinamento sovranazionale. Questi limiti “dall’alto” sono intimamente collegati ai limiti “dal basso”, nascenti dal nucleo intangibile dei diritti fondamentali spettanti a ogni singola persona. I costituenti inserirono nei nuovi documenti costituzionali quelle che in Italia Calamandrei avrebbe chiamato delle “ammorzature”, cioè delle “pietre di appoggi” su cui costruire il collegamento “con una più vasta costruzione internazionale”35. In Germania si suole parlare di una “statualità aperta” (offene Staatlichkeit), ma questa definizione, coniata da Klaus Vogel36, risale a 15 anni dopo l’entrata in vigore del Grundgesetz37. Entrambi i costituenti optarono per il riconoscimento automatico delle “regole generali del diritto internazionale”, anche sul solco dell’art. 4 della Costituzione di Weimar e sul modello comune della Costituzione francese del 194638. In Germania si volle esplicitare la diretta applicabilità del diritto internazionale consuetudinario, non solo per superare alcune controversie dottrinarie che si ebbero in epoca weimariana, ma anche per chiarire che il diritto internazionale, nei suoi “princìpi di diritto naturale”39 costituisce un “diritto universale che penetra attraverso la crosta dello Stato e arriva fino ai singoli” (“universelles Recht, das durch die Staatskruste hindurch bis zum einzelnen geht”, così Schmid a Herrenchiemsee40). In seguito, a Bonn, Süsterhenn avrebbe parlato delle “regole generali del diritto internazionale” come di un “nucleo etico” (ethischer Kernbestand) del diritto internazionale: Zu diesem ethischen Kernbestand müssen wir uns mit dieser Verfassung bekennen und wir müssen auch sagen, dass diese ethische Norm für jeden einzelnen unmittelbar gilt und nicht erst der Transformation durch ein Gesetz bedarf. Wir haben in der Vergangenheit gerade den Konflikt gehabt, dass das positive Gesetz in der nationalsozialistischen Ära mit solchen ethischen Kernpunkten des Völkerrechts in Widerspruch stand. Hier muß die

35 Piero Calamandrei, Stato federale e confederazione di Stati, in: Europa Federata, 1947, p. 24. Cfr. Pietro Faraguna, Costituzione senza confini? Principi e fonti costituzionali tra sistema sovranazionale e diritto internazionale, in: F. Cortese/C. Caruso/S. Rossi (a cura di), Immaginare la Repubblica. Mito e attualità dell’Assemblea Costituente, 2018, p. 63. 36 Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 37 Cfr. Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, pp. 24 s., dove si nota che il principio di apertura ho offuscato quella che era l’effettiva intenzione dei costituenti tedeschi in relazione all’ordinamento sovranazionale. 38 Si veda il Preambolo: La République française, fidèle à ses traditions, se conforme aux règles du droit public international. 39 È lo stesso Schmid a Herrenchiemsee a parlare delle regole generalmente riconosciute del diritto internazionale come di Naturrechtssätze des Völkerrechts: cfr. Seduta della Prima Sottocommissione, 18 agosto 1948: Protokolle der Sitzungen der Unterausschu¨ sse: Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, Unterausschuss I: Grundsatzfragen, foglio 55. 40 Ivi, foglio 56.

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Edoardo Caterina Verfassung dem Einzelnen das Recht geben, unmittelbar auf die Grundsätze des Völkerrechts zu rekurrieren.41

L’idea che accomuna il socialdemocratico Schmid con il cattolico Süsterhenn è che anche nel diritto internazionale potessero essere ravvisati dei princìpi del diritto naturale sottratti alla disponibilità del legislatore. Diritti fondamentali e “nucleo etico” del diritto internazionale sono quindi in qualche modo assimilati e traggono dalla loro matrice giusnaturalistica la capacità di imporsi al legislatore stesso e di penetrare direttamente nell’ordinamento abbattendo, per così dire, le mura della statualità. Va per inciso notato che Süsterhenn sembra fare riferimento al patto Briand-Kellogg, con cui la Germania proclamava di rinunciare alla guerra come strumento di risoluzione delle controversie internazionali e che venne ovviamente disatteso dopo l’ascesa al potere di Hitler42. Una simile concezione, venata di un ottimismo quasi ingenuo nei confronti dell’ordinamento internazionale, visto alla stregua di puro strumento di pace e cooperazione tra i popoli, si ritrova appieno anche nei lavori costituenti italiani43. E forse non a caso un ruolo di primo piano fu giocato, in questo contesto, da due cattolici intrisi di dottrina della Chiesa come Dossetti in Italia e Süsterhenn in Germania. Significativo anche il fatto che Süsterhenn nel suo intervento si opponeva a un altro costituente della CDU, von Mangoldt, che era assai più cauto nell’apertura al diritto internazionale44. Se questo quadro di riferimento teorico-filosofico era delineato con chiarezza nel pensiero dei costituenti, le questioni di più immediato rilievo pratico rimasero spesso sfumate e lasciate in sospeso. Ad esempio, in Germania sorsero notevoli incertezze sul recepimento nell’ordinamento interno di sentenze e arbitrati emessi da istanze giurisdizionali internazionali e sia in Italia che in Germania non venne mai risolto in modo univoco il problema del rango nella gerarchia delle fonti da assegnare alle disposizioni del diritto internazionale45.

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Der Parlamentarische Rat. 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14, Hauptausschuss, p. 162 (58 seduta del 18 novembre 1948). Pone in risalto l’importanza di questo intervento di Süsterhenn: Schorkopf (nota n. 37), p. 57. 42 Si fece espressamente riferimento al patto Briand-Kellogg nella seduta del Grundsatzausschuss che affrontò le questioni relative al diritto internazionale: cfr. l’intervento di Eberhard in Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949; Akten und Protokolle, Bd. 5/I, Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993, p. 317 (128 seduta del 15 ottobre 1948). 43 Sui vari ideali dei costituenti italiani in relazione all’apertura verso la comunità internazionale, si veda per tutti: Cassese (nota n. 13), pp. 463 ss. 44 Cfr. Schorkopf (nota n. 37), p. 56. 45 Con riferimento all’Italia cfr. Cassese (nota n. 13), pp. 480 ss.; con riferimento alla Germania cfr. Schorkopf (nota n. 37), pp. 60 s. e 67 s.

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V. Spunti conclusivi: l’obiettivo costituzionale della pace come limitazione ultima della sovranità I dibattiti costituenti fanno emergere, anche in tema di limitazioni della sovranità, una trama valoriale comune nella Costituzione italiana e nel Grundgesetz tedesco. Alcuni punti ho cercato di metterli in luce nelle pagine precedenti. Vorrei concludere ponendo in rilievo una circostanza piuttosto ovvia, e che tuttavia a volte pare passare in secondo piano. L’impianto delle nuove costituzioni era ed è funzionale a edificare una pace duratura tra gli Stati. La pace non è un obiettivo, ma l’obiettivo degli Stati appena sorti dalle devastazioni della guerra46. Una delle immagini ricorrenti nei dibattiti costituzionali tedeschi è appunto quella del Trümmerfeld, del campo di macerie, tetro paesaggio che si era lasciato dietro il conflitto: la ritroviamo ad esempio in testa alla costituzione bavarese del 1946, proprio all’inizio del Preambolo, e a più riprese nelle parole Süsterhenn47. Lo Staatsziel Frieden, l’obiettivo costituzionale della pace48, tiene insieme il discorso che finora si è cercato di svolgere. Questo perché uno Stato che rinuncia alla guerra è uno Stato che si sveste di uno dei più importanti suoi diritti sovrani, e cioè dell’antichissimo ius ad bellum. Al tempo stesso, la concezione pluralistica della sovranità si propone come presupposto ineludibile per una dialettica tra Stati alternativa a quella data dal brutale mezzo del conflitto armato49. Una analisi dei dibattiti suggerisce che il “ripudio della guerra” italiano e il Friedensgebot tedesco sono molto meno distanti di quanto non possa a prima vista sembrare. Al Parlamentarischer Rat venne presa in considerazione l’idea di usare la formula impiegata nel Patto Briand-Kellogg del 1928, con degli esiti molto simili a quelli rappresentati dal nostro articolo 11. Il cristiano-democratico Kaufmann aveva proposto che il futuro articolo 26 della Legge fondamentale principiasse così: Der Krieg als Mittel der Auseinandersetzung zwischen den Völkern wird abgelehnt.

Il socialdemocratico Eberhard appoggiò la proposta nel corso della seduta del Grundsatzausschuss del 6 dicembre 1948, ma poi questa venne accantonata perché la formulazione pareva una mera proclamazione di principio50. Schmid andava molto fiero – a ricordarlo, quasi con scherno, è Heuss nella medesima seduta51 – della formulazione che aveva proposto più di due anni prima nella sua bozza di

46 Si veda la bellissima ricostruzione offerta in: Mario Losano, Le tre costituzioni pacifiste. Il rifiuto della guerra nelle costituzioni di Giappone, Italia e Germania, 2020. 47 Cfr. Su¨ sterhenn (nota n. 26), p. 7 e 9. 48 Sulla centralità – almeno sulla carta – di questo obiettivo costituzionale nel disegno del Grundgesetz: Erhard Denninger, Das Staatsziel Frieden, KJ 48 (2015), p. 134. 49 Cfr. Cassese (nota n. 13), p. 471. 50 Cfr. Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949; Akten und Protokolle, Bd. 5/I, p. 852 (308 seduta del 6 dicembre 1948). 51 Ivi, p. 853.

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Edoardo Caterina

costituzione per il Württemberg-Baden: der Krieg ist kein Mittel der Politik52. La guerra non è un mezzo della politica. Heuss la teneva per una Deklaration priva di contenuto normativo, e di qui il rigetto della proposta (o meglio: la sua mancata presa in considerazione). Eppure questa inversione kantiana del celebre detto di Clausewitz racchiude veramente lo spirito con cui molti dei costituenti vollero inserire le disposizioni pacifiste nelle nuovi costituzioni. La politica (e cioè: lo Stato, le istituzioni e forse anche la maggioranza della popolazione che le esprime in un sistema democratico) non può scegliere il conflitto armato come mezzo per raggiungere i propri obiettivi. Questo perché fu proprio la guerra l’esito nefasto della follia dell’unus monarcha e di una sovranità degenerata. Bibliografia Fonti dei dibattiti costituenti Assemblea Costituente. Atti della Commissione per la Costituzione. Relazioni e proposte, 1946. Assemblea Costituente. Atti della Commissione per la Costituzione, Prima Sottocommissione, 1947. Assemblea Costituente. Discussioni, 1947. Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949; Akten und Protokolle, Bd. 2, Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1981. Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949; Akten und Protokolle, Bd. 5/I, Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993. Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 9, Plenum, 1996. Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14, Hauptausschuss, 2009. Protokolle der Sitzungen der Unterausschu¨ sse: Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, Unterausschuss I: Grundsatzfragen [inedito]. Letteratura citata Aa.Vv., Atti della XIX Settimana sociale dei cattolici d’Italia, 1946. Calamandrei, Piero, Stato federale e confederazione di Stati, in Europa Federata, 1947, p. 24. Calasso, Francesco, I glossatori e la teoria della sovranità: studio di diritto comune pubblico, 1945. Cassese, Antonio, Gli Stati e la comunità internazionale (Gli ideali internazionalistici del costituente), in: Commentario Branca-Pizzorusso, Principi fondamentali (art. 1 – 12), 1975, p. 461. 52 Cfr. Frank R. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik. Prozesse der Verfassungsgebung in den Westzonen und in der Bundesrepublik, 1990, p. 414.

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Caterina, Edoardo, Alle origini del personalismo della Legge Fondamentale: un viaggio nei dibattiti costituenti tedeschi del dopoguerra (1946 – 1949), Diritto pubblico 2021, p. 485. Caterina, Edoardo, Il ritorno del diritto di natura nel costituzionalismo europeo del secondo dopoguerra, Diritto pubblico 2022, p. 1. Costa, Pietro, Il “pluralismo” politico-giuridico: una mappa storico-concettuale, Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 50 (2021), p. 29. Dalla Torre, Giuseppe, Guido Gonella e le origini della Costituzione, 2009. D’Aniello, Fernando, Quando uno Stato muore. Note sulla teoria giuridica di Hans Kelsen nel confronto con la Staatslehre dominante tra Weimar e Bonn, Materiali per una storia della cultura giuridica 2021, p. 489. Denninger, Erhard, Das Staatsziel Frieden, KJ 48 (2015), p. 134. Ehrenzeller/Schindler (Hrsg.), Hans Nawiasky – Leben, Werk und Erinnerungen, 2012. Faraguna, Pietro, Costituzione senza confini? Principi e fonti costituzionali tra sistema sovranazionale e diritto internazionale, in: F. Cortese, C. Caruso, S. Rossi (a cura di), Immaginare la Repubblica. Mito e attualità dell’Assemblea Costituente, 2018, p. 63. Gonella, Guido, Presupposti di un ordine internazionale: note ai messaggi di S.S. Pio XII, 1942. Kurtenacker, Sabine, Der Einfluss politischer Erfahrungen auf den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2017. Levi, Alessandra, La sovranità popolare, in: P. Calamandrei, A. Levi (a cura di), Commentario sistematico alla Costituzione italiana, vol. I, 1950, p. 9. Losano, Mario, Le tre costituzioni pacifiste. Il rifiuto della guerra nelle costituzioni di Giappone, Italia e Germania, 2020. Pavone, Claudio, Alle origini della Repubblica: scritti su fascismo, antifascismo e continuità dello Stato, 1995. Pfetsch, Frank R., Ursprünge der Zweiten Republik. Prozesse der Verfassungsgebung in den Westzonen und in der Bundesrepublik, 1990. Sale, Giovanni, De Gasperi, gli USA e il Vaticano all’inizio della Guerra Fredda, 2005. Schorkopf, Frank, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007. Su¨ sterhenn, Adolf, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens, in: Su¨ sterhenn/ Ru¨ fner (Hrsg.), Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens: mit Quellentexten zur Naturrechtslehre u. Staatsauffassung, 1948. Vogel, Klaus, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. Weber, Werner, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, 1949.

Souveränität und Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive Zugleich Bemerkungen zu Verfassungsidentität und Verfassungskulturen Von Alessandra Di Martino

I. Verfassungskulturen und Verfassungsidentität Das Thema ist tatsächlich sehr breit: In diesem Beitrag zur Podiumsdiskussion werde ich mich auf einige Bemerkungen zum Topos der Souveränität in der Rechtsprechung von drei Verfassungsgerichten beschränken und versuchen, deren Verhältnis zur Verfassungsidentität zu erläutern. Ich werde diesen Topos aus der Perspektive der Verfassungsvergleichung betrachten, wobei ich methodisch von der Relevanz der Verfassungskulturen ausgehen möchte. Dabei sind als wichtige Autoren zu nennen: unter anderen Peter Häberle, Hans Vorländer, Marie-Claire Ponthoreau und Paul Kahn, obwohl es Akzentverschiebungen gibt, die sich aus den jeweiligen intellektuellen Werdegängen und Lebenskontexten ergeben.1 Verfassungskultur ist ein Konzept, das sowohl Rechtskultur als auch politische Kultur umfasst; sie schließt sowohl subjektive (Einstellungen, Wertvorstellungen, Denken usw.) als auch objektive Elemente (Handeln von Bürgern, Gruppen, Staatsorganen, usw.) mit ein, die sich auf die Verfassung beziehen. Nach den Worten einer Historikerin der politischen Institutionen ist Verfassungskultur 1 Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 2 ff., 90 ff.; Marie-Claire Ponthoreau, Droit(s) constitutionnel(s) comparé(s), 2. Aufl., Paris, 2021, S. 127 ff.; Paul W. Kahn, The Cultural Study of Law: Reconstructing Legal Scholarship, Chicago London, 1999, sowie sein Interview in Daniel Bonilla Maldonado, The Cultural Analysis of Law: Questions and Answers with Paul Kahn, German L.J. 21 (2020), S. 284. Eine besondere Beachtung der constitutional cultures findet sich auch in Bruce Ackerman, Revolutionary Constitutions. Charismatic Leadership and the Rule of Law, Cambridge Mass., 2019. Über Häberles Verständnis von Verfassungskultur s. Hans Vorländer, ,Verfassungskultur‘ aus politikwissenschaftlicher Perspektive – Prolegomena zu einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Verfassungskultur. Staat, Europa und pluralistische Gesellschaft bei Peter Häberle, 2016, S. 27 ff.; Andreas Voßkuhle/Thomas Wischmeyer, Der Jurist im Kontext. Peter Häberle zum 80. Geburtstag, ebenda, S. 39 ff. Die Akzentverschiebungen beim Verständnis von Verfassungskultur/constitutional culture/cultura costituzionale je nach nationalem, kulturellem und politischem Kontext habe ich in Alessandra Di Martino, Culture costituzionali, storia e comparazione, Rivista italiana per le scienze giuridiche 2019, S. 77, untersucht.

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Alessandra Di Martino „[djer Boden, wo Verfassungen geboren sind, wo sie operieren, und Früchte tragen. […] Sie ist juristische Kultur, aber auch politische und soziale Kultur, sie ist Kultur einer Elite, die aber immer verknüpft mit dem gemeinsamen Empfinden eines Volkes mit Bezug auf seine Geschichte ist […]: Sie besteht aus Normen, aus Institutionen, aus wissenschaftlichen und politischen Überlegungen, aus Gebräuchen, aus Eigenschaften, die aus dem konkreten Operieren der Verfassung mit Bezug auf einen bestimmten sozialen Kontext hervorgehen.“2

Wenn einerseits den Verfassungskulturen ein maßgebliches Deutungspotenzial zukommt, taucht andererseits die Frage der Autonomie des Rechts auf: Inwiefern ist das Recht eine eigenständige Erscheinung und inwiefern reflektiert es Strukturen bzw. Entwicklungen anderer Gesellschaftsbereiche oder Disziplinen (d. h. der Politik, der Ökonomie, der Geschichte, der Anthropologie usw.)? Das gilt in besonderem Maße für das Verfassungsrecht, das in engem Zusammenhang mit der Politik steht; ferner ist für Verfassungsvergleicher der Beitrag der Verfassungsgeschichte, der Soziologie, der Anthropologie und der Ökonomie nicht zu vernachlässigen.3 Eine ausführliche Methodendiskussion muss hier ausbleiben, obwohl, wenn man genauer hinsieht, diese Probleme als eine Umformulierung der alten – der deutschen Verfassungslehre spätestens seit der Weimarer Zeit gut bekannten4 – Frage nach dem Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit angesehen werden können. Dieses Verhältnis kann als eine innere Spannung beschrieben werden; gleichzeitig soll man der Gefahr entgehen, durch eine Überschätzung der Verfassungswirklichkeit und ihrer Veränderungen im Laufe der Zeit, die Normativität der Verfassung und ihren transformativen und emanzipativen Inhalt herunterzuspielen.5 Wenn man sich auf die Begründungen der Verfassungsgerichte konzentriert, sollte man eine Autonomie des Rechts anerkennen, die durch Argumentationsmuster, Rechtsdogmatik, Rechtsfiguren und Prinzipien, eben Topoi, konstituiert wird. Jeden2 Fernanda Mazzanti Pepe, Introduzione. Il modello americano e la sua circolazione, in: dies. (Hrsg.), Culture costituzionali a confronto. Europa e Stati Uniti dall’età delle rivoluzioni all’età contemporanea, Genova, 2005, S. 61 (62). 3 Bei zeitgenössischen Verfassungsvergleichern gehen oft Synkretismus und kritischer Ansatz miteinander einher, s. Ponthoreau (Fn. 1); dies., Le pluralisme méthodologique dans l’enquête comparative à l’heure de la globalisation, Diritto pubblico comparato ed europeo 2017, S. 53; Günther Frankenberg, Comparative Law as Critique, Cheltenham Northampton, 2016. Ein differenziertes Bild von Rechtstheorien mit interdisziplinären Zügen findet sich z. B. in Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl., 2020. 4 Indessen ist das Problem viel älter und im bürgerlichen Recht tief verwurzelt, wie Christoph Menke, Kritik der Rechte, 2015, gezeigt hat. Zur Diskussion im Weimarer Richtungsstreit s. statt allen Christoph Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, 2018, S. 77 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 154 ff.; Manfred Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, AöR 102 (1977), S. 161. Davor wurde das Verhältnis zwischen Recht und Wirklichkeit u. a. von Autoren wie Ferdinand Lassalle und Georg Jellinek thematisiert. 5 Vor einem solchen Risiko hatte bereits dezidiert Helmut Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, in: Deiseroth/Derleder/Koch/Steinmeier (Hrsg.), Helmut Ridder. Gesammelte Schriften, 2010, S. 9, 13 ff. [Erstveröffentlichung 1975] gewarnt.

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falls gilt das für westeuropäische Länder.6 Angesichts der Spannung zwischen dem Recht und den anderen sozialen Feldern kann man daher aus einer externen Perspektive von einer relativen Autonomie des Rechts reden. Aus einem internen Blickwinkel, der auf Rechtsauslegung, Dogmatik und Argumentation beruht, rückt die Idee der Autonomie in den Vordergrund. Letztere scheint durch den Verweis auf gleiche oder ähnliche Argumente durch Verfassungsgerichte verschiedener Staaten sogar verstärkt zu werden: Das Thema der argumentativen Anwendung von foreign precedent bzw. foreign law ist seit Anfang dieses Jahrhunderts – als universalistische Tendenzen im Konstitutionalismus wieder an Kraft gewannen und sogar der ansonsten eher isolationistische Supreme Court der Vereinigten Staaten sich erheblich auf ausländisches Recht bezog – von der vergleichenden Rechtslehre mehrmals erörtert worden. Es wurde als ein besonderer Fall der legal transplants oder der migration of constitutional ideas betrachtet, wobei man immer noch debattiert, was die treffendste Metapher ist.7 In den letzten Jahren hat man eine Zunahme der Anwendung des Arguments der Verfassungsidentität durch Verfassungsgerichte beobachtet, insbesondere in Europa8, aber auch außerhalb, die als Zeichen eines identity turn in der Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen wurden. Diese Wende wurde auch als eine Reaktion auf die entsolidarisierenden und individualistischen Wirkungen einer neoliberalen Globalisierung verstanden.9 In einem solchen Rahmen konnte der gerichtliche Erfolg von Verfassungsidentität ebenso als Ausdruck eines neuen spatial statism be-

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Im Gegenteil ist der Druck der Regierung auf die Gerichte in den illiberalen Demokratien Osteuropas groß. Trotz der Verarbeitung von spezifischen juristischen Argumenten (s. Philip C. Bobbit, Constitutional Interpretation, Oxford, 1991) ist der Einfluss der Politik auf die Justiz auch in den Vereinigten Staaten bedeutsam, wegen einer starken Polarisierung der politischen Kultur und der Regeln über die Ernennung der Bundesrichter: s. zuletzt Michael J. Klarman, Foreword. The Degradation of American Democracy – and the Court, Harv L Rev 134 (2019), S. 4. Die radikale Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA wurde durch ein breiteres Spektrum von Begründungen artikuliert, ist aber in der Zeit entstanden, als die Supreme Court eine konservative Mehrheit hatte; für eine Gegen-Kritik s. Dieter Grimm, Neue Radikalkritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit (2020), in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, 2022, S. 357. 7 Sujit Choudhry (Hrsg.), The Migration of Constitutional Ideas, Cambridge New York, 2006; Tania Groppi/Marie Claire Ponthoreau (Hrsg.), The Use of Foreign Precedents by Constitutional Judges, Oxford Portland, 2013; Giuseppe F. Ferrari (Hrsg.), Judicial Cosmopolitanism. The Use of Foreign Law in Contemporary Constitutional Systems, Leiden Boston, 2019. Über legal transplants s. zuletzt Michele Graziadei, Comparative Law, Transplants, and Receptions, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2. Aufl., Oxford, 2019, S. 442. 8 Mattias Wendel, Comparative Reasoning and the Making of a Common Constitutional Law: EU Related Decisions of National Constitutional Courts in a Transnational Perspective, 11 (2013) ICon, S. 981. 9 Doreen Lustig/Joseph H. H. Weiler, Judicial Review in the Contemporary World – Retrospective and Prospective, ICON 16 (2018), S. 315. Eine Diskussion dazu findet sich in ICON 17 (2019).

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trachtet werden,10 insofern Verfassungsidentität die wesentlichen Elemente und Werte11 der nationalen Verfassungen einschließt und das Argument der Souveränität teilweise begleitet und teilweise ersetzt. Daraus folgt, dass Verfassungsidentität als richterliche Übersetzung bzw. Entwicklung von verfassungstheoretischen Konzepten wie Souveränität und verfassungsgebender Gewalt erscheint und dass die Frage vom Verhältnis zwischen der Verfassungsidentität und der Identität des Volkes als constitutional authority aufgeworfen wird.12 Diesbezüglich ist oft in der kontinentalen Verfassungslehre – manchmal übereinstimmend, manchmal kritisch – auf Carl Schmitt hingewiesen worden, der die Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz erarbeitet und die „Identität und Kontinuität der Verfassung“ als Grenze der Verfassungsänderung betrachtet hat.13 Was den europäischen Rechtsraum betrifft, verkörpert Verfassungsidentität angesichts der Spannung zwischen der europäischen Einheit und der nationalen Vielfalt den zweiten Pol (Art. 4 Abs. 2 EUV), obwohl sich gerade im letzten Jahr der EuGH das Argument angeeignet und sich auf europäische gemeinsame Werte nach Art. 2 TUE als Inhalt einer europäischen Verfassungsidentität bezogen hat.14 Darüber hinaus sei hier an diejenigen Arbeiten erinnert, die aus dem angelsächsischen Milieu stammen und die constitutional identity hinsichtlich des Verfassungssubjekts, der Verfassungsgebung und der Verfassungswandlung untersucht haben.15 Verfassungsidentität ist als Vermittlung zwischen den Ideen von memêté/sameness 10

Ran Hirschl/Ayelet Schachar, Spatial Statism, ICON 17 (2019), S. 387. Es ist zutreffend bemerkt worden, dass die Aufgabe, zu bestimmen, welche Verfassungselemente wesentlich sind, von politischen sowie moralischen Argumenten über Prinzipien und Werte abhängt: s. José Luis Martí, Two Different Ideas of Constitutional Identity: Identity of the Constitution v. Identity of the People, in: Saiz Arnaiz/Alcoberro Llivina (Hrsg.), National Constitutional Identity and European Integration, Cambridge, 2013, S. 17, 28 – 29. 12 Vgl. Roberto Toniatti, Sovereignty Lost, Constitutional Identity Regained, in: Saiz Arnaiz/Alcoberro Llivina (Fn. 11), S. 49 ff.; Martí (Fn. 11), S. 17, 33 ff., über the „people as a constitutional authority“. 13 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 1 ff., 11 ff., 19 – 22, 25 f., 76, (103). S. zuletzt, im Rahmen einer breiteren Diskussion, Martin Mlynarski, Zur Integration staatlicher und europäischer Verfassungsidentität, 2021, S. 147 ff., auch mit Bezug auf Hans Kelsen und Rudolf Smend. S. ebenso auch Alexandre Viala, Le concept d’identité constitutionnelle. Approche théorique, in: Burgorgue-Larsen (Hrsg.), L’identité constitutionnelle saisie par les juges en Europe, Paris, 2011, S. 7 ff. 14 EuGH, C-156/21, Ungarn/Parlament und Rat, v. 16. 2. 2022, Rn. 127, 232; C-157/21, Poland/Parlament und Rat, v. 16. 2. 2022, Rn. 145, 264. Unter den deutschen Staatsrechtslehrern ist diese Position nachdrücklich von Armin von Bogdandy, Strukturwandel des öffentlichen Rechts. Entstehung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaft, 2022, S. 154 ff., 180 ff., 412 ff. verteidigt worden. S. u. a. auch Luke Dimitrios Spieker, Framing and Managing Constitutional Identity Conflicts: How to Stabilize the Modus Vivendi Between the Court of Justice and National Constitutional Courts, CMLR 57 (2020) S. 361, 386 ss. 15 Michel Rosenfeld, The Identity of the Constitutional Subject. Selfhood, Citizenship, Culture and Community, London New York, 2010; Gary J. Jacobsohn, Constitutional Identity, Cambridge Mass., 2010. 11

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(Beständigkeit in der Zeit, die sich insbesondere aus dem Verfassungstext ergibt) und ipseité/selfhood (inhaltliche Eigentümlichkeit, die gegenüber anderen Subjekten behauptet wird) angesehen worden.16 Sie wird als etwas nicht statisches, sondern dynamisches betrachtet, obwohl nicht völlig veränderlich; neben dem Text sind Praxis und Kultur der politischen Gemeinschaft maßgeblich. Als bestimmende Elemente der constitutional identity werden die Art und Weise der Zusammensetzung des Volkes (mehr oder weniger individualistisch, pluralistisch, homogen, multikulturell, multinational usw.) und der Teilnahme der Bürger an der Öffentlichkeit sowie die Prozesse der constitution making (durch eine Revolution, durch fremde Mächte nach einer Kriegsniederlage, durch Aushandlung zwischen Gegnern usw.) aufgeführt.17 Constitutional disharmonies, innerhalb und außerhalb des Textes der Verfassung, seien kein Hindernis bei der Erarbeitung der Verfassungsidentität, sondern fruchtbare Elemente auf dem Weg dahin. Ferner sei eine bedeutsame Differenzierung bezüglich des Verhältnisses zwischen Verfassungsrecht und sozialer Realität hervorzuheben. Es wird einerseits von confrontational constitutions und andererseits von acquiescent constitutions geredet: Erstere sind Verfassungen, die auf eine größere Kluft mit der Verfassungswirklichkeit aufbauen und eine eher konfliktuelle und transformative Ausrichtung aufweisen; letztere sind Verfassungen, die sich eher der Tradition und den bestehenden sozialen Strukturen anpassen.18 Die meisten Verfassungen sind dadurch zu unterscheiden, dass sie sich entweder der einen oder der anderen Position annähern. Dass der Begriff von Verfassungsidentität gerade eine günstige Konjunktur hat, kann als Beweis dafür angesehen werden, dass er nicht vollkommen unabhängig von der Geschichte sowie von sozialen und politischen Prozessen ist und dass – ich wiederhole es – die Autonomie des Verfassungsrechts eine relative ist. Um die Bedeutung der Verfassungsidentität und ihren Gebrauch durch Verfassungsgerichte besser begreifen zu können, sollten auch Faktoren in Kauf genommen werden wie die Typologien der Verfassungsgerichtsbarkeit, die nationalen Wege zur Staatswerdung und Verfassungsgebung (also Verfassungsgeschichte), Verfassungstheorie und Verfassungslehre, die vorwiegenden Einstellungen der Völker zur europäischen Eini16

Der Unterschied zwischen memêté und ipseité wurde von Paul Ricoeur, Soi-méme comme un autre, Paris, 1990, S. 167 ff., thematisiert. Im verfassungsrechtlichen Bereich wurde u. a. von Rosenfeld (Fn. 15), S. 27 ff., und Julien Sterck, Sameness and Selfhood: The Efficiency of Constitutional Identities in EU Law, Eur. L. J. 24 (2018), S. 281 wiederaufgenommen. Nach der Meinung von Viala (Fn. 13), S. 9 ff. sei Verfassungsidentität nur mit ipseité in Verbindung zu bringen, wobei der Gegensatz von Identität als ipseité Identität als équivalence ist. 17 Rosenfeld (Fn. 15) S. 147 ff., s. auch dies., Constitutional Identity, in: dies/Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, Oxford, 2012, S. 756 ff. Für eine teilweise unterschiedliche Einordnung s. Ackerman (Fn. 1), S. 1 ff. 18 Jacobsohn (Fn. 15), S. 1 ff., 84 ff., 213 ff. Eigentlich wurde vom Autor für die erste Gruppe der Name militant constitutions benutzt, es kann aber ein Missverständnis mit der gleichnamigen Kategorie Loewensteins, die wehrhaften Demokratien miteinschließt, entstehen. S. auch dies., The Formation of Constitutional Identities, in: Dixon/Ginsburg (Hrsg.), Comparative Constitutional Law, Cheltenham, 2011, S. 129 ff.

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gung, einschließlich der ökonomischen Aspekte. Mit anderen Worten: Man muss Elemente berücksichtigen, die zur Verfassungskultur gehören. Es gibt schon mehrere Arbeiten, die das Umgehen der Verfassungsgerichte mit Verfassungsidentität in den Mitgliedstaaten der EU vergleichend analysiert haben und die gegenüber der Erarbeitung einer europäischen Verfassungsidentität prinzipiell nicht verschlossen stehen.19 Ich werde im Folgenden versuchen, die wichtigsten Züge des Rückgriffs auf das Konzept der Verfassungsidentität bei den Verfassungsgerichten Frankreichs, Deutschlands und Italiens zusammenzufassen und sie in context zu lesen, wobei ich meine Aufmerksamkeit insbesondere auf Deutschland und Italien richten werde. Die Gerichte Osteuropas werde ich beiseitelassen, sowie die anfängliche Erarbeitung einer europäischen Verfassungsidentität durch den EuGH.20 Die Schlussbetrachtungen werden einigermaßen offen formuliert sein, wie es einer sich noch im Gang befindenden Diskussion angemessen ist.

II. Souveränität und Verfassungsidentität beim Conseil Constitutionnel Wenn man von einer kurzen Erwähnung im Solange I-Urteil des Bundesverfassungsgericht absieht,21 findet man zum ersten Mal 2006 beim französischen Conseil Constitutionnel eine Bezugnahme zur Verfassungsidentität, die in einer entscheidenden Stelle der Begründung erscheint.22 In der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel steht ferner das Argument der Verfassungsidentität besonders nah zu dem der Souveränität: Verfassungsidentität basiert auf dem Fundament der Souveränität, ist aber auch als deren Entwicklung konzipiert worden.23 Zuerst hat der Conseil Constitutionnel 1970 den Ausdruck „conditions essentielles d’exercice de la souveraineté nationale“ benutzt, um die Grenzen der Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge zu deuten.24 1976 hat er, als er sich über die Verfas19

Christian Calliess/Gerhard van der Schyff (Hrsg.), Constitutional Identity in a Europe of Multilevel Constitutionalism, Cambridge, 2020; Saiz Arnaiz/Alcoberro Llivina (Fn. 11); François Millet, L’Union européenne et l’identité constitutionnelle des états membres, Paris, 2013; Laurence Burgorgue-Larsen (Hrsg.), L’identité constitutionnelle saisie par les juges en Europe, Paris, 2011; Alessandro Bernardi (Hrsg.), I controlimiti: primato delle norme europee e difesa dei principi costituzionali, Napoli, 2017; Spieker (Fn. 14); Mlynarski (Fn. 13). S. auch die Special Issue von dem German Law Journal, Constitutional Identity in the Age of Global Migration 18 (2017). 20 S. oben (Fn. 14). 21 S. unten (Fn. 51). 22 Conseil constitutionnel, 27. 7. 2006, 2006 – 540 DC. 23 Millet (Fn. 19), S. 23 ff.; stärker thematitsiert wird diese Verbindung von Martin Quesnel, La protection de l’identité constitutionnelle de la France, Paris, 2015; Jean-Philippe Derosier, Les limites constitutionnelles à l’intégration européenne. Étude comparée: Allemagne, France, Italie, Issy-les-Moulineaux, 2015, S. 170 ff., 321 ff. 24 Conseil constitutionnel, 19. 6. 1970, 70 – 39 DC.

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sungsmäßigkeit von der direkten und allgemeinen Wahl der europäischen Versammlung äußerte, eine Differenzierung zwischen nicht erlaubten Übertragung und erlaubten Begrenzung der nationalen Souveränität formuliert.25 In den Vordergrund kamen die „conditions essentielles d’exercice de la souveraineté nationale“ später oft in Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit von internationalen bzw. europäischen Verträgen (also europäischem Primärrecht), d. h. Verfahren nach Art. 54 fr. Verf. Von den drei hier berücksichtigten Verfassungsgerichten ist der französische Conseil constitutionnel derjenige, der eine solche Kompetenz ausdrücklich von der Verfassung bekommen hat, was mit der anfänglichen Verortung der contrôle de constitutionalité in der Nähe – wenn nicht innerhalb – des politischen Prozesses in Einklang steht:26 Der Verfassungsrat kann von manchen Verfassungsorganen (darunter dem Präsident der Republik) und von 60 Parlamentariern angerufen werden, um die Vereinbarkeit von internationalen bzw. europäischen Abkommen mit der Verfassung zu prüfen. Falls eine negative Feststellung als Ergebnis ausgesprochen wird, kann das Abkommen nur nach einer entsprechenden Verfassungsänderung ratifiziert werden. Somit sind nach dem Abschluss der wichtigsten europäischen Verträge mehrere Entscheidungen nach Art. 54 fr. Verf. gefolgt: Insbesondere nach den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Lissabon und nach dem Vertrag über eine Verfassung Europas prüfte der Conseil constitutionnel eine Verletzung der „conditions essentielles d’exercice de la souveraineté nationale“ und fand sie mehrmals angetastet.27 In dieser Konstellation ging es hauptsächlich um Kompetenzen, die besonders nah zu der nationalen Souveränität standen (Währungspolitik, Einwanderungspolitik, Außen- und Verteidigungspolitik, Wahlrecht, Strafrecht und Strafprozessrecht usw.) und um Entscheidungsmodalitäten im Rat (vor allem, aber nicht nur, der Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit). Den Urteilen des Verfassungsrates folgten viele Verfassungsänderungen (sog. révision-adjonctions), was diese als eine „solution quasiment systématique et banalisée“ erschienen ließ.28 Wenn der Topos der Verfassungsidentität im Lichte dieser Rechtsprechung anzusehen ist, muss man zugleich erheben, dass die Verfassungsidentität am Anlass einer anderen Kompetenz des Verfassungsrates, nämlich des abstrakten und präventiven Normenkontrollverfahrens (Art. 61 fr. Verf.), entstanden ist. Dabei geht es insbesondere um die Umsetzung europäischer Richtlinien (also Sekundärrecht): Der Conseil constitutionnel betrachtet die Umsetzung solcher Akte nach Art. 88-1 fr. Verf. als 25

Conseil constitutionnel, 30. 12. 1976, 76 – 71 DC. Zu der bedeutsamen Entwicklung der contrôle de constitutionalité in Frankreich s. Dominique Rousseau/Pierre-Yves Gahdoun/Julien Bonnet, Droit du contentieux constitutionnel, 12. Aufl., Paris, 2020. 27 Conseil constitutionnel, 9. 4. 1992, 92 – 308 DC; 2. 9. 1992, 92 – 312 DC; 31. 12. 1997, 97 – 394 DC; 19. 11. 2004, 2004 – 505 DC; 20. 12. 2007, 2007 – 560 DC. 28 Constance Grewe/Joël Rideau, L’identité constitutionnelle des États membres de l’Union européenne: flash back sur le coming out d’un concept ambigu, in: Chemin d’Europe. Mélanges en l’honneur de Jean Paul Jacqué, Paris, 2010, S. 319 (338). 26

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verfassungsrechtlich geboten; wegen dem kurzfristigen Termin, um eine Entscheidung zu liefern, prüft er nur, ob ein offensichtlicher Fehler bei der Umsetzung vorliegt. Allerdings gibt es eine Grenze zur Umsetzung sowie zum Vorrang des Unionsrechts: 2004 hat der Conseil constitutionnel von den „dispositions expresses contraires de la Constitution“ geredet29 und dann ab 2006 von den „règles ou principes inhérents à l’identité constitutionnelle de la France“.30 Später hat der Conseil constitutionnel solch eine Kontrolle auch auf die gesetzliche Anpassung von Verordnungen und auf den Abschluss internationaler Abkommen durch die EU innerhalb derer ausschließlichen Zuständigkeit ausgedehnt.31 Aus einer internen, rechtsdogmatischen Perspektive kann das Weglassen der ersten Formulierung (der „ausdrücklichen entgegenstehenden Bestimmung der Verfassung“) zugunsten der Formulierung der Verfassungsidentität dadurch erklärt werden, dass sie dem ungeschriebenen Verfassungsrecht nicht genug Rechnung getragen hat.32 Eigentlich hatte der Conseil constitutionnel schon in dem Urteil über den Verfassungsvertrag einen Verweis zur (nationalen) Identität und insbesondere zum Art. I-5 jenes Vertrages gemacht und als Schranke zum Vorrangsprinzip erhoben.33 Mit Bezug auf diese Entscheidung und auf das Verhältnis zwischen europäischem Recht und Verfassungsrecht behauptete kurz danach der Präsident des Conseil constitutionnel mit einem ausdrücklichen Verweis auf die Verfassungsidentität: „Mais non, le droit européen, si loin qu’aillent sa primauté et son immédiateté, ne peut remettre en cause ce qui est expressément inscrit dans nos textes constitutionnels et que nous est propre […] tout ce qui est inhérent à notre identité constitutionnelle, au double sens du terme ,inhérent‘: crucial et distinctif. Autrement dit: l’essentiel de la République.“34

Aus einem externen Blickwinkel, der breitere Elemente des sozialen und politischen Umfeldes berücksichtigt, kann man nicht umhin zu bemerken, dass die Entscheidung von 2006 kurz nach dem Referendum von 2005 erlassen worden ist, wodurch das französische Volk den europäischen Verfassungsvertrag abgelehnt hat.35 Die Referenda von 2005 in Frankreich und Holland waren damals einige der wenigen Ereignisse, welche die politische und die Bürgerschaft unmittelbar betreffende Dimension der europäischen Integration stärker in den Vordergrund auftauchen ließen, wobei bis dahin der supranationale Konstitutionalismus eher von der juridischen Di29

Conseil constitutionnel, 10. 6. 2004, 2004 – 496 DC; s. auch Conseil constitutionnel, 1. 7. 2004, 2004 – 497 DC; 29. 7. 2004, 2004 – 498 DC; 29. 7. 2004, 2004 – 499 DC. 30 Conseil constitutionnel, 25. 7. 2006, 2006 – 540 DC; s. auch Conseil constitutionnel, 30. 11. 2006, 2006 – 543 DC. 31 Ein Überblick bei Francois Millet, Constitutional Identity in France. Vices and – Above All – Virtues, in: Calliess/van der Schyff (Fn. 19), S. 134, 142 ff. 32 Statt allen Quesnel (Fn. 23), S. 43 ff. 33 Conseil constitutionnel, 19. 11. 2004, 2004 – 505 DC. 34 Voeux du Président du Conseil constitutionnel, M. Pierre Mazeaud, au Président de la République, v. 3. 1. 2005, Cahiers du Conseil Constitutionnel 18, Juli 2005; dazu Millet (Fn. 19), S. 39 f. 35 Vgl. Ponthoreau (Fn. 1), 428.

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mension geprägt worden war. Sie wurden in den jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten von lebhaften Debatten vorausgegangen, die ökonomische, aber vor allem politische und kulturelle Aspekte berührt haben. In Frankreich wurde die Verwerfung des Verfassungsvertrages von einer nicht knappen Mehrheit der Bevölkerung beschlossen, die quer zu den Parteilinien stand.36 Die demokratische Konfrontation und die Abstimmung des Volkes gegen den Vertrag könnten als eine Erscheinung der contre-democratie im Sinne von Pierre Rosanvallon angesehen werden, d. h. als eine organisierte Form des Misstrauens gegenüber der Macht, hier durch eine Ausübung von der démocratie de surveillance und der negative Politik des empêchement.37 Daher kann ein Zusammenhang zwischen der politisch relevanten Ablehnung des Verfassungsvertrages durch das französische Volk und der Anwendung des Topos der Verfassungsidentität durch den Verfassungsrat nicht geleugnet werden. In der Rechtsprechung und vor allem in der französischen Lehre wurde über die genauere Bedeutung der Verfassungsidentität diskutiert; unter den noch ungeklärten Fragen zählt diejenige über den Grad der Spezifizität der französischen Verfassungsidentität gegenüber den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV). Ebenso ambivalent ist der Verweis des Conseil constitutionnel auf den constituent, der allein von der Verfassungsidentität abweichen darf: Ein Vergleich mit der früheren Rechtsprechung spricht für eine Gleichstellung mit dem verfassungsändernden Gesetzgeber (der pouvoir constituant derivé); ein theoretischer Blick auf die Lehre des Verfassungskerns würde aber auf die verfassungsgebende Gewalt (pouvoir constituant originaire) und damit auf eine gewisse supraconstitutionnalité hinweisen.38 Erstere These hat zwischen französischen Verfassungsrechtlern mehr an Zustimmung gewonnen. Die Verfassungsidentität hat eine Komponente, die auf die longue durée und auf die konstitutionelle Tradition Frankreichs verweist. Hier tauchen die deutlichsten Parallelen mit der Souveränität auf: Gemäß einer alten und verwurzelten Theorie, die auf Jean Bodin zurückweist, wird Souveränität als die Eigenschaft der Unabhängigkeit und des Zuhöchstseins verstanden. Sie ist einheitlich, unveräußerlich und unteilbar. Wenn man zudem die politische Dimension dabei berücksichtigt, werden folglich die Gesamtheit der Staatsgewalt sowie deren primäre Legitimation relevant, 36 Vgl. Min Shu, Referendums and the Political Constitutionalisation of the EU, Eur L. J. 14 (2008), S. 423. Zur Spannung zwischen der juristischen und der politischen Dimension (eher auf der hohen Ebene der Staatsorgane und der supranationalen Gremien) in den ersten Jahrzehnten der europäischen Integration s. Joseph H. Weiler. The Transformation of Europe, Yale L. J. 100 (1991), S. 2403. 37 Pierre Rosanvallon, La Contre-Démocratie. La politique à l’âge de la défiance, Paris, 2006, S. 33 ff., 123 ff., 181 ff. 38 Vgl. einerseits Michel Troper, Identité constitutionnelle, in: Mathieu (Hrsg.), 1958 – 2008. Cinquantième anniversaire de la constitution française, Paris, 2008, S. 123; Grewe/ Rideau (Fn. 28), S. 338 – 340, sowie Conseil constitutionnel, 26. 3. 2003, 2003 – 469 DC; andererseits Édouard Dubout, Les ,règles ou principes inhérents à l’identité constitutionnelle de la France‘: une supra-constitutionnalité?, in Revue française de droit constitutionnel, 83 (2010), S. 451; Derosier (Fn. 23), S. 349.

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die nach der französischen Revolution von der nation oder dem peuple stammt.39 Weiterhin wird von der aktuellen französischen Verfassung die Souveränität mehrmals erwähnt (Präambel, Titel 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 S. 3). Ein beständiges Element in der Geschichte des französischen Konstitutionalismus ist der Republikanismus. Damit ist nicht nur die Wahl für eine gegen die Monarchie und das Kaisertum republikanische Regierungsform gemeint, die als ausdrückliche Grenze der Verfassungsänderung vorgesehen ist (Art. 89 Abs. 5 fr. Verf.), sondern auch eine politische Tradition, die zugleich kontraktualistisch und universalistisch ist, und gegen partikuläre Gruppierungen ausgerichtet ist; eine Tradition die stark auf dem Prinzip der formellen Gleichheit beruht und die Partizipation am öffentlichen Leben insbesondere durch Repräsentation als Tugend sieht. Wenn auch nicht identisch mit Demokratie, steht der universale Republikanismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen der Demokratie besonders nah; ihm ist eine Spannung zwischen Volkssouveränität und gouvernement représentatif immanent. Verbunden mit der republikanischen Tradition sind auch die principes fondamentaux reconnues par les lois de la République, die in dem verfassungsrechtlichen Maßstab (dem bloc de constitutionnalité) integriert worden sind.40 Als weitere Bestandteile der Verfassungsidentität werden Elemente gezählt, die immer noch mit dem Republikanismus verknüpft sind: die Prinzipien der unité et indivisibilité de la République und der laïcité sowie das Prinzip der Gewaltenteilung, in den französischen Ausprägungen der dualité der Gerichtsbarkeiten und der Verteilung der Kompetenzen zwischen loi und réglement (Art. 34, 37 und 41 fr. Verf.), und das Recht auf Asyl.41 Da die Verfassungsidentität nicht nur statisch und in der Vergangenheit verankert ist, sondern auch dynamisch und in die Zukunft blickend, werden als ihre zusätzliche Komponente auch soziale Rechte, die nationale Solidarität ausdrücken, und ökologische Prinzipien miteinbezogen. Beide gehen aus den Präambeln der Verfassungen von 1946 und 1958 hervor und gehören somit zu dem bloc de constitutionnalité. Hinsichtlich dieser Elemente ist ein höheres Schutzniveau der französischen Verfassung gegenüber der europäischen Rechtsordnung behauptet worden, da die letztere eher Marktfreiheiten in den Mittelpunkt stelle und übergreifende Aspekte des Umweltschutzes vernachlässige.42 Als evolutive Ausprägungen des Gleichheitsprinzips sind weiterhin der Schutz vor Diskriminierungen sowie der parité im öffentlichen Dienst gemeint 39 Quesnel (Fn. 23), S. 85 ff.; in einer normativistischen Perspektive Derosier (Fn. 23), S. 170 ff. Zu Souveränität, Staatsgewalt und verfassungsgebender Gewalt vgl. insbesondere Raymond Carré de Malberg, Contribution à la théorie général de l’État, Paris, 1920/1922, S. 71 ff.; Olivier Beaud, La puissance de l’État, Paris, 1994. 40 Millet (Fn. 13), S. 107 ff.; Quesnel (Fn. 23), S. 154 ff. Zur Entstehung und Bedeutung von Art. 89 Abs. 5 fr. Verf. s. Derosier (Fn. 23), S. 30 ff. Zum Republikanismus in Frankreich s. Claude Nicolet, L’idée républicaine en France (1789/1924). Essai d’histoire critique, Paris, 1982. 41 Millet (Fn. 13), S. 120 ff.; ders. (Fn. 31), S. 148 – 150; Quesnel (Fn. 23), S. 165 ff. 42 Millet (Fn 13), S. 139 ff.; ders. (Fn. 31), S. 150; Quesnel (Fn. 23), S. 186 ff. In Bezug auf die Umwelt und die Charte de l’environnement von 2004 sollte das mindestens bis zum Next Generation EU gelten.

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worden.43 Erst neulich hat der Conseil constitutionnel mit einem Hinweis auf die Déclaration von 1789 das Verbot der Übertragung von polizeilichen Funktionen an private Akteure als Teil der Verfassungsidentität anerkannt.44 Souveränität kann daher in Frankreich als historische Wurzel der Verfassungsidentität und als deren strukturellen Kern betrachtet werden. Die tendenzielle Unbestimmtheit der Verfassungsidentität – sowie die der Souveränität – beschwört den obersten Geltungsgrad bestimmter Prinzipien und die fundamentale demokratische Legitimation der ganzen Rechtsordnung, die durch staatliche Institutionen vermittelt wird. Gleichfalls hat die französische Verfassungslehre in dem Wandel zur Verfassungsidentität eine Evolution gesehen, indem das Konzept der Verfassungsidentität gegenüber demjenigen der Souveränität bevorzugt wurde. Ohnehin ist der Eindruck entstanden und zum Teil gerechtfertigt, dass, während das Konzept der Souveränität eher Konfrontation anstrebt, dasjenige der Verfassungsidentität mehr auf Kommunikation mit der europäischen Rechtsordnung ausgerichtet ist.

III. Staatlichkeit, Demokratieprinzip und Verfassungsidentität beim Bundesverfassungsgericht Was Deutschland betrifft, können die Beiträge von Andreas Voßkuhle und der anderen deutschen Kollegen die Stellung des Verfassungsgerichts bestimmt besser einordnen als ich.45 Deswegen werde ich mich auf einige Punkte beschränken, die mich in einer vergleichenden Perspektive beeindruckt haben. Erstens muss man ein typischer „German Approach“ – nach dem Titel eines in den letzten Jahren erschienenen Buches46 – auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennen, der sehr dogmatisch und theoretisch arbeitet. Das gilt auch wenn das BVerfG entgegen einer in der Lehre vertretenen Meinung47 keine eigene Staatstheorie treiben will;48

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Millet (Fn. 13), S. 135 f. Zur Einrahmung der parité im universalistischen Diskurs des Republikanismus s. Laure Bereni/Eléonore Lépinard, La parité, contresens de l’égalité? Cadrage discursif et pratique d’une réforme, Nouvelles Questions Féministes, 22 (2003), S. 12 ff. 44 Conseil constitutionnel, 15. 10. 2021, 2021 – 940 QPC. 45 S. insbesondere die Beiträge von Andreas Voßkuhle, Martin Nettesheim und Justus Vasel, in diesem Band. 46 Christoph Schönberger (Hrsg.), Der „German Approach“. Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich, 2015. 47 S. u. a. Robert Chr. Van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa. Von Solange über Maastricht und Lissabon zur EU-Grundrechtecharta, 8. Aufl., 2020; Oliver Lepsius, Funktion und Wandel von Staatsverständnissen, in: Voßkuhle/Bumke/ Meinel (Hrsg.), Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates im Spannungsfeld der Disziplinen, 2013, S. 37, 51 f. 48 Andreas Voßkuhle, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts, in: ders./Bumke/ Meinel (Fn. 47), S. 371, 371 ff., 376.

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außerdem benutzt das Gericht Bilder, die mit der Staatstheorie verknüpft sind und die Auslegung ausrichten.49 Anders als in Frankreich ist die Souveränität in den ersten Leitentscheidungen zum Verhältnis zwischen dem deutschen Recht, einschließlich des Verfassungsrechts, und dem europäischen Recht kein Schlüsselbegriff gewesen. Das hängt auch davon ab, dass Souveränität im Grundgesetz nicht erwähnt wird und dass in den Jahrzehnten nach dem Ende des Nationalsozialismus und des Krieges die Bundesrepublik die Errichtung eines in der Völkergemeinschaft reibungslos eingegliederten offenen Verfassungsstaates anstrebte. Völkerrecht wurde ferner als ein Mittel zur Kontrolle der Besatzungsmächte gesehen und als Nährboden des Prinzips der Selbstbestimmung der Völker geschätzt, das das Streben für eine Vereinigung des geteilten Landes legitimieren könnte. Weiterhin waren während des kalten Krieges die militärische Verteidigung und die Erholung der Wirtschaft erst innerhalb von einem System der internationalen kollektiven Sicherheit sowie innerhalb von einem europäischen supranationalen Raum zu erreichen gewesen. In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass es zwischen den Grundrechten des deutschen Grundgesetzes und den Menschenrechten der Deklaration der Vereinten Nationen mehrere Parallele gibt, was auf eine gemeinsame Wertebasis hindeutet.50 In der Solange I-Entscheidung von 1974, wo das BVerfG bekanntlich eine Reserve hinsichtlich des Grundrechtsschutzes formulierte, war zum ersten Mal von Verfassungsidentität die Rede. Die Mehrheit der Richter sprach von der „Identität der geltenden Verfassung“ und von der „Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht“.51 Ähnliche Wörter findet man in der Solange II-Entscheidung, wo das Gericht seine Kontrolle zurückhielt.52 Nach der Einführung des neuen Art. 23 GG kommen solche Ausdrücke in der Maastricht-Entscheidung nicht vor; stattdessen taucht der Begriff der Souveränität bzw. des souveränen Staates auf, zusammen mit den Bildern der Staaten als „Herren der Verträge“ sowie der Europäische Union als „Staatenverbund“. Zugleich wird Art. 79 Abs. 3 GG als Grenze für die Übertragung der Hoheitsrechte an die EU the49

Voßkuhle (Fn. 48), S. 382. Zu Bilder und Leitbilder s. Uwe Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, AöR 134 (2009), S. 157; Peter Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 4. Aufl., 2008. 50 Vgl. Thilo Rensmann, Die Genese des „offenen Verfassungsstaats“ 1948/1949, in: Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010, S. 37, 40 ff., 55 ff.; ders., Wertordnung und Verfassung. Das Grundgesetz im Kontext grenzüberschreitender Konstitutionalisierung, 2007, S. 9 ff., 25 ff. Vgl. auch Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 26 ff., 65 ff. Zum offenen bzw. kooperativen Verfassungsstaat s. Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; Peter Häberle, Der Kooperative Verfassungsstaat (1978), in: ders., Verfassung als öffentlichere Prozess, 2. Aufl., 1996, S. 407 ff. 51 BVerfGE 37, 271 (279) (Solange I). Für einen Gesamtblick auf die Rechtsprechung s. Mlinarsky (Fn. 13), S. 31 ff.; Monika Polzin, Verfassungsidentität, 2018, S. 43 ff. 52 BVerfGE 73, 339 (375 f.) (Solange II).

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matisiert, die von einer vorrechtlichen verfassungsgebenden Gewalt des Volkes überwunden werden konnte.53 Auch an dieser Stelle lohnt es sich, an den politischen Kontext der Entscheidung zu erinnern, der einen Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands markierte: Kurz zuvor fand die deutsche Wiedervereinigung statt und das Gericht konnte endlich auf die argumentativen Ressourcen der Staatlichkeit und der Selbstbestimmung des Volkes greifen, die im geteilten Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg so nicht plausibel waren.54 Es gibt allerdings einen latenten Widerspruch zwischen der Aneignung durch das BVerfG der Konzepte einer souveränen Staatlichkeit, welche die volle Beteiligung des deutschen Volkes voraussetzt, und den juristischen Formen und Verfahren, die zur deutschen Wiedervereinigung in der Realität geführt haben. Mehrere politische Akteure und Verfassungsrechtler hatten damals entweder die Koexistenz zweier Staaten mit einer neuen und demokratischen Verfassung der DDR bevorzugt oder die Erarbeitung einer für das gesamte Land gültigen und vom ganzen Volk angenommenen neuen Verfassung nach Art. 146 GG gefördert. Die Anschübe für eine größere Beteiligung, die aus der Zivilgesellschaft hervorkamen, waren ebenso bemerkenswert. Entgegen diesen Ansichten entschied sich aber die damalige Bundesregierung für eine Kombination von völkerrechtlichem Vertrag und Ausdehnung des alten Grundgesetzes auf die östlichen Länder nach Art. 23 a. F. GG, wobei der Einigungsvertrag mehrere Abweichungen zum Grundgesetzzuließ.55 In der geopolitischen Lage jener Jahre erfolgte die deutsche Wiedervereinigung zur gleichen Zeit der Einrichtung auf supranationaler Ebene der Europäischen Union mit einer Währungsunion und war teilweise von dieser bedingt. Aus einer staats- und verfassungstheoretischen Perspektive kann man in dem Hinweis auf die souveräne Staatlichkeit und in den damit zusammenhängenden Ausführungen des BVerfG den Einfluss verschiedener Strömungen spüren: von der Staatsrechtslehre der Kaiserzeit bis zu den Arbeiten Carl Schmitts und Hermann Hellers, wobei Paul Kirchhof und Ernst-Wolfgang Böckenförde diejenigen Richter sind, die am besten solche theoretischen Ansätze in der Rechtsprechung vermittelt haben.56 53 BVerfG 89, 155 (Maastricht). Der Ausdruck war schon in BVerfGE 75, 223 (Kloppenburg) benutzt worden. 54 Vgl. aus verschiedenen Blickwinkeln Lepsius (Fn. 47), S. 39; Voßkuhle (Fn. 48), S. 375; Peter Huber, Bewahrung und Veränderung rechtsstaatlicher und demokratischer Verfassungsstrukturen in den internationalen Gemeinschaften – 50 Jahre danach, AöR 141 (2016), S. 117, 126; bereits Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozess der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 1. Aufl., 1992, § 183, S. 855 (861 ff.). 55 Die Hauptstellungen der Verfassungsrechtler sind in Bernd Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991, enthalten; s. zuletzt Dieter Grimm, Die Historiker und die Verfassung. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes, 2022, S. 121 ff. Die im Einigungsvertrag vorgesehenen Abweichungen zum Grundgesetz haben von einem ramponierten Grundgesetz reden lassen: vgl. Hans Mayer, Da ramponierte Grundgesetz, KritV, 76 (1993), S. 399. 56 Vgl. van Ooyen (Fn. 47), S. 52 ff.; Thomas Opperman, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfas-

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Besonders aufschlussreich ist der noch andauernde Streit über die Bedeutung des Hellers-Zitats aus „Politische Demokratie und soziale Homogenität“ in dem Maastricht-Urteil,57 wobei einige Autoren behauptet haben, dass der Hinweis auf eine relative Homogenität des Volkes eher den identitären und antipluralistischen Vorstellungen Carl Schmitts entspricht, und zugleich auf die Integrationslehre Rudolf Smends als Fundament einer Theorie des Verfassungsverbundes anstelle des Staatenverbundes zurückgegriffen haben.58 Wenn die Einwirkung Carl Schmitts insbesondere mit Bezug auf die Unterscheidung von verfassungsgebender und verfassungsändernder Gewalt nicht geleugnet werden kann,59 ist ein echter Einfluss von Hellers Denken ebenso nicht zu verkennen, insbesondere durch die theoretische Vermittlung von Böckenförde. Zwar gehörte der letztere zur sog. Schmitt-Schule, teilte aber viele von Hellers Einsichten: Für beide war die relative Homogenität als etwas Vorrechtliches (und trotzdem eng mit dem Recht verknüpften) zu verstehen, nicht aber als etwas Biologisches oder Ethnisches. Neben der Kultur, einschließlich der Sprache, und der politischen Nation sei die soziale Dimension bedeutsam, wobei das Hauptziel sei, ökonomische Kluften zu beanstanden, um die Integrität der politischen Gemeinschaft angesichts der antagonistischen Struktur der Gesellschaft und deren pluralistischen Konflikte zu bewahren.60 Schmitt und Heller teilten allerdings eine nicht normativistische und derzeit vor allem auf der staatlichen Souveränität und auf dem nationalen Gebiet fokussierte Idee des Verfassungsrechts,61 obwohl Schmitts Theorie sungsgericht, 2011, S. 421, 454 ff.; Christoph Möllers, Staat als Argument, 2. Aufl., 2011, S. 378 ff. 57 Vgl. BVerfGE 89, 155 (186) (Maastricht) sowie Hermann Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1971, S. 421, 427 ff. 58 Ingolf Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 110; Mlynarski (Fn. 13), S. 150 ff., 227 ff., 354 ff.; van Ooyen (Fn. 47), 45 ff.; Heiko Sauer, Von Weimar nach Lissabon? Zur Aktualität der Methoden- und Richtungsstreits der Weimarer Staatsrechtslehre bei der Bewältigung von Europäisierung und Internationalisierung des öffentlichen Rechts, in: Schröder, von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, 2011, 237, 243 f. 59 Polzin (Fn. 51), S. 87 ff.; Mlinarsky (Fn. 13), S. 148 ff. 60 Vgl. Michael Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik und des Staates, 2011, S. 304 ff.; Detlef Lehnert, Sozialismus und Nation. Hellers Staatsdenken zwischen Einheit und Vielfalt, in: Llanque (Hrsg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, 2010, S. 181, 191 ff., 196 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 1. Aufl., 1987, § 22, S. 887, 926 ff.; s. auch unten (Fn. 64). 61 S. etwa Manfred Gangl, Souveränitätskonzeptionen im Staatsrechtsdenken der Weimarer Republik, in: Llanque (Fn. 60), S. 15 ff.; Carlo Galli, Genealogia della politica. Carl Schmitt e la crisi del pensiero politico moderno, neue Aufl., Bologna, 2010, 331 ff.; Henkel (Fn. 60), S. 399 ff., 405 ff., 454 ff.; Ulderico Pomarici, La mediazione sigillo della sovranità. Hermann Heller fra moderno e contemporaneo nello specchio di Weimar, Filosofia politica, 2/ 2020, S. 439 ff.; Massimo La Torre, Un giurista nel crepuscolo di Weimar. Politica e diritto nell’opera di Hermann Heller, Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 29 (2000), 241, 247 ff., 283 ff., auch mit Bezug auf Hellers ambivalente Haltung gegenüber dem sozialistischen Internationalismus.

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des Bundes Anschlüsse für europäische föderale Strukturen anbietet und Heller an der langfristigen Überzeugungskraft des Nationalstaates in manchen Stellen zweifelte und die Frage eines „europäischen Bundesstaates“ (mit dieser oder ähnlichen Formulierungen) aufwarf.62 Das Treffen im BVerfG von Juristen verschiedener intellektueller Herkunft und die größere Distanziertheit63 der juristischen Argumentation können den Eindruck erwecken, dass die Begründung der Maastricht-Entscheidung sowohl einer ordoliberalen als auch einer sozialdemokratischen Anschauung genügen. Einerseits dienten die staatliche Souveränität und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als juristische Mittel für die Kontrolle der Einhaltung der Kompetenzsphären zwischen Währungs- und Fiskalpolitik sowie der Konvergenzkriterien zum Eintritt in die Währungsunion. Andererseits konnten sie als Schild für die Verfestigung eines sozialen Gleichgewichts innerhalb der Staatsgrenzen und gegen die Asymmetrien angesehen werden, die aus dem gemeinsamen Markt erfolgten.64 Weiterhin waren den Richter die damaligen außerrechtlichen Bedingungen sehr bewusst, wie von einigen Ausführungen Kirchhofs abgelesen werden kann. Er stellte die Alternative zwischen einem aus bereits bestehendem, zusammengesetztem Bundesstaat und einem Staatenbund mit möglicher Osterweiterung und der Führungsrolle Deutschlands in Mitteleuropa 62 Vgl. jeweils Schmitt (Fn. 13), S. 363 ff.; Heller (Fn. 57), S. 433, dazu von Bogdandy (Fn. 14), S. 233; Henkel (Fn. 60), S. 463, Lehnert (Fn. 60), S. 190 – 191, 201 – 202. 63 Andreas Voßkuhle, Integration durch Recht (2016), in: ders., Europa, Demokratie, Verfassungsgerichte, 2021, S. 83, 105 – 107. 64 Mit einer gewissen Behutsamkeit kann man als Hauptvermittler dieser Ansichten im Gericht nochmals Kirchhof und Böckenförde nennen. Vgl. die verschiedenen Ansätze von Kirchhof (Fn. 54), S. 865 ff., 873 ff. und Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie. Demokratie und Staatlichkeit im Zeichen von Globalisierung, Europäisierung und Individualisierung (1997), in: ders., Staat Nation Europa, 1999, S. 103 ff. S. ferner oben (Fn. 60); aufschlussreich hierzu ist außerdem Paul Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit. Bringt unser Land wieder in Gleichgewicht! Ebook, 2009 und Huber (Fn. 87). Die Literatur über Böckenförde ist in den letzten Jahren erheblich gewachsen, s. u. a. Reinhard Mehring/ Martin Otto (Hrsg.), Voraussetzungen und Garantien des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Staatsverständnis, 2014, sowie Dieter Gosewinkel, „Beim Staat geht es nicht allein um Macht, sondern um die staatliche Ordnung als Freiheitsordnung“. Biographisches Interview mit Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, S. 307. Zur überwiegenden ordoliberalen Einstellung des Maastricht-Vertrages siehe Kenneth Dyson/Kevin Featherstone, The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Monetary Union, Oxford 1999. Dieser Aspekt, der nach der Finanz- und Wirtschaftskrise wiederum Gegenstand von Untersuchungen war, sollte tiefgreifender angegangen werden, als es hier möglich ist. Zum Ordoliberalismus s. jüngst aus unterschiedlichen Perspektiven Josef Hien/Christian Joerges (Hrsg.), Ordoliberalism, Law and the Rule of Economics, Oxford Portland, 2017; Malte Dold/Tim Krieger (Hrsg.), Ordoliberalism and European Ecnomic Policy: between Realpolitik and Economic Utopia, London New York, 2020; Thomas Biebricher, Die politische Theorie des Neoliberalismus, 2021. Zu den intellektuellen Wurzeln des Ordoliberalismus s. den Beitrag von Olimpia Malatesta, in diesem Band. Zu den Asymmetrien des gemeinsamen Marktes s. auch, mit Verweis auf die Arbeiten von Fritz Scharpf, Dieter Grimm, Über einige Asymmetrien der europäischen Integration, in: ders., Die Zukunft der Verfassung II, 2012, S. 262.

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dar und zog die zweite Option vor.65 Die Maastricht-Entscheidung ließ aber diese Wahl noch offen.66 Die Alternative verschloss 2009 die Lissabon-Entscheidung67, wo der Staatenverbund als präskriptive Figur erscheint68 und die Entwicklung eines europäischen Bundesstaates mit einem paradoxalen Argument ausgeschlossen wird: Die aktuelle Struktur der EU ist nur noch verfassungskonform, soweit sie nicht ausreichend demokratisch ist. Nach der Ewigkeitsklausel von Art. 79 Abs. 3 GG würde die Einrichtung eines europäischen und demokratischen Bundesstaates die Ausübung einer neuen verfassungsgebenden Gewalt nach Art. 146 GG erfordern.69 In diesem Urteil wird sowohl der Topos der Verfassungsidentität wieder aufgegriffen und ausgedehnt, indem die Identitätskontrolle an Art. 79 Abs. 3 und 146 GG gebunden wird, als auch die Souveränität stärker in den Vordergrund gestellt und die Formel des Staatenverbundes weiterentwickelt, wobei das BVerfG auch auf Georg Jellineks Drei Elementen Lehre und auf die Lehre der Staatszwecke zurückgreift.70 Kritik haben insbesondere die starren föderalen Bilder des Gerichts hervorgerufen71 sowie die Umstellung der Lehre der absoluten und materiellen Grenzen der Verfassungsänderung von einer Konstellation, die einen legalen Absturz in die Diktatur vermeiden wollte, zu einer anderen, die auf die Umwandlung der Architektur der Union in einem Bundesstaat ausgerichtet ist und in Konflikt mit dem Auftrag der Bundesrepublik geraten kann, sich für ein vereintes Europa einzusetzen (Präambel, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG).72 Es ist aber nicht nur mit seiner vorigen Rechtsprechung kohärent, sondern auch zeitgemäß, dass das BVerfG neulich den Begriff der Verfassungsidentität benutzt, um bestimmte Werte und Prinzipien des Grundgesetzes, darunter insbesondere das Demokratieprinzip nach Art. 20 GG, hervorzuheben, bestimmte Mindestpositionen zu erhalten und vor undurchsichtigen Entwicklungen auf supranationalen Ebenen zu

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Kirchhof (Fn. 54), S. 856 ff. BVerfGE 89, 155 (188) (Maastricht). 67 BVerfG, 30. 6. 2009, 2 BvE 208 (Lissabon). 68 Daniel Thym, Europäische Integration im Schatten souveräner Staatlichkeit. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), S. 559, 561. 69 Kritisch, mit unterschiedlichen Akzenten Thym (Fn. 68); Matthias Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah? Verfassungshandwerkliche Anfragen an das Lissabon-Urteil des BVerfG, Der Staat 48 (2009), S. 497; Christoph Schönberger, Die europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ebenda, S. 535, 551 ff. 70 BVerfG, 30. 6. 2009, 2 BvE 208 (Lissabon): „das Grundgesetz setzt […] die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch“ (Rn. 216). Vgl. die oben (Fn. 69) genannten Autoren, sowie Möllers (Fn. 56), S. XXXV f. Vgl. ebenso, im Rahmen einer breiteren Verteidigung des Souveränitätsbegriffs Dieter Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, 2009, S. 122 f. 71 S. oben (Fn. 69). 72 Stellvertretend für diese Debatte Polzin (Fn. 51), S. 85 ff., 143 ff. 66

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schützen73. Mit einem „rechtsrealistischen Blick“74 spricht das Gericht von einem nationalen „politischen“ bzw. „demokratischen Primärraum“75 und scheint dadurch das strittige Kriterium der relativen Homogenität der Maastricht-Entscheidung ersetzt zu haben. Nicht zufällig wurde Identität als „das Bewusstsein der Verbundenheit mit einem politischen Raum“ beschrieben.76 In dieser Perspektive wird die Zentralität des nationalen Repräsentationsorgans als wichtigster Strang der demokratischen Legitimation betont, während das legitimatorische Potential des europäischen Parlaments unterschätzt wird.77 Weiterhin erscheint in diesem Zusammenhang der Begriff der Integrationsverantwortung, das als Vermittlerkonzept in der Spannung zwischen europäischer Integration und staatlichen Verfassungsidentität zu verstehen ist: Solche Verantwortung sei durch eine Beobachtungspflicht hinsichtlich der Einhaltung des Integrationsprogramms zu verwirklichen,78 sie stehe nicht nur dem Bundestag und der Bundesregierung, sondern auch dem BVerfG zu und diene ihm als zusätzliche Legitimationsquelle. Das solle gelten, obwohl die zwei Senate des Gerichts oft verschiedene Anschauungen darüber haben, wie die Balance zwischen Verfassungsidentität und europäischer Integration zu erreichen sei. Wie bekannt, offenbarten sich die unterschiedlichen Ausrichtungen der Senate in den Entscheidungen Identitätskontrolle und Recht auf Vergessen I/II: Im ersten Urteil hat der zweite Senat eine Prüfung der Verletzung der Verfassungsidentität im einzelnen Fall und auch gegenüber einer ausführlich harmonisierten Regelung der EU anhand der Menschenwürde des Grundgesetzes durchgeführt, während in den anderen Entscheidungen der erste Senat die Überprüfung am Maßstab des Grundgesetzes (nur) von nicht vollständig harmonisierten Regelungen behauptet hat. Unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Regelungen sollen indessen anhand der europäischen Grundrechtecharta überprüft werden.79

73 Thomas Wischmeyer, Nationale Identität und Verfassungsidentität. Schutzgehalte, Instrumente, Perspektiven, AöR 140 (2015), S. 415. Das Lissabon-Urteil wird u. a. von Dieter Grimm, Das Grundgesetz als Riegel von einer Verstaatlichung der Europäischen Union. Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), S. 475 positiv beurteilt. 74 Voßkuhle (Fn. 63), S. 102 f. 75 BVerfG, 30. 6. 2009, 2 BvE 208 (Lissabon), Rn. 301, 360, 399. 76 Schorkopf, zitiert von Wischmeyer (Fn. 73), S. 459. 77 Bezüglich der demokratischen Legitimation durch nationale und europäische Repräsentationsorgane vgl. ebenso die Entwicklung des Denkens von Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl. 2009, S. 227, 230 ff., 250 ff.; ders., Die Europäische Union als demokratische Föderation, 2019. 78 Mit Verweis auf die Dogmatik der Schutzpflichten s. BVerfG, 21. 6. 2016, 2 BvR, 2728/ 13 (OMT-Hauptsache), Rn. 138, 163 ff. 79 Andreas Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: ders. (Fn. 63), S. 290; Philipp Aust, Zweierlei Integrationsverantwortung, EuGRZ 2020, S. 410; Mlynarski (Fn. 13), S. 67 ff. Die angedeuteten Entscheidungen sind BVerfG, 15. 12. 2015, BvR 2735/14 (Identitätskontrolle) und BVerfG, 6. 11. 2019, 1 BvR 16/13 und 1 BvR 276/17 (Recht auf Vergessen I und II). Insbesondere zu den letzten zwei Entscheidungen s.

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Wenn man kontextuelle Elemente erblickt, spürt man in der Zeit um 2009 ein stärkeres Bewusstsein für die verunsichernden Folgen der Globalisierung und somit eine Suche nach einem festeren Zentrum für die Zuordnung demokratischer Verantwortung „gegen Verantwortungsdiffusion in immer komplexeren weltgesellschaftlichen Organisationszusammenhängen“80. Im letzten Jahrzehnt wurden mehrere Schriften dem Staat gewidmet, da im staatlichen Horizont der Schutzraum und die organisatorischen Mittel gesucht wurden, um verschärften Herausforderungen entgegenzutreten: die sog. Krise des Sozialstaates, die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensweisen, die steigende Polarisierung des politischen Spektrums, die zunehmenden Migrationsbewegungen, die Infragestellung des Wertsystems des GG, die schwer kontrollierbaren Folgen der Transnationalisierungsprozesse.81 Darüber hinaus sei mit Florian Meinel zu berücksichtigen, dass die Lissabon- und folgenden Entscheidungen vor allem in Zeiten der großen Koalitionen getroffen wurden, so dass die Entwicklung einer einschneidenden Identitätskontrolle und eine breite Auslegung der Zugangskriterien nach Art. 38 GG auch als Gegengewicht hinsichtlich der andauernden Verfügbarkeit verfassungsändernder Mehrheiten sowie als eine Antwort auf diffuse Belange bei einem politikverdrossenen Volk angesehen werden können.82 Es folgt daraus, dass es auch für Deutschland möglich ist, an eine Form der Gegen-Demokratie zu denken. Hier sind sowohl die Konstellation der Wachsamkeit und der Kontrolle durch die einzelnen Bürger als auch die der Verhinderung (empêchement) und des Urteils (jugement) relevant: Durch die Verfassungsbeschwerde und das Organstreitverfahren kann die Opposition in der Gesellschaft und im Parlament eine institutionalisierte und potenziell dauerhafte Kontrolle der Regierung und der parlamentarischen Mehrheit durch das Verfassungsgericht betreiben.83 Seinerseits hat das Matthias Wendel, Das Bundesverfassungsgericht als Garant der Unionsgrundrechte, JZ 75 (2020), S. 157. 80 Vosskuhle (Fn. 48), S. 383; bereits der am Lissabon-Urteil beteiligten Verfassungsrichter Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, 126 ff. 81 Siehe u. a. Voßkuhle/Bumke/Meinel (Fn. 47); Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Von Staat zu Staatlichkeit. Beiträge zu einer multidisziplinären Staatlichkeitswissenschaft, 2019; Utz Schliesky (Hrsg.), Gespräche über den Staat, 2017, beide mit Beiträgen von den Verfassungsrichtern Voßkuhle und Huber; Eckhard Jesse (Hrsg.), Renaissance des Staates, 2011. Für eine vertiefte Analyse der Debatten über den deutschen Sozialstaat s. John Philipp Thurn, Welcher Sozialstaat? Ideologie und Wissenschaftsverständnis in den Debatten der bundesdeutschen Staatsrechtslehre 1949 – 1990, 2013. 82 Florian Meinel, Das Bundesverfassungsgericht in der Ära der Großen Koalition: zur Rechtsprechung seit dem Lissabon-Urteil, Der Staat 60 (2021), S. 43. Für eine Verteidigung der Geltendmachung des „Rechtes auf Demokratie“ durch Art. 38 GG s. Huber (Fn. 54), S. 127 ff.; zur Kritik u. a. Christoph Schönberger, Der introvertierte Rechtsstaat als Krönung der Demokratie? – Zur Entgrenzung von Art. 38 GG im Europaverfassungsrecht, JZ 65 (2010), S. 1160. 83 Rosanvallon (Fn. 37); für diese Interpretation mit Bezug auf das BVerfG s. bereits Francesco Saitto, Il Bundesverfassungsgericht e l’Europa: istanze „controdemocratiche“, principio di responsabilità e difesa della democrazia rappresentativa alla luce del caso OMT, Costituzionalismo.it, 3/2016, S. 23, 30 ff.

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BVerfG diese Rolle als Beschützer der repräsentativen Demokratie und der Mittelbarkeitslehre in mehreren Urteilen angenommen und entwickelt. Verfassungslehre und Bundesverfassungsgericht haben in einer dialektischen Beziehung die folgenden Etappen markiert, bis zum PSPP-Urteil (sowie letztlich zum Urteil über das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz): so hat das BVerfG das theoretische Konzept des Staatenverbundes mit denen des Verfassungsverbundes, des Verwaltungsverbundes und des Gerichtsverbundes in einer synthetischen Formel zusammengestellt.84 Die Urteile zeigen eine Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus, wobei letzter eine eher ethische oder demokratische Natur aufweist, je nachdem die Entscheidungen entweder Grundrechte oder finanzielle Maßnahmen und Programme der EZB betreffen. Das Verhältnis zwischen ultra vires- und Identitätskontrolle ist verfeinert worden, beide behalten aber ihre Wurzeln in der Idee einer ursprünglichen staatlichen Souveränität und in dem über Art. 79 Abs. 3 und 20 GG geschützten Demokratieprinzip.85 Dieses ist insbesondere anlässlich der 2007 angefangenen und durch Covid-19 verschärften Finanz- und Wirtschaftskrise in den Urteilen über gesamteuropäische finanzielle Hilfe und Handlungen der EZB in den Vordergrund getreten. In diesem Zusammenhang hat die Integrationsverantwortung die spezielle Ausgestaltung der Haushaltsverantwortung bzw. der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung angenommen, wobei das BVerfG mehrmals unterstrichen hat, dass kein direkter bzw. indirekter Mechanismus des monetären Transfers zwischen Mitgliedstaaten eingerichtet werden darf, ohne dass ihm der Bundestag im Voraus zugestimmt hat.86 Darüber hinaus, wenn man die Ausführungen des Gerichts über die Verbindung zwischen Übergang zum Bundesstaat und Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt in den Blick nimmt, wird man darauf aufmerksam gemacht, dass ohne eine Entscheidung der letzteren die als Stabilitätsgemeinschaft errichtete EU nicht zu einer Solidargemeinschaft werden kann87. 84

BVerfG, 5. 5. 2020, 2 BvR 859/15 (PSPP-Hauptsache); 21. 6. 2016, 2 BvR 2728/13 (OMT-Hauptsache); 15. 12. 2015, BvR 2735/14 (Identitätskontrolle). Zum Verfassungsgerichtsverbund s. Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NvWZ 2010, S. 1. Ich verweise ebenso auf Alessandra Di Martino, Staaten- o Verfassungsverbund? Appunti su alcune immagini del BVerfG e sulle relative implicazioni territoriali, Federalismi.it 31/2020, S. 60. 85 Zu der breiteren Tragweite der Identitätskontrolle und zu ihrer Anziehungskraft gegenüber der ultra vires- und der Grundrechtskontrolle s. Christian Calliess, Constitutional Identity in Germany: One for Three or Three in One?, in: ders./van der Schyff (Fn. 19), S. 153, 167 ff. 86 BVerfG, 6. 12. 2022, 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-NGEU); 5. 5. 2020, 2 BvR 859/15 (PSPP-Hauptsache); 18. 7. 2017, 2 BvR 859/15 (PSPP-Vorlagebeschluss); 21. 6. 2016, 2 BvR 2728/13 (OMT-Hauptsache); 14. 1. 2014, 2 BvR 2728/13 (OMT-Vorlagebeschluss); 12. 9. 2012, 2 BvR 1390/12 (ESM); 19. 6. 2012, 2 BvE 4/11 (Unterrichtungspflicht); 28. 2. 2012, 2 BvE 8/11 (Sondergremium); 7. 9. 2011, 2 BvR 987/10 (Griechenlandhilfe). 87 Diesbezüglich aufschlussreich ist der Standpunkt des Verfassungsrichters Huber: vgl. etwa Peter M. Huber [Gespräch mit], in: Schliesky (Fn. 81), S. 103, 115 ff., 140 ff.; ders., EUStaatlichkeit, was könnte das sein? Kommentar zum Beitrag von Tanja Börzel, in: Voßkuhle/ Bumke/Meinel (Fn. 47), S. 237, 243.

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Die vielen Spannungen sind allerdings nicht ausgeräumt worden und dem Gericht müssen die Erregungen bewusst gewesen sein, die das PSPP-Urteil und die in ihm enthaltene erste ultra-vires-Erklärung vielerorts erweckt hat. Jüngst ist der zur Bewältigung der Covid-19 Folgen und im Geist der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten errichtete Wiederaufbaufonds Next Generation EU88 als verfassungsgemäß gehalten worden: Einerseits hat das BVerfG diese Lösung als einen „historischen Ausnahmefall“ betrachtet sowie den temporären Charakter und die quantitative Begrenztheit der Maßnahmen betont, andererseits ist eine „Lockerung des Prüfungsmaßstabes“ im Vergleich zu den früheren Entscheidungen bemerkt worden.89 Es sei ferner daran erinnert, dass viele theoretische und praktische Forderungen heute nicht die Errichtung eines europäischen Bundesstaates betreffen, sondern es geht „primär um das Demokratisierungspotential diesseits der Schwelle zum europäischen Bundesstaat“,90 was wiederum Folgen für die konkrete Ausgestaltung einer europäischen Solidarität hat. Schließlich muss man annehmen, dass das BVerfG in den letzten Jahren die Rolle eines immer wichtigeren Akteurs bei der Lösung deutscher sowie europäischer Verfassungskonflikte gespielt hat. Allerdings ist man sich zugleich der Risiken bewusst, die solch ein Vorgehen impliziert: eine Ausdehnung der werthaften Verständnisse der Verfassung, eine durchdringende Juridifizierung der menschlichen Verhältnisse und des politischen Prozesses, eine allumfassende Grundrechtsdogmatik, eine Schutzhaltung des BVerfG gegenüber anderen Verfassungsorganen.91

IV. Juristische Tradition, Legalitätsprinzip und (seltener) Gebrauch der Verfassungsidentität beim Corte costituzionale Wenn man sich nun nach Italien wendet, könnte das Thema auf den ersten Blick schneller erledigt werden: Man findet keine Rechtsprechungslinie, wo die Souveränität klar thematisiert wird, und der Begriff der Verfassungsidentität erscheint bisher nur in ein paar Fällen, nämlich in der Taricco Saga und in einem nachfolgendem Vor88 S. darüber Martin Nettesheim, „Next generation EU“: Die Transformation der EU-Finanzierung, AöR 145 (2020), S. 381. 89 Vgl. BVerfG, 2 BvR 547/21, v. 6. 12. 2022 (EU-Wiederaufbaufonds-NGEU), Zitat an die Rn. 172, 186, und die Anmerkung von Matthias Ruffert, Nicolaus 2.0. Zum NGEU-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2022, VerfBlog, 2022.12.09, https://verfas sungsblog.de/nikolaus-2-0. 90 Claudio Franzius/Ulrich K. Preuß, Die Zukunft der europäischen Demokratie, 2012, S. 17. 91 Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011. Für eine frühere und bedeutsame Kritik s. Ridder (Fn. 5); Ulrich Preuß, Die Internalisierung des Subjekts. Zur Kritik der Funktionsweise des subjektiven Rechts, 1979, 147 ff., 221 ff., 261 ff.

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lagebeschluss zwischen 2017 und 2019.92 Allerdings liefern auch quantitativ geringere Daten Anhaltspunkte für einen bedeutsamen Vergleich. Darüber hinaus ergeben sich Fragen über die internen (d. h. mit der juristischen Argumentation zusammenhängenden) und externen (d. h. kontextuellen) Gründe der Einstellung des italienischen Corte costituzionale hinsichtlich der Verfassungsidentität. Die italienische Verfassung kennt bisher keine Europa-Artikel ähnlich wie Art. 23 GG bzw. 88-1 fr. Verf. Denn Art. 117 Abs. 1 it. Verf., der gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen als Grenzen für die Gesetze des Staates und der Regionen erwähnt, kann nicht als solcher betrachtet werden. Teilnahme an der EG und an der EU ist somit durch Art. 11 it. Verf. erfolgt, der „Souveränitätsbeschränkungen“ zuließ, um Italiens Mitgliedschaft in internationalen Organisationen zu ermöglichen, die auf Frieden und Gerechtigkeit abzielen.93 In der Verfassungsversammlung war der Einfluss von Projekten eines demokratischen und teilweise sozialen Europas, die während des 2. Weltkrieges und der Resistenza verarbeitet wurden, eher begrenzt und indirekt, während eine abstrakte und universalistische Anschauung überwog, welche als kompatibler mit der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen sowie mit der damaligen geopolitischen Lage geschätzt wurde.94 Später ist hervorgehoben worden, dass die Verfassung von „Souveränitätsbeschränkungen“ und nicht von „Souveränitätsübertragungen“ spricht, wobei der erste Terminus eine stärkere Kontrolle durch den Träger der Souveränität voraussetzt.95 Wie in Frankreich und vor allem in Deutschland ist allerdings die Rolle des Verfassungsgerichtshofes bedeutsam gewesen, um die Verhältnisse des nationalen Recht zum Europarecht insbesondere in der ersten Phase zu bestimmen. Besser noch: Der Corte costituzionale hat dieses Verhältnis in den ersten Jahrzehnten nach dem Abschluss der Gründungsverträge zusammen mit dem BVerfG maßgeblich geprägt. Beide Organe waren bis Mitte der 80er Jahre die einzigen Verfassungsgerichte in der EG, die nach dem Vorbild der Kelsenschen Verfassungsgerichtsbarkeit – obwohl mit manchen Unterschieden – gebildet waren.

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S. unten (Fn. 124 – 126). Vgl. Antonio Cassese, Politica estera e relazioni internazionali nel disegno emerso alla Assemblea costituente, in: De Siervo (Hrsg.), Scelte della Costituente e cultura giuridica, Bd. II, Bologna, 1980, S. 505, 512 ff. Zur juristischen Bedeutung der einseitigen Beschränkungen der Souveränität durch die Verfassung s. Pietro Calamandrei, Costituente italiana e federalismo europeo (1945), in: ders., Scritti e discorsi politici, Bd. I, hrsg. von Norberto Bobbio, Firenze, 1966, S. 412 ff. 94 Ich verweise auf Alessandra Di Martino, Ventotene. Un progetto politico per l’unità federale europea, in: Buratti/Fioravanti (Hrsg.), Costituenti ombra, Roma, 2010, S. 68; dies., L’identità dell’Europa tra le due guerre mondiali e la Resistenza, Nomos, 3/2018, S. 28 ff., mit weiteren Nachweisen. Man kann über das ambivalente Verhältnis zwischen der liberalen und der sozialen Komponente im Manifesto von Ventotene diskutieren, was jüngst lebhaft in der italienischen Öffentlichkeit gemacht wurde. 95 U. a. Francesco Bilancia, Sovranità, Rivista AIC, 3/2017, S. 1, 27. 93

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In einem bekannten Artikel von Paolo Barile ist von dem „rechtsgemeinschaftlichen Weg“ des Verfassungsgerichtshofes die Rede gewesen:96 Dieser Weg ist hauptsächlich zwischen 1964 und 1984 begangen worden und hat zur fortlaufenden Integration des europäischen Rechts in die innerstaatlichen Rechtsordnung geführt.97 Zugleich hat der Corte costituzionale die Grenzen des Vorranges des Gemeinschaftsrechts präzisiert und die Lehre der controlimiti („Gegen-Schranken“) entwickelt. In diesem Zusammenhang sind sowohl ein Bezug zur Souveränität als auch erste Ansätze zur Verfassungsidentität zu finden. In einer Entscheidung von 1975, bei der der Corte costituzionale versuchte, sein Verwerfungsmonopol beizubehalten, indem er den ordentlichen Gerichten empfahl, ein Inzidenzverfahren vor dem Corte einzuleiten, statt das europarechtswidrige nationale Recht unangewendet zu lassen, sprach er über den souveränen Willen der legislativen Organe.98 Zwei Jahre davor hatte er eine erste Definition der controlimiti gegeben und diese als „die Grundprinzipien [der] Verfassungsordnung [und] die unveräußerlichen Rechte der menschlichen Person“ dargestellt, die vom europäischen Recht unangetastet bleiben sollen.99 Das war das erste Mal, dass ein nationales Gericht einen verfassungsrechtlichen Vorbehalt gegenüber der europäischen Rechtsordnung formulierte. Das wiederum erklärt, weshalb manche Autoren in diesem Urteil auch die erste Erscheinung der Verfassungsidentität in der europäischen Verfassungsrechtsprechung sehen.100 Der Vorbehalt wurde in folgenden Entscheidungen bestätigt und wiederholt.101 Insbesondere im Urteil 232 von 1989 wurden die controlimiti am Beispiel eines einzigen Grundrechts beschrieben: Es handelte sich um das Recht auf Verteidigung (Art. 24 it. Verf.) und insbesondere um dessen „Wesensgehalt“. Zugleich wurde das Recht auf Verteidigung in die „principi supremi [oberste Prinzipien der] Verfassungsordnung“ eingegliedert.102 Schon früh hatte ferner die italienische Verfassungslehre unter den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, die als Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten als des Vorrangsprinzips dienten, das Prinzip der Volkssouveränität gezählt (Art. 1 Abs. 2 it. Verf.).103 In diesem Zusammenhang haben sich die Konzepte der controli-

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Paolo Barile, Il cammino comunitario della Corte, Giurisprudenza costituzionale, 1973, S. 2406 ff. 97 Vgl. Corte costituzionale, 24. 2. 1964, Urt. 14/1964; 5. 6. 1984, Urt. 170/1984. 98 Corte costituzionale, 22. 10. 1975, Urt. 232/1975. 99 Corte costituzionale, 18. 12. 1973, Urt. 183/1973. 100 S. vergleichend Derosier (Fn. 23), S. 344 ff.; Millet (Fn. 19), S. 7, 25, der allerdings die erste Erarbeitung der identité constitutionnelle auf den französischen Conseil constitutionnel zurückführt. Wie schon dargestellt, kann man eine frühe Anwendung des Wortes auch beim BVerfG finden (s. oben, Fn. 51). 101 Corte costituzionale, 5. 6. 1984, Urt. 170/1984; 13. 4. 1989, Urt. 232/1989. 102 Corte costituzionale, 13. 4. 1989, Urt. 232/1989, eigene Hervorhebung. 103 Federico Sorrentino, Corte costituzionale e Corte di Giustizia delle Comunità europee, Bd. I., Milano, 1970, S. 126.

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miti, der principi supremi der Verfassung, der Souveränität und der Verfassungsidentität oft überschnitten, wobei letzteres bis in den letzten Jahren seltener vorkam.104 Wie in anderen Ländern sind die Grenzen zur europäischen Integration parallel zu denen zur Verfassungsänderung entwickelt worden. Ähnlich wie die französische Verfassung sieht die italienische Verfassung als materielle Grenze die „republikanische Form“ vor (Art. 139 it. Verf., der das Ergebnis des institutionellen Referendums von 1946 rezipiert). Die italienische Lehre hat aber diese Klausel eher extensiv ausgelegt: Sie schließt nicht nur die Wahl des Staatsoberhauptes, sondern auch die Prinzipien einer demokratischen Staatsform (Volkssouveränität, politische Rechte, Parteienpluralismus usw.) mit ein, so dass „republikanische Form“ als „demokratische Republik“ gelesen wird.105 Im Vergleich zu Frankreich ist die republikanische Tradition in Italien eher fragmentarisch, obwohl bedeutsame Wurzeln auch hier zu finden sind106 und der Begriff der Republik mehrmals in entscheidenden Stellen der Verfassung wiederkehrt – ausschlaggebend sind vor allem die Hinweise in den Grundprinzipien des Teils 1 it. Verf.107 Von der nachkriegszeitlichen Verfassungslehre ist Art. 139 im Lichte von Art. 1 it. Verf. interpretiert worden, wobei sich diesbezüglich eine lebhafte Diskussion über die Bedeutung der Volkssouveränität in einer demo-

104

Pietro Faraguna, Ai confini della costituzione. Principi supremi e identità costituzionale, kindle ed., 2015, insb. Kap. 2. Zu den principi supremi s. Marta Cartabia, Principi inviolabili e integrazione europea, Milano, 1995; Filippo Donati, Diritto comunitario e sindacato di costituzionalità, Milano, 1995. Für eine Kritik zur Unterthematisierung der italienischen controlimiti s. Paolo Ridola, Diritto comparato e diritto costituzionale europeo, Torino, 2010, S. 267 ff. 105 Zuletzt Faraguna (Fn. 104), Kap. 1; dazu noch extensivere Interpretationen des Art. 139. 106 Maurizio Ridolfi, La Repubblica dell’avvenire! Progetti e orizzonti repubblicani in Italia dal Risorgimento al tramonto della Monarchia, Laboratoire italien. Politique et societé, 19 (2017), journals.openedition.org/laboratoireitalien/1258; Paolo Ridola, La Costituzione della Repubblica romana del 1849 nella rivoluzione europea (2020), in: ders., Comparazione e storia. Scritti di storia costituzionale comparata, Napoli, 2022, S. 37; Angel Antonio Cervati, I principi costitutivi della Repubblica romana in una prospettiva europea, Rivista AIC, 2/2020, S. 168; Gianluca Bascherini, Le eredità dell’esperienza costituzionale romana del 1849, ebd., S. 102. Zu Machiavelli ist die Literatur unüberschaubar; s. u. a. Fabio Raimondi, Machiavelli e il problema della costituzione mista di Roma, Filosofia politica, 1/2005, S. 49; Gabriele Pedullà, Machiavelli in tumulto. Conquista, cittadinanza e conflitto nei Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, Roma, 2011; Sandro Landi, Lo sguardo di Machiavelli. Una nuova storia intellettuale, Bologna, 2017; Alberto Asor Rosa, Machiavelli e l’Italia. Resoconto di una disfatta, Torino, 2019. 107 Art. 1 Abs.1, Art. 2, Art. 3 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1, Art. 5, Art. 6, Art. 9, Art. 10 Abs. 3, Art. 12, Art. 16 Abs. 2, Art. 29 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1, Art. 32 Abs. 1, Art. 33 Abs. 2, Art. 34 Abs. 4, Art. 35 Abs. 1, Art. 37 Abs. 3, Art. 45 Abs. 1, Art. 46, Art. 47 Abs. 1, Art. 51 Abs. 1 und 2; Art. 52 Abs. 3, Art. 54 Abs. 1. Dazu noch viele Vorschriften im Teil 2 der Verfassung über den „Aufbau der Republik“: vgl. Teil 2, Titel 1 – 3 über die Verfassungsorgane (Art. 55 ff., 83 ff., 92 ff.), Teil 2, Titel 5 über Die Regionen, Provinzen und Gemeinden (insbesondere Art. 114 Abs. 1 und 3), und Teil 2, Titel 6 über Verfassungsgarantien (Art. 134 ff.), sowie in den Übergangs- und Schlussbestimmungen.

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kratischen, pluralistischen und sozialen Demokratie entwickelt hat.108 Die Erfahrung der Resistenza und die in der Verfassungsversammlung auf einer höheren Ebene erreichten Kompromisse zwischen den Parteien bildeten den Hintergrund dieser Diskussion.109 Weiterhin wurden als implizite Grenzen der Verfassungsänderung diejenigen Prinzipien anerkannt, „die zum Wesen der obersten Werte gehören, auf denen die italienische Verfassung beruht“110, unter denen insbesondere die unverletzlichen Rechte der Verfassung zu rechnen sind. Wie noch gezeigt wird, sind die controlimiti des Corte costituzionale erst gegenüber dem Kirchenrecht und dem Völkerrecht erhoben worden, d. h. in Feldern, wo die Legitimation des Gerichtshofes am wenigsten den Reaktionen seitens der anderen Rechtsordnungen ausgesetzt war.111 Nachdem der Corte costituzionale den theoretischen Rahmen der controlimiti entwickelt hatte, wurden diese als „Gegen-Schranken“ gegenüber den europäischen Verträgen nicht getestet. Es fehlt indessen in Italien ein Verfahren für die Überprüfung von völkerrechtlichen Verträgen wie Art. 54 fr. Verf; ebenso fehlt eine Verfassungsbeschwerde, die das subjektive Wahlrecht nach dem deutschen Muster als objektives Demokratieprinzip und „Grundrecht auf Demokratie“ geltend machen kann. Außer vereinzelten Fällen fehlt es auch an einem strukturierten Organstreitverfahren, wo Fraktionen bzw. einzelne Abgeordnete parteifähig sind. Keine bedeutsame Entscheidung ist somit anlässlich der Ratifizierung der Verträge von Maastricht und Lissabon, sowie des Verfassungsvertrages, ergangen. Da es aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass ein Inzidenzverfahren eingeleitet wurde, kann ein weiterer Grund dieser italienischen Abweichung in dem Mangel an einer starken Europaklausel in der Verfassung liegen. Man kann aber auch an geschichtliche und kulturelle Ursachen denken, weshalb die controlimiti und insbesondere der Begriff der Souveränität nicht gegen die europäischen Verträge gespielt werden: Es sei an eine weniger starke etatistische Tradition in der italienischen Verfassungslehre erinnert, was wiederum die Folge anderer Voraussetzungen sein kann, wie einer Fragilität der italienischen Einheitsbildung von oben,112 einer relativ späten Verfestigung der politischen (im Gegensatz zur kul108 Vezio Crisafulli, La sovranità popolare nella Costituzione italiana (1954), in: ders., Stato popolo governo, Milano, 1985, S. 91 ff.; Giuliano Amato, La sovranità popolare nell’ordinamento italiano, Rivista trimestrale di diritto pubblico, 1962, S. 74; Costantino Mortati, Art. 1, in: Branca (Hrsg.), Commentario alla Costituzione, Bd. 1, Bologna, 1975, S. 1 ff. 109 Stellvertretend für die historiografische Auslegung Enzo Cheli, Il problema storico della costituente (1973), in: ders. (Hrsg.), Costituzione e sviluppo delle istituzioni in Italia, Bologna, 1978, S. 15, 34 ff. 110 Corte costituzionale, 15. 12. 1988, Urt. 1146/1988. 111 Faraguna (Fn. 104), Schlussbetrachtung. S. unten (Fn. 128). 112 Mit Verweis auf Antonio Gramscis historiographische Deutung der rivoluzione passiva s. Pasquale Voza, Rivoluzione passiva, in: Frosini/Liguori (Hrsg.), Le parole di Gramsci, Roma, 2004, S. 189; Marcello Musté, Rivoluzioni passive. Il mondo tra le due guerre nei Quaderni del Carcere di Gramsci, Roma, 2022.

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turellen) Nation,113 sowie einer „kosmopolitischen Tendenz“ der italienischen Intellektuellen, i. S. ihres abstrakten Universalismus, so z. B. nach den ersten Überlegungen Gramscis.114 In einem so komplexen Zusammenhang sind die Einschätzungen zu nuancieren und zu differenzieren und geschichtliche Brüche sowie Kontinuitäten gleich in den Blick zu nehmen, da im italienischen öffentlichen Recht der Einfluss der deutschen Staatsrechtslehre ebenso stark war115 und vor allem, wie bereits ausgeführt, nach der Resistenza und dem Inkrafttreten der Verfassung die Volkssouveränität als Inbegriff der Souveränität angesehen worden ist.116 Ferner können Faktoren der politischen Kultur für die mangelnde Einsetzung der controlimiti sowohl gegenüber den europäischen Verträgen als auch gegenüber dem Vorrangsprinzip relevant sein. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre war in Italien nicht nur die Zeit der Vorbereitung der Währungsunion und Beschließung des Maastricht-Vertrages, was nach Ansicht eines damaligen politischen und wirtschaftlichen Protagonisten eine materielle Änderung der Verfassung i. S. einer Abschwächung des besonders stark geprägten Sozialstaates verursacht hätte.117 Es war auch die Zeit der Kollabierung der politischen Parteien, welche die Republik nach dem zweiten Weltkrieg gebildet und getragen hatten. Dies war der kumulative Effekt des Zusammenbruchs des Kommunismus in Osteuropa einerseits und zahlreicher strafrechtlichen Ermittlungen andererseits. Während die Hauptträger der demokratischen Mitwirkung und die repräsentativen Institutionen in eine Krise gerieten, gewannen die ordentlichen Gerichte vor der Öffentlichkeit an Legitimationskraft.118 Als weitere ita113 Zu den Beiträgen der Juristen zu beiden Ideen der Nation s. Pietro Costa, Un diritto italiano? Il discorso giuridico nella formazione dello stato nazionale, in: Cazzetta (Hrsg.), Retoriche dei giuristi e costruzione dell’identità nazionale, Bologna, 2013, S. 163. 114 Antonio Gramsci, Quaderni del carcere, Bd. 1, Quaderni 1 – 5 (1929 – 1932), Torino, 1975, Heft 2, § 25, 109; Heft 3, § 46; ders., Quaderni del carcere, Bd. 2, Quaderni 6 – 11 (1930 – 1933), Torino, 1975, Heft 6, § 125; Heft 9, § 127. Der italienische Politiker und Intellektuelle schrieb auch von einem „Kosmopolitismus neuer Art“, wo die Arbeiterklasse als Hauptakteur handelte, von einem „europäischen kulturellen Gewissen“ sowie von einer „europäischen Einigung“ (Heft 6 § 78); alle standen in einem Spannungsverhältnis mit dem nazionale-popolare und dem Staat: s. Francesca Izzo, Dall’internazionalismo al cosmopolitismo di tipo nuovo nei Quaderni del Carcere, in: Frosini/Giasi (Hrsg.), Egemonia e modernità. Gramsci in Italia e nella cultura internazionale, Roma, 2019, S. 545; Lea Durante, Cosmopolitismo, in: Liguori/Vosa (Hrsg.), Dizionario gramsciano. 1926 – 1937, Roma, 2009, S. 169; Alfredo D’Attorre, Gramsci e lo stato, Filosofia politica, 3/2020, S. 480. 115 Maurizio Fioravanti, La scienza del diritto pubblico. Dottrine dello stato e della costituzione tra Otto e Novecento, Milano, 2001; Giulio Cianferotti, Il pensiero di Vittorio Emanuele Orlando e la giuspubblicistica italiana fra Otttocento e Novecento, Milano, 1980. 116 S. oben (Fn. 108). 117 Guido Carli, Cinquant’anni di vita italiana, Roma Bari, 1993, S. 435 – 436, der den Eintritt Italiens in die Währungsunion u. a. auch mit einem Verweis auf den Auszug aus Goethes Faust rechtfertigte, wo von den Risiken der Schaffung neuen Papiergeldes geredet wird. 118 S. Simona Colarizi, Passatopresente. Alle origini dell’oggi 1989 – 1994, Roma Bari, 2022. Zu der ausschlaggebenden Rolle der Parteien in den ersten fünf Jahrzehnten der Re-

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lienische Besonderheit gilt außerdem, dass erstmals die kommunistische Partei – und später ihre politischen Nachfolger – mit dem sog. Eurokommunismus eine spezifische pro-europäische, quasi föderalistische Stellung eingenommen hat, was sie dazu brachte, sich in der Theorie sowie in der Praxis zwangsläufig mit einigen Widersprüchen auseinandersetzen zu müssen.119 Was ferner die Gerichte angeht, hat gerade in den 80er und 90er Jahren das enge strukturelle Verhältnis zwischen dem EuGH und den Fachrichtern zusammen mit dem Zurückziehen des italienischen Verfassungsgerichtshofs dazu beigetragen, nationalen Gerichten einen deutlichen Vorsprung zu geben. In den letzten Jahren hat der ItVGH, auch als Reaktion darauf, wieder versucht, seine Gerichtsbarkeit auszudehnen und Züge der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit wiederzugewinnen;120 im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht hat der Corte costituzionale dieses Bedürfnis etwa stärker wahrgenommen, weil er über kein Instrument wie die Urteilsverfassungsbeschwerde verfügt, das ihr die Kontrolle der Rechtsauslegung durch die Fachgerichte ermöglicht.121 Diese stärker in den Vordergrund getretene Rolle hat jüngst der ItVGH bezüglich der Einbeziehung der Grundrechtecharta im verfassungsrechtlichen Maßstab122 mit anderen europäischen Verfassungsgerichten geteilt.123 In Anbetracht dieser Versuche kann man auch den Gebrauch des Begriffs der Verfassungsidentität durch den ItVGH lesen; wie dargestellt, ist der ausdrückliche Hinweis auf die Verfassungsidentität insgesamt seltener als beim französischen Conseil constitutionnel und beim deutschen BVerfG gewesen. Das erfolgte erstmals 2017 im Vorlagebeschluss im Fall Taricco, wo es um die Bewertung innerstaatlicher Vorschriften über die Verjährung ging: Dieses Rechtsinstitut weist in der italienischen publik s. Pietro Scoppola, La repubblica dei partiti. Evoluzione e crisi di un sistema politico. 1945 – 1996, neue Aufl., Bologna, 1997. 119 Michele Di Donato, I comunisti italiani e la sinistra europea. Il PCI e i rapporti con le socialdemocrazie (1964 – 1884), Roma, 2015; ders., Idee di Europa e politiche europee, in: Pons (Hrsg.), Il comunismo italiano nella storia del Novecento, Roma, 2021, S. 609. 120 Diletta Tega, La Corte nel contesto. Percorsi di ri-accentramento della giustizia costituzionale in Italia, Bologna, 2020, insb. S. 9 ff., 184 ff., 299 ff. Für eine theoretische Verteidigung dieses Ansatzes durch einen Verfassungsrichter s. mit Bezug auf die Anwendung der europäischen GRCh Augusto Barbera, La Carta dei diritti: per un dialogo fra la Corte italiana e la Corte di Giustizia, Rivista AIC, 4/2017, S. 1. 121 Für einen breiteren Vergleich, der den österreichischen Verfassungsgerichtshof miteinschließt, s. Francesco Saitto, The Camel’s Dilemma. Critical Reflections on the Political Nature of Constitutional Courts, in: ZöR 76 (2021), S. 353. 122 Vgl. Corte costituzionale, 7. 11. 2017, Urt. 269/2017; 23. 1. 2019, Urt. 20/2019; 20. 2. 2019, Urt. 63/2019; 6. 3. 2019, Urt. 112/2019. 123 Alessandra Di Martino, Giurisdizione costituzionale e applicabilità della Carta dei diritti fondamentali dell’Unione europea. Profili comparativi, Diritto pubblico comparato ed europeo, 3/2019, S. 759; vertiefend zur italienischen Entwicklung Giorgio Repetto, Esercizi di pluralismo costituzionale. Le trasformazioni della tutela dei diritti fondamentali in Europa tra ambito di applicazione della carta e ,doppia pregiudizialità‘, Diritto pubblico, 2023, i. E. zu Deutschland s. Wendel (Fn. 79).

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Rechtsordnung einen materiellen Charakter auf, so dass das Legalitätsprinzip in Strafsachen nach Art. 25 it. Verf. unmittelbar betroffen ist, nämlich dessen Komponenten der Bestimmtheit und des Verbotes der Rückwirkung von anzuwendenden Strafvorschriften. Solch ein Prinzip ist vom Corte costituzionale als principio supremo der Verfassung betrachtet worden, das dem Schutz der unveräußerlichen Rechte des Individuums dient.124 Der Hinweis auf die Verfassungsidentität wurde im folgenden Jahr in der Hauptsache-Entscheidung wiederholt.125 Ein weiterer Verweis befindet sich im Vorlagebeschluss von 2019, der das Recht zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten als Teil des Rechts auf Verteidigung (Art. 24 it. Verf.) betraf.126 Ein Hinweis auf die Verfassungsidentität fehlt allerdings hier in der Hauptsache-Entscheidung.127 Es sind wenigstens zwei Gründe ersichtlich, weshalb der ItVGH sich entschied, das Vokabular der Verfassungsidentität zu übernehmen: Einerseits bestand schon eine supranationale Tendenz in diese Richtung, andererseits hatte er vor wenigen Jahren erstmals selbst die controlimiti gegen das Völkerrecht eingesetzt.128 Insgesamt scheint mir der Hinweis durch den ItVGH auf die Verfassungsidentität durch drei Elemente gekennzeichnet zu sein. Erstens bemerkt man eine stärkere kooperative Einstellung des italienischen Verfassungsgerichts dem EuGH gegenüber: Die Verfassungsidentität und die ihr immanenten Werte werden nicht durch eine ausgesprochene antagonistische Haltung gegenüber dem EuGH geltend gemacht; vielmehr werden sie als verwoben mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten artikuliert. Im Taricco-Vorlagebeschluss ist das offenkundig, indem das Wort „Verfassungstradition“ teilweise als Synonym für Verfassungsidentität steht, während in der Hauptsache wieder nur von Verfassungsidentität die Rede ist.129 Dadurch wird die Absicht klar, die Auslegung des EuGHs zu beeinflussen, was tatsächlich erfolgt ist, auch wenn der EuGH, seiner üblichen Argumentationsweise gemäß, dem Konflikt zwischen der Verfassungsidentität und dem Vorrangsprinzip 124

Corte costituzionale, 23. 9. 2016, Beschluss 24/2017. Corte costituzionale, 10. 4. 2018, Urt. 115/2018 (Hauptsache). 126 Corte costituzionale, 6. 3. 2019, Beschluss 117/2019. 127 Corte costituzionale, 13. 4. 2021, Urt. 84/2021. 128 Corte costituzionale, 22. 10. 2014, Urt. 238/2014. In diesem berühmten Fall wurde das Recht auf Verteidigung als controlimite gegen die völkergewohnheitsrechtliche Norm der Immunität ausländischer Staaten geltend gemacht. Zu diesem Rechtsstreit, der Deutschland und den IGH miteinbezog s. den Beitrag von Filomena Tulli, in diesem Band. Der andere Fall, in dem die controlimiti erhoben wurden, war Corte costituzionale, 22. 1. 1982, Urt. 18/1982, und betraf das Verhältnis zum Kirchenrecht. In beiden Fällen ging es um das Recht auf Verteidigung nach Art. 24 it. Verf. 129 Federico Fabbrini/Oreste Pollicino, Constitutional Identity in Italy: Institutional Disagreements at a Time of Political Change, in: Calliess/van der Schyff (Fn. 19), S. 201, 213 ff.; Giorgio Repetto, Una ragionevole apologia della supremacy. In margine all’ordinanza della Corte costituzionale sul caso Taricco, Diritto pubblico, 1/2017, S. 229, 232 ff. Zugunsten einer harten Herangehensweise des ItVGH Massimo Luciani, Il brusco risveglio. I controlimiti e la fine mancata della storia costituzionale, Rivista AIC, 2/2016, S. 1. 125

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nicht direkt angegriffen hat.130 Eine positive Interaktion mit dem EuGH ist auch in diesem Fall über das Recht auf Schweigen erfolgt. Zweitens verbindet der ItVGH die Verfassungsidentität mit einer italienischen juristischen Tradition, die typisch für das kontinentale civil law ist und im römischen Recht verwurzelt ist.131 In Taricco werden einige zentrale Aspekte dieser Tradition thematisiert: eine eher rigide Trennung der Gewalten im Bereich von Strafsachen, wobei dem Gesetzgeber und dem Richter jeweils die Formulierung des Straftatbestandes und die Rechtsanwendung zustehen, mit einer so strikt wie möglichen Eingrenzung des Auslegungsspielraums des Richters. Ferner vermittelt diese Tradition – und insbesondere das Legalitätsprinzip in Strafsachen – eine Verbindung zum demokratischen Prinzip, weil die praevia lex scripta132 nicht nur Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit gewährleistet, sondern auch als Akt der parlamentarischen Vertretung die Selbstbestimmung des Volkes verkörpert. Bezüglich der juristischen Tradition ist die Verankerung im römischen Recht ebenso im zweiten Vorlagebeschluss spürbar, wo der ItVGH explizit auf das alte Prinzip von nemo tenetur se ipsum accusare bzw. nemo tenetur se ipsum detegere zurückgreift.133 Drittens sollte man soziale Rechte berücksichtigen, deren langer Katalog (Art. 32 ff., 35 ff. it. Verf.) zusammen mit der Zentralität der Arbeit (Art. 1 und 4 it. Verf.), mit dem substantiellen Gleichheitsprinzip (Art. 3 Abs. 2 it. Verf.) und mit den Klauseln über die Entwicklung der Persönlichkeit in sozialen Umfeldern sowie die Solidaritätspflichten (Art. 2 it. Verf.)134 wichtige Merkmale der Verfassung ausmachen: Sie betonen die „Aufmerksamkeit für die realen Lebensbedingungen […], in denen sich die individuellen Freiheitsrechte entwickeln, und [für] die Beseitigung faktischer Ungleichheiten, die eine effektive Ausübung der Verfassungsrechte 130

EuGH, 5. 12. 2017, C-42/17, M.A.S. und M.B. S. Barbara Guastaferro, Deubricare i conflitti costituzionali per risolverli: sezionando il caso Taricco, Quaderni costituzionali, 2/ 2018, S. 441. 131 S. auch Ponthoreau (Fn. 1), S. 415. 132 So das Gericht: vgl. Corte costituzionale, 10. 4. 2018, Urt. 115/2018 (Hauptsache). 133 Corte costituzionale, 6. 3. 2019, Beschluss 117/2019. 134 Auf Deutsch lauten die Texte: „Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik“. (Art. 1 Abs. 1 it. Verf.); „Die Republik erkennt allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu und fördert die Bedingungen, durch die dieses Recht verwirklicht werden kann. Jeder Staatsbürger hat die Pflicht, nach den eigenen Möglichkeiten und nach eigener Wahl eine Arbeit oder Tätigkeit auszuüben, die zum materiellen oder geistigen Fortschritt der Gesellschaft beitragen kann.“ (Art. 4 it. Verf.); „Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die durch eine tatsächliche Einschränkung der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger der vollen Entfaltung der menschlichen Person und der wirksamen Teilnahme aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes im Wege stehen.“ (Art. 3 Abs. 2 it. Verf.); „Die Republik erkennt die unverletzlichen Rechte des Menschen an und gewährleistet sie, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der gesellschaftlichen Gebilde, in denen sich seine Persönlichkeit entfaltet, und sie fordert die Erfüllung der unabdingbaren Pflichten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Solidarität.“ (Art. 2 it. Verf.).

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behindern“135 und heben den transformativen und auf Konfrontation ausgerichteten Charakter der italienischen Verfassung hervor.136 Soziale Rechte werden indessen als subjektive Rechtspositionen formuliert, die sich in der republikanischen Verfassungsordnung einfügen. Obwohl ihre Effektivität von politischen Richtungsentscheidungen des Gesetzgebers, von administrativen organisatorischen Maßnahmen und von finanziellen Mitteln abhängt, wird ihr Wesenskern vom ItVGH geschützt und kann als Teil der Verfassungsidentität angesehen werden. Allerdings kommen soziale Rechte im Verfassungsmaßstab in europarechtlich relevanten Urteilen selten hervor. Manche Fälle, die eine schwächere Verbindung zum europäischen Recht, aber ein höheres Konfliktpotential aufweisen, wurden allein mit Bezug auf das italienische Recht oder mit Bezug auf die europäische Sozialcharta entschieden.137 Mit anderen Worten: Es gab keine Entscheidung wie diejenigen des portugiesischen Verfassungsgerichts, die Einschnitte in die Sozialausgaben als verfassungswidrig erklärt haben, die aus europarechtlich gedeckten Maßnahmen hervorgingen.138 Als Gründe dafür können sowohl die Anwendbarkeitsregeln nach Art. 51 Abs. 1 GRCh, als auch (selbst wenn spekulativ) strategische Gründe genannt werden, wobei man fürchten kann, dass in der europäischen Rechtsordnung soziale Rechte den Kompatibilitäten des liberalisierten gemeinsamen Marktes strenger unterliegen müssen.139 Die Inter135 Paolo Ridola, Grundrechte in Italien, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR, Bd. 10, 2018, § 300, S. 513 (521), 548. Diese Besonderheiten wurden vor vielen Jahren auch von manchen deutschen Verfassungsrechtlern anerkannt, um zugleich einige Aspekte des GG sowie der damaligen herrschenden Verfassungslehre kritisch zu betrachten: s. etwa Ridder (Fn. 5), S. 124 f. Heutzutage wird ein relationales Menschenbild eher mit Blick auf die nordamerikanische Lehre verfechtet: s. Cara Röhner, Ungleichheit und Verfassung, Vorschlag für eine relationale Rechtsanalyse, 2019. 136 Vgl. Jakobsohn (Fn. 15). Zu den sozialen Rechten und dem Prinzip der substantiellen Gleichheit in der italienischen Verfassung s. u. a. Ridola (Fn. 135), S. 548 ff., 559 – 561, 586 – 590, 594 – 597, 610 – 613; Marco Benvenuti, Diritti sociali, Torino, 2013. 137 Vgl. Corte costituzionale, 9. 2. 2015, Urt. 10/2015; 10. 3. 2015, Urt. 70/2015; 24. 6. 2015, Urt. 178/2015; 26. 9. 2018, Urt. 194/2018; 24. 6. 2020, Urt. 150/2020; 24. 2. 2021, Urt. 59/2021. 138 In Portugal war auch das Memorandum of Understanding relevant, das mit der Kommission, der EZB und dem IWF ausgehandelt wurde. Vgl. Tribunal constitucional, 5. 7. 2012, Urt. 353/2012; 5. 4. 2013, 187/2013; 14. 8. 2014, Urt. 574/2014 und 575/2014. Allerdings bestand auch hier der verfassungsrechtliche Maßstab nicht direkt aus den sozialen Rechten der Verfassung, sondern aus den flexibleren Grundsätzen der Gleichheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes. S. Teresa Violante, The Eurozone Crisis and the Rise of the Portuguese Constitutional Court, Quaderni costituzionali, 1/2019, S. 208. Für einen Vergleich zwischen der portugiesischen und der italienischen Verfassungsrechtsprechung s. Bruno Brancati, Tra diritti sociali e crisi economica. Un equilibrio difficile per le Corti costituzionali, Pisa, 2018; Claudia Marchese, I diritti sociali nell’epoca dell’austerity: prospettive comparate, Diritto pubblico comparato ed europeo, 1/2017, S. 157. 139 Der EuGH hat selbst die Gerichtsbarkeit abgelehnt und behauptet, dass solche Fälle außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrecht liegen: vgl. EuGH, 7. 3. 2013, C-128/12, Sindicato dos Bancarios do Norte; 26. 6. 2014, C- 264/12, Sindicato Nacional dos Profissionais do Seguros e Afins g. Fidelidade Mundial; 21. 10. 2014, C-665/13, Sindicato Nacional dos Profissionais do Seguros e Afins g. Via Directa; auch EuGH 27. 11. 2012, C-370/12, Pringle; s.

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nalisierung des europäischen Maßstabes ist in Italien vor allem durch die zügige und kontroverse Reform des Art. 81 der Verfassung erfolgt, welche inmitten der Finanzkrise das Prinzip des ausgeglichenen Haushalts eingeführt hat.140 2020 wurde ohnehin ein Vorlageverfahren eingeleitet, um die Auslegung des Art. 34 GRCh über soziale Sicherheit in einem Fall, der Familienbeihilfe für Drittstaatsangehörige betraf, festzusetzen;141 der EuGH hat die Norm expansiv ausgelegt.142 Schließlich sei an das politische Umfeld der letzten Jahre erinnert, in welchem u. a. zwei governi tecnici regiert haben, wobei man das Wort tecnico mit „fachspezifisch“ oder (mit einem eher negativen Unterton) „technokratisch“ übersetzen kann. Das kann als eine weitere Besonderheit Italiens nach der Implosion der Volksparteien Anfang der 90er Jahren aufgezählt werden: Die Regierung wird von einer Figur geleitet, die den politischen Parteien nicht angehört, sondern eine Karriere in den öffentlichen, insbesondere ökonomischen Institutionen, gemacht hat, eine anerkannte wirtschaftliche Kompetenz besitzt und den wirtschaftspolitischen Orientierungen der europäischen Einrichtungen besonders nah steht. Solche Regierungen, die oft mehrere ministri tecnici miteinschließen, werden auf Initiative des Präsidenten der Republik gebildet, haben dessen Vertrauen und werden im Parlament von (mehr oder wenig streitenden) parteiübergreifenden Koalitionen unterstützt.143 In solch einem Kontext wurde der Widerstreit gegen Maßnahmen, die aus dem Management der Finanzkrise entstammten und restriktive Wirkungen auf soziale Ausgaben hatten, nicht durch den Corte costituzionale ausgedrückt, sondern vor allem durch diejenigen politischen Bewegungen und Parteien, die pauschal dem aber später EuGH, 20. 9. 2016, C-8/15 P bis C-10/15 P, Ledra Advertising. Zum ambivalenten Verhältnis zwischen der Errichtung des Binnenmarktes und der Liberalisierung des Kapitalverkehrs einerseits und den demokratischen und sozialen Zügen der Verfassungen vieler Mitgliedstaaten andererseits s. u. a. Marco Dani/Augustin José Menéndez, È ancora possibile riconciliare costituzionalismo democratico-sociale e integrazione europea?, DPCE online, 1/ 2020, S. 289, 303 ff.; Stefano Giubboni, Solidarietà. Un itinerario di ricerca, Napoli, 2022. Vgl. ebenso Alexander Somek, The Cosmopolitan Constitution, Oxford, 2014, S. 201 ff., 244 ff. 140 Verfassungsgesetz n. 1/2012, das auch Art. 97 und 119 it. Verf. geändert hat. Über diese Reform gab es in der Verfassungslehre unterschiedliche Bewertungen: Ein Teil der Lehre war der Meinung, dass sie eine bestimmte wirtschaftspolitische Option zugunsten der Preisstabilität und gegen Vollbeschäftigung und soziale Rechte eingeführt hatte (z. B. Francesco Bilancia, Note critiche sul c.d. „pareggio di bilancio“, Rivista AIC, 2/2012); ein anderer Teil betonte, dass sie der Nachhaltigkeit für künftige Generationen diente (z. B. Andrea Morrone, Pareggio di bilancio e stato costituzionale, Lavoro e diritto, 2013, S. 357). Für die Benutzung des Begriffs der Internalisierung in einem anderen Kontext s. Preuß (Fn. 91). 141 Corte costituzionale, 8. 7. 2020, Beschluss 182/2020 sowie 11. 1. 2022, Urt. 54/2022 (Hauptsache). 142 EuGH, 2. 11. 2021, C-350/20, O.D. u. a. g. INPS. 143 Vgl. Claudio De Fiores, Tendenze sistemiche e aporie costituzionali dei governi tecnocratici in Italia, in: Costituzionalismo.it, 2/2021; Mauro Volpi (Hrsg.), Governi tecnici e tecnici al governo, Torino, 2017; Giorgio Grasso (Hrsg.), Il governo tra tecnica e politica, Napoli, 2016.

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Links- bzw. dem Rechtspopulismus144 zugeschrieben werden, sowie durch weniger organisierte Gruppen und Individuen. Die außenparlamentarische sowie parlamentarische Auseinandersetzung war desto stärker, je mehr die Maßnahmen als das Produkt eines administrativen, supranationalen sowie nationalen Managements der wirtschaftlichen und finanziellen Krise wahrgenommen wurden.145 Nochmals haben sich hier Formen der Gegen-Demokratie offenbart, die unter der Überwachungsdemokratie sowie der negativen Demokratie als Protest und „Abwahl“ (désélection) eingeordnet werden können.146 Hierbei sind ebenso die Risiken der „populistischen Versuchung“ als Pathologie der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie sowie als Radikalisierung der Gegen-Demokratie147 in den Vordergrund getreten; zum Teil sind sie aber auch demokratisch konfrontiert und gezähmt worden. Zwischenzeitlich – und seit der letzten Wahl 2022 vielleicht für eine längere Zeit in der Legislaturperiode – sind solche ursprünglich „gegen-demokratischen“, teilweise dem Populismus zugeneigten Kräfte auch an die Regierung gekommen, mit der Folge, dass die Konfrontation mit den europäischen Institutionen sich verschärft hat. In solch einem Zusammenhang kann es nachvollziehbar sein, dass der Corte costituzionale als Organ, das die Verfassung sicherstellt und das Gleichgewicht mit den anderen Verfassungsorganen behält, den Weg des offenen Zusammenstoßes mit dem EuGH nicht begeht.148 In dieser Konstellation erweist sich wiederum der Corte als „gegen-demokratische“ Institution, diesmal im eher traditionellen Sinn von counter-majoritarian. *** Angesichts der vielen Krisen der letzten Jahre muss man sich bewusst sein, dass deren Folgen nicht (nur) durch die Verfassungsrechtsprechung, sondern hauptsächlich durch eine politische Auseinandersetzung angegangen werden sollten. In diesem Kontext sind bestimmte Asymmetrien zwischen den Ländern aufgetaucht, die mit

144 Die Begrifflichkeit ist teilweise strittig und sollte an die jeweiligen nationalen Kontexte angepasst werden; in Italien handelt es sich einerseits um die 5 Sterne-Bewegung, andererseits um die Lega und Fratelli d’Italia. Ohnehin teile ich die Meinung, wonach es Unterschiede zwischen beiden Erscheinungen gibt: vgl. Mark Tushnet, Comparing Right-Wing and LeftWing Populism, in: Graber/Levinson/Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis?, New York, 2018, S. 639. 145 Vgl. Signe Rehling Larsen, The Constitutional Theory of the Federation and the European Union, Oxford, 2021, S. 163 ff. Dass das Management der Finanzkrise eine nicht ausschließliche, jedoch vorwiegend ordoliberale Prägung hatte, ist u. a. von Biebricher (Fn. 64), S. 280 ff. behauptet worden. 146 Rosanvallon (Fn. 37), S. 33 ff., 175 ff. 147 Rosanvallon (Fn. 37), S. 269 ff. 148 Man könnte ebenso vermuten – das ist keine strikt juristische, sondern eine vom politischen Realismus inspirierte Überlegung –, dass der ItVGH kein Interesse daran hatte, den EuGH anzugreifen, solange letzterer die unkonventionellen Maßnahmen der EZB verteidigte: vgl. EuGH, 16. 6. 2015, C-62/14, Gauweiler; 11. 12. 2018, C-493/17, Weiss.

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dem Prinzip der Staatengleichheit in Spannung getreten sind.149 Deutschland und Italien sind unmittelbar von diesen Asymmetrien betroffen. In der Verfassungsrechtsprechung kann man Symptome solcher Ungleichgewichte finden, aber auch die Suche nach einem Gleichgewicht,150 das wiederum ein Zeichen der relativen Autonomie des Rechts ist. Die Herausforderung ist groß und mindestens seit der Zeit des Maastricht-Vertrages gut bekannt: Gibt es reale Chancen, die Europäische Union zu demokratisieren (ehe sie zu solidarisieren) und eine partielle supranationale Öffentlichkeit zu bilden? Skepsis ist verständlich und gerechtfertigt, sowie das Bedürfnis, auf die Errungenschaften der Staatlichkeit nicht zu verzichten.151 Man könnte sich von Gramscis Maxime „pessimismo dell’intelligenza, ottimismo della volontà“152 leiten lassen, in dem man als qualifizierter politischer Akteur bzw. als engagierter Bürger versucht, Zwischenlösungen zu finden und sie in der Praxis durchzusetzen, wobei die Vielfalt von Verfassungskulturen nicht vernachlässigt werden sollte. Wenn man – wie manche Stimmen in der Literatur und jüngst auch der EuGH153 – von einer europäischen Verfassungsidentität aus argumentiert, sollte man die vielschichtigen 149 In diesem Zusammenhang kann die Debatte um die Hegemonie und das Verhältnis zum Grundsatz der Staatengleichheit relevant sein; diese lasse ich aber hier beiseite. Ich erinnere nur daran, dass die intellektuellen Wurzeln dieser Debatte in den jeweiligen Ländern unterschiedlich sind: In Deutschland werden sie normalerweise auf Heinrich Triepel, in Italien auf Gramsci, in Frankreich auf einer neo-gramscian Rezeption zurückgeführt. 150 Man denke an die nachdrücklichen Aussagen bezüglich der Budgethoheit des Bundestages durch das BVerfG, die in anderen Ländern nicht gleichermaßen wirksam wären: vgl. Oliver Höing, Differentiation of Parliamentary Powers. The German Constitutional Court and the German Bundestag within the Financial Crisis, in: Cartabia/Lupo/Simoncini (Hrsg.), Democracy and Subsidiarity in the EU. National Parliaments, Regions and Civil Society in the Decision-Making Process, ebook, 2013, Kap. 3.2.; Cesare Pinelli, La giurisprudenza costituzionale tedesca e le nuove asimmetrie fra i poteri dei parlamenti nazionali dell’eurozona, Costituzionalismo.it, 1/2014. Auf der anderen Seite hat die Zentralität des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Argumentation des PSPP-Urteils zu einer gewissen Flexibilität der ultra vires Kontrolle geführt. 151 Aus unterschiedlichen Perspektiven Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, erw. Ausg., 2015; ders., Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, 2021; Dieter Grimm, Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, 2016; Richard Bellamy, A Republican Europe of States. Cosmopolitanism, Intergovernmentalism and Democracy in the EU, Cambridge, 2019. 152 Gramsci, Bd. 1 (Fn. 114), Heft 1, § 63 (zum Schluss); auf Deutsch würde es lauten: „Pessimismus der Vernunft, Optimismus des Willens“. Zum Gebrauch dieser oder ähnlicher Formeln bei Romain Rolland, Jacob Burckhardt und Francesco Saverio Nitti s. Valentino Gerratana, Nota 8 [Quaderno 1, Para. 63], in Antonio Gramsci, Quaderni del carcere, Bd. 4, Apparato critico, Torino, 1975, S. 2510. Bekanntlich ist eine optimistischere Anschauung von Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin, 2011; ders., Zur Prinzipienkonkurrenz von Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemeinwesen. Eine Notiz aus Anlass der Frage nach Legitimität der ungleichen Repräsentation der Bürger im Europäischen Parlament, Der Staat 53 (2014), S. 167, vertreten worden; u. a. s. auch Franzius/Preuß (Fn. 90). Zuletzt Markus Patberg, Constituent Power in the European Union, Oxford, 2020. 153 S. oben (Fn. 14).

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Interaktionen mit den nationalen Verfassungstraditionen, einschließlich deren emanzipatorischer Ziele, nicht aus den Augen verlieren. Und man sollte erkennen, dass gemeinsame Werte nicht nur in der Rechtsprechung der Gerichte fixiert sind – wobei die Richter durch Auslegung immerhin versuchen, einen bestehenden bzw. sich entwickelnden gesellschaftlichen Konsens zu destillieren –, sondern auch in den politischen Institutionen und in den demokratischen Praktiken von Völkern und Bürgern leben. Dass diese miteinander kommunizieren und sich verständigen, trotz oder gerade wegen der vielen vorhandenen und in der Zukunft noch möglichen Konflikte, ist die elementarste Voraussetzung für die Vermittlung zwischen ursprünglich entfernten Standpunkten und für das schrittweise, wenn auch teils mühsame Voranschreiten des gemeinsamen europäischen Projekts. Literatur Ackerman, Bruce: Revolutionary Constitutions. Charismatic Leadership and the Rule of Law, Cambridge Mass. 2019. Amato, Giuliano: La sovranità popolare nell’ordinamento italiano, Rivista trimestrale di diritto pubblico, 1962, S. 74 ff. Asor Rosa, Alberto: Machiavelli e l’Italia. Resoconto di una disfatta, Torino 2019. Aust, Philipp: Zweierlei Integrationsverantwortung, EuGRZ 2020, S. 410 ff. Barbera, Augusto: La Carta dei diritti: per un dialogo fra la Corte italiana e la Corte di Giustizia, Rivista AIC, 4/2017, S. 1 ff. Barile, Paolo: Il cammino comunitario della Corte, Giurisprudenza costituzionale, 1973, S. 2406 ff. Bascherini, Gianluca: Le eredità dell’esperienza costituzionale romana del 1849, Rivista AIC, 2/2020, S. 102 ff. Beaud, Olivier: La puissance de l’État, Paris 1994. Bellamy, Richard: A Republican Europe of States. Cosmopolitanism, Intergovernmentalism and Democracy in the EU, Cambridge, 2019. Benvenuti, Marco: Diritti sociali, Torino 2013. Bereni, Laure/Lépinard, Eléonore: La parité, contresens de l’égalité? Cadrage discursif et pratique d’une réforme, Nouvelles Questions Féministes, 22 (2003), S. 12 ff. Bernardi, Alessandro (Hrsg.): I controlimiti: primato delle norme europee e difesa dei principi costituzionali, Napoli 2017. Biebricher, Thomas: Die politische Theorie des Neoliberalismus, Berlin 2021. Bilancia, Francesco: Note critiche sul c.d. „pareggio di bilancio“, Rivista AIC, 2/2012, S. 1 ff. Bilancia, Francesco: Sovranità, Rivista AIC, 3/2017, S. 1 ff. Bobbit, Philip C.: Constitutional Interpretation, Oxford 1991. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 1. Aufl., 1987, § 22.

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Souveränität – rechtlicher Kampfbegriff in politischen Machtkonflikten Von Martin Nettesheim

I. Souveränität als Rechtsbegriff Der Begriff der Souveränität wurde und wird mit einer nicht überschaubaren Bedeutungsvielfalt verwandt. Er steht für eine Tatsache oder den Fluchtpunkt einer Ideologie, für die Beschreibung der Welt oder für den Inhalt einer Norm, für objektiven Geist, Vernunft, geschichtliche Wurzel oder erst noch zu realisierenden Telos, für ein Element des Metaphysischen in einer nach-metaphysischen Welt oder für ein Funktionsäquivalent. Das Konzept der Souveränität wird in unterschiedlichsten Lagen eingesetzt, um zu beschreiben, zu analysieren oder auch normativ zu argumentieren.1 Es findet sich in der Theologie und der politischen Philosophie, in der Politik- und der Rechtswissenschaft, darüber hinaus inzwischen auch in weiteren Sozialwissenschaften. Die Begriffsbedeutung hat sich im Laufe der Zeit wiederholt geändert. Der Begriff wird zeitgleich mit abweichenden Bedeutungen verwandt. Auch das mit dem Begriff bezeichnete Konzept ist schillernd und fluide. Die Diffusität scheint einen funktionalen Wert zu haben – sie ermöglicht es überhaupt erst, das Konzept in überaus unterschiedlichen Kontexten einzusetzen. Im Kern ist Souveränität ein Kampfbegriff, der im Kontext der Austragung von Machtkonflikten zwischen Trägern öffentlicher Gewalt verwandt wird. Souveränität ist ein Schlüsselkonzept der politischen und rechtlichen Bewältigung von Machtkonflikten. Die Behauptung, souverän zu sein, impliziert, nicht mit vorrangigen Geltungsansprüchen der Gegenseite konfrontiert werden zu können. Sie impliziert auch, dass keine Sachgründe genannt werden können, durch die in Anspruch genom1 G. Schwarzenberger, The Forms of Sovereignty, Current Legal Problems 10 (1957), S. 264; H. Krüger, Souveränität und Staatengemeinschaft, BDGV 1957 Heft 1, S. 1; Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 854 f.; L. Bindschedler, Betrachtungen über die Souveränität, in: FS Guggenheim, 1968, S. 167; J. Bartelson, A Genealogy of Sovereinty, 1995; M. Stolleis, Die Idee des souveränen Staats, Der Staat Beiheft 11 (1996), S. 63; Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht, Der Staat 36 (1997), S. 381 (389); U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 122 ff.; N. Schrijver, The Changing Natur of State Sovereignty, BYIntL 1999, S. 65; M. Peters/P. Schröder (Hrsg.), Souveränitätskonzeptionen, 2000; R. Jackson, Sovereignty: The Evolution of An Idea, 2007; L. Bahmer u. a. (Hrsg.), Staatliche Souveränität im 21. Jahrhundert, 2018; J. Steinbach, Souveränitätsfragmente, 2019.

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mene Zuständigkeit oder Handlungsbefugnis in Frage gestellt werden können. Souveränität ist damit gleichzeitig formal und nicht zu übertrumpfen. Der Begriff der Souveränität wird in unterschiedlichsten Beschreibungs-, Analyse- und Kritikkontexten verwendet. Im Recht, um das es hier gehen soll, taucht er sowohl auf der Ebene von Rechts- bzw. Verfassungstheorie als im Bereich der rechtspraktischen Operationen des Rechtssystems – dort als dogmatische Kategorie – auf. In verschiedenen Teilordnungen des Rechts wird der Begriff unterschiedlich verwandt – dies gilt vor allem, wenn man die Ordnung des internationalen öffentlichen Rechts derjenigen des Verfassungsrechts gegenüberstellt. Im Bereich der (rechtlich geordneten) internationalen Beziehungen ist Souveränität ein Rechtsbegriff des positiven Rechts, ist operationabel und hat eine konstitutive Bedeutung. Im Verfassungsrecht wird der Begriff weiterhin mitgeführt, ja zuletzt in Konflikten zwischen dem Recht der Europäischen Union und dem deutschen Verfassungsrecht wieder vermehrt verwandt. Ein operationabler Rechtsbegriff ist er hier aber nicht (mehr). Im Staat sind die juridischen Einhegungs- und Zivilisationsprozesse inzwischen so weit gediehen, dass sich politische Machtkonflikte mit einem unspezifischen regulatorischen Konzept wie „Souveränität“ nicht mehr lösen lassen; es bedarf stattdessen des Rückgriffs auf spezifische rechtliche Normen und juridische Sachgründe. Das Bundesverfassungsgericht führt den Begriff noch mit, schreibt ihm aber keine tragende dogmatische Bedeutung mehr zu. Diese Beobachtungen machen deutlich, dass eine rechtswissenschaftliche Analyse und Kritik, die dem Begriff der Souveränität eine allgemeine, aus dem konkreten Verwendungskontext und dem spezifischen Zeitrahmen herausgelöste Bedeutung zuschreiben wollte, ins Leere gehen würde. Im Folgenden soll aus einer spezifisch rechtswissenschaftlichen Perspektive der Frage nachgegangen werden, welchen Bedarf das Konzept der Souveränität befriedigt: Warum meint man, das Konzept weiter zu benötigen? Wofür wird es verwendet? Wo kann es sinnvoll eingesetzt werden? In diesem Zusammenhang werden öffentlich-rechtliche bzw. staatsrechtliche Diskurse daraufhin durchleuchtet, wo und wie der Souveränitätsbegriff verwendet wird.

II. Funktion und Logik der Souveränität: Positionierung eines Subjekts in Machtkämpfen Der Rechtsbegriff der Souveränität positioniert den Träger in einem Machtkonflikt. Er umschreibt Handlungsmacht (Zuständigkeiten oder Handlungsbefugnisse), der nichts entgegengesetzt werden kann. Die Positionierung erfolgt immanent und kommt ohne Transzendenz aus. Sie ist auch formal: Legitimations- und Rationalitätsfragen werden ausgeblendet. Es ist überaus paradox, dass das Konzept in einer Welt, die keine hierarchische Struktur, keine Mitte und kein Zentrum kennt, weiterhin eine so große Bedeutung haben kann. Auch wenn es unmöglich ist, das Ganze der staatlichen Macht noch an einer Person oder einer Institution festzumachen, wird der Begriff heute weiter verwendet, zur Bezeichnung von hervorgehobenen Handlungs-

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subjekten in einem komplexen System. Rechtlich besteht damit immer die Gefahr, dass man bei der Analyse von völker- oder staatsrechtlichen Strukturen voreilig auf Reflexionen über die Souveränität umschwenkt. Er steht für Zuständigkeiten und Handlungsbefugnisse, denen ein Überordnungsoder Vorranganspruch eingeschrieben ist. Souveränität entstand historisch als Konzept, mit dem auf schwelende Machtkonflikte zwischen konkurrierenden Trägern öffentlicher Machtansprüche reagiert werden sollte. Das Konzept konnte offensiv eingesetzt werden, indem dem Träger der Souveränität in einer konkreten Konfliktlage ein in seiner Höchstrangigkeit begründeter Vorranganspruch zuerkannt wurde. Es konnte auch defensiv verwandt werden, um dem Träger Unabhängigkeit vor Beeinträchtigungen seitens Dritter und ein Anspruch auf (Entscheidungs-)Freiheit einzuräumen (Stichworte: Unabhängigkeit, Selbstbehauptung, Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit). Das Konzept der Souveränität lässt sich damit nicht verwenden, ohne einen Träger („Souveränitätssubjekt“) zu identifizieren, zudem ein Bezugsfeld. Machtkonflikte werden zwischen identifizierbaren politischen Akteuren ausgetragen. Die Geschichte des Souveränitätskonzepts weist aus, dass als Träger konkrete natürliche Personen, Gruppen von natürlichen Personen, darüber hinaus aber auch idealisierte bzw. fiktive Handlungssubjekte in Betracht kommen. Die Konfliktbewältigungsfunktion des Konzepts leidet, wenn eine Teilbarkeit der Souveränität für möglich gehalten wird. Auf der anderen Seite kann mit dem Kunstgriff einer „Souveränitätsteilung“ verhindert werden, dass das Souveränitätskonzept in einer Konfliktlage eine Entscheidung zugunsten einer der beiden Seiten erzwingt, was einer Konfliktlösung im Einzelfall abträglich sein kann. Machtkonflikte lassen sich in der Schwebe halten, wenn Souveränität als teilbare Eigenschaft angesehen wird. Machtkonflikte lassen sich schließlich auch dadurch eindämmen, dass zwischen der Trägerschaft („Innehabung“) und der Wahrnehmung („Ausübung“) von Souveränität unterschieden wird.

III. Bedeutung von Souveränität: Souveränität als politisch-symbolische Eigenschaft Souveränität bezeichnet eine politisch-symbolische Eigenschaft des Trägers der Souveränität.2 Die Zuschreibung von Souveränität läuft auf eine Er- und Überhöhung des politischen Akteurs hinaus. Wer Suprematie in Anspruch nehmen kann, muss

2 J. Bartelson, Sovereignty as Symbolic Form, 2014, S. 8 ff. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff der Souveränität häufig auch als Begriff zur Beziehung eines Attributs von Fähigkeiten bzw. Handlungen verwandt („souveräne Energiepolitik“; indirekt: „Digitalsouveränität“). Das entspricht nicht der Verwendung im Recht.

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niemanden über sich dulden.3 Der Funktionsnutzen dieser Eigenschaftszuschreibung in einer konkreten Konfliktlage liegt auf der Hand. Er war besonders anschaulich in einer Welt, die noch mit festen Ordnungs- und Hierarchievorstellungen operierte. Der Souveränitätsträger muss sich niemandem unterwerfen; seinem Willen kann sich niemand und nichts entgegenstellen. Den Bezugspunkt für diese Form bildet hoheitliche Autorität mit territorialer oder – seltener – personaler Radizierung, die symbolische Bedeutung liegt in der Zuerkennung von Unabgeleitetheit, Unbeschränktheit, Unteilbarkeit. In dieser Bedeutung liegt Souveränität entweder vor – oder auch nicht. Souveränität als symbolische Form ist in der Geschichte einer Vielzahl von Trägern zugeschrieben worden: Fürstensouveränität, Staatssouveränität, Volksoder auch Nationensouveränität.4 Theoretisch ist es denkbar, die symbolische Form „Souveränität“ abstrakt zu verstehen – dann wäre der Souveränitätsträger tatsächlich bindungslos und sein Wille stieße auf keine Schranken und Grenzen.5 In dieser Bedeutung führt der Begriff der Souveränität ein Theologumena mit sich. Wer den Begriff konkret verwendet, bringt zum Ausdruck, dass der Souveränitätsträger in einer bestimmten Konfliktlage gegenüber spezifischen konkurrierenden Akteuren Vorrang genießt, ohne deshalb aber ungebunden zu sein oder willkürlich handeln zu können. Damit wird die überschießende Bedeutung des Begriffs eingefangen; er wird in die Moderne geholt. Geschichtlich lassen sich beide Verwendungsformen nachweisen. In der Geschichte des Souveränitätsbegriffs kam die abstrakte Verwendung vor allem auf politisch-programmatischer Ebene zum Tragen – etwa, indem sich frühneuzeitliche Herrscher hierarchische Höchstrangigkeit, Ungebundenheit und Willkürfreiheit zuschrieben. Wer die rechtliche Stellung genauer untersuchte, konnte allerdings feststellen, dass es doch nur um eine konkrete Verwendung ging: Der Souveränitätsträger war durchaus normativen Bindungen unterworfen. Souveränität konnte in einer konkreten Konfliktlage dazu verwandt werden, dem Souveränitätsträger die Erhöhung über rivalisierende Kräfte zu ermöglichen – ohne allerdings zugleich die Bindungen zu negieren, die sich aus christlich-naturrechtlichen Weltvorstellungen, der Beachtlichkeit von Brauchtum, Gewohnheiten oder altem Recht oder auch anderen konkurrierenden Titeln ergaben. Die Verwendung der Form „Souveränität“ lässt es damit zu, 3 Anschaulich H. Heller, Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, 1927, S. 43: „Souverän nennen wir nun jene Entscheidungseinheit, die keiner anderen wirksamen universalen Entscheidungseinheit untergeordnet ist.“ 4 Keine weitere Erwähnung finden hier Verfallserscheinungen des Souveränitätskonzepts (z. B.: „Rechtssouveränität“), die keinen greifbaren Souveränitätsträger mehr erkennen lassen (vgl. etwa: H. Krabbe, Die Lehre von der Rechtssouveränität, 1906). 5 Beispiel: H. Heller, Staatslehre, 6. Aufl., 1983, S. 120: „Mit Souveränität bezeichnen wir die Eigenschaft der absoluten Unabhängigkeit einer Willensmacht von einer anderen wirksamen universalen Entscheidungseinheit: positiv drücken wir damit aus, dass die betreffende Willenseinheit höchste universale Entscheidungseinheit in dieser bestimmten Herrschaftsordnung ist.“; vgl. auch S. 185: „Souveränität ist die Eigenschaft einer universalen Gebietsund Wirkeinheit, kraft welcher sie um des Rechts willen sich gegebenenfalls auch gegen das Recht absolut behauptet.“

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die für eine Konfliktlösung notwendige Machtfreisetzung zu betreiben, ohne einer allgemeinen Bindungslosigkeit das Wort zu reden. In späteren – nach-naturrechtlichen – Zeiten wurde die Form „Souveränität“ dann aber auch im Recht abstrakt verwandt. Diesem Verständnis zufolge war Souveränität das Kennzeichen eines politischen Akteurs, der über ungebundene, grenzenlose und in freier Willkür zu gebrauchende Herrschaftsmacht verfügt. Wer Souveränität beansprucht, oder wem sie zugeschrieben wurde, nahm dieser Sichtweise zufolge Freiheit von jeder Art vorausliegender Bindungen, Einschränkungen und Verpflichtungen in Anspruch. Diese Radikalisierung machte die Annahme von äußeren oder inneren Bindungen des Souveränitätsträgers unmöglich. Die Skepsis, auf die die Verwendung des Souveränitätskonzepts heute stößt, ist wesentlich auf derartige Sonderwege zurückzuführen. Heute ist (insbesondere im Völkerrecht) wieder ein konkretes Verständnis dominant. Die Verwendung der symbolischen Form der Souveränität ist anspruchsvoll. Vier Punkte sind von besonderer Bedeutung: (1) Souveränität kommt nicht ohne Begriffsperson und Begriffsbild aus – sie muss in Szene gesetzt werden.6 In modernen, dezentrierten staatlichen Gemeinwesen bereitet dies ebenso Schwierigkeiten wie in den internationalen Beziehungen. (2) Souveränität kann nur in einer bestimmten Lage und mit Blick auf eine bestimmte Konfiguration politischer Kräfte sinnvoll beansprucht werden.7 Souveränität ist damit nur in einem „Gesamtgefüge politischer Macht“ operationalisierbar. Träger von Hoheitsgewalt können ihren Machtanspruch auch dann, wenn sie sich dieser Form bedienen, nur begreifbar machen und durchsetzen, wenn sie sich in einer komplexen Konfiguration verorten. (3) Der in der Inanspruchnahme von Souveränität liegende Anspruch muss eine Anknüpfung haben und so legitimiert werden: Bekanntlich konnte kein monarchischer Träger von Hoheitsgewalt darauf verzichten, seine eigene Stellung über Erbfolgeregeln, einen Wahlakt oder ein sonstiges rechtfertigendes Ereignis zu legitimieren.8 Der Anspruch, über souveräne Macht zu verfügen, vermochte dem Usurpator nicht seinen personalen Makel zu nehmen. (4) Souveränität muss zudem eine inhaltliche Bedeutung gegeben werden – gerade, wenn sie dem Anspruch nach unbegrenzt und bindungslos sein soll. Im Staat der frühen Neuzeit war dies vor allem die Verfügungsgewalt über die Gerichtsbarkeit, später dann vor allem die Legislativgewalt. Inhaltsleere Souveränität lässt sich nicht begreifbar machen. Die Zuschreibung des Wesensmerkmals „Souveränität“ hat damit vor allem politisch-programmatische Bedeutung; in der Einlösung dieser Funktion gewinnt sie dann normative Qualität.9 Souveränität als symbolische Form ist damit immer zu-

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F. Balke, Figuren der Souveränität, 2009, S. 22. Souveränität ist damit nur in Lagen dezentrierter Machtansprüche überhaupt denkbar. 8 Zur Idee der Investitur: Q. Skinner, Die Drei Körper des Staats, 2012; L. Greenfeld, Nationalism. Five Roads to Modernity, 2012. 9 H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, 1970. 7

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gleich Wirklichkeitsaussage und normatives Postulat.10 Die Entscheidung, ob in einer konkreten Konfliktlage Souveränität als symbolische Form eingesetzt wird, ist hochgradig politisch. Nicht in jedem machtpolitischen Konflikt ist das opportun. In Lagen, in denen nicht auflösbare oder entscheidbare Konflikte überdeckt werden müssen, lässt sich beobachten, dass auf die Verwendung des Konzepts verzichtet wird. Teilweise entwickelte man andere Mittel zur Überbrückung des Konflikts, etwa die Erfindung des Staats als juristischer Person. Gelegentlich war und ist auch zu beobachten, dass man schlicht von einer „Teilung der Souveränität“ spricht. Derartige Notwendigkeiten sah man insbesondere in bundesstaatlichen Lagen.11 Je nach Machtlage und politischer Grundkonstellation konnten sich derartige Ansätze durchsetzen (so in den USA) – oder auch nicht.12 Ein ähnlich „flexibler“ Umgang mit dem Konzept der Souveränität ist heute mit Blick auf das Verhältnis von EU und EUMitgliedstaaten zu beobachten. Die offenen Konfliktlagen, die zwischen „Brüssel“ und „Luxemburg“ und den mitgliedstaatlichen Verfassungsorganen entstanden sind, lassen sich, so die Hoffnung, durch Behauptung einer „geteilten Souveränität“ aus der Welt schaffen.13 Das mag integrationspolitisch verlockend erscheinen, da es umstrittene Fragen in der Schwebe hält; die dadurch entstehenden Ambivalenzen können aber normativ notwendige Feststellungen verunklaren.

IV. Ort und Gehalt von rechtlicher Souveränität Souveränität kann aber auch ein juridisches Konzept sein: Souveränität ist dann ein rechtlich verfasster (Rechts-)Status mit inhärent normativer Qualität, der nur im Operationskontext einer Rechtsordnung seine Bedeutung und seinen Sinn gewinnen 10

D. Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 1932, S. 110 f. A. de Tocqueville, Über die Demokratie in America, Bd. 1 (1835), 1986, 8. Kap. S. 126 ff.; ähnlich G. Weitz, Grundzüge der Politik, 1862, S. 153 ff.; R. von Mohl, Encyclopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl., 1872, S. 29 f. 12 In Deutschland setzte sich die Auffassung durch, dass die Souveränität im Bundesstaat nur dem Bund zustehen konnte; die Glieder (Länder) wurden als Staaten ohne Souveränität begriffen (M. von Seydel, Zur Lehre von den Staatenverbindungen (1872), in: ders., Staatsrechtliche und politische Abhandlungen, 1893, S. 1 – 89; A. Haenel, Studien zum Deutschen Staatsrechte, Erste Studie, 1873, S. 149; G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1882, S. 36 f.). Konstruktiv war dies nur um den Preis möglich, dass Staatlichkeit nunmehr auch nicht-souveräne Staatlichkeit bedeuten konnte. Die machtpolitisch bestimmte Entwicklung einer den unitarischen Interessen entsprechende Bundesstaatstheorie konnte nicht ohne Aufweichung des Staatsbegriffs erfolgen (H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920, S. 56 ff.). 13 H. Lübbe, Geteilte Souveränität, Information Philosophie, Heft 3 (1994), S. 5; D. Obradovic, Community Law and the Doctrine of Divisible Soveignty, Legal Issues of European Integration 1993 S. 1 (2); U. Schliesky, Souveränität und Legitimation von Herrschaftsgewalt, 2004; C. Pavel, Divided Sovereignty: International Institutions and the Limits of State Authority, 2014; Überblick bei: S. Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S. 659. 11

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kann. Souveränität bringt eine normative Konzeption von Vorrangstellung auf den Begriff. Gegenstand dieser Vorrangstellung sind Entscheidungsräume, in die, so die gängige Vorstellung, nicht „eingegriffen“ werden darf („Unabhängigkeit“). Der normative Schutz der Entscheidungsräume macht es dem Souveränitätsträger möglich, willkürlich bzw. frei zu agieren – und zwar unabhängig davon, wie groß seine empirische Macht ist.14 Hugo Preuss sprach von Souveränität als „negativem Rechtsbegriff“.15 Als Rechtsbegriff verweist Souveränität immer auf ein Relationskonzept.16 Über Jahrhunderte waren Staaten die einzigen Akteure, deren Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit zu schützen war. Es lag daher nahe, Souveränität als Attribut für Staatlichkeit oder für die Staatsgewalt zu bezeichnen. Inzwischen haben sich auch neue nichtstaatliche Träger öffentlicher Gewalt herausgebildet – mit der Folge, dass darüber diskutiert werden kann, ob diese nicht auch Souveränität beanspruchen können. Souveränität als juridisches Konzept existiert nicht apriorisch, sondern gewinnt Gestalt erst im Konstruktions- und Anwendungskontext einer Rechtsordnung.17 Souveränität ist danach ein Instrument, mit dem in einer Rechtsordnung bestimmte Operationen vollzogen werden können. Seine Funktionalität lässt sich nur im Binnenkontext der jeweiligen Rechtsordnung beschreiben und erklären. Wer keine Verflüssigung und Auflösung des juridischen Konzepts der Souveränität hinnehmen will, muss Souveränität (auch als juridisches Konzept) auf ein Handlungssubjekt beziehen. Trägerschaft und Realisierung fallen beim souveränen Monarchen zusammen. Nachfolgend wird aufgezeigt werden, wie derartige Zuschreibungen im Prozess der Entstehung gewaltenteiliger dezentralisierter Herrschaftsgebilde zunehmend schwieriger wurden. Bekanntlich erreichte man in diesem Prozess dann in Deutschland einen Punkt, an dem man Souveränität von einer institutionell-hierarchischen Aussage über die Stellung des Trägers zu einer inhaltlichen Aussage über eine rechtliche Kompetenz oder deren Ausübung werden ließ (Souveränität als „KompetenzKompetenz“). Damit wurde eine grundsätzliche Bedeutungsverschiebung betrieben, die, so lässt sich jedenfalls argumentieren, zu einer Aufgabe des (ursprünglichen) Konzepts in der Sache führte. Wenn im Zentrum des juridischen Konzepts der Souveränität der Umgang mit Machtkonflikten steht, impliziert dies, dass der Begriff überall dort verwandt werden kann, wo derartige Konflikte in einem politischen Handlungsraum auftauchen kön14

Chr. Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, Juristenzeitung 57 (2002), S. 1072 (1073), betont zu Recht den Unterschied zwischen Souveränität und realer Macht. 15 H. Preuss, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (1889), 1964, 133 („Negation des Rechts für den ,souveränen‘ Willen des allmächtigen Staats“), S. 135, S. 417 ff. 16 Souveränität lässt sich damit nicht begreifen, wenn man nicht immer das Gegenüber des jeweils anderen Machtinhabers mitdenkt. 17 Völkerrecht und Staatsrecht können, wie nachfolgend zu beschrieben sein wird (unten V.), den Rechtsbegriff der Souveränität unterschiedlich verwenden.

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nen (sei es im überstaatlichen Raum, sei es in einem verfassten staatsinneren Raum) und Raum für formale Positionierungen ist. Dies gilt etwa für Konflikte im Bereich der internationalen Beziehungen, ebenso für politische Konflikte in einem verfassten staatsinneren Raum, nicht aber für Konflikte im Markt: Der Versuch einer formalen Hierarchisierung verschiedener Akteure würde dessen Funktionsgesetzen widersprechen. Die Art der Konfliktlage entscheidet, ob es (noch) sinnvoll ist, mit dem Rechtskonzept der Souveränität zu operieren. Bekanntlich hat das Konzept in dem völkerrechtlich strukturierten Raum, in dem gleiche Staaten miteinander kooperieren, weiterhin eine zentrale und unverzichtbare Funktion. Im gewaltenteiligen Staat, in dem die Ausübung der öffentlichen Gewalt auf eine Vielzahl von Funktionen und Ämter übertragen ist, kann der Hinweis auf die symbolischen Formen der Souveränität (Einzigheit, Unteilbarkeit und Einheitlichkeit der Staatsgewalt18) nichts zur Schlichtung von Konflikten beitragen. Für die Zuschreibung rechtlicher Souveränität ist hier kein Raum mehr. Natürlich sind im liberalen Verfassungsstaat Vorkehrungen dafür, dass im Konfliktfall sinnvolle Konfliktschlichtung erfolgt, unverzichtbar. Das Verfassungsrecht kennt vielfältige technische Konzepte, die darauf abzielen, in einer solchen Situation Befriedung zu bewirken und Ordnung zu schaffen (Hierarchie und Weisungsunterworfenheit, Vorrang einer rechtlichen Entscheidung vor einer anderen, Streitschlichtungsverfahren und Einsetzung einer Streitschlichtungsinstitution etc.19). Im demokratischen Verfassungsstaat lässt sich allerdings kein Akteur benennen, dem die mit der Verwendung des Souveränitätsbegriffs implizierte Rechts- und Machtstellung zugebilligt werden kann: Wer soll hier in einer gewaltenteiligen Ordnung „höchstrangig“ sein, wer prinzipiell unbegrenzte Gewalt innehaben und wer soll über seine Befugnisse selbst entscheiden können? Skepsis ist angezeigt. Sie wird sich bei der Untersuchung des Grundgesetzes bestätigen.

V. Souveränität im positiven Recht Souveränität ist ein Konzept, dessen Verwendung nur in einem konkreten Bezugssystem sinnvoll ist. Theologische Souveränitätskonzepte werden sich von politischen, diese wiederum von juridischen unterscheiden. Rechtliches Nachdenken über Souveränität muss insbesondere zwischen dem überstaatlichen (völkerrechtlichen) Recht der Staaten und dem infrastaatlichen Recht der heutigen Verfassungsstaaten unterscheiden.20 18

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 848 ff. Auch die Befehlsgewalt über Militär und Polizei muss man in diesem Zusammenhang erwähnen – auch wenn diese Formen politischer Konfliktbewältigung praktisch keine Bedeutung spielen. 20 W. von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965; A. Verdroß, Die völkerrechtliche und politische Souveränität der Staaten, in: FS von der 19

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1. Bezugssystem des Völkerrechts Im Bezugssystem des Rechts zwischen den Staaten der Welt (Völkerrecht bzw. internationales öffentliches Recht) leben die symbolische Form der Souveränität und der Rechtsbegriff der Souveränität fort.21 Souveränität ist ein völkerrechtliches Konzept der Machttechnik: Ohne Allgemeinkonzepte der Abgrenzung und Verregulierung von Macht- und Zuständigkeitssphären ließe sich das Nebeneinander einer Vielzahl von Völkerrechtssubjekten in einer eng verzahnten Welt nicht effektiv steuern und regeln. Im völkerrechtlichen Bezugssystem kommt der Souveränität aber auch eine wichtige legitimatorische Bedeutung zu: Souveränität ist eine Qualität, vermittels derer Staaten einander als Gleiche gegenübertreten. Souveränität wird völkerrechtlich rein defensiv verwandt: Es ist ein Konzept, das Unabhängigkeit und (Entscheidungs-)Freiheit sichert, aber keine Übergeordnetheit des Trägers und auch keine Unbeschränktheit von Macht impliziert. Es wurde insbesondere im 19. Jahrhundert abstrakt begriffen – Staaten wurde unbegrenzte Handlungsfreiheit zugeschrieben. Heute lassen die vielfältigen Bindungen, denen staatliche Völkerrechtssubjekte unterworfen sind, nur noch ein konkretes Verständnis zu.22 Zu den Grundprinzipien des „westfälischen Systems des Völkerrechts“23 gehört, dass die Herrschaftssubjekte sich gegenseitig gleichen Rang (nicht: „Höchstrangigkeit“) und rechtliche Unabhängigkeit zuschreiben. Frühe Völkerrechtstheoretiker wie Hugo Grotius24 oder Emer de Vattel25 entwickelten diese Prinzipien zu zentralen Bausteinen der sich im 17. Jahrhundert herauskristallisierenden Ordnung – einer Ordnung, in der zunächst Monarchen, später dann Territorialverbände agierten.26 Das Völkerrecht vollzog den Übergang von der Subjektivität der natürlichen Herrscherperson zur Subjektivität des abstrakten Verbands vor allem deshalb viel schneller als das Staatsrecht, weil dies die Abstraktion von der Vielzahl unterschiedlicher konkreter Regierungstypen ermöglichte. Territorialverbände als souverän auszuweisen, bedeutete, dass diesen die Stellung als je Gleiche in einem „Club“ zugeschrieben Heydte, Bd. I, 1977, S. 703; L. Wildhaber, Entstehung und Aktualität der Souveränität, in: FS Eichenberger, 1982, S. 131; U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001. 21 A. von Arnauld, Souveränität als fundamentales Konzept des Völkerrechts, Die Friedenswarte 89 (2014), S. 51. 22 Überblick bei: Dahm, Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 152 ff.; W. Wengler, Völkerrecht, Bd. 1, 1964, S. 115 ff.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl., 1975, S. 119 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 2. Aufl., 1981, S. 45 ff.; A. Bleckmann, Das Souveränitätsprinzip im Völkerrecht, AVR 23 (1985), S. 450; W. Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 8. Aufl., 2019, Erster Abschnitt, Rz. 45 ff. 23 A. Osiander, The States System of Europe. 1640 – 1994,1994; A. Osiander, Sovereignty, International Relations, and the Westphalian Myth, International Organization, 55 (2001), S. 251 (253). 24 H. Grotius, The Rights of War and Peace, 1625. 25 E. de Vattel, Droit des gens, ou principes de la loi naturelle appliqués à la onduit et aux affaires des nations et des souverains, 1758. 26 Vgl. J. N. Figgis, From Gerson to Grotius 1414 – 1625, 2. Aufl., 1907.

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wurde. War die Mitgliedschaft zunächst auf die europäischen Herrschaftsträger beschränkt, öffnete sich der „Club“ dann mit der Unabhängigkeit der USA, vor allem aber im Verlauf des 19. Jahrhundert, indem er sich von kulturell oder räumlich definierten Zugehörigkeitskriterien löste.27 An deren Stelle trat dann das notwendige, aber auch hinreichende, Merkmal einer effektiv auftretenden Flächenstaatlichkeit. Als souveräne Handlungssubjekte werden seither alle territorial radizierten Herrschaftsverbände anerkannt, die sich selbst Souveränität zuschreiben – allerdings nur, wenn diese Zuschreibung nicht von anderen kontestiert wird.28 Souveränität wird dabei als Wesensmerkmal des Verbands (und nicht der Hoheitsgewalt) begriffen. Staatliche Souveränität wurde zum Identitätsmerkmal, das zu den Privilegien einer Clubzugehörigkeit gehörte. Völkerrechtspositiv wird dies dann in einem Bündel von konkreten Ansprüchen im positiven Recht umgesetzt, deren Gesamteffekt häufig mit staatlicher Unabhängigkeit beschrieben wird.29 In den vom heutigen Völkerrecht getragenen internationalen Beziehungen kommt der symbolischen Form der Souveränität zentrale Bedeutung zu.30 Souveränität ist immer eine (Selbst-)Beschreibung von Akteuren in einem Governance-System. Das Völkerrecht stützt sich auf den Geltungsanspruch, der von den Akteuren dieses Governance-Systems erhoben wird („Unser Staat ist souverän.“), und erkennt diesen an, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen.31 Zuschreibungsobjekt ist dabei regelmäßig ein mit juristischer Persönlichkeit versehener, territorial radizierter Verband. Das moderne (Völker-)Recht kennt grundsätzlich keine souveränen Personen („Fürstensouveränität“); als personalisiertes Völkerrechtssubjekt hat allein der Bi-

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G. Gong, The Standard of ,Civilization‘ in International Society, 1984; J. Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht: Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1984; C. F. Amerasinghe, Theory with Pratical Effets, AVR 39 (2001), S. 367; A. Kämmerer, Das Völkerrecht des Kolonialismus, VRÜ 39 (2006), S. 397; N. Berman, Passion and Ambivalence: Colonialism, Nationalism, and International Law, 2011; Überblick bei: W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984; K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl., 2007; B. Fassbender/ A. Peters (Hrsg.), Oxford Handbook of the History of International Law, 2012. 28 Eine rechtsförmliche Anerkennung als Staat ist nicht erforderlich (D. Türk, Recognition of States, EJIL 4 (1993), S. 66). Keine Institution wird in den Kreis der Mitglieder der Internationalen Gemeinschaft als Staat aufgenommen werden, wenn die jeweils anderen ihm diese Eigenschaft nicht zuschreiben wollen. 29 B. Kempen, Einige Bemerkungen zum völkerrechtlichen Begriff der Souveränität, in: FS Schiedermair, 2001, S. 789: „Der synonyme Gebrauch der Begriffe „Souveränität“ (sovereignty) und „Unabhängigkeit“ (independence) ist heute so weit verbreitet, dass man mit gutem Recht von einem allgemeinen juristischen Sprachgebrauch reden kann.“ 30 B. Fassbender, The State’s Unabandoned Claim to be the Center of the Legal Universe, International Journal of Constitutional Law 16 (2018), S. 1207. 31 J. Crawford, The Criteria for Statehood in International Law, BYIL 48 (1976/77), S. 93; J. R. Crawford, The Creation of States in International Law, 2. Aufl., 2006; K. Knop, Statehood, in: Crawford/Koskenniemi (Hrsg.), The Cambridge Companion to International Law, 2012, S. 95.

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schof von Rom überdauert.32 Das Völkerrecht sichert mit dieser Konstruktion das interne Selbstbestimmungsrecht der Staaten, die eine beliebige Organisationsform wählen können. Das Völkerrecht betrachtet Souveränität als Kennzeichen von Herrschaftsorganisationen, die durch effektive Machtausübung über ein Territorium und die sich dort aufhaltenden Menschen gekennzeichnet sind.33 Souveränität ist damit eine Zuschreibung – allerdings eine, die so untrennbar mit dem Vorliegen von Staatlichkeit im völkerrechtlichen Sinne verbunden ist, dass man von einem „Wesensmerkmal“ sprechen kann.34 Unabhängig von ihrer territorialen Größe, ihrer Bevölkerungszahl oder ihrer wirtschaftlichen Macht, aber auch von ihrer inneren staatlichen Verfasstheit werden alle staatlichen Völkerrechtssubjekte als höchstrangig (und damit: gleichrangig) behandelt. Gleich sind dann auch die völkerrechtlichen Grundpositionen des Staats: Kein Staat, ob groß oder klein, wirtschaftsstark oder in der Entwicklung begriffen, muss sich einem anderen gegen seinen Willen und ohne seine Zustimmung unterordnen. Kein Staat kann einen anderen Staat unterwerfen, sich zum Richter über ihn machen oder ihm gegen den Willen völkerrechtliche Verpflichtungen auferlegen. In den diplomatischen Beziehungen gibt es keine höher- und niederrangigen Staaten; auch hier findet das Prinzip der in der Souveränität liegenden Gleichheit seinen Niederschlag. Es ist kein rückwärtsgewandter oder unvernünftiger Anachronismus, wenn das Bezugssystem des Völkerrechts der symbolischen Form der Souveränität weiterhin eine zentrale Rolle zuschreibt: Würde man hierauf verzichten, kämen andere Prinzipien und Mechanismen der Konfliktaustragung zum Vorschein. Hieran kann kein Interesse bestehen. Mit der symbolischen Form der Souveränität wird die Grundidee eines Koordinations- und Kooperationssystems veranschaulicht, das von freien Gleichen getragen wird. Es geht um die symbolische und praktische Bewältigung von Machtkonflikten, die Abwehr von Einmischungsbegehren, auch die Zurückweisung von Hegemonie- und Unterwerfungsstrategien. Das Völkerrecht verzichtet darauf, einen Konnex zwischen der Selbstzuschreibung von Souveränität und materialen Legitimationsanschauungen herzustellen. Die Staatsgewalt musste zwar ein „Staatsvolk“ unterwerfen; das Völkerrecht blendete die Frage, wie sich dieses selbst beschreibt (communitas dei, Nation etc.), zum Schutz seiner Integrationsfähigkeit aber aus. Souveränität stützt sich nicht auf Legitimität, sondern auf machtpolitische Effektivität. In einigen Teilen der westlich-libe32

Vgl. etwa: Art. 2 des Vertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien (Lateranvertrag) vom 11. Februar 1929 („Italien anerkennt die Souveränität des Heiligen Stuhls auf internationalem Gebiet als … zu seinem Wesen gehörende Eigenschaft.“). 33 H. Krieger, Das Effektivitätsprinzip im Völkerrecht, 2000; V. Epping, Der Staat als die „Normalperson“ des Völkerrechts, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl., 2018, § 7 Rz. 137 ff. 34 Im völkerrechtlichen Bezugssystem stützt sich der Rechtsbegriff der Souveränität auf ein Konzept von Staatlichkeit, das seine Bedeutung aus dem (durchaus quantifizierbaren) Miteinander verschiedener Elemente erfährt. Der völkerrechtliche Rechtsbegriff der (souveränen) Staatlichkeit rekurriert insofern auf das Konzept der „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein).

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ralen Völkerrechtswissenschaft wurde zeitweise darüber diskutiert, ob es einen völkerrechtlichen „Anspruch auf Demokratie“ geben kann.35 Diese Diskussion ist inzwischen aber beendet. Sie hätte das Potential gehabt, ein Nachdenken über die Entwicklung materialer Kriterien der Anerkennung von Völkerrechtsubjekten zu eröffnen. In der gegenwärtigen geopolitischen Grundkonstellation sind diesbezügliche Vorstöße offensichtlich chancenlos. Es ist Ausdruck des völkerrechtlichen Grundansatzes, eine Koordinationsordnung von territorial radizierten Herrschaftsverbänden zu sein, dass es den „Völkern“ keine Souveränität zuschreibt. Zu mehr als der Anerkennung eines „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ ist es nicht gekommen. Dieses Recht wird nicht an der symbolischen Form der Souveränität festgemacht; und es beinhaltet damit auch nicht die Anerkennung von Höchstrangigkeit und Unbegrenztheit. Vielmehr kämpft das Völkerrecht auf vielen Ebenen darum, den Gestaltungsanspruch des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ tatbestandlich und mit Blick auf die Rechtsfolgenseite einzufangen und zu begrenzen. Insbesondere beinhaltet dieses Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich und vorbehaltlich besonderer Umstände kein Sezessionsrecht. Völkerrechtspositiv wird das Konzept der Souveränität zu einem Rechtsstatus verarbeitet, in dessen Zentrum Unabhängigkeit und Freiheit vor Beeinträchtigung durch Dritte stehen. Der Rechtsstatus, den das Völkerrecht souveränen Staaten zuschreibt, richtet sich nach innen und nach außen. Nach innen definiert sie den Zuständigkeitsraum des Trägers der Staatsgewalt. Im Flächenstaat geht es dabei um die Beschreibung jener Macht, die die Trägerinstitution der Staatsgewalt über ein bestimmtes Territorium ausübt.36 Diese Zuständigkeitsräume verteidigt das (Völker-)Recht auch gegen kollidierende Handlungs-, Eingriffs- und Geltungsansprüche dritter Akteure. Nach außen definiert sie die Unabhängigkeit ihres Trägers, der gegen seinen Willen keinen rechtlichen Verpflichtungen unterworfen und keiner Intervention in seinen geschützten Zuständigkeitsbereich ausgesetzt werden darf. In dieser Funktion ist der Begriff von zentraler und unverzichtbarer Bedeutung. Im Rechtsstatus staatlicher Völkerrechtssubjekte ist es damit angelegt, dass ihre territoriale und personale Hoheit zu respektieren ist, dass dritte Völkerrechtssubjekte sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten einmischen dürfen (Interventionsverbot) und dass sie auch jenseits ihrer Grenzen alle Handlungen ergreifen können, die nicht völkerrechtlich verboten sind. Kein Staat kann gegen seinen Willen den Entscheidungen einer internationalen Organisation, einer internationalen Gerichtsbarkeit oder den Entscheidungen anderer Völkerrechtssubjekte unterworfen werden.37 35 In den 1990er Jahren wurde im Völkerrecht eine Diskussion darüber geführt, ob es einen völkerrechtlichen Anspruch auf Demokratie gibt (M. Franck, The Emerging Right to Democratic Goveranance, AJIL 86 (1992) S. 46; umfassender Überblick bei: Th. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2011). 36 Souveräne Völkerrechtssubjekte wie der Heilige Stuhl verfügen demgegenüber über einen nicht-territorial definierten Zuständigkeitsbereich. 37 Zur Frage, ob Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats auch für Nichtmitglieder der UN verbindlich sind (Art. 2 Ziff. 6, Art. 25 UN-Charta): W. Martens, Zur Frage der Bindung von

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Einen derartigen wesensmäßigen Status weist das Völkerrecht – um einen Vergleich zu ziehen – den ebenfalls mit Völkerrechtssubjektivität ausgestatteten Internationalen Organisationen (IGO) nicht zu. Im Rechtsstatus der Souveränität ist eine Vermutung zugunsten staatlicher Freiheit angelegt; angesichts der Unbestimmtheit völkerrechtlicher Prinzipien und Regeln kommt dieser Vermutung große praktische Bedeutung zu. Im völkerrechtlichen Bezugssystem bedeutet Souveränität allerdings nicht grenzenlose Freiheit oder gar Bindungslosigkeit; und sie bedeutet natürlich erst recht nicht grenzenlose Macht. Der völkerrechtliche Status staatlicher Souveränität umschließt die Freiheit vor fremdem Zwang, vor Einmischung, zudem die Freiheit, sich bei der Wahrnehmung der inneren Angelegenheiten nicht rechtfertigen zu müssen. Im Bezugsrahmen des Völkerrechts lässt sich Souveränität nur rechtlich realisieren, wenn jedes Subjekt die aus dem gleichen Anspruch auf Anerkennung der je anderen folgenden Bindungen beachtet.38 Souveränität bedeutet daher nicht, sich über die Pflicht zur Beachtung der aus der Souveränität anderer Völkerrechtssubjekte folgenden Begrenzungen hinwegsetzen zu können. Souveränität bedeutet zudem nicht, von selbstauferlegten Bindungen frei zu sein. Schließt ein Völkerrechtssubjekt Verträge ab oder geht es sonstige rechtliche Bindungen ein, so widerspricht es nicht der Idee staatlicher Souveränität, wenn auf die Beachtlichkeit der hieraus folgenden Verpflichtungen bestanden wird. Die Völkerrechtsordnung enthält darüber hinaus eine Vielzahl von Status- und Koordinationsregeln, über die souveräne Staaten nicht (oder jedenfalls nicht alleine) disponieren können.39 In den letzten Jahrzehnten ist vermehrt davon gesprochen worden, dass sich die Idee der Souveränität im völkerrechtlichen Bezugssystem verflüchtige (oder sogar schon verflüchtigt habe). Teilweise ruft man auch offen zur aktiven Verdrängung des Souveränitätsbegriffs aus dem Völkerrecht auf.40 In derartigen Äußerungen drückt sich teilweise ein Unwohlsein im Angesichte einer Kategorie aus, die – in ihrer symbolischen Dimension – der Welt der Moderne fremd geworden ist. Manche treibt die Sorge vor Missbrauch: In der Tat war und ist immer wieder zu beobachten, dass das Argument „Souveränität“ politisch herangezogen wird, um sich den völkerrechtlichen Pflichten zu entziehen.41 Das ist völkerrechtlich unstatthaft und politisch nicht hinnehmbar, sollte aber nicht zum Verzicht auf die Verwendung eines wichtigen Nichtmitgliedern an die Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen, Der Staat 7 (1968), S. 431; T. Stein/Chr. von Buttlar/M. Kotzur, Völkerrecht, 14. Aufl. 2017, § 55. 38 W. Graf Vitzthum (Fn. 22), Erster Abschnitt, Rz. 45. 39 Chr. Tomuschat, Obligations Arising for States without or against their Will, RdC 241 (1993), S. 195. Man denke an Regeln über Grenzen, über bestimmte Gebiete etc. 40 Z. B. H. Kelsen, Souveränität, völkerrechtliche, in: Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. II, 1925, S. 559: Es sei „höchste Zeit, dass dieser Begriff, nachdem er Jahrhunderte eine mehr als fragwürdige Rolle in der Geschichte der Rechtswissenschaft gespielt hat, aus dem Wörterbuch des Völkerrechts endgültig verschwinde.“ 41 St. D. Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy, 1999.

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Bausteins in der Völkerrechtsordnung der Gegenwart führen.42 Wieder andere weisen (zu Recht) darauf hin, dass sich Umfang und Tiefe der völkerrechtlichen Bindungen in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht haben – mit der Folge, dass sich der mit dem Begriff „Souveränität“ bezeichnete staatliche Freiraum gleichzeitig kontinuierlich verringert hat.43 Schließlich wird auch der Umstand angesprochen, dass das Völkerrecht inzwischen einzelne materiale Regeln kennt, die auch für souveräne Staaten nicht disponibel sind (ius cogens).44 Derartige Regeln sind Ausdruck des Umstands, dass das Völkerrecht der Gegenwart mit der Doktrin absoluter staatlicher Willensfreiheit gebrochen hat. Es besteht im Völkerrecht kein Anlass, auf die Zuschreibung von Souveränität zu verzichten.45 Es besteht eine funktionale Notwendigkeit und normativer Bedarf, hinreichend gewichtige staatliche Entscheidungsspielräume der Staaten zu umschreiben, deren Bestand und Integrität dann vor Eingriffen Dritter geschützt werden. Niemand hat bislang darlegen können, dass derartige Spielräume heute nicht mehr bestehen (sollen).46 Im völkerrechtlichen Bezugssystem könnte (und sollte) nur dann von Souveränität nicht mehr gesprochen werden, wenn das Grundprinzip der gleichen Freiheit aller Staaten durch ein anderes Prinzip (Weltstaatsprinzip, Hegemonialstrukturen etc.) ersetzt würde. Das ist gegenwärtig nicht absehbar – und auch nicht wünschenswert.47 Souveränität ist ein wichtiges öffentliches Gut.48 Bislang sind Nachrufe auf den Rechtsbegriff der Souveränität im Völkerrecht verfrüht.49

42 Man sollte die Sorge vor Missbrauch auch nicht übertreiben: Nicht mehr eine Überhöhung oder missbräuchliche Usurpation des Begriffs der Souveränität droht heute, sondern die Gefahr einer schädlichen Umfunktionalisierung durch jene, die einen echten Machtkonflikt nicht hinnehmen wollen (etwas weniger scharf formuliert). 43 S. Sassen, Losing Control. Sovereignty in an Age of Globalization, 1986; H. Spruyt, The Souvereign State and Its Competitors, 1994; St. D. Krasner, Foreign Policy January/February 2001, S. 20; W. Brown, Walled States, Waning Sovereignty, 2010. 44 St. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992. 45 St. Oeter, Souveränität – ein überholtes Konzept?, in: FS Steinberger 2002, S. 259; S. Bresson, Sovereignty, Rz. 85 ff., MPEPIL-Online, Stand April 2011. 46 Völkerrechtlich ist damit auch nichts gewonnen, wenn man von „Souveränitätsteilung“ etc. spricht. Damit wird verunklart, was für das Funktionieren einer auf der Idee freier gleicher Akteure beruhenden Ordnung unverzichtbar ist. 47 Vgl. R. Paris, The Right to Dominate, International Organization 74 (2020), S. 453. 48 B. de Jouvenel, Sovereignty: An Inquiry Into the Political Good, 1957. 49 A. Randelzhofer, Souveränität, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 17, Rz. 5 ff.; anders N. MacCormick, Questioning Sovereignty, 1999, S. 95 („post-sovereinty“).

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2. Bezugssystem des Staats- und Verfassungsrechts Komplexer und widerspruchsreicher sieht die Situation im Bezugssystem des Staats- und Verfassungsrechts aus – also im „Staatsinneren“.50 Die strukturellen und funktionalen Gegebenheiten sind hier grundlegend anders als in der Koordinations- und Kooperationsordnung des Völkerrechts. Es geht nicht einfach darum, die gleiche Freiheit von Handlungssubjekten zu gewährleisten, die sich als Mitglieder eines Clubs begreifen. Im Staatsinneren wirken eine Vielzahl unterschiedlich strukturierter politischer Kräfte; die Konfliktlagen sind damit eigentümlich, die Legitimationsansprüche je unterschiedlich. Es zeigt die tiefe Verwurzelung des Souveränitätskonzepts im politischen Denken, dass man es immer schon und weiterhin auch im Staatsinneren argumentativ und konstruktiv heranzieht. Gerade hier ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Anpassungen und Fortbildungen kommt, aber auch besonders hoch. Im Bezugssystem des Staats- und Verfassungsrechts demokratischer Staaten stoßen Staatssouveränität und Volkssouveränität aufeinander. Sie lassen sich dadurch in Einklang bringen, dass sie verschiedenen Ebenen zugeordnet werden: die Staatssouveränität als symbolische Form der konstitutionell verfassten und von den Staatsorganen dargestellten Staatlichkeit; die Volkssouveränität als Legitimationstopos, der mit dem Übergang in die verfasste Staatlichkeit in latente Hintergründigkeit verschwindet.51 Ein rechtlicher Konflikt zwischen Staatssouveränität und Volkssouveränität ist damit ausgeschlossen. a) Staatssouveränität: Dem Staat des Grundgesetzes wird (staats-)rechtlich Souveränität zugeschrieben. Völker- und Staatsrecht laufen hier parallel. Im Grundgesetz findet sich diese Zuschreibung nicht ausdrücklich – anders als in der Verfassung einiger anderer Staaten. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings nie einen Zweifel daran gelassen, dass es die Bundesrepublik Deutschland als souveränen Staat betrachtet.52 Das etatistische Souveränitätsdenken betont die Fähigkeit zur staatlichen Letztentscheidung. Es hält Widersprüchlichkeiten, Schwebelagen, die Konkurrenz von hoheitlichen Geltungsansprüchen oder rechtlich nicht entscheidbare Konflikte für politisch so problematisch, dass sie konstruktiv eliminiert werden müssen. Das ist nicht einer dumpfen Verklärung von Staatlichkeit geschuldet.53 Wer das Szenario eines Bürgerkriegs vor Augen hat, der einer politisch und rechtlich nicht auflösbaren Konfliktlage mächtiger Gruppen entspringt, und wer die Einheit des Staats gefährdet 50 Präzise Aufarbeitung bei: Chr. Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, 2005, S. 65 – 117. 51 K. Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 527 ff. 52 BVerfGE 1, 351 (368 f.): „Das Grundgesetz will seinem gesamten Inhalt nach die Verfassung eines souveränen Staates sein.“ Ähnlich: BVerfGE 89, 155 (186 f., 188 ff.); 95, 39 (47); 111, 307 (Rz. 33, 35 f.); 123, 267 (Rz. 223 ff., 338 ff.); zuletzt (allgemein zu den EUMitgliedstaaten): BVerfGE 151, 202 (Rz. 186). 53 J. B. Elshtain, Sovereignty: God, State, and Self, 2008.

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sieht, wird dazu geneigt sein, hierauf mit der Konstruktion einer souverän agierenden, die Konfliktparteien durch Befehl, Zwang und Unterwerfung befriedenden Gewalt zu reagieren.54 Natürlich trägt die Konstruktion legitimatorisch nur, wenn man jedenfalls implizit davon ausgeht, dass der Träger der souveränen Gewalt in einer solchen Lage neutral agieren und beide Konfliktparteien unterwerfen kann. Wenn sich die Konfliktlinien durch die Staatsorganisation ziehen, wird das Fiktive der Konstruktion einer Einheit der Staatsgewalt unvermeidlich sichtbar. Es gab Zeiten, zu denen man sich an der Verwendung der symbolischen Form Souveränität als Eigenschaft des Staats rieb.55 Diese Irritationen sind verfolgen – nicht, weil sie ausgeräumt worden wären, sondern weil Souveränität im (positiven) Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte keine wesentliche operative Bedeutung hatte.56 Verfassungsdenken hat Souveränitätsdenken gründlich verdrängt. Jeder Gebrauch staatlicher Hoheitsmacht ist einem verfassungsrechtlichen Kompetenzerfordernis unterworfen. Extra-konstitutionelle Hoheitsgewalt ist im Verfassungsstaat nicht denkbar. Hinter der Verfassung steht kein überkonstitutioneller Staat, der zwar im Normalgeschehen unsichtbar ist, aber als souveräner Akteur im Ausnahmefall durchbricht.57 Im Verfassungsstaat geht Souveränität in der Vielzahl dezentralisierter, auf Organe und sonstige Stellen verteilter Kompetenzen auf; sie verschwindet in ihrer überkommenen Bedeutung.58 Natürlich kann man den Begriff dann anders verwenden (z. B.: souveräne Staatlichkeit als immanente Willensein-

54 M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl., 2003, § 9; H.-J. Papier, Parlamentarische Demokratie und die innere Souveränität des Staates, in: FS Bettermann, 1984, S. 39 ff. 55 Kritik an dem darin liegenden Idealismus oder auch Fiktionalismus bei: H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, S. 179; C. Schmitt, Die Diktatur: Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 1921, S. 27, S. 141 (im Begriff der Staatssouveränität liege der Versuch, „eine fingierte Einheit als reales Subjekt einer realen Macht zu hypostasieren.“). Die Konstruktion des „juristischen Staatsbegriffs“ kann als Beispiel dafür dienen, dass die juridisch-konstruktive Abstraktion als Mittel der Überwindung politischer Konflikte so erfolgreich sein kann, dass sie fortlebt, obgleich die politisch-soziale Konfliktlage längst verschwunden ist. Laband und Jellinek war es gelungen, die Abstraktion so weit voranzutreiben, dass Widersprüche verschwinden und politische Konflikte ausgeblendet werden können. 56 Soweit unter dem Grundgesetz Staatstheorie betrieben wurde, spielte Souveränität – von Ausnahmen wie Herbert Krüger abgesehen – keine zentrale Rolle. Man erinnerte daran, dass Einzigheit und Letztentscheidungsbefugnis für die Erhaltung der Friedenssicherungsfunktion notwendig sind (Th. Vesting, Staatstheorie, 2018, S. 30 f.); man sah in der Souveränität ein Instrument, mit dem auf gesellschaftliche Pluralisierungstendenzen und Dezentralisierungstendenzen reagiert werden kann. Staatsrechtliche Konsequenzen wurden aber nicht gezogen. 57 C. Schmitt, Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922, S. 9. Hierzu: H. Quaritsch, Zum Souveränitätsbegriff im Werk Carl Schmitts, Der Staat 35 (1996), S. 1. 58 Denkbar wäre es natürlich auch noch, nach einer Organsouveränität zu suchen. Aber damit begibt man sich in eine unauflösbare Aporie.

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heit59). Eine derartige Bedeutungsverschiebung verwirrt allerdings mehr, als dass sie konstruktiven Nutzen brächte.60 Ein funktionaler Bedarf für den Gebrauch von Souveränität besteht im Verfassungsstaat grundsätzlich auch nicht. Da alle Organe und Institutionen die ihnen überantworteten Befugnisse als Teil der Staatsgewalt ansehen können und gleichermaßen aus der Verfassung ableiten, lässt sich die symbolische Form der Souveränität im politischen oder rechtlichen Konflikt zwischen ihnen nicht gebrauchen. In einem Konflikt zwischen dem Parlament und der Regierung könnten sich beide Seiten mit gleichem Recht darauf berufen, „souveräne Staatsgewalt“ auszuüben, mit der Folge, dass Souveränität als Argument sinnlos wird. Keine Bedeutung kann das Souveränitätsargument auch im staatlichen Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern erlangen – weil Souveränität niemals die konstitutionellen Freiheits- und Schutzgewährleistungen überspielen kann. Gerade weil es möglich (geworden) ist, zwischen der Trägerschaft und der Ausübung von Staatsgewalt zu unterscheiden, sieht sich das Staatsund Verfassungsrecht des liberalen Verfassungsstaats allerdings nicht dazu gezwungen, auf den Souveränitätsbegriff zu verzichten. Es wird betonen, dass Souveränität zwar Höchstrangigkeit und Unabhängigkeit, nicht aber Unbeschränktheit oder Grenzenlosigkeit bedeutet. Konstitutionelles Denken zwingt dazu, Souveränität als konkrete Eigenschaft zu begreifen. Verfassungsorgane üben auch nicht rechtliche Befugnisse aus, die sich, wie bei Bodin, aus dem Konzept der Souveränität ableiten lassen, sondern verfassungsrechtlich begründete Kompetenzen. Souveränität wird damit ortund funktionslos. Die symbolische Form Souveränität wird im Staats- und Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, die als zweistufiges Gebilde begriffen wird, der Ebene des Bundes zugeordnet. Völkerrechtliche und innerstaatliche Betrachtung fallen insofern in eins. Die staatstheoretischen und staatsrechtlichen Grundlagen, die diese Zuordnung möglich machen, wurden im 19. Jahrhundert gelegt. In Bundesstaaten besteht die Möglichkeit, Bund und Gliedern jeweils eine (geteilte) Souveränität zuzuschreiben. Denkbar ist es aber auch, dem Bund die Souveränität zuzuschreiben – mit der Folge, dass den Gliedern zwar weiterhin Staatsqualität zugeschrieben werden kann, dies dann aber nicht-souveräne Staatlichkeit bedeutet. Im Kontext der Reichsgründungsbewegung hatte Georg Waitz 1853 die Position bezogen, in dem zu grün59 Einen Versuch der Neudefinition unternimmt etwa: H. Heller, Die Souveränität, 1927, S. 105 f. („Die in keinem Einzelrepräsentanten lokalisierbare Souveränität ist ihrem Wesen nach das begriffliche Symbol für die in positives Recht nicht auflösbare Einheit der das Recht und die Macht einer gebietsuniversalen Entscheidung konstituierenden Willensakte.“). 60 Zwar ist es gegenwärtig wieder populär geworden, vom Ausnahmezustand zu raunen, vor allem mit Blick auf die Entwicklung der Digitaltechnik (J.-C. Paye, Ausnahmezustand in Permanenz: 9/11 als konstitutiver Akt, BDIP 51 (2006), S. 1089; J.-C. Paye, Das Ende des Rechtsstaats, 2005, S. 19 ff.; P. Schaar, Überwachung total, 2014, S. 7 ff.; G. Greenwald, Die globale Überwachung, 2014, 253 ff.) oder mit Blick auf Defizite repräsentativer Politikgestaltung (G. Agamben, Ausnahmezustand: Homo sacer II.1., 2004 („demo-autoritärer Zustand“)). Ein neuer Souverän wird auch von diesen Stimmen nicht verortet. Vielmehr wird auch hier vielfach die „Subjektlosigkeit der Souveränität“ konstatiert.

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denden Gesamtstaat ließe sich Souveränität sowohl der Bundesebene als auch den Gliedstaaten zuschreiben.61 Seine Theorie eröffnete die Perspektive einer Reichsgründung, die von den politischen Kräften in den fortbestehenden Fürstentümern mitgetragen werden konnte. Nach erfolgter Reichsgründung 1871, bei der die Souveränitätsfrage bewusst in der Schwebe gehalten worden war, brach der staatsrechtliche Streit wieder aus. Letztlich setzte sich die Sichtweise durch, dass eine Souveränitätsteilung staatsrechtlich nicht denkbar sei; allein dem Reich wurde souveräne Staatsgewalt zugeschrieben. Eine Verformung des Staatsbegriffs nahm man hin, um den Gliedern weiterhin Staatsqualität zuschreiben zu können.62 Bundesstaatlichkeit war und ist ein Produkt politischen Wollens und nicht das Ergebnis prinzipiengeleiteter und widerspruchsfreier staatsrechtlicher Deduktion. Irritationen und konstruktive Verwerfungen sind unvermeidliche Folge politischer Kompromissbildung. Staatspraxis und Staatsrechtslehre haben diese Sichtweise unter dem Grundgesetz fortgeführt. Die Länder sind danach Staaten, haben aber keine Souveränität. Auch ihre Staatsgewalt lässt sich nicht als souverän beschreiben. Zu einem Rückgriff auf die symbolische Form „Souveränität“ kam es erst wieder in jüngster Vergangenheit – im Prozess der europäischen Integration. Die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften ließ sich über Jahrzehnte unproblematisch in völkerrechtlichen Kategorien beschreiben. Der Prozess der europäischen Integration wurde als Kooperation souveräner Staaten auf der Grundlage eines (besonderen) völkerrechtlichen Vertrags beschrieben. Lange sah man es nicht als staatsrechtliches Problem an, dass die Organe der EGen in den Mitgliedstaaten – damit auch in der Bundesrepublik Deutschland – eigene öffentliche Gewalt ausübten. Im Bundesstaat war das Einzigheitspostulat – in den sechziger Jahren staatstheoretisch von Wissenschaftlern wie Herbert Krüger noch zum zentralen Merkmal der staatlichen Souveränität erklärt – staatsrechtlich längst eliminiert worden. Das parallele Wirken verschiedener Hoheitsträger auf einem Territorium war der Staatspraxis des Bundesstaats vertraut. Das Hinzutreten einer dritten (europäischen) Ebene konnte souveränitätstheoretisch daher nicht prinzipiell als Schwierigkeit begriffen werden. Auch das Bundesverfassungsgericht sah sich zunächst nicht dazu gezwungen, sich der symbolischen Form der Souveränität mit normativem Anspruch zu bedienen. In seiner frühen europaverfassungsrechtlichen Rechtsprechung wird der Begriff nur deskriptiv mitgeführt.63 Dies änderte sich erst, als der Ausbau der Kompetenzen der EU in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon die EU zu einem genuinen politischen Gegenspieler zu ihren Mitgliedstaaten zu machen drohte. In der Entscheidung zum Maastricht-Vertrag betonte das BVerfG, dass der geplante Vertiefungsschritt die „Souveränität der Mit61 G. Waitz, Das Wesen des Bundesstaates, Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur, 1853, S. 494. 62 Protestierend: M. Seydel, Kommentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich, 2. Aufl. 1897, S. 8. 63 Beschreibungen der Bundesrepublik Deutschland als souveräner Staat hatten keine normativ-dogmatische Funktion.

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gliedstaaten“ nicht berühren würde. Vertragsrechtlich seien vielmehr Vorkehrungen zum Schutz der nationalen Identität der Mitgliedstaaten getroffen worden.64 Zudem sei die in der Souveränität angelegte Möglichkeit der Aufkündigung der Mitgliedschaft vertraglich abgesichert. In der Lissabon-Entscheidung entwickelt das BVerfG die „souveräne Staatlichkeit“ dann zu einem politisch unverfügbaren und nach Art. 79 Abs. 3 GG abgesicherten Merkmal der Bundesrepublik Deutschland. Das BVerfG buchstabiert nicht nur aus, welche Zuständigkeiten und Befugnisse die Staatsqualität als unverfügbare Masse notwendig umfassen muss. Es verstand souveräne Staatlichkeit als Eigenschaft, die die (Letzt-)Entscheidungsbefugnis darüber zum Gegenstand hat, ob europäische Hoheitsgewalt im Binnenbereich der Bundesrepublik Deutschland Geltung beanspruchen kann. Diese Eigenschaft siedelte es bei den deutschen Staatsorganen an, letztlich beim BVerfG selbst („Kompetenz-Kompetenz“). Auf dieser Grundlage hat das Gericht inzwischen eine überaus differenzierte und konturenreiche europaverfassungsrechtliche Rechtsprechung entwickelt. Seine Kontrolltätigkeit kann von allen Bürgerinnen und Bürgern im Wege der Verfassungsbeschwerde ausgelöst werden – in Wahrnehmung eines subjektiven „Rechts auf Demokratie“.65 Der Rückgriff auf die symbolische Form der Souveränität hat damit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkrete staatsrechtliche Implikationen. Er beinhaltet zwar nicht den Anspruch auf Einzigheit der (deutschen) Staatsgewalt. Er impliziert aber, dass die deutschen Staatsorgane die Entscheidungsgewalt über die vertraglichen Grundlagen der EU innehaben (müssen), zudem, dass die Kontrollbefugnis darüber nicht aufgegeben wird, welche EU-Hoheitsgewalt in den Binnenbereich der Bundesrepublik Deutschland einwirkt. Das BVerfG bringt dabei Souveränität in einer merkwürdigen politischen Konfliktlage zur Geltung. Nominal greift das BVerfG auf die Konfliktbewältigungsfunktion der symbolischen Form Souveränität zurück, um in Konflikten zwischen EU und Mitgliedstaat ein Argument für den Vorrang des Staats zu gewinnen. Es beansprucht, die Souveränität des Mitgliedstaats Deutschland zu verteidigen. Praktisch geht es allerdings eher darum, dass die Legitimations- und Identitätsfunktion von „Souveränität“ den politisch agierenden deutschen Staatsorganen entgegengehalten wird, denen verfassungsrechtliche Grenzen des integrationspolitischen Strebens aufgezeigt werden sollen.66 b) Souveräne Staatsgewalt: Daneben wird die schon im Kaiserreich entwickelte Vorstellung fortgeführt, wonach Souveränität ein Merkmal der Staatsgewalt sein soll. Konsequenz dieser Sichtweise ist es, dieser „Gewalt“ die Eigenschaften der Einzig64

BVerfGE 89, 155 (189). Vgl. BVerfGE 89, 155 (187); 123, 267 (340); 129, 124 (169, 177); 132, 195 (Rn. 104); 135, 317 (Rn. 125); 151, 202 (Rz. 118). Überblick bei P. M. Huber, Verfassungsstaat und Finanzkrise, 2014, S. 41 ff. 66 Die Legitimationsfunktion von Souveränität hat im Blick, wer die EU als Staat (oder als „souveränen Staat“) bezeichnet – oder sich hiergegen wendet. Man erwartet zu Recht, dass sich die machtpolitische Konstellation in Europa tiefgreifend ändern würde, wenn es der EU gelänge, sich der symbolischen Form der Souveränität zu bedienen. 65

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heit, der Einheit und der Höchstrangigkeit („Zu-Höchst-Sein“) zuzuschreiben.67 Konstruktiv ist es so möglich, im Verfassungsstaat, in dem eine Vielzahl von Organen und Institutionen zusammenwirken, weiterhin einen Ort der Souveränität zu finden.68 Souveräne Staatsgewalt wird häufig mit Kompetenz-Kompetenz gleichgesetzt – also die Fähigkeit des Trägers, über die eigenen Handlungsbefugnisse zu entscheiden. Eine „Blankovollmacht“69, wie sie eigentlich im Begriff der Souveränität angelegt ist, wird damit aber gerade nicht verliehen. Ohne Spannungen lässt sich die Souveränität der Staatsgewalt im Verfassungsstaat, zumal einem verfassten Bundesstaat, zudem nicht behaupten. Eine Brücke zwischen der (souveränen) Staatsgewalt, die ihre Wurzeln im Wesen des Staats haben soll, und den Befugnissen der staatlichen Organe und Institutionen, die konstitutionell begründet (und damit immer auch begrenzt) werden, lässt sich kaum schlagen. Im konstitutionell verfassten Bundesstaat wird zwar einerseits sowohl dem Bund als auch den Staaten originäre Gewalt zugeschrieben; zugleich wird den Ländern aber gerade keine souveräne Landesgewalt zuerkannt.70 Konstitutionalisten haben auf diese Schwierigkeiten bekanntlich schon seit Langem dadurch reagiert, dass sie den Staat ganz als Produkt der Verfassung begreifen, das auf eine dahinterliegende Konstruktion von Staatsgewalt nicht mehr angewiesen ist.71 Staatsgewalt ist dieser Sichtweise zufolge Verfassungsgewalt, und diese kann immer nur begrenzt und einzelnen Institutionen zur Ausübung zugewiesen sein. Höchstrangig ist danach nur die Verfassung, nicht irgendeine Emanation der Wahrnehmung von Kompetenzen. c) Volkssouveränität: Der demokratische Verfassungsstaat des Grundgesetzes stützt sich auf die Legitimationsfigur der Volkssouveränität (Präambel, Art. 20 Abs. 2, Art. 146 GG). Das BVerfG hat in dem SRP-Urteil 1952 festgestellt, dass Volkssouveränität zu den grundlegenden Merkmalen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehöre.72 Ein konstitutionell geprägtes Staatsrechtsdenken kann – darüber ist man sich einig – Souveränität als rechtlichen Status im Staatsinneren nicht mehr verorten. Das Grundgesetz weist keinem der Verfassungsorgane Souveränität zu.73 Keines der Organe steht über den anderen. Kein Organ verfügt über unbegrenzte Befugnisse. Keiner Staatsfunktion ist in dem Sinne Letztentschei67 So etwa H. Krüger (Fn. 18), S. 848 ff.; Chr. Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, 2005, S. 66 m. w. N. 68 Grenzenlos ist das Recht zur Ausübung der Staatswalt nicht – die Pflicht zur Beachtung der völkerrechtlichen Schranken wird nicht in Frage gestellt. 69 So der Begriff bei H. Krüger (Fn. 18), S. 848. 70 H. Krüger (Fn. 18), S. 848, räumt deshalb ein, dass „dem Bundesstaat immer etwas von Modellwidrigkeit an(hafte).“ 71 Insbesondere: P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess. Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, 1998. 72 BVerfGE 2, 1 (12 f.). Ähnlich BVerfGE 5, 85 (140); 44, 125 (145). 73 Eine „Organsouveränität“ (vgl. H. Fricke, Die Reichstagsauflösung des Jahres 1932 und das parlamentarische System der Weimarer Republik, Der Staat 1 (1962), S. 199) gibt es im Grundgesetz nicht.

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dungsgewalt zugewiesen, dass ihre Entscheidungen nicht korrigiert werden könnten.74 Das gilt selbst für die Verfassungsgerichtsbarkeit, deren Entscheidungen vom verfassungsändernden Gesetzgeber überschrieben werden können.75 Das Verfassungsrecht kennt damit keinen Platz für die symbolische Form der Souveränität. Natürlich lauert im Hintergrund des Verfassungsrechts die als souverän begriffene verfassunggebende Gewalt des Volkes. Sie hat im positiven Recht aber keine Stimme. Selbst wenn sich eine Verfassung legitimationstheoretisch auf das Volk und seinen Willen stützt, bringt dies nicht eine rechtliche Verfasstheit des Volkes mit sich. Und schon gar nicht wird das souveräne Volk dadurch zum Staatsorgan. Es entspricht einem gängigen Impetus konstitutionellen Denkens, diese Beobachtungen mit der Feststellung zu verbinden, dass der Begriff der Souveränität und das dahinterstehende Konzept obsolet seien.76 Man bezeichnet es als schädlich oder gefährlich.77 Andere wollen der symbolischen Form jedenfalls ihre Schärfe nehmen. Man spricht von „geteilter“ oder „gemeinsamer Souveränität“.78 In der Politik findet sich teilweise auch die Rede von der „komplementären Souveränität“.79 Wieder andere verwenden Souveränität als ein Begriff zur Bezeichnung von Handlungskompetenzen;80 sie bezeichnen so eine Gegebenheit, die mehreren, in einem politischen Bezugssystem nebeneinanderstehenden und gleichgeordneten Akteuren je individuell, aber gleichzeitig zugeschrieben werden kann. Man will von „Souveränitätstransfers“ sprechen, wenn es um Kompetenzübertragungen oder Einräumungen geht. Wie im Mittelalter ginge es dann nicht mehr um Unabgeleitetheit und prinzipielle Ungebundenheit, sondern nur noch um politische Bedeutung. Eine derartige Zerredung und Verformung des Souveränitätskonzepts wird etwa von jenen betrieben, die der EU

74 Die Entscheidungen des verfassungsändernden Gesetzgebers können jedenfalls auf der Interpretationsebene fortgeschrieben werden, zudem durch Folgeentscheidungen der anders zusammengesetzten gesetzgebenden Organe. 75 Die Neigung des BVerfG, vermehrt auch in Bereichen, in denen jede diesbezügliche Evidenz fehlt, auf der Grundlage von Art. 79 Abs. 3 GG zu judizieren, verletzt damit in der Funktion liegende Bindungen. 76 Anschaulich: J. Kokott, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes,VVDSTRL 63 (2004), S. 7 (21). 77 Vgl. I. Pernice, The Global Dimension of Multilevel Constitutionalism: A Legal Response to the Challenges of Globalisation, in: FS Tomuschat, 2006, S. 973; N. McCormick, Questioning Sovereignty: Law State, and the Nation in the European Commonwealth, 1999, S. 123 ff.; A. Chayes/A. Handler Chayes, The New Sovereignty: Compliance with International Regulatory Agreements, 1998, S. 27. 78 N. Walker, Late Sovereignty in the European Union, in: ders. (Hrsg.), Sovereignty in Transisation, 2003, S. 3 (14 f.) („pooled, shared, divided, split or partial sovereignty“). 79 E. Macron, Rede vor dem Europäischen Parlament am 17. 4. 2018; E. Macron, Rede an der Humboldt-Universität am 14. 1. 2017 („Europe of Sovereignty“). 80 Diese Begriffsverwendung findet sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Minderheitenansicht in: BVerfGE 134, 366 (Rz. 15: „Ausübung von Souveränitätsrechten“; Rz. 16: „vertragsgesetzliche Souveränitätsübertragungen oder Bindungen der Ausübung von Souveränitätsrechten“).

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und den EU-Mitgliedstaaten eine „geteilte Souveränität“ zuschreiben wollen.81 Es ist ironisch, dass es wissenschaftlich und praktisch heute nicht mehr darum geht, in einem harten politischen Machtkonflikt die eine Seite daran zu hindern, sich gegenüber der anderen durch die unberechtigte Berufung auf Souveränität Vorteile zu verschaffen. Heute geht es vielmehr darum, sich jenen entgegenzustellen, die ein staatstheoretisch und rechtlich wichtiges Konzept aus Konfliktunfähigkeit zu zerreden oder so umzuformen versuchen, dass es seine Funktion verliert. Konstitutionellem Denken ist der häufig postulierte Zusammenhang von Staatlichkeit, Souveränität und „Gewaltmonopol“ fremd.82 Liberale Verfassungsstaatlichkeit beruht auf der unverrückbaren Grundprämisse, dass der Staat abschließend festlegt, wann Gewalt („vis“83), insbesondere im zwischenmenschlichen Verhältnis, gebraucht werden darf. Er hat kein Monopol der Gewalt; er hat auch nicht die ausschließliche Befugnis zur Anwendung körperlichen Zwangs. Die Entscheidung, in welchen Lagen und unter welchen Voraussetzungen Gewalt angewandt werden darf, liegt aber (ausschließlich) beim Staat; er hat sie rechtsförmig zu treffen. Auch im liberalen Verfassungsstaat können Private zum Gebrauch von Gewalt ermächtigt werden. Allerdings müssen sie hierbei eine staatlich begründete Legitimation in Anspruch nehmen. Willkürlicher Gewalteinsatz im freien Belieben hat im liberalen Verfassungsstaat keinen Platz. Nichts zerstört die innere Textur des liberalen Gemeinwesens stärker, als wenn Bereiche und Sphären existierten (und von den Amtsträgern hingenommen würden), in denen diese Grundregel aufgehoben ist. Wenn über das staatliche „Gewaltmonopol“ gesprochen wird, geht es damit um eine besondere (exklusive) Kompetenz. Sie ist so wenig auf ein überhöhendes Konzept der Souveränität angewiesen, wie dies für andere exklusive Kompetenzen des Staats84 der Fall ist. Das liberale Verfassungsdenken setzt zwar auf Volkssouveränität, betrachtet diese Konstruktion aber eher mit Skepsis als mit Wohlgefallen. Politische Macht, die nicht eingehegt ist, ist für den liberalen Konstitutionalismus undenkbar. Aus dieser Perspektive ist es konsequent, wenn man sich inzwischen verfassungsrechtlich darum bemüht, selbst den pouvoir constituant rechtsnormativ einzuhegen. Derartige Bemühungen enden aber notwendig in einer Aporie.85 Beobachtungen darüber, wie die gel81

Nicht immer ist klar, welche rechts-(wissenschafts-)strategischen Überlegungen hinter solchen Schachzügen stehen. Geht es darum, einem Konfliktbegriff die Schärfe zu nehmen und über empirisch beobachtbare Konfliktlagen einen Mantel zu legen? Will man sich des Donnerklangs des Begriffs bedienen, um diesen auch in Lagen zum Klingen zu bringen, in dem er nach der älteren Bedeutung keinen Platz gehabt hätte? 82 D. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975; J. Isensee, Die Friedenspflicht des Bürgers und das Gewaltmonopol des Staates, in: FS Eichenberger, 1982, S. 23. 83 Zwangsgewalt wird hier in Abgrenzung zur Hoheitsgewalt („potestas“) verstanden. 84 Hierzu: Th. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 9. Aufl., 2021, § 11, Rz. 2. 85 Vgl. etwa: D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978.

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tende Verfassungsordnung durch eine – ebenfalls von der Volkssouveränität getragene – Nachfolgeordnung ersetzt wird, sind nicht ausgeschlossen.86 Eine normative Einhegung dieses Prozesses durch Vorgaben materiell-inhaltlicher Art erscheint aber unmöglich.

VI. Zukunft von Souveränität: Freiheit von Rechtfertigung Die Stärke und Schwäche des Souveränitätskonzepts ist seine Formalität. Es beansprucht, hoheitliche Autorität aus dem Nichts ableiten und deshalb auf materiale Legitimationskonstruktionen verzichten zu können. Wer sich als Träger von unabgeleiteter und ungebundener hoheitlicher Autorität bezeichnet (und dabei Anerkennung erfährt), muss für seine Entscheidungen keine weiteren, darüber hinausreichenden guten Gründe anführen. Die in der Souveränität begründete Ungebundenheit bedeutet immer auch, nicht vorausliegenden Maßstäben unterworfen zu sein. Es gibt auch keine Meta-Ordnung, nach der sich bestimmen könnte, ob die Ausübung souveräner Hoheitsgewalt nun richtig oder falsch, gut oder schlecht ist. Kein anderes Konstrukt der Herrschaftstechnik ist so formal wie jenes der Souveränität. Genau diese Formalität untergräbt allerdings die Legitimität des Konzepts selbst. Denn die Leere, auf die Souveränität verweist, weckt heute nicht mehr selbstverständliche Ehrfurcht. Sie stößt nicht auf unhinterfragte Akzeptanzbereitschaft. Sie reibt sich mit dem inzwischen im Bewusstsein tief verwurzelten Anspruch, gute Gründe zu hören. Zukunft hat das Souveränitätskonzept im 21. Jahrhundert, wenn man es in die verfassungstheoretischen und verfassungsrechtspolitischen Strukturen der Gegenwart einbettet. Souveränität ist dann kein Ort mehr, auch kein relativer Rang gegenüber anderen Akteuren. Souveränität ist auch nicht bloße Kompetenz. Souveränität verändert die Kompetenzlage nicht und berechtigt auch nicht dazu, Entscheidungen zu Lasten anderer zu treffen. Souverän ist, wer sich für eine Entscheidung nicht rechtfertigen muß. Die Bedeutung dieses Rechtsverständnisses von Souveränität liegt darin, öffentliche Gewalt nach innen oder außen ausüben zu können, ohne dafür materielle Gründe anführen zu müssen. Souveränität ist dann ein allein defensives Konzept – es bedeutet Freiheit von Rechtfertigungslasten. Ein derartiges Souveränitätsverständnis fügt sich ohne Weiteres in die Völkerrechtsstrukturen der Gegenwart ein, indem es den staatlichen Völkerrechtssubjekten (innerhalb der Grenzen des Völkerrechts) von der Notwendigkeit einer rechtlichen oder politischen Begründung der Entscheidung über die Wahrnehmung der ihnen völkerrechtlich eröffneten Handlungsspielräume befreit. Wer sich dieses Verständnisses von Souveränität bedient, wird im Staateninnenbereich demgegenüber auf Unsicherheiten stoßen. Einerseits ist es dem liberalen Konstitutionalismus nicht wesensfremd, den Verfassungsorganen Handlungsbereiche zuzuweisen, in denen Entscheidungen nicht begründet und gerechtfertigt werden 86

M. Nettesheim, Wo endet das Grundgesetz?, Der Staat 51 (2012), S. 313.

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müssen. Der überkommenen Anschauungen entspricht es, dass der Gesetzgeber seine Entscheidungen nicht rechtfertigen oder erklären muss. In vielen Verfassungsstaaten werden auch der Gubernative Entscheidungsbereiche zuerkannt, deren Wahrnehmung rechtlich nicht kontrolliert wird („political question doctrine“) und in denen deshalb jedenfalls keine rechtlich überprüfbare Rechtfertigung gegeben werden muss.87 In Deutschland lässt sich demgegenüber beobachten, dass Souveränität – verstanden als Freiheit von Rechtfertigungsnotwendigkeit – schrittweise aus dem Recht vertrieben wird. Kein Träger von Hoheitsgewalt kann nach geltendem Verfassungsrecht beanspruchen, willkürlich handeln zu können. Darüber hinaus werden Entscheidungskompetenzen des Gesetzgebers, der Regierung und auch der Verwaltung vom BVerfG immer weitgehenderen Rechtfertigungserwartungen unterworfen – ein langsamer und sich schrittweise vollziehender Prozess, der letztlich aber mit dem verfassungsrechtlichen Tod des Souveränitätskonzepts enden wird. Wo der Prozess der Verrechtlichung von Politik ein Gewinn oder ein Verlust ist, ist noch nicht entschieden. Literatur Agamben, Giorgio, Ausnahmezustand: Homo sacer II.1., 2004. Amerasinghe, Chittharanjan Felix, Theory with Pratical Effets, AVR 39 (2001), S. 367. Arnauld, Andreas von, Souveränität als fundamentales Konzept des Völkerrechts, Die Friedenswarte 89 (2014), S. 51 – 72. Bahmer, Larissa/Fiefel, Sebastian/Glock, Andreas/Wagner, Julia (Hrsg.), Staatliche Souveränität im 21. Jahrhundert, 2018. Baldus, Manfred, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht, Der Staat 36 (1997), S. 381 – 398. Balke, Friedrich, Figuren der Souveränität, 2009. Bartelson, Jens, A Genealogy of Sovereinty, 1995. Bartelson, Jens, Sovereignty as Symbolic Form, 2014. Berber, Freidrich, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl., 1975. Berman, Nathaniel, Passion and Ambivalence: Colonialism, Nationalism, and International Law, 2011. Bindschedler, Rudolf L., Betrachtungen über die Souveränität, in: FS Guggenheim, 1968, S. 167 – 183. Bleckmann, Albert, Das Souveränitätsprinzip im Völkerrecht, AVR 23 (1985), S. 450 – 477. Bresson, Samantha, Sovereignty, MPEPIL-Online, Stand April 2011. Brown, Wendy, Walled States, Waning Sovereignty, 2010. 87 Eine politische Kontrolle und Sanktionierung der getroffenen Entscheidungen wird dadurch nicht ausgeschlossen.

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Der Souveränitätsbegriff im Dialog der Gerichte Von Maria Daniela Poli*

I. Einführung „Souveränität ist heute auch Demokratieschutz“1. Damit schließt Dieter Grimm, einer der führenden deutschen Juristen und Richter am Bundesverfassungsgericht von 1987 bis 1999, sein berühmtes Buch „Souveränität: Herkunft und Zukunft eines Begriffs“, das im Jahr 2009 bei Berlin University Press und 2015 in englischer Sprache bei Columbia University Press erschienen ist2. Klar ist seine volle Zustimmung zum Lissabon-Urteil3. Auf der Basis seiner Untersuchung über die Entwicklung des Souveränitätsbegriffs und die Verbreitung verschiedener Varianten, zunächst anhand der Überlegungen über den Bundesstaat und dann im Kontext der europäischen Integration und der internationalen Organisationen, kommt Grimm zu einem doppelten Schluss: Es ist ein „plastischer und fruchtbarer, mehrdeutiger Begriff“4, welcher heute den Hauptzweck übernommen hat, die Demokratie zu schützen. Er wirke als defensiver „Schutzschild“5 gegen die fortschreitende Entziehung der Entscheidungsbefugnis der Mitgliedstaaten durch die Europäische Union. „Solange es an überzeugenden Mustern einer globalen Demokratie fehlt, sollte die Quelle demokratischer Legitimation und Kontrolle auf der staatlichen Ebene nicht ausgetrocknet werden“6, so Grimm. Die maßgebende, aber von mir nicht geteilte These von Grimm stellt einen guten Ausgangspunkt für die Analyse des Souveränitätsbegriffs im Dialog zwischen den Gerichten dar, weil sie über vier grundlegende Aspekte zum Nachdenken anregt:

* Die Autorin möchte Prof. Dr. Dian Schefold für seine wertvollen Vorschläge und Kommentare danken. Der Aufsatz wurde im Oktober 2022 fertiggestellt. 1 Dieter Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Begriffs, Berlin, 2009, S. 123. 2 Dieter Grimm, Sovereignty. The Origin and Future of a Political and Legal Concept, New York, 2015. 3 BVerfGE 123, 267. 4 Sabino Cassese, Recensione a Dieter Grimm, Sovereignty: The Origin and Future of a Political and Legal Concept, New York, 2015, in: Nespor (Hrsg.), Testi Infedeli, 2015, S. 17. 5 Cassese (Fn. 4), S.17. 6 Grimm (Fn. 1), S. 123.

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(1) Der ambivalente Charakter der Souveränität und ihre vielfältigen Gesichter, die es unmöglich machen, ihr eine einzige und vor allem statische Bedeutung zuzuschreiben; (2) Die Existenz eines ,Narrativs‘ der Souveränität in der Verfassungsgerichtsrechtsprechung im Verhältnis zwischen nationalen und europäischen Systemen; (3) Die bedeutungsvolle Natur der Haltung des Bundesverfassungsgerichts; und (4) Die instrumentelle Verwendung dieses Begriffs durch die Verfassungsgerichte in seinen verschiedenen Nuancen von a) verlorener Souveränität, b) beanspruchter Souveränität und c) geteilter Souveränität.

II. Die europäische supranationale Dimension als Grenze der Souveränität Die italienische Verfassung und das Grundgesetz zeichnen sich durch die Überwindung nationalistischer Abschottungen aus, die das faschistische und nationalsozialistische System geprägt hatten, sowie durch die Öffnung nach außen, die als wesentlich erachtet wird, um den Frieden zwischen den Völkern zu sichern und einen neuen, verheerenden Kriegsausbruch zu verhindern7. Ein neuer, seit dem Westfälischen Frieden unbekannter Staatsbegriff hat sich entwickelt8. Die Souveränität verliert ihren Absolutheitscharakter und wird – durch völkerrechtliche und supranationale Organisationen beeinflusst – sowohl in Artikel 11 der italienischen Verfassung als auch Art. 24 des Grundgesetzes verankert. Die Texte dieser Bestimmungen lauten: • Art. 11 der italienischen Verfassung: „Italien lehnt Krieg als Mittel des Angriffs auf die Freiheit anderer Völker und als Mittel zur Lösung internationaler Streitigkeiten ab; unter Beachtung der Gleichstellung mit den übrigen Staaten stimmt Italien Einschränkungen der staatlichen Souveränität zu, sofern sie für die Schaffung einer Ordnung erforderlich sind, die den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Völkern gewährleistet; Italien fördert und spricht sich für die auf diesen Zweck gerichteten überstaatlichen Zusammenschlüsse aus“9.

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Maria Daniela Poli, De Gasperi (1948 – 1953) e Adenauer (1949 – 1963): „Cancellieri“ europeisti, Rivista AIC 3 (2015), S. 1. 8 Giovanni Bognetti, La rinascita di due democrazie: convergenze e divergenze nelle costituzioni italiana e tedesca, in: Rusconi/Woller (Hrsg.), Italia e Germania 1945 – 2000. La costruzione dell’Europa, Bologna, 2005, S. 259 (265). 9 Auf Italienisch: „L’Italia ripudia la guerra come strumento di offesa alla libertà degli altri popoli e come mezzo di risoluzione delle controversie internazionali; consente, in condizioni di parità con gli altri Stati, alle limitazioni di sovranità necessarie ad un ordinamento che assicuri la pace e la giustizia fra le Nazioni; promuove e favorisce le organizzazioni internazionali rivolte a tale scopo“.

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• Art. 24 des Grundgesetzes in der Fassung von 1949: „(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. (2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern. (3) Zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird der Bund Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten“. Der Wortlaut legt einige interessante Überlegungen nahe. Beide Verfassungen übernehmen einen im Wesentlichen sehr ähnlichen Ausdruck, i. e. „Einschränkungen der staatlichen Souveränität zustimmen“/„Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen“. Anders als Artikel 11 der italienischen Verfassung, erwähnt Artikel 24 GG nicht nur ausdrücklich Europa, sondern spricht auch von der Übertragung von Hoheitsrechten, ein Begriff, der auch in Artikel 23 GG, dem sogenannten Europa-Artikel in der Fassung von 199210, erwähnt wird. Das benutzte deutsche Wort ist nicht Souveränität, sondern Hoheitsrechte. Tatsächlich kommt das Wort ,Souveränität‘ im Grundgesetz nie vor11. Diese nicht zufällige Auslassung ist im Lichte der Verfassungsgeschichte leicht zu erklären: Angesichts der vergangenen Erfahrungen und der von den Alliierten (Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich und Frankreich) in der westlichen Besatzungszone ausgeübten Beeinflussung bei der Ausarbeitung der deutschen Verfassung musste jeder Bezug oder jede bloße Erwähnung einer deutschen Hegemonie oder Vormacht ausgeschlossen werden. Darüber hinaus ist der Einfluss des Artikels 4 der Weimarer Verfassung12 (deren Inhalt nun in Art. 25 GG wiedergegeben wird13) und der Gedanke ihres Schöpfer Hugo Preuss erkennbar, wonach „[…] im Innern jede Souveränität, neben der fürstlichen auch eine unumschränkte Volkssouveränität, gegen außen eine

10 Artikel 23(1) GG in der aktuellen Fassung lautet: „(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3“. 11 Wie Dieter Grimm im oben genannten Buch festgestellt hat. Vgl. Grimm (Fn.1), S. 73. 12 Artikel 4 der Weimarer Reichsverfassung: „Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts“. 13 Artikel 25 GG: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes“.

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Beschränkung der Bindung an Völkerrechtsregeln auf den Staat als solche aus[schließt]“14, da Völkerrechtsregeln Bestandteil des nationalen Rechts sind. In der italienischen Verfassung kommt das Wort ,Souveränität‘ jedoch dreimal vor: in Artikel 1, um die Zugehörigkeit der Souveränität zum Volk, das sie in der Form und innerhalb der Grenzen der Verfassung ausübt, zu betonen15 ; in Artikel 7, um die Beziehungen zwischen dem Staat und der katholischen Kirche, die im jeweiligen eigenen Ordnungsbereich unabhängig und souverän sind, festzulegen16; und, wie bereits erwähnt, in Artikel 11. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass die europäische supranationale Dimension integraler Bestandteil dieser souveränitätsbegrenzenden Klauseln ist, sodass sie zu Recht als eine intrinsische und immanente Option der beiden Systeme angesehen werden kann17. In der Tat war die Idee von Europa einerseits sehr präsent im Gedanken der italienischen Verfassungsgebenden Versammlung18 und hat andererseits die Arbeit des Parlamentarischen Rats stark beeinflusst. In der Verfassunggebenden Versammlung wurde mehrmals und von Anfang an darüber gesprochen19; mehrere Abänderungsvorschläge, die darauf abzielten, eine 14 Detlef Lehnert/Dian Schefold, Einleitung, in: Preuß, Gesammelte Schriften, Dritter Band: Das Verfassungswerk von Weimar, Tübingen, 2015, S. 1 (57). Schefold unterstreicht die Wichtigkeit der Theorie von Hugo Preuß im aktuellen Kontext und die Tatsache, dass gerade ausgehend von Artikel 4 der Weimarer Verfassung und Artikel 25 GG die Europäische Union als eigenständige Rechtsordnung mit eigener Legitimität und nicht als bloßes Produkt einer Kompetenzübertragung angesehen werden sollte; trotzdem haben die aktuelle Fassung des Artikels 23 GG und die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit sich von dieser Perspektive distanziert (ibid., S. 57 Fn. 154). Vgl. auch: Dian Schefold, Hugo Preuß (1860 – 1925): fra Stato sovrano ed ente democratico multilivello. Riflessioni sulla raccolta dei „Gesammelte Schriften“, Costituzionalismo.it 2 (2016), S. 1 (17). 15 Art. 1(2) der italienischen Verfassug lautet: „La sovranità appartiene al popolo, che la esercita nelle forme e nei limiti della Costituzione“ („Die Souveränität steht dem Volk zu, das sie in der Form und innerhalb der Grenzen der Verfassung ausübt“). 16 Art. 7(1) der italienischen Verfassung lautet: „Lo Stato e la Chiesa cattolica sono, ciascuno nel proprio ordine, indipendenti e sovrani“ („Der Staat und die katholische Kirche sind im jeweiligen eigenen Ordnungsbereich unabhängig und souverän“). 17 Poli (Fn. 7), S. 1. 18 Lorenza Carlassare, L’art. 11 Cost. nella visione dei Costituenti, www.costituzionali smo.it. Der Beitrag wurde auch veröffentlicht in: Ronzitti (Hrsg.), L’art. 11 della Costituzione. Baluardo della vocazione internazionale dell’Italia, Napoli, 2013, S. 1. 19 Beispiele sind die Sitzung vom 3. Dezember 1946, in der der Präsident des ersten Unterausschusses, Herr Tupini (DC), vorschlug, neben dem Konzept einer Selbstbeschränkung der Souveränität für die Organisation und für die Verteidigung des Friedens das einer möglichen Selbstbeschränkung für die Zwecke der Zusammenarbeit zwischen den Nationen hinzuzufügen, und erklärte sich für die Idee von den Vereinigten Staaten von Europa, und die Sitzung vom 15. März 1947, in der Herr Pieri (PSI) den Vorschlag, föderale Verbindungen zwischen europäischen Staaten zu schaffen, ausführlich darlegte. Vgl. 44. Resoconto sommario. Seduta di martedì 3 dicembre 1946, in: Camera dei Deputati – Segretariato Generale, La Costituzione della Repubblica nei lavori preparatori della Assemblea Costituente, VI, Roma, 1970, S. 753 – 754; LXIV. Seduta pomeridiana di sabato 15 marzo 1947, in: Camera dei

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ausdrückliche Erwähnung von Europa einzufügen, wurden auch vorgestellt. Dass diese Vorschläge nicht aufgenommen wurden, war keine inhaltliche Ablehnung oder mangelndes Interesse an der Frage, sondern diente der Feststellung der impliziten Natur der europäischen Bestrebungen und/oder Inspiration, die der italienischen Verfassung zu eigen sind20. Dies wurde vom Verfassungsgericht selbst anerkannt, das „in unserer Verfassungscharta eine europäische Aufmerksamkeit aufgefunden hat“21 und die „einschließende und nicht ausschließliche Perspektive“22, die Artikel 11 zugrunde liegt, unterstrichen hat. In Deutschland diente die Integrationsbereitschaft des sich neu formierenden deutschen Staates dazu, sowohl dem für den Zweiten Weltkrieg verantwortlichen nationalen Hegemonialanspruch entgegenzuwirken als auch den Wiedereintritt der Bundesrepublik Deutschland in die Internationale Gemeinschaft zu ermöglichen. Daher rührt die extreme Deutlichkeit, mit der sich das Grundgesetz für eine offene Deputati – Segretariato Generale, La Costituzione della Repubblica nei lavori preparatori della Assemblea Costituente, I, Roma, 1970, S. 429. 20 Poli (Fn. 7), S. 3. 21 Ida Nicotra, Diritto pubblico e costituzionale, Torino, 2013, S. 482. 22 Laut des Urteils des italienischen Verfassungsgerichts Nr. 183/1973: „Questa disposizione, che non a caso venne collocata tra i ,principi fondamentali‘ della Costituzione, segna un chiaro e preciso indirizzo politico: il Costituente si riferiva, nel porla, all’adesione dell’Italia alla Organizzazione delle Nazioni Unite, ma si ispirava a principi programmatici di valore generale, di cui la Comunità economica e le altre Organizzazioni regionali europee costituiscono concreta attuazione. […] Il Costituente, dopo aver stabilito all’articolo 10 che l’ordinamento giuridico italiano si conforma alle norme del diritto internazionale generale, ha inteso con l’art. 11 definire l’apertura dell’Italia alle più impegnative forme di collaborazione e organizzazione internazionale: ed a tale scopo ha formalmente autorizzato l’accettazione, in via convenzionale, a condizioni di parità con gli altri Stati e per le finalità ivi precisate, alle limitazioni dei poteri dello Stato in ordine all’esercizio della funzione legislativa, esecutiva e giurisdizionale, quali si rendevano necessarie per l’istituzione di una Comunità tra gli Stati europei, ossia di una nuova organizzazione interstatuale, di tipo sovranazionale, a carattere permanente, con personalità giuridica e capacità di rappresentanza internazionale“ („Diese Bestimmung, die nicht zufällig zu den „grundlegenden Prinzipien“ der Verfassung hinzugefügt wurde, markiert eine klare und präzise politische Richtung: Die Verfassungsgebende Versammlung bezog sich bei der Aufnahme der Bestimmung auf den Beitritt Italiens zur Organisation der Vereinten Nationen, wurde jedoch von programmatischen Prinzipien von allgemeinem Wert inspiriert, deren konkrete Umsetzung die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und andere regionale Organisationen darstellen. […] Nachdem sie in Artikel 10 feststellte, dass das italienische Rechtssystem den Normen des allgemeinen Völkerrechts entspricht, hat die Verfassungsgebende Versammlung mit Artikel 11 die Öffnung Italiens für die anspruchsvollsten Formen der Zusammenarbeit und der Organisation definiert und dazu formell genehmigt, Beschränkungen der staatlichen Befugnisse bei der Ausübung der gesetzgebenden, exekutiven und richterlichen Gewalt zu akzeptieren. Dies solle durch Vereinbarung zu gleichen Bedingungen mit anderen Staaten und für die darin festgelegten Zwecke geschehen und für diejenigen Beschränkungen gelten, welche zur Errichtung einer Gemeinschaft zwischen den europäischen Staaten erforderlich waren, das heißt einer neuen, zwischenstaatlichen Organisation supranationalen Typs, dauerhaften Charakters, mit Rechtspersönlichkeit und internationaler Vertretungsfähigkeit“, eigene Übersetzung der Verfasserin). Vgl.: www.cortecostituzionale.it.

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Staatlichkeit innerhalb des europäischen Kontinents ausspricht. Die Ermächtigung zu der Übertragung von „Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen“ bezog sich ursprünglich und in erster Linie auf die europäische Integration, wie aus Adenauers Erinnerungen in Bezug auf das Grundgesetz hervorgeht23. Es ist deswegen kein Zufall, dass das Grundgesetz in seiner ursprünglichen Fassung von 1949 (und damit lange vor Einführung der Sonderregelung des Art. 23 GG zur Europäischen Union im Jahr 1992) sowohl in der Präambel als auch – wie bereits hervorgehoben – in Artikel 24 GG einen ausdrücklichen Bezug auf Europa enthält. Insbesondere wird in der Präambel die europäische Integration neben der Wiedervereinigung als Staatsziel24 ausgestaltet, da es der Wille des deutschen Volkes sei, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“25. Integrations- und Wiedervereinigungsziele werden gleichwertig nebeneinandergestellt und ergänzen sich gegenseitig: Denn die deutsche historisch-politische Entwicklung hat gezeigt, dass die Eingliederung Deutschlands in ein vereintes Europa eine unabdingbare Voraussetzung für die Wiedervereinigung war26. Es muss auch beachtet werden, dass trotz der Abänderung der Präambel anlässlich der deutschen Wiedervereinigung im Jahre 199027 das Ziel der Zusammenarbeit in einem vereinten Europa unverändert blieb. Das bestätigt auch die wiederholte Erwähnung des Prozesses der gemeinschaftlichen Integration im Grundgesetz28. Interessant ist auch, dass die Unbestimmtheit der Formel „vereintes Europa“ und die Verwendung des Begriffs „Glied“, der im deutschen Recht gemeinhin das Verhältnis zwischen den Län23

Poli (Fn. 7), S. 9. Vgl. Hartmut Maurer, Staatsrecht I, München, 2007, S. 110. 25 Die Präambel des Grundgesetzes in der ursprünglichen Fassung vom 1949 lautet: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. 26 Vgl. Maurer (Fn. 24), S. 110. 27 Die aktuelle Präambel des Grundgesetzes, die auf der Basis des Einigungsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 31. 08. 1990 geändert wurde, lautet: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk“. 28 Poli (Fn. 7), S. 7. 24

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dern und des Bundes bezeichnet, ein konkreter Beweis dafür ist, dass das Grundgesetz kein Verbot des Beitritts zu einem europäischen Bundesstaat enthält29. Darüber hinaus wurde der Weg des europäischen Föderalismus als Mittel des Friedens nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt zu Beginn des Integrationsprozesses von einem deutschen Politiker, Walter Peter Hallstein, der das Amt des ersten Präsidenten der Europäischen Kommission von 1958 bis 1967 innehatte, nachdrücklich gefordert30. Obwohl der Anwendungsbereich von Artikel 24 GG seit 1992 aufgrund der Einführung der europäischen Klausel des Artikel 23 GG auf die Zeit vor der Gründung der Europäischen Union und auf einen anderen als den europäischen Bereich beschränkt bleibt, kann man nicht verschweigen, dass Artikel 24 GG mit seinem ausdrücklichen Europabezug im Jahr 1949 „eine in der europäischen Verfassungsgeschichte beispiellose Tatsache“31 darstellt und seine verfassungsrechtliche Bedeutung mit der Schaffung und anschließenden Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unmittelbar spürbar wird.

III. Das „Narrativ“ der Souveränität in der Verfassungsgerichtsrechtsprechung im Verhältnis zu nationalstaatlichen und europäischen Ordnungen Trotz des Vorhandenseins von Verfassungsbestimmungen in beiden Verfassungen, die die Beschränkung der Souveränität im Namen der europäischen Supranationalität zulassen und einiger Ähnlichkeiten in der italienischen und deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit in Bezug auf die Beziehungen zum EU-Rechtssystem, sowohl in Bezug auf den gewählten Ansatz (der dualistische Ansatz im Gegensatz zum monistischen Ansatz des EuGH) und des Wertschutzes (man denke an die Theorie der sogenannten „controlimiti“32 und die Solange-Doktrin), nimmt der Begriff der Souveränität in Italien und in Deutschland völlig unterschiedliche Konnotationen an und bedingt ein antithetisches Verhalten der Verfassungsgerichte gegenüber dem EuGH: das Verhalten des italienischen Verfassungsgerichts ist kollaborativer, während der Verhalten des Bundesverfassungsgerichts offensiver ist. In Italien sind die in Artikel 11 der Verfassung genannten Beschränkungen der Souveränität Grundlage, auf welche das Verfassungsgericht den Vorrang des europä29 In diesem Sinne: Carl Otto Lenz, Der europäische Bundestaat. Das Grundgesetz hätte nichts dagegen, www.verfassungsblog.de, 5. 11. 2012. In ähnlicher Weise: Monica Bonini, Il potere costituente del popolo tedesco, Milano, 2001, S. 197. 30 Vgl. Walter Peter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, Düsseldorf, 1969. 31 Winfried Baumgart, La politica europeista di Adenauer 1945 – 1963, in: Corsini/Repgen (Hrsg.), Konrad Adenauer e Alcide De Gasperi: due esperienze di rifondazione della democrazia, Bologna, 1984, S. 363 (388). 32 Die vom italienischen Verfassungsgericht entwickelte Theorie der „controlimiti“ setzt die Unantastbarkeit der obersten Grundsätze und Grundrechte voraus.

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ischen Rechts gestützt hat, indem es einerseits die unmittelbare Wirksamkeit von EU-Verordnungen und andererseits die Nichtanwendung des nationalen Rechts im Gegensatz zum Europarecht durch die ordentlichen Gerichte anerkennt. Dieser Ansatz, der mit dem Granital-Urteil von 198433 entstanden ist, wurde vom Verfassungsgericht – auch im Zusammenhang mit dem geänderten Artikel 117 der Verfassung und im Vergleich mit den Verpflichtungen, die sich aus dem Europarecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergeben – mehrmals wiederholt34. Das „Narrativ“ der nationalen Souveränität übersetzt sich daher in die Beobachtung ihrer fortschreitenden Erosion als Ergebnis des schrittweisen Prozesses der europäischen Integration35 und der Identifizierung der sogenannten „controlimiti“ als ihr letztes Bollwerk. Diese Anschauung wird von einem kooperativen und versöhnlichen Verhalten (wie es der Fall Taricco gezeigt hat36) sowie von der Anerkennung der Bedeutung der dialektischen Auseinandersetzung zwischen der „Gemeinschaft nationaler Gerichte, zusammengehalten durch konvergierende Rechte und Pflichten“37 und dem EuGH (wie aus dem Urteil vom 11. März 2022 hervorgeht, Nr. 67) begleitet und unterstützt38. Anders als das italienische Verfassungsgericht, das einen theoretischen Diskurs zu diesem Thema sorgfältig vermeidet, begibt sich das Bundesverfassungsgericht in Deutschland – nicht ohne makroskopische Widersprüche – stattdessen ab dem Lissabon-Urteil39 in das Problemlabyrinth der Souveränität, das 1920 von Kelsen40 aus33

Italienisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 170/1984, www.cortecostituzionale.it. Italienisches Verfassungsgericht, Urteile Nr. 348/2007 und Nr. 349/2007, www.corteco stituzionale.it. 35 Von der fortschreitenden Erosion nationaler Souveränität als Folge der allmählichen Umsetzung des europäischen Integrationsprozesses wird auch ausdrücklich in der Verfassungsgerichtsrechtsprechung über die Souveränität im Verhältnis zwischen dem Staat und den Regionen gesprochen. Vgl. Italienisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 365/2007, www.corte costituzionale.it. 36 Italienisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 115/2018, www.cortecostituzionale.it, mit Anmerkungen von Cristiano Cupelli, La Corte costituzionale chiude il caso Taricco e apre a un diritto penale europeo ,certo‘, Diritto penale contemporaneo, 6/2018, S. 227; Simona Polimeni, Il caso Taricco e il gioco degli scacchi: l’„evoluzione“ dei controlimiti attraverso il „dialogo“ tra le Corti, dopo la sent. cost. n. 115/2018, Rivista AIC, 2/2018; Massimo Luigi Ferrante, La sentenza n. 115/2018 con la quale la Corte costituzionale ha posto fine all’affaire Taricco: una decisione ferma ma diplomatica, Dirittifondamentali.it, 2/2018. 37 Dieser Ausdruck („comunità di corti nazionali, tenute insieme da convergenti diritti e obblighi“) wird vom Verfassungsgericht selbst verwendet. Vgl. Italienisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 67/2022, www.cortecostituzionale.it. 38 Italienisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 67/2022 (Fn. 37), mit Anmerkungen von Antonio Ruggeri, Alla Cassazione restìa a far luogo all’applicazione diretta del diritto eurounitario la Consulta replica alimentando il fecondo „dialogo“ tra le Corti (a prima lettura della sent. n. 67/2022), ConsultaOnline, 1/2022, S. 359; Alessia-Ottavia Cozzi, Per un elogio del primato, con uno sguardo lontano. Note a Corte cost. n. 67 del 2022, ConsultaOnline, 2/2022, S. 410. 39 BVerfGE 123, 267. 34

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gelotet wurde und seitdem in der Lehre ständig diskutiert wurde, und stellt die deutsche Souveränität der europäischen Supranationalität gegenüber41. Obwohl der Souveränitätsbegriff – wenn auch viel zögerlicher – bereits im Maastricht-Urteil42 genannt wurde, das den berühmten Ausdruck „Herren der Verträge“ prägte, rückt im Lissabon-Urteil die Frage der Souveränität in den Mittelpunkt. Dies geht auch aus dem Wortlaut hervor, die eine hohe Häufigkeit des Begriffs Souveränität verzeichnen, der 24-mal (ohne Berücksichtigung der zugehörigen Adjektive) benutzt wurde43 ; dies ist eine sehr bedeutsame Tatsache, insbesondere im Vergleich zu dem erwähnten Schweigen des Grundgesetzes und die Nichterwähnung des Worts Souveränität im Schlagwortverzeichnis der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit44. Diese Zentralität nimmt nicht nur höchst fragwürdige, sondern sogar gefährliche Konturen an, da sie auf die Spitze getrieben wird, um jede Möglichkeit einer zukünftigen Schaffung eines europäischen Bundesstaates zu vermeiden45. In der Tat kommen wir auf der Basis einer klassischen und anachronistischen Idee der absoluten nationalen Souveränität und der engen Verbindung zwischen der Souveränität und dem demokratischen Prinzip zum Paradox, dass gerade das Fehlen der Volkslegitimität auf europäischer Ebene – dessen Überwindung erhofft wurde – stattdessen den Vertrag von Lissabon verfassungskonform macht46. Die lange und komplizierte Begründung des Bundesverfassungsgerichts zur Souveränität geht von Artikel 38 GG und durch die Verbindung des durch den vorgenannten Artikel geschützten und an der Menschenwürde verankerten Stimmrechts mit einer beispiellosen „Gewährleistungsverantwortung“ des Deutschen Bundestages aus. Nach dem Bundesverfassungsgericht sind Volkslegitimation und Staatsgewalt eng miteinander verknüpft: Dabei scheint das Bundesverfassungsgericht jedoch einerseits zu ignorieren, dass die Souveränitätsübertragungen an die Europäische Union von Artikel 23 GG (geändert im Jahr 1992 mit dem Beitritt zum Maastricht-Vertrag) anerkannt wurden und andererseits das Bundesverfassungsgericht einen veralteten Souveränitätsbegriff verwendet, der überholt ist, da er an der sich 40

Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, Tübingen, 1920. 41 Siehe: Maria Daniela Poli, Stato nazionale versus Stato europeo. La „mitizzazione“ della sovranità nazionale e il „disconoscimento“ implicito della Verfassungsentwicklung tedesca, Diritto pubblico comparato ed europeo, 1/2010, S. 31. 42 BVerfGE 89, 155. 43 Im Maastricht-Urteil taucht der Begriff Souveränität nur 2-mal (mit unterschiedlichen Adjektiven) auf. 44 Siehe die Besprechung des Buchs von Dieter Grimm von Stefan Schieren, Zukunft und Herkunft eines Schlüsselbegriffs, 11. 01. 2010, https://www.deutschlandfunk.de/zukunft-undherkunft-eines-schluesselbegriffs-100.html. 45 Vgl. Christoph Schönberger, Lisbon in Karlsruhe. Maastricht’s Epigones At Sea, German Law Journal 2009, S. 1201 (1207). 46 Hierzu: Matthias Niedobitek, The Lisbon Case of 30 June 2009 – A Comment from the European Law Perspective, German Law Journal 2009, S. 1267 (1272).

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verflüssigenden Struktur des Nationalstaats parametrisiert und teilweise an dessen Vorbild – dem Westfälischen Frieden 1648 – angelehnt ist47. Das Bundesverfassungsgericht erklärt dann das Verhältnis Demokratie/nationale Souveränität aufgrund der kombinierten Bestimmungen der Artikel 23 Abs. 1, 79 Abs. 3 und 20 Abs. 1 GG für unantastbar. Laut des Bundesverfassungsgerichts „[setzt] das Grundgesetz damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch“48. Der Erhebung staatlicher Souveränität als „Staatsselbstbestimmung“ steht die Degradierung der Europäischen Union zu einer bloßen Verbindungsinstitution zwischen Staaten, die souverän bleiben, und einer Form supranationaler, friedensfördernder Zusammenarbeit gegenüber. Durch diese Auslegung ist einerseits der Verfassungscharakter Europas49 und die Verleihung der Kompetenz-Kompetenz an die EU ausgeschlossen und andererseits übernimmt das Bundesverfassungsgericht das Recht/die Befugnis, dem Bundestag als Vertretung des deutschen Volkes und der von ihm ausgehenden Regierung ein überragendes Gewicht hinsichtlich der politischen Entwicklung Deutschlands im europäischen Kontext zu sichern. Das bedeutet eine sehr weite Auslegung des Gesetzesvorbehalts im Artikel 23 GG für die Übertragung der Hoheitsrechte an die Europäische Union und die damit einhergehende Ausweitung der Ultra-Vires-Kontrolle, wie sich in den nachfolgenden Beschlüssen über das Outright Monetary Transactions (OMT)-Programm50 und das Public Sector Purchase Program (PSPP)51 der Europäischen Zentralbank zeigt. Gerade auf der Grundlage dieses fragwürdigen Anspruchs auf nationale Souveränität hat sich das Bundesverfassungsgericht daher durch die Arme der Verfassungsidentitätskontrolle und der Ultra-Vires-Kontrolle in ein höchst konfliktreiches, zwischen Anfechtung und Drohung schwankendes Verhältnis zum EuGH gestellt. Diese beiden Formen der Kontrolle werden nicht nur zu Instrumenten des Widerstands gegen die Weiterentwicklung der Europäischen Union52, sondern bieten sich für eine weitere magmatische Verschiebung an: der ausschließliche Schutz des deutschen Systems, da die Gewährleistung des demokratisch-parlamentarischen Prozes-

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Frank Schorkopf, The European Union as An Association of Sovereign States. Karlsruhe’s Ruling on the Treaty of Lisbon, German Law Journal 2009, S. 1219 (1224). 48 BVerfGE 123, 267 (216). 49 Zu Gunsten der Existenz einer materiellen Verfassung in Europa, auch wenn ein formelles Dokument fehlt: Gabriella Bonacchi (Hrsg.), Una Costituzione senza Stato, Bologna, 2001; Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden, 2009. 50 BVerfGE 134, 366, und BVerfGE 142, 123. 51 BVerfGE 146, 216, und BVerfGE 154, 17. 52 Über die Verfassungsidentität als Widerstandsformel: Christoph Schönberger, Verfassungsidentität zwischen Widerstandsformel und Musealisierung des Grundgesetzes, JöR 2015, S. 41.

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ses eine einseitige Konnotation annimmt, gilt nur für Deutschland53 und die „Germanisierung“ der Grundrechte54. Während Haushaltsbefugnis als wesentliches Element deutscher Staatlichkeit gilt und auf das Prinzip „no taxation without representation“55 zurückgeführt wird, werden die Autonomieanforderungen anderer Staaten im gleichen Bereich völlig ignoriert. Man denke hierbei an die das Griechenland und den südeuropäischen Ländern auferlegte Sparpolitik auf der Grundlage europäischer Parameter und insbesondere an den Fiskalpakt, der eindeutig von der deutschen Disziplin des ausgeglichenen Haushalts und der Schuldenbremse inspiriert wurde. Die Rechte werden also nicht im Lichte der europäischen Verfassungskultur berücksichtigt und betrachtet, wie sie von der „aufsteigenden“ und „absteigenden“ Bewegung der Verfassungstraditionen56 befeuert wird, sondern ausschließlich in deutscher Tonart. Obwohl die Menschenwürde ein Kardinalprinzip des europäischen Rechts57 ist, nimmt die deutsche Menschenwürdegarantie die Rolle eines „Supergrundrechts“58 an und wird durch eine Verwendung der Verfassungsidentitätskontrolle, die wir als ,horizontal‘ (und nicht mehr nur ,vertikal‘) definieren könnten, allgemeines Kriterium der gerichtlichen Kontrolle, anwendbar auch auf die Rechtsordnungen der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union59. Ebenso sei das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das heute trotz unbestreitbarer deutscher Prägung ebenfalls ein europäi-

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So Christian Joerges/Stefano Giubboni, Diritto e politica nella crisi europea/Recht und Politik in der Krise Europas, Deutsch-Italienische Studien – Studi Italo-Tedeschi, Vol. 6, Bremen, Zentrum für europäische Rechtspolitik (ZERP), 2013, S. 1 (13). 54 Maria Daniela Poli, Mir gehört die Letztentscheidungskompetenz! L’ennesimo dialogoscontro tra Bundesverfassungsgericht e Corte di giustizia dell’Unione europea, Rivista AIC 2016, S. 1 (8). 55 Siehe: Peter M. Huber, Deutschland zwischen europäischer Integration und „Souveränismus“, in: Ferrari/Moraldo (Hrsg.), Deutschland zwischen europäischer Integration und Souveränismus – La Germania tra integrazione europea e sovranismo, Berlin/Heidelberg, 2021, S. 219 (238). 56 Hierzu, ex multis: Luigi Cozzolino, Le tradizioni costituzionali comuni nella giurisprudenza della Corte di giustizia delle Comunità europee, in: Falzea/Spadaro/Ventura (Hrsg.), La Corte costituzionale e le Corti d’Europa, Torino, 2003, S. 3; Antonio Ruggeri, Struttura e dinamica delle tradizioni costituzionali nella prospettiva dell’integrazione europea, Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional 2003, S. 373; Oreste Pollicino, Corte di Giustizia e giudici nazionali: il moto „ascendente“, ovverosia l’incidenza delle „tradizioni costituzionali comuni“ nella tutela apprestata ai diritti dalla Corte dell’Unione, 20. 04. 2015, www.giurcost.org. 57 Der Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen“. In Bezug darauf ist daran zu erinnern, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ursprünglich vom ersten europäischen Konvent unter dem Vorsitz von Roman Herzog (Richter des Bundesverfassungsgerichts von 1983 bis 1994 und Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland von 1994 bis 1999) erarbeitet wurde. 58 Dieser Ausdruck wurde von Christoph Schönberger geprägt, Anmerkung, JZ 71 (2016), S. 422 (423 – 424). 59 So Poli (Fn. 54), S. 8.

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scher Grundsatz ist, nach der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts auch in der europäischen Rechtsprechung anzuwenden60. Die Spannung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH, die mit dem Urteil vom 5. Mai 202061 ihren Höhepunkt erreicht hat, nimmt sehr besorgniserregende Konturen an, nicht nur, weil das Bundesverfassungsgericht erstmals in der Praxis eine Ultra-Vires-Kontrolle ausübte, sondern vor allem, weil diese Kontrolle auf ein Urteil des EuGH fiel. Wie von Dian Schefold deutlich hervorgehoben wurde, die das oben genannte Urteil vom 5. Mai 2020 als die „weniger gelungene Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts (d. h. die schlechteste) definiert hat62, verstößt die Negierung der Verbindlichkeit der Urteile des EuGH auf der Basis der Ultra-Vires-Doktrin gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und der justiziellen Zusammenarbeit63 und stellt das im Laufe der Zeit so mühsam aufgebaute europäische Gebäude in seinen Grundfesten auch und vor allem dank des justiziellen Aktivismus der Gerichte in Frage. Trotz der Reaktion des Gerichtshofs der Europäischen Union zunächst mit der Pressemitteilung vom 8. Mai 202064 und dann mit der Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland65 sowie den Grenzen einer zulässigen Voll-

60 Diana-Urania Galetta spricht hierzu von „kultureller Kraftmeierei“ („bullismo culturale“) des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. Diana-Urania Galetta, Karlsruhe über alles? The reasoning on the principle of proportionality in the judgment of 5 May 2020 of the German BVerfG and its consequences, CERIDAP 2 (2020), S. 52. 61 BVerfGE 154, 17. 62 Dian Schefold, Gelungene und weniger gelungene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, ZöR 77 (2022), S. 755. 63 Dian Schefold, Ultra vires? Courtesy of the Courts between Court of Justice of the European Union and Bundesverfassungsgericht, in Pluralismo nel diritto costituzionale. Blog per i 70 anni di Roberto Toniatti, 2020, https://www.robertotoniatti.eu/contributi/ultra-virescourtesy-of-the-courts-between-court-of-justice-of-the-european-union-and-bundesverfassungs gericht, S. 1 (10). 64 EuGH, Pressemitteilung Nr. 58/20: Pressemitteilung im Nachgang zum Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020, Luxemburg, 8. 05. 2020, https://curia. europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-05/cp200058de.pdf. Der EuGH behauptet nach der Prämisse, dass „die Dienststellen des Gerichtshofs Urteile nationaler Gerichte nicht [kommentieren]“: „Um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu wahren, ist nur der zu diesem Zweck von den Mitgliedstaaten geschaffene EuGH befugt, festzustellen, dass eine Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht verstößt. Meinungsverschiedenheiten der mitgliedstaatlichen Gerichte über die Gültigkeit einer solchen Handlung wären nämlich geeignet, die Einheit der Unionsrechtsordnung aufs Spiel zu setzen und die Rechtssicherheit zu beeinträchtigen“. 65 Vorrang des EU-Rechts: die Kommission richtet Aufforderungsschreiben an Deutschland wegen Verstoßes gegen die Grundprinzipien des EU-Rechts, in: Europäische Kommission, Entscheidungen in Vertragsverletzungsverfahren – Vertragsverletzungsverfahren im Juni: wichtigste Beschlüsse, Brüssel, 9. 06. 2021, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/ detail/de/inf_21_2743. Hierzu: Alessandro Francescangeli, La Commissione europea apre una procedura di infrazione contro la Germania per la sentenza del BVerfG sul PSPP: l’ennesimo

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streckungsanordnung gemäß § 35 BVerfGG in europäischen Bereichen66, zeigt die Lage keine Anzeichen einer Entspannung. Tatsächlich scheint der überhebliche Protagonismus des Bundesverfassungsgerichts auf europäischer Ebene nicht abzunehmen, wie die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 202167 und 15. April 202168 zum Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz mitten in der Gesundheitskrise von Covid-19 zeigen. Obwohl das Bundesverfassungsgericht derzeit – trotz der Verzögerung durch die vorbeugende Suspendierung – die einstweilige Anordnung zurückgewiesen und die Ratifizierung genehmigt hat, wurde der Antrag für zulässig und nicht offensichtlich unbegründet erklärt. Dabei behält sich das Bundesverfassungsgericht die Letztentscheidungskompetenz vor und es ist nicht ausgeschlossen, dass „es am Ende der Meinung sein könnte, dass der Eigenmittelbeschluss ein Ultra-Vires-Akt sei, weil er supranationale Verschuldungsformen zulässt, die von den Verträgen und insbesondere von Artikel 311 AEUV nicht erlaubt sind“69. Trotz der – aus offensichtlichen Gründen – nicht vergleichbaren Lage zwischen Deutschland und Polen wird das europäische Bild weiter verschärft durch das polnische Urteil vom 7. Oktober 2021, das die Unvereinbarkeit einiger Bestimmungen des EUV mit der polnischen Verfassung behauptet und argumentiert hat, dass sie Polen daran hindern würden, als souveräner und demokratischer Staat zu agieren70.

atto dei nodi irrisolti (e volutamente ignorati) dell’integrazione europea, DirittiComparati, 26. 07. 2021. 66 Vgl. BVerfGE 158, 89. 67 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 26. März 2021 – 2 BvR 547/21, https:// www.bundesverfassungsgericht.de. Darüber: Marina Castellaneta, Bundesverfassungsgericht, ombelico del sovranismo o volano per un’Europa solidale?, 8. 04. 2021, https://www.giustizia insieme.it/it/diritto-dell-emergenza-covid-19/1654-bundesverfassungsgericht-ombelico-del-sov ranismo-o-volano-dell-europa-solidale; Benedikt Riedl, Der Corona-Aufbaufonds, die Fiskalunion und das Bundesverfassungsgericht, VerfBlog, 27. 03. 2021. 68 BVerfGE 157, 332, mit Anmerkung von Monica Bonini, Il Bundesverfassungsgericht tedesco, giudice „delle leggi“ o „del destino“ dell’integrazione europea? Prime considerazioni sulla pronuncia del 15 aprile 2021 del Tribunale costituzionale federale tedesco – 2 BvR 547/ 21, CERIDAP, 2 (2021), S. 140. 69 Bonini (Fn. 68), S. 147. 70 Polnischer Verfassungsgerichtshof, Beschluss vom 7. 10. 2021, Nr. K3/21, https://trybu nal.gov.pl/en/hearings/judgments/art/11662-ocena-zgodnosci-z-konstytucja-rp-wybranych-prz episow-traktatu-o-unii-europejskiej.

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IV. Der deutsche ,Souveränismus‘ als ein heimtückisches Dogma im Dialog der europäischen Gerichte Der Dialog der europäischen Gerichte71, der nicht in seiner romantisierten Form als „alles Rosen und Blumen“ verstanden werden sollte, sondern in seiner konkreten Phänomenologie, die sowohl die Zusammenstöße (ob real oder nur potenziell) als auch die möglichen Missverständnisse zwischen den Akteuren des Verfassungsgerichtsverbunds72 umfasst, muss sich täglich mit zwei schwer lösbaren Grundproblemen auseinandersetzen: (i) das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit, einen einheitlichen Schutzstandard zu gewährleisten, der das gesamte Territorium der Europäischen Union umfasst, und der Vermeidung eines fortschreitenden Verlustes der Errungenschaften des nationalen Konstitutionalismus (oder, besser gesagt, der nationalen Konstitutionalismen), und (ii) das richtige Gleichgewicht zwischen dem zunehmenden Bedarf an europäischer Harmonisierung im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik und die Autonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diese ständige Konfrontation zwischen Verfassungsgerichten und dem EuGH gründet sich oft auf dem Begriff der Souveränität in ihrer doppelten Konnotation von Wertesouveränität und Souveränität als Exklusivität des staatlichen Systems in seinen Beziehungen zu externen Systemen. Je nach Fall und Kontext nimmt der Souveränitätsbegriff eine besondere und funktionale Bedeutung an, um bestimmte Ziele zu erreichen. Manchmal wird er in seiner europäischen Dimension neu gelesen und gewürdigt und damit eingeschränkt und umschrieben: Man denke an die italienische Verfassungsrechtsprechung, die sich auf Artikel 11 der Verfassung als Grundlage des Vorrangs des europäischen Rechts gebildet hat. Ein andermal wird er als geteilt im derzeitigen mehrstufigen Verfassungssystem verstanden, um jene Osmose zwischen nationalen Ebenen und der europäischen Ebene in den unterschiedlichsten Rechtsbereichen – die durch „den gerichtlichen Weg der Kommunikation“ zwischen Rechtssystemen ermöglicht wird73 – zu ermöglichen; die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, die durch Artikel 6(3) des EUV anerkannt wurden, sind der maximale Ausdruck davon. An anderer Stelle wird der Souveränitäts71 Vgl. Maria Daniela Poli, Der justizielle Pluralismus der Europäischen Verfassungsgemeinschaft. „Babylonische Gerichte“ oder „Gerichte für Babylon“?, Der Staat 3 (2016), S. 373. 72 Diesen bekannten Ausdruck schuf Andreas Voßkuhle, ,Der europäische Verfassungsgerichtsverbund‘, NVwZ 2010, S. 1. 73 Vgl. Francesco Alicino/Fabio Del Conte/Nicola Fasciano/Pamela Martino/Maria Daniela Poli/Paola Silvestri/Alessandro Torre/Luigi Volpe/Christopher John Williams, La giurisprudenza come itinerario comunicativo tra sistemi di diritto, in: Torre (Hrsg.), Le vie di comunicazione del costituzionalismo contemporaneo, Atti del convegno biennale dell’Associazione di Diritto pubblico comparato ed europeo. Trento, Università degli Studi, 22 – 23 maggio 2008, Torino, 2015, S. 3.

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begriff hartnäckig anachronistisch in seiner Absolutheit beansprucht: Emblematisch ist die deutsche Festigung des traditionellen Souveränitätsbegriffs, ein souveränistisches Verhalten74, das vor allem aus der Angst des Bundesverfassungsgerichts herrührt, seine Letztentscheidungskompetenz und damit seine klassische Entscheidungsfunktion als Hüter des Rechtssystems und Letztinstanz der Staatsordnung zu verlieren. Obwohl der deutsche Verfassungsrichter Peter M. Huber in seinem Beitrag, der in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Deutschland zwischen europäischer Integration und Souveränismus – La Germania tra integrazione europea e sovranismo“75 veröffentlicht wurde, versuchte, die Kritik aufzulösen, indem er argumentierte, dass die Position des Bundesverfassungsgerichts nichts mit Souveränismus zu tun habe76, ist diese These problematisch. Nach Hubers Meinung sind die Überwachung des europäischen Integrationsprojekts und die Wahrung der Verfassungsidentität die wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass das deutsche Volk als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt dienen kann, wie es die Präambel des Grundgesetzes fordert77. „Der […] Nationalstaat ist das Instrument, mit dem dieser Auftrag mit Leben gefüllt und dafür Sorge getragen werden kann, dass in der Europäischen Union deutsche Interessen nicht weniger Achtung erfahren als italienische, spanische, französische oder polnische“78, so Huber. Diese Perspektive (i) verleiht der oben genannten supranationalen Dimension jedoch nicht die richtige Bedeutung, die im Grundgesetz verwurzelt ist, sondern verengt und verringert ihren Geltungsbereich; (ii) klassifiziert die Europäische Union weiterhin als Staatenverbund, verkennt die europäischen Besonderheiten und unterschätzt ihren Wert und ihre Auswirkungen auf die nationalen Rechtssysteme; und (iii) reduziert diese im Wege der Kontraposition eher als Solidarität zwischen den Völkern unter Beachtung von Geschichte, Kultur und Traditionen, wie es in der Präambel des Vertrags über die Europäische Union heißt, anstatt sie als gemeinsame materieller Werte zu betrachten. Darüber hinaus verkennt diese Begründung, dass die Zuständigkeiten und die Rolle des EuGH auf den Verträgen beruhen und dass daher die Weigerung, ein Urteil des Gerichtshofs anzunehmen und umzusetzen, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit laut Artikel 2 des EUV darstellt und das durch die Verträge geschaffene System des gerichtlichen Rechtsschutzes beeinträchtigt79, dessen Eckpfeiler die Vorlage zur Vorabentscheidung ist. Wenn es wahr ist, dass sich der europäische justizielle Dialog oft gerade aus Konflikten und ,Kriegen‘ zwischen den na74

Dagegen: Huber (Fn. 55), S. 219. Ferrari/Moraldo (Fn. 55). 76 Der fünfte und letzte Absatz des Beitrags trägt die Überschrift „Selbstbehauptung nicht Souveränismus“. Vgl. Huber (Fn. 55), S. 239. 77 Ebd., S. 240. 78 Ebd., S. 240. 79 Schefold (Fn. 63), S. 8 – 9. 75

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tionalen Verfassungsgerichten und dem EuGH erst entwickelt hat und letztlich gewinnbringend geworden ist80, muss man die indirekten und informellen Formen des Dialogs und die direkten (diagonalen) Dialog durch die institutionalisierten Mittel des Vorabentscheidungsverfahrens auseinanderhalten81. Eine Sache ist eine oder mehrere abweichende Auslegungen – etwas anderes ist die Nichtbeachtung der prozeduralen Regeln, die das ganze Bauwerk zum Abrutschen bringen kann. Das europäische gerichtliche Gerüst ist sicherlich perfektibel und strukturiertere Wege zur Verbesserung der Koordination und des Verständnisses zwischen nationalen und europäischen Ebenen begrüßenswert wären. Daniel Sarmiento und Joseph H. H. Weiler haben zum Beispiel die Einrichtung einer neuen Berufungsmöglichkeit und einer von europäischen Richtern und nationalen Verfassungsrichtern zusammengestellten gemischten Kammer innerhalb des EuGH vorgeschlagen, um Fragen über die Abgrenzung von EU-Kompetenzen zu lösen82. Im Allgemeinen kann man durch die Einführung von Anschlussrechtsmitteln oder die Festlegung besonderer Verfahren das Verhältnis zwischen den Gerichten kanalisieren und die Einheit des Systems fördern83, um ein einheitliches europäisches Prozessrecht zu bilden. Trotzdem ist in Anbetracht der aktuellen Lückenhaftigkeit des Instanzenzugs außer dem Vorabentscheidungsverfahren das Rudern in entgegengesetzter Richtung – wie mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 – sehr kontraproduktiv. Der EuGH ist sich dessen wohl bewusst, da er in einer Entscheidung vom Februar 2022, die nach einem vom Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) eingereichten Vorabentscheidungsersuchen erlassen wurde, seine Rolle nachdrücklich behauptete und die Möglichkeit einer Ultra-Vires-Kontrolle der Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten klar und entschieden ablehnte84. Insbesondere hat sich der EuGH auf drei grundlegende Aspekte konzentriert: • Die Anrufung einer nationalen Bestimmung – auch von Verfassungsrang – durch Mitgliedstaaten kann nicht die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen85 ;

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Poli (Fn. 71), S. 375. Über die Kategorie des justiziellen Dialogs siehe: Poli (Fn. 71), S. 379 – 381. 82 Siehe: Daniel Sarmiento/Joseph H. H. Weiler, The EU Judiciary After Weiss. Proposing A New Mixed Chamber of the Court of Justice, VerfBlog, 2. 06. 2020. 83 So Poli (Fn. 71), S. 389. 84 EuGH, Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. Februar 2022, C-430/21, https://curia.europa.eu. 85 „Gemäß dieser Rechtsprechung kann nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nämlich für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten“. Ebd. (Rn. 51). 81

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• Im Fall einer vermuteten Verletzung der nationalen Identität dieses Mitgliedstaats durch EU-Recht muss eine Vorlage zur Vorabentscheidung vorliegen; der EuGH ist in diesem Fall die einzig zuständige Entscheidungsinstanz86; • Das Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats kann nicht ablehnen, einem Urteil des EuGH, das in einem Vorabentscheidungsverfahren erlassen wurde, nachzukommen87. Deswegen lässt diese hartnäckige Verweigerung harmonischer Lösungen auf der Grundlage nationalstaatlicher Souveränität auf lange Sicht das Bundesverfassungsgericht jedoch eher dem Priester Kaiphas und dem Sanhedrin ähneln, die eine unbestreitbare Wahrheit besitzen, als einem Hüter der Verfassung, der vielmehr Ausdruck der eigentümlichen Weisheit der „kritischen Demokratie“ sein sollte, um die Kategorien von Gustavo Zagrebelsky88 zu verwenden. In anderen Worten: der deutsche Souveränismus schwebt wie ein heimtückisches Dogma über dem Dialog zwischen den Gerichten mit dem Risiko, unvorhersehbare Kaskadeneffekte auszulösen, das europäische Rechtssystem zu untergraben und die Kohärenz, volle Wirksamkeit89 und Autonomie des EU-Rechts zu angreifen.

Literatur Alicino, Francesco/Del Conte, Fabio/Fasciano, Nicola/Martino, Pamela/Poli, Maria Daniela/ Silvestri, Paola/Torre, Alessandro/Volpe, Luigi/Williams, Christopher John, La giurisprudenza come itinerario comunicativo tra sistemi di diritto, in: Torre (Hrsg.), Le vie di comunicazione del costituzionalismo contemporaneo, Atti del convegno biennale dell’Associazione di Diritto pubblico comparato ed europeo. Trento, Università degli Studi, 22 – 23 maggio 2008, Torino, 2015, S. 3 – 31. 86

„Ist ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats der Auffassung, dass eine Bestimmung des sekundären Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof gegen die Verpflichtung verstoße, die nationale Identität dieses Mitgliedstaats zu achten, muss es das Verfahren aussetzen und dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV ein Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht von Art. 4 Abs. 2 EUV vorlegen, da allein der Gerichtshof befugt ist, die Ungültigkeit einer Handlung der Union festzustellen“. Ebd. (Rn. 71). 87 „Da der Gerichtshof […] die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat, kann das Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats nicht auf der Grundlage seiner eigenen Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen, darunter Art. 267 AEUV, wirksam entscheiden, dass der Gerichtshof ein Urteil erlassen habe, das über seinen Zuständigkeitsbereich hinausgehe, und es somit ablehnen, einem in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs nachzukommen“. Ebd. (Rn. 72). 88 Gustavo Zagrebelsky, Il „Crucifige!“ e la democrazia, Torino, 2007. 89 Über die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung und des Vorrangs des Unionsrechts im Dialog der Gerichte für die Wirksamkeit des Europäischen Rechts siehe: Thomas Danwitz, Einheitliche Auslegung und Vorrang des Unionsrechts im Dialog der Gerichte, VerfBlog, 27. 10. 2022, https://verfassungsblog.de/einheitliche-auslegung-und-vorrang-des-uni onsrechts-im-dialog-der-gerichte/.

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Sovranità e Rechtsstaatlichkeit nella prospettiva del Tribunale costituzionale federale Di Giorgio Ridolfi

I. Introduzione L’art. 28 c. 1 del Grundgesetz afferma esplicitamente che “l’ordine costituzionale nei Länder deve corrispondere ai principi dello Stato di diritto repubblicano, democratico e sociale, nel senso della presente Legge Fondamentale.”1 Questo richiamo ripete e rafforza quello del primo comma dell’art. 20 – “La Repubblica Federale Tedesca è uno Stato federale democratico e sociale”2 –, ossia dell’unico articolo, insieme all’art. 1 sui “Diritti fondamentali”, che l’art. 79 c. 3 esclude esplicitamente da ogni possibile processo di revisione. A ciò si aggiunge poi che l’esclusione dell’abolizione della struttura federale, presente in quest’ultimo articolo, non fa altro che rendere intoccabile anche buona parte dell’art. 28. Quella dell’art. 28 rappresenta nel testo del Grundgesetz l’unica occorrenza “originale” del termine Rechtsstaat, che viene, dunque, inquadrato secondo stringenti caratteristiche, intese a distinguerlo da interpretazioni di stampo decisamente più formalistico. All’atto pratico ciò ha ovviamente posto delle importanti questioni applicative per i giudizi del Tribunale costituzionale federale; ma di non minore importanza è stato il dibattito teorico che, di conseguenza, si è sviluppato a riguardo tra i giuristi. Se non sembrano molto problematici i concetti di Stato di diritto democratico e di Stato di diritto federale, un maggior numero di difficoltà, e ovviamente di opinioni, ha invece suscitato il problema dell’interconnessione tra Stato di diritto e Stato sociale, e dunque, detto in maniera più specifica, della possibilità e dell’opportunità di delineare la nuova categoria dello Stato sociale di diritto. È infatti piuttosto evidente che un eventuale richiamo a stringenti criteri di interpretazione della legislazione, fondato su una precomprensione nel senso dello Stato sociale, implicherebbe una significativa restrizione dell’ambito di decisione politica; fino a far sospettare, se si portasse il ragionamento alle sue estreme 1

“Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.” 2 “Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.”

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conseguenze, che gli unici provvedimenti legittimi presi dal parlamento tedesco possano essere quelli che, quantomeno, conducono la Germania sempre un passo avanti sulla via del socialismo. Un versante aggiuntivo della questione non potrebbe che essere poi quello riguardante il Tribunale costituzionale federale. Esso sarebbe ovviamente il giudice ultimo di questa concordanza tra Stato di diritto e Stato sociale, mettendosi nei fatti al posto del potere legislativo, con tutto ciò che ne seguirebbe, non foss’altro che per la mancanza di legittimazione democratica diretta dei giudici di Karlsruhe. E così il principio dello Stato sociale si dimostrerebbe addirittura inconciliabile con quello dello Stato democratico, con cui gli artt. 20 e 28 prevedono invece che si armonizzi. Precisiamo fin d’ora che il problema è ben lungi dall’essere risolto. Se non si può, infatti, ignorare il possibile pregiudizio per la democrazia che questo richiamo allo Stato sociale potrebbe ingenerare, neanche ridurlo a una semplice clausola di stile o a una mera, benché suggestiva, enunciazione sentimentale sembra offrire una soluzione soddisfacente. Le ponderate parole del Grundgesetz non possono, insomma, essere ridotte a inefficaci flatus vocis, ed è, pertanto, difficile limitarsi a riconoscere una natura esclusivamente procedurale del principio dello Stato di diritto, rimandando la solidificazione dello Stato sociale all’amministrazione e alla legislazione. Piuttosto stretta appare, dunque, la via che tenta di insinuarsi tra le due posizioni estreme, a maggior ragione se si tiene a mente la naturale relatività di tutte le possibili determinazioni storiche dello Stato sociale.

II. Stato di diritto e Stato sociale nella prospettiva di Ernst Forsthoff La rilevazione di queste difficoltà si deve, in primo luogo, a Ernst Forsthoff. Nella relazione tenuta a Bonn il 15 ottobre 1953 nel congresso annuale della Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, egli notò che ormai, in Germania, la creazione dello Stato sociale era un dato di fatto, con cui il diritto costituzionale, in quanto disciplina necessariamente non avulsa dalla realtà, doveva fare i conti; anche perché il dettato del Grundgesetz contribuiva a renderlo un elemento portante del nuovo sistema. Stante, tuttavia, la centralità che comunque il testo costituzionale ancora riconosceva allo Stato di diritto, la questione era quella di capire quanto quest’ultimo principio si lasciasse armonizzare con quello dello Stato sociale, senza ricorrere a superficiali soluzioni di compromesso: “un mezzo stato di diritto e un mezzo stato sociale non fanno uno stato sociale di diritto.”3 L’idea dello Stato di diritto, è inutile negarlo dopo Max Weber, prende origine dalla generalizzazione di meccanismi strettamente inerenti alla società borghese, ma non per questo, a giudizio di Forsthoff, bisognava confondere il suo richiamo a 3 Ernst Forsthoff, Concetto e natura dello Stato sociale di diritto, in Id., Stato di diritto in trasformazione, Milano, 1973, p. 40.

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un valore assoluto, come quello della giustizia, con un mero atteggiamento di parte. L’averlo fatto aveva ingenerato, d’altronde, la perniciosa illusione che tale idea, declinata sulla base di nuove esigenze sociali, potesse essere posta al servizio anche di altri tipi di valore, di natura più contingente. Forsthoff valutava, al contrario, come virtù intrinseca dello Stato di diritto la sua struttura eminentemente formalistica, quasi tecnicistica, in ragione della quale esso si limita a enunciare principi di per sé stessi efficaci, al di là delle loro concrete realizzazioni storiche: “la separazione dei poteri, il concetto di legge, il principio della legittimità della amministrazione, la garanzia dei diritti fondamentali e la indipendenza dei giudici.”4 La lapidarietà di questi principi, insuscettibili di ogni gradazione, avrebbe mantenuto l’opportuna distinzione tra norma costituzionale e norma di legge, valorizzando quest’ultima come istanza creativa, che funge da mediazione tra costituzione e potere esecutivo; e avrebbe, al contempo, impedito un altro frequente vulnus, che si presenta quando il potere esecutivo, giudicando insufficiente l’atteggiamento del legislativo rispetto ai valori sociali costituzionalmente garantiti, decide di sostituirsi a esso con provvedimenti propri. Solo in questo modo, affermava Forsthoff, si sarebbe valorizzata l’autentica funzione dei principi costituzionali, quella di essere delimitazioni che garantiscono lo status quo dall’arbitrario intervento dello Stato. Ciò veniva detto non in base a un atteggiamento conservatore, ma in ragione della consapevolezza che si può garantire solo ciò che già esiste, e non un programma, fosse anche il più giusto e il più progressista. Forsthoff, d’altra parte, dimostrava di considerare tutt’altro che insensata la preoccupazione per lo Stato sociale, ma riteneva al contempo suo dovere richiamare a una più adeguata divisione dei compiti di regolazione all’interno delle compagini statali democratiche. Di conseguenza, tutta la questione dell’applicazione diretta dei principi costituzionali, esplicitamente prevista dal Grundgesetz per i diritti fondamentali, non poteva non apparirgli un sintomo evidente di una patologia sistematica, in quanto ignorava il principio per cui le garanzie dei diritti sociali, orientate verso prestazioni positive, e dunque destinate a sollecitare la partecipazione dei cittadini, oltre che la loro libertà, dovevano essere appannaggio non della costituzione, bensì della legislazione e dell’amministrazione. Come spiegava, infatti, Forsthoff: “La libertà, assicurata mediante la delimitazione, si riferisce ad uno stato che si pone dei limiti, che abbandona il singolo alla sua situazione sociale, ad uno stato dunque che in questo tipo di libertà lascia persistere lo status quo. La partecipazione come diritto e pretesa sottintende uno stato che esegue delle prestazioni, che attribuisce, distribuisce, divide, che non abbandona il singolo alla sua situazione sociale, ma gli viene in aiuto con concessioni. Questo è lo stato sociale.”5

4 5

Forsthoff (n. 3), p. 42. Forsthoff (n. 3), p. 46.

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III. Uno sguardo storico-critico sullo Stato di diritto In buona misura affine, quantomeno nelle concezioni di fondo, a quello di Forsthoff è un altrettanto celebre contributo di Ernst-Wolfgang Böckenförde, risalente invero al 1969, ma, senza dubbio, ancora piuttosto attuale.6 Uno dei pregi di questo scritto sta nel fatto che l’ex giudice del Tribunale costituzionale federale accompagna il suo tentativo ermeneutico rispetto allo Stato di diritto con una lettura in prospettiva storica, che appare estremamente chiarificante e che tenteremo ora, in alcuni punti, di integrare. Nel XIX secolo, lo Stato di diritto è stato inteso secondo tre diverse declinazioni, in sostanziale contrapposizione tra di loro. In primo luogo, infatti, si è parlato di Stato di diritto come Stato giuridico in senso stretto, cioè come Stato che possiede una struttura giuridica, di qualunque tipo essa sia, e la cui chiave di volta deve essere, dunque, in primo luogo rinvenuta nella messa in mora degli atti di puro arbitrio del sovrano. In secondo luogo, lo Stato di diritto è stato inteso come Stato minimo, cioè come Stato che si preoccupa di garantire a tutti i suoi membri uguali condizioni giuridiche, soprattutto di partenza, e vigila in maniera continuativa e neutrale sul loro rispetto. Infine, è stata sviluppata un’idea di Stato di diritto come Stato di polizia, nel senso antico del termine, e cioè come uno Stato che non si preoccupa solo di predisporre l’uguaglianza giuridica dei suoi membri, ma, in alcuni casi, si impegna anche attivamente a restaurarla con interventi mirati. In generale, Böckenförde ha potuto affermare che lo Stato di diritto “appartiene a quei concetti-cerniera, vaghi dal punto di vista terminologico e non interpretabili, che non si lasciano mai definire ‘obiettivamente’ in maniera conclusiva a partire da sé stessi, ma che piuttosto sono aperti alla penetrazione da parte di idee cangianti, appartenenti alla teoria dello Stato e della costituzione, e pertanto anche a svariate concretizzazioni, senza con ciò però mutare completamente di contenuto, perdendo la loro continuità, ed essere ridotte a mere formule vuote.”7 I padri dello Stato di diritto sono stati generalmente individuati in Immanuel Kant e Wilhelm von Humboldt, benché nessuno dei due abbia mai utilizzato la locuzione in questione. Kant parla al massimo di status iuridicus o, più raramente, di rechtlicher Zustand, volendo, tuttavia, sempre intendere con ciò la controparte dello stato di natura, e non una precisa struttura istituzionale. Ciò nondimeno, le sue concezioni lo inseriscono con ogni probabilità tra gli assertori del secondo significato, e dunque in sostanza tra i fautori dello Stato minimo, benché non siano mancati interpreti che hanno tentato di far scivolare le sue dottrine verso una valorizzazione dello Stato di polizia.8 Contro questi ultimi, andrebbe comunque 6 Ci riferiamo a Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in ders., Recht, Staat, Freiheit, 5. Aufl., 2013, p. 143. 7 Böckenförde (n. 6), pp. 143 s. 8 Su Kant come assertore dello Stato minimo si vedano Gottfried Dietze, Kant und der Rechtsstaat, 1982; Manfred Brocker, Kant über Rechtsstaat und Demokratie, 2006. Per una lettura che vede Kant come antesignano, per certi aspetti, del welfare state, si vedano invece

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sempre messa in evidenza l’avversione kantiana per uno Stato paternalista, come quello tipico della scienza cameralistica a lui contemporanea, che pretendeva di individuare quale fosse la felicità dei suoi sudditi, anziché lasciarli liberi nel ricercarla. Lo Stato di diritto kantiano, garantito dalla divisione dei poteri descritta nella Metafisica dei costumi, può essere, invece, solo quello repubblicano, cioè basato, al di là della forma di governo in esso presente, su tre principi razionali a priori: la libertà di ogni membro della società, in quanto uomo, e cioè la possibilità di ricercare liberamente la propria felicità, con il solo limite di non disturbare l’uguale ricerca altrui; l’uguaglianza di tutti i membri della società, in quanto sudditi, e cioè l’eguale possibilità di ognuno di rivolgersi a chi esercita il potere per vedere restaurata la sua libertà eventualmente violata; e l’indipendenza di ogni membro, in quanto cittadino, e cioè il diritto di ognuno di partecipare, in posizione di parità, alla statuizione delle leggi, con la sola condizione di essere di sesso maschile ed economicamente indipendente. Sicuramente assertore dello Stato minimo è Wilhelm von Humboldt, autore nel 1792 dell’evocativo scritto Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, che, sulla base di una certa mistica della libertà e di un’ampia fiducia nelle virtù della concorrenza, esplicitamente afferma essere lo Stato un “male necessario”. Anche per lui, dunque, lo Stato deve astenersi il più possibile dall’immischiarsi negli interessi dei cittadini e dei gruppi che essi formano, con la solita, ovvia eccezione dei casi in cui la libera attività di individui o di gruppi intralci ingiustamente quella di altri individui o di altri gruppi. D’altra parte, afferma Humboldt, “non è affatto vantaggioso se l’uomo viene sacrificato al cittadino.”9 Il maggiore rappresentante del terzo significato dello Stato di diritto, quello cioè rivolto al possibile intervento dello Stato in aiuto dei suoi cittadini, è sicuramente Robert von Mohl. La sua posizione, pur rifiutando il respiro filosofico – giusnaturalista – che al concetto aveva dato Carl Theodor Welcker10, può essere inquadrata nell’ambito dell’illuminismo, in quanto le numerose definizioni che, a partire dal 1829, Mohl dà dello Stato di diritto lo intendono sempre come istanza attenta allo sviluppo delle facoltà naturali, e dunque razionali, dei suoi membri. Una di queste definizioni individua il compito dello Stato di diritto nel “rendere possibile, tramite un’organizzazione ragionevole del potere, a ogni singolo membro, ai gruppi di soggetti subordinati di fatto esistenti e alla collettività, lo sviluppo della totalità Matthias Schmidt-Klügmann, Überlegungen zum modernen Sozialrecht auf der Grundlage der praktischen Philosophie Kants, ARSP, 71 (1985), p. 378; Gerald Süchting, Eigentum und Sozialhilfe. Die eigentumstheoretischen Grundlagen des Anspruchs auf Hilfe zu Lebensunterhalt gem. § 11 Abs. 1 BSHG nach der Privatrechtslehre Immanuel Kants, 1995. 9 Wilhelm von Humboldt, Saggio sui limiti dell’attività dello Stato, in Id., Scritti giuridici e politici, Soveria Mannelli, 2004, p. 89. 10 Si veda Carl Theodor Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, philosophisch und nach den Gesetzen der merkwürdigsten Völker rechtshistorisch entwickelt, Gießen, 1813, p. 95.

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delle loro forze e il perseguimento dei loro fini razionali.”11 In questo senso, lo Stato deve dare riconoscimento a quelli che gli appaiono scopi razionali della vita umana e sostenere chi di quegli scopi si fa portatore; anche se, in un’ottica liberale, tale sostegno si concretizza il più delle volte nella creazione o nel ripristino di situazioni autenticamente concorrenziali, che ragioni indipendenti dalla volontà umana possono aver messo in discussione (ad esempio, catastrofi naturali, ma anche uno sviluppo economico troppo impetuoso per la maggior parte degli individui).12 Per fare ciò, lo Stato non solo deve riconoscere i diritti civili, come le tipiche libertà borghesi o l’uguaglianza giuridica, ma deve anche sviluppare un’adeguata struttura istituzionale, con giudici indipendenti, un governo costituzionalmente responsabile e un organismo rappresentativo dotato del potere legislativo. Scopo di questo tipo di Stato è, comunque, quello di difendere la particolare specificità degli individui, non riconoscendo particolari significati alla loro vita comune, se non da un punto di vista di utilità e di difesa dello status quo liberale. A questa interpretazione dello Stato di diritto, in cui il momento formale si incrocia con quello materiale, se ne è affiancata una di tipo esclusivamente formale, ben espressa dalla celeberrima definizione di Friedrich Julius Stahl: “Lo Stato deve essere Stato di diritto: questa è la parola d’ordine e, in verità, è anche la pulsione di sviluppo dei tempi nuovi. Esso deve, con modalità giuridiche, determinare con esattezza e assicurare in maniera salda le linee e i limiti della sua efficacia, così come la sfera di libertà che appartiene ai suoi cittadini, e non deve realizzare (raggiungere con la forza) le idee etiche per vie statali, cioè in maniera diretta, in un senso più ampio di quanto sia consentito alla sfera giuridica, limitandosi quindi il più possibile al proprio recinto. Questo è il concetto dello Stato di diritto, ma non nel senso che lo Stato si occupa semplicemente dell’ordinamento giuridico, senza fini amministrativi, o che difende solo ed esclusivamente i diritti dei singoli. Esso non significa in generale un fine e un contenuto dello Stato, bensì solo il modo e la maniera di realizzarli.”13 Con ciò si esprime evidentemente il primo significato che, all’inizio, abbiamo attribuito allo Stato di diritto, inteso come Stato giuridico in senso stretto, che in questo modo assume una curvatura “apolitica”, teoricamente armonizzabile con ogni forma di governo e di ideologia politica. Lo stesso Stahl era, d’altronde, come è noto, un sostenitore piuttosto radicale del principio monarchico e della legittimazione divina del potere. 11

Robert von Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 1. Bd., 3. Aufl., Tübingen, 1866, p. 4. 12 Come si dice in Mohl (n. 11), p. 13, “lo Stato […] non aiuta ogni individuo a mantenere la salute, ma prende le precauzioni che sono in generale opportune per la salute dei cittadini; non aiuta ognuno ad acquisire le conoscenze particolari da lui desiderate, ma fonda istituti educativi generali, o apparati simili, di cui il singolo si serve per i propri bisogni; lo Stato non aiuta a portare le merci dei singoli commercianti nei luoghi da essi stabiliti, ma prende precauzioni che rendono possibile a ogni commerciante di gestire i propri affari.” 13 Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts, 2. Bd., 2. Teil, 3. Aufl., Heidelberg, 1856, p. 137.

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Certamente, nota Böckenförde, lo sviluppo di questa particolare declinazione “esterna” dello Stato di diritto è caduta in un periodo in cui la maggior parte degli Stati tedeschi aveva riconosciuto, o stava per riconoscere, tramite una costituzione, i principi dello Stato moderno; e ciò che restava da aggiungere era, dunque, principalmente la tutela dei cittadini rispetto all’amministrazione. Rudolf von Gneist, che pure della formula di Stahl si fa ripetitore, la utilizza così per sostituire all’ordinamento sociale dello Stato, tipico della concezione illuminista, un ordinamento statale della società, ispirato all’esperienza inglese del selfgovernment, in ragione del quale alla società vengono riconosciuti, anche a livello amministrativo, ambiti autonomi di movimento e di strutturazione. Di tale società, finalmente giunta al riconoscimento istituzionale della sua autonomia, il diritto non rappresenta, ancora una volta, la base, bensì la cornice e un necessario limite. Una diversa declinazione della formula stahliana è stata, invece, fatta propria dalla dottrina giuridica tardocostituzionale dello Stato, a partire da Paul Laband, che, sulla base dei suoi assunti rigidamente positivisti, ha voluto piegarla nel senso dell’eliminazione dal dibattito di ogni posizione teorica e di ogni afflato teleologico, derubricati a meri ragionamenti politici, aspirando, invece, a lavorare con concetti di stampo meramente giuridico-dogmatico. In questo senso, Stato di diritto significherebbe semplicemente, in opposizione allo Stato di polizia, così presente nella scienza giuridica precedente, la dichiarazione del principio della sovranità della legge, in ragione del quale lo Stato e la sua amministrazione non possono intromettersi nella sfera di libertà di un individuo al di fuori delle prescrizioni di una norma positiva. Come nel concetto illuminista, può essere sì affermata l’onnipotenza del legislatore, ma solo come assolutezza del suo atto di volontà, non necessariamente guidato dalla ragione. Böckenförde si affretta, tuttavia, ad aggiungere che questa declinazione dello Stato di diritto, sostanzialmente prevalente fino alla fine della Repubblica di Weimar, si è poi anch’essa gradualmente venuta a caratterizzare, ad esempio nella figura di Richard Thoma, come garanzia borghese della libertà e della proprietà, contro ogni possibile espropriazione per fini sociali. È, dunque, alla luce di questa ricostruzione che Böckenförde ritiene di poter concludere che parlare di Stato sociale di diritto significherebbe, in primo luogo, negare in radice questo legame fondamentale tra lo Stato di diritto e la tutela della libertà, stravolgendo il concetto in maniera sostanziale. Come già visto per Forsthoff, anche egli si riconosce dunque nella posizione, risalente invero a Lorenz von Stein, per cui l’idea dello Stato sociale agirebbe non sulle garanzie costituzionali, bensì sull’amministrazione e sulla legislazione, per creare le precondizioni sociali per l’allargamento della libertà a tutti gli individui. Non può, d’altronde, sfuggire a un’attenta disamina che anche la giurisprudenza del Tribunale costituzionale federale sembra nei fatti essersi riconosciuta in questa interpretazione; e ciò, afferma Böckenförde, è il migliore argomento per dissipare il sospetto di un arretramento dell’impegno sociale nella Repubblica federale, che nei fatti ha sempre ricercato, nel limite del possibile, l’armonizzazione tra il principio

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(prevalentemente) formale dello Stato di diritto e quello (prevalentemente) materiale dello Stato sociale, spesso nel senso della ricerca di un giusto mezzo, utile a compenetrare le due esigenze. Certamente, la particolare situazione tedesca dopo il 1945 ha creato anche una cultura giuridica in cui i valori espressi dal Grundgesetz sono considerati come degni di essere portati avanti concretamente, ben al di là della difesa delle libertà formali prevista dalla vecchia dottrina dello Stato di diritto. Non si spiegherebbe altrimenti, se non appunto con l’esigenza di salvaguardare tale principio da un’asfittica mancanza di contenuto, il paradosso per cui, nella Germania del secondo dopoguerra, il Tribunale costituzionale federale ha potuto opporre un divieto alla stessa esistenza di due partiti, la neonazista Sozialistische Reichspartei14 e il Partito comunista tedesco (KPD)15; un divieto che, lo si noti, ha assunto un tenore molto più forte anche delle leggi bismarckiane contro i socialisti, che appunto non avevano portato allo scioglimento della SPD né le avevano vietato di correre alle elezioni. Sarebbe però opportuno anche tenere a mente, come sottolinea Böckenförde, che storicamente non è mai stato il richiamo a garanzie formali lo strumento utilizzato per mettere da parte le libertà civili, quanto piuttosto la rivendicazione di presunti valori assoluti, la cui difesa viene pertanto ritenuta, in alcuni casi, una giustificazione per eludere le procedure stabilite.16 Rispetto a tali valori, non esiste né la possibilità di una ponderazione scientifica e oggettiva né, di conseguenza, un’istanza superiore in grado di operarla, che non si assuma nei fatti un irrazionale monopolio interpretativo; mentre credere che questi problemi possano risolversi con lo strumento della votazione a maggioranza sarebbe un’illusione confinante con un vero e proprio totalitarismo della costituzione. Quello che spesso non si riesce a comprendere è, dunque, che l’unica precondizione di uno Stato di diritto fondato sulla garanzia di libertà è, nei fatti, una regolazione che si stabilisce da sé stessa sulla base della morale degli individui e dell’omogeneità sociale. Ma su quest’ultimo punto la moderna dottrina dello Stato di diritto appare carente, nella misura in cui non si interroga sulle precondizioni politiche dello Stato e si limita ad analisi di ambito esclusivamente giuridico.

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BVerfGE 2,1. BVerfGE 5, 85. 16 Come notava Forsthoff (n. 3), p. 41, “la storia degli ultimi 40 anni fornisce esempi notevoli ed ammonitori a conferma che proprio quando concetti ed istituzioni furono messi in pericolo nella loro essenza, furono muniti di tutte le aggettivazioni possibili, quali stato di diritto liberale, borghese, sociale, nazionale ed infine nazional-socialista.” 15

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IV. Prospettive dello Stato sociale di diritto Le analisi di Böckenförde, ora presentate, appaiono per gran parte convincenti, a maggior ragione se si esamina la stessa prassi del Tribunale costituzionale federale. Come ha notato il suo ex presidente Ernst Benda, il Tribunale ha parlato del principio dello Stato di diritto come Leitidee e come Verfassungsgrundsatz, che “non viene ricavato da regole positive, e quindi dagli articoli 20 e 28 GG, quanto piuttosto da un ‘quadro complessivo di natura precostituzionale’.”17 Più generale, comunque, il Tribunale sembra far dipendere la sua applicazione da specifiche concretizzazioni storiche. “Ciò serve ancora a poco,”18 ammette Benda; se non fosse che, proprio in una delle sentenze in cui sono state espresse queste interpretazioni, si è tentato anche di dare un significato materiale allo Stato di diritto, il cui principio è stato tradotto in quelli della sicurezza giuridica e della giustizia19. Una giurisprudenza orientata in questo senso ha poi anche portato ad affermare il principio di Verhältnismäßigkeit,20 che, declinato rispetto alla questione della possibile intromissione dello Stato nella sfera del cittadino, è stato inteso non solo come necessità che tale intromissione avvenga formalmente secondo le procedure previste, ma anche che il provvedimento che la dispone rispecchi le caratteristiche di Angemessenheit e Zumutbarkeit. Ancora una volta, tuttavia, sembra veramente finito lo spazio di manovra a disposizione per inserire un ambito dedicato al principio dello Stato sociale; e non stupisce che la sezione successiva dell’opera, dedicata dallo stesso Benda a tale argomento, sviluppi un discorso tutt’altro che stringente dal punto di vista teorico.21 Basta, d’altronde, dare uno sguardo alle decisioni prese nel corso degli anni dal Tribunale costituzione federale, per vedere come esso, per Stato di diritto, abbia inteso il più delle volte uno Stato in cui sono rispettati i vincoli tipici delle società liberal-borghesi, sia nel senso del diritto privato, come salvaguardia della proprietà e della riservatezza, sia nel senso politico-istituzionale, come rispetto dei principi politici tipici della filosofia illuminista, primo fra tutti quello della separazione dei poteri. A questo non fa eccezione la sentenza del 5 maggio 2020, nelle sue due citazioni del principio dello Stato di diritto. Anzi, si potrebbe dire, nella sua unica citazione, visto che la prima di esse, in realtà, nel rimproverare la BCE di non aver escluso dal processo decisionale soggetti coinvolti (e responsabili) nella situazione da risolvere, primo fra tutti il presidente Mario Draghi, si richiama al principio dello Stato di diritto espresso, non dal Grundgesetz, bensì dall’art. 2 della Costituzione europea. L’altra citazione, più centrata sul diritto tedesco, si trova invece nella 17

Ernst Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: Benda/Maihofer/Vogel (a cura di): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 1994, p. 724; il rimando è a BVerfGE 2, 380 (403) e BVerfGE 7, 89 (92 s.). 18 Benda (n. 17), p. 725. 19 BVerfGE 7, 89 (92). 20 BVerfGE 19, 342 (348 s.); 23, 127 (133 s.); 63, 88 (115). 21 Si veda Benda (n. 17), p. 755.

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seguente frase: “Si è in presenza di un notevole spostamento, a livello strutturale, a danno delle competenze di uno Stato membro, se il superamento delle competenze risulta particolarmente considerevole in relazione al principio di attribuzione limitata e al vincolo della legge allo Stato di diritto.”22 Alla luce di questa premessa, siamo ora in grado di tornare ai rimandi che il Grundgesetz fa allo Stato di diritto e di interpretarli in maniera più approfondita. Va in primo luogo notato che, tolto quello già ricordato dell’art. 28, gli altri rimandi, aggiunti ovviamente in un secondo momento, riguardano proprio i rapporti della Repubblica Federale con l’Unione Europea. Segnatamente, l’art. 16 c. 2 concede l’estradizione di un cittadino tedesco verso un tribunale di uno Stato membro, “nella misura in cui sono garantiti i principi dello Stato di diritto”23 ; e l’art. 23 c. 1, che qui interessa maggiormente, afferma che la Repubblica Federale collabora a uno sviluppo dell’Unione europea “che si impegna a riconoscere i principi democratici, di Stato di diritto, sociali e federativi, […] e garantisce loro, in quanto principi fondamentali, una difesa sostanzialmente paragonabile a quella garantita dalla presente Legge Fondamentale.”24 Come ha messo in evidenza Dieter Grimm in un commento alla sentenza del 5 maggio 2020, non bisogna mai perdere di vista il fatto che, al di là di ogni pretesa dei tribunali dell’Unione, la supremazia del loro diritto su quello tedesco si basa solo ed esclusivamente sulla recezione, nel senso di una cessione di competenza, operata (e democraticamente decisa) dalla Germania in favore dell’Unione Europea; e dunque che essa deve rispettare i limiti posti dallo Stato cedente e non quelli pretesi dal soggetto politico cessionario. Certamente, il clamore suscitato dalla decisione del Tribunale costituzionale federale si spiega, per buona parte, in ragione del singolare prestigio di tale istituzione, oltre che delle gravi conseguenze che, nel caso specifico, la decisione poteva produrre. In più, non va dimenticato che, in generale, le decisioni del Tribunale suscitano spesso interesse, e soprattutto quando sono percepite come un freno al processo di integrazione e alla solidarietà intereuropea, e sembrano mirare a una problematica riconquista della piena sovranità statale. Ciò nondimeno, nella decisione del Tribunale del 5 maggio 2020 risuona anche qualcosa di tipicamente “tedesco”, nel senso appunto di una cultura giuridica particolarmente incentrata sul concetto di Stato di diritto. Pur senza voler andare a fondo delle critiche rivolte al sistema europeo come sistema democratico, purtroppo piuttosto note e condivisibili, non si può ignorare il fatto che i problemi che concernono l’attività della Corte europea di Giustizia 22

BVerfGE 126, 286 (304). “Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.” 24 “Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.” 23

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appaiono di doppia gravità, proprio perché riguardano un potere, come quello giudiziario, che già per sua natura possiede (e non potrebbe che possedere) una legittimazione democratica estremamente indiretta. Ora, ha notato il Tribunale costituzionale federale, si dà il caso che la Corte europea non solo si arroghi, con una certa frequenza, un’ampia facoltà interpretativa rispetto alle cessioni di competenza operate dagli Stati membri, e dunque si arroghi nei fatti un vero e proprio potere legislativo – con tutto ciò che consegue da quanto abbiamo già detto sulla democrazia europea. C’è anche un altro versante da considerare, e cioè che, come nota Grimm, “i trattati, a differenza delle costituzioni statali, sono pieni di disposizioni, che in ogni Stato sarebbero abitualmente diritto ordinario e, pertanto, sarebbero sempre disponibili per un mutamento su base democratica.”25 Ne consegue che, rispetto a questi trattati, l’ampia attività interpretativa che normalmente viene operata dai tribunali dell’Unione apre preoccupanti spazi di vera e propria creazione giuridica. Ma si dà anche il caso che, con altrettanta frequenza, tale potere sia esercitato in senso estremamente liberista, e più precisamente a sostegno delle quattro libertà fondamentali previste dall’Atto unico europeo del 17 febbraio 1986: libera circolazione delle merci, libera circolazione delle persone, libera prestazione dei servizi, libera circolazione dei capitali (insieme alla liberalizzazione dei pagamenti). È dunque del tutto evidente che, quale che sia la declinazione dello Stato di diritto che assumiamo, sia essa più formalisticamente orientata ai principi delle democrazie liberal-borghesi, oppure più materialmente interessata all’effettiva creazione di spazi di eguaglianza sociale, le posizioni fondamentali della Corte di giustizia dell’Unione Europea – e, si potrebbe aggiungere, dell’Unione Europea in generale – si trovano in diametrale contrasto con la cultura giuridica tedesca, che dell’interconnessione tra il principio dello Stato di diritto e quello dello Stato sociale fa ormai il suo cardine. Si capisce, dunque, facilmente perché tali posizioni facciano fatica a essere accettate in Germania. Contestualmente, però, si può giungere anche alla conclusione che è forse solo nell’esplicito contrasto con queste posizioni fondamentali che il principio dello Stato sociale, espresso nel Grundgesetz, ha potuto finalmente assumere il suo pieno significato e il suo corretto legame con il principio dello Stato di diritto. Ciò, va tuttavia notato in conclusione, appare oggi anche in tutta la sua paradossalità, se si guarda a ciò che avviene a est dei confini tedeschi, in Ungheria e in Polonia, minacciate dalla stessa Unione Europea di pervasive procedure di sanzione, proprio per il mancato rispetto dei principi dello Stato di diritto. In queste nazioni la sovranità viene, infatti, rivendicata proprio per legittimare peculiari paradigmi di governo (ad esempio, la “democrazia illiberale” di Viktor Orbán) che rifiutano esplicitamente, in primo luogo, i classici meccanismi di checks and balances. Ma la cosa, certamente, fa anche in qualche modo sorridere, se si pensa alle critiche che, a torto o a ragione, vengono costantemente e da lungo tempo 25

Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2021, p. 350.

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rivolte al Tribunale costituzionale federale: un’istanza, si dice, che ha spossessato ormai i responsabili politici del loro potere di indirizzo, in favore di un culto quasi religioso reso a un orizzonte di valori costituzionali, di cui i giudici di Karlsruhe sarebbero le capricciose e permalose vestali. Bibliografia Benda, Ernst: Der soziale Rechtsstaat, in: Benda, Ernst/Maihofer, Werner/Vogel, Hans-Jochen (a cura di): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 1994, p. 719 ss. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 5. Aufl., 2013, p. 143 ss. Brocker, Manfred: Kant über Rechtsstaat und Demokratie, 2006. Dietze, Gottfried: Kant und der Rechtsstaat, 1982. Forsthoff, Ernst: Concetto e natura dello Stato sociale di diritto, in Id., Stato di diritto in trasformazione, Milano, 1973, p. 31 ss. Grimm, Dieter: Vefassungsgerichtsbarkeit, 2021. Humboldt, Wilhelm von: Saggio sui limiti dell’attività dello Stato, in Id., Scritti giuridici e politici, Soveria Mannelli, 2004, p. 43 ss. Mohl, Robert von: Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 1. Bd., 3. Aufl., Tübingen, 1866. Schmidt-Klügmann, Matthias: Überlegungen zum modernen Sozialrecht auf der Grundlage der praktischen Philosophie Kants, ARSP, 71 (1985), p. 378 ss. Stahl, Friedrich Julius: Die Philosophie des Rechts, 2. Bd., 2. Teil, 3. Aufl., Heidelberg, 1856. Süchting, Gerald: Eigentum und Sozialhilfe. Die eigentumstheoretischen Grundlagen des Anspruchs auf Hilfe zu Lebensunterhalt gem. § 11 Abs. 1 BSHG nach der Privatrechtslehre Immanuel Kants, 1995. Welcker, Carl Theodor: Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, philosophisch und nach den Gesetzen der merkwürdigsten Völker rechtshistorisch entwickelt, Gießen, 1813.

La sovranità degli Stati tra immunità dalla giurisdizione e tutela dei diritti fondamentali Di Filomena Medea Tulli Uno dei molteplici volti della sovranità è certo da osservare in prospettiva giuridica, prospettiva che accompagnerà le considerazioni qui sviluppate. Vorrei in particolare assumere il punto di vista del diritto internazionale, i cui soggetti principali sono notoriamente gli Stati. Un punto di vista che quindi è in grado, forse più di altri, di far emergere il ruolo della cosiddetta sovranità esterna, proprio a partire dal vicendevole rapporto tra gli Stati. Nel corso degli ultimi due secoli il modo di intendere la sovranità ha infatti subito continue trasformazioni dovute sia alla mutata e mutevole relazione tra gli Stati,1 sia allo sviluppo dell’interazione tra Stato e individui, appartenenti a quel popolo o ad altri popoli.2 In particolare, vorrei porre in rapporto la sovranità con uno specifico principio del diritto internazionale: l’immunità degli Stati dalla giurisdizione civile straniera. La variazione della portata di tale principio nel corso dei decenni può infatti offrire un ritratto puntuale della trasformazione del rapporto tra gli Stati e, quindi, delle loro singole sovranità. Come vedremo più avanti, la mutata percezione della sovranità sembra aver trovato riscontro, all’interno del panorama giuridico internazionale, nella rilevanza che nel corso degli ultimi settanta anni e più ha assunto il principio di immunità degli Stati, oggetto a sua volta di numerose variazioni, in evoluzione parallela proprio al cambiamento della percezione della sovranità statale. Ad una breve ricostruzione storica dell’evoluzione del principio dell’immunità seguirà la presentazione del caso Immunità giurisdizionali dello Stato o caso Germania contro Italia, deciso nel 2012 davanti alla Corte Internazionale di Giustizia (CIG), i cui sviluppi si protendono fino ad oggi. Sulla base delle considerazioni elaborate dalla dottrina in merito all’accoglimento di tale pronuncia, tenterò infine di proporre alcune riflessioni sull’evoluzione della sovranità statale esterna, alla luce del principio di diritto internazionale menzionato. 1

In relazione allo sviluppo dei rapporti tra gli Stati e alle relative tendenze contemporanee si veda Janne Elisabeth Nijman/André Nollkaemper (a cura di), New Perspectives on the Divide Between National and International Law, Oxdord, OUP, 2007 e in particolare Anne Peters, The Globalization of State Constitutions, ibidem, pp. 251 – 308. 2 Per quanto attiene il rapporto tra Stato e popolo si veda fra tutti Gaetano Arangio-Ruiz, La persona internazionale dello Stato, Milano, UTET Giuridica, 2008, p. 71 e seg.

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Come è stato autorevolmente affermato, la formazione del sistema statale europeo si è essenzialmente basata sull’instaurazione di un dominio sovrano su un territorio con confini definiti.3 In un certo senso si tratta del presupposto per il modello di Stato nazionale valido ancora oggi, che, dallo sviluppo di una costituzione democratica nel XIX secolo e dall’affermazione dello stato sociale nel XX secolo, ha acquisito la sua duratura legittimità.4 La successiva interdipendenza economica degli Stati nel solco di un progressivo processo di globalizzazione ha portato, soprattutto nell’associazione europea degli Stati, a una ‘denazionalizzazione’ e a una ‘desovranizzazione’.5 Questi due effetti, tuttavia, non sarebbero le uniche conseguenze della dinamica della globalizzazione. Quasi in maniera parallela si è potuto osservare come sia progredita la valorizzazione dell’individuo grazie ai mezzi del diritto internazionale e in particolare grazie all’efficacia e all’ampliamento della portata della tutela dei diritti umani. Nella seconda metà del XX secolo, e in particolare a partire dalla fine della Seconda guerra mondiale, la protezione dei diritti umani offerta dal diritto internazionale attiva uno dei più dinamici processi di sviluppo del diritto internazionale moderno. Mentre la prima metà del secolo era stata ancora dominata dallo Stato nazionale (o Stato-nazione), sovrano sia verso l’interno sia verso l’esterno, dopo le terribili esperienze delle due guerre mondiali crebbe la consapevolezza del fallimento dello Stato nazionale quale tradizionale garante dei diritti civili: non era stato in grado né di contrastare i regimi totalitari, né di prevenire le due guerre mondiali. Davanti a questo quadro, l’istituzione delle Nazioni Unite nel 1945 ha rappresentato una vera e propria svolta.6 Appare così sempre più evidente che lo status giuridico della sovranità degli Stati è strettamente legato con l’umanità, intesa quale principio giuridico che impone il rispetto e la promozione dei diritti e degli interessi umani universali, e che questo principio umanitario è anche il télos, il fine ultimo, del sistema giuridico internazionale.7 Inoltre, com’è noto, soprattutto a partire dal secondo dopoguerra, gli Stati accettano frequentemente, anche a livello costituzionale, di rinunciare a una porzione della loro sovranità, assumendo obblighi internazionali in favore della tutela dei diritti dei loro popoli e del mantenimento della pace e sicurezza

3 Jürgen Habermas, Jenseits des Nationalstaats? Bemerkungen zu Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung, in: Ulrich Beck (a cura di), Politik der Globalisierung, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1998, p. 67 e seg. 4 Ibi. 5 Norman Paech, Staatenimmunität und Kriegsverbrechen, AVR 47 (2009), p. 51. 6 Eibe Riedel, Der internationale Menschenrechtsschutz. Eine Einfu¨ hrung, in: Eibe Riedel (a cura di), Menschenrechte, Dokumente und Deklarationen, Bonn, Bundeszentrale fu¨ r politische Bildung, Vol. 397, 2004, p. 11 e seg. 7 Si vedano, in tal senso, Antonio Cassese, I diritti umani nel mondo contemporaneo, Bari, Laterza, 1988, p. 228, e Anne Peters, Humanity as the A and Y of Sovereignty, EJIL 20, 3 (2009), pp. 513 – 544.

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internazionali. Anche gli Stati della Comunità europea sacrificano in misura crescente assolutezza e indipendenza loro tradizionalmente propri. A riprova di ciò si può osservare come nel corso dell’ultimo secolo il principio dell’immunità degli Stati dalla giurisdizione civile straniera è stato soggetto a continui cambiamenti, dovuti, come abbiamo appena visto, da un lato a un’alterazione nella percezione dello Stato e della sovranità, dall’altro a una valorizzazione del ruolo dell’individuo nel diritto internazionale, come risultato del rapido sviluppo della protezione dei diritti umani. Il principio di immunità degli Stati rappresenta una norma consuetudinaria di antica origine che impone a ciascuno Stato di non esercitare il suo potere giurisdizionale nei confronti degli Stati stranieri senza il loro consenso. Come è facilmente intuibile, tale principio si collega in maniera diretta ai caratteri di sovranità interna ed esterna (ossia di indipendenza) propri dei principali soggetti del diritto internazionale, gli Stati. Uno Stato apparirà infatti tanto meno ‘sovrano’, nella sua accezione esterna di indipendenza, quanto più passibile di essere convenuto, in sede di giurisdizione civile, da parte di un tribunale di un altro Stato. Sul piano giuridico e politico, una limitazione del principio di immunità dello Stato avrebbe come diretta conseguenza una limitazione della portata della sovranità di quello stesso Stato. Un fondamentale contributo al cambiamento della portata del principio di immunità degli Stati è dovuto allo sviluppo della giurisprudenza italiana e belga, già a partire dalla fine del XIX secolo, ma consolidata negli anni ’20 del secolo scorso. Ispirandosi al principio del par in parem non habet iudicium, l’immunità si configurava in origine assoluta, ossia riguardante qualsiasi controversia civile, a prescindere dal tipo di attività governativa, che fosse di tipo pubblicistico o privatistico. A causa dell’importanza crescente delle attività di tipo civile e commerciale svolte in maniera diretta dagli Stati, e grazie al consolidarsi della giurisprudenza appena menzionata, l’immunità si configura invece oggi come relativa o ristretta, ossia riguardante solo le controversie civili in cui vengono in considerazione attività governative di tipo pubblicistico (i c.d. acta iure imperii) e non invece quelle in cui vengono in considerazione attività di tipo privatistico (i c.d. acta iure gestionis o iure privatorum). Grazie all’elaborazione della teoria dell’immunità ristretta, gli Stati stranieri sono dunque esenti dalla giurisdizione di un altro Stato solo limitatamente ai c.d. acta jure imperii, ossia solo per gli atti attraverso i quali lo Stato esercita le sue funzioni pubbliche, mentre gli stessi sono assoggettabili alla giurisdizione civile dello Stato altro, nel caso in cui siano parte in un atto avente natura privatistica, i c.d. acta iure gestionis.8 8 Sulla questione dell’immunità degli Stati stranieri dalla giurisdizione sono naturalmente più che numerose le possibili indicazioni bibliografiche. A titolo indicativo si propongono di seguito alcune letture sul tema che appaiono particolarmente significative: Riccardo Luzzatto, Stati stranieri e giurisdizione nazionale, Milano, Giuffrè, 1972; Isabelle Pingel-Lenuzza, Les immunités des États en droit international, Bruxelles, Bruylant, 1998; Massimo Iovane, Stato straniero (Immunità dall’esecuzione dello), Enc. giur., vol. XXX, Roma, Treccani, 2001;

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Dalla combinazione dei fatti appena esposti possiamo dedurre che questo lento ma costante e inarrestabile processo di ‘desovranizzazione’ ha limitato con successo la pretesa degli Stati a vedersi riconosciuta un’immunità totale, a favore del commercio economico internazionale. Se questo risultato è stato poi raggiunto de facto nei primi anni Settanta e non è stato poi più contestato in linea di principio, il generale processo evolutivo non si è arrestato. Al contrario, da allora si è iniziato a dubitare anche della richiesta da parte degli Stati di vedersi riconosciuta l’immunità per atti sovrani, i c.d. acta iure imperii. Nell’ambito del quadro sopra sintetizzato, appare utile ed opportuno riaffrontare brevemente l’emblematica questione comunemente indicata in ambito internazionalistico, dopo la pronuncia della Corte internazionale di giustizia del 2012, come il caso Germania contro Italia, o il caso delle immunità giurisdizionali dello Stato,9 che a più di dieci anni dalla pronuncia rimane a tutt’oggi privo di una conclusione. La sentenza fu notoriamente provocata da una vasta serie di decisioni da parte dei tribunali italiani a discapito della Germania sul risarcimento del danno relativo ai crimini di guerra commessi dalle truppe naziste e in particolare sulla vicenda dell’accesso a una forma di risarcimento da parte degli Internati Militari Italiani (I.M.I.). In questa occasione la CIG stabilì che il principio di immunità debba essere inteso quale principio procedurale preordinato a qualsiasi altro tipo di considerazione giuridica, comprese, come in questo caso, le pretese di tutela di diritti fondamentali.10 Non intendo certo in questa sede ripercorrere nel dettaglio il contenuto della pronuncia e le questioni giuridiche emerse, ma solo far luce, ai fini e nella direzione del tema proposto per il convegno, su alcuni snodi critici di carattere generale affrontati dalla dottrina a seguito della pubblicazione della decisione da parte della Corte Internazionale. La sentenza del 2012 della CIG ha dato certamente un importante contributo al chiarimento della norma sull’immunità degli Stati, ma è stata accolta con rammarico da un largo numero di studiosi. Tra le molte analisi si può infatti sicuramente individuare un cospicuo gruppo di opinioni che evidenzia come, sotto numerosi aspetti, la Corte avrebbe potuto costruire il proprio giudizio operando un’indagine più approfondita o comunque diversa. Le indagini svolte avanzano critiche sotto numerosi punti di vista, dalla verifica della sussistenza di consuetudine alla ricostruzione del rapporto tra norme procedurali e sostanziali o alla motivazione, ma soprattutto dal punto di vista metodologico.

Hazel Fox/Philippa Webb, The Law of State Immunity, III ed., Oxford, OUP, 2015; Natalino Ronzitti/Gabriella Venturini, Le immunità giurisdizionali degli stati e degli altri enti internazionali, Padova, CEDAM, 2008; Raffaella Nigro, Le immunità giurisdizionali dello Stato e dei suoi organi e l’evoluzione della sovranità nel diritto internazionale, Padova, CEDAM, 2018. 9 Jurisdictional Immunities of the State (Germany v Italy: Greece Intervening), Judgement of 3 February 2012 [2012], ICJ Rep 99. 10 Ibi, par. 93.

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In particolare, una delle critiche mosse alla Corte è stata proprio di aver proceduto in maniera eccessivamente ‘statocentrica’ nella formulazione delle proprie argomentazioni. Laval osserva a tal proposito che, per quanto importanti possano essere all’interno dell’ordinamento giuridico internazionale, le prerogative dello Stato legate alla sua sovranità dovrebbero cedere il passo in presenza di fatti estremamente gravi che coinvolgono norme internazionali inderogabili poste a tutela di valori fondamentali (jus cogens). La CIG sarebbe stata chiamata a giudicare, più che un semplice conflitto di norme giuridiche, un vero e proprio scontro di valori, l’esito del quale avrebbe dovuto sottrarsi a una concezione ‘statocentrica’ del diritto internazionale per accogliere invece una visione più ‘umanistica’ e più risolutamente ancorata alla difesa dei diritti fondamentali.11 Vi è poi chi sostiene che la Corte abbia dimostrato di essere ancora legata a una visione del diritto internazionale incentrata unicamente sullo Stato, prestando scarsa attenzione al ruolo dell’individuo nel diritto internazionale, senza lasciare aperta alcuna via né per il progressivo sviluppo del diritto internazionale, né, più specificamente, per l’eventuale affermazione di nuove regole consuetudinarie. La Corte avrebbe così trascurato gli interessi delle vittime a favore di una conclusione conservatrice e obsoleta, fondata sulla pretestuosa assenza di una pratica generale o di una giurisprudenza internazionale a sostegno di una diversa visione, e, soprattutto, avrebbe omesso di considerare le conseguenze di un atto illecito.12 Negli anni immediatamente successivi all’emanazione della sentenza da parte della CIG, alcuni autori hanno immaginato che lo sviluppo del concetto di sovranità, come tradizionalmente inteso, e il conseguente superamento di un’interpretazione ‘statalista’ della questione dell’immunità potessero trovare il loro percorso all’interno della giurisprudenza delle Corti nazionali. Conforti, nel suo commento del 2012 alla sentenza, ritiene che le immunità degli Stati siano destinate a divenire sempre più intollerabili in un mondo che non può ormai consentire l’impossibilità per gli individui di asserire i propri diritti. La Corte non sarebbe stata capace di offrire alcun segno nella direzione di un progressivo sviluppo del diritto internazionale, quantomeno in relazione alla violazione di diritti umani. L’autore si augura quindi che i casi nazionali italiani, dai quali è sorta la disputa, possano incoraggiare le corti di altri Stati ad abbandonare l’atteggiamento favorevole all’immunità, in maniera tale da innescare un processo simile a quello avvenuto esattamente un secolo fa nelle corti italiane e belghe, che ha portato alla creazione della regola dell’immunità relativa. Rimarrebbe quindi affidato all’iniziativa delle

11 Pierre-François Laval, L’arrêt de la Cour internationale de Justice dans l’affaire des Immunités juridictionnelles de l’État (Allemagne c. Italie; Grèce intervenant), AFDI 58 (2012), p. 156. 12 Marco Calisto, Jurisdictional Immunities of the State: Germany v. Italy before the ICJ from an Italian Perspective, GYIL 55 (2012), p. 332 e 337.

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singole corti nazionali il tentativo di superare la posizione eccessivamente conservatrice della CIG.13 Krajewski e Singer rimproverano poi alla Corte di non aver avuto un reale interesse verso le vittime e di non aver adottato nel corso della sua severa analisi almeno un linguaggio teso al diritto in divenire, che desse la percezione di un problema nel suo sviluppo, se non addirittura che fosse suscettibile di una lettura aperta e guardasse al futuro.14 Per quanto concerne l’evoluzione della questione dell’immunità, l’analisi di Krajewski e Singer sottolinea che, almeno in Italia, il governo non ha teso a difendere le decisioni prese dalle corti interne, probabilmente anche nel timore che procedimenti simili potessero essere intentati contro l’Italia stessa in futuro. Per questo motivo, non ci si potrebbe attendere una vera evoluzione di natura legislativa sulle questioni legate all’immunità fino a quando il processo di creazione e di evoluzione delle regole pertinenti resterà in mano agli Stati, guidati inevitabilmente da considerazioni di reciprocità con gli altri Stati. Oltre ad augurarsi uno sviluppo giurisprudenziale sul punto, gli autori suggeriscono di ipotizzare un rapporto diretto delle vittime con la Corte (c.d. amicus curiae): questo permetterebbe alla Corte di assumere un approccio meno ‘statocentrico’ alle questioni legate alle immunità degli e fra gli Stati, pur nel rispetto della struttura interstatale del sistema.15 Accogliendo le considerazioni dottrinali appena esposte possiamo forse concludere che l’ordinamento giuridico internazionale, all’interno della sua tensione tra immunità statali e tutela dei diritti umani fondamentali, non può più fondarsi esclusivamente sulla sovranità dello Stato e sui suoi privilegi. Gli Stati, del resto, non dovrebbero essere altro che strumenti la cui funzione intrinseca si risolve nel servire gli interessi dei loro popoli, a partire da quelli imprescindibili, legalmente protetti e rappresentati dai diritti umani. La sovranità dello Stato rimarrebbe invece fondamentalmente legata alla sua prospettiva storica nel momento in cui il rispetto reciproco tra gli Stati delle loro sovranità costituisse semplicemente un sistema giuridico di attori giustapposti. La costante trasformazione del diritto internazionale da sistema centrato unicamente sullo Stato a sistema centrato anche sull’individuo appare del resto muoversi sempre più verso un equilibrio a favore dei singoli, su un binario che ha iniziato a trovare il suo naturale tracciato grazie alla progressiva codificazione internazionale dei diritti umani in seguito all’Olocausto e alla Seconda guerra mondiale. Il giudice Cançado Trindade, uno dei tre giudici della Corte Internazionale che espressero opinione dissenziente al verdetto finale, dedica ben tre sezioni della sua 13

Benedetto Conforti, The Judgment of the International Court of Justice on the Immunity of Foreign States: a Missed Opportunity, IYIL 21 (2011), p. 142. 14 Markus Krajewski/Christopher Singer, Should Judges Be Front-Runners? The ICJ, State Immunity and the Protection of Fundamental Human Rights, UNYB 16 (2012), p. 31. 15 Ibi, p. 32.

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Dissenting Opinion, XVI–XVIII, alla prospettiva interstatale adottata dalla Corte nel considerare la questione delle immunità. Tale intransigente prospettiva condurrebbe secondo il giudice a una visione miope e distorta del problema di fronte all’imperativo della giustizia, dimostrando auspicabile il superamento della stessa prospettiva di partenza. L’insistenza nel perseguire un approccio strettamente interstatale nei rapporti di responsabilità porterebbe infatti ad una situazione di palese ingiustizia.16 In un volume pubblicato solo un anno prima dell’emanazione della sentenza, il giudice peraltro già sosteneva che la persona umana si fosse emancipata dal proprio Stato attraverso la presa di coscienza dei suoi diritti, che sono anteriori e superiori a quest’ultimo.17 Bisogna a questo punto ricordare che un grande passo avanti nel senso delle posizioni appena riportate è sicuramente individuabile nella formulazione della dottrina della responsabilità di proteggere (responsibility to protect o R2P) nei primi anni di questo secolo. Attraverso lo UN World Summit Outcome Document del 2005 la responsibility to protect ha infatti definitivamente estromesso il principio di sovranità dalla sua posizione di Letztbegründung (principio primo o motivazione ultima) del diritto internazionale,18 affermando invece, grazie a una nuova visione della sovranità dello Stato, che la stessa comporta la responsabilità di proteggere i propri cittadini dalle più gravi violazioni dei diritti umani. In base all’accordo, qualora tale protezione non fosse assicurata dallo Stato interessato, la comunità internazionale, in conformità con la Carta delle Nazioni Unite e in cooperazione con le organizzazioni regionali competenti, potrebbe adottare una serie di misure: da quelle pacifiche a quelle coercitive fino all’uso della forza armata, nel caso in cui le misure pacifiche risultino inadeguate e le autorità nazionali non riescano a proteggere le loro popolazioni da genocidio, crimini di guerra, pulizia etnica e crimini contro l’umanità.19 Ma al quadro fin qui fornito è possibile aggiungere un ulteriore tassello. A seguito della risposta alla CIG da parte della Corte costituzionale italiana con la 16

Jurisdictional immunities of the State (Germany v. Italy: Greece intervening), Dissenting Opinion of judge Cançado Trindade. Sezioni XVI – XVIII, paragrafi 161 – 183. Si veda in particolare il par. 179. 17 Antônio Augusto Cançado Trindade, The Access of Individuals to International Justice, Oxford, OUP, 2011, p. 209. Per un ulteriore approfondimento si veda anche Antônio Augusto Cançado Trindade, Evolution du droit international au droit des gens – L’accès des individus à la justice internationale: le regard d’un juge, Paris, Pedone, 2008. 18 Peters (nota 7), p. 514. Il principio riconosciuto sotto l’espressione “Responsibility to protect” incarna l’impegno politico e giuridico degli Stati a porre fine alle peggiori forme di violenza e persecuzione. L’esigenza di riconoscere un principio di tale portata è nata nel corso degli anni ’90 dell’ultimo secolo, in seguito agli avvenimenti che hanno avuto luogo nei Balcani e in Rwanda. Per un approfondimento si rimanda alla pagina delle Nazioni Unite dedicata al World Summit organizzato al fine di tale riconoscimento nel 2005: https://www.un. org/en/genocideprevention/about-responsibility-to-protect.shtml. 19 World Summit Outcome Document, UNGA (A/RES/60/1), 16 settembre 2005. Si vedano in particolare i paragrafi 138 – 140.

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sentenza n. 238 del 2014,20 che mette in azione la c.d. teoria dei controlimiti, la tensione giurisdizionale tra regola consuetudinaria internazionale, ossia nel nostro caso il principio dell’immunità degli Stati, e fondamentali principi costituzionali nazionali si manifesta in tutta evidenza e durezza. Il meccanismo dei controlimiti, com’è noto, inibisce l’ingresso nell’ordinamento nazionale a norme di rango europeo e internazionale per le quali la Corte riconosca un contrasto con i principi costituzionali fondamentali. La Corte ha ravvisato infatti il contrasto della legge italiana di adattamento dello Statuto delle Nazioni Unite con gli artt. 2 e 24 Cost.,21 riconoscendo la tutela giurisdizionale dei diritti fondamentali come prevalente rispetto all’obbligo di conformazione alle decisioni della CIG. In particolare, la Corte ha constatato che la norma di diritto internazionale generalmente riconosciuta sull’immunità dalla giurisdizione degli Stati stranieri, come interpretata nell’ordinamento internazionale, contrastava effettivamente con i principi costituzionali fondamentali, ed in particolare con quelli indicati dal giudice rimettente, a difesa dei diritti inviolabili dell’uomo (art. 2 Cost.) e del diritto ad accedere alla giustizia (art. 24 Cost.), e per questo motivo era da escludere l’operatività del rinvio alla norma internazionale, ossia alla pronuncia della CIG, attraverso l’art. 10 della Costituzione. In tale sede, la Corte ha inoltre lasciato intendere (punto 3.3) che il suo esame sulla compatibilità del principio dell’immunità dello Stato con i principi fondamentali della Costituzione potrebbe comportare una ulteriore restrizione della teoria dell’immunità relativa degli Stati rispetto all’operazione avviata, soprattutto sulla base dell’esempio di quanto deciso dalla giurisprudenza italiana e belga, nella prima parte del secolo scorso. Come anticipato in apertura, il caso Germania contro Italia non ha finora trovato una sua conclusione.22 Al contrario, ha avuto ulteriori sviluppi. Infatti, a fronte di ulteriori condanne da parte di tribunali italiani che hanno determinato la costituzione di ipoteche su immobili di proprietà dello stato tedesco a Roma, il 29 aprile 20

Corte cost. 22 ottobre 2014, n. 238. La Corte costituzionale ha accertato in particolare il contrasto con l’art. 1 della legge n. 848 del 1957, che ha dato piena esecuzione allo Statuto delle Nazioni Unite. La censura è effettuata con riguardo alla parte in cui, recependo l’art. 94 dello Statuto dell’ONU, la legge di ricezione prevede per lo Stato l’obbligo di conformarsi alle decisioni della CIG in ogni controversia di cui esso sia parte. In questo caso dunque tale obbligo, operante attraverso l’applicazione dell’art. 1 della predetta legge, comporterebbe per il giudice italiano la necessaria negazione della propria giurisdizione per le cause civili di risarcimento del danno per i crimini lesivi di diritti inviolabili della persona, oggetto della pronuncia internazionale. 22 Come rilevava già Nesi all’indomani della pronuncia della Corte Internazionale di Giustizia, un’adeguata soluzione al contenzioso avrebbe potuto essere raggiunta solo attraverso un risarcimento significativo alle numerose vittime. Alla luce delle osservazioni della stessa Corte sul trattamento degli internati militari italiani durante la Seconda Guerra Mondiale e sulla condotta delle parti in seguito, Germania e Italia avrebbero dovuto condurre negoziati volti a risolvere la questione ancora aperta del risarcimento degli I.M.I., in linea con l’esplicito invito della Corte. Si veda Giuseppe Nesi, The quest for a ‘full’ execution of the ICJ judgment in Germany v. Italy, JICJ 11, 1 (2013), p. 197 – 198. 21

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del 2022 la Germania ha nuovamente presentato domanda presso la CIG, chiedendo la concessione di misure provvisorie.23 Tuttavia, il giorno seguente è apparso sulla Gazzetta Ufficiale italiana un decreto-legge che, tra le altre cose, istituisce un “Fondo per il ristoro dei danni subiti dalle vittime di crimini di guerra e contro l’umanità per la lesione di diritti inviolabili della persona, compiuti sul territorio italiano o comunque in danno di cittadini italiani dalle forze del Terzo Reich nel periodo tra il 18 settembre 1939 e l’8 maggio 1945”.24 Per tale motivo la Germania ha ritirato la richiesta di concessione di misure provvisorie. Non solo la questione dei risarcimenti per le vittime è stata risolta da parte italiana con una misura a dir poco insoddisfacente,25 ma anche sul piano giurisdizionale il caso è tutt’altro che chiuso: da un lato rimane pendentela domanda che la Germania ha presentato presso la CIG, che sarà dunque chiamata a esprimersi nel prossimo futuro, dall’altro i tribunali italiani continuano a condannare la Germania per i fatti commessi tra il 1943 e il 1945 dall’esercito nazista. Da ultimo è da segnalare la pronuncia del Tribunale civile di Bologna che nel giugno del 2022 ha condannato la Germania al risarcimento delle vittime della strage di Marzabotto dell’ottobre 1944.26 Alla luce delle considerazioni sviluppate, vorrei tentare di proporre alcune riflessioni conclusive, ponendo gli elementi raccolti fin qui in relazione con la questione della sovranità. Abbiamo osservato come, nel corso degli ultimi decenni e in maniera via via crescente, il riconoscimento della protezione dei diritti umani sia assorto a Letztbegründung della sovranità degli Stati. Abbiamo però d’altro canto constatato che, con l’emblematico caso Germania contro Italia, tale protezione trova un limite nel principio di immunità degli Stati dalla giurisdizione. E ancora, è 23

Per un primo commento alla nuova domanda presentata dalla Germania presso la CIG si veda Joseph Weiler, Editorial: Germany v Italy: Jurisdictional Immunities – Redux (and Redux and Redux), EJIL:Talk!, 18 ottobre 2021; Lorenzo Gradoni, Is the Dispute between Germany and Italy over State Immunities Coming to an End (Despite Being Back at the ICJ)?, EJIL:Talk!, 10 maggio 2022. 24 Si tratta in particolare del decreto-legge 30 aprile 2022, n. 36 (convertito ora in legge n. 79/2022), relativo a “Ulteriori misure urgenti per l’attuazione del Piano nazionale di ripresa e resilienza (PNRR)”, al cui art. 43 è appunto prevista l’istituzione di tale fondo, sebbene costituito con risorse diverse da quelle stanziate per il PNRR. La procedura per accedere al fondo ha concesso una finestra temporale ristrettissima entro cui gli internati e le loro famiglie avrebbero potuto presentare domanda, scaduta nel giugno del 2022. Sono richiesti anche requisiti procedurali stringenti, che potranno inibire la possibilità di accedere al ristoro a quanti ora e in futuro otterranno una sentenza favorevole, con la condanna della Germania al risarcimento. Per un ulteriore approfondimento, soprattutto in relazione agli aspetti tecnici relativi alla istituzione del fondo, si rinvia a Giovanni Boggero, La reazione del governo italiano al (nuovo) ricorso tedesco di fronte alla CIG. Prime note sugli effetti dell’art. 43 d.l. 30 aprile 2022, N. 36, SIDIBlog, 25 maggio 2022. 25 Per un commento sulle conseguenze legate all’istituzione del fondo in relazione al caso Germania contro Italia si rimanda a Paolo Caroli, The German-Italian Dispute Over War Crime Compensation and Transitional Justice, Verfassungsblog, 6 giugno 2022. 26 Trib. Bologna, 1. 6. 2022, n. 1516.

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emerso che, con la sentenza della Corte costituzionale italiana del 2014, principi costituzionali fondamentali possono assurgere a fonte ultima dell’ordinamento giuridico nazionale e impedire almeno in parte l’applicazione del precetto di diritto internazionale. Di fronte a tale evidente tensione tra principio di immunità statale e tutela di diritti fondamentali, parte della dottrina ha ipotizzato si possa andare incontro, nel corso dei prossimi anni, ad una ulteriore restrizione del principio di immunità. La possibilità di una c.d. human rights exception27 al principio di immunità degli Stati è infatti presa in considerazione soprattutto in relazione a crimini internazionali, ma riguarderebbe anche altre massicce violazioni dei diritti umani come la tortura, la detenzione arbitraria, la costrizione ai lavori forzati, le deportazioni, e le esecuzioni extragiudiziali. In gioco ci sono inoltre i diritti all’integrità fisica e alla dignità, nonché il diritto di accesso ad un equo processo ai sensi dell’art. 6 della Convenzione europea per la salvaguardia dei diritti dell’uomo .28 Attraverso un simile processo non sarebbe più concesso agli Stati di rifugiarsi dietro alla propria sovranità e allo scudo dei c.d. acta iure imperii, ma gli individui – senza i quali gli Stati non esisterebbero – verrebbero posti, in termini di loro tutela giurisdizionale, al centro dell’intero sistema. La previsione di una human rights exception al principio dell’immunità degli Stati apparirebbe indispensabile, soprattutto nei casi in cui per le vittime non è disponibile altro possibile mezzo di accesso alla giustizia o di risoluzione del conflitto. A tal fine è possibile immaginare, come abbiamo visto, uno sviluppo ‘dal basso’, la costruzione da parte delle corti nazionali di una consuetudine per cui uno Stato possa essere convenuto davanti alle corti di un altro 27 La dottrina in merito a tale eccezione si configura ampia e varia. Già nel 1951 Hersch Lauterpacht, nella sua aspra critica alla immunità degli Stati, contestava le prerogative dello Stato sovrano che negano rimedi giuridici per la rivendicazione dei diritti individuali (si veda Hersch Lauterpacht, The Problem of Jurisdictional Immunities of Foreign States, BYIL 28 (1951), da p. 220). In favore di una ‘human rights exception’, più recentemente, si segnalano i contributi di Annyssa Bellal, Immunités et violations graves des droits humains, Bruxelles, Bruylant, 2011; Francesca De Vittor, Immunità degli Stati dalla giurisdizione e tutela dei diritti fondamentali, RDI 85, 3 (2002), da p. 573; Andrea Bianchi, L’immunité des Etats et les violations graves des droits de l’homme: la fonction de l’interprète dans la détermination du droit international, RGDIP 108 (2004), p. 63 – 101. Al riguardo prendono invece posizione contraria Christian Tomuschat, The International Law of State Immunity and its Development by National Institutions, Vanderbilt JTL 44 (2011), da pag. 1105; Martin Ney, Sovereign Immunities of States: A German Perspective, in: Anne Peters/Evelyne Lagrange/Stefan Oeter/ Christian Tomuschat, Immunities in the Age of Global Constitutionalism, Leiden, Brill Nijhoff, 2015, da p. 32. In relazione al rapporto tra sovranità e immunità degli Stati risulta in particolare rilevante la posizione di Bröhmer (Jürgen Bröhmer, State Immunity and the Violation of Human Rights, The Hague, Martinus Nihoff, 1997, da p. 197), a parere del quale il ‘privilegio’ dell’immunità dovrebbe essere concesso solo nel caso in cui l’esercizio di giurisdizione da parte di uno Stato straniero fosse usato per minare o violare la sovranità di un altro Stato. 28 Peters, Immune against Constitutionalisation?, in: Anne Peters/Evelyne Lagrange/Stefan Oeter/Christian Tomuschat, Immunities in the Age of Global Constitutionalism, Leiden, Brill Nijhoff, 2015, p. 11.

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Stato ed essere ritenuto responsabile di gravi crimini contro l’umanità. L’evoluzione del diritto internazionale in questo ambito potrebbe partire dalla giurisprudenza nazionale, come lasciato intendere dalla Corte costituzionale nel 2014 e come accadde un secolo fa grazie alle pronunce delle corti italiane e belghe. Data la stretta correlazione tra sovranità e principio di immunità vista in precedenza, si può senz’altro affermare che una ulteriore riduzione del raggio di portata applicativa del principio di immunità degli Stati dalla giurisdizione implicherebbe per gli Stati una ulteriore riduzione della loro sovranità. Ma è possibile andare oltre. Come alcuni autori hanno già ipotizzato, in un prossimo futuro è infatti forse possibile immaginare una tendenza di ‘costituzionalizzazione’ del sistema giuridico internazionale. Tale processo sarebbe da intendere come evoluzione da un ordine internazionale basato sul principio organizzatore delle singole sovranità degli Stati a un ordine giuridico internazionale che riconosca elementi costituzionali comuni.29 Quale risultato delle note direzioni della globalizzazione gli Stati sono del resto tra loro sempre più interdipendenti e di conseguenza amministrazioni e tribunali statali si trovano ad affrontare sempre più spesso, sul piano interno, conseguenze giuridiche derivanti da atti di autorità pubbliche di Stati terzi. Alla luce di tali motivi, occorre chiedersi se non sia auspicabile una crescita anche del diritto internazionale nel fornire standard legali pienamente e radicalmente condivisi, suscettibili di promuovere un progressivo coordinamento degli Stati nelle loro attività. Insomma, un ‘costituzionalismo globale’, quale processo per cui i principi costituzionali, insieme a istituzioni e meccanismi che assicurino e attuino tali principi, possano avere un ruolo ineludibile a partire dai diritti umani, dalla democrazia e dallo stato di diritto, oltre la sovranità come finora intesa.

Bibliografia Arangio-Ruiz, Gaetano: La persona internazionale dello Stato, Milano, UTET Giuridica, 2008 Bellal, Annyssa: Immunités et violations graves des droits humains, Bruxelles, Bruylant, 2011 Bianchi, Andrea: L’immunité des Etats et les violations graves des droits de l’homme: la fonction de l’interprète dans la détermination du droit international, RGDIP 108 (2004), p. 63 ss. Boggero, Giovanni: La reazione del governo italiano al (nuovo) ricorso tedesco di fronte alla CIG. Prime note sugli effetti dell’art. 43 d.l. 30 aprile 2022, N. 36, SIDIBlog, 25 maggio 2022 29 La ‘costituzionalizzazione’ del diritto internazionale è notoriamente una delle principali aree di ricerca di Anne Peters. A titolo esemplificativo si rimanda qui al volume Jan Klabbers/ Anne Peters/Geir Ulfstein, The Constitutionalization of International Law, Oxford, OUP, 2011.

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Bröhmer, Jürgen: State Immunity and the Violation of Human Rights, The Hague, Martinus Nihoff, 1997 Calisto, Marco: Jurisdictional Immunities of the State: Germany v. Italy before the ICJ from an Italian Perspective, GYIL 55 (2012), p. 319 ss. Cançado Trindade, Antônio Augusto: The Access of Individuals to International Justice, Oxford, OUP, 2011 Cançado Trindade, Antônio Augusto: Evolution du droit international au droit des gens – L’accès des individus à la justice internationale: le regard d’un juge, Paris, Pedone, 2008 Caroli, Paolo: The German-Italian Dispute Over War Crime Compensation and Transitional Justice, Verfassungsblog, 6 giugno 2022 Cassese, Antonio: I diritti umani nel mondo contemporaneo, Bari, Laterza, 1988 Conforti, Benedetto: The Judgment of the International Court of Justice on the Immunity of Foreign States: a Missed Opportunity, IYIL 21 (2011), p. 133 ss. De Vittor, Francesca: Immunità degli Stati dalla giurisdizione e tutela dei diritti fondamentali, RDI 85, 3 (2002), p. 573 ss. Fox, Hazel/Webb, Philippa: The Law of State Immunity, III ed., Oxford, OUP, 2015 Gradoni, Lorenzo: Is the Dispute between Germany and Italy over State Immunities Coming to an End (Despite Being Back at the ICJ)?, EJIL:Talk!, 10 maggio 2022 Habermas, Jürgen: Jenseits des Nationalstaats? Bemerkungen zu Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung, in: U. Beck (a cura di), Politik der Globalisierung, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1998, p. 67 ss. Iovane, Massimo: Stato straniero (Immunità dall’esecuzione dello), Enc. giur., vol. XXX, Roma, Treccani, 2001 Klabbers, Jan/Peters, Anne/Ulfstein, Geir: The Constitutionalization of International Law, Oxford, OUP, 2011 Krajewski, Markus/Singer, Christopher: Should Judges Be Front-Runners? The ICJ, State Immunity and the Protection of Fundamental Human Rights, UNYB 16 (2012), p. 1 ss. Lauterpacht, Hersch: The Problem of Jurisdictional Immunities of Foreign States, BYIL 28 (1951), p. 220 ss. Laval, Pierre-François: L’arrêt de la Cour internationale de Justice dans l’affaire des Immunités juridictionnelles de l’État (Allemagne c. Italie; Grèce intervenant), AFDI 58 (2012), p. 147 ss. Luzzatto, Riccardo: Stati stranieri e giurisdizione nazionale, Milano, Giuffrè, 1972 Nesi, Giuseppe: The quest for a ‘full’ execution of the ICJ judgment in Germany v. Italy, JICJ 11, 1 (2013), p. 185 ss. Ney, Martin: Sovereign Immunities of States: A German Perspective, in: Peters, Anne/ Lagrange, Evelyne/Oeter, Stefan/Tomuschat, Christian (a cura di), Immunities in the Age of Global Constitutionalism, Leiden, Brill Nijhoff, 2015, p. 32 ss. Nijman, Janne Elisabeth/Nollkaemper, André (a cura di): New Perspectives on the Divide Between National and International Law, Oxdord, OUP, 2007

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Nigro, Raffaella: Le immunità giurisdizionali dello Stato e dei suoi organi e l’evoluzione della sovranità nel diritto internazionale, Padova, CEDAM, 2018 Paech, Norman: Staatenimmunität und Kriegsverbrechen, AVR 47 (2009), p. 36 ss. Pingel-Lenuzza, Isabelle: Les immunités des États en droit international, Bruxelles, Bruylant, 1998 Peters, Anne: The Globalization of State Constitutions, in: Nijman, Janne Elisabeth/ Nollkaemper, André (a cura di), New Perspectives on the Divide Between National and International Law, Oxford, OUP, 2007, p. 251 ss. Peters, Anne: Humanity as the A and Y of Sovereignty, EJIL 20, 3 (2009), p. 513 ss. Peters, Anne: Immune against Constitutionalisation?, in: Peters, Anne/Lagrange, Evelyne/ Oeter, Stefan/Tomuschat, Christian (a cura di), Immunities in the Age of Global Constitutionalism, Leiden, Brill Nijhoff, 2015, p. 1 ss. Riedel, Eibe: Der internationale Menschenrechtsschutz. Eine Einführung, in: Riedel, Eibe, Menschenrechte, Dokumente und Deklarationen, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, Vol. 397, 2004 Ronzitti, Natalino/Venturini, Gabriella: Le immunità giurisdizionali degli stati e degli altri enti internazionali, Padova, CEDAM, 2008 Tomuschat, Christian: The international law of State immunity and its Development by national institutions, Vanderbilt JTL 44 (2011), p. 1105 ss. Weiler, Joseph: Editorial: Germany v Italy: Jurisdictional Immunities – Redux (and Redux and Redux), EJIL:Talk!, 18 ottobre 2021

Vom unsouveränen Umgang mit der Souveränität Von Johann Justus Vasel

I. Einleitung Seit einem Jahrhundert liegt die Souveränität im Sterben und kann es nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist.1 Souveränität liegt seit einem Jahrhundert im Sterben? Temporaler Ausgangspunkt des nahezu einhundertjährigen Sterbeprozesses ist etwa Hans Kelsens Abgesang auf die Souveränität im von Julius Hatschek bzw. Karl Strupp herausgegebenen Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie von 1925.2 Ironischerweise heißt es ausgerechnet in seinem Enzyklopädie-Beitrag, Souveränität sollte bald aus den Lexika des Völkerrechts gestrichen werden. Kelsen war in dieser Hinsicht nicht allein. Das Ende der Monarchie, die Friedensverträge von 1919 und die Gründung des Völkerbundes evozierten schon damals Diskussionen um das Ende der Souveränität, wie etwa aus Hermann Hellers Schriften zur Souveränität deutlich wird.3 Auch dem Staatsrecht sind solche Sterbewünsche und Sterbeprophezeiungen nicht fremd.4 Hugo Preuß schreibt emblematisch in seiner Habilitationsschrift „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften“ 1889 davon, dass die Staatsrechtlehre „im Gespinst des Souveränitätsbegriffs“ gefangen sei „wie die Fliege im Gewebe der Spinne“ und es der „Eliminierung des Souveränitätsbe-

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Transposition in Anlehnung an Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1. Bd., 1983, S. 1, der damit sein philosophisches Hauptwerk eröffnet und dieses für die Philosophie diagnostiziert. 2 Hans Kelsen, in: Hatschek/Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, 2. Bd., 1925, S. 559. So auch Kelsens berühmte Schrift: ders., Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts: Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, 1920. Stefan Oeter spricht treffend von einem „diskursiven Todesstoß“ bzw. einer (auch rechtspolitisch motivierten) „Polemik“: ders., Souveränität und Staat bei Kelsen, in: Brunkhorst/Voigt (Hrsg.), Rechts-Staat, 16. Bd., 2008, S. 283 ff. 3 Hermann Heller, Gesammelte Schriften, 2. Bd., 2. Aufl. 1992, S. 31 ff. Allerdings hielt dieser die Versuche, diesem die „Giftzähne“ auszubrechen, für aussichtslos bzw. falsch (S. 178) und plädierte für ein juristisches, absolutes Souveränitätskonzept. 4 Obgleich Kelsens „Polemik“ gerade aus der Antipathie gegenüber nationaler, machtvollkommener Staatsapotheose motiviert war, hat sie nach dessen Auffassung in dieser Sphäre – anders als im Völkerrecht – womöglich noch berechtigtes Dasein, siehe Oeter, Rechts-Staat (Fn. 2), S. 289.

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griffs aus der Dogmatik des Staatsrechts“ bedürfe.5 Diese Reihung ließe sich weithin fortsetzen.6 Die zentralen Einwände lauteten schon damals: Mangelnde Bestimmtheit, Realitätsverfehlung, Widersprüchlichkeit.7 Das ist auch der Gegenwartsdiskussion, in der Grabgesänge nicht fehlen,8 nicht ganz fremd. Dass der Umgang mit dem Souveränitätsbegriff, der ein „Centralbegriff“9 (H. Preuß) bzw. „Grundbegriff der Jurisprudenz“ (C. Schmitt)10 ist, schwierig ist, nimmt nicht Wunder.11 Das liegt nicht nur, aber auch an seiner historischen Aufgeladenheit, seiner Elastizität und Flexibilität.12

II. Erste Spurensuche Ausgangspunkt für die Juristin bzw. den Juristen ist den Üblichkeiten entsprechend der Normtext, und so soll auch nachfolgend die Spurensuche, die bestimmte Auffälligkeiten und Anomalien in Bezug auf Deutschland zeigt und Instruktives aus dem Umliegenden preisgibt, damit beginnen.

5 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, 1889, S. VI und S. 92, zitiert nach Manfred Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems für die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht, Der Staat 36 (1997), S. 381 (383); in diese Richtung mit Blick auf die Entwicklung der EU, Stefan Oeter, Souveränität und Demokratie als Problem in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S. 659 (704 ff.). 6 Zur Übersicht der kritischen Stimmen etwa P. Dagtoglou, Souveränität, in: Kunst/ Grundmann (Begr.)/Herzog et al. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2. Bd., 3. Aufl. 1987, S. 3155 ff.; Hans Boldt, Staat und Souveränität, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, 6. Bd., 1990, S. 152 ff.; Erhard Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, JZ 2000, S. 1121 ff., angeführt bei Gunnar F. Schuppert, Souveränität – überholter Begriff, wandlungsfähiges Konzept oder „born 1576, but still going strong“, in: Stein/Buchstein/Offe (Hrsg.), Souveränität, Recht, Moral – Die Grundlagen politischer Gemeinschaft, 2007, S. 251 ff. 7 Baldus (Fn. 5), S. 383. 8 Zuletzt etwa Don Herzog, Sovereignty RIP, 2020. 9 Preuß (Fn. 5), S. 95. 10 Carl Schmitt, Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2. Aufl. 1934, S. 27. Den Versuch einer zeitgenössischen politischen Theologie unternimmt Paul W. Kahn, Political Theology. Four new Chapters on the Concept of Sovereignty, 2011. 11 Dieter Grimm spricht von „Schlüsselbegriff“, ders., Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, 2009. Anregend zur Problematik auch Werner von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965. Hellsichtig und tiefsinnig, sich gegen ein aut-aut-Denken wendend, Peter Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, Rezension zu: Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart von Werner von Simson, AöR 92 (1967), S. 259 ff. 12 Gleichwohl für die Qualität als Rechtsbegriff eintretend, Christian Hillgruber, Souveränität. Verteidigung eines Rechtsbegriffs, JZ 2002, S. 1072 ff.

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1. Grundgesetz und rechtsvergleichende Umschau Im Grundgesetz ist der Begriff Souveränität absent; er kommt schlicht nicht vor. Das ist, wie so vieles in der deutschen Geschichte und Verfassungsrechtsentwicklung, anders als anderen Ortes. Mit Grund mied der Parlamentarische Rat die Terminologie, nachdem Deutschland – formal betrachtet – zunächst nicht souverän war und dies auch mindestens weitere vier Dekaden umstritten bleiben sollte.13 Den vier „Müttern“ und einundsechzig „Vätern“ des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat schien es vor diesem Hintergrund unpassend, den Begriff zu verwenden. Ganz im Gegenteil: Lange Zeit war beabsichtigt, in die Präambel einen unmissverständlichen Hinweis auf die Beschränkung der Unabhängigkeit durch die Besetzung in der Formulierung einzufügen: „Die Besetzung Deutschlands durch fremde Mächte hat die Ausübung dieses Rechts [nämlich auf freie Gestaltung seines nationalen Lebens] schweren Einschränkungen unterworfen.“14 Der Allgemeine Redaktionsausschuss meinte indes, dies klänge zu sehr nach Resignation und verzichtete schließlich auf die Formel.15 Weder Souveränität noch ihre Einschränkung fanden entsprechend Eingang in den neuen Verfassungstext. Im Grundgesetz findet sich nur ein verwandter, „familienähnlicher“16 Begriff, nämlich jener der „Hoheitsrechte“ – zunächst und vor allem in Art. 24 GG zur Übertragung auf zwischenstaatliche Einrichtungen.17 Andere Verfassungstexte europäischer Nachbarstaaten, die den Art. 24 GG inspirierten18, führen hingegen den Souveränitätsbegriff. So etwa die französische Verfassung, die in der Präambel von einem „consent aux limitations de souveraineté nécessaires“ zum Zwecke des Friedens spricht. Überhaupt wird in der französischen Verfassung prominent auf die Souveränität Bezug genommen (Präambel, Art. 3, 4 und 77), vor allem aber ist der ganze I. Titel mit Souveränität bezeichnet. In der Verfassung Luxemburgs, Art. 32, heißt es: „Die souveräne Gewalt beruht in der Nation.“ Insbesondere für das hier maßgebliche „Deutsch-Italienische Gespräch“ ist naturgemäß die Italienische Verfassung relevant, in deren Art. 11 ebenfalls von „limitazioni di sovranita` necessarie“ die Rede ist. Insgesamt sind Souveränitätsbezugnahmen in 19 der 27 Verfassungstexte vorhanden. Die Absenz des Souveränitätsbegriffs im Grundgesetz stellt ergo keine Singularität dar und ist auch noch keine verfassungsrechtliche Rarität unter den Staaten Europas, aber eine Besonderheit, die mitunter 13 Klassisch zu der Frage und die Souveränität negierend, Helmut Rumpf, Land ohne Souveränität, 1969, 2. erw. Aufl. 1973. 14 Zitiert in BVerfGE 1, 351 (369). 15 Siehe BVerfGE 1, 351 (369), mit Verweis auf JöR NF Bd. 1, 1951, S. 38/39. 16 Ludwig Wittgenstein, Schriften, 1960, S. 292 f., 324 ff. 17 Konzise Helmut P. Aust, GG-v. Münch/Kunig, 7. Aufl. 2021, Art. 24 Rn. 34 mit Verweis auf Peter Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStrL 23 (1966), S. 34 (56), der darin eine „Eigenschaft der Staatsgewalt“ erkennt. 18 Aust, GG (Fn. 17), Art. 24 Rn. 30.

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auch darin begründet liegt, dass die „Supreme Authority“ im Nachkriegsdeutschland allein den Besatzungsmächten zukam.19 In der rechtsvergleichenden Umschau fällt noch Weiteres auf: während die anderen Verfassungen von „Einschränkung“ und „Relativierung“ der Souveränität mit Blick auf internationale Zusammenarbeit sprechen, geht der Art. 24 GG weit darüber hinaus und erlaubt eine „Übertragung“ von Hoheitsrechten.20 Darunter kann man jedenfalls etwas kategorial anderes verstehen als eine bloße Einschränkung. Kurzum: Während die europäischen Nachbarstaaten also über Souveränität verfügen, aber zu einer Einschränkung zum Zwecke des Friedens und der Kooperation bereit sind, führt das Grundgesetz den Souveränitätsbegriff nicht, ist aber bereit, dessen Surrogat gleich zu übertragen. Dieser Doppelbefund indiziert bereits, dass für die typischen Attribute der Souveränität – Letztentscheidung, „Zuhöchstsein“ (Herbert Krüger)21, Allmacht und andere Unverrückbarkeiten und Absolutheiten – im Grundgesetz der Anlage nach wohl kein Raum zugedacht war. 2. Souveränität in der werdenden europäischen Verfassungsgemeinschaft Wendet man den Blick von den Mitgliedstaaten auf die werdende europäische Verfassungsgemeinschaft22 selbst, ergibt die Spurensuche ebenfalls einen klaren, nicht gänzlich unerwarteten Befund: Der Begriff Souveränität taucht expressis verbis weder in den 358 Artikeln des AEUV noch in den 55 Artikeln des EUVauf. Auch den älteren Vertragsdokumenten, den Römischen Verträgen, ist er fremd. Latent – allerdings nur mäßig potent – vorhanden, teilweise verklärt und undeutlich erkennen kann man Souveränitätsfragmente vielleicht in den Grundbestimmungen des EUV respektive Art. 3, 4 und 5 EUV. Eine besonders prominente Rolle und besonders frühzeitige Erwähnung hat Souveränität indes in der Rechtsprechung des EuGH erfahren. Weit bevor das BVerfG in seiner umfassenden Europarechtsprechung die Souveränität entdeckte, führte ihn der EuGH ein, und zwar in der berühmten Entscheidung Van Gend & Loos23 (1963) mit der die Mitgliedstaaten provozierenden Formel:24

19

Rolf Grawert, Die Staatsangehörigkeit der Berliner, Der Staat 12 (1973), S. 289 (304). Den Begriff der „Übertragung“ als missverständlich qualifiziert, Badura (Fn. 17), S. 56. 21 Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 129. 22 Peter Häberle/Markus Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8. Aufl. 2016, S. 313 ff. 23 EuGH, 05. 02. 1963, Rs. 26/62 – van Gend & Loos; vertiefend: Morton Rasmussen, Revolutionizing European Law: A History of the Van Gend en Loos Judgment, ICON Vol. 12 Issue 1 (2014), S. 136 ff.; Damian Chalmers/Luis Barroso, What van Gend en Loos stands for, ICON Vol. 12 Issue 1 (2014), S. 105 ff.; ferner: Joseph H. H. Weiler, Van Gend en Loos: The individual as subject and object and the dilemma of European legitimacy, ICON Vol. 12 Issue 1 (2014), S. 94 ff.; Ingolf Pernice, 50 Jahre nach Van Gend & Loos, EuZW 2013, S. 441 ff. 24 Die Provokation liegt auch in der damit einhergehenden „Selbstautorisierung“, so treffend, Frank Schorkopf, Der Europäische Weg, 3. Aufl. 2020, S. 190. 20

Vom unsouveränen Umgang mit der Souveränität

177

Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar, „zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben …“. So lässt sich fragen: War es vielleicht der EuGH, der das BVerfG erst auf den Souveränitätsbegriff gebracht hat? 3. Zwischenfazit Damit ergeben sich folgende erste Befunde: Erstens: Im Grundgesetz von 1949 ist Souveränität normtextlich inexistent. Zweitens hat man auf diese verfassungsrechtliche Fixierung verzichtet, weil Souveränität rechtlich wie faktisch mindestens umstritten, nach Auffassung mancher nicht existent war. Drittens gilt anderes für die umliegenden europäischen Staaten, die aber ihre Souveränitätsbekundungen mit Relativierungen versehen. Viertens kennt auch das Europarecht den Begriff nicht als positivrechtliche Kategorie. Fünftens sind es in Deutschland wie auf europäischer Ebene insbesondere die Gerichte, die den Begriff ohne positivrechtliche Grundlage eigenmächtig aus der Welt der Politik in die Welt des Rechts einge- und überführt haben. So bemüht es der EuGH etwa früh für seine bzw. die Integrationsprozesse der Gemeinschaft respektive Union. Ihm geht es allerdings gerade um eine Relativierung dieser zum Zwecke des Integrationsprozesses. Zuweilen wird auch das gesamte europäische Integrationsprojekt in Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg als eine Destruktion, ein Diffundieren des Unheil stiftenden, machtvollkommenen, nationalstaatlichen Souveränitätsverständnisses gedeutet.25 Verwendung und Bezugnahme des Bundesverfassungsgerichts mit Blick auf Souveränität finden sich zwar schon früh – ab dem ersten Band der amtlichen Sammlung – allerdings intensiviert und konsolidiert sich die Verwendung erst und vor allem im Kontext der Europarechtsprechung. Deutlich wird damit: in vielen Verfassungstexten, Verträgen, Konventionen und Gesetzen verzichtet man – bewusst oder unbewusst – wenn auch nicht unbedingt auf den Begriff, aber jedenfalls auf das Wort. Oftmals ist es die Rechtsprechung, die dieses einführt und auf das Prinzip ausführlich rekurriert, bisweilen allerdings teils unklar und unsouverän im Umgang. So auch das Bundesverfassungsgericht, das den Begriff unter Bedeutungs- und Funktionswechseln verwendet, die nachfolgend näher untersucht werden sollen.26

25 Anders hingegen die neorealistisch ökonomisch-historische Analyse – wenngleich mit Bezug auf die Nation – von Alan S. Milward, The European Rescue of the Nation-State, 1992. 26 Überblicksartig: Wolfgang Kahl, Das Souveränitätsverständnis des BVerfG im Spiegel von dessen neuerer Rechtsprechung, in: Calliess/Kahl/Schmalenbach (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union, 2014, S. 23 ff.

178

Johann Justus Vasel

III. „Bestandsaufnahme“ – Eine computerlinguistische Spurensuche nach Souveränität in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Prämisse: Ungleiche Entscheidungsverteilung innerhalb des BVerfG Interessant erscheint es für eine derartige Spurensuche zunächst, einen Blick auf die Verwendung des Souveränitätsbegriffes in den beiden Karlsruher Senaten bzw. in den einzelnen Kammern zu werfen. Voranzustellen ist der Untersuchung, dass die Rechtsprechungstätigkeit in den untersuchten knapp 10.000 digital verfügbaren Entscheidungsdokumenten quantitativ ungleich ausfällt: Auf den Ersten Senat als „Grundrechtesenat“ entfallen rund 1.000 Entscheidungen mehr als auf den Zweiten Senat, der der Idee nach tendenziell als Staatsgerichtshof27 konzipiert ist. 2. Souveränität – eine Marginalie? Im Einzelnen ergibt die computergestützte Suche nach dem Souveränitätsbegriff folgendes Gesamtbild der Entscheidungsverteilung: In der verfügbaren digitalisierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – das sind in toto 9814 Entscheidungen – kommt das Wort Souveränität insgesamt etwa 280 mal vor. Souveränität erscheint damit jedenfalls in quantitativer Hinsicht als eine nur marginal verwendete und zur Begründung angeführte Begrifflichkeit. Dies insbesondere, weil die 280 Vorkommnisse inklusive Komposita auf insgesamt lediglich 100 Rechtsprechungsdokumente entfallen. Ohne Komposita sind es 176 Vorkommnisse in 78 Entscheidungen. Dies deutet darauf hin, dass selbst wenn auf den Begriff rekurriert wird, ihm zumeist keine besonders prominente Rolle zukommt. Jedenfalls wird diese weder durch die Häufigkeit der Bezugnahme begründet, noch wird sie erkennbar. Schaut man sich die Verwendung des Souveränitätsbegriffs näher aufgelöst innerhalb des Gerichts an, wie oft die beiden Senate den Begriff Souveränität mindestens einmal inklusive Komposita verwenden, so ergibt sich nachfolgendes Bild: Zweiter Senat (II)

66

Erster Senat (I)

16

II-1

7

II-3

6

I-1

2

II-2

2

II-4

1

27 Bis zu den Referaten von Heinrich Triepel und Hans Kelsen zu „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“, VVDStRL 5 (1929), S. 2 ff., war im Grunde einheitlich von Staatsgerichtsbarkeit die Rede.

Vom unsouveränen Umgang mit der Souveränität

179

Senate zusammengezählt: Erster Senat

18

Zweiter Senat

82

Der empirische Befund ist nicht besonders überraschend. In der Rechtssprechung des Zweiten Senats, welcher vom Gesetzgeber eher als Staatsgerichtshof konzipiert wurde (§ 14 Abs. 1 – 3 BVerfGG – weist sehr viel mehr Bezugnahmen auf den Souveränitätsbegriff auf als der Erste Senat als Grundrechtssenat), kommt der Begriff etwa viermal so oft vor. 3. Renaissance der Souveränität? Der Begriff Souveränität, so scheint es, erfährt in jüngster Zeit eine Renaissance. So ist etwa von Energiesouveränität28, digitaler Souveränität29 und Europäischer Souveränität30 die Rede. Mit G. F. Schuppert lässt sich zu diesem „wandlungsfähigen Konzept“ konstatieren: „born in 1576, but still going strong“.31 Die allgemeine Entwicklung einer Wiederbelebung – aller Abgesänge und Totenreden zum Trotz – bildet sich auch in der Verwendung des Begriffes durch das Bundesverfassungsgericht ab. So ergibt sich über die Zeit verteilt nachfolgendes Bild zur Anführung der Souveränität in der Karlsruher Rechtsprechung: a) Souveränität – Mehr Fetisch und Fashion als eine Formel? Zur weiteren Ergründung, welche Rolle der Souveränitätsbegriff in der Rechtsprechung des Bundesverfasungsgerichts spielt, wird die Verwendung des Begriffes in der Rechtsprechung der beiden Senate fokussiert. Während im „GrundrechteSenat“ schon kaum eine sinnvolle „Top-Ten-List“ gelingt, da in den weiteren Entscheidungen der Begriff maximal einmal vorkommt, gilt anderes für den zweiten Senat. Ein Identifikationsversuch der Entscheidungen mit den meisten Souveränitätsverwendungen zeigt das nachfolgende Bild: 28 Kopernikus-Projekt Ariadne, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: Deutschland auf dem Weg aus der Gaskrise: Wie sich Klimaschutz und Energiesouveränität vereinen lassen. 29 Etwa Ministère de l’Europe et des Affaires étrangères, Building Europe’s Digital Sovereignty, 7. Feburar 2022. https://www.diplomatie.gouv.fr/en/french-foreign-policy/europe/ the-french-presidency-of-the-council-of-the-european-union/article/building-europe-s-digital-so vereignty-7-feb-22. 30 Rede von Staatspräsident Emmanuel Macron an der Sorbonne – Initiative für Europa, 26. September 2017. Im Zusammenhang mit der Corona-Krise: Lando Kirchmair, Europäische Souveränität? Zur Autonomie des Unionsrechts im Verhältnis zum Völkerrecht sowie den Mitgliedstaaten am Beispiel der Corona-Krise, EuR 2021, S. 28. 31 Schuppert (Fn. 6), S. 251 ff., Souveränität – Überholter Begriff, wandlungsfähiges Konzept oder „born 1576, but still going strong“?.

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6

5

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0

1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018

1

Erster Senat Rangnummer 1

Anzahl der Nennungen 7

2

3

3

3

4

2

5

2

6

2

(Amtliche) Fundstelle, Titel, Aktenzeichen, Rn. KPD-Verbot BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. August 1956 – 1 BvB 2/51 –, Rn. 1 – 1452, BVerfGE 5, 85. Ost-Verträge BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 7. Juli 1975 – 1 BvR 274/72 –, Rn. 1 – 126, BVerfGE 40, 141. Reparationsschäden BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 13. Januar 1976 – 1 BvR 631/69 und 24/70 –, Rn. 1 – 191, BVerfGE 41, 126. Brokdorf BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233/81, 341/ 81 –, Rn. 1 – 113, BVerfGE 69, 315. NATO-Betriebsvertretungen BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 8. Oktober 1996 – 1 BvL 15/91 –, Rn. 1 – 25, BVerfGE 95, 39. SRP-Verbot BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 23. Oktober 1952 – 1 BvB 1/51 –, Rn. 1 – 305, BVerfGE 2, 1.

Vom unsouveränen Umgang mit der Souveränität

181

2.5

2

1.5

1

2018

2015

2012

2009

2006

2003

2000

1997

1994

1991

1988

1985

1982

1979

1976

1973

1970

1967

1964

1961

1958

1955

0

1952

0.5

Zweiter Senat Rangnummer 1

2

3

4

5

6

Anzahl der (Amtliche) Fundstelle, Titel, Aktenzeichen, Rn. Nennungen 24 Lissabon BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 –, Rn. 1 – 421, BVerfGE 123, 267 – 437. 21 Atomwaffenstationierung BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. Dezember 1984 – 2 BvE 13/83 –, Rn. 1 – 249, BVerfGE 68, 1. Pershing 18 NPD-Verbotsverfahren BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, Rn. 1 – 1010, BVerfGE 144, 20 – 367. 18 OMT-Programm BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 21. Juni 2016 – 2 BvR 2728/13 –, Rn. 1 – 220, BVerfGE 142, 123 – 234. 15 Europäische Bankenunion BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2019 – 2 BvR 1685/14 –, Rn. 1 – 320, BVerfGE 151, 202 – 374. 12 OMT-Beschluss BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Januar 2014 – 2 BvR 2728/ 13 –, Rn. 1 – 24, BVerfGE 134, 366 – 438. ESM Vorlage

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Johann Justus Vasel

Rangnummer 7

8

9

10

Anzahl der (Amtliche) Fundstelle, Titel, Aktenzeichen, Rn. Nennungen 9 Cybercrime BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 21. Juni 2016 – 2 BvR 637/09 –, Rn. 1 – 31, BVerfGE 142, 234 – 268. 6 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 05. November 2003 – 2 BvR 1243/ 03 –, Rn. 1 – 84, BVerfGE 109, 13 – 38. Ausweisung Völkerrecht 6 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 05. November 2003 – 2 BvR 1506/ 03 –, Rn. 1 – 86, BVerfGE 109, 38 – 64. Ausweisung Völkerrecht 5 Iranische Botschaft BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 30. April 1963 – 2 BvM 1/62 –, Rn. 1 – 165, BVerfGE 16, 27.

Auffällig ist zunächst, dass der Zweite Senat den Begriff vor allem in jüngerer Zeit sehr oft bemüht, wohingegen der Erste Senat keine solche Tendenz erkennen lässt. Grund und Motiv werden aus Zeitkontext, Intensivierung und Rechtsprechungskörper abstrakt deutlich: Der Souveränitätsbegriff kommt zwar auch in anderen Urteilen mitunter vor, die entscheidende Rolle spielt er indes im Zuge der judikativen Kontrolle des europäischen Integrationsprozesses. Hinsichtlich der expliziten Bemühung des Souveränitätsbegriffs ist – wenig verwunderlich – das Lissabon-Urteil wahrhaft herausragend. Auffällig ist aber noch etwas anderes: Die Listung zeigt, dass es eine besondere Häufung bei gewissen Berichterstattern bzw. in bestimmten Materien gibt. Auch auffällig ist, dass diese Berichterstatter oftmals Professoren und keine Praktiker sind. Wenngleich die Ursachen, Kausalitäten und Verantwortungszusammenhänge dafür aufgrund des „Schleiers des Beratungsgeheimnisses“32 letztlich verborgen bleiben, ist die These einer prägenden Wissenschaftssozialisierung, die für den „Souveränitätsüberhang“ verantwortlich zeichnet, prima facie plausibel und lohnte eine zukünftige Untersuchung (siehe Grafik auf S. 183). So interessant und hilfreich eine „empirische“, computerlinguistische Spurensuche auch sein mag, so ist doch fraglos zu konstatieren: dem rein quantitativen Vorkommen des Souveränitätsbegriffes kommt nur eine bedingte Aussagekraft zu. Vieles bleibt damit unerfasst und unabgebildet. Zuweilen mag der Begriff expressis verbis nur wenige Male vorkommen, und hat entweder dennoch eine kardinale Bedeutung oder ist unausgesprochen – der Sache nach – Ausgangs- und Argumentationspunkt. Im ersteren Fall sollte er wenigstens erfasst sein, die letzte Fallkategorie mag in der vorgenommenen Untersuchung unidentifiziert bleiben. Um zu ergründen, welche Funktion der Souveränitätsbegriff in jenen Urteilen, die am meisten auf ihn rekurrieren, erfüllt, um also zu klären, ob der Begriff Fetisch, Fashion, gar Fiktion oder bloße Formel ist, sollen nachfolgend einige souveränitätszentrierte Judikate analysiert werden.

32

Uwe Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010.

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5

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1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018

1

IV. Relevanz und Funktion des Souveränitätsbegriffs in einzelnen Judikaten 1. Der Zeit voraus – Vorweggenommene Wiederherstellung der Souveränität qua Gerichtsbeschluss? Eine nähere, über das Quantitative hinausreichende Analyse führt an den Anfang der Bundesrepublik und an den Anfang der Souveränitäts-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Gleich im ersten Band der amtlichen Sammlung kommt der Begriff prominent vor. Das Bundesverfassungsgericht war seiner Zeit wahrhaft voraus: Die Bundesrepublik war noch nicht souverän, wurde aber vorausgreifend als solche in und durch Karlsruhe reklamiert. So heißt es im ersten Band in der Entscheidung zum Petersberger Abkommen des Zweiten Senats im Juli 1952: „Das Grundgesetz will seinem gesamten Inhalt nach die Verfassung eines souveränen Staatswesens sein“.33 Es sei zwar „als Organisationsstatut eines besetzten Landes gedacht, hat dann aber doch schließlich die Gestalt der Verfassungsurkunde eines souveränen Staates angenommen.“34 Notabene: Der General- und Deutschlandvertrag, der die Wiederherstellung der Souveränität gewähren sollte (vgl. Art. 1 Abs. 1 und 2)35 , war erst rund zwei Monate vor dem Urteil, nämlich am 26. Mai 1952, geschlossen worden, trat aber bekannter33

BVerfGE 1, 351 (368). BVerfGE 1, 351 (368). 35 Darauf rekurrierend BVerfGE 15, 337 (349 f.). 34

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maßen erst in revidierter Fassung im Oktober 1954 in Kraft. Die revidierte Fassung sagte der Bundesrepublik zwar „die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten“ zu (Art. 1 Abs. 1), formulierte jedoch noch gewisse Vorbehalte. Die alliierten Vorbehalte wurden erst mit dem Zwei-Plus-VierVertrag von 1990 aufgehoben, und damit wurde die volle Souveränität des Vereinten Deutschlands hergestellt.36 Das Bundesverfassungsgericht antizipierte also gewissermaßen die Wiederherstellung der Souveränität, bahnte diese an, nahm sie vorweg. Das Gericht formuliert hier eine „Evolution konstitutioneller Selbstbestimmung“.37 Vergegenwärtigt man sich diese Rechtsprechung und das hoffnungsvoll-prospektive „Das Grundgesetz will […] die Verfassung eines souveränen Staatswesens sein“,38 mutet die Behauptung aus dem Lissabon-Urteil, „Das Grundgesetz setzt damit [Verfügungsgrenzen qua Ewigkeitsgarantie] die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch.“39, nicht nur wenig bescheiden, sondern etwas geschichtsvergessen, wenn nicht sogar widersprüchlich oder geradezu falsch an. Entsprechend den Ausführungen in der Petersberger Entscheidung und nach Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages führt das BVerfG in der Entscheidung zu den NATO-Betriebsvertretungen 1996 aus, dass „seit dem Ende der Besatzungszeit rund 40 Jahre vergangen sind und die Bundesrepublik inzwischen uneingeschränkte Souveränität erlangt“ habe.40 Wird in der Entscheidung zu den Petersberger Verträgen Souveränität „als eine Hervorbringung grundgesetzlichen Willens“41 gesehen, finden sich in frühen Entscheidungen auch Souveränitätsverständnisse als „politische Macht und reale Vorgänge“.42 So etwa, indem das BVerfG in dem „Anschluss“ Österreichs an das Reich im vierten Entscheidungsband von einem „faktischen Wechsel der Souveränität“43 spricht. Kurzum: das BVerfG verwendete schon früh verschiedene Souveränitätsverständnisse nebeneinander und arbeitete an der Souveränitätsetablierung durch und unter dem Grundgesetz konstruktiv mit.44

36 Zum langen Ringen um die Souveränität der BRD insbesondere Rumpf (Fn. 13), 1969. Kritisch dazu etwa die Rezension von Wilhelm Wengler, Rezension zu: Land ohne Souveränität. Beiträge zur Deutschlandfrage von Helmut Rumpf, JZ 1970, S. 230 f. 37 Rolf Grawert, Homogenität, Identität, Souveränität: Positionen jurisdiktioneller Begriffsdogmatik, Der Staat 51 (2012), S. 189 (201), mit interpretierendem Verweis auf BVerfGE 1, 351 (368). 38 BVerfGE 1, 351 (368). 39 BVerfGE 123, 267 (343). 40 BVerfGE 95, 39 (47). 41 BVerfGE 1, 351. 42 Grawert (Fn. 37), S. 203. 43 BVerfGE 4, 322 (325). 44 So auch Grawert (Fn. 37), dessen Darstellung diesen Abschnitt inspiriert hat.

Vom unsouveränen Umgang mit der Souveränität

185

2. Der Zeit hinterher – Souveränitätserhalt qua Gerichtsentscheid? a) Vorbemerkung: Negatorische Souveränitätsinstrumentalisierung in der Europajudikatur? Die Europarechtsprechung des Karlsruher Gerichts ist nicht einfach zu erfassen und zu charakterisieren. Dies schon wegen ihres Umfangs, des dynamischen Integrationsprozesses, diversen Rechtsprechungswechseln und unterschiedlicher gerichtlicher Besetzung der beiden Senate.45 Mitunter mutet sie negatorisch und abschirmend an.46 Bemerkenswert ist allerdings folgende Evidenz: die früheren, nicht minder maßgeblichen Urteile aus dem Kontext des Europaverfassungsrechts verzichten auf den Souveränitätsbegriff – in der quantitativen „Top Ten“-Liste (s. o.) taucht kaum eines der wichtigen, frühen Judikate auf. Im Anschluss an die Maastricht Entscheidung sollen vier weitere Europajudikate in den Blick genommen werden, in denen der Begriff häufig vorkommt: das Lissabon-Urteil sowie die Entscheidungen zum OMT-Programm, der OMT-Beschluss und jener zur Europäischen Bankenunion. Daran schließt sich eine Betrachtung des Souveränitätsprinzips zur Verhältnisbestimmung mit Blick auf die EMRK an. b) Die Maastricht-Entscheidung Das als europakritisch geltende und sich deshalb für Souveränitätsausführungen grundsätzlich eignende Maastricht-Urteil47 führt den Souveränitätsbegriff lediglich zweimal in den Urteilsgründen (achtmal kommt der Begriff insgesamt vor, sechsmal davon als Adjektiv) und auch der Sache nach wird er nicht gegen den Integrationsprozess in Stellung gebracht.48 So heißt es zunächst: „Die Mitgliedstaaten haben die Europäische Union gegründet, um einen Teil ihrer Aufgaben gemeinsam wahrzunehmen und insoweit ihre Souveränität gemeinsam auszuüben.“49 „Dementsprechend nimmt der Unions-Vertrag auf die Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten Bedacht, indem er die Union zur Achtung der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten verpflichtet […], die Union und die Europäischen Gemeinschaften nach dem Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit nur mit bestimmten Kompetenzen und Befugnissen ausstattet […] und sodann das Subsidiaritätsprinzip für die Union […] und für die Europäische Gemeinschaft […] zum verbindlichen Rechtsgrundsatz erhebt.“50

45

Dazu auch Andreas Kulick/Johann J. Vasel, Das konservative Gericht, 2021, S. 152. Siehe etwa Peter Häberle, Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maastricht II-Entscheidung, JöR 58 (2010), S. 317 (326). 47 BVerfGE 89, 155. 48 Gleichwohl kritisch Neil MacCormick, The Maastricht-Urteil: Sovereignty Now, ELJ 1 (1995), S. 259 (260). 49 BVerfGE 89, 155 (188 f.). 50 BVerfGE 89, 155 (189). 46

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Auf Souveränität wird also Rücksicht genommen und sie wird gemeinsam ausgeübt. Keine Spur von jenen „Verlustängsten“ mit Blick auf Souveränität, die rund zwanzig Jahre später im Lissabon-Urteil um sich greifen.51 In der Maastricht-Entscheidung ist es allerdings nicht die Souveränität, die der Integration bremsend und beharrend52 entgegengestellt wird, sondern der Staat. Viermal tritt er im 8. Leitsatz in Erscheinung und ist auch sonst in dem Urteil omnipräsent.53 Für manche liegt darin eine regelrechte Staatsapotheose.54 c) Das Lissabon-Urteil In jüngerer Zeit nimmt, wie bereits der Übersicht zu entnehmen war, die Verwendung des Souveränitätsbegriffes zu. Den Ausgangs- und vielleicht den Höhepunkt dieser Souveränitäts-Renaissance bildet das Lissabon-Urteil. Es gilt als locus classicus der Souveränitätsäußerungen und ist entsprechend auch wissenschaftlich reflektiert worden.55 Über vierzigmal findet sich das Attribut „souverän“, vierundzwanzigmal taucht es als Substantiv auf. Das BVerfG wird hier, um Peter Häberle zu zitieren, „zum exklusiven Hüter des nationalstaatlichen Souveränitätspanzers“.56 Häberle spricht nicht ganz zu Unrecht von dessen „Souveränitätsgläubigkeit“, es „verstricke sich allenthalben in eine „alte etatistische Souveränitätsideologie“.57 Unter anderem wurde kritisiert, dass die verfassunggebende Gewalt und die staatliche Souveränität einfach nebeneinandergestellt werden. Das BVerfG vermische die Souveränität mit dem Demokratiebegriff, um die Wirkung des Art. 79 Abs. 3 GG zu erreichen, was historisch fragwürdig sei. Souveränität stamme aus vordemokratischer Zeit. Dass die Staatsgewalt vom Volke ausgehe, sei kein Satz der Souveränität, 51

So etwa Kulick/Vasel (Fn. 45), S. 154 und insbes. S. 179. Kulick/Vasel (Fn. 45), S. 173 f. 53 Kulick/Vasel (Fn. 45), S. 174. 54 Vgl. Joseph H. H. Weiler, Der Staat „über alles“- Demos, Telos und die MaastrichtEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts, JöR Bd. 44 (1996), S. 91 ff.; Roland Lhotta, Der Staat als Wille und Vorstellung: Die Etatistische Renaissance nach Maastricht und ihre Bedeutung für das Verhältnis von Staat und Bundesstaat, Der Staat 36 (1997), S. 189 ff.; Robert C. van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa: Von Solange über Maastricht zu Lissabon, Euro-Rettung und Europawahl, 2010. 55 Beispielhaft aus der Literatur etwa Matthias Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah?, Der Staat 48 (2009), S. 497 ff.; Christoph Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, Der Staat 48 (2009), S. 535 ff.; Daniel Thym, Europäische Integration im Schatten souveräner Staatlichkeit, Der Staat 48 (2009), S. 559 ff.; Dieter Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union: Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), S. 475 ff.; Rudolf Streinz, Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit: Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ZfP 56 (2009), S. 467 ff.; Klaus F. Gärditz/Christian Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, S. 872 ff. 56 Häberle (Fn. 46), S. 317 (317, 322). 57 Häberle (Fn. 46), S. 317 (326). 52

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sondern ein Satz der demokratischen Legitimation (M. Stolleis).58 Nach Lesart des Gerichts hingegen „fordere“ das Demokratieprinzip die „Wahrung der Souveränität“59 Vielfach wird Souveränität im Lissabon-Urteil adjektivisch eingeführt – „souveräne Staatlichkeit“60, „souveräne Verfassungsstaatlichkeit“61, „souveränes Selbstbestimmungsrecht“62, „souveräne Staatsgewalt“63, „souveräne Entscheidung“64 – wobei in den meisten Passagen unklar bleibt, welcher Mehrwert diesem Attribut im konkreten Kontext zukommt. In vielen Fällen, so scheint es bei kontextbezogener Lektüre und Interpretation, ergibt sich keine erkennbare Sinn- und Bedeutungsänderung, wenn man das Wort schlicht weglässt. d) OMT-Programm An der Entscheidung zum OMT-Programm ist besonders auffällig, dass das BVerfG hier in allen einschlägigen Passagen ausschließlich von „Volkssouveränität“ spricht.65 Weder kommt Souveränität im Selbststand noch als Adjektiv vor. „Volkssouveränität“ wird anders als „nackte“ Souveränität vom BVerfG unter vielfachen Literaturverweisen als „Grundsatz“ qualifiziert, wirkt im Gegensatz zur im Lissabon-Urteil nebulösen „nackten“ Souveränität klarer konturiert und wird in Art. 20 Abs. 2 Satz I GG verankert. Gemeint ist damit nach dem BVerfG ein „Anspruch des Bürgers, nur einer öffentlichen Gewalt ausgesetzt zu sein, die er auch legitimieren und beeinflussen kann“ und verlangt somit einen Legitimationszusammenhang.66 Ob der Begriff der Volkssouveränität67 hier wirklich passt, da ja auch die Volkssouveränität nicht absolut und frei gedacht werden kann, sondern auch das Volk als Souverän rechtstaatlich und menschenrechtlich eingehegt ist,68 steht auf einem anderen

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Mit Erwähnung auf Michael Stolleis: Häberle (Fn. 46), S. 317 (329). BVerfGE 123, 267 (357). 60 BVerfGE 123, 267 (343, 346, 402, 406). 61 BVerfGE 123, 267 (347). 62 BVerfGE 123, 267 (345). 63 BVerfGE 123, 267 (381). 64 BVerfGE 123, 267 (423). 65 BVerfG 142, 123 (174, 189, 19, 194, 201). 66 Zu den Begriffen in der Rechtsprechung des BVerfG: Erich Röper, Der Souveränitätsund Volksbegriff des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 2010, S. 285 ff. 67 Grundsätzlich dazu Uwe Volkmann, Volkssouveränität, in: Staatslexikon, Görres-Gesellschaft, 8. Aufl. 2021; Saulo de Matos, Zum normativen Begriff der Volkssouveränität, 2015; Mit Blick auf die Bedeutung bei Kelsen: Oliver Lepsius, Zwischen Volkssouveränität und Selbstbestimmung. Zu Kelsens demokratietheoretischer Begründung einer sozialen Ordnung aus der individuellen Freiheit, in: Rechts-Staat (Fn. 2), S. 14 ff. 68 So Markus Kotzur, GG (Fn. 17), Art. 20 Rn. 111. 59

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Blatt.69 Gleichwohl stellt das Bundesverfassungsgericht auf diesen bislang judikativ noch unterentwickelten, konturenlosen, wenngleich anspruchsvollen Begriff der „Volkssouveränität“ auch im PSPP-Urteil exklusiv ab. e) Europäische Bankenunion Der gleiche Befund gilt zunächst für die Entscheidung zur europäischen Bankenunion: Sämtliche Passagen, die Souveränität enthalten, sprechen ausschließlich von „Volkssouveränität“70. Keine adjektivische Verwendung als „Amplifier“, keine „nackte“ Souveränität existiert darin. Bemerkenswert und merkwürdig ist sodann folgende Feststellung: „Die Unabhängigkeit der EZB […] steht in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), weil damit ein wesentlicher Politikbereich der Weisungsbefugnis der unmittelbar demokratisch legitimierten Repräsentanten entzogen und die Einflussmöglichkeiten des Bundestages […] in diesem Bereich stark zurückgenommen werden.“71 Das mag als faktische Beschreibung nicht falsch sein, irritiert insofern aber, als dass just dieses Spannungsverhältnis – treffender vielleicht Distanzverhältnis – bewusst gewollt ist. Notenbankunabhängigkeit ist historisch betrachtet ein noch junges, hohes Gut, das vielleicht im Zeitalter des „Zentralbankkapitalismus“72 und der existentiellen Auswirkung auf ausnahmslos alle – sogar global jenseits von Jurisdiktionsgrenzen – nicht minder wichtig ist als die richterliche Unabhängigkeit einer responsiven, typischerweise Einzelfälle ex post richtenden dritten Gewalt. f) OMT-Beschluss Gänzlich anderes findet sich hingegen im OMT-Beschluss: In diesem ist vor allem von „Souveränitätsrechten“ die Rede, deren „Abgabe“ (sic!) überprüft werden könne. „Abgabe“? So weit war nicht einmal der EuGH in der berühmten Entscheidung Van Gend & Loos gegangen, in der es heißt, dass „die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben.“73 Auch die Grundgesetz-Semantik der „Übertragung“ ist – da aktivisch und ein freies Entscheidungsmoment implizierend – deutlich positiver konnotiert. „Abgabe“ liegt dagegen schon semantisch nah bei dem negativen Begriff der Aufgabe. Weder das eine noch das andere ist mit Blick 69

Vgl. vertiefend Philipp Erbentraut, Volkssouveränität: Ein obsoletes Konzept?, 2009, der sich auf S. 65 ff. mit der Kritik von Martin Kriele und Peter Graf Kielmansegg auseinandersetzt. 70 BVerfGE 151, 202 (285, 301, 328). 71 BVerfGE 151, 202 (328). 72 Joscha Wullweber, Zentralbankkapitalismus, 2. Aufl. 2021. 73 EuGH, 05. 02. 1963, Rs. 26/62 – van Gend & Loos, S. 25.

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auf die Europäische Integration der Fall74 und passt auch sonst nicht in die Rechtsprechungslogik des Gerichts mit seiner „Brückentheorie“, „Rechtsanwendungsbefehlen“ und den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“. Auch von „Souveränitätsverletzungen“ ist in dem Urteil mehrfach die Rede. Verletzungen sind bekanntlich nicht nur nicht rechtfertigbar und damit rechtswidrig, sondern auch schmerzhaft. Auffälligerweise werden diese „Verletzungen von Souveränitätsrechten“ auch semantisch mit „kriegerischen“ und „nicht kriegerischen“ Akten in einen unmittelbaren Zusammenhang gestellt. Dass ausgerechnet die europäische Notenbankpolitik das BVerfG zu fast schon archaisch anmutenden Souveränitätsaussagen provozierte, erscheint insbesondere angesichts der gegenwärtig wahrhaft „kriegerischen Akten“ im Russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, die wahrhaft Souveränitätsrechte verletzen, schwer nachvollziehbar. Bemerkenswert ist schließlich, dass das BVerfG konstatiert, dass die Frage, „wie die Bundesrepublik Deutschland auf Souveränitätsverletzungen reagiert, […] im politischen Ermessen der zuständigen Verfassungsorgane, namentlich der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages“75 stehe. Man beachte: Das „wie“ steht im Ermessen. Das „wie“ steht auch im Vordergrund. Nachgeschoben wird zwar noch ein abstrakter Satz, zum „ob“ eines Völkerrechtsverstoßes, das aber sogleich über den Begriff „zunächst“ relativiert wird.76 So liegt mit Blick auf diese Karlsruher Europarechtsprechung die Paraphrase auf Carl Schmitts berühmtes Diktum77 nahe: Souverän ist, wer über den Integrationsprozess entscheidet: Die Karlsruher Richter. Der Souveränitätsbegriff kommt indes nicht nur in Bezug auf Europa im engeren Sinne, sondern auch mit Blick auf das weitere Europa respektive Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) prominent vor. g) Görgülü-Urteil Exemplarisch ist insbesondere das Görgülü-Urteil.78 In ihm beantwortet das BVerfG die „Gretchenfrage“79 nach Rang- und Wirkung der EMRK im deutschen

74 Vgl. dazu Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStrL 60 (2001), S. 149 ff.; ders., Der Europäische Verfassungsverbund, 2020. 75 BVerfGE 134, 366 (434). 76 BVerfGE 134, 366 (434). 77 Schmitt (Fn. 10), S. 11 („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“). 78 Die nachfolgenden Ausführungen sind eine verkürzte Darstellung der Analyse in Johann J. Vasel, Regionaler Menschenrechtsschutz als Emanzipationsprozess, 2017, S. 153 ff. 79 So Marten Breuer, Karlsruhe und die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit Strassburg?, NVwZ 2005, S. 412.

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Recht unter deutlichem Rekurs auf die staatliche Souveränität80. Umfassend erörterte das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob die Feststellungen und konkreten Vorgaben81 des EGMR für die deutsche Judikative bindend seien. Das BVerfG klassifizierte die EMRK als einfaches Bundesrecht, welches aufgrund von Art. 20 Abs. 3 GG zu beachten sei82. Ferner statuierte es eine Berücksichtigungspflicht der Konvention. Schließlich judizierte es, dass bei aller Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes „nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“83 verzichtet werden könne und eine vollständige „Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte“84 keinesfalls gewollt sei. Damit formulierte es einen unmissverständlichen „Souveränitätsvorbehalt gegenüber dem EGMR. Das „souveränitätstrunkene Insistieren“ auf dem letzten Wort ist irritierend85. Es zeugt von einer falsch verstandenen Souveränität86. Das Gericht geriert sich als (letztinstanzlicher) Garant von Staatlichkeit und (Volks-)Souveränität, bringt diese geradezu in Stellung gegen das Völkerrecht und die vertraglichen Pflichten aus der EMRK bzw. den EGMR87. Bei aller berechtigten Kritik an den (un-)dogmatischen Konstruktionen des BVerfG, sind dem Urteil gleichwohl auch völkerrechtsfreundliche Impulse zu entnehmen. Das gilt insbesondere für die zwar normhierarchisch verkehrte und terminologisch fragwürdige, aber im Ergebnis begrüßenswerte Auslegung des Grundgesetzes im Lichte der EMRK, wie auch für die eröffnete Möglichkeit, die Verletzung von Konventionsgarantien qua Verfassungsbeschwerde zu rügen88. Konkret vermag man darin die Kreation eines neuen „Grundrechts auf Berücksichtigung der Recht-

80 Hintergrund für die causa Görgülü bildet die bereits in der Sache Caroline von Hannover angelegte Rivalität der beiden Gerichte. Das BVerfG sah in der Korrektur seines dogmatisch filigranen Urteils durch den EGMR seine Deutungshoheit beschnitten und reagierte auf diesen Autoritäts- bzw. Autonomieverlust in der causa Görgülü. 81 Vorliegend hatte der EGMR aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Umgangsrecht des Beschwerdeführers abgeleitet. Die über die bloße Feststellung hinausgehenden, konkreten Vorgaben des Gerichts, um Konventionskonformität zu erreichen, entspringen einer jüngeren Praxis und stellen eine grundlegende Änderung des Konventionsrechts dar, Thilo Rensmann, Das „letzte Wort“ im Dialog zwischen Karlsruhe und Straßburg, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung: Ausgewählte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 3. Aufl. 2017, S. 730. 82 BVerfGE 111, 307 (322 ff.). 83 BVerfGE 111, 307 (319). 84 BVerfGE 111, 307 (319). 85 So kritisch, Rensmann (Fn. 81), S. 751. 86 So Hans-Joachim Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 683. 87 Cremer (Fn. 86), S. 688. 88 BVerfGE 111, 307 (329 f.).

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sprechung des EGMR“ erkennen89, abstrakt lässt sich das als eine kaschierte Souveränitätsrücknahme deuten. Insgesamt lässt sich das Verhältnis zwischen der souveränen Staatlichkeit Deutschlands und der EMRK deshalb nach Lesart des Görgülü-Urteils als osmotisch begreifen. Die souveräne Staatlichkeit ist danach durch eine semipermeable bzw. selektivpermeable Membran90 als eigenständiger Rechtskreis geschützt und ist somit Ausdruck eines dualistischen Völkerrechtsverständnisses91. Selektivpermeabel ist sie, da die Souveränität im letzten in der deutschen Verfassung liegt, der Rechtsanwendungsbefehl oder besser die „Rechtsanwendungsempfehlung“92 innerstaatlich gegeben wird und das Eindringen des Konventionsrechts verfassungsrechtlich und -gerichtlich begrenzt und kontrolliert wird93. Dem BVerfG kommt dadurch eine wahrhaft entscheidende Rolle zu. Die Parallelen zum Europarecht im engeren Sinne liegen auf der Hand. Im Ergebnis oszilliert das Urteil also zwischen völkerrechtsfreundlicher Öffnung deutscher Staatlichkeit einerseits und Beharrung auf absoluter Souveränität andererseits. h) Sicherungsverwahrung Einige der stark souveränitätsfixierten Aussagen des Görgülü-Beschlusses korrigierte bzw. kontrastierte das BVerfG später in seiner Entscheidung zum spezialpräventiven Strafinstrument der Sicherungsverwahrung94. Das Verfassungsgericht versucht ,die im Görgülü-Beschluss angelegten Jurisdiktionskonflikte durch einen Dialog der europäischen Gerichte zu überformen. Da Dialog und Diskurs eine gleichberechtigte, hierarchisch gleichgeordnete Position der Akteure voraussetzen, weicht die souveränitätsbegründete strenge Hierarchisierung und apodiktische Letztentscheidungsgewalt des BVerfG zunehmend einem prozesshaften, offenen und „herrschaftsfreien“ Diskurs. Abstrakt stärkt das BVerfG damit die normative Verbindlichkeit und Autorität des Konventionsrechts und spricht ihm im höheren Maße eine das nationale Verfassungsrecht bestimmende und prägende Kraft zu. Insofern mag es das Ende einer dekon-

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Breuer (Fn. 79), S. 412. Vgl. Mattias Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht: Verfassungsrechtliche Integrationsnormen auf Staats- und Unionsebene im Vergleich, 2011. 91 Grundlegend mit dem Sinnbild von zwei getrennten, sich niemals schneidenden, höchstens berührenden Kreisen Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 111. 92 Treffend Cremer (Fn. 86), S. 693. 93 Dirk Buschle spricht deshalb auch von einem neuen „Solange“: Ders., Ein neues „Solange“? –Die Rechtsprechung aus Karlsruhe und Straßburg im Konflikt, VBlBW 8 (2005), S. 293 ff. 94 BVerfGE 128, 326. 90

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struktiven Hierarchiefixierung95, der Rivalität gegenüber der Straßburger Menschenrechtsprechung und des souveränitätsbedingten Antagonismus von staatlichem Grund- und überstaatlichem Menschenrechtsschutz markieren.

VI. Ersetzbarkeit und Surrogate Schaut man sich die ambivalente Rolle der Souveränität in den ausgewählten Europajudikaten an, wird erstens deutlich, dass kein einheitlicher, fassbarer, dogmatisierter Rechtsbegriff der Souveränität vorliegt. Souveränität ist eher einem Chamäleon ähnelnde Chiffre. Zweitens ist erkennbar, dass das BVerfG zuweilen nach einer Semantik sucht, die Integration verlangsamen, steuern, kontrollieren und begrenzen soll. Das Bewahren- und Beharren-Vokabular zur Caveatisierung der Integration96 variiert dabei: Neben bzw. hinter dem Staat, der Verfassungsidentität97 oder dem Demokratieprinzip steht (auch) die (Volks-)Souveränität.98 Souveränität ist also nur ein staatsrechtlicher bzw. – theoretischer Großbegriff unter vielen – der allerdings zuletzt besonders bemüht worden ist. Erforderlich und unverzichtbar ist er funktional indes wohl nicht.

VII. Fazit: Unsouveräner Umgang mit Souveränität? Ist der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit Souveränität also unsouverän? Betrachtet man die rund einhundert computerlinguistisch identifizierten Fundstellen an, deutet einiges darauf hin: Er ist erstens unsouverän, weil keine eigenständige und einheitliche Entwicklung des Begriffes erfolgt ist, obgleich er sich durch die Rechtsprechung seit dem ersten Band der amtlichen Sammlung zieht. Mit den treffenden Worten von Rolf Grawert: Souveränität ist ein „normativ ungesicherter Begriff, der aus der Vergangenheit stammt, deskriptiv entstanden ist, aber Zukunft normativ rechtstechnisch subsumierbar gestalten soll“.99 Dafür wird eine „Aktualisierung, eine Um- und Neudeutung“100 erforderlich sein, die das BVerfG zwar zuweilen angefangen hat, die aber weder ausgearbeitet ist noch Konstanz beanspruchen kann. Der Umgang ist zweitens unsouverän, weil mitunter nicht nur ein sich wandelndes, sondern auch widersprüchliches Verständnis identifizierbar ist. Er ist drittens unsou95 Früh das „Oben/unten“-Schema der herkömmlichen Rechtsquellenhierarchie als wenig hilfreich kritisierend, Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 (266, 269). 96 Kulick/Vasel (Fn. 45), S. 152 ff. 97 Lando Kirchmair, Nationale Souveränität als Verfassungsidentität, DÖV 2021, S. 321. 98 Zum Verhältnis von Staat und Souveränität, Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1965. 99 Grawert (Fn. 37), S. 210. 100 Grawert (Fn. 37), S. 212.

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verän, weil in vielen Fällen der Rückgriff verzichtbar scheint oder sich der Begriff durch bereits dogmatisierte, konturenschärfere, Verfassung wie Verfassungsgericht angemessenere Prinzipien und Topoi ersetzen ließe. Er ist viertens unsouverän, weil Souveränität in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart primär aus unreflektierten Verlustängsten gegen den europäischen Integrationsprozess im engeren und weiteren Sinne in Stellung gebracht worden ist. So gilt Walter Hallsteins konzise Diagnose von 1968 offenbar auch ein halbes Jahrhundert später noch für einzelne Judikate: „Die Einschränkung der Souveränität stieß bei vereinzelten nationalen Kräften auf starke Ressentiments und wurde mit Gefühlsgründen bekämpft“.101 Diese „Rückgriffe auf vorverfassungsrechtliche Urgründe des souveränen Einheitsstaates erscheinen seltsam zeit- und weltenrückt“.102 Der europäische Integrationsprozess bedarf unzweifelhaft der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, Korrektur und Anregung, der Zuschneidung und Abgrenzung von Kompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten. Dazu bedarf es indes wahrlich nicht des Meta- und Megaprinzips „Souveränität“. Das ließe sich, um ein weiteres Mal Rolf Grawert zu zitieren, „nüchterner bewerkstelligen103“. Wird es dennoch bemüht, droht der „Hüter der Verfassung“104 zum Hüter einer eindimensionalen, unzeitgemäßen, weil negatorischen Souveränität als schirmendes Schild mit allein scheindemokratischer Radizierung zu werden. Mit einem solchen unsouveränen Hüter ist dem europäischen Deutschland nicht gedient.

VIII. Ausblick: Klügere Entwicklungsperspektiven Gustav Radbruch hat in seiner Rechtsphilosophie zutreffend festgestellt: „Der Ausleger kann das Gesetz besser verstehen, als es seine Schöpfer verstanden haben, das Gesetz kann klüger sein als seine Verfasser – es muss sogar klüger sein als seine Verfasser.“105 Oftmals hat das Bundesverfassungsgericht das kluge Grundgesetz noch klüger ausgelegt. Seine Rechtsprechungsleistungen und Verdienste sind fraglos eminent. In Sachen Souveränität – respektive Hoheitsrechte – hat es dessen Klugheit, so scheint es, bislang weitestgehend verkannt. So ist zu erwägen, den anfangs erwähnten Sterbeprozess nach Peter Sloterdijk nicht „quälend in die Länge ziehen“ – und auch keine Reanimation vornehmen. Souveränität kommt die Funktion zu, scharf zu teilen, zu trennen und abzusichern. Sie steht typischerweise für Dezision und Dichotomisierung, die auf den überstaatlich bedingten, interdependenten, kooperativen, in Europa eingewebten und Europa we101

Walter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat: Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, 1969, S. 249. 102 Grawert (Fn. 38), S. 212. 103 Grawert (Fn. 38), S. 212. 104 Zur Hüteridologie, Hans Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein, in: van Ooyen (Hrsg.), 2. Aufl. 2019. 105 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 207.

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benden Verfassungsstaat bzw. Verfassungsverbund106 von Grund an nicht recht passen will oder erst passend geformt werden muss. Wenn das Bundesverfassungsgericht an Souveränität dennoch festhalten will und nicht loslassen kann, sollte es zumindest versuchen zu einem souveränen Umgang mit dem Begriff zu finden – es von einer Chiffre zum Prinzip für die europäische Integrationsrechtsprechung zu entwickeln. Inspirierend mag insofern die UN-Charta als „Weltverfassung“107 wirken in der die „souveräne Gleichheit der Staaten“ in Art. 2 Nr. 1 zum – wenn auch nicht unangefochtenen – Grundprinzip avanciert.108 Der Idee und Funktion nach soll das Prinzip territoriale Integrität, Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit sichern. Souveräne Gleichheit verlangt wechselseitige, reziproke Achtung und Anerkennung, zeitigt so Frieden und verhindert zwischenstaatliche Konflikte. Der Idee nach. Weil diese, ihre eigentliche und wesentlich verbliebene Aufgabe im liberal world order nach dem Zweiten Weltkrieg Frieden zu gewähren, nur bedingt erfüllt ist, kann die Souveränität vielleicht auch nicht sterben. Es lohnt sich genauer in die Charta zu schauen: Die Formulierung der Souveränitätspassage auf der Gründungskonferenz im Juni 1946 in San Francisco ist mit Bedacht und klug gewählt worden: Souveränität ist erstens vom Substantiv zum Adjektiv herabgestuft worden. Diesen Schritt hat das BVerfG zuweilen auch vollzogen. Im Vordergrund steht die Gleichheit der Staaten, nicht ihre Souveränität. Souveränität kommt lediglich konsequentielle Bedeutung aus der wechselseitigen Gleichachtung zu. Zweitens ist sie lediglich (weiches) Prinzip, nicht (hartes) Recht. Souveränität ist demnach völkerrechtlich zwar ein wesentliches, konstitutives und konstruktives Prinzip, nicht zu verkennen ist aber die bewusste doppelte Relativierung und funktionale Verengung in der UN-Charta.109 Das in der Charta niedergelegte Verständnis von Souveränität ist jenem des Grundgesetzes nicht unähnlich, nach dem sich das Deutsche Volk als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ versteht, wie es in der Präambel heißt. Es passt auch zu den Äußerungen aus dem Maastricht-Urteil, dass Souveränität in Europa gemeinsam ausgeübt werde.110 Und auch im viel gescholtenen Lissabon-Urteil finden sich Anknüpfungspunkte, wenn Souveränität als „völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit“111 aufgefasst wird. Die in dieser Hinsicht vielleicht konstruktivsten Souveränitätsäußerungen finden sich in der Entscheidung zum spezial106

Dazu grundlegend, Pernice (Fn. 74). Bardo Fassbender, The United Nations Charter as Constitution of the International Community, 2009. 108 Dazu Bardo Fassbender, Die Souveränität des Staates als Autonomie im Rahmen der völkerrechtlichen Verfassung, in: FS Jayme, 2004, S. 1089 ff.; Bardo Fassbender, Die souveräne Gleichheit der Staaten – ein angefochtenes Grundprinzip des Völkerrechts, 2004. 109 Dazu Bardo Fassbender, Gleichheit der Staaten (Fn. 108), S. 14 ff.; Bardo Fassbender, FS Jayme (Fn. 108), S. 1093 ff. 110 BVerfGE 89, 155 (188 f.). 111 BVerfGE 123, 267 (346). 107

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präventiven Strafinstrument der Sicherungsverwahrung112, die einige der stark souveränitätsfixierten Aussagen des Görgülü-Beschlusses korrigierte bzw. kontrastierte. Aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes deduziert das Gericht ein solches Souveränitätsverständnis, „das einer Einbindung in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht nur nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet. Vor diesem Hintergrund steht auch das ,letzte Wort‘ der deutschen Verfassung einem internationalen und europäischen Dialog der Gerichte nicht entgegen, sondern ist dessen normative Grundlage“.113

Das BVerfG relativiert bzw. verkehrt hier sein Souveränitätsverständnis dahingehend, dass Souveränität als Grundlage, nicht als Grenze der überstaatlichen Integration zu erachten sei. Die Entfaltung und Dogmatisierung dieser zu erwartenden Souveränität könnte dem hochangesehenen und einflussreichem Gericht sicherlich maßstabsetzend und mustergültig gelingen. Dann würde es in Souveränitätsfragen vielleicht doch noch klüger als die Grundgesetzgeber.

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„In Vielfalt geeint“ – eine „Ode an die Quadratur des Kreises“* Von Andreas Voßkuhle

I. Der „große Baumeister“ Wir sind heute zusammengekommen, um an einen „großen Baumeister des werdenden Europas“ zu erinnern. So nannte Oberbürgermeister Albert Maas Alcide De Gasperi in seiner Rede zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen1 an den damaligen italienischen Ministerpräsidenten vor 70 Jahren. De Gasperi war der erste hochrangige Politiker, dem diese wohl bedeutendste Auszeichnung für Verdienste um die Europäische Integration verliehen wurde. Der allererste Preisträger war Graf Coudenhove-Kalergi gewesen, der bereits seit dem ersten Weltkrieg unablässig für ein einiges Europa gekämpft hatte, der zweite Hendrik Brugmanns, ein niederländischer Romanist, bekannt als Mitbegründer der wirkmächtigen „Union Europäischer Föderalisten“ und Gründungsrektor das Europakollegs in Brügge. Damals wie heute kann man sich kaum einen würdigeren und geeigneteren Preisträger vorstellen als De Gasperi, aus heutiger Sicht „eine der herausragendsten Persönlichkeiten Italiens im 20. Jahrhundert“2. Geboren 1881 in Pieve Tesino im italienischen Teil Tirols und geprägt durch seine Jugend im Vielvölkerstaat ÖsterreichUngarn und den Widerstand gegen den italienischen Faschismus, der ihm u. a. eine 16monatige Haftstrafe einbrachte, hatte er sich nach seiner Wahl zum italienischen Ministerpräsidenten nicht nur in den Anfangsjahren des Kalten Krieges für die Westintegration Italiens und seinen Beitritt zur Nato eingesetzt, sondern auch in vielen Verhandlungen und Gesprächen zusammen mit Robert Schumann, Jean Monnet und Konrad Adenauer den Weg zur Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) im Jahre 1951 maßgeblich mit geebnet.3 Die damit ver* Festvortrag aus Anlass der Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen an den ehemaligen Ministerpräsidenten der Italienischen Republik Alcide De Gasperi vor 70 Jahren (1952) in der Bocconi Universität am 16. Mai 2022. 1 https://www.karlspreis.de/de/preistraeger/alcide-de-gasperi-1952/rede-des-oberbuerger meisters-der-stadt-aachen. 2 Maurizio Cau, Alcide De Gasperi (1881 – 1954), in: Böttcher (Hrsg.), Klassiker des europäischen Denkens, 2014, S. 510. 3 Näher statt vieler G. Brunn, Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute, 4. Aufl. 2019, S. 51 ff. m. w. N.

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bundene diplomatische Leistung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: In den damaligen Worten von Oberbürgermeister Maas: „Es ist eine Sache, mit agitatorischer Kraft eine große Idee in den Völkern lebendig zu machen, es ist eine andere Sache, in zähem Ringen mit Kleinmut und Egoismen aller Art diese Idee ihrer Verwirklichung näher zu bringen. Und das ist, Exzellenz, Ihr geschichtlicher Verdienst!“

II. De Gasperi und Adenauer Aus deutscher Sicht zumindest ebenso wichtig war das Bemühen De Gasperis, das in jeder Beziehung völlig zerstörte und moralisch desavouierte Deutschland zurück in die europäische Völkergemeinschaft zu führen. Der wechselseitigen Einrichtung von Konsulaten folgten 1949 die Entsendung eines diplomatischen Vertreters Italiens nach Deutschland und zwei Jahre später der wechselseitige Austausch von Botschaftern.4 Zudem empfing De Gasperi seit 1949 mehrere Vertreter westdeutscher Landesregierungen, darunter Karl Arnold, den Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, sowie den bayerischen Wirtschaftsminister Hanns Seidel.5 Im Mai 1950 erklärte er gegenu¨ ber einer deutschen Zeitung, dass man auf italienischer Seite „mit viel Interesse und viel Sympathie die demokratische Wiedergeburt Deutschlands“ zur Kenntnis nehme.6 Zur Beförderung der gegenseitigen Kontakte wurde im selben Jahr zudem die „Deutsch-Italienische Gesellschaft“ ins Leben gerufen. An der personellen Zusammensetzung wird deutlich, dass „gerade die italienische Seite diese Organisation sehr ernst nahm: Im Ehrenkomitee saßen unter anderem der Bildungsminister Guido Gonella sowie Benedetto Croce neben weiteren Repräsentanten des diplomatischen Corps und der italienischen Bildungselite.“7 Die positive Entwicklung des Verhältnisses zwischen den beiden Ländern gipfelte sodann im symbolträchtigen Freundschaftsbesuch von Adenauer, der im Juni 1951 auf Einladung des italienischen Ministerpräsidenten in der Hauptstadt Rom stattfand. Erstmals seit Gru¨ ndung der Bundesrepublik im Jahre 1949 wurde ein deutscher Regierungschef von einer auswärtigen Nation empfangen. Eine Privataudienz Adenauers bei Papst Pius XII., der sich ebenfalls schon früh für Wiederaufnahme Deutschlands in die europäische Familie einsetzt hatte, rundete den großen diplomatischen Erfolg ab. Nach drei intensiven Tagen wieder daheim in Bonn gab Adenauer fast beseelt öffentlich zu Protokoll: „Wir waren wie die Studenten!“8. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist diese noble und für die weitere historische Entwicklung überaus bedeutsame Geste der Einladung der jungen italienischen Republik etwas überlagert durch die internen politischen Konflikte innerhalb Deutschlands über seine politische Neuausrichtung angesichts der Teilung. Deshalb darf ich heute 4

Vgl. „Italien macht den Anfang“, Allgemeine Zeitung v. 19. 7. 1949, S. 1. Vgl. Michael Voelkl, Das Deutschlandbild Alcide De Gasperis, 2004, S. 282. 6 Interview mit De Gasperi, Neue Zeitung vom 12. 5. 1950, S. 1. 7 Voelkl (Fn. 5), S. 283. 8 Vgl. „Wir waren wie die Studenten“ Adenauer und De Gasperi, FAZ v. 27. 6. 1951, S. 2. 5

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noch einmal als ehemaliger Vertreter eines Verfassungsorgans und Bürger der Bundesrepublik Deutschland die Gelegenheit nutzen, meine große Dankbarkeit für diesen großzügigen Vertrauensvorschuss zum Ausdruck zu bringen. Erleichtert hat die Annäherung zwischen De Gasperi und Adenauer sicher der gemeinsame Erfahrungshintergrund und die ähnliche weltanschauliche und politische Grundeinstellung: Beide waren überzeugte Katholiken9 und hatten sich in einem totalitären Umfeld als aufrechte Demokraten erwiesen. Beide führten neuformierte christdemokratische Parteien an. Beide einte der Kampf gegen den Kommunismus, der einher ging mit einer klaren Westausrichtung und dem unerschütterlichen Glauben an ein vereintes Europa mit christlicher Identität. In gewisser Weise fungierten der universalistisch ausgerichtete katholische Glaube und die Tradition der europäischen katholische Bewegung des späten 19. Jahrhunderts als Gegengift gegen den Nationalismus und als innerer Kompass beim moralischen Wiederaufbau des Kontinents.10 Das stieß nicht bei allen sechs Gründungsmitgliedern der Montanunion auf Begeisterung, passte aber in die Zeit. Auch der dritte einflussreiche Gründungsvater der Europäischen Union war ein bekennender Katholik: der Franzose Robert Schumann. Es dürfte insofern auch kein Zufall sein, dass just in diesem historischen Gründungsmoment der Europäischen Union Karl der Große als pater Europae und imaginäre Leitfigur wieder die Bühne betritt.11 Er hatte in der unter dem Zweiten Weltkrieg besonders gelittenen Grenzstadt Aachen seine Residenz gehabt, über ein Gebiet geherrscht, das ungefähr dem gemeinsamen Territorium der Montanunion entsprach, die Sachsen im Osten besiegt und sich im Jahr 800 als erster westeuropäischer Herrscher seit der Antike in Rom zum Kaiser krönen lassen. Vor allem aber hatte er die Christianisierung weiter vorangetrieben und die weltliche Macht des Papstes verteidigt.12 Da das frühmittelalterliche fränkische Reich sowohl Teil der deutschen als auch der französischen Geschichte ist, eignete sich Karl der Große zudem hervorragend als Symbol für die Versöhnung der zwei Erbfeinde.13 Was lag näher, als die Würdigung überragender Verdienste für den Einsatz für die Europäische Vereinigung mit dem Namen von Karl dem Großen zu verbinden?

9 Zur langen Tradition der europäischen katholischen Bewegung des späten 19. Jahrhunderts und ihrer Bedeutung für De Gasperi vgl. Cau (Fn. 2), S. 511 ff. m. w. N. 10 Vgl. L.van Middelaar, Vom Kontinent zur Union, 2016, S. 396 f. 11 Zu seiner bis heute umstrittenen Rolle als „Vater Europas“ vgl. statt vieler M. Kerner, Das Erbe Karls des Großen, in: Böttcher (Hrsg.), Klassiker des europäischen Denkens, 2014, S. 59 (67 ff.). 12 Näher statt vieler J. Fried, Karl der Große. Gewalt und Glaube, 2013. 13 Vgl. Middelaar (Fn. 10), S. 397 f.

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III. Das Motto der EU: In Vielfalt vereint Mit der Person von Karl dem Großen ist aber noch eine andere Idee verknüpft, die sich als vorbildgebend für die europäische Architektur erweisen sollte und die auch den Föderalisten Alcide De Gasperi leitete: „Unita nella diversità“ – „In Vielfalt geeint“. Ursprünglich als „Leitspruch der Union“ sogar ausdrücklich in Art. I-8 des mangels Ratifikation nicht in Kraft getretenen Vertrages für eine Verfassung für Europa (2004) als eines von fünf identitätsstiftenden Symbolen verankert, handelt es sich seit dem Jahre 2000 um das amtliche „Motto der EU“14. Es wurde im Zuge eines Wettbewerbs ausgewählt, an dem sich Schüler aus den damals 15 Mitgliedstaaten beteiligt hatten.15 Kritiker halten diese Formulierung für „verfassungspolitisch und ästhetisch mißlungen“ und weisen darauf hin, dass sie im Europa der Europäischen Union keine Tradition besitzt.16 Das mag aus linguistischer Sicht richtig sein, der Sache nach lässt sich das mit ihr zum Ausdruck gebrachte Grundkonzept aber bis auf Karl den Großen zurückführen.17 Und nicht von ungefähr fehlt es auch nicht an Bezugnahmen in politischen und akademischen Zusammenhängen. Ich habe das Motto als Überschrift für meine heutige Festansprache gewählt, weil ich nach der Beschäftigung mit der Biographie von Alcide De Gasperi den Eindruck gewonnen habe, dass ihn tatsächlich zwei starke Grundüberzeugungen leiteten: die durch seine Zeit als Mitglied des österreichischen Parlaments und des Tiroler Landtags an der Trentiner Nationalfrage geschulte Erkenntnis, das kulturelle Identität und demokratische Selbstbestimmung zusammengehören, und der Glaube an einen engen europäischen Verbund, der zwar – wie es der italienische Historiker Maurizio Cau formuliert – „die staatliche Dimension aufrechterhalten, gleichzeitig aber auch die Freiheit der Individuen, die Selbstverwaltung der Nationen, die Entwicklung der Zivilgesellschaft und den Schutz der internationalen Friedensordnung sicherstellen sollte“.18 Wie steht es vor diesem Hintergrund aktuell um die Direktionskraft europäischen Leitsatzes „In Vielfalt vereint“? Auf diese grundsätzliche Frage lässt sich nur schwer eine angemessene Antwort geben, zumal im zeitlich begrenzten Rahmen einer solchen Festveranstaltung. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen, mit Ihnen fünf Beobachtungen zu teilen: 14

Vgl. https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/symbols/eu-motto_de. Näher dazu J.-M. Favret, L’Union européenne: „l’unité dans la diversité“, RTDE 39 (2003), S. 657 ff. 16 So M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-8, Rn. 12. Krit. auch z. B. F. Mayer/J. Palmowski, European Identities and the EU – The Ties that Bind the People of Europe, JCMS 42 (2004), S. 573 (578); A. v. Bogdandy, Europäische Verfassung und Europäische Identität, JZ 2004, S. 53 (59); K. Körner, Identitätsstiftung durch den Europäischen Verfassungsvertrag, 2009, S. 334. 17 So M. Kerner (Fn. 11), S. 68. Zust. U. Schliesky, Regionen/Länder: Regionale Wege zur Nutzung eines ungenutzten Potentials, in: Kirchhof/Keller/Schmidt (Hrsg.), Europa: In Vielfalt geeint, 2020, S. 185 m. w. N. 18 M. Cau (Fn. 2), S. 515. 15

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1. Zunächst einmal können wir konstatieren, dass die Grundidee einer föderalen Struktur19, wie sie in dem Leitspruch „In Vielfalt vereint“ zum Ausdruck kommt, trotz mancher Kritik und der fehlenden ausdrücklichen Verankerung im EU-Vertrag weiterhin von einem breiten Konsens getragen ist. So stellte der Präsident des Europäischen Gerichtshof, Koen Lenaerts, in einem Vortrag zum Abschluss des 19. Österreichischen Juristentages am 9. Mai 2015 fest: „Einerseits sind wir Europäer sehr verschieden. Wir alle kommen aus Mitgliedstaaten, die – jeder für sich – eine starke gewachsene Identität aufweisen. Wir sprechen unterschiedliche Sprachen, haben verschiedenartige Kulturen und über die Jahrhunderte haben wir unterschiedliche Traditionen entwickelt. Zur Wahrung dieser Vielfalt ist die Europäische Union verpflichtet. … Auf der anderen Seite kann und soll der Schutz dieser Vielfalt nicht uneingeschränkt verfolgt werden, wenn das Projekt der europäischen Integration Erfolg haben soll. (…) Bei allen Differenzen besteht Einigkeit, dass die EU auf fundamentalen und unteilbaren Werten der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Solidarität aufbaut. Gleiches gilt für die Grundprinzipien der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. … Weder Einheitlichkeit noch Vielfalt können (…) absolute Geltung beanspruchen. Beide Aspekte muss die Europäische Union fortlaufend berücksichtigen, da keiner von beiden für sich genommen zur Sicherung des Integrationsprojekts ausreicht.“20 Die in diesen Worten enthaltene „Ode an die Quadratur des Kreises“21 begleitet die Auseinandersetzungen über das europäische Projekt seit ihren Anfängen. Während das Ziel der Harmonisierung das europäische Vertragswerk an vielen Stellen prägt und durchwirkt, finden sich normative Anhaltspunkte für den Schutz der Vielfalt nur vereinzelt. Sie sind aber durchaus prägnant. Bereits in der Präambel des Unionsvertrages wird in Absatz 6 der Wunsch formuliert, „die Solidarität zwischen den Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken“. Ferner heißt es in Absatz 13, dass eine „immer engere Union der Völker“ angestrebt werde. Mit dieser Bezugnahme auf die „Völker Europas“ wird zugleich anerkannt, dass nationale Unterschiede (weiter-)bestehen sollen.22 19

Das Wort „Föderalismus“ taucht in den Verträgen und im früheren Verfassungsentwurf angesichts unterschiedlicher Bedeutungen des Begriffs „föderal“ oder „federal“ in den Mitgliedsstaaten nicht auf, es besteht aber kein Zweifel, dass die EU ein föderales Gebilde ist, vgl. nur A. Epiney, Föderalismus in der EU – einige Überlegungen auf der Grundlage des Vertragsentwurfs, in: Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der europäischen Union, 2006, S. 47 (48 f.) m. w. N. sowie A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 179 ff. A. v. Bogdandy spricht von einem „supranationalen Föderalismus“, vgl. ders., Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 61 ff. 20 K. Lenaerts, In Vielfalt geeint/Grundrechte als Basis des europäischen Integrationsprozesses, EuGRZ 42 (2015), S. 353. 21 W. Schmale, Geschichte und Zukunft der europäischen Identität, 2008, S. 19. 22 So zutreffend A. Haratsch, Nationale Identität aus europarechtlicher Sicht, EuR 51 (2016), S. 131 (132).

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Art. 3 Abs. 3 UAbs. 4 EUV stellt fest, dass die Union den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt wahrt und für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas sorgt. Gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV achtet die Union die jeweilige nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Auch die Bestimmungen über die Bildungs- und Kulturpolitik der Europäischen Union geben ihr die Wahrung der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen auf (vgl. Art. 165 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV, Art. 167 Abs. 4 AEUV). Entsprechendes ergibt sich aus der Präambel und Art. 22 der Europäischen Grundrechte-Charta. Schließlich wird man auch den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 GG) und den Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 GG) zu den vielfaltssichernden Grundsatznormen zählen müssen.23 2. Wie in fast jedem föderalen Gebilde24 sind auch in der Europäischen Union die unitarischen Kräfte stärker als die zentrifugalen.25 Das ist meine zweite Beobachtung. Blickt man zurück auf die einzelnen Entwicklungsetappen der europäischen Integration in den letzten 70 Jahren, dann folgen sie der Logik der politischen Einheitsbildung, die in Europa eine lange Tradition hat und sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt (Einheit der Kirche, Universalmonarchie des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, Einheit der National-Monarchien).26 Die Dominanz unitarischer Kräfte ist durchaus verständlich, denn die historisch gewachsene Vielfalt Europas bereitete in der Vergangenheit eher Probleme. Nicht zuletzt bildete sie den Humus, auf dem gegenseitige Ressentiments und Feindschaften zwischen den Staaten offensichtlich gut gedeihen konnten. Das eigentlich Neue, das Revolutionäre der europäischen Integrationsidee ist deshalb der Verzicht auf Teilbereiche nationaler Souveränität zugunsten einer gemeinsamen supranationalen Organisation, deren Kompetenzen durch Änderungen der europäischen Verträge über die Jahre stetig ausgeweitet wurden. Im Ergebnis 23 Vgl. G. Kirchhof/R. Schmidt/H. Kube/A. Rödder/F.-C. Zeitler, Europa: In Vielfalt geeint!, in: Kirchhof/Keller/Schmidt (Hrsg.), Europa: In Vielfalt geeint, 2020, S. 503 (512 f.): „Grundprinzipien der rechtlichen Architektur Europas“. 24 Zu den allgemeinen Zentralisierungstendenzen in föderalen Systemen vgl. aus der Literatur nur stellvertretend G. Lehmbruch, Der unitarische Bundesstaat in Deutschland, in: ders./Benz (Hrsg.), Föderalismus. PVS Sonderheft 32, 2002, S. 53 ff.; D. Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat, 2012, S. 82; P. M. Huber, Der ungeliebte Bundesstaat, NVwZ 2019, S. 665 ff. Zu dem in den 1970er Jahren etablierten „Verflechtungsbegriff“ grundlegend F. W. Scharpf/B. Reissert/F. Schnabel, Politikverflechtung, 1976, S. 28 ff.; zusammenfassend: F. W. Scharpf, Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994, S. 15 ff. 25 Das gilt selbst für die Sprachenvielfalt, die angesichts der Dominanz des Englischen zu verschwinden droht, vgl. B. Forchtner/K. Eder, Europa erzählen: Strukturen Europäischer Identität, in: Hentges/Nottbohm/Platzer (Hrsg.), Europäische Identität in der Krise?, 2017, S. 79 (87). Optimistischer G. Haßler, Die Vielfalt der Sprachen in Europa und ihre Zukunft, in: Holtmann/Riemer (Hrsg.), Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung, 2001, S. 45 ff. 26 Eindrücklich statt vieler Schmale (Fn. 21), S. 20 ff.

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soll die Europäische Union als eine „politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Gemeinschaft entstehen, die sich innenpolitisch immer stärker harmonisiert und außenpolitisch als geschlossenes Subjekt auftritt“.27 Folgerichtig konstatiert Koen Lenaerts: „Pflege und Fortentwicklung des europäischen Gedankens machen es erforderlich, dass die verbindenden Elemente stärker bleiben als die trennenden.“28 Das strikte Vorrangdenken des EuGH ist eine Konsequenz dieser Haltung.29 3. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, so meine dritte Beobachtung, dass viele überzeugte Europäer in dem Versprechen, Vielfalt zu wahren und zu fördern, bis heute in erster Linie eine rhetorische Floskel zur Beruhigung der Mitgliedstaaten und ihrer Bevölkerung sehen.30 Sie soll den Unionsbürgerinnen und -bürgern die Sorge vor weiteren Souveränitätsverlusten nehmen. Gleichzeitig soll der Weg geebnet werden für differenzierte Integrationsstrukturen. Gerade in Krisensituationen erwies sich nämlich der Ansatz, in kleineren Verbünden der Willigen voranzuschreiten (Beispiele: Montanunion, Schengen-Abkommen, Euro-System) als erfolgreiche Möglichkeit, den Anpassungsdruck für die Mitgliedstaaten zu verringern, ohne den Integrationsgedanken als solchen aus dem Blick zu verlieren.31 Dasselbe gilt für neue Formen der Zusammenarbeit.32 Der strukturelle Konflikt zwischen Gemeinschaftsbildung und Heterogenität ließ sich auf diese Weise zwar nicht aus der Welt schaffen, wurde aber zumindest abgemildert.33 4. Dieses strategische Verständnis des Versprechens der Vielfaltssicherung hat bei denjenigen, die an das europäische Motto „In Vielfalt vereint“ ernsthaft geglaubt haben, zu einer gewissen Ernüchterung geführt. Damit bin ich bei meiner vierten Beobachtung. Wer mit der Gewährleistung von Vielfalt inspiriert durch die klassische Föderalismustheorie klare inhaltliche Anliegen verbindet wie Bürger- und Sachnähe, Verhinderung von Machtkonzentration, Identitäts- und Minderheiten27 So A. Riedeberger, Die EU zwischen einheitlicher und differenzierter Integration, 2015, S. 307. 28 Lenaerts (Fn. 20), S. 353. 29 Vgl. nur U. Haltern, Wirkliche Widersprüche und die Methode, wodurch sie sich lösen, AöR 146 (2021), S. 195 (220 ff.). 30 Beispielhaft die Beiträge in: P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint, 2009. Außer im Titel und im Vorwort kommt der Gedanke der Vielfalt nur als Negativfolie vor. Teilweise wird der Leitspruch „In Vielfalt geeint“ sogar abgelehnt, weil er das Trennende zu sehr betont, so z. B. Körner (Fn. 16), S. 334. 31 Eingehende empirische Analyse bei Riedeberger (Fn. 27), 2015, S. 18 ff., 307 ff. 32 Vgl. D. Thym, „United in Diversity“ – The Integration of Enhanced Cooperation into the European Constitutional Order, German Law Journal 6 (2005), S. 1731 ff. 33 Vgl. auch M. Rossi, Recht in der Europäischen Union – Geregelte Änderbarkeit des Rechts als Erfordernis demokratischer Rechtsstaatlichkeit, in: Kirchhof/Keller/Schmidt (Hrsg.), Europa: In Vielfalt geeint, 2020, S. 449 (474 f.): „Gestuft Integration als Ausdruck der Einheit in Vielfalt“.

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schutz, abgestufte Konfliktbereinigungsmechanismen, Traditionssicherung, Innovationsförderung oder Stärkung der Peripherie34, der möchte diese Anliegen auch tatsächlich dauerhaft verwirklicht sehen. Mehren sich die Anzeichen, dass das nicht immer der Fall ist und das Postulat von Vielfalt eher als „façon de parler“, als rituelle Begleitmusik zu weiteren Integrationsschritten begriffen werden muss, sehen die betroffenen Bürgerinnen und Bürger irgendwann die Geschäftsgrundlage der europäischen Integration in Frage gestellt. Manche grundsätzliche Kritik an der europäischen Integration in den letzten Jahren hat hier offensichtlich ihre Ursache.35 Nun ist es sicherlich sehr schwierig, im Einzelfall jeweils zu beurteilen, ob eine Harmonisierungsmaßnahme aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Europäischen Union zwingend notwendig ist oder vielfältige Regelungen hier nebeneinander hätten bestehen bleiben können. Und man wird trotz des erreichten Standes der Integration innerhalb der Union nicht bestreiten können, dass die Heterogenität der Mitgliedsstaaten immer noch gewaltig ist.36 Gleichwohl erscheint es mir außerordentlich wichtig, dass nicht der nachhaltige Eindruck entsteht, jenseits des regionalen Schutzes von Schinkenspezialitäten und Käsesorten und der Subvention regionaler Gedenk- und Kulturstätten handele es sich bei dem europäischen Vielfaltsversprechen lediglich ein hübsches europäisches Wohlfühl-Narrativ. Ansonsten wird das Ziel „einer immer engeren Union“ schnell als Einbahnstraße in einen Einheitsstaat missverstanden, eine Vision von Europa, die kaum auf viel Gegenliebe in der Bevölkerung stoßen dürfte. Vielfalt ist zentraler Bestandteil der europäischen Identität.37 5. Als ein wichtiger Lackmustest für die Belastbarkeit des Vielfaltsverprechens könnte sich der Umgang mit der Identitätsgarantie in Art. 4 Abs. 2 EUV erweisen.38 Mit dieser letzten Beobachtung möchte ich schließen. Was bedeutet es in der Praxis, wenn es dort heißt: „Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich 34 Vgl. statt vieler R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, § 38; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 660 ff. 35 Vgl. statt vieler die kritische und materialreiche Bestandsaufnahme bei Kirchhof Schmidt/Kube/Rödder/Zeitler (Fn. 23), S. 503 ff. m. w. N. 36 Vgl. nur den Überblick bei K.-J. Burkard, Europäische Integration. Strukturen, Prozesse, Probleme und Perspektiven der EU, 2021, S. 83 ff. m. w. N. 37 Vgl. auch J. Limbach, Die kulturellen Werte Europas, Eckert. Das Bulletin 2012, S. 12 (15): „Es mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, dass sich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit auf kulturelle Vielfalt gründen sollte. Wer sollte die Sprengkraft leugnen, die aus kultureller Verschiedenheit resultiert? Eingedenk der Tatsache, dass kulturelle Vielfalt zugleich Quelle von Reichtum, aber auch von Spannungen ist, sollten wir versuchen, die positiven Auswirkungen zu verstärken. Denn eine bewusst gelebt kulturelle Vielfalt kann als mächtiges Gegengift gegen nationalistisch übersteigerte Identitäten wirken, die wiederholt zu zerstörerischen Kriegen geführt haben.“ 38 Ein anderer Lackmustext wäre der Grundrechtsschutz in Europa, zum Problem vgl. nur J. Masing, Einheit und Vielfalt des Europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, S. 477 ff.

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der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“ Im Mittelpunkt der intensiven wissenschaftlichen Diskussion über die Bedeutung und den Inhalt dieser zentralen Norm39, die ich hier nicht weiter ausbreiten kann, steht die Frage, inwieweit der EuGH, dem die einheitliche Auslegung des Unionsrechts an sich obliegt, auch abschließend entscheiden kann, was jeweils zur nationalen Verfassungsidentität zählt. Seine eigene Rechtsprechung zu diesem Thema ist bisher noch uneinheitlich. Im Ausgangspunkt beansprucht der EUGH zwar eine umfassende Kontrollkompetenz40, es fehlt aber auch nicht an Entscheidungen, die den nationalen Akteuren bei der Bestimmung der Verfassungsidentität eine Art Beurteilungsspielraum einräumen.41 Beispielhaft sei hier auf die Entscheidung Omega42 und das Taricco II- Urteil43 hingewiesen. Der dort eingeschlagene Weg scheint mir auch der richtige zu sein: Die nationale Verfassungsidentität ist eingebunden in den europäischen Werterahmen (Art. 2 EUV). Sie kann nur arbeitsteilig im gemeinsamen Dialog konkretisiert werden.44 Auch die nationalen Verfassungsgerichte haben diesen Umstand zu berücksichtigen.45 Ziel muss es sein, den im Kern unlösbaren Konflikt zwischen Achtung der nationalen Identität und der einheitlichen Geltung des Unionsrechts durch „prozedurale Solidarität im Hinblick auf das Gesamtsystem, vermittelt über die Unionstreue gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV, so weit wie möglich zu reduzieren“.46 Eine wichtige Rolle kommt insoweit dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV zu, es sind

39 Vgl. nur den aktuellen Überblick bei C. Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4, Rn. 19 ff. m. w. N., sowie M. Goldhammer, Die Achtung der nationalen Identität durch die Europäische Union: Theorie und Praxis des Art. 4 Abs. 2 EUV im Lichte erster Entscheidungen, JöR 63 (2015), S. 105 ff.; T. Wischmeyer, Nationale Verfassungsidentität. Schutzgehalte, Instrumente, Perspektiven, AöR 140 (2015), S. 416 ff.; A. Schnettger, Verbundidenität, 2020. 40 Vgl. EuGH, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C2013:107, Rn. 59 – Meloni; EuGH, Rs. 416/10, ECLI:EU:C:2013:8, Rn. 70 – Krizan. Grundlegend EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 3 – Internationale Handelsgesellschaft. 41 Vgl. die Analyse bei C. Walter/M. Vordermayer, Verfassungsidentität als Instrument richterlicher Selbstbeschränkung in transnationalen Integrationsprozessen, JöR 63 (2015), S. 129 ff. 42 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 30 – Omega. 43 EuGH, Rs. C-42/17, ELCI:EU:C:2017:936 – Tarricco II. Vgl. dazu F. Fabbrini/ O. Pollicino, Constitutional Identity in Italy, in: Callies/van der Schyff (Hrsg.), Constitutional Identity in a Europe of Multilevel Constitutionalism, 2020, S. 201 (214 ff.). 44 Zu den daraus resultierenden „Kommunikationspflichten“ statt vieler A. Schnettger (Fn.39), S. 371 ff. 45 Zur Identitätskontrolle durch die nationalen Verfassungsgerichte vgl. die Länderberichte in: Callies/van der Schyff (Hrsg.), Constitutional Identity Identity in a Europe of Multilevel Constitutionalism, 2020. Speziell zur Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht vgl. A. Voßkuhle, Kommentierung zu Art. 93 GG, in: Huber, Peter M./Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), GG, Bd. III, 8. Aufl. 2023 i. E. 46 So C. Calliess (Fn. 39), Art. 4, Rn. 73.

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aber auch andere Formen des Austausches und der Koordination denkbar.47 Je besser es gelingt, den komplexen und nie ganz abgeschlossenen dialektischen Prozess aus Einheitsbildung und Vielfaltssicherung48 in Alltagsroutinen zu überführen, ohne eine Seite aus den Augen zu verlieren, desto stabiler und kraftvoller wird unser gemeinsames Europa sein. Feinsinnige Brückenbauer und Visionäre wie Alcide De Gasperi erinnern uns immer wieder daran.

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Vgl. etwa die indirekte Drohung in BVerfGE 140, 317 – Identitätskontrolle I, auf die der EuGH wenige Monate später mit einer grundsätzlichen Änderung seiner Rspr. zum gegenseitigen Vertrauen im Rahmen des europäischen Haftbefehlsverfahren reagierte, vgl. EuGH, verb. Rs. C-404/15 u. C-659/15, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi u. Ca¯lda¯raru und dazu die instruktive Rekonstruktion bei U. Haltern (Fn. 29), S. 201 ff. Ein überzeugendes Verwaltungsmodell zur Verbindung von Einheit und Vielfalt z. B. bei A.-K. Kaufhold, Einheit in Vielfalt durch umgekehrten Vollzug, JöR n.F. 66 (2018), S. 85 ff. 48 Siehe auch Haratsch (Fn. 22), S. 143 f.: „Die fortdauernde Suche nach einem Ausgleich zwischen Gemeinschaft und Individualität, zwischen supranationalem Miteinander und nationalem Nebeneinander ist ein wesentliches Charakteristikum des europäischen Einigungsprozesses, ein Merkmal der europäischen Identität.“

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der Krise? Europäische Identitätsforschung und Rechtspopulismusforschung im Dialog, 2017, S. 79 – 100. Fried, Johannes, Karl der Große. Gewalt und Glaube, 2013. Goldhammer, Michael, Die Achtung der nationalen Identität durch die Europäische Union: Theorie und Praxis des Art. 4 Abs. 2 EUV im Lichte erster Entscheidungen, JöR 63 (2015), S. 105 – 127. Haltern, Ulrich, Wirkliche Widersprüche und die Methode, wodurch sie sich lösen, AöR 146 (2021), S. 195 – 252. Hanschel, Dirk, Konfliktlösung im Bundesstaat. Die Lösung föderaler Kompetenz-, Finanzund Territorialkonflikte in Deutschland, den USA und der Schweiz, 2012. Haratsch, Andreas, Nationale Identität aus europarechtlicher Sicht, EuR 51 (2016), S. 131 – 146. Haßler, Gerda, Die Vielfalt der Sprachen in Europa und ihre Zukunft, in: Holtmann, Dieter/Riemer, Peter (Hrsg.), Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung, 2001, S. 45 – 70. Huber, Peter M., Der ungeliebte Bundesstaat, NVwZ 2019, S. 665-672. Interview mit De Gasperi, Neue Zeitung, 12. 5. 1950, S. 1. „Italien macht den Anfang“, Allgemeine Zeitung v. 19. 7. 1949, S.1. Kaufhold, Ann-Katrin, Einheit in Vielfalt durch umgekehrten Vollzug? Zur Anwendung mitgliedstaatlichen Rechts durch europäische Institutionen, JöR n.F. 66 (2018), S. 85 – 110. Kerner, Max, Das Erbe Karls des Großen, in: Böttcher, Winfried (Hrsg.), Klassiker des europäischen Denkens. Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte, 2014, S. 59 – 74. Kirchhof, Gregor et al., Europa: In Vielfalt geeint!, in: Kirchhof, Gregor/Keller, Mario/Schmidt, Reiner (Hrsg.), Europa: In Vielfalt geeint. 30 Perspektiven zur Rettung Europas vor sich selbst, 2020 S. 503 – 519. Körner, Katharina, Identitätsstiftung durch den Europäischen Verfassungsvertrag, 2009. Lehmbruch, Gerhard, Der unitarische Bundesstaat in Deutschland, in: ders./Benz, Arthur (Hrsg.), Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive PVS Sonderheft 32, 2002, S. 53-110. Lenaerts, Koen, In Vielfalt geeint/Grundrechte als Basis des europäischen Integrationsprozesses, EuGRZ 42 (2015), 353 – 361. Limbach, Jutta, Die kulturellen Werte Europas, Eckert. Das Bulletin 2012, S. 12 – 17. Masing, Johannes, Einheit und Vielfalt des Europäischen Grundrechtsschutzes, JZ 2015, S. 477 – 487. Mayer, Franz/Palmowski, Jan, European Identities and the EU – The Ties that Bind the People of Europe, JCMS 42 (2004), S. 573 – 598. Middelaar, Luuk van, Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa, 2016. Müller-Graff, Peter-Christian (Hrsg.), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint, 2009.

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II. Perspektiven des Staats- und Souveränitätsbegriffs

Staatenverbund und Desintegration Von Eva Marlene Hausteiner Der Souveränitätsbegriff ist trotz seiner semantischen Flexibilität ideengeschichtlich mit zwei Grundfragen des Politischen verbunden: Ist erstens Macht im Sinne von Verfügungs- und Entscheidungsgewalt (potestas) zentralisiert und hierarchisiert? Ist zweitens die klar umgrenzte Selbstbestimmung in der politischen Ordnung als NichtEinmischung sowie als demokratisch legitime Selbstbestimmung gewährleistet? In beiderlei Hinsicht ist die Figur der Souveränität, die ursprünglich einem feudal-monarchischen Argumentationszusammenhang entstammt, nur unter Schwierigkeiten auf strukturell plurale Ordnungsgefüge anzuwenden, die nicht dem prototypischen Fall des zentralisierten Staates entsprechen. Die Herstellung von Kongruenz unterschiedlicher Arten von Grenzen – territorial, politisch, ökonomisch, sozial – und die Zentralisierung von Macht sind mit der Souveränitätsidee eng verknüpfte Anliegen, die aber mit dem Pluralitätsimperativ kollidieren. Ideengeschichtlich sind Vorstellungen von Souveränität gerade dann aufschlussreich, wenn sie aufgrund der territorialen oder institutionellen Komplexität oder des Pluralismus der politischen Ordnung umkämpft sind; wenn also Konflikte entstehen, für die Deutungseliten Lösungen finden müssen – politischer und rechtlicher Art, aber auch durch den Entwurf alternativer Konzeptionen, z. B. von Machtzentralisierung und Vorherrschaft. Ein kanonisches Beispiel für einen derartigen Lösungsversuch in einer Konstellation umkämpfter Macht- und Kompetenzzuschreibungen und entsprechende Folgen für damit verbundene Souveränitätsvorstellungen sind die konfliktiven Ratifizierungsdebatten um die US-Verfassung. Einerseits wurde in den späten 1780er Jahren debattiert, ob Kompetenzen und Legitimation zentralisiert werden sollen. Alexander Hamilton etwa wendet sich in einer Reihe von ihm verfassten Federalist-Artikeln wiederholt gegen die Auffassung, ein Konglomerat von „independent, unconnected sovereignties“1 sei dem Frieden oder der Verteidigung zuträglich; mehr noch, er assoziiert die innere Souveränität mit monarchischen und imperialen Ordnungen. Dennoch ist die von ihm verteidigte US-Verfassung nicht als souveränitätsfreier Raum konzipiert – vielmehr sprechen die Federalist-Autoren von „geteilter Souveränität“– also von einer Volkssouveränität, die theoretisch als Ganzes besteht, aber zwischen den Ebenen geteilt ist: 1 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, The Federalist Papers, 2014, Fed. No. 6, S. 21.

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„The proposed Constitution, so far from implying an abolition of the State governments, makes them constituent parts of the national sovereignty, by allowing them a direct representation in the Senate, and leaves in their possession certain exclusive and very important portions of sovereign power,“

wie Hamilton schreibt – und dann fortfährt: „This fully corresponds, in every rational import of the terms, with the idea of a federal government.“2

Die Spannung zwischen einer rechtlich-kompetenzorientierten (gemäß der Frage nach verfassungsmäßig verbürgten Kompetenzen) und einer legitimatorisch-politischen Souveränitätsvorstellung (gemäß der Frage nach der demokratischen Entscheidungsgewalt und Selbstbestimmung) wird bei den Verteidigern der Verfassung als Spannung zwischen powers und the people konzipiert. Einerseits bezeichnen die in der US-Verfassung aufgeführten enumerated powers alle Befugnisse der Bundesebene, deren Kompetenzen damit bereits ausgeschöpft sind; alle anderen liegen bei den Bundesstaaten. Andererseits liegt die demokratische Selbstbestimmungsbefugnis eindeutig bei the people – das allerdings selbst plural und überdies in Gliedstaaten unterteilt ist. Die Volkssouveränität liegt also im föderalen Staat beim Gesamtvolk, ist aber aufgrund eines föderal aufgeteilten Kompetenzkataloges teilweise in den states verortet. Hier erweist sich ein wiederkehrender Deutungskonflikt um den Föderalismus und, breiter verstanden, das Mehrebenenregieren: Liegt die Volkssouveränität beim Gesamtdemos, stellt sich gleichzeitig die Frage, ob komplementär gliedstaatliche demoi existieren, bei denen eine Art „Völker-Souveränität“ liegt – oder ob die Tatsache, dass etwa in der US-Verfassung diverse Befugnisse bei den Gliedstaaten verbleiben, nur ein Hinweis auf eine in der Praxis anteilig ausgeübte, aber dennoch nur beim Gesamtdemos liegende Volkssouveränität im Singular ist. Seit dem Bürgerkrieg scheint allerdings geklärt, dass die gliedstaatlichen the peoples im Plural selbst nicht in einem substantiellen Sinne in Bezug auf ihren Einzelstaat als Einzelvölker souverän sind, aber einen Teil der Bundes-Volkssouveränität ausmachen. Diese Spannung zwischen rechtlichen Kompetenzen und Volks- bzw. sogar Völker-Souveränität lässt sich nicht durch die rhetorische Figur der geteilten Souveränität im Föderalismus auflösen: Befugnisse und Kompetenzen können wie im USamerikanischen Fall ver- und geteilt werden, doch für Volkssouveränität trifft dies nicht ohne Weiteres zu; sie kann lediglich als auf verschiedenen Wegen legitim konstituiert angesehen werden.3 Diese Dynamik ist notorisch umkämpft: Da Volks- und Völkersouveränität nicht einfach als zusammensetzbare Teile eines Ganzen zu sehen sind, ist gerade in pluralistischen und Mehrebenensystemen ihr Zusammenwirken 2

Hamilton/Madison/Jay (Fn. 1), Fed. 9, S. 40. Jürgen Habermas hat, aufbauend auf einer Begrifflichkeit der Rechtstheoretikerin Anne Peters, versucht, diesen Modus über die Legitimationsfigur des pouvoir constituant mixte zu konzeptualisieren. Siehe Jürgen Habermas, Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts. Ein Essay zur Verfassung Europas, in: ders., Zur Verfassung Europas, 2011, S. 39 – 98. 3

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immer Deutungsfrage. Die seit 230 Jahren nicht versiegenden Debatten um den USFöderalismus zeigen, dass trotz aller theoretischen Kunstfertigkeit und ausgeklügelten Institutionendesigns der Federalists die Souveränitätsfrage kaum beizulegen ist.4 Dieses Problem ist für die Debatten über das Wesen der EU von besonderer Bedeutung und auch hier durch terminologische Interventionen – also die Einführung neuer Bezeichnungen wie Staatenverbund, die einen stabilen und geordneten Zustand suggerieren – nicht zu lösen. Ebenso wenig vereindeutigt die Engführung des Souveränitätsbegriffs auf eine kompetenzorientiert-rechtliche Dimension, auf einen reinen Kompetenzbegriff mit aufzählbaren Befugnissen die Souveränitätskonstellation.5 Die Herausforderung liegt somit weniger in einer bisweilen diagnostizierten semantischen Beliebigkeit als vielmehr in der Dynamik und Konfliktivität dessen, was oft als Souveränität bezeichnet wird, und die daraus herrühren, dass ganz zentrale Macht- und Rechtfertigungsfragen verhandelt werden. Diese Konflikte um Kompetenz und Legitimität – z. B. zwischen den verschiedenen Regierungsebenen – sind gerade in pluralistischen und insbesondere in föderal-demokratischen Kontexten ausgeprägt. Aus diesem Spannungsfeld ergibt sich ein in im Folgenden thesenhaft fassbarer Vergleich zwischen Föderalismus und EU-Diskurs unter Vorzeichen der Souveränitätsfrage – mit besonderem Augenmerk auf das aktuelle Problem der Desintegration. Dieser Blickwinkel ermöglicht ein Abrücken von der kanonischen Frage nach dem Ort der Souveränität und eine Hinwendung zum umrissenen Spannungsreichtum der Souveränitätsfrage, der mit den Quellen demokratischer Legitimität und der anhaltenden politischen Konfliktivität der Kompetenzverteilung in Verbindung steht. Darüber hinaus tritt so auch der temporale Aspekt von Souveränität in den Blick: Welche Aussagekraft haben Tendenzen über einen längeren Zeitraum für die Frage der Souveränität in einem bestimmten Gebilde? Inwiefern ist für den Fall der Europäischen Union der Prozess der Integration wie auch der Desintegration aussagekräftig für die Frage nach der Souveränität? Erstens: Die schwierige politisch-staatsrechtliche Einordnung der Europäischen Union ist maßgeblich von der Fixierung auf die Kategorie der Souveränität geprägt. Diese Verengung teilt die EU-Integrations-Debatte mit Teilen der modernen Föderalismustheorie – und sie stößt damit an ähnliche heuristische Grenzen. Diese analoge Verengung ist auch Ergebnis dessen, dass letztere erstere seit ihrer Anfangsphase maßgeblich geprägt hat. Teile der politischen und wissenschaftlichen Debatte zur europäischen Integration kreisen traditionell um die Frage, um welche Staatsorganisationsform beziehungsweise um welchen politischen Ordnungstyp es sich bei der EU und ihren Vorformen handle – oder hin zu welchem Ordnungstyp das Gebilde sich entwickeln solle. Do4

Eva Marlene Hausteiner, Die USA als föderales Regierungssystem, in: Lammert/Siewert/Vormann (Hrsg.), Handbuch Politik USA, 2020, S. 257 – 268. 5 Jean Bodin, Sechs Bu¨ cher u¨ ber den Staat, 1. Bd.: Buch I-III, 2. Bd.: Buch IV-VI, 1981, 1986.

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minant ist dabei seit der Jahrhundertmitte das Staatsparadigma, wobei die europäische Integration insbesondere unter dem Gesichtspunkt föderaler Staatlichkeit diskutiert wird. In der dominanten Unterscheidung von Staatenbund, Staatenverbund oder einer angestrebten Bundesstaatlichkeit ist dabei das Kriterium der Souveränität zentral: Liegt sie bei den Einzelstaaten, soll sie letztlich ganz auf die Unionsebene übertragen werden, oder wird sie trennscharf zwischen beiden Ebenen ge- und verteilt, um Zuständigkeitskonflikte zu meiden oder sie zumindest so weit vorzuidentifizieren, dass sie dann geregelter Konfliktlösung zugeführt werden können? Handelt es sich legitimations- und demokratietheoretisch um eine Konstellation von Volksoder Völkersouveränität? Diese Orientierung an der Kategorie der Souveränität – verstanden als klar verbürgte Kompetenzzentralisierung – prägte in ähnlicher Weise über lange Phasen die (allerdings deutlich älteren) politik- und rechtswissenschaftlichen Debatten zur Spezifik föderalen Regierens: Gerade in deutschsprachigen Föderalismus- und Bunddebatten des 19. Jahrhunderts, etwa bei Caspar Bluntschli und Georg Waitz,6 dominieren die Auseinandersetzungen um den Ort und die Teilbarkeit der Souveränität föderalismustheoretische Debatten, die vor allem die Entwicklungsperspektiven des Deutschen Reiches zum Gegenstand hatten. Carl Schmitt hat vor rund hundert Jahren diesen Versuch der Vereindeutigung der Souveränität und die damit verbundene Dichotomie zwischen Bundesstaat und Staatenbund in seiner Verfassungslehre (1928) scharf kritisiert – und zwar in der Hinsicht, dass sie ein Kerncharakteristikum des Föderalen (bzw. in Schmitts Diktion: des „Bundes“) verkennen, nämlich die spannungsreiche Schwebelage der Souveränität, die er durch drei sogenannte „Antinomien“ umreißt: Bei Bünden bleibe offen, wie selbstbestimmt die Mitglieder eigentlich agieren können, wie politisch selbständig sie sind, und in welchem Verhältnis genau die politischen Existenzen von Gliedern und Gesamtordnung zueinander stehen.7 Bünde zeichnen sich laut Schmitt dadurch aus, dass die Frage der Souveränität aufgrund dieser Antinomien ständig konfliktbeladen ist und damit auch die Verortung der Machtverhältnisse ungeklärt bleibt, also immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzung und Aushandlung wird. Der Staatsrechtler Christoph Schönberger hat diese Debatte – in weiten Teilen abstrahierend von Schmitts antiliberalen Annahmen – mit dem Argument fortgeführt, die Europäische Union sei erst in ihrer Spannungskonfiguration konfligierender Souveränitätsansprüche (und somit: zwischen Volks- und Völkersouveränität), nicht aber geklärter Souveränitäten verstehbar. Schönberger ist darin zuzustimmen, dass der Fokus auf die Dimension der Souveränität in der Tat zur Einordnung der Europäischen Union, aber noch weiterge6

Vgl. Siegfried Weichlein, Europa und der Föderalismus. Zur Begriffsgeschichte politischer Ordnungsmodelle, Historisches Jahrbuch 125 (2005), S. 133; Stefan Oeter, „,Föderation‘ oder ,Bund‘ als Oberbegriff. Erscheinungsformen des Föderalen zwischen Bundesstaat und Staatenbund“, in: Eva Marlene Hausteiner (Hrsg.), Föderalismen. Modelle jenseits des Staates, 2016, S. 235 – 66. 7 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928.

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hend: auch föderalismustheoretisch schnell an seine Grenzen stößt. Versuche der endgültigen Verortung der Souveränität sind weder in der EU-Integrationsfrage noch in allgemeineren föderalismustheoretischen Ansätzen abschließend gelungen. Die anhaltende Suche nach einer europäischen Öffentlichkeit zur Konstituierung eines Volkssouveräns; die Debatten um die Neuordnung der Machtverhältnisse innerhalb der EU durch ein Kerneuropa oder einen klareren Hegemoniestatus bestimmter Staaten; das wiederholte Entstehen von Abspaltungen und zentrifugalen Konflikten – diese Dynamiken kennzeichnen die Europäische Union. Festschreibungen an dem Kriterium der Souveränität in der Doppelseitigkeit aus Kompetenz- und Legitimationsvereindeutigung scheitern daran, dass sowohl der Status Quo als auch die „Finalität“ der EU (als ever closer union, United States of Europe oder Europa der Vaterländer beispielsweise) umkämpft und Gegenstand sehr unterschiedlicher Ansprüche sind. Zweitens: Aktuelle Desintegrationstendenzen innerhalb der Europäischen Union stellen eine besonders aufschlussreiche Dynamik dar – nicht allein hinsichtlich der Stabilität der EU, sondern vor allem für die Frage der politischen Struktur der Union. Antwortversuche auf die Frage nach dem Ordnungstyp der EU operieren, wie angedeutet, traditionell entweder mit Verweis auf ihren (z. B. vertraglichen oder durch Gerichte ausgedeuteten) Status Quo oder mit Verweis auf ihre auf die Zukunft gerichtete Finalität, also intendierte Entwicklungsvarianten, die eine „Vollendung“ der Union versprechen. Letztere wird politisch häufig mit der Zielsetzung von „Vereinigten Staaten von Europa“ assoziiert, also einer sogenannten „Föderalisierung“, die mit der Vorstellung eines „Bundesstaates“ nach US- oder auch bundesdeutschem Vorbild assoziiert wird. Bezeichnende Charakteristika der EU sind allerdings besser im Lichte einer evident konfliktiven Entwicklungsdynamik zu erfassen, die nicht nur Integrations-, sondern auch Desintegrationstendenzen umfasst. Aussagekräftig sind dabei sowohl die zentrifugalen Tendenzen selbst – vom Brexit bis hin zum RechtsstaatsRollback in Polen und Ungarn –, als auch die Modi der Bearbeitung resultierender Konflikte. Auch hier sollte eine föderale Deutung der Europäischen Union etablierte Verengungen der Föderalismustheorie umgehen. In erster Linie betrifft dies den Fokus auf „Sezession“. Wenn in der politikwissenschaftlichen Behandlung der Thematik von föderaler Desintegration die Rede ist, ist entweder der komplette Zerfall oder die Sezession gemeint, d. h. der freiwillige Austritt aus dem föderalen Arrangement (entweder ungeordnet unilateral: allein auf Willen des austretenden Staates hin, oder geordnet bilateral: mit Zustimmung der restlichen Mitgliedsstaaten bzw. der Bundesinstitutionen).8 Die Sezession ist meines Erachtens auch der einzig verfassungsrechtlich geregelte Fall der Desintegration in föderalen Ordnungen, obgleich auch Sezessionsklauseln verfassungsrechtlich sehr selten sind. Dass trotz der Seltenheit rechtlich vorgesehener Sezession eine Fülle an historischen Beispielen entsprechen8 Allen E. Buchanan, Secession: The Morality of Political Divorce from Fort Sumter to Lithuania and Quebec, 1991; Don H. Doyle, Secession as an International Phenomenon, 2010.

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der Bestrebungen, ob vollendet oder unvollendet (von der Sowjetunion über den SüdSudan bis Katalonien), existieren, ist offensichtlich – und daraus ergibt sich vermutlich deren Zentralität in der Föderalismustheorie. Systematisch denkbar und historisch selten, aber nicht präzedenzlos, sind aber auch andere Formen der Desintegration: eine Spaltung des föderalen Gebildes oder ein unilateraler Ausschluss eines Mitgliedsstaates gegen dessen Willen.9 In Bezug auf den europäischen Fall liegen Beispiele auf der Hand: Nicht nur der Brexit, sondern auch die Konflikte mit Ungarn und Polen sind im Kern Desintegrationskonflikte, die nur teilweise sezessionsartige Züge tragen, auch wenn ihr Ausgang noch nicht klar ist. Diese unterschiedlichen Desintegrationsdynamiken haben nicht nur eine (verfassungs-)rechtliche Dimension, für die etwa die Existenz von Austritts- oder Ausschlussklauseln und somit die legale Erfassung und Ermöglichung von Desintegration relevant ist. Vielmehr stehen politische wie normative Fragen auf dem Spiel: Welche Regelverletzungen oder Normenaufweichungen beispielsweise ist die Europäische Union oder die Mehrheit von deren Mitgliedsstaaten zu einem gegebenen Zeitpunkt bereit zu tolerieren, um die territoriale Integrität des Gebildes zu erhalten oder um etwa ungarischen Bürger*innen die ihnen längst verbürgten Rechte, die mit dem Unionsbürgerstatus verbunden sind, nicht erneut zu entziehen? Welche inhaltlichen und politischen Konflikte lösen eigentlich vorliegende Desintegrationsdynamiken aus? Welche Europavorstellungen treffen aufeinander, z. B. in der Frage, was eigentlich vor Desintegration bewahrt werden soll – Europa als Bürgergemeinschaft, als „Wertegemeinschaft“ oder Europa in seiner geopolitischen Kohärenz? Die Desintegrationsfrage ist für die Diskussion um die EU und insgesamt für föderale Gebilde von Interesse, da sie Auskunft gibt über den jeweils aktuellen, kontextabhängigen Status Quo der Schwebezustands-Aushandlung – jedoch nur begrenzt über das „Wesen“ des politischen Gebildes. Evident in Momenten der Desintegration werden die Einsätze im Konflikt um die Souveränität. Anders als jüngere normative Beiträge zur Desintegration10 schlage ich also nicht vor, Desintegration zu untersuchen, um am Ende doch die Souveränitätsfrage legitimationstheoretisch, etwa anhand der Figur des pouvoir constituant, oder Schmittianisch (im Sinne von: Souverän ist, wer den Desintegrationsprozess bestimmt) endgültig zu klären. Vielmehr ist an Desintegrationskonflikten der föderale state of the union abzulesen: Kohärenzkräfte, Reichweite und Grenzen etablierter Konfliktlösungsmechanismen, tatsächliche Entwicklungstendenzen des föderalen Arrangements über die Zeit. Damit soll nicht negiert werden, dass die EU produktiv in föderalen Kategorien verstanden werden kann – im Gegenteil: Konzeptionen des Föderalen können sehr plausibel auf die EU angewandt werden, und auch der Föderalismus kann besser verstanden werden, wenn die EU als empirischer Fall für Dynamiken des Föderalismus einbezogen wird. Das ist allerdings nur dann aussichtsreich, wenn der Föderalismus9 Vgl. Eva M. Hausteiner, Can federations expel member states? On the political theory of expulsion, Journal of International Political Theory 16 (2018), S. 47. 10 Markus Patberg, Constituent Power in the European Union, 2020.

Staatenverbund und Desintegration

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begriff flexibilisiert wird – hin zu einem, der erstens weniger auf Souveränität als reinen Kompetenz- und Legitimationsvereindeutigungsbegriff fokussiert ist und der zweitens mehr Aufmerksamkeit auf Konfliktivität und Dynamik legt, und dabei auch: auf Debatten, auf konfligierende Selbstverständnisse. Der Begriff des „Staatenverbundes“ kann diesen dynamischen Modus politischer Ordnung als andauernde Suchbewegung ebenso wenig erfassen wie der ebenfalls tendenziell statisch angelegte Ausweichterminus der EU als Gebilde „sui generis“. Die Auseinandersetzung über Ursprung, Finalität und desintegrative Abwege der EU ist nicht, wie Christoph Schönberger es ausgedrückt hat, über eine modernisierte Wortbildung wegzuerzählen;11 und in der Tat suggeriert der „Staatenverbund“, in seiner Reminiszenz an die Georg Jellineksche „Staatenverbindung“, es handele sich hier einfach um eine weitere politische Ordnungsform. Im Lissabon-Urteil: eine „enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten“.12 Der Begriff „Staatenverbund“ ist ein begriffspolitischer, freilich erfolgloser Versuch der Festlegung: Desintegrationsdynamiken setzen sich ungeachtet seiner fort, während gleichzeitig nicht auf Dauer klar ist, dass die beteiligten Staaten souverän bleiben und dies auch wollen. Föderalität bringt, so ließe sich argumentieren, eine gesteigerte politische Konfliktivität um den Ordnungscharakter mit sich, sie sorgt für permanente, im besten Fall produktive und politisch offene Unordnung. Literatur Bodin, Jean, Sechs Bu¨ cher u¨ ber den Staat, 1. Bd.: Buch I – III, 2. Bd.: Buch IV – VI, 1981, 1986. Buchanan, Allen E., Secession: The Morality of Political Divorce from Fort Sumter to Lithuania and Quebec, Boulder 1991. Doyle, Don H., Secession as an International Phenomenon, Athens 2010. Habermas, Jürgen, Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts. Ein Essay zur Verfassung Europas, in: ders., Zur Verfassung Europas, 2011, S. 39 – 98. Hamilton, Alexander/Madison, James/Jay, John, The Federalist Papers, Mineola 2014. Hausteiner, Eva Marlene, Die USA als föderales Regierungssystem, in: Lammert/Siewert/Vormann (Hrsg.), Handbuch Politik USA, 2020, S. 257 – 268. Hausteiner, Eva Marlene, Can federations expel member states? On the political theory of expulsion, Journal of International Political Theory 16 (2018), S. 47 – 67. Oeter, Stefan, „,Föderation‘ oder ,Bund‘ als Oberbegriff. Erscheinungsformen des Föderalen zwischen Bundesstaat und Staatenbund“, in: Hausteiner (Hrsg.), Föderalismen. Modelle jenseits des Staates, 2016, S. 235 – 66. 11 Christoph Schönberger, Die Europäische Union als Bund. Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des Staatenbund-Bundesstaat-Schemas, AöR 129 (2004), S. 81 (118). 12 BVerfGE 123, 267 – 437.

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Patberg, Markus, Constituent Power in the European Union, Oxford 2020. Schmitt, Carl, Verfassungslehre,1928. Schönberger, Christoph, Die Europäische Union als Bund. Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des Staatenbund-Bundesstaat-Schemas, AöR 129 (2004), S. 81 – 120. Weichlein, Siegfried, Europa und der Föderalismus. Zur Begriffsgeschichte politischer Ordnungsmodelle, Historisches Jahrbuch 125 (2005), S. 133 – 152.

Nationale Souveränität im europäischen Grenzregime1 Von Isabel Hilpert

I. Einleitung Im Sommer 2022, als in Italien recht kurzfristig Neuwahlen anstanden, weil das Kabinett Draghi seine Mehrheit verloren hatte, rückte die Insel Lampedusa wieder einmal ins Zentrum des italienischen Wahlkampfes und damit auch der internationalen Öffentlichkeit. Die rechts-populistischen Parteien versuchten an ihrem Beispiel zu zeigen, was an der italienischen und europäischen Grenz- und Migrationspolitik nicht funktioniere. Lampedusa dürfe nicht länger „il campo profughi d’Europa“2 sein, das europäische Flüchtlingscamp. Die Grenzen müssten wirkungsvoll geschützt, illegale Migration verhindert werden. Seit Jahrzehnten ist die Insel Lampedusa ein Symbol eines perzipierten Migrationsnotstandes im Mittelmeer. Sie wird als Tor zu Europa bezeichnet und ist in der politischen und medialen Öffentlichkeit zur europäischen Grenze „par excellence“3 geworden. „[A] Lampedusa non c’e’ solo la frontiera dell’Italia, ma anche quella dell’Europa“4, sagte der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano im Jahr 20115. „Lampedusa non e’ il confine dell’Italia, non e’ una frontiera italiana, e’ la frontiera dell’Europa“6 betonte auch Angelino Alfano, Innenminister im Kabinett Letta, im Jahr 20137. „[L]a frontiera sud dell’Italia è la frontiera dell’Europa“8 1 Dieses Kapitel basiert auf Teilen meiner Monographie „Die doppelt codierte Grenze und der Nationalstaat in Europa“ (2020). 2 Matteo Salvini zitiert in La Repubblica, 04. 08. 2022, https://video.repubblica.it/edizione/ palermo/salvini-a-lampedusa-questo-non-puo-essere-il-campo-profughi-d-europa/422292/ 423245https://video.repubblica.it/edizione/palermo/salvini-a-lampedusa-questo-non-puo-esse re-il-campo-profughi-d-europa/422292/423245. 3 Paolo Cuttitta, ,Borderizing‘ the Island Setting and Narratives of the Lampedusa ,Border Play‘, Acme. An International E-Journal for Critical Geographies 13 (2014), S. 196 (213). 4 „Auf Lampedusa ist nicht nur die Grenze Italiens, sondern auch die Europas“. Alle Übersetzungen aus dem Italienischen von der Autorin. 5 Zitiert in ANSA, 30. 03. 2011, https://www.ansa.it/web/notizie/rubriche/politica/2011/03/ 30/visualizza_new.html_1529447538.html. 6 „Lampedusa ist nicht die Grenze Italiens, es ist keine italienische Grenze, es ist die Grenze Europas“. 7 Angelino Alfano, 2013, http://www.angelinoalfano.it/17457/angelinoalfanolampedusacon fineitaliaeuropa.

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sagte auch der Vizeaußenminister Mario Giro im Jahr 2017 nach einem Außenministertreffen und betonte, dass dies auch für die Grenzen Spaniens und Griechenlands gelte9. Die italienischen Regierungen jedweder Konstellation werden dabei nicht müde zu betonen, welche besonderen Belastungen mit dieser italienischen Grenze als Grenze Europas für das Land einhergehen und formulieren vehement Erwartung umfänglicher europäischer Unterstützung. Das Land befürwortete in der Vergangenheit nahezu alle großen Europäisierungsprojekte im Feld der Grenz- und Migrationspolitik. Italien war beispielsweise ein zentraler Akteur in der Entwicklung, Implementierung und Ausgestaltung der Grenzschutzagentur Frontex und setzt sich für europäische Kooperationen mit den Herkunfts- und Transitstaaten von Migration sowie für die Implementierung von Solidaritätsinstrumenten innerhalb der Europäischen Union ein. Lampedusa steht sinnbildlich für die europäische Grenze und auch sinnbildlich für das europäische Grenzregime. Der mit den Schengen-Abkommen eingeleitete Abbau der Binnengrenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union hatte weitreichende Transformationsprozesse von Grenzen in Europa, die Europäisierung der Außengrenzen und letztlich die Entwicklung eines genuin europäischen Grenzregimes zur Folge. Diese Entwicklung ist einer der bedeutendsten Integrationsschritte der Europäischen Union, ist sie doch ein wesentlicher Eingriff in einen Kernbereich des Nationalstaats: der Souveränität über Grenzen. Im modernen Verständnis von Nationalstaatlichkeit sind sowohl die Idee nationaler Souveränität als auch die Idee nationaler Grenzen elementar. Grenzen fassen den Wirkungsbereich nationaler Souveränität, die sich wiederum erst im exklusiven Schutz der Grenzen manifestiert. Staatsgrenzen und staatliche Souveränität bedingen sich gegenseitig. Das europäische Grenzregime stellt nun allerdings diese bisherigen Prämissen und Gewissheiten über Nationalstaatlichkeit, Souveränität und Grenzen grundsätzlich in Frage. Was bedeuten die Veränderungen sowohl der Kompetenzen als auch der Modi des Grenzschutzes für die betroffenen Außengrenzstaaten der Europäischen Union? Konkreter: Was bedeuten sie für deren nationale Souveränität und welche Wechselwirkungen haben ein sich zunehmend europäisierendes Grenzregime und nationalstaatliche Souveränität? Diese Fragen sind Gegenstand meines Beitrags. Ich werde dafür zunächst näher auf den fundamentalen Zusammenhang von Souveränität, Nationalstaatlichkeit und Grenzen eingehen und dann überblicksartig die Entwicklungen und Elemente des europäischen Grenzregimes vorstellen, um schließlich die Wechselwirkung des europäischen Grenzregime und nationaler Souveränität genauer zu beleuchten. Dabei komme ich auf das Beispiel Italien zurück

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„Die südliche Grenze Italiens ist die Grenze Europas“. Zitiert in Adnkronos, 19. 05. 2017, https://www.adnkronos.com/fatti/esteri/2017/05/19/mi granti-giro-alza-voce-non-basta-frontiera-italia-frontiera-europa_8eLYxkobpGsLET F9YdLPfN.htm. 9

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und untersuche ein in der Debatte bisher unterrepräsentiertes Element im Detail, nämlich Souveränität als empirisches Phänomen.

II. Souveränität, Nationalstaatlichkeit und Grenzen „Ohne Grenzen ist kein Staat zu machen“ schreiben Steffen Mau und Kolleg:innen10 und bringen damit die elementare Verbindung von Nationalstaatlichkeit und Grenzen auf den Punkt. Grenzen sind konstitutiv für den modernen Nationalstaat und sie sind konstitutiv für dessen Souveränität. Souveränität wiederum ist ein weiteres Charakteristikum, ohne welches der moderne Staat nicht vorstellbar zu sein scheint. Bereits klassische Vertragstheorien von Hobbes, Locke oder Rousseau beinhalten ein, zumindest implizites, Konzept von Grenze11. Grenzen sind schließlich der Idee von Staatlichkeit inhärent, wie sie in der Tradition Georg Jellineks12 verstanden wird. Die Trias aus Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet benötigt zwingend physische, lineare Grenzen, um funktionieren zu können. Grenzen haben für den Nationalstaat elementare Schutz-, aber auch rechtliche, wirtschaftliche und nicht zuletzt ideologische und ordnungsbildende Funktionen13. Staatsgrenzen sind […] komplexe multidimensionale Institutionen der sozialen Schließung. Staatsgrenzen sind Mechanismen der Schließung von Herrschaftssystemen und Gesellschaften; sie bilden zugleich Katalysatoren für das Zustandekommen von politischen Gemeinschaften mit kollektiver Identität14.

Grenzen fassen also den Raum, der als Nationalstaat verstanden wird. Und dieser Raum zeichnet sich durch eine perzipierte Deckungsgleichzeit von Kultur, Sprache, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik aus, die naturalisiert, also als objektiv wahrgenommen, wird15. Um es zusammenfassend mit Benedict Anderson16 auszudrücken: Der moderne Nationalstaat wird als begrenzt vorgestellt, als durch Grenzen definiert, und er wird vorgestellt als souverän. 10 Steffen Mau/Lena Laube/Christrof Roos/Sonja Wrobel, Grenzen in der globalisierten Welt. Selektivität, Internationalisierung, Exterritorialisierung, Leviathan 36 (2008), S. 123. 11 Vgl. Andreas Vasilache, Der Staat und seine Grenzen, 2007, S. 323; Alexander C. Diener/Joshua Hagen, Borders. A very short introduction, New York, 2012, S. 10. 12 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1929, S. 406. 13 Herbert Dittgen, Globalisierung und die Grenzen des Nationalstaats, in: Kessler (Hrsg.), Facetten der Globalisierung. Zwischen Ökonomie, Politik und Kultur, 2009, S. 160 (163); Maurizio Bach, Die Konstruktion von Räumen und Grenzbildern, in: Eigmüller/Mau (Hrsg.), Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Sozialwissenschaftliche Ansätze zur Europaforschung, 2010, S. 153 (157). 14 Bach (Fn. 13), S. 164. 15 Vgl. Georg Vobruba, Der postnationale Raum, 2012, S. 101. 16 Benedict Anderson, Imagined communities, London/New York, 2016, S. 7.

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Coming to maturity at a stage of human history when even the most devout adherents of any universal religion were inescapably confronted with the living pluralism of such religions, and the allomorphism between each faith’s ontological claims and territorial stretch, nations dream of being free, and, if under God, directly so. The gage and emblem of this freedom is the sovereign state17.

Diese Souveränität des modernen Nationalstaats, „die absolute und dauerhafte Gewalt eines Staates“, wie Bodin18 sie definiert, meint sowohl das legitime, exklusive Gewaltmonopol nach Innen als auch Autonomie nach Außen und die damit verbundene Gleichheit souveräner Staaten untereinander. Souveränität ist damit direkt an das Staatsgebiet und also an Grenzen gebunden. Ohne diesen territorialen Bezug ist nationale Souveränität nicht denkbar19. Grenzen bestimmen ergo den Wirkungsbereich des Nationalstaats und im speziellen von Souveränität. Sie sind „effective markers of sovereignty“20. Das Gewaltmonopol des Staates zeigt sich besonders eindrücklich in der – ebenfalls exklusiven – Grenzkontrollkompetenz und in der Entscheidungsgewalt, wem der Grenzübertritt gewährt wird. „Die Regulierung und Kontrolle grenzüberschreitender Mobilität wird von daher als eine Grundvoraussetzung staatlicher Handlungskapazität betrachtet“21, als ein „Kernelement moderner souveräner Staatlichkeit“22. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass grenzüberschreitende Mobilität von Menschen, insbesondere irreguläre internationale Migration, diese klassische nationalstaatliche Vorstellung von Souveränität wiederkehrend herausfordert. Für den Kontext dieses Artikels ist zusammenfassend aber vor allem entscheidend: Im Verständnis moderner Nationalstaatlichkeit sind Souveränität, Staat und Grenzen elementar und exklusiv miteinander verbunden.

III. Das europäische Grenzregime In Europa, genauer in der Europäischen Union, fanden in den letzten Jahrzehnten weitreichende Veränderung der Modi des und der Zuständigkeit für Grenzschutz 17

Anderson (Fn. 16), S. 7. Jean Bodin, Über den Staat, 1976 [1583], S. 19. Für eine umfassende wissenschaftliche Einordnung des Zusammenhangs von Staat und Souveränität seit dem 17. Jahrhundert siehe Hans Boldt, Souveränität: 19. und 20. Jahrhundert, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 6, 1997, S. 1. 19 Kristine Beurskens/Judith Miggelbrink, Special Section Introduction – Sovereignty Contested: Theory and Practice in Borderlands, Geopolitics 22 (2017), S. 749 (750). 20 James W. Scott, Bordering, Border Politics and Cross-Border Cooperation in Europe, in: Celata/Coletti (Hrsg.), Neighbourhood Policy and the Construction of the European External Borders, Cham, 2015, S. 27 (30). 21 Mau et al. (Fn. 10), S. 123. 22 Julia Schulze Wessel, Grenzfiguren – Zur politischen Theorie des Flüchtlings, 2017, S. 156. 18

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statt, die diese bisherigen Prämissen und Gewissheiten grundsätzlich in Frage stellen. Im Folgenden stelle ich die Entwicklungen und Elemente des europäischen Grenzregimes überblicksartig vor, um im Anschluss nach den Wechselwirkungen dieses Regimes mit nationaler Souveränität zu fragen. Mit den Schengen-Abkommen, die den freien Personenverkehr innerhalb der Europäischen Union als Rechtsprinzip etablierten, wurde ein tiefgreifender Integrationsschritt vollzogen23. Die Abkommen können als Ausgangspunkt massiver Veränderungen von Grenzen in der (und um die) Europäische Union betrachtet werden. Mit ihnen ging zunächst die Klassifizierung der nationalstaatlichen Grenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in zwei unterschiedliche Grenztypen einher, nämlich in Binnengrenzen und Außengrenzen. Durch den Abbau von Kontrollen der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten wurden diese Grenzen zu Binnengrenzen der Europäischen Union. Sie existieren weiterhin, werden aber nicht mehr systematisch kontrolliert. Per Definition im Schengen-Grenzkodex24 sind alle Grenzen, die nicht Binnengrenzen der Mitgliedstaaten der Union sind, deren Außengrenzen. Der Abbau der Binnengrenzen innerhalb der Europäischen Union hatte die Europäisierung dieser Außengrenzen zur Folge. Von Beginn an war das Konzept der Personenfreizügigkeit innerhalb der Union an Vereinheitlichungen und Standardisierungen der Außengrenzen geknüpft, weil diese Außengrenzen nun auch für die Staaten des europäischen Zentrums unmittelbar wurden. Die Eintrittsvoraussetzungen und Kontrollpraktiken sind in der Europäischen Union nunmehr in großen Teilen vereinheitlicht und Grenzsicherung sowie der Schutz der Außengrenzen weitreichend europäisiert. Ein europäisches Grenzregime, also ein komplexes System der Grenzkontrolle und des Grenzschutzes auf supranationaler Ebene, gilt als weitgehend etabliert25. Nach Hess und Kasparek lassen sich dessen wesentliche Elemente wie folgt zusammenfassen: With the Schengen agreement of 1985, the European project had heralded the creation of a continental border regime, with the newly created notion of an ,external border‘ as the pivotal mechanism and space for migration control. The process resulted in the creation of an ,area of freedom, security and justice‘ through the Treaty of Amsterdam and the parallel construction of the European border regime as a fluid, multi-scalar assemblage involving European Union agencies such as Frontex (the European border and coast guard agency), bodies of European law (like the Common European Asylum System CEAS), processes of standardizations and harmonizations especially in the field of border management (called ,In23

Nicht alle Mitgliedstaaten der EU sind Mitglieder des Schengen-Raumes und vice versa. Bereits im Jahr 1997 wurde das Schengen-Regelwerk allerdings in den gemeinsamen EUBesitzstand integriert (vgl. Steffi Marung, Die wandernde Grenze, 2013, S. 125). 24 Europäisches Parlament/Rat, Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), 2006. 25 Vgl. Sergio Carrera, Towards a Common European Border Service? Brussels, 2010, S. 9; Simon McMahon, North African Migration and Europe’s Contextual Mediterranean Border in Light of the Lampedusa Migrant Crisis of 2011, EUI Working Paper SPS, 2012, S. 3; Ruben Zaiotti, Cultures of border control, Chicago/London, 2011, S. 219.

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tegrated Border Management‘), a growing military-industrial-academic complex largely funded by the EU26.

Das europäische Grenzregime unterscheidet sich von seinem – idealtypischen – nationalstaatlichen Counterpart dabei besonders durch die Externalisierung des Grenzschutzes und die Verhandlungsabhängigkeit und Selektivität der Grenzen: Erstens: Grenzkontrollen und Grenzschutz werden im europäischen Grenzregime in großen Teilen außerhalb des europäischen Territoriums vollzogen. Diese Externalisierung folgt einer neuen Logik und Dynamik des Grenzmanagements, weil sie eine delokalisierte Form darstellt, die auf Abkommen mit Drittstaaten in der unmittelbaren oder auch weiteren Nachbarschaft der Europäischen Union beruhen. „Die Grenze hat sich vom konkreten nationalstaatlichen Territorium gelöst und tritt an den unterschiedlichsten Orten auf“27. Solche Externalisierungspraktiken lassen sich in das „Outsourcing“28 der Grenzkontrollaufgaben an Staaten außerhalb der Europäischen Union und die Durchführung der Grenzkontrolle durch nationale oder europäische Grenzschützer auf außereuropäischem Territorium unterscheiden. Mc Namara bezeichnet diese zwei Aspekte der Externalisierung als „External Dimension“ und „Externalisation“29. Ersteres beinhaltet, dass Drittstaaten von einzelnen Mitgliedstaaten oder durch die Agentur Frontex (s. u.) damit beauftragt werden, die Grenzen zur Europäischen Union nach europäischen Standards zu kontrollieren und Migrantinnen und Migranten an der irregulären Einreise in die Europäische Union zu hindern. Darüber hinaus unterstützt die Europäische Union, nach US-amerikanischem Vorbild, die Einrichtung von Haftanstalten in Drittstaaten wie zum Beispiel in Libyen: „[T]he EU and its member states […] delegate transit country governments the responsibility of building and managing centers for irregular migrants“30. Besonders diese Praxis ist aus menschenrechtlichen Gründen sehr umstritten und findet meist im Verborgenen statt. Während diese Form der Externalisierung die Implementierung der Maßnahmen an die Drittstaaten delegiert, agiert die Europäische Union in der zweiten Form weiterhin als zentraler Akteur des Grenzschutzes – allerdings in den Gewässern oder an Land der Drittstaaten. Exterritorialisierte Visaverfahren, das Abfangen auf Hoher See oder pre-departure checks gehören in diese Kategorie

26 Sabine Hess/Bernd Kasparek, Under Control? Or Border (as) Conflict: Reflections on the European Border Regime, Social Inclusion 5 (2017), S. 58 (60). 27 Schulze Wessel (Fn22), S. 158. 28 Michael Jandl/Jeroen Doomernik, Introduction, in: Jandl/Doomernik (Hrsg.), Modes of Migration Regulation and Control in Europe, Amsterdam, 2008, S. 19 (24). 29 Frank Mc Namara, Member State Responsibility for Migration Control within Third States – Externalisation Revisited, European Journal of Migration and Law 15 (2013), S. 319 (326). 30 Zaiotti, Mapping Remote Control. The Externalization of Migration Management in the 21st Century, in: ders., Externalizing Migration Management. Europe, North America and the spread of ,remote control‘ practices, Abingdon-on-Thames, 2016, S. 3 (21).

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des externalisierten Grenzschutzes31. In beiden Formen ist in den Abkommen, die zunehmend Teil der klassischen Entwicklungszusammenarbeit werden, vereinbart, dass die Drittstaaten für ihre Kooperation und Unterstützung im Grenzschutz beispielsweise Visaerleichterungen, Einfuhrerleichterungen oder finanzielle Kompensationen erhalten. Sie beinhalten aber auch Sanktionen. Ganz generell haben die Externalisierungspraktiken das Ziel, Grenzkontrollen an Orte außerhalb des europäischem Territoriums vorzuverlagern, irreguläre Migration so früh wie möglich einzudämmen und damit eine Pufferzone um die Europäische Union zu etablieren32. Diese Externalisierungspraktiken sind per se nicht ganz neu und nicht spezifisch europäischen. Sie haben aber seit den 2000er Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen und sind nun weltweit eine der zentralen Migrationsmanagementstrategien und im europäischen Grenzregime besonders elaboriert. Zweitens: „Ein zentrales Charakteristikum des europäischen Grenzregimes ist dessen Verhandlungsabhängigkeit“33: Der Abbau der Binnengrenzen im Zuge der Verwirklichung des europäischen Markts, die Einstellung der Personenkontrollen im Schengen-Raum sind ebenso Resultate von zwischenstaatlichen Verhandlungen und Paktierungen wie die Expansion der EU-Außengrenzen als Folge der ausgehandelten Kooperation neuer Mitglieder in den europäischen Verband. Mit den Verhandlungen über den Aufbau eines EU-eigenen Grenzregimes im Rahmen des Schengener Grenzkodex, der FRONTEX-Aktivitäten und besonders auch der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) berühren die Verhandlungen direkt die Grenzsicherung, mithin die territoriale Schließungsfunktionen der EU-Verbandsgrenzen.34

Das Moment der Verhandlung im europäischen Grenzregime zeigt sich also zwischen den Mitgliedstaaten, zwischen den Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen sowie zwischen der Europäischen Union und Drittstaaten. Verhandelbar werden sowohl die Beschaffenheit der europäischen Grenzen als auch deren selektive Durchlässigkeit und der Raum, den die Grenzen fassen. Auch diese Verhandlungsabhängigkeit und Selektivität von Grenzen unterscheidet das europäische Grenzregime damit fundamental von vorherigen Regimen. Während die Unterteilung nach Innen und Außen und damit verbundene Kriterien für den Grenzübertritt (die Selektivität) grundsätzlich ein Wesensmerkmal jeder Grenze sind, wird erst im europäischen Grenzregime über diese Selektivität verhandelt. Dies führt zu „very 31 Vgl. Bernard Ryan, Extraterritorial Immigration Control: What Role For Legal Guarantees? in: Ryan/Mitsilegas (Hrsg.), Extraterritorial immigration control. Legal challenges, Leiden/Boston, 2010, S. 1 (3); Seline Trevisanut, The EU external border policy, in: Ippolito/ Trevisanut (Hrsg.), Migration in the Mediterranean. Mechanisms of international cooperation, New York, 2016, S. 192. 32 Vgl. Vobruba, Die Dynamik Europas, Wiesbaden, 2007, S. 21; Raffaella A. Del Sarto, Borderlands: The Middle East and North Africa at the EU’s Southern Buffer Zone, in: Bechev/ Nicolaïdis (Hrsg.), Mediterranean Frontiers. Borders, Conflict and Memory in a Transnational World, London/New York, 2010, S. 149; siehe dazu im Detail Isabel Hilpert, Fragile Buffer Zones, Zeitschrift für Migrationsforschung 2 (2022), S. 165. 33 Bach (Fn. 13), S. 173. 34 Bach (Fn. 13), S. 173.

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different rules as well as degrees of permeability“35, zu unterschiedlichen Durchlässigkeiten von Grenzen für verschiedene Personen und Personengruppen36. Der Grenzschutzagentur Frontex, der Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache, kommt im europäischen Grenzregime eine bedeutende Rolle zu. Sie trägt maßgeblich dazu bei, eine europäische Außengrenze zu etablieren, die Externalisierungspraktiken weiterzuentwickeln und die heterogene Durchlässigkeit von Grenzen in Europa zu manifestieren. Die im Jahr 2004 gegründete Agentur organisiert Einzeloperationen an den Außengrenzen der Europäischen Union und führt diese gemeinsam mit den peripheren Mitgliedstaaten und Drittstaaten durch. Sie koordiniert gemeinsamen Rückführungen, hat umfassende Aufgaben im Monitoring und der Analyse von Migrationsbewegungen, bildet Grenzschutzbeamtinnen und -beamten aus und forscht zu und entwickelt Grenzschutztechnologien37. Empirisch lässt sich seit einiger Zeit eine „Monopolisierung der Grenzschutzfunktionen in ihrer Hand“38 beobachten, wenn der Grenzschutz auch nach wie vor formal im juristischen Kompetenzbereich der Nationalstaaten verbleibt. Die finanziellen, technischen und personellen Ressourcen der Agentur sind in den letzten Jahren allerdings ebenso schnell gewachsen wie ihre Tätigkeitsfelder. Ihren Höhenpunkt findet diese Entwicklung in der 2019 beschlossenen Erweiterung des Frontex-Mandats (Verordnung (EU) 2019/1896) mit der Einrichtung einer ständigen Reserve von 10.000 Frontex-Grenzbeamtinnen und -beamten (bis 2027) zum Soforteinsatz in besonderen Migrationssituationen an den Außengrenzen, den European Border and Coast Guard standing corps. Diese haben erstmals auch grenzpolizeiliche Exekutivbefugnisse. Für die Mitgliedstaaten an der Peripherie der Europäischen Union bedeuten die umfassenden Entwicklungen des europäischen Grenzregimes eine besonders massive Veränderung, nämlich die doppelte Codierung39 ihrer Außengrenzen. Das heißt, dass die Außengrenzen der peripheren Staaten wie Italien, Spanien oder Polen im europäischen Grenzregime sowohl national als auch europäisch sind. Ihre Außengrenzen sind Staatsgrenzen und EU-Außengrenzen und haben in einem komplexen institutionellen Geflecht Regulierungsfunktionen für die gesamte Europäische Union. Schengen, Externalisierung, verhandlungsabhängige Grenzen und die Agentur Frontex zeugen von einer veränderten Gestalt, Funktionsweise und veränderten Wirkungsmechanismen von Grenzen in der Europäischen Union sowie neuen Verantwortlichkeiten für Grenzsicherung und Grenzschutz. Das europäische Grenzregime

35

Del Sarto (Fn. 32), S. 159. Vgl. Thomas Nail, Theory of the border, Oxford, 2016, S. 4. 37 Giuseppe Campesi, European Border and Coast Guard (Frontex): Security, Democracy, and Rights at the EU Border, in: ders. (Hrsg.), Oxford Research Encyclopedia of Criminology and Criminal Justice, Oxford, 2018. 38 Bach (Fn. 13), S. 173. 39 Vgl. Vobruba (Fn. 15), S. 92; Bach (Fn. 13), S. 166. 36

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ist in seinem Ausmaß zwischenstaatlicher Kooperationen weltweit einzigartig und ein Vorreiter postnationaler Politiken40.

IV. Das europäische Grenzregime und nationale Souveränität Im Verständnis moderner Nationalstaatlichkeit sind Souveränität, Staat und Grenzen elementar und exklusiv miteinander verbunden. Vor dem Hintergrund der konstitutiven Funktion von Grenzen für nationalstaatliche Souveränität stellt sich die Frage nach den Wechselwirkungen des sich zunehmend europäisierenden Grenzregimes und nationalstaatlicher Souveränität. Dies insbesondere mit Blick auf die Außengrenzstaaten, deren Grenzen im europäischen Grenzregime doppelt codiert sind. In der Forschung herrscht über die Frage des Wandels von Souveränität seit einiger Zeit eine rege Debatte. Thesen vom Tod des Nationalstaates und Ende der Souveränität41 stehen neben Beobachtungen eines veränderten Souveränitätsverständnisses in Europa, eines „schleichenden Strukturwandels des Nationalstaates“, wie Bach42 es nennt, oder der Einleitung einer Ära der Postsouveränität43. Bezogen auf den Kontext des sich zunehmend europäisierenden Grenzregimes lassen sich folgende argumentative Stränge identifizieren: Einige Autorinnen und Autoren betrachten nationalstaatliche Souveränität weiterhin als weitestgehend unangetastet und stellen auch vor dem Hintergrund der Transformation von Grenzen in der Europäischen Union keinen Wandel der Nationalstaatlichkeit fest. Sie argumentieren meist aus einer staatsrechtlichen oder völkerrechtlichen Perspektive und relativieren die Intensität und Tragweite des europäisierten Grenzregimes. „Die Agentur hat seit ihrer Gründung einen rasanten Aufstieg genommen. Das Wachstum darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mitgliedstaaten keinen supranationalen Grenzschutz wollen, sondern weiterhin von einer nationalen Hoheit über eigene Kräfte ausgehen“ schreibt beispielsweise Knelangen mit Blick auf die Entwicklungen von Frontex44. Vertreterinnen und Vertreter dieser Perspektive verweisen hauptsächlich auf den Fortbestand völkerrechtlicher Zustän40

Vgl. Scott (Fn. 20), S. 31; Campesi, Polizia della frontiera, Rom, 2015, S. 5. Vgl. Neil Winn, In Search of Europe’s Internal and External Borders: Politics, Security, Identity and the European Union, Perspectives on European Politics and Society 1 (2000), S. 19 (22); Michael Felder, Die Transformation von Staatlichkeit. Europäisierung und Bürokratisierung in der Organisationsgesellschaft, 2001, S. 174. 42 Bach, Jenseits der Souveränitätsfiktion, in: ders. (Hrsg.), Der entmachtete Leviathan. Löst sich der souveräne Staat auf?, 2013, S. 105. 43 Vgl. Dieter Grimm/Belinda Cooper, Sovereignty. The Origin and Future of a Political Concept, New York2015. 44 Wilhelm Knelangen, Innen- und Justizpolitik zwischen Dynamik und nationaler Souveränität – der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Handbuch Europäische Union, 2020, S. 927; siehe auch Mechthild Baumann, Frontex und das Grenzregime der EU, focus Migration 25 (2014), S. 1 (2) und Dittgen (Fn. 13). 41

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digkeiten für die Außengrenzen beim Nationalstaat und ganz generell auf das juristische Prinzip dessen Kompetenz-Kompetenz: Advocates of member-states sovereignty rely on the source of the primary law of the European Union, which is adopted by unanimous decision of the member states. They remain the „master of the treaties“ and, according to the principle of conferral, retain the legislative Kompetenz-Kompetenz45.

Das juristische Gegenargument führt uns zu einer anderen Position bezüglich der Transformation von Souveränität vor dem Hintergrund des europäischen Grenzregimes: Advocates of European Union sovereignty rely on the effect of community law, which enjoys primary over national law – even the highest-level national law, the constitution – and on the power of the ECJ [European Court of Justice, A.d.A.] to decide conflicts about the distribution of competences, which gives it the so called judicial Kompetenz-Kompetenz46.

Vertreterinnen und Vertreter dieser Positionen betonen den Vorrang europäischen Rechts über nationalem, aber vor allem die faktischen Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union. Diese werden teils als klassischer (und bemerkenswerter) Transfer von Souveränität verstanden, „shifting [of] one of the founding principles of modern nation-states – the sovereign decision about entry and exit to one’s territory – to the European Union“47. Verbreiteter als die schlichte Transfer-These ist aber die Beobachtung gänzlich neuer Formen von Souveränität und Staatlichkeit im Kontext der Entwicklung, Etablierung und Erweiterung des europäischen Grenzregimes: Im Kern geht es […] um die Desaggregation des Staates in dessen unterschiedliche Einheiten – Staatsapparate und darauf bezogene Organisationsformen – und deren Rekonfiguration im europäischen Kontext. Diese Prozesse verdichten sich einerseits in der Fortentwicklung der supranationalen Staatlichkeit, andererseits aber auch in der Transformation der nationalen Staatlichkeit. Beide Momente haben sich in den letzten Jahren – im Zuge der Finanz- und Eurokrise sowie der Krise des europäischen Grenzregimes – in Gestalt eines zunehmend exekutivlastigen Governance-Modus zugleich spezifisch ausgeprägt48.

45 Grimm/Cooper (Fn. 43), S. 110, kursiv im Original; siehe auch Christian Calliess, Kompetenzen der Europäischen Union und ihre Ausübung im Lichte des Subsidiaritätsprinzips, in: Becker (Hrsg.), Handbuch Europäische Union, 2020, S. 567 (568). 46 Grimm/Cooper (Fn. 43), S. 110, kursiv im Original. 47 Andreas Ette, Migration and refugee policies in Germany, 2017, S. 19; siehe auch Rebecca Adler-Nissen, Opting Out of an Ever Closer Union: The Integration Doxa and the Management of Sovereignty, West European Politics 34 (2017), S. 1092 und Bendel/Ette/ Parkes, The Diversity of European Justice and Home Affairs Cooperation, in: Bendel/Ette/ Parkes/Haase (Hrsg.), The Europeanization of control. Venues and outcomes of EU justice and home affairs cooperation, 2011, S. 9. 48 Hans-Jürgen Bieling, Europäische Staatlichkeit, in: Voigt (Hrsg.), Handbuch Staat, 2018, S. 305 (306).

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Souveränität begegnet uns im Prozess und in Folge der Europäischen Integration also in einem neuen Gewand, das sich vor allem durch seine Komplexität und Mehrdimensionalität auszuzeichnen scheint. „Die Europäisierung der Grenzsicherungspolitik verwischt das Nationalstaatsmodell, das Souveränität und Kompetenzen eindeutig zuweist“49. Die europäischen Erweiterungs-, Grenz- und Migrationspolitik führt zu neuen Formen geteilter Souveränität50 oder gar zu „Postsouveräner Territorialität“ wie Autorinnen und Autoren um Jureit/Tietze das Phänomen fassen51. Diese Postsouveränität zeichne sich durch eine Übertragung und Aufteilung von Souveränitätsrechten und „vereinheitlichte Verfahren in europäisch verzahnten Entscheidungs- und Handlungsstrukturen“52 aus. Der Schengen-Raum ist ein prädestiniertes Beispiel für diese neue Form der Souveränität, die aktuellen Entwicklungen von Frontex eine „in der Geschichte Europas beispiellose Kompetenzübertragung auf europäische Ebene“53. Die letzte Frontex-Verordnung von 2019 hat dabei eine Grenzschutzeinheit hervorgebracht, die „weder vollständig supranational, noch nationalstaatlich verfasst ist“54 und damit ein Paradebeispiel der neuen, komplexen Souveränitätskonstruktion in Europa darstellt. Trotz der kontroversen akademischen, und auch politischen, Debatte zur Wechselwirkung zwischen dem sich zunehmend europäisierenden Grenzregimes und nationalstaatlicher Souveränität besteht seit einiger Zeit so etwas wie ein Konsens, „that States have less control over activities which take place on their territories than previously, and less independence to take unilateral decisions about the management of their frontiers“55. Die Forschung fragt also danach, wie sich das europäische Grenzregime in ständiger Referenz auf seinen nationalstaatlichen Counterpart entwickelt, inwiefern es mit einem Souveränitätstransfer vom Nationalstaat auf die Europäische Union oder neuen Formen der Souveränitätsausübung einhergeht und wie – oder ob – dies nationalstaatliche Souveränität und damit letztlich Nationalstaatlichkeit verändert. In der Debatte bisher unterrepräsentiert ist eine empirische Betrachtung des Phänomens, die ich im Folgenden vollziehen möchte. Ich schlage einen Perspektivwechsel von der Analyse von Souveränität zur Analyse der Perzeption und des diskursiven Gebrauchs von Souveränität durch nationalstaatliche Akteure vor. Souveränität interessiert mich also als empirisches Phänomen in der Vorstellung der Ak49 Monika Eigmüller, Grenzsicherungspolitik, europäische, in: Bach/Bach-Hönig (Hrsg.), Europasoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium, 2018, S. 180 (183). 50 Vgl. Scott (Fn. 20), S. 13; Zaiotti (Fn. 25), S. 219. 51 Ulrike Jureit/Nikola Tietze, Postsouveräne Territorialität, 2015, S. 23; siehe auch William Walters, Mapping Schengenland, in: Atzert/Karakayali/Pieper/Tsianos (Hrsg.), Biopolitik – in der Debatte, 2011, S. 305 (315) und Grimm/Cooper (Fn. 43), S. XII. 52 Jureit/Tietze (Fn. 51), S. 22. 53 Bernd Kasparek, Europa als Grenze, 2021, S. 15. 54 Kasparek (Fn. 53), S. 333. 55 Malcolm Anderson, Researching European Frontiers, Journal of Borderlands Studies 25 (2010), S. 232 (235).

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teure. Ziel dieser Analyse ist, die aktuelle empirische Relevanz des Konzeptes Souveränität zu erfassen und dabei auch die spezifische Situation der Außengrenzstaaten, deren Grenzen im europäischen Grenzregime doppelt codiert sind, zu berücksichtigen. Dafür ist es notwendig, die wissenschaftliche Analyse des Wandels von Souveränität um Analysen der Interpretationen und diskursiven Bezugnahmen auf Souveränität von nationalstaatlichen Akteuren in Außengrenzstaaten der Europäischen Union zu erweitern.

V. Souveränität als empirisches Phänomen: das Beispiel Italien Die Untersuchung von Souveränität als empirisches Phänomen in der Vorstellung von Akteuren war Teil meiner Studie „Die doppelt codierte Grenze und der Nationalstaat in Europa“56. Als Fallbeispiel diente Italien, das zum einen exemplarisch für die südlichen Außengrenzstaaten der Europäischen Union steht, sich zum anderen durch seine exponierte Rolle im europäischen Grenzregime auszeichnet. Die Grenzen Italiens sind wie die der anderen peripheren Staaten der Europäischen Union doppelt codiert, das heißt sie sind sowohl nationale Grenzen als auch europäische Grenzen (s. o.). Wie interpretieren und perzipieren staatliche Akteure die nationale Souveränität Italiens vor dem Hintergrund des europäischen Grenzregimes und speziell der doppelten Codierung ihrer Grenzen? Die zentralen Antworten auf diese Frage aus meiner Interviewstudie in Italien stelle ich im Folgenden vor. Entscheidend für die Beantwortung der Frage ist, dass auch in der Akteursperspektive die doppelte Codierung der Grenze präsent ist: Weil der Raum, der Schengenraum, den die Grenzen fassen, europäisch ist, sind für die Akteure auch die Grenzen europäisch. Durch die Schengen-Abkommen wurde ein gemeinsamer europäischer Binnenraum geschaffen, aus dem sich eine gemeinsame Außengrenze ergibt. Wer die Außengrenzen passiert, übertritt in der italienischen Sichtweise also eine europäische Grenze – aus einem gemeinsamen Innen folgt ein gemeinsames Außen. Der europäische Raum, dessen Faktizität die staatlichen Akteure also als gegeben voraussetzen, wird in ihrer Perzeption zur relevanten ordnungsbildenden Größe. Es ist dieser Raum, auf den sich die Grenzkontrollen beziehen. Auch das für sie relevante grenzüberschreitende Phänomen der Migration wird von den Akteuren als eindeutig europäisch identifiziert. „[L]oro non vengono per venire in Italia, loro vengono per venire in Europa“ (Führungsperson im Kabinett des Innenministers)57, ist dafür ein beispielhaftes Zitat aus meinen Interviews58. Die italienischen Akteure be56

Isabel Hilpert, Die doppelt codierte Grenze und der Nationalstaat in Europa, 2020. „Sie kommen nicht, um nach Italien zu kommen, sie kommen, um nach Europa zu kommen“. Die Interviews wurden auf Italienisch geführt, alle Übersetzungen von der Autorin. 58 Datenbasis sind Experteninterviews mit Führungspersonen im italienischen Innenministerium und Außenministerium sowie mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus dem Präsidium des Parlamentarischen Komitees für Schengen, Europol und Migration (SchengenPräsidium) aus dem Jahr 2015. Diese Interviews wurden durch eine umfassende Dokumen57

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greifen ihre nationalen Außengrenzen, aber auch die aller weiteren Außengrenzen der peripheren Mitgliedstaaten, dabei als Stellvertretergrenzen für die gesamte Europäische Union. Sie kontrollieren und schützen die Außengrenze stellvertretend für alle Mitgliedstaaten. Die nationalen Außengrenzen repräsentieren die europäische Grenze. Alle Außengrenzstaaten sind dabei die Repräsentanten, die anderen Staaten und die Europäische Union als Ganze sind die Repräsentierten. „Noi lo siamo dal punto di vista geografico la frontiera esterna, siamo la frontiera dell’Europa nel Mediterraneo, siamo la frontiera per la Germania nel Mediterraneo, non siamo solo nostra. Anzi, la maggior parte di chi viene in Italia vuole arrivare in altri paesi. Quindi noi siamo la porta d’ingresso, subiamo il fatto che dei migranti, per poter arrivare negli altri paesi, passano da noi“59 (Mitglied Schengen-Präsidium).

Die italienische Grenze wird also als europäische Grenze verstanden – von den italienischen staatlichen Akteuren und in deren Narration auch von den Migrantinnen und Migranten, die über Italien an ihr eigentliches Ziel in anderen europäischen Staaten gelangen. Die Darstellung Italiens als Transitland für Migrantinnen und Migranten nach „Europa“, was dann zwingend etwas anderes als „Italien“ zu sein scheint, hat die Funktionen, grenzüberschreitende Migration als europäisches Phänomen zu deklarieren und unter anderem auch migrantischen Widerstand bei der Registrierung und Identifikation zu erklären. Die italienische Grenze als europäische Grenze ist in der Akteursperzeption nun aber keine eigenständige Entität, die nationale Grenzen ersetzt hätte, sondern hat sich zu etwas neuem modifiziert. Was wir theoretisch als doppelte Codierung der Grenze fassen, nehmen auch die Akteure wahr: eine Kongruenz der nationalen und europäischen Grenze im europäischen Grenzregime, die sich für sie als Stellvertretergrenze manifestiert. Diese Stellvertretergrenze bedeutet für die einzelnen Außengrenzstaaten zusätzliche supranationale Aufgaben durch die vertraglichen Verpflichtungen und die Zuständigkeit für Grenzkontrollen im gemeinsamen europäischen Interesse und nach gemeinsamen Standards. Die Akteure perzipieren eine Kongruenz der nationalen und europäischen Grenze im europäischen Grenzregime also im Sinne einer Repräsentanz der einen – europäischen – durch die andere – nationale – Grenze. Die Grenzen sind damit als Stellvertretergrenzen Teil einer größeren europäischen Grenze, aber weiter in ihrer Zugehörigkeit zu einem einzelnen Nationalstaat erkennbar. Durch die zusätzlichen supranationalen Aufgaben bedeuten die Stellvertretergrenzen für die betreffenden Staaten der europäischen Peripherie Probleme und Heraustenanalyse ergänzt. Detaillierte Angaben zum Forschungsdesign und den Interviewpartnerinnen und Interviewpartner in Hilpert (Fn. 56), S. 61. 59 „Wir sind aus geographischer Sicht die Außengrenze, wir sind die Grenze Europas im Mittelmeer, wir sind die Grenze für Deutschland im Mittelmeer, wir sind nicht nur unsere. Im Gegenteil, die meisten, die nach Italien kommen, wollen in andere Länder gelangen. Wir sind also das Tor. Wir leiden darunter, dass die Migranten uns passieren, um in andere Länder zu gelangen“.

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forderungen, die Binnengrenzstaaten des europäischen Zentrums nicht haben. Die doppelte Codierung der Grenzen wird für die Akteure also als gegeben vorausgesetzt. Vor dem Hintergrund der doppelt codierten Grenze muss Italien agieren. „[L]a sovranità italiana non cambia. Però abbiamo bisogno di aiuto europeo“ (Führungsperson im Kabinett des Innenministers)60. – Dieses Zitat einer Interviewten bringt das italienische Souveränitätsverständnis im Kontext des europäischen Grenzregimes auf den Punkt. Für die staatlichen Akteure ist unter der Prämisse der doppelten Codierung der Grenze eine weitreichende Europäisierung des Grenzschutzes im nationalen Interesse Italiens, weil sie dem Staat weiterhin Handlungsfähigkeit garantiert. Die Akteure assoziieren mit der Stellvertretergrenze zahlreiche Probleme der Seenotrettung, der Grenzkontrolle oder der Aufnahme der Migrantinnen und Migranten, die sich in ihrer Wahrnehmung nur durch eine europäische Beteiligung lösen lassen. Das Land ist nicht nur bereit, sondern fordert vielmehr eine weitreichende Präsenz und Aktivität supranationale Institutionen wie der Grenzschutzagentur Frontex an der italienischen Außengrenze –konkret zum Beispiel Frontex-Patrouillen in ihren Gewässern, europäische Seenotrettungsaktionen oder von der Europäischen Kommission koordinierte Erstaufnahmezentren und die Erfassung der anlandenden Migrantinnen und Migranten. Italien öffnet dabei einen staatlichen Kernbereich, den Grenzschutz, für supranationale Institutionen um Herausforderungen, die durch die doppelte Codierung der Grenze entstehen, zu begegnen und so trotz der doppelten Codierung nationale Interessen an der Grenze zu wahren. Diese faktisch geteilte Ausübung der Hoheitsrechte wird dabei erstens als von Italien freiwillig und eigeninitiativ und zweitens als anlassbezogene, ausführende Unterstützung gerahmt: Befragter: l’Italia ha chiesto che questo flusso, in particolar questo problema, chiamiamolo così insomma, dell’immigrazione clandestina, dei profughi eccetera attraverso il Mediterraneo […] fosse una presa di coscienza europea e non soltanto nazionale. Non abbiamo perso la nostra autonomia, diciamo, facendoci aiutare dall’Europa nel controllare tutte queste, diciamo coste, migliaia di chilometri di coste, che abbiamo, come posso dire, inserito dentro il Mediterraneo. […] E quindi è stata l’Italia a volerlo […] e quindi non perdiamo la nostra autonomia. Cerchi di capirmi, cioè, ma invece, come dire, ci facciamo aiutare perché è giusto che il problema sia europeo e non soltanto italiano o greco, vista l’entità. Interviewerin: Ho capito. Befragter: Questo parliamo delle frontiere marittime ovviamente. Perché frontiere terreste, quelle con la Svizzera, non c’è bisogno di nessuno. (zweites Mitglied Schengen-Präsidium)61 60

„Die italienische Souveränität ändert sich nicht. Aber wir brauchen europäische Hilfe“. Befragter: Italien wollte, dass dieser Fluss, dieses Problem, nennen wir es mal so, der illegalen Einwanderung, der Flüchtlinge und so weiter über das Mittelmeer, es war Italien, das wollte, dass dafür ein europäisches Bewusstsein und nicht nur ein nationales entsteht. Dass wir uns von Europa helfen lassen diese Küsten,Tausende Kilometer Küste, die wir, wie soll ich sagen (fragend), mitten im Mittelmeer haben, zu kontrollieren, heißt nicht, dass wir unsere Autonomie verloren haben. […] Es war Italien, das das wollte, […], und deshalb verlieren wir 61

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Das Schengen-Präsidiumsmitglied argumentiert hier, dass Italien eine europäische Unterstützung bei den Außengrenzkontrollen selbst initiiert, in europäischen Verhandlungen eingefordert hat und auch erhält. Es wirbt um Verständnis der Sichtweise, dass die supranationale Beteiligung an Grenzkontrollen kein Autonomieverlust für Italien ist, sondern vielmehr die Vergemeinschaftung oder gar Externalisierung eines Problems. Italien gibt die Kontrollfunktion an der Grenze also nur dann kontrolliert ab, wenn dies aus eigenem Antrieb geschieht. Weil Italien jede Abgabe von Kontrolle unter Kontrolle hat, entstehen aus der geteilten Ausübung der Hoheitsrechte in der Wahrnehmung der Akteure keine Souveränitätskonflikte. Die Verantwortung für den Außengrenzschutz kann im Akteursdiskurs darum abgegeben oder zumindest geteilt werden, ohne dass damit Souveränität abgegeben wird. Die Öffnung des Grenzschutzes für supranationale Institutionen wird nicht als Souveränitätsverlust, sondern im Gegenteil vielmehr als Garant der italienischen Souveränität wahrgenommen. Entscheidend ist dabei, dass die doppelte Codierung von Grenzen dann nicht zu einem Souveränitätsproblem für den Nationalstaat wird, wenn die nationalen und europäischen Interessen als deckungsgleich verstanden und diskursiv aufrechterhalten werden. Dieses Souveränitätsverständnis ist nutzenorientiert und pragmatisch. Es hat sich den Gegebenheiten des europäischen Grenzregimes angepasst und reproduziert dieses dabei gleichzeitig. Wir können annehmen, dass sich die italienischen Akteure der Möglichkeit des de facto Verlustes von Grenzschutzkompetenzen an die supranationalen Institutionen dabei durchaus bewusst sind. Da die Außengrenze von den staatlichen Akteuren in Italien aber vor allem mit Problemen für Italien assoziiert wird, tritt die abstrakte Möglichkeit eines Kontrollverlustes, der zu einer noch abstrakteren Möglichkeit eines Souveränitätsverlustes führen könnte, hinter der praktischen Notwendigkeit der Problemlösung auf supranationaler Ebene zurück. Die kalkulierte Abgabe von Grenzschutzaufgaben an die supranationale Ebene trägt dabei im Effekt zur Aufrechterhaltung der italienischen Souveränität bei. Dennoch betonen die staatlichen Akteure, dass Italien die Abgabe von Grenzkontrolle unter Kontrolle und die Deutungs- und Handlungshoheit damit letztendlich nicht verloren hat. Dies zeugt von der fortbestehenden Relevanz der Souveränitätsfrage im öffentlichen Diskurs. Der Schein der klassischen nationalstaatlichen Souveränitätsvorstellung, die bedingungslose Versicherung nationaler Hoheit, muss aufrechterhalten werden – bei gleichzeitiger Akzeptanz einer faktischen Abgabe von Souveränitätsrechten zugunsten fortbestehender Handlungsfähigkeit im europäischen Grenzregime. Wenn sich politische Akteure anderer Mitgliedstaaten oder unsere Autonomie nicht. Versuchen Sie mich zu verstehen, wir lassen uns vielmehr helfen, denn es ist richtig, dass das Problem in Anbetracht seiner Bedeutung europäisch und nicht nur italienisch oder griechisch ist. Interviewerin: Ich verstehe. Befragter: Hier geht es natürlich um die Seegrenzen. Bei den Landgrenzen, mit der Schweiz, da brauchen wir niemanden.

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der Europäischen Kommission dieses Souveränitäts-Konstrukts nicht bewusst sind oder es in der Kommunikation mit den peripheren Staaten der Europäischen Union nicht berücksichtigen, führt dies zu prompten Irritationen in den betroffenen Staaten. So regte sich beispielsweise im Jahr 2018 auf den wiederholten Vorschlag der Europäischen Kommission, im Notfall an der europäischen Außengrenze auch ohne das Einverständnis des Außengrenzstaates intervenieren zu können, in den Außengrenzstaaten massiver Widerstand62. Dieser erklärt sich auch aus der Nicht-Berücksichtigung des fragilen Konstruktes aus nutzenorientiertem, pragmatischem Souveränitätsverständnis und diskursiver Aufrechterhaltung klassischer nationalstaatlicher Souveränität.

VI. Conclusio Waren Staat, Souveränität und Grenzen im klassischen Verständnis moderner Nationalstaatlichkeit elementar und exklusiv miteinander verbunden, ist diese Eindeutigkeit im Prozess der Europäischen Integration verloren gegangen. Die Entwicklung eines genuin europäischen Grenzregimes brachte tiefgreifende Transformationen mit sich: Grenzen und Grenzschutz veränderten sich, beginnend mit den Schengen-Abkommen, hin zu externalisierten Grenzkontrollen und Grenzschutz, verhandlungsabhängigen Grenzen und die supranationale Agentur Frontex entstand. Die Grenzen der peripheren Staaten der Europäischen Union wurden im europäischen Grenzregime zu doppelt codierten Grenzen. Sie sind sowohl national als auch europäisch. Die Gestalt und das Konzept von (nationaler) Souveränität veränderten sich hin zu einem komplexen, uneindeutigen, mehrdimensionalen Phänomen. Dies gilt ganz besonders mit Blick auf die nationale Souveränität der peripheren Staaten der Europäischen Union. In der Analyse von Souveränität als empirisches Phänomen konnte ich am Beispiel Italien zeigen, dass die nationalstaatliche Perzeption der eigenen Außengrenze, das Verständnis von Souveränität und das grenzbezogene Handeln durch die doppelte Codierung der Grenze maßgeblich und nachhaltig beeinflusst werden. Der Nationalstaat mit doppelt codierter Außengrenze strebt im europäischen Grenzregime eine weitreichende Europäisierung der Grenze an, weil dies nationale Handlungsfähigkeit gewährleistet. Die Perzeption der eigenen Außengrenze als Stellvertretergrenze Europas, die im Zusammenspiel mit den anderen Stellvertretergrenzen die europäische Grenze bildet, führt in der nationalstaatlichen Wahrnehmung zu Unterstützungsansprüchen63 gegenüber den anderen europäischen Staaten und zur faktischen Notwen62

Frankfurter Allgemeine Zeitung, EU-Innenminister verschieben ehrgeizige Grenzschutzpläne um Jahre, 2018, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/eu-innenminister-ver schieben-ehrgeizige-grenzschutzplaene-15928137.html. 63 Ähnliche oder gar identische Diskurse wie die der italienischen Akteure aus anderen peripheren Staaten der Europäischen Union unterstreichen die Anschlussfähigkeit der Studienergebnisse: So spricht die spanische Regierung in diversen Verlautbarungen immer wieder

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digkeit nationalstaatlicher Souveränitätseinschränkungen zugunsten der Aufrechterhaltung eben dieser Handlungsfähigkeit. Der Außengrenzstaat öffnet einen staatlichen Kernbereich, den Grenzschutz, für supranationale Institutionen, um Herausforderungen, die durch die doppelte Codierung der Grenze entstehen, zu begegnen und so trotz der doppelten Codierung nationale Interessen an der Grenze zu wahren. Dieses nutzenorientierte, pragmatische Souveränitätsverständnis der staatlichen Akteure bei gleichzeitiger diskursiver Aufrechterhaltung des traditionellen Souveränitätskonzeptes ist ein Konstrukt, das versucht, den Konflikt zwischen der Europäisierung der Grenze und nationaler Souveränität aufzulösen. Es findet dabei eine diskursive Entkopplung der nationalstaatlichen grenzbezogenen Handlungsfähigkeit von der unteilbaren, absoluten Hoheit über die Außengrenzen statt. Souverän ist, wer handlungsfähig ist, auch wenn dies eine geteilte Zuständigkeit für die Grenzen bedeutet. Hierin besteht die aktuelle empirische Relevanz des Konzeptes Souveränität. Die Analyse der Akteursvorstellungen von Souveränität ergänzt die gängigen wissenschaftlichen Betrachtungen des Wandels staatlicher Souveränität im Kontext des europäischen Grenzregimes indem sie zeigt, dass es in der Europäischen Union nicht nur zu neuen Formen der Ausübung von Hoheitsrechten gekommen ist, sondern vor allem auch zu einem neuen Verständnis von Souveränität. Die Europäisierung des Grenzregimes schreitet indes weiter voran. Mit den European Border and Coast Guard standing corps hat Frontex seit 2019 erstmals eine Einheit mit grenzpolizeilichen Exekutivbefugnissen an den Außengrenzen der Europäischen Union geschaffen64. Es ist abzusehen, dass diese zu neuen Fragen der Souveränitätsausübung in der Europäischen Union führen wird. Schon jetzt offenbaren sich Konflikte über die geteilte Ausübung von vormals eindeutig nationalstaatlichen Grenzschutzaufgaben, beispielsweise wenn sich Frontex und Griechenland darüber streiten, wer bei gemeinsamen Einsätzen eigentlich die Verantwortung für illegale Pushbacks von Migrantinnen und Migranten in den Gewässern zwischen der Türkei von Spanien als Transitzone für andere Staaten der Europäischen Union und von Migration nach Spanien als einem europäischen Problem, das europäische Lösungen erfordert (z. B. in Sandra Louven, Spanien ist für Migranten zum wichtigsten Einfallstor nach Europa geworden, 2018, https://www.handelsblatt.com/politik/international/einwanderung-spanien-ist-fuer-mi granten-zum-wichtigsten-einfallstor-nach-europa-geworden/23179516.html?ticket=ST5070802-RJ10Mgtz7g0DAev6aOYQ-ap1). In kroatischen Diskursen ist zu hören: „We are not Just the Border of Croatia; This is the Border of the European Union …“ (Carolin LeutloffGrandits, Journal of Borderlands Studies 2022). Auch Regierungsvertreterinnen der Kanarischen Inseln appellieren immer wieder an die Europäische Union: „Die Kanarischen Inseln sind die südliche Grenze Europas und daher brauchen wir eine Antwort von der EU“ (Gobierno de Canarias, Santana: „Canarias es la frontera Sur de Europa y, por tanto, necesitamos una respuesta de la UE“, 2020, https://www3.gobiernodecanarias.org/noticias/?s=Canaria s+es+la+frontera+Sur+de+Europa, Übersetzung von der Autorin). 64 Vgl. Europäisches Parlament/Rat, Verordnung (EU) 2019/1896 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2019 über die Europäische Grenz- und Küstenwache, 2019.

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und Griechenland trägt65. Dies sind ganz praktische Folgen einer der bedeutendsten Integrationsschritte der Europäischen Union, die in den Schengen-Abkommen über den freien Personenverkehr in der Europäischen Union ihren Ursprung hatten. Literatur Adler-Nissen, Rebecca, Opting Out of an Ever Closer Union: The Integration Doxa and the Management of Sovereignty, West European Politics 34 (2011), S. 1092 – 1113. Adnkronos, Migranti, Giro: „Ue alza voce ma non basta, frontiera Italia è frontiera Europa“, 2017. https://www.adnkronos.com/fatti/esteri/2017/05/19/migranti-giro-alza-voce-non-bas ta-frontiera-italia-frontiera-europa_8eLYxkobpGsLETF9YdLPfN.html (30. 1. 2019). Alfano, Angelino, Lampedusa non è confine Italia ma Europa, 2013. http://www.angelinoalfano. it/17457/angelinoalfanolampedusaconfineitaliaeuropa (1. 6. 2016). Anderson, Benedict, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London/New York, 2016. Anderson, Malcolm, Researching European Frontiers, Journal of Borderlands Studies 25 (2010), S. 232 – 250. ANSA, Napolitano, Lampedusa frontiera europea, 2011. https://www.ansa.it/web/notizie/rubri che/politica/2011/03/30/visualizza_new.html_1529447538.html (30. 10. 2018). Bach, Maurizio, Die Konstruktion von Räumen und Grenzbildern in Europa. Von verhandlungsresistenten zu verhandlungsabhängigen Grenzen, in: Eigmüller, Monika/Mau, Steffen (Hrsg.), Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Sozialwissenschaftliche Ansätze zur Europaforschung, 2010, S. 153 – 178. Bach, Maurizo, Jenseits der Souveränitätsfiktion. Der Nationalstaat in der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Der entmachtete Leviathan. Löst sich der souveräne Staat auf?, 2013, S. 105 – 124. Baumann, Mechthild, Frontex und das Grenzregime der EU, focus Migration 25 (2014), S. 1 – 16. Bendel, Petra/Ette, Andreas/Parkes, Roderick, The Diversity of European Justice and Home Affairs Cooperation: A Model-Testing Exercise on Its Development and Outcomes, in: Bendel, Petra/Ette, Andreas/Parkes, Roderick/Haase, Marianne (Hrsg.), The Europeanization of control. Venues and outcomes of EU justice and home affairs cooperation, 2011, S. 9 – 38. Beurskens, Kristine/Miggelbrink, Judith, Special Section Introduction – Sovereignty Contested: Theory and Practice in Borderlands, Geopolitics 22 (2017), S. 749 – 756. Bieling, Hans-Jürgen, Europäische Staatlichkeit, in: Voigt, Rüdiger (Hrsg.), Handbuch Staat, 2018, S. 305 – 316. Bodin, Jean, Über den Staat, 1976 [1583]. 65 Spiegel International, Classified Report Reveals Full Extent of Frontex Scandal, 2022, https://www.spiegel.de/international/europe/frontex-scandal-classified-report-reveals-full-ex tent-of-cover-up-a-cd749d04-689d-4407-8939-9e1bf55175fd.

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Stato e sovranità Lineamenti di una storia concettuale Di Gennaro Imbriano Obiettivo del seguente contributo è, in primo luogo, quello di delineare una storia della genesi e dello sviluppo del concetto di “sovranità” in connessione con quello di “Stato” nella filosofia politica della modernità europea. Partendo dalla sistematizzazione moderna del concetto di “sovranità”, si percorreranno la sua evoluzione all’interno del paradigma giusnaturalistico e contrattualistico e la sua progressiva trasformazione in senso democratico nel quadro del contesto materiale che ha determinato gli sviluppi del concetto. In secondo luogo, si mostreranno alcuni snodi di carattere teorico che hanno segnato il dibattito su “Stato” e “sovranità” tra Otto e Novecento e, infine, si tenterà di verificare il contributo che un’analisi begriffsgeschichtlich di “sovranità” può fornire per inquadrare problematicità e attualità del concetto nell’ambito del processo di integrazione europea.

I. Alle origini del concetto moderno di sovranità Nella modernità filosofica europea il concetto di “sovranità” è stato pensato in una relazione di stretta e reciproca determinazione con quello di Stato, secondo un preciso nesso di coappartenenza: la sovranità come proprietà della statualità – lo Stato come portatore della sovranità1. A rendere esplicita questa relazione è, alla fine del sedicesimo secolo, Jean Bodin: “per Stato si intende il governo giusto che si esercita con potere sovrano su diverse famiglie e su tutto ciò che esse hanno in comune tra loro”2. Se si fa eccezione per il rispetto della legge divina, dalla quale il suo stesso potere dipende, il sovrano è sciolto da ogni obbligazione. La sua sovranità è, in primo luogo, assoluta, cioè autonoma da qualunque altro tipo di forza residuale che intenda limitarne la portata e totalmente indipendente da altri poteri: se così non 1

Per una prima introduzione al tema rinviamo a: Carlo Galli, Sovranità, il Mulino, Bologna, 2019; Luigi Ferrajoli, La sovranità nel mondo moderno: nascita e crisi dello stato nazionale, Anabasi, Milano, 1995; AA. VV., Staat und Souveränität, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Klett-Cotta, Stuttgart, 1971 ff., Bd. 6, pp. 1 – 154. 2 Jean Bodin, I sei libri dello Stato, Utet, Torino, 1964 segg., vol. I (1964), p. 159.

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fosse, infatti, non potrebbe esercitarsi pienamente e sarebbe soggetta a vincoli che impedirebbero uno svolgimento pieno delle sue funzioni. “Perciò la sovranità conferita a un principe con certi obblighi e a certe condizioni non è propriamente sovranità né potere assoluto”3. Se si fa eccezione per “le leggi di Dio e della natura”4, alle quali lui stesso è vincolato, “chi è sovrano, insomma, non deve essere in alcun modo soggetto al comando altrui, e deve poter dare la legge ai sudditi, e scancellare o annullare le parole inutili in essa per sostituirne altre, cosa che non può fare chi è soggetto alle leggi o a persone che esercitino potere su di lui”5. Se “la legge dipende da colui che ha la sovranità”, ne deriva che “egli può obbligare tutti i sudditi”, mentre “non può obbligare se stesso”6 : in quanto titolare della produzione delle leggi, il sovrano non è tenuto a rispettarle. Pur essendo così concepita, la sovranità ha tuttavia taluni limiti, che concorrono a definirne più precisamente il campo d’applicazione7. In primo luogo, come detto, il sovrano – in quanto deriva il suo potere direttamente da Dio, “del quale esso è l’immagine in terra”8, come scrive Bodin usando una metafora destinata ad avere largo seguito9 – non può derogare dal rispetto delle leggi di natura, che sono introdotte nel mondo direttamente da Dio. Ma v’è di più: se una obbligazione civile possiede un contenuto positivo la cui negazione dovesse implicare la violazione della legge naturale, essa è vincolante anche per il sovrano. Sarebbe pertanto un “errore” considerare che “un principe non può essere vincolato che dalla legge di natura”, giacché “è ben certo, in materia di diritto, che se la convenzione appartiene al diritto naturale o a quello comune a tutte le genti, anche l’obbligazione e l’azione sono della stessa natura”10. La deroga al diritto civile, tuttavia, così come quella al diritto delle genti e al diritto consuetudinario, è sempre possibile per il sovrano: il comportamento che questi dovrà seguire, rispetto alla legge civile (sua violazione, sua trasformazione, suo integrale rispetto, etc.) sarà unicamente ispirato dalla necessità di adeguarsi alla legge naturale. “Se la giustizia è il fine della legge, la legge è opera del principe, il principe immagine di Dio, ne consegue logicamente che la legge del principe deve modellarsi direttamente sulla legge di Dio”11.

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Ivi, p. 354. Ibid. 5 Ivi, pp. 358 – 359. 6 Ivi, p. 365. 7 Giorgio Rebuffa, Jean Bodin e il princeps legibus solutus, Materiali per una storia della cultura giuridica, vol. 2 (1972), pp. 91 – 123. 8 Bodin (nota 2), vol. I, p. 477. 9 A proposito della relazione teologico-politica tra Dio e sovrano cfr., da ultimo, Geminello Preterossi, Teologia politica e diritto, Laterza, Roma-Bari, 2022. 10 Bodin (nota 2), vol. I, p. 391. 11 Ivi, p. 406. 4

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Questo quadro è ulteriormente complicato dal fatto che esistono, a detta di Bodin, alcune leggi civili, in particolare quelle che hanno a che fare con la struttura costituzionale del regno, al rispetto delle quali il principe dovrebbe sempre attenersi. “Il principe non può derogare a quelle leggi che riguardano la struttura stessa del regno e il suo assetto fondamentale, in quanto esse sono connesse alla corona e a questa inscindibilmente unite (tale è, per esempio, la legge salica)”12. Naturalmente, questo concerne solo ed esclusivamente leggi di tal fatta, non invece le leggi civili in generale, giacché il sovrano non sarebbe tale se non potesse in linea di principio – e ove ciò non contravvenisse alla legge di natura – revocare le leggi civili in qualunque momento. Oltre al carattere – così inteso – dell’assolutezza, la sovranità possiede una seconda prerogativa decisiva: è perpetua, cioè esercitata con continuità e senza interruzioni. Chi dovesse detenere il potere assoluto per un periodo di tempo limitato, infatti, sarebbe soltanto il suo momentaneo custode, ma non il sovrano. Così tutta una serie di magistrature (compresa la dittatura romana) non è sovrana, poiché esplicazione di un esercizio di potere che è temporaneo, dunque revocabile in qualunque momento13. Se “sovrano è chi non riconosce nulla di superiore a sé all’infuori di Dio”, ne deriva che tutti coloro che la esercitano in nome del suo reale possessore (magistrati, reggenti, dittatori, delegati, etc.) non sono che i depositari momentanei del suo esercizio, terminato il quale devono restituire la sovranità che hanno nel frattempo preso in custodia. “Sia dunque che si eserciti il potere per commissione, o per nomina, o per delega, ma sempre in nome altrui, per un tempo stabilito o senza limiti di tempo, non si è sovrani, anche se nelle lettere manchi la qualifica di procuratore o luogotenente, governatore o reggente”14. Attribuendo la sovranità così intesa a entità territoriali, di carattere nazionale o locale, Bodin pare cogliere tutti gli elementi della moderna statualità, giacché prefigura un soggetto istituzionale (ancorché ancora largamente “personalizzato” e identificato con la figura del principe e del signore, come diremo) che si presenta come titolare di una funzione che lo mette al di sopra dei poteri molteplici e intermedi (come quello dei ceti o quello del clero) di cui è ancora disseminato il mondo europeo e francese del sedicesimo secolo15. L’indipendenza e l’autonomia del potere sovrano, infine, ne implicano al contempo l’unicità e l’indivisibilità (se così non fosse, verrebbero meno il principio di autonomia e quello di indipendenza, che fondano l’assolutezza), liberando il terreno da qualunque ipotesi di una titolarità allargata o condivisa del potere in seno al ceto aristocratico. Qui si misura, anche se non ancora sviluppato nei termini di una teoria sulla genesi immanente del potere sovrano, il tratto effettivamente moderno della 12

Ivi, p. 368. Ivi, pp. 345 – 346. 14 Ivi, pp. 349, 353. 15 Sul punto cfr. Aldo Garosci, Jean Bodin: politica e diritto nel rinascimento francese, Corticelli, Milano, 1934. 13

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prospettiva di Bodin16. È per questo – per salvaguardare la dimensione assoluta e perpetua del potere sovrano, e fondarlo così su solide basi – che Bodin si dichiara esplicitamente a favore della sovranità monarchica, la quale, garantita dall’univocità della decisione, resta al riparo da qualunque scissione o depauperamento della sua pienezza. “E d’altronde, come potrebbe un popolo, ossia una bestia a più teste, senza giudizio e senza ragione, consigliare qualcosa di buono? Domandare consiglio al popolo, come si faceva anticamente nelle repubbliche popolari, è semplicemente domandare saggezza ai pazzi”17. Contro il “disordine che c’è in una moltitudine, la varietà e l’incostanza della gente riunita insieme, di ogni sorta”18, occorre istituire un governo di una persona. “Il punto principale dello Stato, ch’è il diritto di sovranità, non può essere né sussistere, a parlare con esattezza, se non nella monarchia. Nessuno può esser sovrano in uno Stato se non uno solo; se ci sono due o tre o più persone che esercitano la sovranità, nessuno in realtà è sovrano, poiché nessuno può dare né ricevere legge dal suo compagno”19. Che lo sforzo di Bodin vada effettivamente nella direzione di una fondazione del tutto nuova – moderna – del concetto di sovranità si può ricavare, in effetti, anche dallo studio delle prerogative che questi assegna al potere sovrano. Esso viene intanto svincolato dall’esercizio della giustizia (è, questo, un onere che spetta anche ai magistrati) e dal conferimento delle cariche (anche il popolo elegge, ad esempio nell’antica Roma, i suoi tribuni)20. La prerogativa della sovranità è, piuttosto, quella di dare le leggi, senza alcun limite. “La prima prerogativa sovrana è il potere di dare la legge a tutti in generale e a ciascuno come singolo; ma ancora questo non è sufficiente, se non si aggiunge: ‘senza bisogno del consenso di nessuno’. Se il principe dovesse attendere e osservare il consenso di un superiore, non sarebbe che un suddito”21. Di conseguenza, e legata a questa prima prerogativa, è la seconda, quella di “annullare” le leggi civili già esistenti: “sotto questo stesso potere di dare e annullare le leggi sono compresi tutti gli altri diritti e prerogative sovrane: cosicché potremmo dire che è questa la sola vera e propria prerogativa sovrana, che comprende in sé tutte le altre”22. E, ove si volessero “enumerare” tutte le “altre prerogative” del potere sovrano, Bodin elenca non solo “il far giurare sudditi e uomini ligi di serbare fedeltà senza alcuna eccezione a colui cui il giuramento è dovuto”, ma anche “il dichiarare la 16 Julian H. Franklin, Jean Bodin and the rise of absolutist theory, Cambridge University Press, Cambridge, 1973. 17 Bodin (nota 2), vol. III (1997), p. 449. 18 Ivi, p. 450. 19 Ivi, p. 478. 20 A proposito dei rapporti tra sovranità ed esercizio della giustizia, cfr. Donatella Marocco Stuardi, La République di Jean Bodin: sovranità, governo, giustizia, Angeli, Milano, 2006. 21 Bodin (nota 2), vol. I, p. 491. 22 Ivi, p. 495.

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guerra e concludere la pace, il discutere in appello i giudizi dei magistrati, l’istituire o destituire i più alti ufficiali, l’imporre gravami e contributi ai sudditi o esentarli da essi, il concedere grazie o dispense contro il rigore delle leggi” e, soprattutto, “l’alzare o abbassare il titolo, valore e piede delle monete”, a conferma del carattere innovativo e tutto moderno della sua concezione: lo Stato è effettivamente sovrano soltanto se possiede pieno controllo della sua attività legislativa e la capacità di battere moneta e di stabilirne il valore23. È un punto dirimente della moderna concezione della sovranità, sul quale torneremo.

II. Soggetti e sovrani Nella definizione dei caratteri dello Stato, del resto, Bodin nota che, perché vi sia qualcosa come un’entità sovrana, sono necessari dei presupposti di carattere materiale che ne consentano la sussistenza: il territorio, la popolazione, la terra e gli alimenti. Uno Stato “deve avere territorio sufficiente, spazio proporzionato agli abitanti, terreno fertile e adatto alle coltivazioni, una certa quantità di bestiame per nutrire e vestire i sudditi”24. E, inoltre, deve dotarsi di tutto ciò che occorre “per la difesa e la protezione materiale del popolo”, “tutto ciò che può servire a costruire case e piazzeforti, se il luogo non è già di per sé abbastanza riparato e facile a difendersi”. Solo a questo punto si provvede alle cose “piacevoli ed inutili”, dopo avere assicurato quelle “necessarie ed utili”. Infatti “resta ben certo che lo Stato non può essere ben ordinato, se si trascurano per lungo tempo o addirittura totalmente le attività ordinarie, la pratica della giustizia, la protezione e la difesa dei sudditi, i viveri e gli approvvigionamenti necessari al loro mantenimento”25. Ciò non vuol dire che lo Stato non debba avere una missione intellettuale o morale: ma per poter adempiere ad essa, deve dapprima assicurarsi – pena la sua stessa sussistenza – gli elementi fondamentali della sua vita. Nonostante queste intuizioni pionieristiche, però, il concetto bodiniano di sovranità resta connotato, in linea con le prerogative del pensiero giuridico egemone all’epoca, dalla concezione dell’origine trascendente e divina del potere26. È proprio il diritto divino – e la sua espressione in seno al diritto naturale – a regolarne, infatti, applicazione e limiti. Inteso come potere assoluto e perpetuo (continuo), in effetti, il potere sovrano è espressione di una volontà irresistibile solo perché la sua legittimazione deriva dall’alto, essendo rappresentazione terrena – immagine, come si è detto – dell’irresistibilità del potere divino27. 23

Ibid. Ivi, p. 166. 25 Ivi, p. 170. 26 Su questo si veda Margherita Isnadi Parenti, Introduzione a J. Bodin (nota 2), pp. 9 – 100. 27 Jean-Fabien Spitz, Bodin et la souveranité, PUF, Paris, 1998. 24

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Non è un caso che la figura del sovrano sia sempre personalizzata, e le sue caratteristiche descritte con costante riferimento a quelle del signore feudale; allo stesso modo, i rapporti tra il principe e il suddito vengono intesi sulla scorta delle molteplici relazioni feudali tra signore, vassallo, ligio, servo e affrancato. Così, ad esempio, Bodin scrive che “il principe sovrano, il padrone, il signore, il patrono ottengono profitto e obbedienza in cambio della difesa ch’essi fanno dei sudditi, schiavi, affrancati o vassalli”28. Lo stesso rapporto tra suddito e signore, del resto, allude al vincolo dell’obbedienza in cambio della protezione, tratto caratteristico del dominio premoderno. “La parola protezione si estende in generale a tutti i sudditi che si trovano in condizione di obbedienza a un principe e signore sovrano”, poiché “il principe” ha “l’obbligo di garantire con la forza delle armi e delle leggi le persone, i beni, la famiglia dei sudditi”, così come questi ultimi devono “per obbligo reciproco” “al loro principe soggezione, fedeltà, obbedienza, aiuto, soccorso”29. Ciò è confermato dal fatto che Bodin declina costantemente la sovranità – e le sue varie articolazioni concrete – sempre con riferimento ai rapporti giuridici medievali, ad esempio proponendo di comprenderne la peculiarità a partire dalla differenza tra gli istituti del protettorato e del vassallaggio. Mentre il vassallo dipende interamente dal suo signore, che gli concede un feudo, in cambio del quale reclama obbedienza e omaggio, il protetto è a tutti gli effetti sovrano – a differenza del vassallo –, giacché è alleato con un signore suo pari grado ma più forte: qui non vi è obbligo di obbedienza, perché se essa viene meno il protetto non perde il suo territorio. Se “il semplice vassallo, sia anche papa, re o imperatore, è soggetto ad altri e deve servizio al signore dal quale riceve il feudo, benché possa esimersi da ogni obbligo di fedeltà e di omaggio lasciando il feudo”, al contrario “il protetto, soprattutto se è un principe sovrano, non deve servizio, né obbedienza, né omaggio”30. Così “il principe sovrano che si ponga sotto la protezione di un altro” non perde “il suo diritto di sovranità, divenendo suddito. A tutta prima parrebbe ch’egli non potesse più esser considerato sovrano, dal momento che riconosce qualcuno superiore a sé. In realtà egli resta sovrano e non diviene suddito”31. È pur vero che Bodin richiama costantemente questi concetti proprio perché intende tracciare delle linee di confine e delle differenze qualitative tra principe sovrano e signore medievale e, per converso, tra suddito e servo (o ligio): ma, appunto, la ricerca di una specificità non implica che si riesca a superare, di fatto, il riferimento costante a queste figure, intendendo la sovranità come declinazione o come specifica espressione di un rapporto che resta sempre quello del signore con il suo sottoposto (che sia servo, ligio, vassallo o suddito). Per non parlare del riferimento costante agli obblighi di omaggio da un lato e di protezione dall’altro, 28

Bodin (nota 2), p. 317. Ibid. 30 Ivi, p. 320. 31 Ivi, p. 323.

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che connotano l’attitudine ancora “signorile” della sovranità bodiniana. “Quel potere assoluto e perpetuo ch’è proprio dello Stato” – così è definita la sovranità – viene non casualmente paragonato, per darne una visione concreta, alla “signoria”, “parola che gli italiani usano tanto parlando di privati quanto di coloro che maneggiano gli affari di Stato”32.

III. La sovranità contrattualistica I tratti dell’assolutezza, della continuità e dell’indivisibilità, definitivamente liberati dall’ipoteca dell’origine divina del potere, torneranno nella concezione hobbesiana della sovranità, la cui genesi pattizia viene rivendicata, mediante lo schema contrattualistico, per sancire la sua totale indipendenza da qualunque pretesa celeste o religiosa. Lo schema è noto: precipitato nella guerra di tutti contro tutti propria dello stato di natura, l’individuo – che Hobbes dota, sul terreno antropologico, di una salda costituzione razionalistico-utilitaristica – opta per una fuoriuscita dalla condizione di guerra mediante il ricorso al patto e alla cessione del suo diritto su ogni cosa a un terzo (il sovrano), che lo esercita per garantire a ciascuno vita e sicurezza33. In primo luogo, dunque, l’individuo che si trova nello stato di natura vi fuoriesce per un calcolo utilitaristico: in esso va vista la ragione ultima della genesi della società. Dato che “le leggi naturali non garantiscono a nessuno, nel momento in cui sono conosciute, alcuna sicurezza nell’osservarle”, poiché “ciascuno, finché non ha qualche garanzia contro l’attacco altrui, conserva il diritto originario di provvedere a sé stesso in qualsiasi modo voglia”, ovvero “il diritto a tutte le cose, o diritto di guerra”, ne segue che “all’esercizio della legge naturale è necessaria la sicurezza”: occorrerà dunque “considerare che cosa possa procurare tale sicurezza”34. Ora, “poiché il cospirare di molte volontà ad un medesimo fine non basta alla conservazione della pace e ad una difesa stabile, si richiede che, riguardo alle cose necessarie per la pace e la difesa, la volontà di tutti sia unica. Ma questo non può avvenire, se ciascuno non sottomette la propria volontà alla volontà di un solo altro, sia un uomo solo o un solo consiglio”35. Tale “sottomissione delle volontà di tutti loro alla volontà di un solo uomo o di un solo consiglio, ha luogo quando ciascuno con un patto si obbliga verso ciascun altro a non resistere alla volontà di quell’uomo

32

Ivi, p. 345. Si veda, per una introduzione generale al giusnaturalismo contrattualista, Norberto Bobbio, Giusnaturalismo e positivismo giuridico, Comunità, Milano, 1965. Quanto a Hobbes, si rimanda a Howard Warrender, Il pensiero politico di Hobbes, Laterza, Roma-Bari, 1995. 34 Thomas Hobbes, De Cive. Elementi filosofici sul cittadino, Editori Riuniti, Roma, 2002, V.1, V.3, pp. 63, 65. 35 Ivi, V.6, p. 68. 33

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o di quel consiglio, cui si è sottomesso”36. Di qui deriva, per Hobbes, la genesi dello Stato, che è il frutto di tale unione pattizia sancita dagli individui dello stato di natura. “L’unione così fatta si chiama Stato, o società civile, e anche persona civile […]. Dunque lo Stato (per definirlo) è una persona unica, la cui volontà, per i patti di molti uomini, va ritenuta come la volontà di tutti costoro”37. Ciò che lo definisce – e veniamo, qui, al tema che ci interessa – è appunto (proprio come accadeva in Bodin) la titolarità della sovranità: “in ogni Stato, si dice che l’uomo o il consiglio alla cui volontà i singoli (come si è detto) hanno sottomesso la loro, si dice che ha la potestà suprema, o il potere supremo, o il dominio. Questa potestà e diritto di potere consiste nel fatto che ciascuno dei cittadini ha trasferito ogni sua forza e potere a quell’uomo o consiglio”38. Proprio come per Bodin, anche per Hobbes la sovranità, per essere tale, deve essere assoluta, dunque affidata a un unico sovrano (che esso sia una persona o un consiglio) e, infine, indivisibile, pena la sua effettività. “Da quanto già detto è evidentissimo che in ogni Stato perfetto […] vi è in qualcuno un potere supremo, tale che gli uomini non possono legittimamente conferirne uno maggiore […]. Ma un potere tale […] lo chiamiamo assoluto”39. Perché sia tale, deve essere affidato a un unico soggetto: “essendo unica la volontà di tutti, deve essere considerata come una persona unica, distinta e riconosciuta con un solo nome, da tutti gli individui particolari”40. Ne deriva che “è necessario per la conservazione dei singoli che vi siano un solo consiglio o un solo uomo, che abbiano il diritto di armare, adunare e unire”, talché “si deve intendere che i singoli cittadini hanno trasferito a un solo uomo o consiglio l’intero diritto di guerra e di pace”, e che “questo diritto (che possiamo chiamare la spada di guerra), appartiene allo stesso uomo o consiglio, cui appartiene la spada della giustizia. Infatti nessuno può di diritto costringere i cittadini alle armi, e a sostenere le spese di guerra, se non può di diritto punire chi non obbedisce”41. Anche in questo caso, tuttavia, l’assolutezza del potere va intesa in senso lato: è pur vero, infatti, che Hobbes – in linea con il suo positivismo giuridico – sostiene a più riprese che il sovrano è del tutto svincolato dalla legge, e che l’assolutezza della sovranità si traduce nel fatto che è il sovrano a stabilire persino il valore delle parole e a decidere ciò che è giusto e ciò che è sbagliato: “fa parte del potere supremo produrre e rendere pubbliche delle regole, o misure comuni a tutti, con cui ciascuno possa conoscere cosa debba dire suo e cosa altrui, cosa giusto e cosa ingiusto, cosa

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Ivi, V.7, p. 67. Ivi, V.9, p. 69. 38 Ivi, V.11, p. 70. 39 Ivi, VI.13, p. 79. 40 Ivi, V.9, p. 69. 41 Ivi, VI.7, p. 75. 37

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onesto e cosa disonesto, cosa bene e cosa male, e, insomma, cosa si debba fare, e cosa evitare, nella vita comune”42. Cionondimeno quella hobbesiana si configura, al dunque, come una teoria dei limiti del potere sovrano: proprio come accadeva in Bodin, questo è contenuto dalla legge di natura: “è dovere dei sovrani obbedire in tutto, per quanto possono, alla retta ragione, che è la legge naturale, morale, divina”43. Il limite per eccellenza è stabilito, in questo caso, dalla ragione stessa che ha condotto, mediante il patto, alla fondazione dello Stato: e cioè il diritto alla vita. Se questo non venisse più garantito dal sovrano – ad esempio nel caso in cui un suddito venisse condannato a morte – l’obbedienza non sarebbe più una scelta razionale. “Con il diritto assoluto di chi ha il potere è congiunta tanta obbedienza dei cittadini, quanto ne è richiesta di necessità per il governo dello Stato, cioè quanta non rende inutile la concessione di quel diritto”44.

IV. Sovranità e proprietà Ciò che rileva sul piano della teoria è che, con Hobbes, viene esplicitamente sancito che la sovranità nasce dal basso, ovvero dal patto tra gli individui, e dunque resta sempre reclamabile, se non altro quando il sovrano non adempie al suo compito di garante della vita e della sicurezza. È un punto, questo, decisivo nella successiva tradizione liberale che anima il contrattualismo, giacché lo schema presente in Hobbes (stato di natura – patto tra individui – genesi della sovranità) resta pressoché inalterato, salvo essere riempito di differenti contenuti e posto al servizio di un allargamento del diritto naturale45. Questo accade, ad esempio, in Locke, il quale, per fondare l’inalienabilità dei diritti alla vita, alla proprietà e alla libertà, traccia i lineamenti di un diritto di natura che si estende ben oltre i limiti di quello hobbesiano e di uno stato di natura relativamente stabile, nel quale l’ordine è garantito dalla naturale socievolezza della maggioranza degli individui. “Ecco qui evidente la differenza tra stato di natura e stato di guerra, che taluni hanno confuso, e che sono invece tanto lontani l’uno dall’altro quanto uno stato di pace, benevolenza, assistenza e difesa reciproca è lontano da uno stato di inimicizia, malvagità, violenza e reciproco sterminio”: quest’ultima condizione non sussiste nello stato di natura, nel quale “gli uomini vivono insieme secondo ragione, senza un sovrano comune sulla terra, col potere di 42

Ivi, VI.16, p. 82. Ivi, XIII.2, p. 139. 44 Ivi, VI.13, p. 78. 45 Questo è tanto vero che secondo molti interpreti la stessa impostazione di Hobbes sarebbe, in realtà, già ampiamente atteggiata in senso liberale. Si vedano ad esempio Carl Schmitt, Sul Leviatano, il Mulino, Bologna, 2012 e Leo Strauss, La filosofia politica di Thomas Hobbes. Il suo fondamento e la sua genesi, ETS, Pisa, 2022. 43

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giudicarsi fra loro”, ma insorge appena vi sia “la forza illegittimamente esercitata sulla persona”46. Di fatto, però, il passaggio dallo stato di natura allo stato di guerra è, anche per Locke, praticamente necessario, giacché la condizione del primo sfocia immancabilmente verso il conflitto. “Per quanto nello stato di natura l’individuo possieda il diritto connesso con quello stato, la fruizione di esso è assai incerta e continuamente esposta alle altrui interferenze”, cosa che “lo induce a desiderare di abbandonare una condizione che, per quanto libera, è piena di rischi e di continui pericoli”47. Questa distinzione, tuttavia, è per Locke di qualche utilità, giacché serve a legittimare la necessità di cedere il potere sovrano non più a un terzo al quale tutti si sottomettono, ma alla maggioranza. “Mi chiedo che genere di governo sia, e in che senso sia migliore dello stato di natura, quello in cui un sol uomo, regnando su molti, abbia la libertà di giudicare sé stesso e possa fare ai suoi sudditi tutto quello che vuole”: se questo è il potere dello Stato, “molto meglio lo stato di natura”48. Piuttosto, per Locke il potere civile deve essere nelle mani della maggioranza: “quando un certo numero di uomini consente di istituire una comunità o stato politico, essi vengono immediatamente associati in modo da costituire un solo corpo politico, in cui la maggioranza ha diritto di decretare e decidere per il resto”49. Come si vede, in questo caso la fondazione pattizia della statualità – e la conseguente fuoriuscita dalla condizione naturale – è reclamata al solo fine di preservare quanto già largamente assicurato nello stato di natura e messo saltuariamente in pericolo dalla violenza di un numero limitato di individui. Ne deriva, quale logica conseguenza, che lo Stato lockiano è caratterizzato da un potere sovrano dal profilo meno invasivo e dai compiti più impegnativi rispetto a quello hobbesiano, giacché la garanzia della proprietà privata (quale corollario immediato della centralità dell’individuo, già introdotta da Hobbes) rientra, ora, esplicitamente nella sua missione politica: “il grande e fondamentale intento per cui dunque gli uomini si uniscono in Stati e si assoggettano a un governo è la salvaguardia della loro proprietà”50. Essa viene definita, a dire il vero, non solo come proprietà privata (di beni), ma, più in generale, come l’insieme di “vita, libertà e beni, che definisco con il termine generale di proprietà”51. Ciò a cui qui Locke sembra primariamente riferirsi, tuttavia, è anzitutto la proprietà come frutto dell’appropriazione privatistica dei beni naturali (sembra materializzarsi in queste pagine, trasfigurato nella teoria, il fenomeno delle enclosures). Rilevante – e rivelatore – a tal proposito è il modo in cui Locke 46

John Locke, Trattato sul governo, Editori Riuniti, Roma, 2002, § 19, p. 16. Ivi, § 123, p. 90. 48 Ivi, § 13, p. 8. 49 Ivi, § 95, p. 71. 50 Ivi, § 124, p. 91. 51 Ibid.

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legittima la proprietà come diritto naturale. Avendo potere su tutto, gli individui che vivono nello stato di natura possono appropriarsi le cose mediante il loro lavoro. Ecco, dunque, che sui beni appropriati mediante il proprio lavoro esiste, per Locke, una legittima proprietà: “è infatti il lavoro che crea in ogni cosa la differenza del valore, e basta considerare quale differenza vi sia fra un acro di terra piantato a tabacco o zucchero, seminato a frumento o orzo, e un acro della stessa terra lasciato in comune senza che nessuno lo coltivi, per comprendere che la parte di gran lunga più grande del valore è data dai frutti del lavoro”52. Locke introduce, tuttavia, una riserva: legittima è, dal punto di vista della legge di natura, solo l’accumulazione di quei beni che vengono consumati prima di deperire: diversamente, essi sarebbero appropriati a costo di un’indebita sottrazione agli altri. “Quanto ciascuno può usare a vantaggio della propria vita, prima che si deteriori, tanto col suo lavoro può appropriarsi; quanto da ciò eccede è più di quanto gli spetta e appartiene ad altri”53. Tra i beni che gli individui scambiano tra di loro, tuttavia, ne esistono anche di non deperibili: si tratta degli oggetti (conchiglie, metalli, monete) utilizzati come equivalenti generali per lo scambio delle altre merci. La loro accumulazione, giacché si tratta di beni non deperibili, è del tutto legittima, e legittima a sua volta l’acquisizione di beni mediante lo scambio. Se l’individuo allo stato di natura “cedeva le sue noci in cambio d’un pezzo di metallo di cui gli piaceva il colore, se barattava pecore per conchiglie, se dava lana in cambio d’un sassolino luccicante, o d’un diamante, e si teneva quegli oggetti per tutta la vita, non usurpava i diritti altrui”54. In questo modo “nacque l’uso del denaro, qualcosa di durevole che gli uomini potevano conservare senza che si deteriorasse, e che per comune consenso poteva essere preso in cambio dei veri e propri, ma deteriorabili, beni di sussistenza”55. Da qui, mediante l’attribuzione del valore alla moneta, la possibilità – questa volta non illegittima – di accumulare, mediante lo scambio, beni deteriorabili: “poiché oro e argento, essendo di poca utilità per la vita dell’uomo in confronto a cibo, vestiario e mezzi, acquistano il loro valore soltanto dal consenso degli uomini, e di questo valore il lavoro costituisce in gran parte la misura, è evidente che gli uomini hanno concordemente accettato che la terra fosse posseduta in modo sproporzionato e ineguale, avendo con un tacito e volontario consenso escogitato il modo in cui uno può legittimamente possedere più terra di quella di cui può usare il prodotto, ricevendo in cambio del sovrappiù oro e argento”56.

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Ivi, § 40, p. 33. Ivi, § 31, p. 26. 54 Ivi, § 46, p. 37. 55 Ivi, § 47, p. 37. 56 Ivi, § 50, p. 38.

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Al di là della funzione che assume nel pensiero di Locke lo schema contrattualistico – la finzione dell’accumulazione originaria mediante l’attribuzione convenzionalista del valore alla moneta, utile per un verso a legittimare l’appropriazione capitalistica delle origini, per altro a sublimarne la violenza57 –, ciò che sul piano storico-concettuale vale la pena di evidenziare è il modo in cui la genesi della sovranità viene prospettata in queste teorie: la sua finalità non è la costruzione di un potere insormontabile e autoriferito, ma la fine della guerra e l’istituirsi dell’ordine sociale58. Da un lato (segnatamente in Hobbes), la sovranità è lo strumento per governare la crisi e per realizzare la pace, cioè per individuare un freno allo sviluppo di uno stato di guerra incontrollato, profilandosi come garanzia del diritto naturale e, in certo senso, forza catecontica capace di bloccare la degenerazione del mondo secolarizzato. Dall’altro lato (segnatamente in Locke), questa tensione si articola in un modello più complesso e, in certo senso, più adeguato e rispondente al movimento storico della modernità europea, giacché il meccanismo teorico viene piegato in direzione di una legittimazione esplicita del diritto di proprietà e del dominio politico della maggioranza (sul terreno sociale), dunque del parlamentarismo liberale (sul terreno più squisitamente politico)59. Rileva anche ricordare come sia stato messo in evidenza, in sede storiografica, che in queste teorie non si manifesta soltanto una concezione della sovranità – che trova nell’individualismo atomistico e nella tesi circa la genesi immanente del potere la sua base di partenza (la sua antropologia) e la sua ipoteca politica –, ma anche una legittimazione della nuova formazione sociale: la genesi particolaristica e utilitaristica della statualità e la costituzione individualistica della sovranità sono, infatti, non casualmente speculari agli interessi di quella borghesia proprietaria che, affacciandosi sulla scena del mondo europeo come nuova classe in ascesa nel quadro del nascente capitalismo mercantilistico, metteva in forma nuove teorie del potere sovrano in grado di garantire i propri bisogni, i propri interessi e i propri valori60.

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Illuminante resta, sul tema, il capitolo marxiano sull’accumulazione originaria. Cfr. Karl Marx, Il Capitale. Critica dell’economia politica. Libro primo: Il processo di produzione del capitale, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Opere Complete, Editori Riuniti/La Città del Sole, Roma/Napoli, 1972 segg., vol. XXXI/1 (2009), pp. 788 segg. Su Locke cfr. Walter Euchner, La filosofia politica di Locke, Laterza, Roma-Bari, 1995. 58 Giuseppe Duso (a cura di), Il contratto sociale nella filosofia politica moderna, il Mulino, Bologna, 1987. 59 Alberto Burgio, Per un lessico critico del contrattualismo moderno, La scuola di Pitagora, Napoli, 2006. 60 Crawford B. Macpherson, Libertà e proprietà alle origini del pensiero borghese. La teoria dell’individualismo possessivo da Hobbes a Locke, Isedi, Milano, 1973.

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V. Sovranità democratica Non è un caso, se così stanno le cose, che la connotazione liberale della teoria contrattualistica venga superata – erosa dall’interno, si potrebbe dire – da Rousseau, un autore che si trova a formulare la sua teoria del Contratto sociale dopo la crisi dell’assolutismo seicentesco e nel mutato contesto della mobilitazione del terzo stato61. Testimone della formazione e del protagonismo di soggetti sociali e politici consapevoli, seppure ancora confusamente, della loro costituzione collettiva e unitaria, cioè dell’originaria e germinale formazione delle moderne masse popolari, Rousseau immette nell’oleato meccanismo del contratto l’idea che a fondamento della sovranità non vi sia una “volontà di tutti”, ma quella “volontà generale” espressione del popolo e del bene comune, che finirà per disarticolare, dall’interno, l’impianto liberale della teoria, favorendone l’evoluzione in senso democratico62. L’impianto della teoria russoviana è noto: prima di accedere al contratto, gli individui – i protagonisti dello stato di natura hobbesiano e lockiano – si spogliano della loro individualità (e dunque del loro arbitrio), accedendo, per mezzo del meccanismo dell’“alienazione totale”, a una dimensione nella quale si rendono semplicemente esecutori della volontà generale, cioè universale. Dapprima, la fuoriuscita dallo stato di natura ha una motivazione particolaristica: “siccome gli uomini non possono generare nuove forze, ma solo unire e indirizzare quelle esistenti, essi non hanno altro mezzo per conservarsi se non quello di formare, aggregandosi, una somma di forza tale che possa prevalere sulla resistenza, mettendole in moto con un solo impulso, e facendole agire di concerto”. Nel far questo, tuttavia, è necessaria una “alienazione totale di ogni associato, con tutti i suoi diritti, in favore di tutta la comunità”63. Non si tratta di un passaggio solo formale. Ciò che Rousseau vuole evidenziare è che la struttura del patto per come rappresentata dalla tradizione contrattualistica implica che gli individui conservino, anche nello Stato, la natura particolaristica ed egoistica della loro individualità. Questo ha, tuttavia, un costo enorme, giacché “spesso c’è molta differenza tra la volontà di tutti e la volontà generale: questa considera soltanto l’interesse comune; l’altra ha di mira l’interesse privato, e non è che una somma di volontà particolari”64. Solo producendo una volontà comune, davvero universale, espressione di un corpo collettivo e finalizzata alla realizzazione di un interesse universale, l’atomismo individualistico (dunque particolaristico) congenito allo stato di natura sarà superato.

61 Max Landmann, Der Souveränitätsbegriff bei den französischen Theoretikern von Jean Bodin bis auf Jean Jacques Rousseau. Ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des Souveränitätsbegriffes, Verlag von Veit & Comp., Leipzig, 1896. 62 Sul punto Alberto Burgio, Uguaglianza, interesse, unanimità. La politica di Rousseau, Bibliopolis, Napoli, 1989. 63 Jean-Jacques Rousseau, Il contratto sociale, Feltrinelli, Milano, 2003, I, 6, p. 79. 64 Ivi, II, 3, p. 97.

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Dato che “ogni individuo può, come uomo, avere una volontà particolare contraria o diversa dalla volontà generale che ha come cittadino” e che “il suo interesse particolare può parlargli in modo del tutto diverso dall’interesse comune”, è necessario, “affinché il patto sociale non sia dunque una vana formula, […] che chiunque rifiuterà di obbedire alla volontà generale, vi sarà costretto da tutto il corpo; ciò non significa altro se non che lo si obbligherà ad essere libero”65. Tale volontà, dunque, non è – come la volontà collettiva che animava il patto hobbesiano – il frutto della somma algebrica delle singole volontà particolari (“volontà di tutti”), ma una volontà qualitativamente differente dalla precedente, cioè davvero generale, che si differenzia dalla prima perché ha reciso qualunque legame con il particolarismo. È una volontà effettivamente universale, capace di realizzare il bene del popolo, il quale è il soggetto (per l’appunto collettivo) che la esprime. Non gli individui, dunque, come nella tradizione liberale, ma il popolo è l’effettivo detentore della sovranità, che viene esercitata non per salvaguardare interessi particolari, ma l’interesse generale. “La sovranità, non essendo altro che l’esercizio della volontà generale, non può mai venire alienata”: “il corpo sovrano, non essendo altro che un ente collettivo, non può essere rappresentato che da sé stesso: si può trasmettere il potere, ma non la volontà”66. All’interno della tradizione del contratto sociale, dunque, Rousseau introduce un vero e proprio salto, che produce un ribaltamento del modello contrattualistico dall’interno. Si può dire che Rousseau inaugura una nuova tradizione, esterna – o comunque liminale – al contrattualismo, che proseguirà poi con Hegel, nel quale la critica al modello sarà esplicita: lo Stato è la fonte stessa della sovranità in quanto espressione dell’universale che eccede la dimensione privata e particolaristica della società civile67.

VI. Chi detiene il potere costituente? La teoria del potere sovrano non tramonta con la crisi del modello contrattualista. Se è vero, infatti, che in Marx non troviamo una trattazione specificatamente dedicata alla sovranità – giacché, come noto, la tematizzazione del politico è scavalcata in direzione di quella della società civile, e la critica della filosofia del diritto (pur centrale nella sua produzione giovanile) sostituita dalla critica dell’economia politica68 –, è altrettanto vero che il concetto di “sovranità”, dopo la 65

Ivi, I, 7, pp. 84 – 85. Ivi, II, 1, p. 93. 67 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Le maniere di trattare scientificamente il diritto naturale, posizione di questo nella filosofia pratica e suo rapporto con le scienze giuridiche positive, in Id., Scritti di filosofia del diritto (1802 – 1803), Laterza, Roma-Bari, 1962, pp. 43 segg. 68 Gennaro Imbriano, Marx e il conflitto. Critica della politica e pensiero della rivoluzione, DeriveApprodi, Roma, 2020. 66

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Rivoluzione Francese, diventa uno strumento fondamentale della battaglia politica69. I suoi usi, in effetti, delineano molto chiaramente l’appartenenza a determinati gruppi sociali e politici, che impiegano il concetto in base a specifici programmi d’azione politica. Giacché in questa sede si è trattato di delineare in particolare la genesi moderna del concetto, non abbiamo qui lo spazio per ripercorrere con precisione e profondità il dibattito che si svilupperà sul nostro tema tra Otto e Novecento, del quale, tuttavia, vogliamo almeno richiamare alcuni snodi – tre in particolare – che ci paiono particolarmente significativi per la loro natura teorico-concettuale e per la loro capacità di indicare delle tracce utili a comprendere la natura e la costituzione di alcuni problemi ancora attuali. In prima battuta, va ricordato che dopo la Rivoluzione Francese comincia a diventare sempre più rilevante non tanto la domanda sulla genesi della sovranità (come nasce lo Stato e come esso assume la sovranità?), ma quella che chiede chi sia, originariamente, il legittimo detentore del potere sovrano. Fondato teoricamente il concetto, e fissato, almeno fino a quel momento, il suo legame con la statualità, diventava urgente stabilire – alla luce della potente democratizzazione operata dall’irruzione della modernità dopo il 1789 – quale fosse il soggetto deputato al suo esercizio. Si tratta di un tema di grande rilevanza, che ha generato soprattutto in sede di Verfassungsgeschichte una lunga discussione70. Ne troviamo un significativo accenno nello scritto schmittiano sulla Verfassungslehre, che vale la pena di riprendere brevemente, almeno per dare conto dei contorni del problema. Secondo la dottrina giuridica che Schmitt riprende, ogni costituzione, che consiste nella “condizione generale dell’unità e dell’ordinamento politico”71, si fonda su una decisione originaria: “la costituzione in senso positivo nasce da un atto del potere costituente”72. Interpretare la “costituzione come decisione” significa insomma che “prima di ogni formazione c’è una decisione politica fondamentale del titolare del potere costituente, cioè in una democrazia del popolo, nella monarchia pura del monarca”73. Ai due “soggetti storicamente rilevanti del potere costituente, principe e popolo”, corrispondono perciò “due specie di legittimità, la dinastica e la democratica”74 : se “la legittimità dinastica si basa sull’autorità del monarca”, quella democratica “si basa invece sull’idea che lo Stato è l’unità politica di un popolo”75.

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Staat und Souveränität (nota 1), p. 3. Ivi, pp. 129 segg. 71 Carl Schmitt, Dottrina della costituzione, Giuffrè, Milano, 1984, p. 15. 72 Ivi, p. 39. 73 Ivi, p. 41. 74 Ivi, p. 125. 75 Ivi, p. 128.

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Inoltre, ai due tipi di legittimità corrispondono anche “due principi di forma politica”: “l’identità” e “la rappresentanza [Repräsentation]”76. La prima è propria della democrazia e si riferisce al potere costituente del popolo (“dove il popolo entra come soggetto del potere costituente, la forma politica dello Stato si determina nella raffigurazione di una identità; la nazione è presente; essa non può essere rappresentata e non ha bisogno di esserlo”); la seconda è propria della monarchia e si riferisce al potere costituente del monarca (“la monarchia assoluta è in realtà solo una rappresentanza assoluta e si basa sull’idea che l’unità politica è realizzata solo dalla rappresentanza. La frase: “L’Etat c’est moi” significa: io solo rappresento l’unità politica della nazione”)77. Si tratta, come evidente, di una delle opposizioni plastiche che hanno connotato la storia politica moderna e la battaglia per la democratizzazione dello Stato, concernente – come evidente – lo spostamento del detentore della sovranità dal monarca al popolo. L’altra opposizione, altrettanto decisiva nel dibattito ottocentesco, ha riguardato l’alternativa tra centralismo statualistico e federalismo. Se nel primo caso la discussione verte intorno al portatore del potere costituente, ovvero al suo legittimo detentore, nel secondo caso essa investe invece la natura del rapporto tra lo Stato e la sovranità, mettendo in discussione che l’esercizio di quest’ultima sia di esclusiva competenza del primo. Anche in questo caso pare opportuno richiamare, per brevità, un esempio specifico, ovvero il dibattito che si sviluppa nello spazio linguistico tedesco nel diciannovesimo secolo sul rapporto tra Staatenbund e Bundesstaat. Come fa notare Koselleck, già nel Vormärz venne stabilita “una linea di confine, che stilizzò Staatenbund e Bundesstaat come concetti antitetici [Gegenbegriffe]”78. Nella discussione sulla forma politica da dare al futuro soggetto istituzionale che avrebbe dovuto unire il popolo tedesco si confrontano due opzioni. Da un lato quella “della confederazione di Stati contro lo Stato federale”, sostenuta da quanti vedono nell’ipotesi statualistica il rischio della “centralizzazione” e della “nazionalizzazione della costituzione federale”79. Dall’altro lato, invece, quanti considerano “lo Stato federale come costituzione ottimale”80. L’opposizione tra Staatenbund e Bundesstaat ha ovviamente una specifica ricaduta sul tema della sovranità, in quanto pone in questione l’idea, derivata dalla tradizione contrattualistica e hegeliana, che lo Stato sia l’unico possibile detentore del potere sovrano. Se il Bundesstaat, infatti, descrive una realtà dotata di “costituzione giuridica [staatsrechtliches Grundgesetz]” e organizzata come unità autonoma e sovrana, salva-

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Ivi, p. 270. Ivi, p. 271. 78 Reinhart Koselleck, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundestaat, in: Geschichtliche Grundbegriffe (nota 1), Bd. 1 (1972), pp. 582 – 671, qui p. 662. 79 Ivi, p. 650. 80 Ibid. 77

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guardando – pur trasformandola – la relazione tra Stato e sovranità81, lo Staatenbund si fonda invece su un “contratto di diritto internazionale”, essendo una vera e propria alleanza tra realtà paritetiche e sovrane82. Il tema del federalismo e dei limiti – interni e soprattutto esterni – del potere dello Stato, del resto, investe pienamente anche il dibattito internazionalista del ventesimo secolo, nel quale si pone la discussione sul rapporto tra Stato e diritto internazionale. Veniamo così al terzo tema che intendiamo evidenziare, reso celebre dalla polemica che Hans Kelsen ha mosso nei confronti della posizione classica da un punto di vista rigorosamente liberale e neokantiano83. Come noto, proprio per spezzare il vincolo che la lega allo Stato, nell’opera di Kelsen la sovranità è ridotta a pura metafora, concetto superfluo che può salvare la sua incidenza solo se riferito all’ordinamento giuridico internazionale, quel diritto “oggettivo” che deve oltrepassare il diritto “soggettivo” (quello statualistico) e sovra-determinarlo a partire dalla “Grundnorm”84. Questa posizione, plasticamente opposta all’idea che la sovranità sia legata allo Stato territoriale, e che questo sia il soggetto dal quale scaturiscono poi le relazioni internazionali, ha inteso proporre il superamento del legame tra sovranità e Stato in direzione della priorità dell’ordinamento internazionalistico e, dunque, una liquidazione dello stesso concetto di sovranità85.

VII. Europa e sovranità Sembra che l’ipotesi kelseniana di uno smantellamento – o comunque di un indebolimento – del “diritto soggettivo” in favore di quello “oggettivo” abbia avuto una sua conferma nella realtà. Si può senz’altro affermare che la sovranità dello Stato, per come conosciuta nel moderno, ha subito un’irreversibile crisi, che ha progressivamente trasformato gli apparati statali in macchine amministrative svuotate della capacità politica della decisione ultima, che la globalizzazione capitalistica ha contributo a rendere sempre più autonoma dai soggetti tradizionalmente deputati a incarnarla, attribuendola alle forze del mercato o a istituzioni tecniche internazionali86. D’altro canto, la dialettica complessa e dolorosa – e indubitabilmente fallimentare, a giudicarla dalla prospettiva attuale – dell’integrazione europea ha mostrato consistenza e problematicità del concetto di “sovranità”. Il suo ritorno sulla scena del dibattito pubblico sembra caratterizzato da una nuova ambiguità semantica e dalla capacità della parola – propria in generale dei concetti 81

Ibid. Ivi, p. 652. 83 In particolare ne Il problema della sovranità e la teoria del diritto internazionale. Contributo per una teoria pura del diritto, Giuffré, Torino, 1989. 84 Ivi, pp. IV – V. 85 Ivi, pp. 299 segg. 86 Ulrich Beck, Che cos’è la globalizzazione?, Carocci, Roma, 2009; Antonio Negri/Michael Hardt, Impero. Il nuovo ordine della globalizzazione, Rizzoli, Milano, 2002. 82

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polemici, come ha mostrato Koselleck87 – di essere utilizzata come arma da vari campi contrapposti. Per un verso il concetto di “sovranità” viene brandito dai revanscismi nazionalistici, che lo usano come strumento per rivendicare il ritorno utopico alla dimensione di una piena sovranità statualistica e antieuropea. Ma il campo delle applicazioni non si limita a questo, come pure un’analisi troppo superficiale – e forse autoconsolatoria – potrebbe indurre a ritenere. Dall’altro lato, infatti, il recupero del concetto è anche finalizzato a esprimere, nel campo progressista (e questo è il lato meno visto, perché forse scomodo per la coscienza europeista), la critica alla destrutturazione neoliberale dello stato sociale keynesiano88. Il recupero del concetto di sovranità è da questo lato funzionale alla difesa – forse attardata, ma non certo reattiva – di uno strumento mediante il quale nel Novecento il conflitto tra capitale e lavoro è stato mediato a favore di quest’ultimo, cioè in direzione della redistribuzione delle risorse e della ricchezza, al contrario di quanto avvenuto negli anni dell’austerità imposta alle economie dell’eurozona. Si potrebbe insistere sul punto e rilevare – proprio pensando, tra gli altri, a Kelsen – che l’attacco al concetto di sovranità nel ventesimo secolo è stato condotto, in primo luogo, contro lo strumento per eccellenza utilizzato per la costruzione dello stato sociale keynesiano, cioè, in ultima analisi, per il contenimento politico del mercato, pensato nell’Europa occidentale come alternativa sociale alla pianificazione di stampo marxista. Centrale appare allora, nell’attuale configurazione europea, la riattivazione della discussione intorno alla sovranità e al suo legittimo detentore, ovvero la domanda sulla natura, gli obiettivi, la posta in gioco dell’attuale progetto di integrazione, e non ultimo lo scioglimento dell’enigma – per richiamare un tema classico della storia concettuale di “sovranità” – se rappresentante del potere costituente del popolo debba essere un super-Stato (magari federale) oppure se l’unione debba procedere in direzione di una federazione tra Stati sovrani89. Un enigma da sciogliere quanto prima, poiché nel vuoto di sovranità e nell’ambiguità che non stabilisce definitivamente responsabilità e ruoli chiari, il sovrano non scompare. Se è vero, come ci insegna Schmitt, che “sovrano è chi decide sullo stato d’eccezione”90, nel vuoto della politica il sovrano diventa il mercato, all’interno del quale sempre più determinanti divengono i coaguli di potere finanziario e tecnocratico, col che l’orologio della storia è incredibilmente e 87

Reinhart Koselleck, Einleitung a Geschichtliche Grundbegriffe (nota 1), pp. XIII – XXVII. 88 Manuela Caiani/Paolo Graziano, Varieties of populism in Europe in times of crises, Routledge, London, 2021; Giorgos Charalambous, Left radicalism and populism in Europe, Routledge, London, 2019. 89 Matteo Scotto, Fragile orders. Understanding intergovernmentalism in the context of EU crises and reform process, VillaVigoni Editore, Loveno di Menaggio, 2022. 90 Carl Schmitt, Teologia politica. Quattro capitoli sulla dottrina della sovranità, in Id., Le categorie del “politico”, il Mulino, Bologna 1972, p. 33.

Stato e sovranità

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inopinatamente riportato indietro, fino a mostrare che l’acquisizione moderna della teoria democratica della sovranità (sovrano è il popolo, e non il monarca, né tantomeno i singoli individui) sembra messa in discussione dall’emersione di una nuova e violenta – per certi versi oscura – sovranità della tecnica, del mercato e della burocrazia. Si è spesso detto – riproponendo, ma distorcendolo, un luogo classico della produzione habermasiana91 – che sarà l’opinione pubblica europea a creare l’Europa. Pare qui ripetersi il classico rovesciamento (non casualmente prodotto dal ceto intellettuale) secondo il quale le buone idee determineranno il nostro futuro. Ma se è sul terreno dei processi materiali che si è determinata la crisi della statualità, è su quello stesso terreno che il concetto di sovranità (eventualmente, anche di sovranità europea) andrà interrogato. Si potrebbe forse supporre – persino sperare – che le prossime crisi materiali determineranno l’implementazione del processo di integrazione. In ogni caso, resta lecita la domanda se l’opinione pubblica europea non esista perché non esiste l’Europa (come una corretta lettura del classico habermasiano dovrebbe indurre a fare), e non il contrario. Resta inoltre altrettanto lecito supporre che solo provando ad articolare una risposta alla crisi energetica e una riforma della catena dell’approvvigionamento alimentare su un terreno continentale, e soprattutto solo ripensando radicalmente la separazione tra politica ed economia, restituendo al soggetto sovrano la possibilità di battere moneta – torna qui alla memoria quanto già Bodin segnalava sulla necessità, per lo Stato sovrano, di provvedere a tale scopo –, si potrà procedere a una più chiara definizione dei limiti e della titolarità delle scelte sovrane che interessano i cittadini europei92. Appare in ogni caso abbastanza chiaro che oggi siamo lontanissimi da questo risultato, e possiamo solo notare sconsolati che il processo di integrazione e di compattamento dell’Europa si produce solo sul terreno delle politiche militari, pianificate nel contesto di una generale dipendenza del vecchio continente dagli Stati Uniti d’America. Ad ogni modo: se la sovranità nazionale è in crisi, al punto da non riuscire a esibire il profilo della sua effettività, e se, contestualmente, non c’è una sovranità europea, qualcun altro sarà sovrano al nostro posto, relegandoci sempre più radicalmente nell’inconsistenza e nell’eteronomia.

91

Jürgen Habermas, Storia e critica dell’opinione pubblica, Laterza, Roma-Bari, 1999. Giandomenico Majone, Dilemmas of european integration: the ambiguities and pitfalls of integration by stealth, Oxford University Press, Oxford, 2005; Michael Gehler, Europa: Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenhalt, Lau Verlag et Handel KG, Reinbeck, 2018. 92

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Gennaro Imbriano

Bibliografia AA. VV., Staat und Souveränität, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Klett-Cotta, Stuttgart, 1971 ff., Bd. 6, pp. 1 – 154. Beck, Ulrich, Che cos’è la globalizzazione?, Carocci, Roma, 2009 Bobbio, Norberto, Giusnaturalismo e positivismo giuridico, Comunità, Milano, 1965. Bodin, Jean, I sei libri dello Stato, Utet, Torino, 1964 segg. Burgio, Alberto, Per un lessico critico del contrattualismo moderno, La scuola di Pitagora, Napoli, 2006. Burgio, Alberto, Uguaglianza, interesse, unanimità. La politica di Rousseau, Bibliopolis, Napoli, 1989. Caiani, Manuela/Graziano, Paolo, Varieties of populism in Europe in times of crises, Routledge, London, 2021. Charalambous, Giorgos, Left radicalism and populism in Europe, Routledge, London, 2019. Duso, Giuseppe (a cura di), Il contratto sociale nella filosofia politica moderna, il Mulino, Bologna, 1987. Euchner, Walter, La filosofia politica di Locke, Laterza, Roma-Bari, 1995. Ferrajoli, Luigi, La sovranità nel mondo moderno: nascita e crisi dello stato nazionale, Anabasi, Milano, 1995. Franklin, Julian H., Jean Bodin and the rise of absolutist theory, Cambridge University Press, Cambridge, 1973. Galli, Carlo, Sovranità, il Mulino, Bologna, 2019. Garosci, Aldo, Jean Bodin: politica e diritto nel rinascimento francese, Corticelli, Milano, 1934. Gehler, Michael, Europa: Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenhalt, Lau Verlag et Handel KG, Reinbeck, 2018. Habermas, Jürgen, Storia e critica dell’opinione pubblica, Laterza, Roma-Bari, 1999. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Le maniere di trattare scientificamente il diritto naturale, posizione di questo nella filosofia pratica e suo rapporto con le scienze giuridiche positive, in Id., Scritti di filosofia del diritto (1802 – 1803), Laterza, Roma-Bari, 1962. Hobbes, Thomas, De Cive. Elementi filosofici sul cittadino, Editori Riuniti, Roma, 2002. Imbriano, Gennaro, Marx e il conflitto. Critica della politica e pensiero della rivoluzione, DeriveApprodi, Roma, 2020. Isnadi Parenti, Margherita, Introduzione a J. Bodin (nota 2), pp. 9 – 100. Kelsen, Hans, Il problema della sovranità e la teoria del diritto internazionale. Contributo per una teoria pura del diritto, Giuffré, Torino, 1989. Koselleck, Reinhart, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundestaat, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1 (1972), pp. 582 – 671.

Stato e sovranità Koselleck, Reinhart, pp. XIII – XXVII.

Einleitung

a

Geschichtliche

265 Grundbegriffe,

Bd.

1

(1972),

Landmann, Max, Der Souveränitätsbegriff bei den französischen Theoretikern von Jean Bodin bis auf Jean Jacques Rousseau. Ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des Souveränitätsbegriffes, Verlag von Veit & Comp., Leipzig, 1896. Locke, John, Trattato sul governo, Editori Riuniti, Roma, 2002. Macpherson, Crawford B., Ibertà e proprietà alle origini del pensiero borghese. La teoria dell’individualismo possessivo da Hobbes a Locke, Isedi, Milano, 1973. Majone, Giandomenico, Dilemmas of european integration: the ambiguities and pitfalls of integration by stealth, Oxford University Press, Oxford, 2005 Marocco Stuardi, Donatella, La République di Jean Bodin: sovranità, governo, giustizia, Angeli, Milano, 2006. Marx, Karl, Il Capitale. Critica dell’economia politica. Libro primo: Il processo di produzione del capitale, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Opere Complete, Editori Riuniti/La Città del Sole, Roma/Napoli, 1972 segg., vol. XXXI/1 (2009). Negri, Antonio/Hardt, Michael, Impero. Il nuovo ordine della globalizzazione, Rizzoli, Milano, 2002. Preterossi, Geminello, Teologia politica e diritto, Laterza, Roma-Bari, 2022. Rebuffa, Giorgio, Jean Bodin e il princeps legibus solutus, Materiali per una storia della cultura giuridica, vol. 2 (1972), pp. 91 – 123. Rousseau, Jean-Jacques, Il contratto sociale, Feltrinelli, Milano, 2003, I, 6, p. 79. Schmitt, Carl, Dottrina della costituzione, Giuffrè, Milano, 1984. Schmitt, Carl, Teologia politica. Quattro capitoli sulla dottrina della sovranità, in: id., Le categorie del “politico”, il Mulino, Bologna, 1972, p. 33. Schmitt, Carl, Sul Leviatano, il Mulino, Bologna, 2012 Scotto, Matteo, Fragile orders. Understanding intergovernmentalism in the context of EU crises and reform process, VillaVigoni Editore, Loveno di Menaggio, 2022. Spitz, Jean-Fabien, Bodin et la souveranité, PUF, Paris, 1998. Strauss, Leo, La filosofia politica di Thomas Hobbes. Il suo fondamento e la sua genesi, ETS, Pisa, 2022. Warrender, Howard, Il pensiero politico di Hobbes, Laterza, Roma-Bari, 1995.

Die neue Debatte über die europäische Souveränität der EU – eine Skizze Von Barbara Lippert „Europäische Souveränität“ ist ein politisches Schlagwort von schillernder Semantik, das Aspirationen weckt, aber auch Gegenstimmen provoziert. Politische Akteure in EU-Institutionen und Mitgliedstaaten verknüpfen die Elemente „Europa“, „Souveränität“ sowie „Strategie“ und „Autonomie“, ohne dass sie auf begriffliche Schärfe achten. So kann vieles darunter verstanden werden, aber gemeinsam ist allen, dass es um die Selbstbehauptung der Europäer in der internationalen Politik geht, um selbstbestimmtes außen- und sicherheitspolitisches Handeln und aktives Gestalten der internationalen Ordnung durch den Akteur EU.

I. Aktueller Kontext und Traditionslinien Die heutigen Protagonisten „europäischer Souveränität“ oder „strategischer Autonomie“ ziehen ihre Schlüsse aus aktuellen Trends und Disruptionen des internationalen Systems. Sie beziehen sich auf (1) die sino-amerikanische Rivalität, die das Potential eines neuen strukturellen Weltkonflikts in sich birgt und damit den OstWest-Konflikt der Nachkriegszeit ablöst, (2) den globalen Wettbewerb der Systeme zwischen Autoritarismus und Demokratie und die damit einhergehenden neuen Machtverteilungen im Übergang zur Multipolarität des internationalen Systems und (3) die Tendenz zu Entflechtung und Deglobalisierung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Markante Ereignisse aus der jüngeren internationalen Politik wie die Präsidentschaft von Donald Trump in den USA (2017 – 2021), der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU (2020), die Folgen der Covid-19-Pandemie (2020 – 2022) oder auch der Rückzug der USA und Verbündeter aus Afghanistan (2021) befeuerten die neue Debatte über europäische Souveränität. Diese kann an längere Traditionslinien im westlichen politischen Diskurs über die Selbstbestimmung in der vom Ost-West-Konflikt bestimmten Nachkriegsordnung anknüpfen. So an den Gaullismus, der die Unabhängigkeit Frankreichs von den USA betonte und zugleich eine Führungsrolle für Frankreich in einem intergouvernementalen Europa beanspruchte. Damit verwandt sind auch politische Strömungen, die Europa als eine dritte Kraft mit eigener Stimme, bündnisunabhängig zwischen USA und UdSSR platzieren wollten. Innerhalb der europäischen Bewegung warben Anhänger einer

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Barbara Lippert

„Föderation Europa“ für eine supranationale Gemeinschaft, die die Nationalstaaten überwindet und, mit quasi-staatlicher Souveränität ausgestattet, an deren Stelle tritt.1 Mit dem Scheitern des Projekts der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 hatten sich die sechs Gründerstaaten unter den Schutzschirm von Nato und USA gestellt. Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurden erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 schrittweise zur Sache der EG/EU. Somit ist verständlich, dass in der alten wie der aktuellen Debatte das Verhältnis der EU bzw. ihrer Vorläufer und ihrer Mitgliedstaaten zu den USA ein Fixpunkt ist. Gestritten wird über das Verhältnis des transatlantischen außenpolitischen Vektors zu europapolitischen Integrationsstrategien und wie sich das im Verhältnis von EU und Nato niederschlägt bzw. in welche Richtung diese Beziehungen entwickelt werden sollen. In dieser Frage exponierten sich schon die Gründerstaaten unterschiedlich: Frankreich akzentuiert emblematisch die Eigenständigkeit/Autonomie, wie sie auch Präsident Macron in seiner Rede an der Sorbonne proklamierte: „Neubegründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europa“.2 Deutschland und Italien wollen beide Vektoren stärken.3 Sie reagieren damit auch auf den Druck aus Washington, selbst mehr Lasten in der Allianz zu tragen, wollen dafür im Gegenzug aber auch mehr selbst entscheiden können. So sieht Kanzler Scholz heute in der Nato den maßgeblichen Garanten für die euro-atlantische Sicherheit. Aber: „Gestärkt wird die Nato zudem auch, wenn ihre europäischen Mitglieder im EU-Rahmen durch eigene Maßnahmen für größere Kompatibilität ihrer Verteidigungsstrukturen sorgen.“4 Noch entschiedener priorisieren die Niederlande und unter den jüngeren Mitgliedern etwa Polen und die Tschechische Republik die transatlantische Ausrichtung, so dass sie die EU dauerhaft in der Rolle des Juniorpartners der USA sehen.5 Zwar hat diese Gruppe nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU die Führungsmacht verloren, aber sie erhält wohl mit Schweden und Finnland als den neuen Nato-Mitgliedern wieder Zulauf. Schon mit der Osterweiterung war das Lager der Transatlantiker gestärkt worden, die zugleich ein sehr ausgeprägtes Verständnis von nationaler Souveränität in die Integrationsgemeinschaft einbringen. Sie wenden sich gegen einen weiteren supranationalen Ausbau des EU-Systems und präferieren intergouvernementale Arrangements mit Vetomöglichkeiten.6 1 Gabriele Clements/Alexander Reinfeldt/Gerhadt Wille, Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, 2008, S. 49 – 71. 2 Emmanuel Macron, Rede von Staatspräsident Macron an der Sorbonne. Initiative für Europa. Paris, den 26. September 2017. 3 Wobei Italien aktuell eher eine nationalistische statt europäische Alternative zu engen transatlantischen Bindungen explorieren könnte. Leopoldo Nuti, An overview of US-Italian Relations: The legacy of the Past, IAI Papers 2022. 4 Olaf Scholz, Die globale Zeitenwende. Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann. Foreign Affairs, 05. 12. 2022. 5 Kai-Olaf Lang, Polens unersetzbarer Partner. Warschau vertieft den sicherheitspolitischen Bilateralismus mit den USA. SWP-Aktuell 2019. 6 Non-paper by Bulgaria, Croatia, the Czech Republic, Denmark, Estonia, Finland, Latvia, Lithuania, Malta, Poland, Romania, Slovenia, and Sweden on the outcome of and follow-up to

Die neue Debatte über die europäische Souveränität der EU

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In Deutschland wird der Begriff der Souveränität stark im staatsrechtlichen Sinne interpretiert und damit direkt an die Existenz eines Staates und eines Demos geknüpft. So kritisiert etwa Grimm, der zwischen rechtlicher (Selbstbestimmung einer politischen Einheit) und politischer Souveränität (Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit in internationalen Beziehungen) unterscheidet, an Macrons Projektion einer europäischen Souveränität, dass sie auf einen europäischen Staat hinauslaufe. Die rechtliche Souveränität würde die Lage der EU nicht verbessern, sondern verschlechtern.7 Ähnlich argumentieren auch Historiker. So verwirft Winkler die Zielvorstellung einer europäischen Souveränität, weil die EU im Vergleich zum Nationalstaat defizitär oder anders ist (kein Volk, kein Territorium, kein Gewaltmonopol), weil es unmöglich sei, die EU wie einen Nationalstaat demokratisch legitim und zugleich effektiv zu regieren, oder weil es nicht wünschenswert sei, dass sich die EU zu einem europäischen Staat entwickele, der an die Stelle der Nationalstaaten trete.8 Diese begründeten Zurückweisungen machen es jedoch weder überflüssig, Antworten auf die unbestreitbaren Herausforderungen von „Zeitenwende“ und Klimawandel zu geben, noch über die Entwicklungsrichtung einer auch von äußeren Entwicklungen getriebenen EU nachzudenken. In diesem Sinne gab Macron mit den Leitgedanken seiner Sorbonne-Rede zur europäischen Souveränität einen wichtigen Anstoß für die Debatte, aber keine Blaupause für eine neue Architektur der EU.9

II. Strategische Autonomie: drei Komponenten Im Vergleich zur europäischen Souveränität greift der Begriff „strategische Autonomie“10 zeitlich und ideengeschichtlich kürzer und ist relational, nicht absolut gesetzt. Strategische Autonomie wird allerdings oft nur auf das Militärische bezogen, was aber keineswegs zwingend ist. Vielmehr kann strategische Autonomie definiert werden als die „Fähigkeit, eigene außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen, sowie die institutionellen, politischen und matethe Conference on the Future of Europe, 2022, https://twitter.com/SwedeninEU/status/ 152363782768653107; Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz und dem tschechischen Ministerpräsidenten Fiala am 29. August 2022 in Prag, https://www.bundesregierung.de/bregde/suche/pressekonferenz-von-bundeskanzler-scholz-und-dem-tschechischen-ministerpraesiden ten-fiala-am-29-august-2022-in-prag-2079526. 7 Dieter Grimm, Welche Souveränität?, FAZ 12. 09. 2022. 8 Heinrich August Winkler, Die Legende von der europäischen Souveränität, FAZ.net, 25. 10. 2021. Grundsätzlich sieht Peter Graf Kielmannsegg aus demokratietheoretischer Perspektive Grenzen der Demokratisierungsfähigkeit der EU darin, dass sie keine Erfahrungs-, Erinnerungs- und Kommunikationsgemeinschaft sei. Peter Graf Kielmannsegg, Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte, 2015. 9 Franz C. Mayer, Der europäische Sisyphos: ein Kommentar zur Europa-Rede Emmanuel Macrons in der Sorbonne. Verfassungsblog, 27. 09. 2017, https://verfassungsblog.de/der-euro paeische-sisyphos-ein-kommentar-zur-europa-rede-emmanuel-macrons-in-der-sorbonne/. 10 Europäischer Auswärtiger Dienst, Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. A Global Strategy for the European Union’s Foreign and Security Policy, Brüssel, 2016.

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riellen Voraussetzungen, um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig umzusetzen. Dieses Verständnis umfasst das gesamte Spektrum außen- und sicherheitspolitischen Handelns, nicht nur die verteidigungspolitische Dimension. […] Politisch geht es um einen Zuwachs an Handlungsfähigkeit, also um einen Prozess, keinen absoluten Zustand. [Eine so verstandene strategische] Autonomie bedeutet weder Autarkie noch Abschottung oder die Absage an Allianzen. Sie ist kein Selbstzweck, sondern Mittel, um die eigenen Werte und Interessen zu schützen und zu fördern.“11 Deutschland hat sich in der Regierung Merkel und nun der von Scholz mehr und mehr an die französische Wortwahl der europäischen Souveränität angelehnt. So ist im Koalitionsvertrag der Ampelregierung von „strategischer Souveränität“12 die Rede. Strategische Autonomie Europas hat drei Komponenten, die aufeinander bezogen sind und zusammenspielen müss(t)en, um die EU als internationaler Akteur handlungsfähiger zu machen. Die erste Komponente ist das politische System der EU, das für die Mitgliedstaaten laufend bindende Entscheidungen produziert und Recht setzt. Im Mehrebenensystem der EU bilden die Mitgliedstaaten, die als Demokratien und Rechtsstaaten verfasst sind, die Basis. Es ist nach wie vor ein von den Staaten abhängiges und in seiner Entwicklung offenes Regierungssystem. Es ist ohne „constitutional settlement13 unabgeschlossen, es ist immer wieder umstritten und zudem als politisches System sui generis auch experimentell. Die zweite Komponente strategischer Autonomie sind der Binnenmarkt mit den Vier Freiheiten, die gemeinsame Währung der EU, die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Wirtschaftsraums und die gemeinsame Handelspolitik, die der EU internationales Gewicht verleihen. Die dritte Komponente ist die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die für die Werte und Interessen der EU gegenüber Dritten eintritt und eine internationale Politik fördert, „die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen Weltordnungspolitik beruht“ (Art. 21 Abs. 2 Buchst. h EUV). Gegenwärtig ist dieses außenpolitische Programm regional wie global heftigem Gegenwind und starker Konkurrenz ausgesetzt. Dagegen will sich die EU behaupten, sei es, um traditionelle Stärken als Regulierungsmacht nicht weiter einzubüßen, also die Rolle als Standardsetzer bei einem sich abflachenden Brüssel-Effekt14; sei es, um als Regionalmacht und Ordnungsfaktor in ihrer östlichen und südlichen Nachbarschaft zu agieren oder als Resilienzmacht aufzutreten, die sich z. B. gegenüber extraterritorialen Sanktionen wappnet und hybride 11

Barbara Lippert/Nicolai von Ondarza/Volker Perthes (Hrsg.), Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte SWP-Studie 2019, S. 2. 12 SPD/BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN/FDP, Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), 2021, S. 105. 13 Andrew Moravcsik, The European constitutional settlement, The World Economy 31 (2008), S. 158. 14 Anu Bradford, The Brussels Effect. How the European Union Rules the World, 2020.

Die neue Debatte über die europäische Souveränität der EU

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Bedrohungen abwehren kann. Die EU als Schutzmacht spricht verschiedene Dimensionen von Sicherheit an: Im Diskurs über die Auswirkungen der Globalisierung und Entgrenzung geht es um die wirtschaftliche und soziale Sicherheit einer Gemeinschaft, die „schützt und nützt“15 ; als besonders dringlich wird nun die Bedrohung durch Russland wahrgenommen, was Kapazitäten der militärischen Sicherheit erfordert; bei Energie, Rohstoffen und anderen Gütern sind Abhängigkeiten von Dritten und Verwundbarkeiten in den Lieferketten und damit die Versorgungssicherheit angesprochen.

III. Achillesferse Verteidigung und Militär Vor diesem Hintergrund hat die EU für eine Vielzahl von Politikfeldern skizziert, was für sie strategische Autonomie bzw. Souveränität praktisch heißt: *

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In der Handelspolitik wird die „open strategic autonomy“ zur Leitidee, wobei „Offenheit“ an das Engagement der EU für einen offenen und fairen Handel mit diversifizierten und nachhaltigen globalen Wertschöpfungsketten anschließt.16 Technologische/digitale Souveränität hat das Ziel, Bedingungen zu schaffen, um eigene Schlüsselkapazitäten aufzubauen und so Abhängigkeiten bei den wichtigsten Technologien zu verringern.17 Der Klimawandel verlangt eine Energiewende hin zu einem erschwinglichen, sicheren, wettbewerbsfähigen, zuverlässigen und nachhaltigen Energiesystem.18

Überall geht es der EU um die Reduktion von Abhängigkeiten von Dritten, um Diversifizierung und Resilienz von Gesellschaft und Wirtschaft. Das bewirkt eine durchgängige Politisierung, d. h. öffentliche Auseinandersetzung über Sachfragen und Entscheidungen auf Feldern, die bislang vor allem innerhalb von Expertengemeinschaften behandelt worden sind. Die Achillesferse der strategischen Autonomie der EU liegt aber im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).19 Auch Macron nannte unter den sechs Schlüsselelementen europäischer Souveränität an erster Stelle das der Sicherheit, 15

Klaus Hänsch, Beitrag zum 135. Bergedorfer Gesprächskreis (Nr. 122). Interessen und Partner der deutschen Außenpolitik, 2006, S. 70. 16 Europäische Kommission, Trade Policy Review – An Open, Sustainable and Assertive Trade Policy, 18. 02. 2021, COM(2021) 66 final. 17 Europäische Kommission, Communication „Roadmap on critical technologies for security and defence“, 15. 02. 2022, COM(2022) 61 final. 18 Europäische Kommission, Mitteilung „REPowerEU: gemeinsames europäisches Vorgehen für erschwinglichere, sichere und nachhaltige Energie“, 08. 03. 2022, COM(2022) 108 final. 19 Lippert/Ondarza/Perthes (Fn. 11), S. 39.

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wonach Europa auf dem Gebiet der Verteidigung, ergänzend zur Nato, selbständig handlungsfähig sein sollte.20 Es ist offen, welche Schlussfolgerungen die EU-Europäer aus dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ziehen. Wird es einen Schub in Richtung Stärkung der europäischen (militärischen) Fähigkeiten geben, die unabhängig von den USA und Nato eingesetzt werden können, oder geht es um die Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato? Wird die Arbeits- und Lastenteilung zwischen Nato (Bündnisund Landesverteidigung) und EU (Out-of-area-Krisenmanagement und koordinierte Rüstungspolitik und integrierte Rüstungswirtschaft) ausgebaut und festgeschrieben?21 Wie kann künftig die Sicherheit der Ukraine, von Moldau und Georgien garantiert werden, sofern oder solange die etablierte parallele Erweiterung von Nato und EU nicht in Reichweite ist?22

IV. Geopolitische Wende und strategische Autonomie Rhetorisch und programmatisch vollzog die EU schon vor der Zeitenwende des 24. 02. 2022 eine „geopolitische Wende“. Die Kommission von der Leyen und der Hohe Vertreter Borrell stehen dafür, dass die EU die „Sprache der Macht“23 erlernen will. Das schlägt sich inzwischen in einer Reihe von Strategiepapieren nieder, die seit 2019 verabschiedet wurden: *

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Die Strategie der EU gegenüber China soll vom Dreiklang China als Partner, Wettbewerber und Rivale bestimmt werden (2019).24 Mit Blick auf die USA wird 2020 eine neue Agenda für den Umgang mit dem globalen Wandel skizziert, die u. a. einen Trade and Technology Council schafft, um regelmäßig über bilaterale Kooperation und Konflikte in den Handelsbeziehungen zu sprechen.25 Wichtige Agendapunkte sind der Umgang mit Irans Nuklearpro20

Macron (Fn. 2), S. 4; Europäische Kommission, Strategische Vorausschau 2021. Die Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit der EU, COM(2021) 750 final, 08. 09. 2021, S. 20. 21 Eckhard Lübkemeier/Oliver Thränert, Der Preis der Verteidigung von Freiheit und Demokratie, FAZ, 16. 05. 2022. 22 Barbara Lippert, Die nächste EU-Osterweiterung wird kompliziert und teuer. Beitrittsverhandlungen, Assoziierung und neue Formate aufeinander abstimmen. SWP-Aktuell 2022. 23 European Parliament, Committee on Foreign Affairs: Hearing of Josep Borrell, 07. 10. 2019; Ursula von der Leyen, Europa-Rede, 08. 11. 2019, https://ec.europa.eu/commission/press corner/detail/de/SPEECH_19_6248. 24 Europäische Kommission, Mitteilung „EU-China – Strategische Perspektiven“, 12. 03. 2019, JOIN(2019) 5 final; und Annegret Bendiek/Barbara Lippert, Die Europäische Union im Spannungsfeld der sino-amerikanischen Rivalität, in: Lippert/Perthes (Hrsg.), Strategische Rivalität zwischen USA und China. Worum es geht, was es für Europa (und andere) bedeutet. SWP-Studie 2020. 25 Europäische Kommission, A new EU-US agenda for global change, 02. 12. 2020, JOIN(2020) 22 final.

Die neue Debatte über die europäische Souveränität der EU

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gramm und das JCPOA sowie die internationale Klimapolitik (2020). Die EU ist für die USA kein Gesprächspartner für Fragen der harten Sicherheitspolitik. Allerdings hat der russische Angriff auf die Ukraine die Dialogdichte zwischen USA und EU und EU und Nato in Brüssel deutlich erhöht.26 *

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Mit ihrer Indo-Pazifik-Strategie will die EU die Kooperation mit Ländern in diesem Raum ausbauen und jenseits von China zu einer stärkeren Diversifizierung der nicht rein wirtschaftlichen Beziehungen in dieser Region gelangen (2021).27 Über regional ausgerichtete Strategien hinaus hat die EU ihre Handelsbeziehungen mit der Trade Policy Review auf eine neue Grundlage gestellt, die sie als offen, nachhaltig und durchsetzungsfähig beschreibt (2021).28 Die EU strebt damit in einem von Protektionismus und dem Kampf um technologische und politische Vorherrschaft bestimmten Umfeld keine Autarkie an. Vielmehr will sie ihre Ziele in Kooperation mit anderen erreichen, aber wenn nötig autonom entscheiden können und dazu auch neue Anti-Coercion-Instrumente wie das Internationale Procurement-Instrument schaffen. Die Bedingungen für eine regelgestützte Governance der Handelsbeziehungen, wie sie den Interessen der EU entspricht, verschlechtern sich. Zudem wird die Handelspolitik aus der EU heraus selbst mit Erwartungen überfrachtet, so hinsichtlich der Grünen Transition, der Einhaltung von Menschenrechten und Nachhaltigkeitsanforderungen. Als Alternative oder Ergänzungsangebot zur chinesischen „Belt and Road“-Initiative legte die EU 2021 ihre „Global Gateway“-Initiative auf, die Länder im eurasisch-zentralasiatischen Raum mit der EU über Infrastrukturprojekte enger verbinden will.29 Angesichts der militärischen Bedrohung durch Russland überarbeitete die EU ihre Strategie im Mai-Juni 2021, die sie unter die Maßgabe von „zurückdrängen, einschränken und zusammenarbeiten“ stellte.30 Mit dem Strategischen Kompass für Sicherheit und Verteidigung (2022) legte die EU eine Art Weißbuch vor, das die Leitlinien und Bausteine für eine umfassend gestärkte Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU bis 2030 skizzieren

26 Europäischer Rat, Joint readout by the European Council and the United States, PRESS RELEASE 315/22, 24. 03. 2022. US Department of State, Secretary Blinken’s Meeting with European Council President Michel. Readout, March 4, 2022. Vgl. Seventh progress report on the implementation of the common set of proposals endorsed by EU and NATO Councils on 6 December 2016 and 5 December 2017, 20. 06. 2022. 27 Europäische Kommission, The EU strategy for cooperation in the Indo-Pacific, 16. 09. 2021, JOIN(2021) 24 final. 28 Europäische Kommission (Fn. 16). 29 Europäische Kommission, Communication „The Global Gateway“, 01. 12. 2021, JOIN(2021) 30 final. 30 Europäische Kommission, Mitteilung über die Beziehungen zwischen der EU und Russland – zurückdrängen, einschränken und zusammenarbeiten, 16. 06. 2021, JOIN(2021) 20 final.

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soll.31 Die dritte gemeinsame Erklärung von Nato und EU bekräftigt den Primat der Nato für die Sicherheit und Landesverteidigung und setzt so die schon in der Globalen Strategie von 2016 vorgezeichnete Arbeitsteilung von EU und Nato unter dem Eindruck von Russlands Krieg gegen die Ukraine fort.32 Der Angriff auf die Ukraine könnte im allgemeinen Diskurs über europäische Souveränität/strategische Autonomie das seitens der EU ursprünglich weitgefasste Verständnis kurzfristig wieder auf das Militärische reduzieren. In einem teils feindlich-aggressiven, kompetitiven und turbulenten internationalen Umfeld ist ein umfassenderer Ansatz für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU zum Zweck der Selbstbehauptung erforderlich. In diesem Ansatz müssten die stichwortartig aufgelisteten Einzelstrategien einigermaßen stimmig zusammengefügt werden. Wie schwierig das allein im nationalen Maßstab ist, zeigt sich bei der erstmaligen Erarbeitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie für Deutschland unter der Federführung des Auswärtigen Amts.33 Welche institutionellen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen oder Staatskapazitäten sind erforderlich, um die EU in ihrem Handeln effizienter, effektiver und legitimer zu machen? Frankreich und Deutschland schließen nicht mehr aus, wenn nötig, die europäischen Verträge zu revidieren.34 Vorrangig wären aber effektive Schritte, notfalls in einem Kreis von Ländern, die vorangehen und zugleich Prioritäten setzen. Eine Empfehlung insbesondere an Frankreich und Deutschland als Führungsmächte lautet, dass sich die EU an defensiven Zielen ausrichtet.35 Die EU als „wehrhafte Zivilmacht“ muss demnach selbst über die nötigen Schutzinstrumente verfügen, die militärischen Fähigkeiten zur Verteidigung der Mitgliedstaaten und ihrer politischen Ordnung besitzen und Opfer von Aggression unterstützen können. Somit wäre die strategische Autonomie anschlussfähig an das traditionelle Rollenbild der EU als eine Zivilmacht. Das setzt allerdings implizit den Sicherheitsschirm der USA weiterhin voraus.

31 Rat der Europäischen Union, Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung, 21. 03. 2022, Dok. 7371/22; und kritisch dazu Markus Kaim/Ronja Kempin, Kompass oder Windspiel? Eine Analyse des Entwurfs für den „Strategischen Kompass“ der EU, SWPAktuell 2022. 32 EU/Nato, Joint Declaration on EU-NATO Cooperation, 10 January 2023. 33 Paul-Anton Krüger/Nicolas Richter/Henrike Roßbach, Die Verbündeten werden langsam ungeduldig. Die deutsche Sicherheitsstrategie könnte noch Zeit benötigen. Süddeutsche Zeitung, 04. 01. 2023. 34 Olaf Scholz, Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität am 29. August 2022 in Prag, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/rede-von-bundeskanzlerscholz-an-der-karls-universitaet-am-29-august-2022-in-prag-2079534; und Rede des französischen Staatspräsidenten Macron anlässlich der Konferenz zur Zukunft Europas, 09. 05. 2022, https://www.elysee.fr/front/pdf/elysee-module-19590-fr.pdf. 35 Joachim Schild, Das Ende der europäischen Naivität. FAZ, 27. 06. 2022.

Die neue Debatte über die europäische Souveränität der EU

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Souveränität als ideenpolischer Akt: Selbstermächtigung zum Handeln mit Anspruch auf Verbindlichkeit Von Marcus Llanque

I. Der Souveränitäts-Begriff in politikwissenschaftlicher Betrachtung Es mag sein, dass wir „Gefangene“ der Idee der Souveränität sind1 und dass Souveränität bei näherer Betrachtung nur eine „Fiktion“ ist,2 doch diese Auffassung trifft mehr oder weniger auf alle „Ideen“ zu und hat noch keine Idee daran gehindert hat, politische Wirksamkeit zu entfalten. Ideen sind nicht „real“, sie werden durch menschliches Handeln realisiert, indem sie dieses Handeln und die Verständigung zwischen den Akteuren darüber orientieren, was sie tun sollen und tun wollen. Die Wirksamkeit liegt dann nicht nur an dem (fiktiven) Inhalt der Idee als vielmehr an den Kontexten ihrer Rezeption. So wie einst Friedrich Nietzsche es ablehnte zu fragen, was Moral „ist“, um nüchtern darauf hinzuweisen, dass nur definitorisch eindeutig festgelegt werden kann, was keine Geschichte hat (also nicht menschlicher Praxis unterliegt), so kann man allgemein sagen, dass die Wirksamkeit politischer Idee mit den Bedingungen ihres Praktischwerdens zusammenhängen. Übertragen auf die Idee der Souveränität heißt das: Entscheidend ist, was als Inhalt oder Aussage von Souveränität zu gelten hat, als nicht die Frage, sondern in welchen politischen Kontexten Akteure diese Idee gebrauchen und wofür. Die aufklärerische Absicht der Kritik müsste sich nicht nur darauf konzentrieren, welche Gefahren und Tücken der Begriff der Souveränität mit sich bringt und die ihn so in Misskredit gebracht haben, sondern welche Handlungsspielräume sich öffnen und welche Gestaltungsmöglichkeiten. Nur im Lichte beider Aspekte kann man sich dann der Frage zuwenden, welche alternative Ideen oder Vorstellungen in eben diesen Kontexten, in welchen bislang der Begriff der Souveränität dominiert, das Handeln orientieren können. Der Umgang auch in theoretischen Beiträgen mit Ideen wie der Souveränität weist aufgrund dieses Praxisbezuges stets auch einen ideenpolitischen Zuschnitt auf.3 Die 1

Jonathan Havercroft, Captives of Sovereignty, Cambridge (UP) 2011. Peter Gratton, The state of sovereignty. Lessons from the political ctions of modernity, Albany (SUNY) 2012. 3 Zum Begriff der Ideenpolitik vgl. Marcus Llanque, Geschichte des politischen Denkens oder Ideenpolitik: Ideengeschichte als normative Traditionsstiftung, in: Harald Bluhm/Jürgen Gebhardt (Hrsg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden2

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Idee der Souveränität verstanden als Summe ihrer Begriffe (von der Staats- zur Volkssouveränität bis zur Gruppen-Souveränität und schließlich zur Souveränität des Individuums) birgt ein spezifisches Element, das in politischen Kontexten von durchschlagender Bedeutung war und ist: mit Hilfe der Souveränität wird ein Akt der Selbstermächtigung beschrieben, der den Vorrang vor anderen, mit ihm konkurrierenden Akten behauptet und insofern ein Akt politischer Verbindlichkeit ist.4 Jede Gründung einer politischen Ordnung, jede Separatismus-Bewegung, jede Selbstgesetzgebung, jede Selbstregierung stellt einen solchen Akt der Selbstermächtigung dar. Die Akteure können sich völkerrechtlich beraten, sie können andere damit beauftragen, eine Verfassung anzufertigen usf., und doch wird der Akt der Setzung immer einer sein, der mindestens implizit einen Akt der Selbstermächtigung einschließt und damit faktisch Souveränität beansprucht. Dieser Akt kann erfolglos sein, weil die Akteure untereinander zerstritten sind oder ihr Handeln als Revolte gedeutet und unterdrückt wird. Von der völkerrechtlichen Beurteilung dessen, ob Souveränität gegeben sei, ist jedenfalls der politische Akt der Selbstermächtigung zu unterscheiden und gesondert zu analysieren. Mit der Souveränitäts-Behauptung ist der Anspruch auf Macht verbunden, maßgebliche Prinzipien festzulegen, Institutionen zu schaffen und sogar – auf der personellen Ebene des Politischen – politisch relevante Personengruppen zu bestimmen, und diese Behauptung ist als Ausdruck von Verbindlichkeit gedacht, beansprucht also Vorrang vor anderen solcher Behauptungen und Festlegungen. Insofern stehen Souveränitäts-Behauptungen in konkurrierenden Deutungspraktiken. Politische Verbindlichkeit ist nicht Legitimität, denn legitim kann vieles gleichzeitig sein (Menschenwürde, Völkerrecht, Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit u. v. m.), aber nicht alles kann gleichzeitig das politische Handeln bestimmen, muss also priorisiert werden, und dies erfolgt, wenn sie als Festlegung erfolgt, mit Unterstellung von VerbindlichBaden 2006, S. 51 – 70; ders., Hermann Heller als Ideenpolitiker. Politische Ideengeschichte als Arsenal des politischen Denkens, in: Marcus Llanque (Hrsg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden (Nomos-Verlag) 2010, S. 93 – 116, sowie den Band Harald Bluhm/Karsten Fischer/Marcus Llanque (Hrsg.), Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin (Akademie) 2011. 4 Der Begriff der Verbindlichkeit liegt anderen Abhandlungen zugrunde: Marcus Llanque, The Concept of Citizenship between Membership and Belonging, in: Katja Sarkowsky/Rainer-Olaf Schultze/Sabine Schwarze (Hrsg.), Migration – Regionalization – Citizenship: Comparing Canada and Europe, Wiesbaden (VS) 2015, S. 101 – 126; ders., Menschenrechte: Normative Geltung und politische Verbindlichkeit, in: Andreas Niederberger/Regina Kreide (Hrsg.), Internationale Politische Theorie. Umrisse und Perspektiven eines neuen Forschungsfeldes, Stuttgart/Weimar (Metzler) 2015, S. 187 – 200; ders., Politische Verbindlichkeit als Kernproblem der Weimarer Demokratiedebatte, in: Michael Dreyer/Andreas Braune (Hrsg.), Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert, Wiesbaden (Steiner) 2016, S. 39 – 56; ders., Die ikonographische Vermittlung von Differenz in Selbstregierungsregimen, in: Sebastian Huhnholz/Eva Marlene Hausteiner (Hrsg.), Politische Ikonographie und Differenzrepräsentation, Leviathan-Sonderband 34, Baden-Baden (Nomos) 2018, S. 48 – 70.

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keit. Souveränität ist so gesehen eine der vielen Begriffe, mit welchen politische Verbindlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Zu prüfen wäre also, ob eine sich politisch definierende Personengruppe im Kontext ihrer Unabhängigkeits-Bemühungen, etwa in Separatismus-Kämpfen, in Kämpfen der Dekolonisierung, in Kämpfen um die Gestaltungsmacht gegenüber sozialen und ökonomischen Mächten, auf die Souveränität – und in diesen Fällen spezifischer: auf die Volkssouveränität – als Bezugspunkt stützen. In solchen Situationen ist es dann für bestimmte Akteure politisch nützlich, sagen zu können, dass Souveränität nur eine Fiktion ist, weil die unterschwellige Verbindlichkeits-Behauptung der beharrenden Kräfte damit vor der Herausforderung neuer Souveränitäts-Festlegungen geschützt wird; nicht fiktiv ist die Souveränitäts-Behauptung hingegen für Personengruppen, die sich befreien wollen von etablierten Machtverhältnissen. Hegemoniale Nationen in multinationalen Staaten, imperiale Staaten oder Akteure, die um die Freiheit der von ihnen favorisierten, transnational ausgerichteten Märkte bangen, werden die Kritik an allen Souveränitätsbehauptungen gerne nutzen und gegen all jene wenden, die gegen solche Machtverhältnisse, die ja ihrerseits auf bereits etablierten Souveränitätsvermutungen beruhen, aufbegehren. Die in der intellektuellen und wissenschaftlichen Kritik der Souveränität oft zum Ausdruck kommende Selbstüberschätzung, die Kritik alleine werde die Idee besiegen helfen, droht ins Leere zu laufen, so lange die ideengeschichtliche Darstellung der Souveränität nicht nur eine Geschichte eines Irrtums sein will, sondern vorher klärt, 1) warum diese Idee überhaupt so erfolgreich sein konnte, vielleicht sogar nötig war und weiterhin ist und 2) was an ihre Stelle treten soll. Hierzu folgen einige Hinweise, die intensiver nachzugehen eine erheblich ausführlichere Darstellung erforderlich macht als hier möglich ist und daher skizzenhaft verbleibt.

II. Souveränität als Selbstermächtigung und die primär negative Stoßrichtung ihres Verbindlichkeitsanspruches Anhand der Praxis wie ihrer theoretischen Reflexion lässt sich verdeutlichen, dass Souveränität nicht primär ein theoretischer Terminus ist, sondern zunächst ein politisch-praktischer und den Akt der Selbstermächtigung meint, nämlich maßgeblicher Bezugspunkt der politischen Macht zu sein.5 Diese Selbstermächtigung schlägt sich dann in Kompetenzen der Gesetzgebung und Rechtsprechung, aber auch der Kriegführung und Grenzkontrolle nieder. Selbstermächtigung soll auch sagen: in der Praxis erklären sich Akteure selbst als souverän, ihnen wird nicht von anderen Souveränität zugesprochen. Das macht die Souveränität zum maßgeblichen Begriff für den Gründungsakt kollektiven Handelns, die jeder weiteren rechtlichen (Völkerrecht) wie politischen (Bündnisse) Bindung, die frei und unabhängig erfolgt, voraus 5 Eine kleine Liste solcher Souveränitäts-Akte hat zusammengestellt: Robert H. Jackson, Sovereignty. Evolution of an Idea, Cambridge (Polity: Key Concepts) 2007, S. 2 – 5.

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geht. Souveränität heißt also, Macht sein zu wollen, und dies mit Anspruch auf Vorrang. Daraus folgt die Erwartung, dass dieser Erklärung kollektive Handlungsfähigkeit zugrunde liegt, also die tatsächliche Fähigkeit, souverän handeln zu können. Dieser Akt der Selbstermächtigung erfolgt zunächst in negativer Stoßrichtung: Sich selbst zu ermächtigen, maßgeblicher Bezugspunkt der Politik zu sein, heißt in den jeweiligen praktischen Kontexten zunächst, einen vergleichbaren Anspruch anderer zurückzuweisen. Das gilt besonders für die Volkssouveränität. Das soll sagen, dass die Behauptung der Souveränität die Selbstermächtigung meint, ohne Rücksicht auf andere bestimmte normative Festlegungen in eigener Verantwortung vornehmen zu wollen und vornehmen zu können; worin diese Kompetenzen dann im einzelnen beruhen, welchen Personenkreis sie umfassen und wie mit Kollisionen von ähnlichen Festlegungen umzugehen ist, diese und andere inhaltliche Fragen sind im Akt der Selbstermächtigung weniger eindeutig. Betrachtet man einige solcher politischen Akte der Selbstermächtigung, wird dieser Vorgang der Behauptung von Verbindlichkeit und zugleich der Bruch anderer Formen der Verbindlichkeit erkennbar. Von der revolutionären Unabhängigmachung von Akteuren, die sich von feudaler Herrschaft (Frankreich) oder imperialer Herrschaft (USA) am Ende des 19. Jahrhunderts lossagten, über die Bestrebungen früherer Kolonien, welche imperiale Vorherrschaft zurückweisen bis zu den SeparatismusBewegungen unserer Zeit etwa in Großbritannien (gegenüber der EU oder innerhalb Großbritanniens gegenüber England) oder Katalonien: angestrebt wird Souveränität im Sinne nicht nur der Unabhängigkeit von etablierten Souveränitätsbehauptungen anderer, sondern der Vorgang, an deren Stelle treten zu wollen. Ist vielleicht nicht immer klar, wer in welchem Umfang und in Kooperation mit wem diese Souveränität ausüben soll, so ist gleichwohl wesentlich deutlicher, gegen wen solche Selbstermächtigungen gerichtet sind: gegen die feudalen Standes-Verhältnisse der Monarchie, gegen die imperiale Herrschaft von Kolonialherren und solchen, von denen behauptet wird, dass sie sich als Kolonialherren gerieren, wie es der EU zum Vorwurf gemacht wurde. Diese Selbstermächtigung ist eine der wichtigsten Formen kollektiven Handelns. Sie setzt Macht seitens der Akteure voraus, aus einer solchen Selbstermächtigung auch die nötigen Konsequenzen zu ziehen, sich also erfolgreich Gesetze geben zu können und den Anspruch anderer zurückzuweisen. Die Souveränitäts-Erklärung Großbritanniens gegenüber der Europäischen Union wurde immer auch mit der Ablehnung von legislativen (Brüssel) und judikativen Vorherrschafts-Ansprüchen (Straßburg) legitimiert,6 nur dass mit der Unabhängigkeitserklärung diese legislativen und judikativen Regelungen nicht aus der Welt verschwinden, sondern nun von diesem neuerdings sich souverän erklärenden Staat selbst vorgenommen werden

6 Zur internen Brexit-Debatte als Souveränitätsdebatte vgl. Juliette Ringeisen-Biardeaud, „Let’s take back control“: Brexit and the Debate on Sovereignty. Revue Française de Civilisation Britannique 22 (2017 Heft 2), S. 1 – 17.

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können müssen. Es reicht nun einmal nicht, sich zum Souverän zu erklären: dieser Erklärung muss die Macht korrespondieren, auch souverän handeln zu können. Die Volkssouveränität zu reklamieren verlangt erst in einem zweiten Schritt, zu klären, was hier nun „Volk“ heißt, das sich zum Souverän erklärt, wer dazu gehört und wer nicht. Solche Festlegungsversuche, in welchen die souverän agierenden Subjekte sich erst einmal selbst definieren, wer dieses Subjekt der Souveränität angeblich ist, führt dann oftmals zu dubiosen Unterfangen, vage Vorstellungen von Volk auszubuchstabieren. Ungeachtet dessen ist „Volk“ bei Souveränitäts-Erklärungen zunächst aber nur der Referenzpunkt, um deutlich zu machen, was eigentlich im Vordergrund steht: wer sich nicht (mehr) unter die Souveränität anderer stellen will. So gesehen stehen Souveränitäts-Akte der Selbstermächtigung in Kontexten konkurrierender Verbindlichkeit. Diese negative Stoßrichtung trifft auch auf die Staatssouveränität zu, welche ideenpolitisch die wenigstens relative Suprematie gegenüber anderen Staaten, aber auch gegenüber gesellschaftlichen Kräften innerhalb dieser Staaten meint. Das lässt sich anhand der vier bekanntesten Souveränitäts-Theoretiker andeutungweise zeigen. Auch hier ist die negative Stoßrichtung dominant (wer nicht souverän ist), die inhaltliche Bestimmung der Souveränität dagegen nicht immer so eindeutig.

III. Jean Bodin Bodins Souveränitäts-Lehre ist der Ausgangspunkt der modernen SouveränitätsDebatte, nicht Thomas Hobbes.7 Der moderne Begriff der Souveränität wurde vor dem Hintergrund des konfessionellen Bürgerkriegs aufgegriffen und umgeformt, um einen politischen Konflikt zu lösen, der zeitgenössisch immer wieder kriegerisch bearbeitet wurde, das heißt in der krudesten aller Gestalten von Machtausübung. Der argumentative Ursprung des Souveränitäts-Begriffs – nicht sein wortgeschichtlicher8 – findet sich in Frankreich, weil dort der konfessionelle Bürgerkrieg als erster so verheerend tobte. Die Politiker-Gruppe der Politiques um Michel de Hopitâl – mit Jean Bodin als ihrem späteren, ideengeschichtlich aber prominentesten Mitglied – versuchte im Konflikt zwischen der französischen Monarchie mit ihrer gallikanischen Form des Katholizismus auf der einen Seite und der protestantischen Minderheit, den Hugenotten auf der anderen, eine Ebene zu etablieren, die einen Umgang mit diesen 7

Dieter Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin (University Press) 2009. 8 Die komplexe Verflechtung von Wort- und Begriffsgeschichte einerseits und der argumentativen Bearbeitung des Souveränitäts-Begriffs andererseits bedürfen einer umfassenden genealogischen Analyse, wie sie in ersten Ansätzen Bartelson vorgelegt hat: Jens Bartelson, Genealogy of Sovereignty, Cambridge (UP) 1995. Für die Zeit vor Bodin vgl. die kurze Darlegung bei Quaritsch: Helmut Quaritsch, Souveränität, Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin (Duncker & Humblot) 1986, S. 13 – 38.

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Konflikten ermöglichen sollte, ohne eine inhaltliche Bewertung vorzunehmen.9 Dazu gehört die formale Festlegung des legitimen Ortes der Gesetzgebung. Das war der politische Sinn, den Jean Bodins Werk Sechs Bücher über die Republik zeitgenössisch besaß, das war der ideenpolitische Hintergrund der Abfassung seines Buches, mit dem die moderne Ideengeschichte des Souveränitäts-Begriffes beginnt. Bodin will das zu seinen Lebzeiten überaus unübersichtliche und ungeordnete Machtfeld neu ordnen, um die ansonsten schwer einhegbaren Konflikte, wie sie der konfessionelle Bürgerkrieg darstellt, zu lösen. Bodin richtet sich gegen alle politischen Selbstermächtigungen, die ihre Ansprüche auf eine transzendente Weise legitimieren. Dazu gehört etwa die Überlegung, dass nur jene politische Regierung legitim sei, die von Gott eingesetzt ist oder die Annahme, wonach das „Volk“ in Analogie zum „Volk Gottes“ Widerstand gegen politische Ordnungen nicht nur ergreifen darf, sondern dazu verpflichtet ist. „Souveränität“ gilt Bodin als Attribut der politischen Ordnung, ohne weitere inhaltliche Festlegungen und ohne Rückversicherung bei abstrakten oder gar transzendenten Maßstäben. Das berührt nicht die tradierten Fundamente dieser Ordnung selbst, aber sehr wohl das Verhältnis der politischen Kräfte innerhalb dieser Ordnung. Im Gegensatz zu den Ständen bestimmt Bodin die Monarchie als souveräne Gewalt, und zwar um ihr die Macht zu verleihen, konfessionelle Auseinandersetzung bindend zu bewältigen, ohne dabei Partei für die eine oder andere Konfession zu ergreifen. Dazu bedurfte es konfliktbewältigender Macht und so wird die Souveränität zum Attribut kollektiver Handlungsmacht, hauptsächlich verortet in der gesetzgebenden Kompetenz einer konkreten Person. Macht als absolut souverän gefasst, wie es Bodin vorschlägt, ist bekanntlich nicht schrankenlos gemeint. Bodin geht es auch nicht um die Schaffung einer absoluten Monarchie mit Hilfe des Begriffs der Souveränität. Das zeigt sich daran, dass er scharf die „monarchie royale“ von der „monarchie seigneuriale“ und beide von der Tyrannis unterscheidet. Diese Unterscheidungen helfen zu erkennen, dass Bodin weitaus mehr ist als nur schlichter Vordenker des modernen Staates.10 Die von ihm bevorzugte „königliche Monarchie“ hält sich möglichst an ihre eigenen Gesetze und respektiert die vorhandenen Gesetze. Auch die Demokratie ist eine von Bodin anerkannte Staatsform. Auf der Ebene der Staatsformen lässt sie sich Bodin zufolge nicht mit der Monarchie mischen, und das Volk kann auch nicht Monarch sein, sondern es geht hier, wie Bodin sehr zurecht hervorhebt, um Mehrheiten des Volkes (so vermeidet Bodin jegliche Fiktionen bezüglich dessen, was als Volk zu gelten habe); aber in Fragen der Regierungsweise, also der konkreten Ausübung der 9 Zur ersten Orientierung weiterhin verlässlich: Marin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitatsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 5. Aufl. Opladen (Westdeutscher) 1995, S. 48 – 52. Sehr wenig hierzu findet sich in der intellektuellen Biographie Bodins, die Lloyd vorlegte: Howell A. Lloyd, Jean Bodin. This Preeminent Man of France. An Intellectual Biography, Oxford (University Press) 2017. 10 John F. Wilson, Royal Monarchy. ,Absolute‘ Sovereignty in Jean Bodin’s Six Books of the Republic. Interpretation 35 (2008), S. 241 – 264.

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Macht, ist eine Kooperation von Monarch und Volk aus Bodins Sicht sehr wohl möglich. Bodin hebt sogar hervor, dass die Monarchie ungeachtet ihrer Staatsform bei der Regierungsausübung demokratische Elemente aufnehmen kann und so zu der „stabilsten Monarchie überhaupt“ wird.11 Absolute Souveränität ist also nicht absolute Macht. Wenn aber durch transzendente Legitimationsketten verursachte Konflikte durch normative Festlegungen gelöst werden sollen, bedürfen diese Festlegungen eines Bezugspunktes, der nicht selbst transzendent ist, also nicht von jener Art ist, welche den Konflikt auslöste. Nicht Fragen des Seelenheils und der Theologie, damit aber auch nicht Legitimationen des Gottesgnadentums oder der Vorsehung stehen bei Bodin im Vordergrund, sondern eine Perspektive der Immanenz und der politischen Handlungsfähigkeit. Denn wenn nicht maßgeblich ist, ob eine normative Festlegung sich ihrerseits auf andere, höhere Normen stützen kann, etwa Gottes Gebote, sondern menschlicher Verfügung unterworfen ist, dann muss ein immanenter Bezugspunkt gefunden werden, wie diese Ordnung gedacht und verankert werden kann und wie sie handlungsfähig wird. Souveränität auf die Kompetenz der Gesetzgebung zu stützen und den legitimen Ort der Gesetzgebung als souverän zu markieren ist Bodins Beitrag zur Lösung eines Konfliktes zwischen Kontrahenten, die sich selbst über Fragen des positiven Rechts erhaben dünkten. Diese Überlegung ist auch in heutiger Perspektive weiterhin relevant. Wenn im Konflikt um das Beschneidungsgesetz verschiedene Konfessionen darauf aufmerksam machen, dass die von ihnen unterstützten Praktiken teilweise Jahrtausende zurückreichen und göttlichen Ursprungs sind, dann muss sich der demokratische Verfassungsstaat, der sich ungeachtet des Seelenheils vor allem dem Schutz des Körpers widmet, nicht von solchen Bezugspunkten der Transzendenz irritieren lassen. Das eröffnet dann Spielräume der Kompromissfindung in dieser Welt, ohne Partei zu ergreifen in der Frage, welche jenseitige Welt die richtige ist. Die Verbindlichkeit der politischen Regelungen, die der Friedenserhaltung dienen, nicht nach transzendenten Gesichtspunkten zu bewerten bahnt der Theorie des Staates als einer immanenten und auf sich selbst gestellten politischen Ordnung den Weg, die sich dagegen verwahren muss, dass sich alle Akteure auf transzendente Legitimationen berufen können und so jede etablierte politische Ordnung von Grund auf in Frage stellen. Bodin hat den Souveränitäts-Diskurs entscheidend angestoßen, der über Hobbes bis zu Rousseau reicht12 und dann von Hermann Heller wieder aufgegriffen wurde.

11

Jean Bodin, Sechs Bücher über die Republik, Buch II, Kap. 7, hrsg. v. Peter-Cornelius Mayer-Tasch, übersetzt von Bernd Wimmer, Bd. 1, München (Beck) 1981, S. 398. 12 Howell A. Lloyd, Sovereignty. Bodin, Hobbes, Rousseau. Revue International de Philosophie 45 (1991), S. 353 – 379.

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IV. Thomas Hobbes Bodins Perspektive bestimmt auch Thomas Hobbes’ Souveränitäts-Begriff. Bodins theoretische Festlegung überträgt Hobbes auf die Individuen, die auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrages ihre Fragen politischer Verbindlichkeit klären. Hobbes hat nicht die Souveränität erfunden und er hat sie auch nicht von Bodin übernommen, er hat parallel zu den Entwicklungen auf dem europäischen Festland, wo der konfessionelle Bürgerkrieg tobte, den man im nachhinein den 30jährigen Krieg nennt, und mit Blick auf den englischen Bürgerkrieg, der nicht nur konfessionellen Zuschnitts war, die dort praktizierten Begriffe aufgenommen und theoretisch auf ihre letzten Konsequenzen überprüft. Mit den westfälischen Friedensverträgen haben politische Ordnungen, die sich nun als unabhängige, zugleich gleichrangige Staaten ansehen und gegenseitig anerkennen, das Interventionspotential der Katholischen Kirche, aber auch der diversen protestantischen Konfessionen zurückgewiesen zu Gunsten eines formalen Verständnisses von Ordnung.13 Die Niederlande etwa sind nun nicht mehr schlicht Abtrünnige oder häretische Protestanten, sie sind ein Staat so wie Frankreich oder Schweden. Das Papsttum wiederum ist kein solcher Akteur und wird nie wieder die machtpolitische Stellung in Europa wiedererlangen, die es noch im 16. Jahrhundert ausübte. Der immanente Bezugspunkt, den Thomas Hobbes wählt, um diese Praxis auf den Begriff zu bringen, ist das Individuum und seine wenigstens potentielle Macht, anderen Individuen so gefährlich werden zu können, dass es besser ist, diese Individuen vertraglich einzubinden als im ungebundenen Zustand des latenten Bürgerkriegs einer Anarchie zu verharren, der zwar formal eine völlige Freiheit des Individuums verspricht, de facto aber völlige Unsicherheit bedeutet. Freiheit ist in Hobbes’ Augen kein Segen, sondern eine gefährliche Bürde. Nicht das sozial definierte Individuum, das sich insbesondere über seine Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaft definiert, sondern das auf sich selbst gestellte Individuum gibt laut Hobbes den Grundstoff der Staatlichkeit ab. Dies ist ein Individuum, das sich dessen bewusst ist, wie einsam und gefährdet es auf sich allein gestellt ist und deshalb ein Interesse hat, auf eben diese Freiheit zu verzichten, sofern die Gegenleistung der Lebenssicherung erbracht wird, und hierzu selbst auf jede Aktivität verzichtet, die der kollektiven Handlungsfähigkeit des Staates gefährlich werden könnte. Gegenüber Bodin kommt bei Hobbes der Aspekt der Selbstermächtigung als Akt weitaus stärker zum Zuge. Lebt die Selbstermächtigung von Monarchen, an die Bodin denkt, vom Umgang mit bestimmten Ritualen und Symbolen, um diesen souveränen Status nach außen zu zeigen, und legitimiert sie sich durch die Kette der Vererbung der monarchischen Stellung, so buchstabiert Hobbes den Akt der Selbstermächtigung aus, den Zusammenschluss im Gesellschaftsvertrag. Hier geht es nicht alleine um eine rechtliche Bindung (die mangels Gericht auch keine rechtliche 13 Daniel Philpott, Revolutions in Sovereignty. How Ideas shaped Modern International Relations, Princeton (UP) 2013, 75 – 150 zum Souveränitäts-Begriff im Kontext der Westfälischen Friedensverhandlungen.

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Überprüfung erfährt), sondern um die Schaffung von Macht, welche erst allen weiteren Behauptungen und Festlegungen rechtlicher Art ihre Wirklichkeit verleiht. Hobbes sagt bekanntlich, dass Vereinbarungen ohne das Schwert nur Wörter sind.14 Auch der vom Gesellschaftsvertrag eingesetzte Souverän verliert jeden Anspruch darauf, dass seinen Befehlen Gehorsam geleistet wird, wenn er die Grundleistung: der Schutz des Lebens, welche den Sinn des Vertrages selbst und der Übertragung der Naturrechte auf den Souverän motivierte, nicht erbringt. Die Konzentration der Kompetenzen beim Souverän schafft jene Macht, ohne welche keine Friedenssicherung möglich ist, so Hobbes. Dem Individuum verbleibt nur die nach innen gewandte Freiheit, etwa die Glaubensfreiheit, die nicht in der öffentlichen Sphäre des Staates zur Geltung gebracht wird, sondern alleine im privaten Raum. Dafür besteht laut Hobbes eine Bekenntnispflicht, die den Gesetzen des Landes zu folgen hat.

V. Carl Schmitt und Hermann Heller Wenige theoretische Debatten aus der Weimarer Zeit sind bekannter als jene, welche zwischen Carl Schmitt, Hermann Heller und Hans Kelsen geführt wurde.15 Schmitt und Heller eint ihre gemeinsame Kritik an Hans Kelsen und dessen Verzicht auf die Souveränität bzw. deren Widerlegung.16 Schmitts und Hellers Kritik beruht auf der Deutung, wonach Kelsen Recht ohne personale Rechtserzeugung, damit aber auch ohne Freiheit und ohne Verantwortung denkt: Wenn überhaupt irgend etwas souverän ist, dann laut Kelsen die Rechtsordnung. Das bedeutet aus der Sicht von Schmitt wie von Heller aber der Verzicht auf Politik und eine von aller Politik getrennt betrachtete Rechtstheorie erscheint ihnen beiden als völlig lebensfremd, zumal in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit den konkurrierenden Behauptungen der (politischen) Souveränität zwischen Alliierten und Nationalstaaten und beide wiederum konkurrierend mit den revolutionären politischen Ordnungen auf der Grundlage der marxistischen Ideologie. Recht ist nicht einfach Gegenstand der Rechtserkenntnis, sondern höchster Ausdruck politischer Macht, findet dort ihren Ursprung und kann nur dort geschaffen, herausgefordert, verändert werden. Carl Schmitt nun will den Staat vor dem Zugriff der pluralen Gesellschaft retten, will verhindern, dass der Staat nur als eine der Faktoren des Politischen gesehen wird neben anderen, gesellschaftlich zugeschnittenen Akteuren. Der Schutz des Staates vor der Gesellschaft wird in der Demokratie möglich aufgrund eines Volkes, dass im14 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Walter Euchner, 1966, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1989, Kap. 17. 15 Aus der umfangreichen Literatur sei hervorgehoben: David Dyzenhaus, Hans Kelsen, Carl Schmitt, Hermann Heller. Paradigms of Sovereignty Thought Theoretical Inquiries in Law 16 (2015), S. 337 – 366. 16 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, Tübingen 1920 und ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1922.

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stande ist, Freund und Feind in einer Grundentscheidung zu unterscheiden und aus dieser Entscheidung heraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen. In Schmitts Auslegung von Hobbes beruht Souveränität auf der Entscheidungsfähigkeit, die ein Volk ausüben können muss, um nicht irgendein Volk, sondern ein politisches sein zu können.17 Heller erkennt erst später, dass Schmitts Verständnis des Politischen seinem eigenen diametral entgegengesetzt ist. Das wiederum demonstriert Heller unter anderem am Souveränitäts-Begriff, bei dessen theoretischer Erörterung er nicht so wie Schmitt einseitig Hobbes folgt, sondern Bodin.18 Heller wirft Schmitt vor, dass er die Souveränität auf die Verfügung über den Ausnahmezustand fixiert, wogegen Heller den Inbegriff der Souveränität in der Gesetzgebung erblickt. Aus Heller Sicht ist Schmitts Gedanke der reinen Dezision ebenso unpolitisch wie Kelsens reine Rechtsnorm. Das Volk kann nicht schon als konstituiert angesehen werden, angeblich erkennbar aufgrund seiner politischen Entscheidungsfähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden, sondern muss im politischen Prozess erst immer wieder aufs Neue geformt werden, als das Volk der politischen Einheit aus dem Volk der gesellschaftlichen Vielfalt heraus. Homogenität ist selbst im sowjetischen Staat nicht vorhanden, auch dort müssen die divergierenden Interessen vermittelt, die politische Einheit immer wieder aufs Neue geschaffen werden. Souveränität ist für Heller der Anspruch, am Ende des Vermittlungsprozesses des Volkes als Vielheit zum Volk als Einheit (unter maßgeblicher Mitarbeit der politischen Parteien) kollektive Handlungsfähigkeit zu erlangen und zu bewahren. Ihr zentrales Anliegen ist aber die positive Gesetzgebung, nicht die negative Feinderklärung. Ein solcher Vorgang schließt auch die selbstverantwortliche Gestaltung der Souveränität ein, weshalb Heller es ablehnt, souveräne Staaten als voneinander abgeschottete Inseln zu begreifen, sondern stattdessen in Erwägung zieht, dass es „einen souveränen europäischen Bundesstaat“ braucht, um die Idee des Staates zu erhalten.19 Carl Schmitt und Hermann Heller eint die Ablehnung von Vorstellungen anonymer Souveränität, bei welchen an Stelle personaler Macht (und der damit verbundenen Verantwortung) eine entpersonalisierte Macht wie die „Rechtsordnung“ oder die „Märkte“ treten. Schmitt und Heller divergieren in der Auffassung, worin Souveränität zum Ausdruck kommt, als Entscheidung über den Ausnahmezustand oder als 17 Ein Thema, das bei Schmitt in den Weimarer Jahren zentral ist, von seiner Politischen Theologie bis zur Verfassungslehre: Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, (1922) 2. Aufl. Berlin 1934; ders., Verfassungslehre, München/ Leipzig 1928. 18 Hermann Heller, Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staat- und Völkerrechts (1927), in: ders., Gesammelte Schriften Band II, Leiden 1971, S. 31 – 202. Zu dieser ideenpolitischen Auseinandersetzung zwischen Schmitt und Heller in ihrem Umgang mit Hobbes und Bodin vgl. Marcus Llanque, Hermann Heller als Ideenpolitiker. Politische Ideengeschichte als Arsenal des politischen Denkens, in: ders. (Hrsg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden (Nomos-Verlag) 2010, S. 93 – 116. 19 Hermann Heller, Souveränität (Fn. 18), S. 201.

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Entscheidung über den Normalzustand; aber beide sind sich einig darin, dass am Ende es immer konkrete Personen und Personengruppen sind, die solche Entscheidungen vornehmen – und dafür auch die Verantwortung übernehmen müssen.

VI. Die Souveränität des Menschen als Überwindung der Souveränität oder als letzter Akt der Selbstermächtigung? Die Kritik an der Souveränität und die Neigung, auf diesen Begriff ganz verzichten zu wollen, hat eher mit dem Machtanspruch zu tun, der mit der Souveränitäts-Erklärung verbunden ist, als mit dem Begriff selbst. Die Kritik am Souveränitäts-Begriff sollte sich besser auf die Frage konzentrieren, wie Macht organisiert wird, wobei der Anspruch, Macht organisieren zu wollen, selbst einen Akt der Selbstermächtigung darstellt, der implizit oder explizit Souveränität behauptet. Das trifft auch auf die der Staats- und Volkssouveränität – nachfolgenden Varianten von Souveränität zu, auf die Souveränitäts-Erklärung von bestimmten Personengruppe wie Minderheiten oder indigenen Gruppen20 und schließlich auch auf die Souveränitäts-Erklärung des unabhängigen, autonomen, selbstbestimmten Individuums. Nur noch auf letzteres sei hier eingegangen. Aus der Sicht eines Souveränitäts-Verständnisses, das damit immer irgendeine Form von Staatlichkeit in Verbindung bringt, muss die Erklärung des Individuums als eigentlichen oder wahren Souverän absurd vorkommen, so selbstverständlich scheint Souveränität immer auf Staat oder Volk bezogen zu sein. Dabei ist der Zusammenhang von Individuum und Staat bereits bei Hobbes die maßgebliche Vorüberlegung seiner Souveränitätstheorie gewesen, wenn er den Staat nur als Komposition vieler Individuen denkt. In dieser Tradition des Individuums haben sich die ersten Menschen- und Bürgerrechtserklärung gestellt, wenn auch nicht die letzten individualistischen Konsequenzen daraus gezogen. In eben dieser Hinsicht haben die Gegner des Individualismus diese revolutionäre Selbstermächtigung als größte Gefahr für Ordnung und Gesellschaft kritisiert, deren Kritik Steven Lukes in seiner ideengeschichtlichen Rekonstruktion der Idee des Individualismus dahin gehend zusammenfasst, hier erkläre sich das Individuum zum „sovereign over himself“.21 In einer wesentlich freundlicheren Haltung hatte dies Georg Jellinek sehr viel früher so formuliert, dass der „souveräne Individualismus auf religiösem Gebiet“ es gewesen sei, der die Idee individueller Menschenrechte vorbereitet habe.22 Was sich hier in negativer und positiver Hinsicht vorbereitete, kam in Reaktion auf das Erlebnis der verheerenden Wirkung von Staatlichkeit für den Menschen im Lich20

Patrick Macklem, The Sovereignty of Human Rights, Oxford (University Press) 2015. Steven Lukes, The Meanings of ,Individualism‘. Journal of the History of Ideas 32 (1971), S. 45 – 66, hier: S. 47. 22 Georg Jellinek, Die Erlärung der modernen Menschen- und Bügerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 2. erw. Aufl., Leipzig (Duncker & Humblot) 1904, S. 36. 21

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te des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs zum Durchbruch. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist die bekannteste Manifestation des zeitgenössischen Unbehagens gegen jede ungebundene Staatsgewalt. Sie selbst ist aber noch zurückhaltend bezüglich der absoluten Stellung des Individuums, bettet das Individuum vielmehr ein in die Gemeinschaft, unterstellt es dem Gesetz und spricht auch von Pflichten. In der damaligen Situation erfolgt die ausdrückliche Souveränitäts-Erklärung des Individuums bei dem Völkerrechtler Hersch Lauterpacht, und zwar in einem Buch, das u. a. den ideengeschichtlichen Wurzeln der individuellen Menschenrechte nachgeht. Darin heißt es: „The law of nations, itself conceivable only as being above the legal order of sovereign States, is not only a law governing their mutual relations but is also, upon final analysis, the universal law of humanity in which the individual human being as the ultimate unit of all law rises sovereign over the limited province of the State“.23

Diese Erklärung der Souveränität des Individuums ist hier zunächst in seiner negativen Stoßrichtung zu sehen, nämlich gegen die staatliche Souveränität gerichtet. In dieser Deutungstradition wird versucht, die Herkunft der individuellen Rechte von der Staatlichkeit unabhängig zu denken, heute etwa als Stärkung des Individuums in Fragen der Zuerkennung von Staatsangehörigkeit.24 Ganz anders ist die gegenwärtige Bewegung der „sovereign citizens“ zu sehen, die einseitig jegliche staatliche Gehorsamserwartung zurückweist und somit eine Variante des anti-statalen Anarchismus darstellt.25 Diese Deutung der Souveränität hat in der Pandemie-Zeit erheblichen Zulauf gewonnen und wird nun als Instrument populistischer Ideenpolitik gebraucht.26 Hatte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte noch die Verknüpfung von Individuen zu Gemeinschaften thematisiert und wenigstens andeutungsweise den individuellen Rechten auch Pflichten an die Seite gestellt, so dient einigen Akteuren in unseren Tagen die Behauptung der Souveränität des Individuums dazu, jeglicher Staatlichkeit alle Legitimation abzusprechen. Die ideenpolitischen Hintergründe sind also in der Deutungspraxis von Souveränität überall sichtbar. Ungeachtet der Zustimmung oder Ablehnung der jeweiligen Ideenpolitik ist an dieser Stelle nur von Interesse, dass auch diese letzte Form der Selbstermächtigung, die Souveränitäts-Erklärung des Individuums, ähnlicher Probleme wie die Souveränitäts-Erklärung des Volkes oder des Staates gewahr sein muss. Wenn dieses Individuum nämlich ohne Handlungsfähigkeit ist, wenn es bspw. nicht Herr seiner selbst, wenn es willenlos, wenn es unmündig ist, dann 23

Hersch Lauterpacht, International Law and Human Rights, New York 1950, S. 120. Patrick Weil, Can a Citizen Be Sovereign? Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 8 (2017), S. 1 – 27. 25 Michael N. Colacci, Sovereign Citizens. A Cult Movement That Demands Legislative Resistance. Rutgers Journal of Law and Religion 17 (2015), S. 153 – 165. 26 Linda Basile/Oscar Mazzoleni, Sovereignist wine in populist bottles? European Politics and Society 21 (2020), S. 151 – 162. 24

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läuft die auf das Individuum bezogene Souveränität ins Leere, denn ihr korrespondiert keine Macht, keine Macht über sich selbst. Diese Ohnmacht des Individuums liegt bereits in der völligen Isolierung vor, in dem hilflosen Ausgeliefertsein gegenüber Naturgewalten, im Risiko der Erkrankung, des Unfalls und nicht zuletzt in der Ohnmacht gegenüber der überlegenen Machtkonzentration, welcher sich isolierte Individuen gegenüber sehen, wenn sie es mit einer Gruppe von Menschen zu tun haben, die sich politisch organisieren und so ihre individuelle Macht nicht nur addieren, sondern potenzieren, wenn sich diese Individuen also bspw. zu einem Staat vereinen. Das ist dann wieder der politische Vorgang, den Hobbes thematisierte: Aus der Erfahrung mit oder aus Furcht vor Ohnmacht verbinden sich souveräne Individuen, geben dabei teilweise ihre (Freiheit genannte) Souveränität auf, um jene kollektive Handlungsfähigkeit zu erringen, die deutlich größere Macht verspricht. Das setzt aber wiederum voraus, auf die eigenen Freiheiten wenigstens teilweise zu verzichten und es beinhaltet auch, dass Individuen diesen Souveränitäts-Verzicht rückgängig machen können, die Bindungen auflösen, verändern, wechseln, wenn die Umstände dies erfordern, und auch das setzt wiederum Macht voraus. Diese Überlegung führt dann weit über Hobbes hinaus zu Rousseaus Vorstellung von Volkssouveränität mit dem nur scheinbaren Paradox, dass sich hier Menschen zu einem politischen Volk zusammenschließen, das sich als Ganzes nie endgültig binden darf, aber dennoch unentwegt Bündnisse mit anderen solchen Völkern eingeht, wie es Rousseau als Föderalismus thematisiert, aber nicht weiter ausführt. Was für Bodin nur schwer vorstellbar, für Hobbes und Schmitt undenkbar und bei Heller sehr wohl möglich ist, steht am Anfang staatlicher Souveränität: die Verbindung von Menschen zu Personengruppen mit kollektiver Handlungsfähigkeit, die daher ohne weiteres sich ihrerseits als Personengruppe mit anderen Personengruppen verbünden können, ihre Souveränität teilen, vereinen, gestalten, organisieren können. Auch wenn das Hobbes’ ideenpolitischen Intentionen zuwiderläuft, ist der Akt der Föderation mit der Idee der Souveränität vereinbar.27 Mit der Souveränität des Individuums sind wir wieder an den Anfang gelangt, nur dass an die Stelle der Anarchie souveräner Gesellschaftsgruppen innerhalb politischer Ordnungen und an Stelle der Anarchie von Staaten nun die Anarchie souveräner Individuen steht, die aus dem Anspruch völliger Ungebundenheit und „Freiheit“ heraus gegen vorhandene politische Bindungen rebellieren, in Wahrheit aber nichts anderes beschreiben als den Ausgangspunkt auch der staatlichen Souveränität: nur dass dort an Stelle der willkürlichen Selbst-Ermächtigung des Individuums die Selbstermächtigung verbündeter Individuen stand. Der Bestand und die Belastbarkeit dieser Souveränität hängt nicht von der rechtlichen Konstruktion der Souveränität ab, sondern von den politischen Bindungen, die in solchen Akten der Selbst-Ermächtigung zum Ausdruck gelangen, aber den Beweis der dadurch unterstellten kollektiven Handlungsfähigkeit immer erst antreten müssen. 27 Vgl. Olivier Beaud, Föderalismus und Souveränität. Bausteine zu einer verfassungsrechtlichen Lehre der Föderation. Der Staat 35 (1996), S. 45 – 66.

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Man kann nun ganz auf Souveränität verzichten wollen und intellektuell überhaupt nur eine „kritische“ Theorie der Souveränität gelten lassen,28 aber das beantwortet nicht die Frage, wie sich die anhaltende Praxis des Souveränitäts-Gebrauchs erklärt und was den Platz einnehmen kann und soll, den Souveränität weiterhin einnimmt. An Stelle einer negative Kritik, aus welcher Souveränitäts-Attentismus folgt, besinnt sich ein nicht weniger progressiver Teil der Forschung auf die Volkssouveränität als Bezugspunkt zur Legitimation intensiver politischer Eingriffe in die Ökonomie wie beispielsweise das Mittel der Enteignung.29 Souveränität ist jedenfalls kein rechtlicher oder rechtstheoretischer Begriff alleine, sondern ein ideenpolitischer, dessen Sinn und Grenzen nur aus den praktischen Kontexten erschlossen werden kann, in welche er zum Zwecke der Intervention gestellt und gebraucht wird. Literatur Bartelson, Jens, A Genealogy of Sovereignty, Cambridge (University Press) 1995. Basile, Linda/Mazzoleni, Oscar, Sovereignist wine in populist bottles? European Politics and Society 21 (2020), S. 151 – 162. Beaud, Olivier, Föderalismus und Souveränität. Bausteine zu einer verfassungsrechtlichen Lehre der Föderation. Der Staat 35 (1996), S. 45 – 66. Bluhm, Harald/Fischer, Karsten/Llanque, Marcus (Hrsg.), Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin (Akademie) 2011. Bodin, Jean, Sechs Bücher über die Republik, hrsg. v. Peter-Cornelius Mayer-Tasch, übersetzt von Bernd Wimmer, 2 Bände, München (Beck) 1981/1986. Colacci, Michael N., Sovereign Citizens. A Cult Movement That Demands Legislative Resistance. Rutgers Journal of Law and Religion 17 (2015), S. 153 – 165. Dyzenhaus, David, Hans Kelsen, Carl Schmitt, Hermann Heller. Paradigms of Sovereignty Thought. Theoretical Inquiries in Law 16 (2015), S. 337 – 366. Gratton, Peter, The state of sovereignty. Lessons from the political ctions of modernity, Albany (SUNY) 2012 Grimm, Dieter, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin (University Press) 2009. Havercroft, Jonathan, Captives of Sovereignty, Cambridge (University Press) 2011. Heller, Hermann, Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staat- und Völkerrechts (1927), in: ders., Gesammelte Schriften Band II, Leiden 1971, S. 31 – 202. 28

Daniel Loick, Kritik der Souveränität, Frankfurt/New York (Campus) 2012. William Mitchell/Thomas Fazi, Reclaiming the State. A Progressive Vision of Sovereignty for a Post-Neoliberal World, London (Pluto) 2017. Defaitistisch dagegen der Abgesang auf die Souveränität bei Wendy Brown, Der totale Homo oeconomicus. Wie der Neoliberalismus den Souverän abschafft. Blätter für deutsche und internationale Politik (2015 Heft 12), S. 69 – 82. 29

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Hobbes, Thomas, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Walter Euchner; 1966; 3. Aufl. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1989. Jackson, Robert H., Sovereignty. Evolution of an Idea, Cambridge (Polity: Key Concepts) 2007. Jellinek, Georg, Die Erklärung der modernen Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 2. erw. Aufl., Leipzig (Duncker & Humblot) 1904. Kelsen, Hans, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, Tübingen 1920. Kelsen, Hans, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1922. Kriele, Marin, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 5. Aufl. Opladen (Westdeutscher Verlag) 1995. Lauterpacht, Hersch, International Law and Human Rights, New York (Praeger) 1950. Llanque, Marcus, Die ikonographische Vermittlung von Differenz in Selbstregierungsregimen, in: Sebastian Huhnholz/Eva Marlene Hausteiner (Hrsg.), Politische Ikonographie und Differenzrepräsentation, Leviathan-Sonderband 34, Baden-Baden (Nomos) 2018, S. 48 – 70. Llanque, Marcus, Geschichte des politischen Denkens oder Ideenpolitik: Ideengeschichte als normative Traditionsstiftung, in: Harald Bluhm/Jürgen Gebhardt (Hrsg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden 2006, S. 51 – 70. Llanque, Marcus, Hermann Heller als Ideenpolitiker. Politische Ideengeschichte als Arsenal des politischen Denkens, in: Marcus Llanque (Hrsg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden (Nomos-Verlag) 2010, S. 93 – 116. Llanque, Marcus, Menschenrechte: Normative Geltung und politische Verbindlichkeit, in: Andreas Niederberger/Regina Kreide (Hrsg.), Internationale Politische Theorie. Umrisse und Perspektiven eines neuen Forschungsfeldes, Stuttgart/Weimar (Metzler) 2015, S. 187 – 200. Llanque, Marcus, Politische Verbindlichkeit als Kernproblem der Weimarer Demokratiedebatte, in: Michael Dreyer/Andreas Braune (Hrsg.), Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert, Wiesbaden (Steiner) 2016, S. 39 – 56. Llanque, Marcus, The Concept of Citizenship between Membership and Belonging, in: Katja Sarkowsky/Rainer-Olaf Schultze/Sabine Schwarze (Hrsg.), Migration – Regionalization – Citizenship: Comparing Canada and Europe, Wiesbaden (VS) 2015, S. 101 – 126. Lloyd, Howell A., Jean Bodin. This Pre-eminent Man of France. An Intellectual Biography, Oxford (University Press) 2017. Lloyd, Howell A., Sovereignty. Bodin, Hobbes, Rousseau. Revue International de Philosophie 45 (1991), S. 353 – 379. Loick, Daniel, Kritik der Souveränität, Frankfurt/New York (Campus) 2012. Lukes, Steven, The Meanings of ,Individualism‘. Journal of the History of Ideas 32 (1971), S. 45 – 66. Macklem, Patrick, The Sovereignty of Human Rights, Oxford (University Press) 2015. Philpott, Daniel, Revolutions in Sovereignty. How Ideas shaped Modern International Relations, Princeton (University Press) 2013.

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Quaritsch, Helmut, Souveränität, Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin (Duncker & Humblot) 1986. Ringeisen-Biardeaud, Juliette, „Let’s take back control“: Brexit and the Debate on Sovereignty. Revue Française de Civilisation Britannique 22 (2017 Heft 2), S. 1 – 17. Schmitt, Carl, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, (1922) 2. Aufl. Berlin 1934. Schmitt, Carl, Verfassungslehre, München/Leipzig 1928. Weil, Patrick, Can a Citizen Be Sovereign? Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development 8 (2017), S. 1 – 27. Wilson, John F., Royal Monarchy. ,Absolute‘ Sovereignty in Jean Bodin’s Six Books of the Republic. Interpretation 35 (2008), S. 241 – 264.

Wilhelm Röpke und das Problem der Souveränität in Europa Eine Kritik der Massen und der Planung Von Olimpia Malatesta

I. Einführung Ziel des vorliegenden Beitrages ist es nicht, die ordoliberale Theorie in Bezug auf ihre mehr oder weniger kohärente politische Umsetzung im europäischen Raum zu analysieren. Es geht also nicht darum, die ökonomisch-politischen Maßnahmen zu untersuchen, welche beispielsweise während der vorletzten Wirtschaftskrise ergriffen wurden, und es handelt sich auch nicht um eine Interpretation der europäischen Verträge aus der ordoliberalen Sicht, oder aus der des sogenannten autoritären Liberalismus1. Ein derartiges Vorhaben würde nicht nur den dem vorliegenden Beitrag gewidmetem Raum, sondern vor allem seine theoretische Ambition übertreffen. Einführend soll daher zuerst einmal hervorgehoben werden, dass es erstens in der neoliberalen Ideengeschichte der ersten Hälfte des Jahrhunderts keine kohärente Gesamtheit von Theorien gibt, die darauf abzielt, eine einheitliche Vision Europas und ihres möglichen zukünftigen Integrationsprozess zu liefern. Daher ist ein wissenschaftliches Unterfangen, welches versucht, eine konsistente neoliberale Theorie von Europa herauszuarbeiten, in jedem Falle zum Scheitern verurteilt. Zweitens sollte beachtet werden, dass auch im Fall eines solch gewagten Unterfangens, es historisch und ideengeschichtlich gesehen höchst problematisch wäre, eine einzige politisch-soziale und wirtschaftliche Theorie herauszukristallisieren – den Ordoliberalismus –, die den europäischen Integrationsprozess und seine Verträge als einziges Paradigma geprägt hätte.

1 Vgl. Claudia Atzeni, Liberalismo autoritario. La crisi dell’Unione europea a partire dalle riflessioni di Hermann Heller, Mucchi, Modena, 2023; ders., Il liberalismo autoritario. Breve storia di un concetto, Teoria critica e della regolazione sociale, 2 (2021), S. 1 – 19; Michael A. Wilkinson, Authoritarian Liberalism and the Transformation of Modern Europe, Oxford University Press, Oxford, 2021; ein wichtiger Beitrag zum Verhältnis zwischen dem sogenannten autoritären Liberalismus und der Krise der EU ist Verena Frick/Oliver W. Lembcke, Autoritärer Liberalismus oder demokratischer Konstitutionalismus? Hermann Heller und die Europäische Dauerkrise, in: ders. (Hrsg.), Hermann Hellers Demokratischer Konstitutionalismus, Springer, Wiesbaden, 2022, S. 203 – 223.

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Aus genannten Gründen scheint es daher sinnstiftender und theoretisch produktiver, die vorliegende Reflexion auf das Terrain der ordoliberalen Ideengeschichte zu beschränken, ohne jedoch den Versuch vorzunehmen, sie unmittelbar auf die Gegenwart zu projizieren2. Dies impliziert jedoch nicht einen vollständigen Verzicht, das gegenwärtige Europa mit seinen wirtschaftlichen Zwangsmechanismen zu hinterfragen: Obwohl hier die Meinung vertreten wird, dass die europäische Wirtschaftsverfassung nicht als kohärentes Resultat eines teleologischen Prozesses betrachtet werden kann, durch welchen die ordoliberale Theorie in der EU einen praktischen Anwendungsraum gefunden hätte, heißt das längst nicht, dass in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der EU gewisse generelle ordoliberalen Tendenzen angesichts des Verhältnisses zwischen Politik und Wirtschaft nicht zu erkennen wären3. Der Fokus auf jenes Verhältnis ist nämlich der grundlegende Baustein der ordoliberalen Reflexion über Fähigkeiten und Grenzen des Staates, über den Inhalt der Wirtschaftsverfassung, und letztlich über das Problem der Souveränität, welches das eigentliche Thema der vorliegenden Auseinandersetzung darstellt. Insbesondere war es der konservativ und gelegentlich auch reaktionär4 orientierte Ökonom Wilhelm Röpke5 (der zusammen mit Alexander Rüstow und Alfred Müller-Armack 2 Anders als Lars P. Feld, Europa in der Welt von heute. Wilhelm Röpke und die Zukunft der Europäischen Währungsunion, Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik, 12/2 (2012), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut fu¨ r Allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung fu¨ r Wirtschaftspolitik, Freiburg i. Br. 3 Das Thema wurde von mir bereits in anderen Beiträgen behandelt: Olimpia Malatesta, Liberalismo autoritario contro pluralismo sociale. Alcune note su Heller, Schmitt e gli ordoliberali nel contesto europeo, Pólemos. Materiali di filosofia e critica sociale, 1 (2021), S. 69 – 88; ders., L’economia sociale di mercato come strumento di ordine politico. Sui concetti ordoliberali di Stato e società, Ventunesimo Secolo. Rivista di studi sulle transizioni, Franco Angeli, 47 (2021), S. 113 – 139; ders., The long path of Ordoliberalism: Ascent and decline of a German ideology, in: Christiane Liermann/Matteo Scotto/Julian Stefenelli (Hrsg.), Vereinigte Staaten von Europa – Wunschbild, Alptraum oder Utopie?/Stati Uniti d’Europa – auspicio, incubo o utopia?, Villa Vigoni Editore/Verlag, 2020, S. 105 – 118; ders., Sul concetto di „Wirtschaftsverfassung“, in: Franz Böhm. La costituzione economica ordoliberale da Weimar all’Unione europea, in: Adriano Cozzolino/Olimpia Malatesta/Luigi Sica (Hrsg.), Questione Europa. Crisi dell’Unione e trasformazioni dello Stato, La Scuola di Pitagora, Napoli, 2021, S. 55 – 86. 4 Siehe z. B. Röpkes Position zum Apartheid in Süd Afrika: Phillip Becher/Katrin Becker/ Kevin Rösch/Laura Seelig, Ordoliberal White Democracy, Elitism, and the Demos: The Case of Wilhelm Röpke, Democratic Theory, 2 (2021), S. 70 – 96. Siehe auch Quinn Slobodian, Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Harvard University Press, Cambridge, 2018, S. 146 – 157. 5 Über Röpkes Konservativismus und seinen Kulturpessimismus siehe unter anderem Andrea Franc, Wilhelm Röpke’s Utopia and Swiss Reality. From Neoliberalism to Neoconservatism, in: Patricia Commun/Stefan Kolev (Hrsg.), Wilhelm Röpke (1899 – 1966). A Liberal Political Economist and Conservative Social Philosopher, Springer, Berlin, 2018, S. 31 – 40; Frans Willem Lantink, Cultural Pessimism and Liberal Regeneration? Wilhelm Röpke as an Ideological In-Between in German Social Philosophy, in: Commun/Kolev (Hrsg.), Wilhelm Röpke (1899 – 1966), S. 187 – 200. Siehe auch Niels Goldschmidt, Liberalismus als Kulturideal. Wilhelm Röpke und die kulturelle Ökonomik, in: Freiburger Diskussionspapiere zur

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zu den Gründern des sogenannten „soziologischen Ordoliberalismus“6 zu zählen ist), der sowohl während der Weimarer Republik als auch in der Nachkriegszeit die schärfste Kritik am Konzept der Souveränität ausgeübt hat. Trotz der verschiedenen historischen Kontexten in denen Röpke sich gegen die Souveränität – genauer: Volkssouveränität – geäußert hat, waren die Weimarer Krise, der amerikanische New Deal und die ersten europäischen Schritte in Richtung einer wirtschaftlichen Union dadurch gekennzeichnet, dass sie die grundlegenden Prinzipien des Marktes durch eine zu starke Politisierung der Wirtschaft störten. Insbesondere galt der europäische Integrationsprozess als potenzielles trojanisches Pferd, um eine weitestmögliche Planwirtschaft im gesamten europäischen Raum einzuführen, so dass Europa vom Bollwerk gegen die Sowjetunion zu ihrem Vasallen herabgewürdigt geworden wäre. Der allmächtige Leviathan, der in Europa bis dato auf die nationale Ebene beschränkt zu sein schien, drohte nun eine gigantische, kontinentale Dimension anzunehmen. Doch um Röpkes Position, seine politischen Befürchtungen und seine tiefe Skepsis gegenüber der Souveränität sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene in Gänze zu begreifen, ist es zuerst einmal nötig, sein Denken in dem breiteren Kontext des Ordoliberalismus der Ursprünge zu situieren. In diesem Sinne bietet die ordoliberale Interpretation der deutschen innenpolitischen Probleme der 20er und 30er Jahre einen unabdinglichen Wegweiser, um Röpkes Position zur gewünschten neoliberalen Wirtschaftsintegration zu erhellen. Denn zweifelsohne hat das problematische, innenpolitische Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, welches die Ordoliberalen insbesondere in der Weimarer Republik sahen, Röpkes Vision der internationalen Dimension stark geprägt.

II. Der Staat als Ausbeutungsobjekt des Antiliberalismus der Dreißiger Jahre Der historische Kontext, aus dem sich der Ordoliberalismus entwickelte, war durch die Weimarer Krise und den wachsenden Einfluss der Massen auf die innen- sowie auf die außenpolitische Lage Deutschlands geprägt. Seinen älteren Kollegen Walter Eucken und Franz Böhm folgend, beginnt der vierundzwanzigjährige Röpke, schon im Jahre 1923 seine Befürchtungen angesichts des deutschen „Etatismus“ zu äußern. Ein Jahr davor, in direktem Anschluss an seine Habilitation als Privatdozent der politischen Ökonomie an der Universität Marburg, wurde Röpke als Mitglied einer wissenschaftlichen Kommission, die vom Auswärtigen Amt zum Studium der Reparationsfragen eingesetzt wurde, nach Berlin berufen. Auf diese Weise wurde er mit den dringendsten Problemen seiner Zeit konfrontiert. Es waren nämlich Ordnungsökonomik, 09/2 (2009), S. 1 – 14; Raphaël Fèvre, Retour sur le libéralisme conservateur de Wilhelm Röpke, Revue européenne de sciences sociales, 53/2 (2015), S. 147 – 190. 6 So die Kategorisierung nach Dieter Haselbach, Autoritärer Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Nomos, Baden-Baden, 1991.

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die Jahre der zunehmenden Radikalisierung der Lohnarbeiterschaft7, der großen Inflation, die durch die Finanzierung des Ruhrkampfes nach der französisch-belgischen Besetzung, ausgelöst wurde8. Die ökonomische Lage Deutschlands, die in den Nachkriegsjahren stark von der Zahlung der Reparationskosten belastet wurde, sowie der soziale Aufruhr mit den andauernden Streiks und den kommunistischen Rebellionen führten Röpke dazu, das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu hinterfragen. Im Allgemeinen manifestiert Röpke während dieser Zeit eine große Besorgnis angesichts des sozialstaatlichen Charakters der deutschen Republik. Ähnlich wie Franz Böhm erkennt er nämlich die doppelte Natur – zugleich sozial wie auch liberal – der Weimarer Wirtschaftsverfassung, dennoch sieht er in der wirtschaftlichen Praxis das Aufkommen einer Übergangswirtschaft, welche auf den Monopolismus der Kriegswirtschaft auf keinen Fall verzichten will und die das freie Unternehmertum in voraussichtlich kurzer Zeit abschaffen wird. Der ,,Gedanke des wirtschaftlichen Liberalismus (ist) zwar nicht tot“, so lautet Röpkes Urteil, aber er wird so sehr vernachlässigt, ,,daß aus ihm unmittelbar keine Hoffnung zu quellen scheint“9. Der Grund dieser Metamorphose von der freien Wirtschaft der Vorkriegszeit zur drohenden ,,etatistischen Epoche“10 liegt nach Röpke in der bedauernswerten Tatsache, dass jede deutsche Partei ,,in irgendeiner Weise mit dem System der Staatseinmischung ihr Kompromiß geschlossen (hat)“11, sodass jene anwachsende Politisierung der Wirtschaft den Weg zur endgültigen Kapitulation des Liberalismus ebnet. Angesichts der Tatsache, dass die geschichtliche Struktur des Liberalismus selbst – nämlich die Trennung von Wirtschaft und Gesellschaft12 – mindestens seit Anfang des Ersten Weltkrieges unterminiert wurde, plädiert Röpke für eine radikales Um7

Vgl. zur sozioökonomischen Geschichte der Klassenkonflikte in der Weimarer Republik Gian Enrico Rusconi, La crisi di Weimar. Crisi di sistema e sconfitta operaia, Einaudi, Torino, 1977. Zum Versagen Weimars vgl. Fernando D’Aniello, L’altra rivoluzione. Il 1918 tedesco e le premesse del fallimento di Weimar, Il Mulino, 1 (2018), S. 32 – 40. 8 Vgl. Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917 – 1933, Siedler Verlag, Berlin, 1982, Kapitel XIV. 9 Wilhelm Röpke, Wirtschaftlicher Liberalismus und Staatsgedanke (1923); ders., Gegen die Brandung. Zeugnisse eines Gelehrtenlebens unserer Zeit, Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zu¨ rich/Stuttgart, 1959, S. 42 – 46 (42). 10 Ebenda (43). 11 Ebenda (42). 12 Die hier von Röpke ganz grob skizzierte Analyse der historischen Evolution des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft, Staat und Wirtschaft, welche zu einer zu starken Politisierung der Wirtschaft geführt hat, nämlich zu einer Entartung des Liberalismus, antizipiert überraschenderweise die von Carl Schmitt im Jahre 1931 angebotene These einer ,,Unterscheidung von Staat und Gesellschaft“ (Carl Schmitt, Der Hu¨ ter der Verfassung, Duncker & Humblot, Berlin, 2016, (73)), welche das liberale Zeitalter charakterisiert hat (sowie die deutschen Verfassungen des neunzehnten Jahrhunderts), um dann schließlich vom „totalen Staat“ übertroffen zu werden, also von jenem Staat der Krisenjahre der Weimarer Republik, welcher die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft grundsätzlich verschwommen und somit zu einer politisierten Wirtschaft geführt hat.

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denken der Rolle des Staates: Es ist nämlich Zeit, den frühen Liberalismus, der ,,den Staat auf seine ,Nachtwächterfunktionen‘ beschränk(te)“13 und somit nur eine passive Funktion ausübte, zum aktiven Träger des liberalen Kapitalismus zu machen. Die ,,geschichtliche Mission“ des deutschen Liberalismus sei es letztendlich, ,,sich zum Hüter und Förderer eines von antiliberalen Verirrungen gereinigten Staatsgedankens aufzuwerfen“. Weit davon entfernt, Rolle und Funktionen des Staates zu minimieren, so wie es die angelsächsische liberale Tradition seit jeh hegte, solle der neue deutsche Liberalismus – genauer gesagt Neoliberalismus – zum ,,Hüter des von allen Seiten unterhöhlten Staatsgedanke“14 werden. Obwohl hier der Ausdruck „Neoliberalismus“ nicht explizit benutzt wird, zeugt der Beitrag Wirtschaftlicher Liberalismus und Staatsgedanke vom Jahre 1923 von den ersten Keimen einer anbrechenden neuen theoretischen Besinnung angesichts der Funktion, die der Staat in seinem Verhältnis zur Wirtschaft annehmen soll: nicht mehr unbeteiligter Beobachter der Wirtschaftsabläufe und auch nicht einfacher Schiedsrichter, der allein ein Raum der freien wirtschaftlichen Bewegung schafft, sondern aktiver Erzeuger der Bedingungen selbst des liberalen Kapitalismus; also intervenierender Protagonist, der in bestimmten Fällen in die Wirtschaft eingreifen muss, um das liberale Equilibrium wieder einzusetzen. So soll zum Beispiel dem Staat angesichts der Inflation ,,das Recht“ zuerkannt werden, ,,alle Anstrengungen zur Beseitigung des Budgetdefizits – des Wurmes, der im Kerne unserer Wirtschaft sitzt – auf dem Wege regulärer Besteuerung und rigoroser Beschneidung der Ausgaben zu unternehmen“15. Bereits im Jahre 1923, also einige Jahre vor der grundlegenden Intuition, auf der sich der künftige Neoliberalismus gründen wird, versteht Wilhelm Röpke welche Funktion der Staat erfüllen muss, um nicht von den Interessentengruppen monopolisiert zu werden, die seine Autonomie bedrohen, und um zu verhindern, dass der freie Wettbewerb als Motor des Wirtschaftsliberalismus nicht durch den staatlichen Interventionismus beseitigt wird. In diesem Text sind also die ersten Spuren dessen zu beobachten, was Röpkes Freund und Ordoliberaler Alexander Rüstow rund zwanzig Jahre später als die eigentliche Funktion des neoliberalen Staates anerkannte, und zwar seine Rolle als ,,Inhaber der Marktpolizei“16. 1929 nahm Röpke denselben Gedanken wieder auf und rekonstruierte den Werdegang des Liberalismus vom 19. Jahrhundert bis zur Weimarer Zeit. Wenn der 19. Jahrhundert als die ,,Sturm- und Drangperiode kapitalistischer Entwicklung“ definiert wird, gekennzeichnet durch die ,,Nichteinmischung des Staates in den Ablauf des Wirtschaftslebens“, ist ab den 1880er Jahren ,,der Glanz des ökonomischen Li-

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Röpke, Wirtschaftlicher Liberalismus und Staatsgedanke (1923), (44). Ebenda (46). 15 Ebenda (45 – 46). 16 Alexander Ru¨ stow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus, Ku¨ pper, Stuttgart, 1950 (79). 14

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beralismus“17 verschwunden und an seiner Stelle der staatliche Interventionismus getreten18. Somit hat sich die Tätigkeit des Staates im wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bereich erheblich verstärkt. Diese Tendenz zum Interventionismus war mit dem Ersten Weltkrieg stetig stärker geworden und nahm dann in der Zeit des Wiederaufbaus, der von ,,großzügigen Plänen“19 gesteuert wurde, volle Gestalt an. Es waren jedoch ausschließlich politische Gründe, die den Staatsinterventionismus zu seinem Höhepunkt führten: Vor allem gilt dies für die innen- und außenpolitischen Einflüsse: Demokratisierung, Nationalismus, Militarismus, Verwirtschaftlichung der Politik und Politisierung der Wirtschaft, sie alle haben – mag man sie beurteilen, wie man will – durch den Krieg eine gewaltige Stärkung erfahren und lassen nun die interventionistische Strömung weiter anschwellen20 (Hervorhebungen O.M.).

In direkter Polemik mit der politisch-theoretischen Haltung mehrerer Autoren, wie Ferdinand Fried und Werner Sombart, die sich im Kreis der Konservativen Revolution bewegten und die progressive Entartung des Liberalismus sowie das darauffolgende, notwendige Ende des Kapitalismus als Konsequenz einer inhärenten Logik des Kapitals ansahen, die wirtschaftspolitisch nicht zu bewältigen wäre, insistiert Röpke auf den rein politischen Charakter der kapitalistischen Transformationen in Richtung Interventionismus21. Denn der angebliche Untergang des Kapitalismus hat nichts an sich, was an die ,,Unentrinnbarkeit eines Erdbebens“22 erinnern könnte. Während zum Beispiel Sombart die Meinung vertritt, dass Weimar als „Spätepoche“ des Kapitalismus zu betrachten wäre23, und dass es nicht möglich sei, seinen 17

Wilhelm Röpke (1929), Staatsinterventionismus, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena, vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage, Ergänzungsband, S. 861 – 882 (861). 18 Röpke definiert den Interventionismus wie folgt: „Wir betrachten […] die Intervention als Untergruppe der Wirtschaftspolitik und fassen unter diesem Begriff alle jene Maßnahmen zusammen, die sich zweifach dadurch auszeichnen, daß sie die Produktion und Distribution der Volkswirtschaft zu verändern suchen, ohne wie der Sozialismus das auf das Privateigentum an den Produktionsmitteln mit allen seinen Folgerungen beruhende System der Marktwirtschaft aufzuheben“, ebenda (864). 19 Röpkes „Planungsangst“ war natürlich nicht nur auf Deutschland beschränkt. Siehe z. B.: Röpke, Die Nationalökonomie des „New Deals“ (1934), in: ders., Gegen die Brandung. Zeugnisse eines Gelehrtenlebens unserer Zeit, Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zu¨ rich/ Stuttgart, 1959, S. 60 – 84. 20 Röpke (1929), Staatsinterventionismus (863). 21 Röpkes Kritik gegen den Determinismus des Tat-Kreises und Sombarts wird vor allem im folgenden Beitrag entwickelt: Wilhelm Röpke, Die Intellektuellen und der Kapitalismus (1931), in: ders., Gegen die Brandung. Zeugnisse eines Gelehrtenlebens unserer Zeit, Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zu¨ rich/Stuttgart, 1959, S. 87 – 107. 22 Wilhelm Röpke, Epochenwende (1933), in: ders., Wirrnis und Wahrheit, Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich/Stuttgart, 1962, S. 105 – 124 (107). 23 Vgl. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, vol. III.1, Dtv, Mu¨ nchen, 1987; vgl. auch ders., Die Wandlungen des Kapitalismus, Weltwirtschaftliches Archiv, vol. 28, 1928, S. 243 – 256.

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verhängnisvollen Lauf auf irgendeine Weise umzulenken24, so beharren die Ordoliberalen, darunter auch Röpke, auf den politisch-gestalterischen Charakter des Kapitalismus. Letzterer sei nicht von einem unabänderlichen Schicksal zum Tode verurteilt, sondern besitze das Potential, von Recht und Politik so gestaltet zu werden, dass gegen den Interventionismus, die Prinzipien des Liberalismus neu gesichert werden können25. Röpke weist also darauf hin, dass der Interventionismus nicht als teleologisches Resultat einer im Liberalismus innewohnenden Logik anzusehen ist, sondern als Effekt politischer Entscheidungen und Transformationen, welche nichts Zwingendes an sich haben. Der Übergang von einer liberalen Demokratie, in welcher die „parliamentary representation […] on a homogeneity of interests“26 fußte, zur parlamentarischen Demokratie Weimars, die sich auf einen schwierigen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit stützte, bewirkte, dass der Klassenkonflikt sich in den Staat einschlich und auch die Wirtschaft involvierte, sodass der Staat selbst zum Feld hegemonialer Wirtschaftskämpfe wurde. Offenbar nahm Röpke jene Demokratisierung der staatlichen Welt, die mit der politischen Repräsentation jener Interessenheterogenität einherging, als ein Problem wahr. Die neue demokratische Epoche hatte nämlich „die klassisch-liberale Theorie der Nichteinmischung des Staates“ zugunsten der „Parteien des Marktes“ (Arbeiter*innen, Unternehmer*innen, Konsument*innen usw.) deaktiviert, und „das freie Spiel der Kräfte durch organisiertes, die freie Konkurrenz mehr und mehr ausschließendes Zusammenwirken (…) ersetz(t)“27.

24 Im Jahre 1928 schreibt Sombart zum Beispiel: ,,Wir mu¨ ssen vielmehr die Abgrenzung der Wirtschaftsepochen und insbesondere der Epochen des Kapitalismus ganz unabhängig von der politischen Periodenbildung vornehmen“, Sombart, Die Ordnung des Wirtschaftslebens, Springer, Berlin, 1927 (31). Und woanders fügt er hinzu, dass der Kapitalismus „zu allen Zeiten Mittel und Wege gefunden (hat), um de lege, praeter legem und contra legem sich durchzusetzen“ (Sombart, Der moderne Kapitalismus. Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, vol. III.1 (58)), wobei es klar wird, dass die kapitalistischen Transformationen von der politischen und rechtlichen Gestaltungskraft völlig unabhängig sind. 25 Diese zentrale Idee des Ordoliberalismus wird später in einem der sogenannten Gründungsmanifesten von Eucken, Böhm und Großmann-Doerth in voller Klarheit ausgedrückt. Sich gegen Sombarts antipolitischen „Determinismus“ wendend schreiben sie: ,,Zweifellos ist die These historisch falsch. Sie verrät eine Blindheit gegenu¨ ber der Wucht politisch-staatlicher Tatsachen, die in Erstaunen setzt. In Zeiten Napoleons, Steins, Bismarcks z. B. bis zum großen Krieg, zu den Friedensverträgen die ihn abschlossen und zu den neuesten staatlichen Strukturwandlungen haben die außen- und innenpolitischen Ereignisse den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung entscheidend bestimmt“, Franz Böhm/Walter Eucken/Hans GroßmannDoerth, Unsere Aufgabe, in: Franz Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Kohlhammer, Stuttgart/Berlin, 1937, S. VII – XXI (XIII). 26 Werner Bonefeld, The Strong State and the Free Economy, Rowman & Littlefield International, London/New York, 2017 (51). 27 Röpke (1929), Staatsinterventionismus (862).

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Es handelt sich übrigens um eine demokratieskeptische Haltung, die auch von den anderen Ordoliberalen jener Zeit geteilt wurde. In beispielsweise einem zu Recht als Gründungsmanifest des Ordoliberalismus bezeichneten Aufsatz vom Jahre 1932 macht Walter Eucken keinen Hehl aus seiner Animosität gegenüber den Massen. Obwohl die Jahre der Präsidialkabinette natürlich von stark totalitären Drängen in Richtung Kommunismus und Nationalsozialismus gekennzeichnet waren, muss Euckens Analyse hier nicht als Ausdruck einer Furcht vor „totalitären Massen“ gedeutet werden, die Deutschland in den Abgrund einer Diktatur gestürzt hätten. Wenngleich der Gründer des Ordoliberalismus selbstverständlich keine Sympathie für die NSDAP hegte, so soll aber auch hervorgehoben werden, dass seine größte Sorge nicht die mögliche totalitäre Wende der Weimarer Republik, sondern eher die antikapitalistische, antiliberale Eroberung des Staates seitens der Massen war. Zugespitzter formuliert: Eucken war nicht in erster Linie am politischen Schicksal Deutschlands interessiert, sondern eher an seinem wirtschaftlichen. Nicht die Unterdrückung der politischen Freiheit, sondern die Aufhebung der freien wirtschaftlichen Initiative, die Diffusion des wirtschaftlichen Interventionismus durch die Besetzung des Staates vonseiten der Massen war das, was Eucken bestürzte. Ähnlich wie Röpke, sah er die allergrößte Gefahr jener Zeit nicht in der Abschaffung der liberalen Demokratie, sondern in der Abschaffung des Kapitalismus. In den Augen der Ordoliberalen erscheint die politische Praxis der Massen als höchst verhängnisvoll, genau weil sie darauf abzielt, den Staat als Werkzeug einer ,,zuku¨ nftige(n) Überwindung der heutigen Wirtschaftsordnung“ zu benutzen. Offensichtlich will ,,die antikapitalistische Massenbewegung aus dem Staat nicht bloß ein Werkzeug in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus (…), sondern daru¨ ber hinaus den Staat zum Träger einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung machen“28.

Ähnliches gilt auch für Alexander Rüstow, welcher die Entartung des Liberalismus in Richtung Interventionismus und Planwirtschaft als Konsequenz der Ausbeutung des Staates seitens der Massen betrachtet. Auch im Denken Rüstows spielt der Staat als Hüter des liberalen Kapitalismus eine ausschlaggebende Rolle. Gegen derartige Lektüren des Neoliberalismus, welche den „minimalen“ Charakter des Staates betonen, oder gar von einer „Staatsphobie“29 sprechen, soll nämlich hervorgehoben werden, dass in der ordoliberalen Theorie der Staat als Konfliktfeld des Ökonomischen ein schwerwiegendes Gewicht annimmt. Die Tatsache, dass der Bereich des Staates von den Massen besetzt wird, die es als wirtschaftspolitisches Werkzeug benutzen, um ihre antikapitalistischen, antiliberalen Interessen durchzusetzen, ist natürlich das, was Denker wie Röpke, Eucken und Rüstow bekümmert. ,,Was sich 28 Walter Eucken (1932), Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, Weltwirtschaftliches Archiv, 1932, 36. Bd., S. 297 – 321 (305). 29 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik, Geschichte der Gouvernementalität II, S. 113: ,,Eine Staatsphobie, die sich durch viele zeitgenössische Themen durchzieht und die sich sicherlich seit langem aus vielen Quellen gespeist hat, beispielsweise aus der sowjetischen Erfahrung seit den 1920er Jahren, aus der deutschen Erfahrung mit dem Nazismus, aus der englischen Planung nach dem Krieg usw“.

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hier abspielt“, schreibt Rüstow im Jahre 1932, staatspolitisch noch unerträglicher als wirtschaftspolitisch, steht unter dem Motto „Der Staat als Beute“30. Die deutsche Gesellschaft mit ihrer Konfliktgeladenheit soll sich also nicht anmaßen, den Staat für ihre eigenen Zwecke zu beugen. Röpke ist in diesem Sinne lapidar: Der Markt und der Staat sind während der Weimarer Zeit, ,,Opfer einer Massenherrschaft“31 geworden.

III. Massen, Planwirtschaft und Souveränität als Negation des Liberalismus Aus Röpkes Sicht waren die Massen und die ,,einflußreichen Machtgruppen“, die sie vertraten, nicht nur für die innenpolitische Instabilität der Weimarer Republik verantwortlich: Ihre angebliche Übermacht in wirtschaftspolitischen Angelegenheiten, ihre Schubkraft in Richtung Planwirtschaft und Protektionismus, werden sogar vor Weimar als ausschlaggebende ,,Ursachen des Weltkrieges“32 identifiziert33. In diesem Sinne wäre der erste Weltkrieg nichts anderes gewesen als ein Effekt einer ,,überwuchernde(n) Staatlichkeit“. Und es war genau diese unheilvolle ,,losegelassene Kollektivität“, die zuerst zum Krieg geführt hätte, um sich dann in der Weimarer Republik zu tarnen. In anderen Staaten war der Staat hingegen nicht nur für die ,,Ausnahmezeit des Krieges“, sondern geradezu auf ,,unabsehbare Dauer zum Leviathan“34 geworden. Eigentliche Ursache der Kriege und der internationalen Instabilität wäre letztendlich eine übertriebene Konzentration der Macht innerhalb des Staaates. ,,Supernationalismus“ – abgesehen von seinen jeweiligen politischen Formen – wäre in Röpkes Sicht im perfekten Einklang mit der ,,Supersouveränität“. Letztendlich wäre eine ex30 Alexander Ru¨ stow, Interessenpolitik oder Staatspolitik?, Der deutsche Volkswirt, Bd. 7, 1932, S. 169 – 172 (171). In dieser Gründungsphase bedienen sich die Ordoliberalen den Begriffen Schmitts und seiner Kritik an dem sozialen Pluralismus und an Harold Laski und George D. H. Cole. Wenn Rüstow z. B. schreibt, dass der Staat ,,von den gierigen Interessenten auseinandergerissen (wird)“ und dass ,,jeder Interessent (…) sich ein Stu¨ ck Staatsmacht heraus(reißt) und (es) fu¨ r seine Zwecke aus(schlachtet)“, erinnert diese Diagnose an Schmitts Aussage wonach ,,(w)enn der ,,irdische Gott“ (der Staat) von seinem Throne stu¨ rzt und das Reich der objektiven Vernunft und Sittlichkeit zu einem ,,magnum latrocinium“ wird, dann schlachten die Parteien den mächtigen Leviathan und schneiden sich aus seinem Leibe jede ihr Stu¨ ck Fleisch heraus“, Carl Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat (1930), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923 – 1939, Duncker & Humblot, Berlin, 2014, S. 151 – 165 (152). 31 Wilhelm Röpke, Die säkulare Bedeutung der Weltkrisis, Weltwirtschaftliches Archiv, 37. Bd., 1933, S. 1 – 27 (26). 32 Wilhelm Röpke, Internationale Ordnung – heute, Verlag Paul Haupt, Bern und Stuttgart, 1979 (1ste Auflage 1945) (16). 33 Dasselbe Argument ist auch im folgenden Text zu finden: Wilhelm Röpke, International Economic Disintegration, London, William Hodge, 1942 (72 ff.). 34 Röpke, Internationale Ordnung – heute (19).

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zessive ,,Bindung der Massen an die Nation“ jene, die sowohl innen-, als auch außenpolitisch verhängnisvoll ist, welche eine schrankenlose Souveränität produziert und so zum internationalen Chaos geführt hätte35. So lautet Röpkes Urteil: Das Problem ist (…) darin zu suchen, daß der Grad der Souveränität in einem Prozeß, den man als die zunehmende Nationalisierung, Verstaatlichung und Politisierung des Menschen bezeichnen kann, ständig gewachsen ist, bis sie alle Schranken zu sprengen droht und ,,total“ wird36 (Hervorhebungen O.M.). Hier ist interessant zu bemerken, dass Röpke nicht nur Walter Euckens Kritik der Verstaatlichung des Ökonomischen wiederaufnimmt – und zwar die Tatsache, dass mit der Politisierung der Gesellschaft jede wirtschaftliche Angelegenheit auch automatisch einen staatlich-politischen Charakter annimmt –, sondern auch, dass er explizit auf einen schmittianischen Terminus rekurriert. Ebenso wie der Kollege Walter Eucken, bedient sich Röpke hier, auch wenn nur beiläufig, einer schmittianischen Kategorie, und zwar jener des totalen Staates. ,,Total“37 ist nach Carl Schmitt, welcher hier von Röpke gefolgt wird, ein Staat, in welchem die Grenzen zwischen ihm und der Gesellschaft, zwischen ihm und der Wirtschaft nicht mehr bestehen. Es handelt sich um einen Staat, der seine Vorherrschaft gegenüber der wirtschaftlichen Sphäre verloren hat und sich ihr gegenüber nicht mehr durchsetzen kann38. In anderen Worten – es gibt einen roten Faden, der Röpkes Überlegungen über die innenpolitische und außenpolitische Lage Deutschlands verbindet: Die Politisierung der Gesell35

Ein sehr ähnliches Argument ist in Euckens Beitrag des Jahres 1932 zu finden. Die Umwälzung der internationalen Ordnung nach dem ersten Weltkrieg und die dadurch verursachte kapitalistische Verlangsamung war eine Folge der ,,Demokratisierung der Welt, (durch welche) die Völker und ihre Leidenschaften, die Interessentengruppen und chaotischen Kräften der Masse auf die Außenpolitik maßgebenden Einfluss gewannen (Hervorhebungen O.M.)“, Eucken, Staatliche Strukturwandlungen (311 – 312). Die enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die der Versailler Vertrag Deutschland bescherte, zogen sich bis zum Ende der Weimarer Republik hin und wurden 1929 unhaltbar. So entstand, laut Eucken, ein Teufelskreis: Mit der inneren Demokratisierung der Staaten bildeten sich moralisierende und rachsüchtige Führungsschichten, die Friedensbedingungen erzwangen, welche keine waren, da sie nicht nur die friedliche internationale Ordnung des 19. Jahrhunderts zerstörten, sondern auch das innere Gleichgewicht Deutschlands, und zwar eine wirtschaftliche und institutionelle Krise. 36 Röpke, Internationale Ordnung – heute (40). 37 Über das Konzept des totalen Staates siehe Geminello Preterossi, Carl Schmitt e la tradizione moderna, Roma-Bari, Laterza, 1996, S. 107 – 151. 38 Nach Schmitt falle der totale Staat mit dem folgenden Phänomen zusammen: ,,(D)ie im Staat sich selbstorganisierende Gesellschaft ist auf dem Wege, aus dem neutralen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts in einen potenziell t o t a l e n S t a a t u¨ berzugehen. Die gewaltige Wendung läßt sich als Teil einer dialektischen Entwicklung konstruieren, die in drei Stadien verläuft: vom a b s o l u t e n Staat des 17. und 18. Jahrhunderts u¨ ber den n e u t r a l e n Staat des liberalen Jahrhunderts zum t o t a l e n Staat der Identität von Staat und Gesellschaft“, Schmitt, Der Hüter der Verfassung (79). Der totale Staat ist ,,total in einem rein quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität und der politischen Energie“ (Carl Schmitt, Starker Staat und gesunde Wirtschaft, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969, Duncker & Humblot, Berlin, 1995, S. 71 – 91 (74).

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schaft, das Eindringen der Massen in den Staat, die Politisierung der Wirtschaft und die mit ihr eingehende Steigerung der Souveränität sind nichts anderes als Effekte desselben Phänomens; und zwar einer staatlichen Strukturwandlung, die es, mit der Demokratisierung der politischen Entscheidungsmechanismen in wirtschaftlichen Angelegenheiten, erlaubt hat, die Wirtschaft zum Feld hegemonialer Kämpfe zu verwandeln. Was jedoch in jedem Falle überraschend erscheint, ist die Tatsache, dass, obwohl Röpke mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten sofort in die Türkei geflüchtet ist, er in dem im Jahre 1945 zum ersten Mal veröffentlichen Text Internationale Ordnung das Problem der Massen nur in Bezug auf den Sozialismus und auf Russland behandelt: die Rolle der Massen im Nationalsozialismus scheint ihn merkwürdigerweise nicht zu berühren. Wiederum muss betont werden, dass Röpkes Kritizismus gegenüber des steigenden Einflusses der Massen nicht auf eine authentische demokratische Besorgnis zurückzuführen, sondern nur wirtschaftspolitisch zu erklären ist. Was ihn bestürzt, ist nicht die Unterdrückung der politischen Freiheiten, sondern nur das Schicksal der kapitalistischen, liberalen Wirtschaft. Eine derartige Einstellung ist selbstverständlich auch dadurch zu erklären, dass Röpke in der Nachkriegszeit auf der Suche nach einer neuen internationalen Ordnung war, die als radikal alternatives Modell zum sowjetischen sich durchsetzen konnte. Dies ist auch der Grund, weswegen er das Ziel des sozialistischen Programms darin sah, gerade ,,die Massen an die Nation und an den Staat“39 zu binden und die ,,nationale Souveränität in die n-te Potenz zu erheben“40. Hypersouveränität, Massenherrschaft, Planwirtschaft und Politisierung der Wirtschaft verschmelzen somit in demselben begrifflichen Feld. Äußerstes Übel der sozialistischen Weltanschauung und des mit ihr eingehenden Planungsgedankens41 ist selbstredend die absolute Außerkraftsetzung des liberalen und aller Zivilisation vorausgehenden Prinzips ,,der grundsätzlichen ,Entpolitisierung‘ des wirtschaftlichen Bereichs und der äußersten Trennung der Sphären des Staates und der Wirtschaft, der Souveränität und des Apparats der materiellen Güterversorgung (…), der ,political power‘ und der ,economic power‘“42.

Im Gegenteil solle eine authentische marktwirtschaftliche Demokratie die Wirtschaft vom Bereich ,,der Verwaltung, des öffentlichen Rechts, des Strafrechts, kurzum des ,Staates‘“ in den Bereich ,,des Marktes, des Privatrechts (…), des Eigentums“43 verlegen.

39

Röpke, Internationale Ordnung – heute (40 – 41). Ebenda (41). 41 Für eine generelle Einführung in den Planungsgedanke vgl. z. B. Dirk van Laak, Planning. History and Present of Anticipating the Future, History and Society, 34 (2008), S. 305 – 326; sowie ders., Planung, Planbarkeit und Planungseuphorie, https://docupedia.de/zg/Pla nung. 42 Röpke, Internationale Ordnung – heute (109). 43 Ebenda (109 – 110). 40

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Der Begriff der Souveränität fällt also in Röpkes Verständnis mit der Politisierung der Wirtschaft zusammen. Unter Souveränität versteht er die politische Kapazität der in den parlamentarischen Institutionen vertretenen Interessenten (vor allem proletarischen Massen) den Wirtschaftsprozess auf beliebige Art und Weise zu lenken, wodurch der Preismechanismus außer Kraft gesetzt wird. Somit wird der gesamte Wirtschaftsprozess ,,zur Staatsaufgabe“, da die Entscheidung über die Verwendung der Produktivkräfte nicht mehr der marktwirtschaftlichen Dynamik obliegt, sondern ,,der Behörde überantwortet wird“44. Durch die Planung wird die Wirtschaft zum ,,Agendum der Regierung“, sie wird militarisiert. Wiederum: Souveränität, Interventionismus, Planwirtschaft sind in Röpkes Sicht absolut gleichbedeutend, wobei der Raum in welchem sich die ,,zwangsweise Steuerung des Wirtschaftsprozesses“ abspielt, sich mit der ,,souveränen politischen Einheit deck(t)“, welche ihren ,,Wirtschaftsplan erzwingt“45. Indem Röpke die Bedeutung der Souveränität völlig umkehrt und sie ihrer Politizität entkleidet, deklariert er, dass der Ort der Souveränität nicht der Staat sein solle, wie im Falle des Kollektivismus, sondern der Markt: Während nämlich ,,der souverän ,Markt‘ als solcher der unpolitischen Privatsphäre angehörte (…), ist der neue Souverän buchstäblich die nationale Herrschgewalt selber“46. Die Wirtschaft löst sich somit vom Bereich der politischen Entscheidungen, der demokratischen Herrschaft und wird zum rein privaten Gegenstand, der von der legislativen, exekutiven und judikativen Macht völlig unangetastet bleiben soll. Die Entwicklung, sowie die Richtung der Wirtschaft sind demzufolge nicht das Resultat einer beliebigen politischen Entscheidung, sondern eines ,,Auslese(prozesses)“, wodurch die ,,Leiter des Produktionsprozesses“ durch ihre wirtschaftliche Leistung ausgewählt werden. Dass die Wirtschaft nicht als Objekt demokratisch-parlamentarischer Verhandlungen zu konzipieren ist, ist für Röpke ein selbstverständlicher Tatbestand: ,,Die Wirtschaft hört auf, ein Politicum zu sein, und es ist der Konsument bei dem der Produzent antichambrieren muß, nicht der Minister des Staates; es ist der Markt, um den er sich kümmern muß, nicht das Parlament“47.

Das Politische, und zwar die ,,Souveränität“, soll sich vollkommen von der ,,wirtschaftlichen Nutzung“48 abspalten, denn das ,,Wesen des Kapitalismus“ bestünde darin, dass der Markt über Produktion und Nachfrage entscheidet, und dass ,,Souveränität und Wirtschaftssphäre grundsätzlich voneinander getrennt sind (Hervorhebungen O.M.)“49.

44

Ebenda (140). Ebenda (141). 46 Ebenda (141 – 142). 47 Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zu¨ rich, 1948 (171 – 172). 48 Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart (172). 49 Röpke, Internationale Ordnung – heute (119). 45

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IV. Internationale Ordnung, Europa und die Souveränität Wenn die Souveränität als gravierendes innenpolitisches Problem zu erkennen ist, so ist ihre Wirkkraft im internationalen Bereich vielleicht sogar verhängnisvoller: Denn wenn die proletarischen Massen ,,um die Herrschaft über den Staat ringen“, damit sie ihre planwirtschaftlichen Programme durchsetzen können, so kämpfen solche ,,Staaten untereinander um die Herrschaft über die Erdoberfläche“50. Abgesehen davon, dass nicht weiter erklärt wird, warum sozialistische oder kollektivistische Staaten im Gegensatz zu kapitalistischen eine markiertere Tendenz zum Imperialismus besäßen, wird sofort klar, dass für Röpke die inneren Konditionen einer funktionierenden, liberalen Marktwirtschaft als Vorbedingungen der internationalen Ordnung zu verstehen sind. Dies ist der Grund, weswegen er in der Nachkriegszeit deklarieren konnte, dass die ,,Verminderung der Souveränität (…) zu den dringendsten Geboten unserer Zeit“51 gehört. Denn ein Europa, welches ,,das souveräne Recht ausübt, Planwirtschaft zu treiben (…), Industrien zu sozialisieren und den Kontinent durch Zollmauern und andere Handelshemmnisse abzuschließen, wäre nicht viel besser (…) als eine einzelne nationale Regierung, die dasselbe tut“52.

So sehr es also unmöglich ist, die nationale Souveränität der Staaten abzuschaffen, so erscheint es doch absolut notwendig, sie so weit wie möglich zu begrenzen, um das Aufkommen des ,,Leviathan des modernen Staates“53 zu bändigen. Das Schlimmste, was einer zukünftigen wirtschaftlichen Integration Europas passieren könnte, wäre es, planwirtschaftliche Erfahrungen, die innerhalb einer Nation gemacht wurden, ,,auf Europa zu übertragen“54. So fürchtete Röpke zum Beispiel, dass der Marshallplan in der EU nach ,,dem Muster nationaler Planwirtschaft“ implementiert werden könne. Eine ,,europäische Zentralplanung“55 wäre demnach das Resultat einer äußerst chaotischen Union, welche weit davon entfernt, die Souveränität innerhalb der Staaten zu mindern, sie im Gegenteil in die supranationale Dimension transferiert und damit sogar verstärkt. Röpkes politische Logik könnte folgendermaßen zusammengefasst werden: Wenn die nationale Souveränität die konkrete Gefahr in sich birgt, zur nationalen Planwirtschaft zu führen, so würde eine zu starke supranationale Souveränität Europas dem kollektivistischen Alptraum gigantische Dimensionen verleihen56. Europa als internationale Durchführung der ,,,politisierten‘

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Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart (173). Röpke, Internationale Ordnung – heute (154 – 155). 52 Ebenda (154). 53 Ebenda (42). 54 Ebenda (78). 55 Ebenda (153). 56 Auch in einem Artikel, den Röpke im Jahre 1964 schrieb, erklärt er seine Befürwortung für die europäische Integration. Doch auch hier betrachtet er den aktuellen Integrationsprozess als ein zu konstruktivistisches und saint-simonistisches Projekt. Vgl. Wilhelm Röpke, European economic integration and its problems, Modern Age, 8 (1964). 51

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Wirtschaftsordnung“ setzt logischerweise einen ,,echten Superstaat“57 voraus. Um ein solches Szenario zu beschwören, spricht Röpke ein unmissverständliches Urteil aus: ,,(D)as Übermaß an Souveränität sollte abgeschafft, nicht aber auf eine höhere geographische Einheit übertragen werden“58. Damit wird klar, dass eine internationale Ordnung der verminderten Souveränität nur dann verwirklicht werden kann, wenn zunächst, als unabdinglicher politischer Schritt, die intranationalen Bedingungen einer funktionierenden Marktwirtschaft garantiert werden können59. Röpkes politische Vision eines auf einer stabilen Goldwährung, Preisflexibilität, freiem Güter-, Personen60- und Kapitalverkehr fußendem internationalen Wirtschaftssystem, kann als einem ,,liberalism ,from below‘“61 verstanden werden. Fundamentales Gebot einer gesunden Marktwirtschaft ist zuerst einmal die Wertstabilität des Währungssystems nach dem alten Modell des Goldstandards, dessen anerkennenswerter Vorteil es war, ,,von den politischen Entscheidungen der nationalen Regierung“62 völlig unabhängig zu sein. Das von Röpke erhoffte Europa war also vor allem ein entpolitisierter wirtschaftlicher Raum, der die Konzentration politischer Macht in einem supranationalen Organ mit aller Kraft beschwörte. Im Gegensatz dazu fördert Röpke einen Föderalismus nach dem schweizerischen Modell63. Somit war er gegen eine Integration von oben, die sich dank der politischen Kraft supranationaler Institutionen und der Implementierung einer nicht marktkonformen Wirtschaftspolitik vollziehen solle64.

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Röpke, Internationale Ordnung – heute (114). Ebenda (155). 59 Wie Razeen überzeugenderweise erklärt: ,,If this analysis holds, then surely the cure to the problem should not have been administered at the international level; rather the cancer should have been treated where it started, that is to say, within nation-states“, Sally Razeen, Classical Liberalism and International Economic Order. Studies in Theory and Intellectual History, Routledge, 1998 (133). 60 Masala macht auf die stabilisierende Funktion des Personenverkehrs als „Arbeitskraftsverkehr“ aufmerksam: ,,(Röpke) ritiene un principio da applicare sempre quello della libera circolazione della forza lavoro (che non vuol dire diventare cittadini dello stato in cui ci si trasferisce), capace di risolvere il problema della povertà di alcune aree“, Antonio Masala, Libertà e pace. Il problema dell’ordine internazionale in Ludwig von Mises e Wilhelm Röpke, Storia del pensiero politico, 2 (2022), S. 251 – 272 (265). 61 Ebenda (134). 62 Röpke, Internationale Ordnung – heute (112). 63 Siehe z. B. Stefan Kolev, „Large Switzerland“ or „Large France“? The Ordoliberals and Early European Integration, in: Francesco Giavazzi/Francesco Lefebvre D’Ovidio/Alberto Mingardi (Hrsg.), The Liberal Heart of Europe, Springer, London/Berlin, 2012, S. 47 – 66. 64 In diesem Sinne ,,The planning, trade discrimination and heavy organisational setup of the European Coal and Steel Community (ECSC) confirmed his worst fears“, Razeen, Classical Liberalism and International Economic Order (144). Über das Thema der europäischen Wirtschaftsintegration siehe insbesondere Sara Warneke, Die europäische Wirtschaftsintegration aus der Perspektive Wilhelm Röpkes, Stuttgart, Lucius & Lucius, 2013. 58

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Aus dem bisher Gesagten resultiert, dass das Problem der Souveränität – verstanden als Volkssouveränität, die sich im Bereich des Wirtschaftlichen ausdrückt – sowohl im innen- als auch im außenpolitischen Raum, eine ausschlaggebende Rolle für die Existenz selbst der kapitalistischen Marktwirtschaft spielt. Dennoch ist die Entpolitisierung der Wirtschaft, welche durch die weitestmögliche Depotenzierung der Souveränität erreicht werden kann, durchaus ein politischer Akt65, jedoch ein solcher, dessen Ziel es ist, die Souveränität – im Sinne der Volkssouveränität – zugunsten eines immer gleichbleibenden wirtschaftsrechtlichen Rahmens, welcher auf einer Privatrechtsgesellschaft fußt, so tief wie möglich zu unterhöhlen, sodass der demokratische Spielraum für wirtschaftspolitische Fragen komplett erodiert wird. Wolle man auf rousseauschen Kategorien rekurrieren, da Röpke selbst in Rousseau ja sogar ,,die Keime des modernen Totalitarismus“66 zu finden meinte, so könnte man sagen, dass sein Verständnis der Souveränität das Modell67 des schweizerischen Philosophen total umkehrt: Wenn die volonté generale darin bestand, dass sie universal war, und damit mit dem kollektiven Interesse des Volkes und nicht dem Interesse der Summe individueller Willen zusammenfiel68, so plädiert Röpke für eine Privatrechtsgesellschaft, deren Ziel es war, die partikularistische, marktwirtschaftliche Dimension der Zivilgesellschaft gegen die Allmacht des Kollektivismus zu rehabilitieren. Kein Wunder also, dass die Französische Revolution als ,,Stammbaum des Bösen“ definiert wird: Aus Röpkes Sicht war sie die konkrete Verwirklichung der volonté generale69, der Anfang jenes verhängnisvollen Demokratisierungsprozesses, ,,an dessen Ende Massenzivilisation, Nihilismus und Kollektivismus stehen“70. Heißt dies jedoch, dass der Staat sich besser zurückziehen solle, damit die marktwirtschaftliche Dynamik sich frei entfalten kann? Mitnichten. Nicht der Staat selbst, sondern seine Funktion hinsichtlich des Marktes soll geändert werden. In Röpkes Denken spielt der Staat eine determinierende Rolle, jedoch nicht als höchste Instanz, in der sich die Volkssouveränität konzentriert, sondern als externes Instrument der 65 So auch Preterossi: ,,Certamente il modello di politica che gli ordoliberali perseguono è funzionale all’economia. Ma sarebbe sbagliato pensare che, per realizzarsi, non abbia bisogno di politica e si risolva in amministrazione tecnica: il governo non assorbe il sovrano, ma semmai lo presuppone, latente“, Geminello Preterossi, Teologia politica e diritto, Laterza, Roma/Bari, 2022 (218). 66 Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart (140). 67 Vgl. selbstverständlich Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechtes, Fischer, Frankfurt am Main, 2005. 68 So Grimm: ,,Die Lösung sah Rousseau darin, dass das Volk den Souverän nicht lediglich inthronisiert, sondern selber der Souverän ist und auch nach dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags bleibt. „La souveraineté ne peut être représentée“, Dieter Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin University Press, Berlin, 2009 (34). 69 Mit der volonté generale ,,(l)a sovranità è di tutti, il popolo appare nella sua interezza, non più il demos parziale dei liberi della antica polis. È la sovranità democratica che compare“, Biagio De Giovanni, Elogio della sovranità politica, Editoriale Scientifica, Napoli, 2015 (76). 70 Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart (74).

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Gesellschaft als Summe privater Individuen, dessen Funktion es ist, die Gesetze der Marktwirtschaft zu Universalgesetzen zu erheben. Das Problem des Neoliberalismus Röpkes könnte, zusammengefasst, so formuliert werden: Wer ist Inhaber der Souveränität als letzte Entscheidungsinstanz über die Wirtschaft? Das Volk in Form des Staates oder der Markt? Der Punkt liegt also in der Tatsache, dass der Träger der Souveränität nicht das Volk, sondern der Markt sein muss, welcher sich des Staates bedient, um sich gegen demokratische Entscheidungen in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu behaupten. Kein Wunder also, dass nach Röpke der Prozess der Marktwirtschaft ein ,,plébiscite de tous les jours“ war, eine Konsumentendemokratie, in welcher ,,jedes von den Konsumenten ausgegebene Frankenstück einen Stimmzettel darstellt und die Produzenten durch ihre Reklame ,,Wahlpropaganda“ für eine unabsehbare Zahl von Parteien (d. h. Gütergattungen) zu machen versuchen (…). Wir erhalten damit eine Marktdemokratie, die an geräuschloser Exaktheit die vollkommenste politische Demokratie übertrifft“71.

Marktdemokratie versus Volkssouveränität. In dieser einfachen Formel konzentrieren sich Röpkes Überlegungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft, zwischen Markt und Souveränität, welche sowohl seine Konzeption der innen- als auch der außenpolitischen Ordnung durchzieht72. Ob eine solche Neutralisierung der Volkssouveränität als „gesellschaftliche Macht“73 tatsächlich sowohl die intra- als auch die internationalen Bedingungen einer friedlichen Integration garantieren kann, ist mehr als fraglich. Einst ist aber klar: Es handelt sich um ein gut durchdachtes Projekt der vollständigen Entthronung der Wirtschaftsdemokratie.

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Ebenda (167). So auch Brown: ,,(N)eoliberals forwarded depoliticized states and supranational institutions, laws that would „encase and protect the space of the world economy“, governance modeled on business principles, and subjects oriented by interest and disciplined by market and morals“, Wendy Brown, In the Ruins of Neoliberalism. The Rise of Antidemocratic Politics in the West, Columbia University Press, New York, 2019 (57). Zum Thema der neoliberalen Kritik der Souveränität siehe auch von derselben Autorin: Undoing the Demos. Neoliberalism’s Stealth Revolution, Zone Books, New York, 2015. 73 Wie Galli schreibt: ,,Quindi, la sovranità è l’egemonia di una forza sociale, di un potere, che si rivela in grado di organizzare intorno a sé la sfera pubblica, di darne proiezione politica, e di essere così il motore di un Intero vivente, di determinare l’interesse tanto della parte egemone quanto del collettivo“, Carlo Galli, Sovranità, Il Mulino, Bologna, 2019. 72

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Souveränität und Freiheit Zu Status und Beziehungen politischer Ordnungen in der europäischen Konstellation Von Anna Meine Kontroversen um die Bedeutung und Zukunftsfähigkeit von Souveränität bilden einen der zentralen Fluchtpunkte der Debatten um politische Ordnungsbildung unter Bedingungen von Globalisierung und europäischer Integration, zunehmender Interdependenz und globaler bzw. regionaler Governance. Dabei schwingen Bezüge zur Idee der Freiheit mit, die beispielsweise im Prinzip der Nicht-Intervention oder im Streben nach Unabhängigkeit Ausdruck finden. Hier deutet sich an: Der konzeptuelle Zusammenhang bzw. die Verknüpfung von Freiheit und Souveränität spielt für politische Ordnungsbildung eine Schlüsselrolle. Auffällig ist allerdings, dass die Bezüge zwischen Souveränität und Freiheit selten explizit thematisiert und systematisch Gegenstand aktueller Debatten um die Zukunft des Souveränitätsbegriffs werden. Die Fragen dieses Beitrags lauten deshalb: Welche Verbindung von Souveränität und Freiheit überzeugt unter gegenwärtigen Bedingungen von Globalisierung, Interdependenz und Integration jenseits des Staates als konzeptuelle Grundlage politischer Ordnungsbildung? Und welche Konsequenzen sind damit für Verständnis und Entwicklungsperspektiven politischer Ordnungen, nicht zuletzt in der europäischen Konstellation, verbunden? Um diese Frage zu beantworten, prüfe ich im ersten Teil meines Beitrags konzeptuelle Verknüpfungen unterschiedlicher Verständnisse von staatlicher, aber auch kollektiver und individueller Freiheit mit der Idee der Souveränität. Die Verbindung von Souveränität zu Freiheit als Nicht-Beherrschung und auch Autonomie erweist sich dabei, unter Bedingungen von Globalisierung und europäischer Integration, als konzeptuell überzeugender als die verbreitete Verknüpfung von Souveränität und Freiheit als Nicht-Einmischung. Im zweiten Teil diskutiere ich weiterführende Fragen der politischen Form. Eine Konfrontation zwischen (neo-)republikanischen Beiträgen und dem konstitutionellen Pluralismus Walkers zeigt, dass relationale Souveränität und Freiheit im Sinne von Nicht-Beherrschung und Autonomie nicht zwingend an die politische Form des Staates gebunden, sondern auch mit Konstellationen pluraler Ordnungen vereinbar sind. Dabei stellen sich aber – über Walkers pluralen Konstitutionalismus hinaus – institutionelle Anforderungen an die Konstitution, den Status und die Beziehungen souveräner und freier politischer Ordnungen, die ich abschließend skizziere. Alternativen zur verbreiteten, wenn auch oft impliziten Verknüpfung von Souveränität und Nicht-Einmischung überzeugen somit konzeptuell

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und eröffnen fruchtbare Perspektiven für das Nachdenken über Ordnungsbildung unter Bedingungen der Gegenwart, gerade in Europa.

I. Souveränität und Freiheit – Konzeptuelle Verknüpfungen Verknüpfungen von Souveränität und Freiheit explizit zu thematisieren und zu prüfen ist Ziel des ersten Teils dieses Beitrags. Im Folgenden stehen dabei zunächst klassische Souveränitätsverständnisse im Fokus. Sie implizieren verbreitet eine Verbindung von Souveränität und Freiheit im Sinne der Nicht-Einmischung, werden dadurch im Kontext der Globalisierung aber auch anfällig für Kritik. Die Verknüpfung von Souveränität mit Freiheit im Sinne der Nicht-Beherrschung und Autonomie, und damit mit einem Freiheitsverständnis, das weniger Handlungsfreiheit als Machtbeziehungen in den Fokus stellt, bildet eine weniger gradlinige, aber konzeptuell fruchtbare Alternative, die im zweiten Teil dieses Abschnitts diskutiert wird. 1. Souveränität und Freiheit als Nicht-Einmischung Klassisch verstanden bezeichnet Souveränität zum einen die Letztentscheidungsbefugnis, die höchste Macht bzw. Autorität eines Staates innerhalb seines geographisch abgegrenzten Territoriums. Zum anderen beinhaltet sie die Abwesenheit höherer Autoritäten in den äußeren Beziehungen. Auf internationaler Ebene ist ein souveräner Staat anderen Staaten gegenüber formal gleichgestellt. „A sovereign state can be defined as an authority that is supreme in relation to all other authorities in the same territorial jurisdiction, and that is independent of all foreign authorities. ,Supremacy‘ means the highest and final authority from which no further appeal is available. A sovereign is not subordinate to anybody. ,Independent‘ means constitutionally separate […] and self-governing.“1

Neben der absoluten, finalen und exklusiven Entscheidungsbefugnis in einem Territorium umfassen klassische Verständnisse von Souveränität die Prinzipien der NichtIntervention und der territorialen Integrität sowie die Vorstellung weitgehend unbeschränkter staatlicher Handlungsmacht im Innern und in den äußeren Beziehungen, gerade insofern keine höheren Autoritäten bestehen.2 Dieses Souveränitätsverständnis ist verbunden mit, ja stützt sich auf ein negatives Verständnis von Freiheit im Sinne der Nicht-Einmischung. Diese Verbindung prägt eine Vielfalt von Beiträgen zur Bedeutung staatlicher Souveränität.3 Ein eindrückliches Beispiel dafür liefern Philpotts Ausführungen: 1

Robert Jackson, Sovereignty. Evolution of an Idea, Cambridge 2007, S. 10. Vgl. beispielhaft Jackson (Fn. 1), S. 9 und 149. Siehe auch Jean L. Cohen, Globalization and Sovereignty: Rethinking Legality, Legitimacy, and Constitutionalism, Cambridge 2012, S. 27 3 Pettit argumentiert ähnlich, dass parallel zu individueller Freiheit als Nicht-Einmischung Souveränität mit Nicht-Intervention gleichgesetzt wird. Wie im Folgenden deutlich wird, ist 2

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„Sovereign authority is exercised within borders, but also, by definition, with respect to outsiders, who may not interfere with the sovereign’s governance. The state has been the chief holder of external sovereignty since the Peace of Westphalia in 1648, after which interference in other states’ governing prerogatives became illegitimate. […] Significantly, external sovereignty depends on recognition by outsiders. To states, this recognition is what a no-trespassing law is to private property – a set of mutual understandings that give property, or the state, immunity from outside interference. It is also external sovereignty that establishes the basic condition of international relations – anarchy, meaning the lack of a higher authority that makes claims on lower authorities. An assemblage of states, both internally and externally sovereign, makes up an international system, where sovereign entities ally, trade, make war, and make peace.“4

Ähnliche Motive finden sich beispielsweise auch bei Jackson, Nagel oder Krasner.5 Es ist die Verbindung von Souveränität mit der Konzeption von Freiheit als NichtEinmischung, die sich hier direkt in die völkerrechtlichen Prinzipien der Nicht-Intervention und der territorialen Integrität übersetzt und die auch die Idee der – in der ,westfälischen‘ Tradition weitgehend uneingeschränkten – staatlichen Handlungsfreiheit im Innern sowie in den äußeren Beziehungen stützt. In der Regel wird diese Verknüpfung von Souveränität und Freiheit nicht explizit thematisiert oder begründet. Oft scheint aber eine Parallelität zwischen individueller Freiheit und staatlicher Freiheit angenommen zu werden, die sich auch in Argumentationslinien des klassischen Liberalismus finden lässt. Staatliche Souveränität und Freiheit, die in den Prinzipien der Nicht-Intervention und territorialen Integrität zum Ausdruck kommen, schützen in diesem Sinn einen Raum, innerhalb dessen wiederum die Freiheit der Individuen geschützt ist, in dem diese nach Glück und Wohlstand streben können. Externe Souveränität erscheint hier als grundlegender Mechanismus zum Schutz individueller Freiheit als dem zentralen Ziel liberalen Denkens.6 Darüber hinaus erhält der Staat verbreitet eine eigene „souveräne Individualität“7. Onuf konstatiert: „States become rights-holding individuals by analogy; the power of this ana-

weniger eine Gleichsetzung zu beobachten als eine Verknüpfung von Souveränität und Freiheit als Nicht-Einmischung, die im Prinzip der Nicht-Intervention Ausdruck findet und dabei von der Konzeption staatlicher Individualität gestützt wird. Vgl. Philip Pettit, Just Freedom. A Moral Compass for a Complex World, New York 2014, S. 160. 4 Daniel Philpott, Sovereignty, in: Zalta (Hrsg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy 2020, https://plato.stanford.edu/entries/sovereignty/, meine Hervorhebungen. 5 Jackson, Sovereignty, S. 6 ff.; Thomas Nagel, The Problem of Global Justice, Philosophy & Public Affairs 33:2 (2005), S. 113 (130); Stephen D. Krasner, Abiding Sovereignty, International Political Science Review 22:3 (2001), S. 229 (230 ff.). 6 Edwin van de Haar, Classical Liberalism and IR Theory, in: Jørgensen (Hrsg.): The Liberal International Theory Tradition in Europe. Cham 2021; Edwin van de Haar, Liberalism and Sovereignty. Notes on Liberty 26. 01. 2016. https://notesonliberty.com/2016/01/26/libera lism-and-sovereignty/ (25. 10. 2022). Vgl. auch Jackson (Fn.1), S. 119 ff. 7 Alan James, The Practice of Sovereign Statehood in Contemporary International Society, Political Studies 47:3 (1999), S. 457 (468), meine Übersetzung.

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logy effectively grants unearned credibility to the conceptions of state sovereignty.“8 Diese Verbindung ist gradlinig und erscheint naheliegend, erweist sich aber als eindimensional, etatistisch und, gerade im Kontext von steigenden Interdependenzen und Integration jenseits des Staates, als anfällig für Kritik. Klassische Verständnisse von Souveränität sind insbesondere seit den 1990er Jahren vielfältiger und grundlegender Kritik ausgesetzt. Kritiker:innen betonen erstens, dass staatliche Souveränität in der Gegenwart an rechtliche und politische Bedingungen geknüpft wird. So gilt die Anerkennung grundlegender Menschenrechte als Voraussetzung der Anerkennung souveräner Staaten. Im EU-Kontext sind europäische Mitgliedstaaten darüber hinaus an europäisches Recht gebunden. So wird staatliche Handlungsfreiheit eingeschränkt und die Absolutheit und Unbedingtheit von Souveränität in Frage gestellt. Nicht zuletzt können, in Fällen gravierender Menschenrechtsverstöße, im Fall von Genozid oder ethnischer Säuberung, auch Eingriffe in das staatliche Territorium international legitimiert werden.9 Kritiker:innen verweisen zweitens auf eine veränderte Relationalität von Souveränität. Die Mitgliedschaft und Partizipation in internationalen Organisationen und damit die Einbindung in institutionalisierte internationale Kontexte sei zu einem zentralen Kennzeichen souveräner Staatlichkeit geworden.10 Diese veränderte Bedeutung und Form zwischenstaatlicher Beziehungen könnten klassische Souveränitätsverständnisse nicht angemessen erfassen – insbesondere, insofern die Kontrolle und Gestaltung der institutionalisierten Beziehungen zwischen souveränen Staaten nicht unilateral möglich sind. Drittens steht schließlich der Fokus etablierter Souveränitätsverständnisse auf die politische Form des territorialen (National-)Staats und damit der etatistische Charakter des klassischen Souveränitätsdenkens zur Debatte, der zugleich einzelstaatliche Perspektiven und Standpunkte zum zentralen Referenzpunkt für das Nachdenken über die internationale Ordnung macht.11 Ein zentraler Angriffspunkt für diese Kritikpunkte am klassischen Souveränitätsdenken ist die enge Verknüpfung von Souveränität mit Freiheit als Nicht-Einmischung. Die Kritiken richten sich gegen ein Verständnis von absoluter und exklusiver Souveränität als Letztentscheidungshoheit, das auf der Abgrenzung souveräner Staaten nach außen aufbaut und dabei eng mit Freiheit als Nicht-Einmischung verbunden ist, sodass territoriale Integrität, Nicht-Einmischung und staatliche Handlungsfreiheit als inhärente Aspekte von Souveränität verstanden werden. Rechtliche und politisch-institutionelle Interdependenzen zwischen Staaten bzw. ihre Integration in 8

Nicholas Greenwood Onuf, Sovereignty. Outline of a Conceptual History, Alternatives 16 (1991), S. 425 (429). 9 Beispielhaft Raf Geenens, E pluribus unum? The Manifold Meanings of Sovereignty, Netherlands Journal of Legal Philosophy 45 (2016), S. 15 (33); Cohen (Fn. 2), S. 75, Kap. 3. 10 Beispielhaft Geenens (Fn. 9), S. 32 f.; Cohen (Fn. 2), S. 77, 323. 11 Beispielhaft Neil Walker, Late Sovereignty in the European Union, in: ders. (Hrsg.), Sovereignty in Transition, Oxford 2003, S. 3 (11); John Gerard Ruggie, Territoriality and Beyond. Problematizing Modernity in International Relations, International Organization 47 (1993), S. 139 (159, 169).

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umfassendere Kontexte regionaler und globaler Governance fordern genau diese Verknüpfung heraus. Hier zeigt sich: Exklusive staatliche Souveränität und Freiheit als Nicht-Einmischung werden verbreitet mittels der Prinzipien der territorialen Integrität, der Nicht-Intervention und der weitgehend unbedingten staatlichen Handlungsfreiheit im internationalen Raum kurzgeschlossen. Durch die direkte Verknüpfung mit Freiheit als Nicht-Einmischung wird Souveränität in Opposition zu Interdependenz, insbesondere zu politisch-institutionellen und rechtlichen Interdependenzen, konzipiert. Gestützt wird dies durch die strikt staatlich-territoriale Organisation politischer Herrschaft, die durch die Vorstellung staatlicher Individualität und die Vorherrschaft (einzel-)staatlicher Perspektiven auf das internationale Staatensystem noch verstärkt wird.12 Im Gegenzug werden weder die politische Form des Staates noch staatliche Grenzziehungen in ihren Auswirkungen auf individuelle Freiheit ausreichend reflektiert. Die verbreitete Verbindung von Souveränität mit Freiheit im Sinne der Nicht-Einmischung überzeugt unter Bedingungen der Gegenwart in dieser Form nicht mehr. Konditionalität und Relationalität von Souveränität steht in Spannung zu einer Konzeption von Souveränität, die Nicht-Intervention und möglichst umfassende Handlungsfreiheiten zum Kern von Souveränität macht. Parallel stehen der Etatismus dieser Konzeption und die Annahme der Individualität souveräner Staaten in Frage. Liberale Ansätze, deren Leitprinzip individuelle Freiheit ist, reagieren auf die Herausforderung der Globalisierung unterschiedlich. Manche Autoren lösen die Verbindung von individueller und staatlicher Freiheit und plädieren dafür, das klassische Prinzip der Souveränität zugunsten der Verwirklichung individueller Rechte und Grundfreiheiten aufzugeben und die Form politischer Ordnung zugunsten kosmopolitischer Mehrebenen-Entwürfe anzupassen.13 Andere halten an Staaten als zentralen politischen Ordnungen fest, versuchen aber zugleich individuelle Freiheit und staatliche Souveränität in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Prominent argumentiert beispielsweise Rawls, dass staatliche Souveränität, vor allem Ansprüche auf Nicht-Intervention und Handlungsfreiheit, an die Anerkennung von Menschenrechten gebunden und folglich begrenzt werden sollten.14 Cohen plädiert für eine dualistische Weltordnung, die auf Menschenrechten und staatlicher Souveränität als ihren zwei, durchaus in Spannung stehenden Grundprinzipien aufbaut.15 Kumm schließlich verpflichtet staatliche Ordnungen, die als Rahmen für die Selbstbestimmung freier und gleicher Personen bleibende Berechtigung und Bedeutung haben, auf die Anerkennung der Menschenrechte und bettet sie in eine internationale Rechtsordnung ein. Vor diesem Hintergrund bestimmt er dann die Bereiche, in denen Staaten 12

Siehe Ruggie (Fn. 11). David Held, Cosmopolitanism. Ideals and realities, Cambridge 2010; Thomas Pogge, Cosmopolitanism and Sovereignty, Ethics 103 (1992), S. 48. 14 John Rawls, The Law of Peoples. With „The Idea of Public Reason Revisited“, Cambridge 2003, S. 26 f., 42, 80. 15 Cohen (Fn. 2), Kap. 3. 13

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einerseits kosmopolitische Pflichten haben und andererseits Handlungsfreiheit und das „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“ genießen.16 Diese Beiträge begründen die Konditionalität von Souveränität und fordern einen überzogenen Etatismus heraus. Zugleich deuten sie unterschiedliche Möglichkeiten an, individuelle Freiheit und staatliche Entscheidungshoheit und Freiheit zu gewichten. Es bleibt jedoch, versteht man Freiheit strikt im Sinne der Nicht-Einmischung und legt man damit den Fokus auf Handlungsfreiheiten, immer eine Spannung zwischen individueller und staatlicher Freiheit bestehen. Dies liegt auch daran, dass die spezifische Verbindung, das konzeptuelle Scharnier zwischen individueller Freiheit und der Souveränität und Freiheit des Staates fehlt. Es stellt sich deshalb – und durchaus auch aufgrund der Beiträge von Kumm und Cohen, die nicht nur auf Freiheit als Nicht-Einmischung verweisen17 –, die Frage, ob gerade in Fragen der Ordnungsbildung eine alternative Konzeption von Freiheit und eine alternative Verknüpfung von Freiheit und Souveränität unter Bedingungen der Interdependenz überzeugendere Perspektiven auf und für legitime Ordnungsbildung begründen können. 2. Souveränität und Freiheit als Nicht-Beherrschung und Autonomie Die neo-republikanische Idee freier Staatlichkeit eröffnet einen eigenen Zugang zur Verbindung von Freiheit und Souveränität.18 Aufbauend auf einer Konzeption von Freiheit als Nicht-Beherrschung und auch Autonomie, die weniger Handlungsfreiheiten an sich als vielmehr Machtbeziehungen in den Fokus rückt, eröffnet sich eine Lesart der Verknüpfung von Freiheit und Souveränität, die individuelle, kollektive und staatliche Ebenen systematischer in Beziehung zueinander stellt und politische Ordnungsbildung und die institutionelle Gestaltung der Beziehungen zwischen politischen Ordnungen zur zentralen Aufgabe macht. Allerdings stellen sich im Anschluss weiterführende Fragen der politischen Form.

16 Mattias Kumm, Sovereignty and the Right to be Left Alone: Subsidiarity, Justice-Sensitive Externalities, and the Proper Domain of the Consent Requirement in International Law, Law and Contemporary Problems 79 (2016), S. 239 (Zitat 239, siehe auch 248 ff.), meine Übersetzung. 17 Kumm verweist – trotz der Referenz auf Freiheit als Nicht-Einmischung im Titel seines Aufsatzes, sowohl auf die kollektive Selbstregierung von Bürger:innen als auch auf Beherrschungsbeziehungen zwischen Staaten und externen Akteur:innen – und auch direkt die Arbeiten von Pettit. Cohen wiederum verwendet oft die Begrifflichkeit des Aufzwingens (imposition), die in Sinne der Einmischung, aber auch der Beherrschung (s. unten) interpretiert werden kann. In beiden Fällen sind somit die zugrunde gelegten Konzeptionen von Freiheit nicht eindeutig. Kumm (Fn. 16), S. 239, 246 ff.; Cohen (Fn. 2), S. 26, 68. 18 Die folgende Rekonstruktion berücksichtigt den Neo-Republikanismus Pettits und bezieht darüber hinaus ihre Weiterentwicklungen durch Laborde, Ronzoni und Gädeke ein. Zu einer Rekonstruktion und kritischen Diskussion der Idee freier Staatlichkeit, siehe auch Anna Meine, Free states for free citizens!? Arguments for a republicanism of plural polities, Journal of International Political Theory 18 (2022), S. 274 (277 ff.).

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a) Die neo-republikanische Konzeption freier Staatlichkeit Ausgangspunkt ist dabei ein Verständnis von Freiheit als Nicht-Beherrschung bzw. als Abwesenheit willkürlicher Macht. „Domination refers to the relatively unrestrained and systematic (even if unexercised) ability of group [sic] or individuals to exert power over others in pursuit of their own interests at the expense of those subordinate to them.“19 Im Unterschied zu Freiheit als Nicht-Einmischung ist zu beachten: Zum einen kann Beherrschung als Form von Machtbeziehungen auch ohne tatsächliche Einmischung bestehen. Zum anderen ist Nicht-Beherrschung mit nichtwillkürlicher und legitimierter Einmischung und Regulierung, die willkürlichen Formen von Macht entgegenwirkt, kompatibel, ja erfordert diese. Diese Argumentation hebt damit ein grundlegendes republikanisches Argument hervor: Freiheit ist kein natürlicher Zustand, sondern ein sozialer und politischer Status.20 Insofern Beherrschung in Machtungleichheiten begründet liegt, bezeichnet Freiheit als Nicht-Beherrschung im Umkehrschluss einen Status, der willkürlichen Eingriffen durch Andere vorbeugt und der zugleich politisch-rechtlicher Institutionalisierung bedarf.21 ,Freie Staaten‘ bilden eigenständige Einheiten in und, in der Folge, zentrale Bausteine der internationalen Ordnung, die – im Dienste der Nicht-Beherrschung ihrer Bürger:innen bzw. Völker (s. unten) – Anspruch auf Autorität über ihr Territorium und auf internationale Anerkennung haben. Während Pettit klassischen Souveränitätsverständnissen, insbesondere dem staatlichen Anspruch auf höchste Autorität und exklusive legitime Zwangsanwendung im eigenen Territorium, verpflichtet bleibt, betonen Laborde und Ronzoni die grundlegende Fähigkeit eines Staates, eigenständig zu handeln, um den Willen seines Volkes umzusetzen – ohne dabei Absolutheit oder Exklusivität vorauszusetzen.22 Der angestrebte Status souveräner Staaten ist zugleich relational zu verstehen. Er betrifft die Beziehungen zwischen freien Staaten, die gleiche Souveränität genießen sollen. Dies setzt einerseits voraus, dass die Beziehungen zwischen politischen Ordnungen auf einer rechtlichen Grundlage stehen. Gerade Pettit betont die Bedeutung eines völkerrechtlich verankerten ,Systems souveräner Freiheiten‘ aller Staaten, das individuellen negativen Freiheiten nachempfunden ist und Machtungleichgewichten vorbeugen soll.23 Parallel wird eine weitergehende Institutionalisierung der Beziehungen zwischen freien Staaten 19

Cécile Laborde, Republicanism and Global Justice, European Journal of Political Theory 9 (2010), S. 48 (54, weiterführend 54 ff.). 20 Richard Bellamy: Republicanism: Non-Domination and the Free State, in: Delanty/ Turner (Hrsg.), Routledge International Handbook of Contemporary Social and Political Theory, London 2011, S. 130 (132 f.). 21 Dorothea Gädeke, Politik der Beherrschung, 2017, S. 94. 22 Philip Pettit, On the People’s Terms. A Republican Theory and Model of Democracy, Cambridge 2012, S. 132 ff., 282 f.; Cécile Laborde/Miriam Ronzoni, What is a Free State? Republican Internationalism and Globalisation, Political Studies 64 (2016), S. 279 (281, 286 f.). 23 Philip Pettit, A Republican Law of Peoples, European Journal of Political Theory 9 (2010), S. 70 (83); Pettit (Fn. 3), S. 162 ff.

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notwendig. Sie umfasst, im Anschluss an Pettit, mindestens die Stärkung zwischenstaatlicher Deliberation in multilateralen Foren oder aber, folgt man Laborde und Ronzoni, begrenzte, aber doch durchaus stärkere supranationale Institutionen als Teil einer umfassenden konstitutionellen Ordnung sowie bindende multilaterale Verständigungs- und Entscheidungsprozesse, die auch eine Begrenzung einzelstaatlicher Souveränität bedeuten können.24 Multilaterale Entscheidungsprozesse und gemeinsame Institutionen sollen willkürlicher Machtausübung und Abhängigkeit vorbeugen und freie Staatlichkeit im Sinne der Nicht-Beherrschung sicherstellen. Souveränität relational zu verstehen, bedeutet hier auch, dass sich im Kontext dieser Institutionen die Machtbeziehungen zwischen Staaten verändern. Dabei bleiben willkürliche Eingriffe in innerstaatliche Konflikte tabu, nicht-willkürliche Eingriffe sind zugleich möglich, ja geboten, wo die Freiheit und Selbstbestimmung der (Staats-) Völker bzw. Individuen in politischen Ordnung systematisch verletzt wird.25 Letzteres deutet an: Die Konzeption freier Staatlichkeit verbindet nicht nur staatliche Nicht-Beherrschung und Souveränität, sondern steht auch in enger Beziehung zu Konzeptionen individueller und kollektiver Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger:innen im Staat. „In a slogan, the state ought to be an internationally undominated, domestically undominating defender of its citizens’ freedom as non-domination.“26 Innerhalb der politischen Ordnung gilt es, die Beherrschung von Bürger:innen durch Bürger:innen sowie die Beherrschung von Bürger:innen durch den Staat zu verhindern.27 Pettit plädiert in der republikanischen Tradition der Mischverfassung für die Einbettung von Institutionen der Wahl und Beteiligung in ein gewaltenteilendes Institutionengefüge, das nicht zuletzt Bürger:innen Kontroll- und Anfechtungsmechanismen eröffnet. Der Bürgerstatus ermöglicht freien Personen, Pettit zufolge, individuell sowie als Mitglieder des Volkes bzw. Demos ihren Einfluss auf und ihre Kontrolle über Institutionen politischer Herrschaft mittels Wahl, Abstimmungen oder Anfechtung politischer Entscheidungen und damit Selbstbestimmung auszuüben. Der freie Staat ist in der Folge zu verstehen als Repräsentant des sich selbst regierenden Volkes – Pettit geht sogar so weit, den Staat mit dem konstituierten Volk zu identifizieren.28 Gädeke argumentiert überzeugend, dass ein Fokus allein auf Nicht-Beherrschung im Sinne negativer Freiheit weder im Staat noch im internationalen Kontext überzeugt, dass Nicht-Beherrschung vielmehr in Verbindung zu Autonomie zu betrachten ist. Freiheit bedeutet nicht nur negativ die Abwehr von Beherrschung, sondern beinhaltet auch die Möglichkeit zur Teilhabe an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen und die Mitgestaltung der Institutionen, Bedingungen und Normen, die autonomes Handeln prägen. Rechtsadressatenschaft muss mit Rechtsautorenschaft 24

Pettit (Fn. 23), S. 83 f.; Laborde/Ronzoni (Fn. 22), S. 290 ff. Laborde/Ronzoni (Fn. 22), S. 290 f. 26 Pettit (Fn. 22), S. 19. Siehe auch Laborde/Ronzoni (Fn. 22), S. 288. 27 Bellamy (Fn. 20), S. 133. 28 Pettit (Fn. 22), Kap. 3 – 5, insbesondere S. 220 ff. und 286 ff. 25

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verbunden werden.29 Parallel müssen souveräne und freie Staaten die Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung der internationalen bzw. globalen Ordnung, in der ihr Status und die Beziehungen, die sie zu anderen Ordnungen und Akteuren unterhalten, verortet sind, erhalten. Relationale Souveränität umfasst in der Folge sowohl den Status als Rechtsträger, der Beherrschung vorbeugt und vor willkürlicher Einmischung schützt, als auch die Partizipation an Entscheidungsprozessen in internationalen Organisationen, die Teilhabe an der Gestaltung des Völkerrechts und damit die (Mit-) Gestaltung des Status von und der Beziehungen zwischen Staaten selbst.30 Die spezifische Verbindung, das konzeptuelle Scharnier, zwischen der individuellen Freiheit der Bürger:innen als Mitgliedern des Volkes und der Freiheit und Souveränität politischer Ordnungen bleibt in den skizzierten Beiträgen jedoch vage. Pettits Identifikation des konstituierten Volkes mit dem Staat scheint auch aufgrund der möglichen Spannungen zwischen beiden vorschnell, weil er damit Differenzen zwischen beiden kaum fassen kann. Gädeke wiederum konzentriert sich vorrangig auf das Volk als politisches Kollektiv und betrachtet den Staat aus dieser Perspektive primär als instrumentelle „kollektive Handlungsstruktur“ (2017: 334). Ausgehend von Skinners (2002, 2012) Arbeiten zu Souveränität, Staatlichkeit und korporativer Handlungsfähigkeit (corporate agency) lässt sich eine überzeugendere Verbindung von individueller und kollektiver Freiheit und Selbstbestimmung, der politischen Form des Staates und seiner Souveränität und Freiheit diskutieren.31 b) Korporative Handlungsfähigkeit und die Verknüpfung von Freiheit und Souveränität Ein Staat ist, Skinners an Hobbes’ Staatsverständnis entwickelter Lesart zufolge, eine Körperschaft, die sich durch korporative Handlungsfähigkeit auszeichnet, die aber weder mit den politischen Institutionen und Amtsträger:innen noch mit dem Volk gleichzusetzen ist. Obwohl der Staat unauflöslich mit beiden verbunden ist, ist öffentliche Macht in zweierlei Hinsicht abstrahiert zu verstehen: Einerseits ist der Staat als korporativer Akteur nur durch die Regierungsinstitutionen und Amtsträger:innen sprech- und handlungsfähig. Doch die Regierung und die Regierungsinstitutionen repräsentieren den Staat. Sie sind nicht identisch mit ihm. Andererseits erhalten der Staat und die ihn repräsentierenden Personen und Institutionen ihre Autorität durch Akte der Autorisierung durch das Volk. Die Existenz des Volkes als politisches Kollektiv wiederum hängt ihrerseits ab von seiner Inkorporation in einer politischen Ordnung. Das Volk handelt als Kollektiv durch den korporativen Akteur Staat und damit durch seine Institutionen. Ein Staat erweist sich so als eigenständiger, wenn auch fiktionaler korporativer Akteur. Er bleibt eine abstrakte Idee, ist aber 29

Gädeke (Fn. 21), S. 101 ff. Gädeke (Fn. 21), S. 358 ff. 31 Ausgeblendet werden hier detaillierte Überlegungen zur komplementären Idee kollektiver Handlungsfähigkeit. Sie würden den Rahmen dieses Aufsatzes überschreiten. Siehe dazu Gädeke (Fn. 21), S. 293 ff. 30

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notwendig, um die Beziehung zwischen einem Volk als politisch konstituiertem Kollektiv und den Institutionen und Amtsträger:innen, die es regieren, begreifbar zu machen und das kontinuierliche Fortbestehen des Staates auch bei einem Wechsel der Mitglieder des Volkes bzw. seiner Repräsentant:innen zu erklären.32 Oldenbourg und Gädeke passen diese Argumentationslinie an gegenwärtige Maßstäbe demokratischer Legitimität an. Oldenbourg betont die grundlegende Bedeutung des konstitutionellen, rechtlichen und institutionellen Rahmens eines Staates für die Existenz und kollektive Handlungsfähigkeit eines Demos einerseits sowie von dessen demokratischer Gestaltung durch das Demos bzw. die Bürger:innen andererseits. In der Gegenwart bedürfen die Beziehungen zwischen Demos und Staat sowohl der Konstitutionalisierung als auch der kontinuierlichen (Neu-)Verhandlung und (Re-)Artikulation, um kollektive und individuelle Freiheit und Selbstbestimmung sicherzustellen. Korporative Handlungsfähigkeit ist keine statische Realität; die Beziehung zwischen Volk und Staat, auf der sie aufbaut, ist eine Beziehung der kontinuierlichen Autorisierung und Kontrolle auf der einen Seite und der Repräsentation auf der anderen Seite.33 Gädeke zeigt, dass dabei fortwährende Praktiken der autonomen kollektiven Willensbildung und Entscheidungsfindung vorausgesetzt werden. Individuelle Bürger:innen, Demos und Staat stehen so in einer dreigliedrigen politischen Beziehung. Die Bürger:innen sind als Mitglieder des Demos frei und selbstbestimmt, dabei individuell und als Kollektiv auf die politische Ordnung angewiesen.34 Die korporative Handlungsfähigkeit, die den Kern staatlicher Souveränität ausmacht, setzt somit die Integrität des konstitutionellen Rahmens bzw. der rechtlichen und politischen Institutionen des Staates sowie die Integrität und Autonomie der Praktiken der kollektiven Selbstbestimmung des Demos bzw. der Bürger:innen voraus. Im Zusammenspiel mit den Ausführungen zu freier Staatlichkeit bieten die skizzierten (neo-)republikanischen Beiträge somit eine Lesart des Zusammenhangs von Freiheit und Souveränität, die den gesicherten Status eines Staates als eigenständigen korporativen Akteurs beschreibt, der Freiheit und Selbstbestimmung im Innern ermöglicht und rechtlich und institutionell fundierte Beziehungen von gleicher Souveränität und Freiheit zu anderen Ordnungen beinhaltet. Korporative Handlungsfähigkeit als Kern von Souveränität bedarf der Freiheit sowohl der Individuen und des Demos als auch der politischen Ordnung. Letztere ermöglicht und sichert die Integrität und Autonomie der Institutionen und Praktiken in der politischen Ordnung sowie die eigenständige interne und externe Handlungsfähigkeit der politischen Ordnung. 32 Quentin Skinner, Visions of politics. Volume 2: Renaissance virtues, Cambridge 2002, S. 394 ff.; Quentin Skinner, Visions of Politics. Volume 3: Hobbes and Civil Science, Cambridge 2002, S. 181 f., 197 ff.; Quentin Skinner, Die drei Körper des Staates, 2012, S. 52 ff. 33 Andreas Oldenbourg, Wer ist das Volk? Eine republikanische Theorie der Sezession, 2019, S. 142 ff., 160 ff. 34 Gädeke (Fn. 21), S. 293 ff.

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Zugleich werden zentrale Unterschiede zur gradlinigen wie eindimensionalen Verknüpfung von Souveränität und Freiheit im Sinne Nicht-Einmischung deutlich: Die Verknüpfung von Souveränität und Freiheit als Nicht-Beherrschung und Autonomie geht nicht prinzipiell mit größtmöglicher Handlungsfreiheit und der unilateralen Kontrolle von Interdependenzen bzw. externen Beziehungen einher. Die eigenständige Handlungsfähigkeit und (Mit-)Gestaltungsfähigkeit politischer Ordnungen entsprechend des Willens ihrer Völker muss gewährleistet werden, das machen Laborde und Ronzoni deutlich. Gleichzeitig werden die rechtliche Einbettung und die Institutionalisierung des Status und der Beziehungen politischer Ordnungen untereinander, die auch Institutionen multilateraler Kooperation umfassen, gerade unter Bedingungen von Globalisierung, steigender Interdependenz und zunehmender Integration jenseits des Staates unverzichtbar. Dies ist nicht der Fall, weil Interdependenzen zwischen politischen Ordnungen selbst ein Problem darstellen. Vielmehr steigen mit ökonomischen, ökologischen und vor allem politischen Interdependenzen ohne institutionelle Rahmung und kontrollierte Gestaltung die Möglichkeiten für Beherrschung. Interdependenzen drohen in Abhängigkeit und Beherrschung, in Dependenz umzuschlagen. Die Konditionalität und die Relationalität von Souveränität erweisen sich aus republikanischer Sicht als Mittel zur institutionellen Gestaltung der Beziehungen zwischen politischen Ordnungen. Sie sind eng mit der Konzeption freier und souveräner Ordnungen verbunden und Teil der notwendigen Institutionalisierung des Status und der Beziehungen dieser Ordnungen. Schließlich werden die Prinzipien der Nicht-Intervention und der territorialen Integrität in diesem Kontext keineswegs verworfen, aber konzeptuell neu gefasst: Sie sind nicht begründet als staatliches Äquivalent zu individueller Freiheit als NichtEinmischung. Ein Staat als korporativer Akteur ist keine natürliche Person und somit nicht mit Individuen gleichzusetzen. Vielmehr dienen territoriale Integrität und Nicht-Intervention dem Schutz der Integrität und Autonomie der konstitutionellen Ordnungen souveräner Staaten und der Praktiken der Willensbildung und Entscheidung unter Mitgliedern des Volkes, deren Freiheit ihrerseits das zentrale Anliegen politischer Ordnungsbildung ist. Wo gravierende Verstöße gegen grundlegendste individuelle Freiheiten und Menschenrechte vorliegen oder wo kollektive Selbstbestimmung in keiner Weise möglich ist und somit korporative Handlungsfähigkeit nicht angenommen werden kann, können die Prinzipien – in Teilen – ausgesetzt werden. Angestrebt werden dabei möglichst legitime multilaterale Entscheidungen über Einflussnahme auf Basis des Völkerrechts, um die Willkür von Einmischung oder gar Interventionen zu minimieren. Die überzeugenden Gründe für und Formen von Einflussnahme und Interventionen sowie die erforderlichen Legitimationsschritte bleiben auch unter republikanischen Autor:innen kontrovers.35

35 Siehe Laborde/Ronzoni (Fn. 22), S. 290 f. Gädeke bleibt gegenüber allen Formen externer Einflussnahme deutlich skeptischer: Dorothea Gädeke, The Domination of States: Towards an Inclusive Republican Law of Peoples, Global Justice 9 (2016), S. 1.

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II. Souveränität, Freiheit und Perspektiven für politische Ordnungsbildung Offen bleibt in den vorangegangenen Ausführungen, blickt man auf die Kritiken am klassischen Souveränitätsdenken zurück, die Frage der politischen Form. Bedeutet die skizzierte Verknüpfung von Souveränität und Freiheit als Nicht-Beherrschung, die korporative Handlungsfähigkeit betont, dass freie und souveräne Ordnungen auf die politische Form des Staates festgelegt sind? Antworten auf diese Fragen haben entscheidende Bedeutung für Fragen politischer Ordnungsbildung, insbesondere in Europa. Beantwortet man sie positiv, überzeugt die EU, das argumentiert prominent Bellamy, nur als intergouvernementale Ordnung europäischer Staaten.36 Ist die Verbindung von Souveränität und der politischen Form des Staates nicht notwendig, werden zusätzliche Ordnungsmuster möglich. Eine Konfrontation (neo-)republikanischen Denkens mit dem Souveränitätsverständnis des konstitutionellen Pluralismus Walkers, der die Idee der Souveränität verteidigt, aber einer Pluralität unterschiedlicher souveräner Ordnungen gegenüber aufgeschlossen ist, kann helfen, eine Reifizierung souveräner Staatlichkeit im Republikanismus zu vermeiden und die Perspektiven für Ordnungsbildung unter Bedingungen der Interdependenz zu weiten. Deutlich wird, dass ein Etatismus, der große Teile des republikanischen Denkens prägt, in seiner Grundsätzlichkeit37 nicht überzeugend begründet ist. Freie und souveräne politische Ordnungen sind nicht ausschließlich in staatlicher Form denkbar. Unterschiedliche Formen freier und souveräner politischer Ordnungen und ein Pluralismus politischer Ordnungen sind denkbar und möglich. (Neo-)Republikanische Beiträge zeigen ihrerseits, dass nicht jede politische Form und nicht jeder Pluralismus überzeugen, und helfen Konzeptionen von Konstellationen pluraler Ordnungen politiktheoretisch rückzubinden und kritisch weiterzuentwickeln. 1. Souveränität und konstitutioneller Pluralismus in der post-westfälischen Gegenwart Walker konzipiert Souveränität als Sprechakt, als die Äußerung eines Anspruchs auf politische Vorherrschaft und Ordnungsmacht und verteidigt diese Konzeption

36 Richard Bellamy, A Republican Europe of States. Cosmopolitanism, Intergovernmentalism and Democracy in the EU, Cambridge 2019. Siehe zu einer kritischen Diskussion von Bellamys Argumentation sowie zu möglichen Entwicklungsperspektiven territorialer Ordnungen in Europa Anna Meine, Beyond Westphalia: Democratic Conceptions of Sovereignty and Constellations of Plural Territories, in: Santos Campos/Cadilha (Hrsg.), Sovereignty as Value, Lanham 2021, S. 127. 37 Zum Beispiel Pettit (Fn. 22), S. 132 ff., 282 f.

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von Souveränität als ordnungsstiftendes Prinzip auch unter post-westfälischen Bedingungen:38 „Sovereignty may be defined as the discursive form in which a claim concerning the existence and character of a supreme ordering power for a particular polity is expressed, which supreme ordering power purports to establish and sustain the identity and status of the particular polity qua polity and to provide a continuing source and vehicle of ultimate authority for the juridical order of that polity.“39 „Sovereignty, in the final analysis is about a plausible and reasonably effective claim to ultimate authority, or in perspective theory a representation of authority made on behalf of a society which is (more or less successfully) constitutive of that society as a political society, or as a polity.“40

Der Status einer politischen Ordnung als politische Ordnung beruhe darauf, dass dieser diskursive Anspruch auf Vorherrschaft erhoben und von zentralen Akteuren als ,institutioneller Fakt‘ anerkannt wird.41 Bedeutend ist, dass sich Souveränität, dieser Lesart entsprechend, auf die Tiefenstruktur rechtlicher bzw. politischer Ordnungen (polities) bezieht. Souveränität gilt als notwendige Vorannahme bzw. Präsupposition für politisch-konstitutionelle Ordnungen und damit für rechtliches und politisches Handeln. Die Verwiesenheit von Recht und Politik aufeinander, die konstitutionelle Ordnungen Walker zufolge kennzeichnet, ist nur möglich im Rahmen von Ordnungen, die als Einheiten (units) durch ein gewisses Maß von Einheit (unity) gekennzeichnet sind.42 Letztere wird durch Souveränität als Sprechakt geschaffen; der Erhalt dieser Ordnungen und ihrer Integrität ist das zugrundeliegende Ziel. Dieses Souveränitätsverständnis weist Parallelen zu Skinners Idee des Staates als eines korporativen Akteurs bzw. von Souveränität als korporativer Handlungsfähigkeit auf: Der grundlegende Anspruch auf Ordnungsmacht bringt eine Vorstellung von Ordnung zum Ausdruck, die den Rahmen für Politik und Recht darstellt: „It is a representational and ordering device which envisages and identifies discrete polities that can act in the name of an undifferentiated collective notwithstanding an internal diversity of interests, values and wills.“43 Republikanisch ausgedrückt: Eine politische Ordnung, verstanden als korporativer Akteur setzt eine Form von Einheit und Ordnung voraus, die kollektive Willensbildung und autoritative Entscheidungs38 Walker (Fn. 11), S. 7; Neil Walker, The Sovereignty Surplus, International Journal of Constitutional Law 18 (2020), S. 370 (374). 39 Walker (Fn. 11), S. 6. 40 Walker (Fn. 11), S. 17, Hervorhebung im Original. 41 Walker (Fn. 11), S. 7. 42 Diese Verwiesenheit von Politik und Recht aufeinander, die auch in Walkers Verwendung des Begriffs „polity“ zum Ausdruck kommt, bildet eine Grundlage dafür, seinen Pluralismus nicht nur als Pluralismus rechtlicher, sondern auch politischer Ordnungen zu diskutieren. 43 Neil Walker, Sovereignty Frames and Sovereignty Claims. Hg. v. University of Edinburgh, School of Law: Research Paper Series, 2013/14, Edinburgh 2013, S. 5, siehe auch S. 5 ff.

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findung ermöglicht, um das Volk als politisches Kollektiv und die politische Ordnung als korporativen Akteur zu schaffen und zu erhalten. Der grundlegende Anspruch auf Souveränität bildet die Grundlage dafür, dass korporatives Handeln im Innern und nach außen möglich wird. Auch Walker verbindet Souveränität mit der Möglichkeit von Handlungsfähigkeit. Konkrete Beanspruchungen von Souveränität (sovereignty claims) werden dann in dem Rahmen, den der grundlegende Anspruch auf Souveränität schafft (sovereignty frame), einerseits von unterschiedlichen Akteur:innen und Institutionen der politischen Ordnung oder andererseits im Namen des Volkes und damit der Quelle von Souveränität erhoben, die im Sinne Skinners die politische Ordnung repräsentieren oder autorisieren.44 Insofern der grundlegende Anspruch auf Souveränität als ,institutioneller Fakt‘ anerkannt wird, werden der Status von und die Beziehungen zwischen politischen Ordnungen als korporativen Akteuren relevant. „[S]overeignty is formed and sustained along a two-way causal nexus between the ,hard‘ environment of institutions and capacities on the one hand, and the representation of that environment to the subjects and wider audience of sovereignty on the other.“45 Walker zeigt allerdings nicht nur, dass Souveränität einen ordnungsstiftenden, sondern auch, dass sie einen ordnungsspezifischen Anspruch bezeichnet, der aus der Binnenperspektive einer Ordnung erhoben wird. Als solcher begründet und erhält er die Identität und den Status einer spezifischen politischen Ordnung.46 Durch diesen Bezug zu spezifischen Ordnungen wird es möglich, Souveränität in der post-westfälischen Welt von einigen ihrer Attribute sowie von der politischen Form des Staates zu lösen. Walker zufolge besteht in der post-westfälischen Gegenwart eine Vielzahl von staatlichen, aber auch nicht-staatlichen politisch-rechtlichen Ordnung als Einheiten (plurality of unit(ie)s), die sich überlappen, ineinandergreifen oder sich gegenseitig beeinflussen und durch unterschiedliche territoriale und funktionale Grenzziehungen bestimmt werden.47 Im Sinne des konstitutionellen Pluralismus bilden diese pluralen Ordnungen kein monistisches Gefüge, sondern stehen in heterarchischen Beziehungen. „While the state remains the focus of political organization, it is now merely first amongst equals. In place of a universal and uniform template of sovereign statehood, we have a highly differentiated mosaic of legal and political capacities. Instead of internal sovereignty as comprehensive, final authority is sometimes partial, distributed between various political sites and levels, states and otherwise. And rather than mutual exclusivity as the default con-

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Walker (Fn. 43), S. 8 f., 16 f. Siehe auch Neil Walker (Fn. 38) S. 370 (371 ff., 381 ff.). Walker (Fn. 38), S. 374. 46 Walker (Fn. 11), S. 17. 47 Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, The Modern Law Review 65 (2022), S. 317 (338). 45

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dition of external sovereignty, we have an increasing incidence of overlap, interlock, and mutual interference.“48

Dies gilt insbesondere für den europäischen Kontext, in dem unterschiedliche staatliche, substaatliche und suprastaatliche Ordnungen parallel existieren.49 Souveränität wird in diesem Kontext gelöst von den Ideen der Allzuständigkeit (comprehensiveness) und der territorialen Exklusivität; sie kann von unterschiedlichen politischen Ordnungen zugleich beansprucht werden. Walkers Konzeption ,später‘ Souveränität bezeichnet in der Folge Ansprüche auf Ordnungsmacht in einem mehrdimensionalen Kontext pluraler politisch-rechtlicher Ordnungen, der die spätmoderne Gegenwart kennzeichnet. Die Integrität einzelner politisch-rechtlicher Ordnungen – auch staatlicher Ordnungen – werde dadurch nicht gefährdet. „A sovereign order must assume its own continuing or self-amending sovereignty within its sphere of authority […] and must retain interpretive autonomy […], deciding the boundaries of that sphere of authority. This is the irreducible core, the non-negotiable given of any sovereign order […].“50

Souveräne Ordnungen als autonome Ordnungen sind weder abgeleitet noch abhängig und haben Kompetenzen zur Gestaltung ihrer selbst und ihrer Grenzen. Autonomie gilt folglich für den Geltungsbereich einer Ordnung und ist – auch innerhalb eines territorialen Raums – vereinbar mit der Autonomie anderer Ordnungen. Während alle politischen Ordnungen weiterhin aus der Binnenperspektive den grundlegenden Anspruch auf Autonomie und letztgültige Ordnungsmacht, auf Entscheidungshoheit im Innern und über Grenzziehungen erheben und diese Autonomie und damit auch die Integrität einer politischen Ordnung von anderen Ordnungen in gewissem Maße anerkannt werden muss, damit eine Ordnung als souverän gelten kann, bedeutet Autonomie weder, dass eine politische Ordnung, territorial exklusiv oder (legislativ) allzuständig ist, noch, dass ihre Kompetenzen konkurrenzlos sind. Gerade in Fragen der Grenzsetzung und Kompetenzverteilung sind in heterarchischen Konstellationen pluraler Ordnungen – beispielsweise zwischen den unterschiedlichen (Teil-)Ordnungen, die die europäische Mehrebenenkonstellation bilden – Konflikte zu erwarten.51 Walkers konstitutioneller Pluralismus fordert damit den republikanischen Fokus auf souveräne Staatlichkeit heraus – und das auf Grundlage einer Konzeption politisch-konstitutioneller Ordnungen, die der des (Neo-)Republikanismus verwandt ist und Souveränität als grundlegendes Konzept nicht aufgibt, aber doch spezifiziert. Angesichts dieser Herausforderung zeigt sich, dass republikanisches Denken zwar die Begrenzung, aber nicht die Exklusivität souveräner Ordnungen begründet. Begründungen für die allumfassende Letztentscheidungsbefugnis sowie die Exklusivi48

Walker (Fn. 38), S. 394, siehe auch 391 ff. sowie Walker (Fn. 47), S. 354 ff. Walker (Fn. 38), S. 394. 50 Walker (Fn. 11), S. 28. 51 Walker (Fn. 47), S. 342 ff.; Walker (Fn. 11), S. 23 ff.

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tät politischer Ordnungen erfolgen nicht. Betrachtet man politische Ordnungsbildung nicht aus der Binnenperspektive einzelner spezifischer politischer Ordnungen, sondern erkennt man, wie Walker, plurale Perspektiven an, gibt es keinen zwingenden Grund, warum korporative Handlungsfähigkeit nur in staatlicher Form bestehen sollte.52 Auch der Verweis auf die Freiheit der Individuen als Mitglieder des Demos liefert für die exklusive und allumfassende Souveränität von Staaten keine zwingende Begründung, denn die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen übersetzt sich nicht notwendig – wie Pettit nahezulegen scheint53 – ohne Rest in die Handlungsfähigkeit des Staates, sondern kann, gerade unter Bedingungen der Globalisierung und der europäischen Integration auch in Konstellationen pluraler Ordnungen verwirklicht und gewährleistet werden.54 Die Grundvorstellung politischkonstitutioneller Ordnungen als korporativer Akteure, die begrenzt sind und deren Integrität und Autonome gewährleistet werden müssen, wird von Walker nicht in Frage gestellt. Aber die Formen politisch-konstitutioneller Ordnungen werden variabel. Andere politische Formen als die des Staates werden denkbar. Parallel zur Möglichkeit unterschiedlicher Formen politischer Ordnungen werden letztere auch pluralisierbar und Konstellationen politischer Ordnungen potenziell pluralistisch.55 Allerdings ist Walker einer überaus großen Vielfalt unterschiedlicher konstitutioneller Einheiten und rechtlicher Ordnungen gegenüber aufgeschlossen und behandelt Fragen nach deren demokratischer Legitimität und Freiheit nachrangig. Explizit wird die Autonomie politisch-rechtlicher Ordnungen vor allem in Verbindung mit richterlichen bzw. juridischen, aber nicht mit legislativen Kompetenzen bzw. legislativer Kompetenz-Kompetenz diskutiert.56 Verweise auf Mitgliedschaft in konstitutionellen Ordnung und Formen der Partizipation und Repräsentation von Mitgliedern in konstitutionellen Ordnungen bestehen, bleiben aber abstrakt.57 So wird deutlich: Nicht alle konstitutionellen Einheiten, die Walker diskutiert, erfüllen die republikanisch formulierten Bedingungen freier politischer Ordnungen, in denen ein politi52

Walker (Fn. 47), S. 338. Pettit (Fn. 23), S. 72 f. 54 Meine (Fn. 18), S. 280, 288. 55 Dabei listet Walker zusätzlich zu Souveränität und einem eigenständigen Verfassungsdiskurs eine Reihe von Kennzeichen eigenständiger politisch-rechtlicher Ordnungen auf: Dazu zählt, dass der Geltungsbereich der jeweiligen Ordnung, ihre ,jurisdiktionale Reichweite‘, nicht auf isolierte Fragen oder Probleme beschränkt, sondern polyvalent sein muss, damit unterschiedliche Positionen und Sichtweisen abgewogen werden können. Darüber hinaus müssen autonome Entscheidungen über die Bedeutung des Rechts gewährleistet sein und es bedarf der institutionellen Fähigkeit, Entscheidungen durchzusetzen und so die politischrechtliche Ordnung effektiv zu regieren. Schließlich bedarf eine politisch-konstitutionelle Ordnung der Bestimmung des Kreises ihrer Mitglieder, die sich mit der Ordnung identifizieren und deren Mitsprache und Repräsentation in der politischen Ordnung gewährleistet wird. Walker nimmt politisch-rechtliche Ordnungen somit durchaus in ihrer Komplexität in den Blick. Siehe Walker (Fn. 47), S. 342 ff. 56 Walker (Fn. 11), S. 21 f. 57 Walker (Fn. 47), S. 350 ff. 53

Souveränität und Freiheit

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sches Kollektiv bzw. Bürger:innen als dessen Mitglieder frei und selbstbestimmt politisch handeln. Darüber hinaus werden die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen politisch-konstitutionellen Ordnungen und damit Fragen der Freiheit dieser Ordnungen nicht explizit Teil der Diskussion. Republikanismus (Pe!t, Skinner, …)

kons!tu!oneller Pluralismus (Walker)

Freie und souveräne Staatlichkeit Freie Staaten als souveräne korpora#ve Akteure, die im Staat Freiheit und Selbstbes#mmung ermöglichen sowie intern und extern handlungsfähig sind.

Souveränität poli!sch-rechtlicher Ordnungen Anspruch auf Souveränität sti"et und erhält eine autonome poli#sch-rechtliche Ordnung als Ordnung und stützt deren Handlungsfähigkeit.

Herausforderung Republikanischer Staatszentrismus / Kons!tu!oneller Pluralismus Fokus auf die Form souveräner ‚freier Staatlichkeit‘ Plurale autonome Ordnungen – Staaten und nichtin Frage gestellt staatliche Ordnungen – exis#eren Nebeneinander und plurale „freie poli!sche Ordnungen“ denkbar erheben jeweils Anspruch auf Souveränität. Weiterentwicklung Bedingungen von Legi!mität & Freiheit Eingrenzung der Form & des Status hinsichtlich Kons#tu#on, Status und Beziehungen poli#scher Ordnungen freier republikanischer Ordnungen ins#tu#onalisierte Beziehungen zwischen Ordnungen Integrität und Autonomie poli#scher Ordnungen legi!me Konstella!onen unabhängiger Ordnungen

2. Ein institutioneller Pluralismus souveräner und freier Ordnungen Im Anschluss die Konfrontation republikanischer Beiträge mit Walkers Pluralismus lohnt es sich deshalb, im Gegenzug letzteren aus republikanischer Perspektive zu prüfen. Dies ermöglicht, den skizzierten Pluralismus politisch-rechtlicher Ordnungen hinsichtlich der skizzierten Lücken weiter auszuarbeiten und zu konkretisieren und parallel die Grenzen der Pluralisierung – und Fragmentierung – politischer Ordnungen zu erörtern. Eine fundierte Konzeption legitimer Konstellationen pluraler, souveräner und freier politischer Ordnungen muss die Konzeption und institutionelle Gestaltung sowohl der Konstitution und des Status freier und souveräner Ordnungen als auch ihrer Beziehungen untereinander in den Blick nehmen. Auf dieser Grundlage zeigen sich dann auch fruchtbare Perspektiven für das Nachdenken über die Architektur der europäischen Mehrebenenordnung. a) Konstitution und Status freier und souveräner politischer Ordnungen Die Literatur zu korporativer Handlungsfähigkeit und freier Staatlichkeit bietet keine zwingenden Gründe, dass die politische Form freier und souveräner Ordnung auf Staaten festgelegt sein muss. Allerdings macht die republikanische Konzeption souveräner und freier politischer Ordnungen konkretere Vorgaben hinsichtlich der Kriterien und Anforderungen für die Konstitution legitimer und den Status unabhängiger politischer Ordnungen als Walkers konstitutioneller Pluralismus. Eine politische Ordnung ermöglicht einem politischen Kollektiv sowie seinen individuellen Mitgliedern mittels einer Rechts- und Institutionenordnung Freiheit und

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Selbstbestimmung – durch Prozesse der Willensbildung und Entscheidung wie auch durch Mechanismen der Anfechtung politischer Entscheidungen. Wenn Oldenbourg und Gädeke die Integrität des konstitutionellen Rahmens der politischen Ordnung sowie die Integrität und Autonomie von Praktiken politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung hervorheben, zeigen sie, dass jeweils die ordnungsspezifische Integrität der Beziehungen zwischen Bürger:innen, Demos und politischen Institutionen, die freie und souveräne Ordnung kennzeichnen, gewährleistet werden muss. Diese Anforderung bleibt auch im Fall pluraler Ordnungen bestehen. Aber sie ist identisch weder mit der Idee der Exklusivität dieser Beziehungen noch mit der Exklusivität und allumfassenden Letztentscheidungshoheit souveräner Ordnungen. Was republikanisches Denken nahelegt, ist vielmehr, dass politische Ordnungen begrenzt und Beziehungen zwischen Bürger:innen, Demos und politischer Ordnung immer partikular bzw. ordnungsspezifisch, aber nicht notwendig ausschließlich sind. Der Zuständigkeitsbereich darf nicht nur einzelne politische Entscheidungen umfassen, weil dies wiederholte Verhandlungen, Kompromisse und Reziprozität in den Beziehungen unter Bürger:innen unterlaufen würde. Aber er muss auch nicht allumfassend sein. Wo diese Bedingungen erfüllt sind, sind plurale, im republikanischen Sinn freie und in Walkers Sinn souveräne Ordnungen denkbar, die auch, aber nicht nur die Form des modernen Staates annehmen. Aspekte einer derartigen Konstellation pluraler Ordnung sind auch heute in der europäischen Mehrebenenordnung zu erkennen, in der beispielsweise einige substaatliche Regionen, vor allem in föderalen Mitgliedstaaten wie beispielsweise Belgien, durchaus umfassende Kompetenzen und auch Mitspracherecht in internationalen Angelegenheiten innehaben. Es spricht einiges dafür, dass die Grundbedingungen korporativer Handlungsfähigkeit vorliegen. Diese Pluralität möglicher politischer Ordnungen stellt die Existenz und Legitimität der europäischen Staaten nicht in Frage. Sie bleiben bedeutend. Ihnen treten aber potenziell andere subund suprastaatliche politische Ordnungen an die Seite. Hinsichtlich der europäischen Ebene ist es dabei, aufbauend auf Habermas, auch denkbar, dass die Institutionen der EU sich weiter in Richtung einer eigenständigen (Teil-)Ordnung in der europäischen Mehrebenen-Konstellation entwickeln, deren Mitglieder sowohl Staaten als auch Unionsbürger:innen sind und die für einen spezifischen Geltungsbereich Souveränität beansprucht, ohne deshalb die Souveränität der staatlichen Ordnungen aufzuheben.58 Parallel zu einer entsprechenden Konstitution setzen freie und souveräne Ordnungen zugleich einen eigenständigen und gesicherten Status voraus. Dieser Status sichert die Autonomie und Integrität politischer Ordnungen und stützt damit ihre Handlungsfähigkeit im Innern wie gegenüber anderen Akteuren. Während in einer klassischen internationalen Staatenordnung die Geltungsbereiche einzelner Ordnun58 Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas. Ein Essay, 2011. Siehe auch Anna Meine, Ist Volkssouveränität auf regionaler, staatlicher und europäischer Ebene zugleich denkbar?, in: Erbentraut/Eberl (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatlichkeit. Intermediäre Organisationen und Räume der Selbstgesetzgebung, 2022, S. 143 (157 ff.).

Souveränität und Freiheit

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gen vor allem territorial bestimmt sind, impliziert eine pluralistische Konstellation politischer Ordnungen, in der politische Ordnungen auf unterschiedlichen Ebenen koexistieren bzw. sich überlappen, dass Geltungsbereiche nicht nur territorial, sondern auch funktional abgesteckt werden. Der gesicherte Status politischer Ordnungen impliziert zunächst, dass eine Ordnung als politische Ordnung für ihren Geltungsbereich grundlegend anerkannt wird. Damit freie und souveräne Ordnungen auch in pluralistischen Konstellationen grundlegend nicht-beherrscht nebeneinander bestehen können, wird es aus republikanischer Perspektive zudem umso wichtiger, ihren jeweiligen Status rechtlich und politisch abzusichern und dazu zu institutionalisieren, sodass einzelne Ordnungen nicht der willkürlichen Macht anderer Ordnungen oder Akteure ausgesetzt sind. Darüber hinaus impliziert der Status freier und souveräner Ordnungen, dass politische Ordnungen als eigenständige korporative Akteure die rechtlichen und politischen Institution, in die sie eingebunden sind, mitgestalten können. In föderalen Ordnungen sind sowohl der Status selbst als auch derartige Mitbestimmungsmechanismen über die verfasste Mehrebenenordnung in der Regel konstitutionell abgesichert. In der EU drückt sich der gesicherte Status der Mitgliedstaaten in der bleibenden Macht der Staaten nicht nur bei inhaltlichen Entscheidungen, sondern insbesondere hinsichtlich der Entscheidungen über die europäischen Verträge und damit über die institutionelle Gestaltung der EU aus. Wichtig bleibt: Eigenständige korporative Handlungsfähigkeit bedeutet – auch wenn man republikanische Argumentationsmuster zugrunde legt – nicht notwendig alleinige und vollumfassende höchste Macht. Sie kann aus theoretischer Perspektive zum einen auf begrenzte Kompetenzbereiche bezogen sein. Zum anderen wäre es verfehlt, eigenständige als notwendig unilaterale Handlungsfähigkeit zu konzipieren, geht es doch, gerade wo es um den eigenen Status geht, immer auch um die Beziehung zu anderen freien und souveränen Ordnungen. Freie und souveräner Ordnungen können somit in multilaterale Kontexte eingebunden sein. Die eigenen institutionellen Grundlagen und den eigenen Status mitzugestalten bleibt jedoch notwendig Teil eigenständiger korporativer Handlungsfähigkeit und Kennzeichen freier und souveräner Ordnungen. b) Die Beziehungen zwischen souveränen politischen Ordnungen Souveränität und Freiheit politischer Ordnungen müssen in Beziehung zu anderen Ordnungen und relativ zu deren Souveränität und Freiheit verstanden und verhandelt werden. Dies gilt grundsätzlich auch in einem ,Europa der Staaten‘, gewinnt aber in pluralistischen Konstellationen zusätzlich an Bedeutung. Über Walkers Überlegungen hinaus macht republikanisches Denken deutlich, dass die Institutionalisierung des Status und der Beziehungen zwischen pluralen politischen Ordnungen eine nicht zu vernachlässigende Aufgabe darstellt. Dies gilt gerade in Kontexten der politisch-institutionellen Interdependenz bzw. der Integration in größere institutionelle Zusammenhänge, in denen benachbarte, einander überlappende und interdependente Ordnungen immer auch das Potential der Beherrschung und Abhängigkeit mit sich

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bringen. Damit die Beziehungen der Ordnungen, die eine Konstellation politischer (Teil-)Ordnungen – ob zwischenstaatliche Konstellationen oder aber pluralistische Mehrebenen-Konstellationen – bilden, untereinander nicht durch grundlegende Abhängigkeiten geprägt werden, die auch die Freiheit und Selbstbestimmung ihrer Mitglieder gefährden, sind sowohl ein institutioneller Rahmen als auch Mechanismen zu dessen Gestaltung notwendig. Insofern die skizzierte Verbindung von relationaler Souveränität und Freiheit im Sinne der Nicht-Beherrschung bzw. Autonomie keine allumfassende Letztentscheidungshoheit und auch keine unbedingte unilaterale Kontrolle grenzüberschreitender Interdependenzen oder externer Beziehungen voraussetzt, sind zunächst grundlegend unterschiedliche Konstellationen von Selbstregierung (self-rule) und geteiltem Regieren (shared rule) denkbar. Geteilte Herrschaft steigert die politisch-institutionellen Interdependenzen zwischen Ordnungen, aber sie gefährdet deshalb nicht automatisch die Integrität und Autonomie politischer Ordnungen und ihre korporative Handlungsfähigkeit. Dennoch ist es notwendig, für Bereiche geteilter Herrschaft wie auch für Entscheidungen über die Institutionenordnung selbst nicht nur friedliche, sondern auch faire und legitime Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung zu finden. Konzeptionen des Multilateralismus bieten hier eine mögliche Antwort. Das Ziel multilateralen Entscheidens ist es, Perspektiven unterschiedlicher politischer Ordnungen bei inhaltlichen Entscheidungen und bei Entscheidungen über die Konstellation, deren Teil sie sind und die ihre Beziehungen zueinander betreffen, institutionell miteinander zu konfrontieren und konstruktiv zu vermitteln. Konzeptionen des Multilateralismus, die allgemeine Verhaltensregeln und Prinzipien diffuser Reziprozität betonen, verweisen schon auf allgemeine Leitlinien für eine Institutionalisierung der Beziehungen zwischen pluralen Ordnungen.59 Die republikanische Perspektive dieses Beitrags legt nahe, die Bedingungen nicht-beherrschender Entscheidungsprozesse über allgemeine Verhaltensregeln hinaus weiter auszuarbeiten und Entscheidungsprozesse, die Reziprozität sicherstellen, institutionell weiter auszugestalten. Dies gilt schon für multilaterale Entscheidungsprozesse zwischen Staaten bzw. ihren Demoi, wie Bellamy sie in seinem Entwurf eines ,republikanischen Europas der Staaten‘60 skizziert. Es gewinnt aber für pluralistische Konstellationen an Bedeutung – und wird zugleich komplexer. Denn hier ist Multilateralismus nicht zwingend auf politische Ordnungen des gleichen Typs, d. h. Staaten, beschränkt. In pluralistischen Konstellationen sind potenziell freie und souveräne Ordnungen auf unterschiedlichen Ebenen in multilaterale Institutionen und Prozesse einzubeziehen.61 Die EU kann aus dieser Perspektive als Kontext verstanden werden, in dem 59

John Gerard Ruggie, Multilateralism. The Anatomy of an Institution, International Organization 46 (1992), S. 561. 60 Bellamy (Fn. 36). 61 Vgl. Jan Aart Scholte, Reinventing Global Democracy, European Journal of International Relations 20 (2014), S. 3. Siehe auch Meine (Fn. 18), S. 289 f.

Souveränität und Freiheit

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multilaterale Entscheidungen einerseits – im Europäischen Rat und im Rat der EU – zwischen staatlichen Vertreter:innen getroffen werden. Betrachtet man das Europäische Parlament als Institution der Unionsbürger:innen, ist es zudem möglich, Entscheidungen zwischen ,zwischenstaatlichen‘ Institutionen wie dem Rat der EU und eher ,gesamteuropäischen‘ Institutionen wie dem Europäischen Parlament als zweite Form multilateralen Entscheidens innerhalb des institutionellen Rahmens der EU zu konzipieren. Als potenziell eigenständige (Teil-)Ordnung in der europäischen Mehrebenenkonstellation, kann die EU darüber hinaus mit einzelnen oder mehreren Mitgliedstaaten oder aber Ordnungen außerhalb der europäischen Konstellation in bi- und multilaterale Beziehungen eintreten. Zu beachten ist, dass die Institutionalisierung des Status und der Beziehungen zwischen pluralen freien und souveränen Ordnungen nie abgeschlossen ist bzw. final fixiert werden kann. Insbesondere in Fragen von Grenzziehungen und Kompetenzverteilung und auch hinsichtlich der genauen Ausgestaltung multilateraler Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse sind insbesondere in Mehrebenen-Konstellationen rechtliche und politische Auseinandersetzungen zu erwarten – weil freie und souveräne Ordnungen als korporative Akteure aus der Binnenperspektive ihre Ansprüche auf Kompetenzen und ihre Vorstellungen der eigenen Grenzen erheben, diese aber auf die Ansprüche und Vorstellungen anderer korporativer Akteure treffen. Eine institutionelle Neugestaltung der Beziehungen zwischen autonomen politischen Ordnungen muss möglich bleiben. Eine Balance zwischen Herausforderung und Neugestaltung und Stabilität der Konstellation pluraler Ordnungen zu finden, stellt zugleich eine bleibende Aufgabe dar.62 Multilaterale Entscheidungsverfahren bieten eine institutionelle Möglichkeit, auch bei Konflikten über die Grenzen partikularer Ordnungen oder bei Auseinandersetzungen über die institutionelle Gestaltung der Beziehungen zwischen Ordnungen die Anerkennung, Konfrontation und konstruktive Vermittlung der jeweils partikularen Perspektiven der unterschiedlichen souveränen Ordnungen und ihrer Demoi zu einem Prinzip legitimer Ordnungsbildung zu machen. Multiperspektivität ersetzt dabei den in klassischen Souveränitätsverständnissen vorherrschenden einzelstaatlichen Blickwinkel, der, wie Ruggie zeigt, mit der Vorstellung staatlicher Individualität verbunden ist.63 Gerade unter Bedingungen der Globalisierung und in Konstellationen pluraler souveräner Ordnungen wird deutlich – dies ist eine Kernüberzeugung nicht zuletzt von Walker –, dass es für Fragen politischer Ordnungsbildung keine neutrale Beobachter- oder Gesetzgeber-Perspektive gibt. Vielmehr besteht eine Vielzahl von souveränen partikularen Perspektiven einzelner Ordnungen, Kollektive und Individuen, die jeweils Anerkennung verdienen, aber auch Grenzen haben. Multilaterale Entscheidungsprozesse zeigen einen Weg, diese Multiperspektivität zumindest hinsichtlich politischer Ordnungen anzuerkennen und ihr Ausdruck 62 Siehe zu einem parallelen Punkt für föderale Ordnungen auch Hausteiner in diesem Band. 63 Ruggie (Fn. 11), S. 172 ff.

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zu geben.64 Dem Prinzip der Multiperspektivität in Kontroversen um legitime politische Ordnungsbildung mehr Gewicht zu geben, stellt zugleich eine bleibende politische wie politiktheoretische Aufgabe dar, die nicht zu unterschätzen ist – die aber einen möglichen Weg weist, mit den Realitäten der Globalisierung und der europäischen Integration, mit zunehmender Interdependenz und Integration in neuen politischen Konstellationen umzugehen.

III. Schlussfolgerungen Dieser Beitrag bietet eine Kritik an der verbreiteten – meist unhinterfragten – Verknüpfung von Souveränität mit Freiheit im Sinn der Nicht-Einmischung, die NichtIntervention und staatliche Handlungsfreiheit zu inhärenten Elementen staatlicher Souveränität macht. Er verteidigt stattdessen, gerade unter Bedingungen von Globalisierung, Interdependenz und Integration, eine republikanisch geprägte Konzeption relationaler Souveränität und ihrer Verknüpfung mit Freiheit als Nicht-Beherrschung und Autonomie. Diese Verbindung, deren konzeptuelles Scharnier die Konzeption der korporativen Handlungsfähigkeit bildet, erlaubt es, die Konditionalität und Relationalität von Souveränität angemessener zu erfassen als klassische Verständnisse von Souveränität und Freiheit dies leisten. Hinsichtlich der Konsequenzen dieser Konzeption für institutionelle Ordnungsbildung, so das Argument im zweiten Teil dieses Beitrags, bleiben freie und souveräne Ordnungen, entgegen den Thesen des republikanischen Internationalismus, nicht auf die Form des Staates festgelegt. Konstellationen pluraler souveräner und freier politischer Ordnungen sind denkbar – aber auch an Bedingungen geknüpft. Unterschiedliche Teile der europäischen Mehrebenenordnung als souveräne Ordnungen zu verstehen, wird so möglich. Hinsichtlich der Entwicklungsperspektiven für die europäische Konstellation erweist sich dabei – neben Fragen der Konstitution und des Status pluraler Ordnungen – vor allem die institutionelle Gestaltung der Beziehungen zwischen freien und souveränen Ordnungen als bleibende theoretische und auch politische Aufgabe.

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Vgl. Meine (Fn. 18), S. 283 f.

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Wer gehört zum Volk?* Eine Rekonstruktion der Unionsbürgerschaft im Lichte gegenwärtiger Boundary Debatten Von Eva-Maria Schäfferle Spätestens seit den Jahren 2015 und 2016, als sich Europa mit einem bis dahin beispiellosen Andrang von Migrant*innen, Flüchtlingen und Asylsuchenden konfrontiert sah, gehören Fragen der internationalen Migration zu den zentralen Streitthemen moderner Demokratien. Welche Verantwortung haben Staaten gegenüber Nicht-Bürger*innen? Was schulden wir jenen, die Teil unserer Gemeinschaft werden wollen? Aus völkerrechtlicher Perspektive erscheint die Antwort zunächst recht einfach. Mit Ausnahme von international anerkannten Flüchtlingen genießen souveräne Staaten absolute Hoheit über ihre Grenzen und damit das Recht, nach eigenem Ermessen über die Aufnahme oder Ablehnung von Migrant*innen zu entscheiden. Allerdings sagen völkerrechtliche Verträge nichts über die moralischen Pflichten aus, die Staaten gegenüber Nicht-Bürger*innen besitzen. Versucht man dieser zweiten Form staatlicher Verantwortung auf den Grund zu gehen, stößt man in der Literatur in aller Regel auf Theorien der globalen Gerechtigkeit. Im Gegensatz zu bestehendem Völkerrecht nehmen letztere nicht nur Flüchtlinge, sondern alle Individuen gleichermaßen in den Blick und eignen sich deswegen dazu, weiterreichende Anforderungen an staatliches Handeln zu stellen. Allerdings bleiben diese Anforderungen in weiten Teilen unbestimmt: Grundsätze der globalen Gerechtigkeit sind nicht nur äußerst umstritten, sondern richten sich naturgemäß auch an alle Staaten gemeinsam und lassen sich deswegen nur bedingt in konkrete Pflichten für konkrete staatliche Akteure übersetzen. Um die Unschärfe globaler Gerechtigkeitsnormen zu überwinden, lenkt der vorliegende Aufsatz die Aufmerksamkeit auf eine zweite, häufig übersehene Quelle unserer grenzüberschreitenden Verantwortung, nämlich die moderne Demokratietheorie. Entgegen der vorherrschenden Meinung argumentiert er, dass sich die demokratischen Pflichten moderner Staaten nicht nur auf die eigene Bürgerschaft beschränken, sondern genauso wie Pflichten der globalen Gerechtigkeit grenzübergreifende Gültigkeit besitzen. Zur Ausführung dieses Arguments werden die demokratischen Verpflichtungen, die wir gegenüber Nicht-Bürger*innen haben, zunächst im Prinzip * Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Politische Theorie, Jg. 13, Heft 1 – 2/2022, S. 261 – 281.

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der Volkssouveränität verankert: Da durch die Entscheidung, wer zum Volk gehört, nicht nur die Freiheitsrechte von Mitgliedern, sondern auch jene von Nicht-Mitgliedern festgelegt werden, kann sie aus demokratietheoretischer Sicht nicht allein vom Volk getroffen werden. Nachdem in einem zweiten Schritt gezeigt wird, dass weder kosmopolitische noch liberal-nationalstaatliche oder bestehende transnationale Lösungsansätze dieses Externalitätsproblem zufriedenstellend lösen, lenkt der dritte Teil den Blick auf die Unionsbürgerschaft. Als erstes Beispiel transnationaler Migrations- und Mitgliedschaftspolitik verlagert letztere Fragen der Immigration und Integration von der nationalen auf die transnationale Ebene und räumt allen EU-Bürger*innen dadurch nicht nur zusätzliche Rechte in anderen Mitgliedstaaten, sondern auch die Möglichkeit ein, über ihre jeweiligen Vertreter*innen in den europäischen Organen selbst an der Gestaltung dieser Rechte teilzuhaben. Im Anschluss an diese Rekonstruktion der Unionsbürgerschaft geht der vierte Teil auf verbleibende legitimatorische Schwachstellen ein und diskutiert abschließend, welche Verpflichtungen europäische Staaten gegenüber Drittstaatangehörigen, also Immigrant*innen aus Nicht-EU-Ländern, haben.

I. Wer gehört zum Volk? Das Boundary Problem in Theorie und Praxis Das Ziel dieses Aufsatzes, die moralischen Pflichten, die Staaten gegenüber Nicht-Bürger*innen haben, demokratietheoretisch zu begründen, mag zunächst verwundern. Schließlich ist der zentrale Grundsatz der modernen Demokratietheorie im Prinzip der Volkssouveränität verankert. Vereinfacht ausgedrückt ernennt das Prinzip der Volkssouveränität das Volk zum alleinigen Urheber aller staatlichen Entscheidungen. Aus demokratischer Perspektive scheinen Fragen der Migrations- und Mitgliedschaftspolitik deswegen leicht zu beantworten. Das Volk und nur das Volk allein kann entscheiden, wer zum Volk gehört. Mit anderen Worten: Die Selbstbestimmung des Selbst zählt zu den grundlegenden Freiheiten souveräner Völker. Wie Frederick G. Whelan1 in seinem einflussreichen Aufsatz Democratic Theory and the Boundary Problem aufzeigt, stößt die Demokratietheorie jedoch genau bei der Definition des Selbst an ihre Grenzen. Da das Prinzip der Volkssouveränität das Volk als bereits konstituierte Größe voraussetzt, kann das Volk in seiner eigenen Konstitution keine Souveränität besitzen. Was auf den ersten Blick trivial erscheinen mag, erweist sich bei genauerer Betrachtung jedoch als demokratietheoretisches Dilemma. Schließlich setzt das Prinzip der Volkssouveränität nicht nur die Existenz eines Volkes voraus, sondern fordert zugleich, dass das Volk Urheber aller politischen Entscheidungen, also gleichzeitig Objekt und Subjekt staatlicher Macht sein muss. Kombiniert man beide Forderungen, wird klar, dass dem Prinzip der Volkssou1 Whelan, Liberal Democracy. Democratic Theory and the Boundary Problem, in: Pennock/Chapman (Hrsg.), Liberal Democracy 1983, S. 13.

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veränität ein unlösbarer Widerspruch innewohnt. Da die Gründung eines Volkes selbst eine politische Entscheidung darstellt, müsste das Volk, das dieser Entscheidung unterworfen ist, auch hier die alleinige Entscheidungsgewalt besitzen.2 Es müsste, um sich selbst gründen zu können, seiner eigenen Gründung vorausgehen und damit bereits als klar definierte Einheit existieren, bevor es sich selbst zu einer solchen Einheit definieren kann.3 Das Boundary Problem stellt zunächst ein logisches, demokratietheoretisches Problem dar, das weder gelöst werden kann noch, zumindest auf den ersten Blick, dringend gelöst werden müsste. Schließlich leben wir heute in einer Welt bereits konstituierter und damit existierender Staatsvölker, deren Grenzen eindeutig identifizierbar sind. Wer beispielsweise Teil des deutschen Volkes ist oder werden kann und demzufolge die damit verbundenen Bürgerrechte beanspruchen darf, kann mit Verweis auf das deutsche Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsrecht relativ einfach und, was wichtiger ist, zweifelsfrei beantwortet werden. Allerdings wird die moralische Richtigkeit dieser Antwort im gegenwärtigen Kontext stetig steigender Fluchtund Migrationsströme zunehmend in Zweifel gezogen. Indem sie eigenmächtig territoriale Grenzen überqueren, sich also über geltende Einreiseregeln und -verbote hinwegsetzen, und in ihren Aufenthaltsländern Ansprüche auf soziokulturelle, wirtschaftliche und politische Teilhabe stellen, sprechen Migrant*innen der Migrationsund Mitgliedschaftspolitik westlicher Staaten ihre Rechtmäßigkeit ab. Und auch wenn die Demokratietheorie die daraus entstehenden Konflikte nicht eindeutig zu lösen vermag, misst sie den Inklusions- und Teilhabeforderungen von Migrant*innen zumindest eine prinzipielle Berechtigung bei4. Wie das Boundary Problem aufzeigt, kann das Volk, sofern es dafür demokratische Legitimität beanspruchen möchte, seine Grenzen nicht unilateral, das heißt selbst oder autonom, bestimmen. Zwar bezieht sich das Boundary Problem in seiner obigen Formulierung auf die ursprüngliche Konstitution eines Volkes und scheint deswegen für gegenwärtige Migrationsdebatten unbedeutend zu sein. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung klar, dass die mit ihm verbundene Kritik auch im Anschluss an diesen anfänglichen Gründungsmoment nichts von seiner Relevanz verliert. Egal wie bestehende Völker ihre Migrations- und Mitgliedschaftspolitik gestalten und damit ihre Grenzen rekonfigurieren, schränken sie immer auch die Freiheit von Nicht-Bürger*innen ein. Sowohl die Konstitution eines Volkes als auch dessen Rekonstitution verursachen demnach ein unvermeidbares Externalitätsproblem: Sie unterwerfen Nicht-Bürger*innen politischen Entscheidungen, auf die sie keinen Einfluss haben, und verletzen damit die de-

2 Vgl. Abizadeh, On the Demos and Its Kin. Nationalism, Democracy, and the Boundary Problem, The American Political Science Review 106 (2012), S. 867 (879). 3 Vgl. Doucet, The Democratic Paradox and Cosmopolitan Democracy, Millennium: Journal of International Studies 34 (2005), S. 137 (149 ff.). 4 Vgl. Näsström, The Legitimacy of the People, Political Theory 35 (2007), S. 624 (644 f.); Doucet (Fn. 3), S. 154; Espejo, Paradoxes of Popular Sovereignty. A View from Spanish America, The Journal of Politics 74 (2012), S. 1053 (1055 f.).

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mokratische Forderung nach einer Einheit zwischen Objekt und Subjekt staatlicher Macht.5

II. Wer gehört zum Volk? Eine Diskussion bestehender Lösungsansätze Auch wenn das Boundary Problem letzten Endes unlösbar ist, stellt es, wie wir gesehen haben, eine Reihe von Fragen an moderne Demokratien. Besonders zwei Politikfelder stehen dabei im Zentrum der Diskussion: die Mitgliedschaftspolitik, die die zivilen Grenzen bestehender Völker definiert, sowie die Migrationspolitik, die über Einreise- und Aufenthaltsrechte entscheidet und damit territorialen Grenzen ihre rechtliche Gestalt verleiht. Entgegen der Ansicht zahlreicher Interpret*innen fragt das Boundary Problem allerdings nicht in erster Linie, wie die Migrationsund Mitgliedschaftspolitik moderner Demokratien zu gestalten sei, um den legitimen Ansprüchen von Nicht-Bürger*innen zu genügen. Aufgrund des Externalitätsproblems, das all diesen Entscheidungen innewohnt, wirft es zunächst eine vorgelagerte und damit grundlegendere Frage auf, nämlich von wem diese Entscheidungen überhaupt zu treffen sind, wer also berechtigt ist, unsere Migrations- und Mitgliedschaftspolitik zu gestalten.6 Versucht man die Vielzahl der Debattenbeiträge mit Blick auf die letzte Frage zu systematisieren, lassen sich grundsätzlich drei Positionen unterscheiden, die – je nachdem, auf welcher politischen Ebene sie die Entscheidungskompetenz verankern – als global, national oder transanational bezeichnet werden können. 1. Kosmopolitische Antworten auf das Boundary Problem Denker*innen, die dem kosmopolitischen Lager zuzuordnen sind, suchen die Antwort auf das Boundary Problem in erster Linie in der Demokratietheorie und damit den grundlegenden demokratischen Prinzipien und Verfahrensnormen. Da migrations- und mitgliedschaftspolitische Entscheidungen stets sowohl Bürger*innen als auch Nicht-Bürger*innen betreffen, müssen sie, so das kosmopolitische Ausgangsargument, grundsätzlich von beiden Gruppen gemeinsam getroffen werden. Auf diesem Gedanken aufbauend plädieren kosmopolitische Autor*innen für eine Kompetenzverlagerung von der nationalen auf die globale Ebene. Fragen territorialer wie ziviler Grenzziehung müssten demnach, anstatt von separaten Staatsvölkern, von 5

Vgl. Abizadeh, Democratic Theory and Border Coercion. No Right to Unilaterally Control Your Own Borders, Political Theory 36 (2008), S. 37 (46). 6 Eine ähnliche, multidimensionale Interpretation des Boundary Problem vertritt David Miller, der zwischen den analytischen Dimensionen von constituency (zivile Grenzen), domain (territoriale Grenzen) und scope (legislative Grenzen) unterscheidet, siehe Miller, Reconceiving the Democratic Boundary Problem, Philosophy Compass 15 (2020), S. 1 (2 f.).

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einer globalen, die gesamte Menschheit repräsentierenden Versammlung entschieden werden. Auch wenn kosmopolitische Denker wie Hans Agné7, Robert E. Goodin8 oder David Held9 betonen, dass mit Errichtung einer globalen Entscheidungsinstanz nicht automatisch die Auflösung partikularer Gemeinwesen einhergeht, würden letztere die Hoheit über ihre eigene Zusammensetzung verlieren und wären damit sowohl in Fragen ihrer Konstitution als auch ihrer Rekonstitution von einer übergeordneten Autorität abhängig. Obwohl kosmopolitische Reformvorschläge eine überzeugende Antwort auf das der Demokratietheorie innewohnende Externalitätsproblem bieten,10 besitzen sie für die politische Praxis nur wenig Relevanz. So gehen zahlreiche Theoretiker*innen davon aus, dass ein globales Entscheidungsgremium aufgrund der damit verbundenen radikalen Einschränkung staatlicher Souveränität utopisch und deswegen, zumindest gegenwärtig, nicht umsetzbar ist. Neben dieser praxisorientierten Kritik liegen der Ablehnung kosmopolitischer Positionen aber auch normative Bedenken zugrunde. Eine Verlagerung migrations- und mitgliedschaftspolitischer Kompetenzen auf die globale Ebene erscheint demnach nicht nur unrealistisch, sondern auch nicht wünschenswert. So argumentieren Autor*innen wie David Miller11 und Sarah Song12, dass bestehenden Grenzen trotz ihrer historischen Kontingenz und der ihnen dadurch inhärenten Willkür normative Bedeutung zukommt. Schließlich könnten die für funktionierende Demokratien zentralen Werte der politischen Gleichheit und Solidarität nur dann verwirklicht werden, wenn Bürger*innen einander nicht Fremde sind, sondern gewisse Gemeinsamkeiten wie eine einheitliche Sprache, Kultur oder Geschichte teilen. Die Kritik, die sie an kosmopolitische Reformvorhaben richten, kann von daher wie folgt zusammengefasst werden: Letztere würden bestehende, funktionierende Demokratien im Namen der Demokratie opfern. Die von einer globalen Versammlung geschaffenen Gemeinwesen mögen zwar mehr demokratische Legitimität besitzen, ließen aufgrund ihrer ahistorischen Gründung jedoch jene solidarischen Bande zwischen ihren Mitgliedern vermissen, die Minderheiten

7 Agné, Why Democracy Must be Global. Self-Founding and Democratic Intervention, International Theory 2 (2010), S. 381. 8 Goodin, Enfranchising All Affected Interests, and Its Alternatives, Philosophy & Public Affairs 35 (2007), S. 40 (64 ff.). 9 Held, Democracy and the Global Order. From the Modern State to Cosmopolitan Governance, 1995, S. 231 ff. 10 Zu beachten ist, dass es auch kosmopolitischen Lösungsansätzen nicht gelingt, das Boundary Problem zu lösen. Schließlich ist auch die Gründung einer globalen Versammlung eine politische Entscheidung, die nur von einem bereits konstituierten globalen Demos legitimiert werden könnte; vgl. Lupel, Globalization and Popular Sovereignty. Democracy’s Transnational Dilemma, 2011, S. 120 f.. 11 Miller, The Ethical Significance of Nationality, Ethics 98 (1988), S. 647 (659); Miller, On Nationality, 1999, S. 90 ff.; Miller (Fn. 6), S. 6 f. 12 Song, The Boundary Problem in Democratic Theory. Why the Demos should be Bounded by the State, International Theory 4 (2012), S. 39 (58 ff.).

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dazu bringen, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren und die dadurch zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung beitragen. 2. Liberal-nationalstaatliche Antworten auf das Boundary Problem Anders als kosmopolitische Denker*innen räumen ihre Gegenspieler*innen, die der nationalstaatlichen Denkschule zuzuordnen sind, der obigen Kritik folgend nicht der Realisierung abstrakter demokratischer Werte, sondern dem Schutz konkreter demokratischer Praxis den Vorrang ein und verteidigen demzufolge das Recht bestehender Staaten, eigenständig über ihre territorialen wie zivilen Grenzen zu verfügen.13 Zwar streiten nationalstaatliche Autor*innen die dadurch entstehenden Externalitätsprobleme nicht ab, argumentieren aber, dass sie zugunsten homogener, kulturell integrierter Gemeinwesen in Kauf genommen werden müssten. Nur so könne die Gleichheit aller Bürger*innen, die über formelle Gleichheitsrechte hinausgehe, ermöglicht und ein Mindestmaß an Solidarität und gegenseitigem Vertrauen aufrechterhalten werden. Folgt man der nationalstaatlichen Argumentation geht mit dieser klaren Priorisierung der nationalen Ebene aber nicht zwangsläufig eine Verteidigung des Status Quo einher. So fordern gerade liberal-nationalstaatliche Theoretiker*innen, dass die Freiheit nationaler Regierungen, unilateral über ihre Grenzen zu verfügen, gewissen Bedingungen unterworfen werden müsse. Im Einklang mit ihren liberal-demokratischen Grundwerten sollten demokratische Staaten die Freiheitsrechte von Nicht-Bürger*innen stärken und vor allem langfristig ansässigen Immigrant*innen den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern, um ihren dauerhaften Ausschluss vom politischen Leben des Gastlandes zu verhindern.14 Da sie die bestehende Ordnung lediglich reformieren, nicht aber von Grund auf erneuern wollen, haben es liberal-nationalstaatliche Autor*innen natürlich leichter, dem oben angebrachten Vorwurf realitätsferner Theoriebildung zu entgehen. Mehr noch, anders als ihre kosmopolitischen Kontrahent*innen, können sie zur Stützung ihrer Argumentation auf konkrete Entwicklungen in der Geschichte westlicher Migrations- und Mitgliedschaftspolitik verweisen. So lässt sich seit Beginn der 1990er Jahre in den meisten westlichen Demokratien ein Liberalisierungsprozess nachzeichnen, der mithilfe zahlreicher Maßnahmen, wie der Einführung des Geburtsortsprinzips (jus soli) oder der zunehmenden Toleranz doppelter Staatsbürgerschaften, den Zugang zum Bürger*innenstatus und damit die Integration von Immigrant*innen erleichterte.15 Trotz dieser unbestrittenen praktischen Vorteile muss liberal-nationalstaatlichen Denker*innen allerdings vorgeworfen werden, dass sie nur bedingt auf 13

Vgl. Miller (Fn. 6), S. 7. Vgl. Bauböck, Expansive Citizenship. Voting beyond Territory and Membership, PS: Political Science and Politics 38 (2005), S. 683; Rubio-Marín, Immigration as a Democratic Challenge. Citizenship and Inclusion in Germany and the United States, 2000. 15 Vgl. Joppke, Comparative Citizenship. A Restrictive Turn in Europe?, Law and Ethics of Human Rights 2 (2008), S. 1 (4); Morris, Managing Contradiction. Civic Stratification and Migrants’ Rights, International Migration Review 37 (2003), S. 74 (93). 14

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die Herausforderungen des Boundary Problems antworten. Schließlich fordert letzteres ja nicht primär, dass Nicht-Bürger*innen zusätzliche Rechte erhalten, sondern dass sie in die Gestaltung dieser Rechte einbezogen werden. Was auf den ersten Blick den Anschein philosophischer Erbsenzählerei erwecken mag, hat, bei genauerer Betrachtung, spürbare Auswirkungen in der Praxis. So zeigen zahlreiche Studien,16 dass der in den 1990er Jahren einsetzende Liberalisierungsprozess keineswegs linear verlief, sondern von einem Nebeneinander progressiver wie restriktiver Entwicklungen geprägt war. Bleibt man beim oben angesprochenen Staatsbürgerschaftsrecht lässt sich neben den erwähnten Liberalisierungsmaßnahmen in den letzten Jahren eine Gegenentwicklung beobachten, die mit der Einführung von Sprach- und Einbürgerungstests den Zugang zur Staatsbürgerschaft gerade für weniger qualifizierte Immigrant*innen erschwert.17 Wird die Entscheidungsgewalt in migrations- und mitgliedschaftspolitischen Fragen also ausschließlich auf der nationalen Ebene belassen, bleiben die Rechte von Nicht-Bürger*innen prekär. Sie können jederzeit von nationalstaatlichen Akteuren geändert werden und hängen deswegen vom Wohlwollen der nationalen Bürgerschaft ab. 3. Transnationale Antworten auf das Boundary Problem Um einen Mittelweg zwischen nationalstaatlichen und kosmopolitischen Positionen einzuschlagen und so ihre jeweiligen normativen wie praktischen Schwächen auszugleichen, lenken zahlreiche Autor*innen den Blick auf die transnationale Ebene. So schlägt beispielsweise Michael Saward die Errichtung transnationaler Deliberationsforen vor, die sich aus zufällig ausgewählten Staatsbürger*innen unterschiedlicher Länder zusammensetzen, um gemeinsame Positionen zu grenzüberschreitenden Problemen zu entwickeln.18 Explizite Anwendung auf Fragen der Grenzziehung findet die Idee transnationaler Deliberationsforen in Svenja Ahlhaus’ Vorschlag einer Boundary Assembly, die paritätisch mit Bürger*innen und ansässigen Nicht-Bürger*innen besetzt sein und zudem die Autorität besitzen soll, bindende Entscheidungen im Bereich nationaler Mitgliedschaftspolitik zu treffen.19 Ähnliche Absichten einer transnationalen Öffnung nationaler Deliberations- und Entscheidungsgremien verfolgt Philippe C. Schmitter mit seinem Vorschlag der gegenseitigen Repräsentation. Dieser fordert souveräne Nationalstaaten auf, sich gegenseitig Sitze in ihren jeweiligen Parlamenten zu reservieren, um ausländischen Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, auf potenzielle Externalitäten nationaler Entscheidun16 Vgl. Joppke (Fn. 15); Morris (Fn. 15); Mourão Permoser, Redefining Membership. Restrictive Rights and Categorisation in European Union Migration Policy, Journal of Ethnic and Migration Studies 43 (2017), S. 2536. 17 Vgl. Orgad, The Oxford Handbook of Citizenship, in: A. Shachar/R. Bauböck/I. Bloemraad/M. P. Vink, 2017, S. 337 (351 f.). 18 Vgl. Saward, Global Democracy, in: B Holden, 2000, S. 32 (40 f.). 19 Vgl. Ahlhaus, Die Grenzen des Demos. Mitgliedschaftspolitik aus Postsouveräner Perspektive, 2020, S. 220 ff.

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gen sowie deren Folgen für ihre Heimatländer hinzuweisen.20 Während Schmitter eine indirekte Wahl der gegenseitigen Vertreter*innen durch die Parlamente ihrer Ursprungsstaaten vorsieht, beruht Joachim Blatters Vorschlag einer konsoziierten Demokratie auf dem Prinzip direkter und diffuser Repräsentation. Als sogenannte konsoziierte Bürger*innen soll es individuellen Staatsbürger*innen möglich sein, für eine begrenzte Zahl frei bestimmter Länder Vertreter*innen zu wählen, die ihren Interessen in ausländischen Parlamenten Gehör verschaffen sollen.21 Auch wenn die beschriebenen transnationalen Reformvorschläge in ihrer institutionellen Ausgestaltung voneinander abweichen, teilen sie eine Gemeinsamkeit: Um den Fortbestand partikularer Gemeinwesen zu schützen, gleichzeitig aber den berechtigten Ansprüchen von Nicht-Bürger*innen institutionelle Geltung zu verschaffen, entwerfen sie ein System der geschwächten oder abgestuften Partizipation. Die Stimmen von Nicht-Bürger*innen haben entweder, wie in Sawards transnationalen Deliberationsforen,22 lediglich beratende Funktion oder sind, wie in Schmitters Beispiel einzelner ausländischer Abgeordneter, denen von inländischen Vertreter*innen zahlenmäßig unterlegen.23 Folgt man den einleitenden Ausführungen zum Boundary Problem, ist diese Abstufung allerdings schwer zu rechtfertigen. Schließlich zeigt letzteres ja gerade, dass Bürger*innen und Nicht-Bürger*innen Boundary-Entscheidungen gleichermaßen unterworfen sind und deswegen, zumindest prima facie, gleichen Anspruch auf Mitsprache haben. Vor diesem Hintergrund erscheint der von Sarah Song geäußerte Vorwurf primär symbolträchtiger Korrekturen legitim.24 Solange Nicht-Bürger*innen nur abgeschwächte Einflussmöglichkeiten besitzen, bleibt eine weitreichende Transformation bestehender Migrations- und Mitgliedschaftsregime unwahrscheinlich. Wie im weiteren Verlauf des Aufsatzes gezeigt wird, liegen die Probleme der hier besprochenen transnationalen Ansätze allerdings nicht in ihrer grundlegenden Stoßrichtung begründet. Während eine Transnationalisierung nationaler Migrations- und Mitgliedschaftspolitik einen gelungenen Mittelweg zwischen nationalstaatlichen und kosmopolitischen Positionen darzustellen verspricht, sind die bisherigen Ansät20

Vgl. Schmitter, Democracy’s Victory and Crisis, in: Hadenius (Hrsg.), Democracy’s Victory and Crisis, 1997, S. 297 (303 ff.). 21 Vgl. Blatter/Schulz, Intergovernmentalism and the Crisis of Representative Democracy. The Case for Creating a System of Horizontally Expanded and Overlapping National Democracies, European Journal of International Relations (2022), S. 1 (10 ff.). 22 In radikaleren Versionen seines Vorschlags schreibt Saward den transnationalen Deliberationsforen zwar Entscheidungskompetenz zu, unterwirft diese jedoch der Vetomacht nationaler oder regionaler Regierungen; vgl. Saward (Fn. 18), S. 41. 23 Für eine paritätische Besetzung des transnationalen Entscheidungsgremiums spricht sich von den hier diskutierten Autor*innen nur Ahlhaus aus, schränkt dabei jedoch gleichzeitig die Gruppe stimmberechtigter Nicht-Bürger*innen ein: Nur ansässige Nicht-Bürger*innen sind in der Boundary Assembly vertreten, die damit den Interessen der ebenfalls vom Externalitätsproblem betroffenen nicht-ansässigen Nicht-Bürger*innen keinen institutionellen Ausdruck verleihen kann, vgl. Ahlhaus (Fn. 19), S. 223. 24 Vgl. Song (Fn. 12), S. 64.

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ze schlicht nicht transnational genug. So wird zwar eine transnationale Öffnung bestehender Entscheidungsgremien gefordert, der eigentliche Entscheidungsprozess bleibt aber auf der nationalen Ebene verankert. Das Boundary Problem scheint nach dieser Lesart ein Problem zu sein, das sich an einzelne Demokratien richtet und deswegen einzeln oder separat von ihnen gelöst werden müsse. Versteht man das Boundary Problem, wie oben dargestellt, jedoch als allgemeines, der Demokratietheorie inhärentes Problem, wird klar, dass sich die von ihm formulierte Kritik an alle demokratischen Gemeinwesen gleichermaßen richtet und deswegen auch eine allgemeine, für alle gleichermaßen geltende Antwort verlangt. Anders formuliert: Das Boundary Problem fordert nicht nur eine Korrektur einzelner, sondern eine Korrektur aller Migrations- und Mitgliedschaftsregime und damit eine neue internationale Ordnung, die den gegenseitigen Externalitäten nationaler Grenzen und den daraus erwachsenen Interdependenzen Rechnung trägt.

III. Wer gehört zum Volk? Die Unionsbürgerschaft als transnationaler Lösungsansatz Folgt man der im vorigen Absatz formulierten Kritik müssen transnationale Antworten auf das Boundary Problem über eine bloße Transnationalisierung nationaler Demokratien hinausgehen und eine Demokratisierung der transnationalen Ebene bewirken. Um allgemeine, für alle gleichermaßen geltende Korrekturen ihrer Grenzen zu bestimmen, müssen nationale Staatsvölker in grenzüberschreitende Entscheidungsprozesse eintreten und damit migrations- und mitgliedschaftspolitische Kompetenzen von der nationalen auf die transnationale Ebene verlagern. Mit anderen Worten: Anstatt ihre Volksgrenzen unabhängig voneinander zu reformieren, müssen sie sich auf allgemein verbindliche Reformen und damit auf ein gemeinsames Bündel an Rechten einigen, das sie ihren jeweiligen Bürger*innen gegenseitig zugestehen. Ein derart verstandener transnationaler Ansatz, der den Entscheidungsprozess nicht nur für transnationalen Einfluss öffnet, sondern ihn selbst auf die transnationale Ebene verlagert, schlägt, so die im Rest des Aufsatzes vertretene These, einen gelungenen Mittelweg zwischen nationalen und globalen Positionen ein. Er ermöglicht es, Nicht-Bürger*innen gleichberechtigt an der Gestaltung ihrer Rechte teilhaben zu lassen, ohne dadurch den Fortbestand nationaler Demokratien zu gefährden und trägt auf diese Weise zu einer Versöhnung von demokratischer Theorie und Praxis bei. Um diese These zu untermauern, widmet sich der folgende Teil einem ersten Beispiel transnational definierter Migrations- und Mitgliedschaftspolitik, nämlich der in den Europäischen Verträgen verankerten Unionsbürgerschaft. Dazu wird zunächst der transnationale Charakter der Unionsbürgerschaft herausgearbeitet, bevor in einem zweiten Schritt untersucht wird, inwieweit sie den oben erwähnten doppelten Anspruch erfüllt, also Nicht-Bürger*innen in die Gestaltung ihrer Rechte einbezieht, ohne dadurch die Existenz bestehender Demokratien zu gefährden. Abschließend wird auf mögliche Einwände eingegangen und das der Unionsbürgerschaft zugespro-

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chene demokratische Potenzial gegenüber Kritik seitens alternativer Lösungsansätze verteidigt. 1. Die Unionsbürgerschaft als Quelle transnationaler Rechtsgarantien Der Vorschlag, die Unionsbürgerschaft als Quelle transnationaler Rechtsgarantien zu verstehen, ist sicherlich umstritten. Schließlich war mit ihrer Einführung der Wunsch verbunden, eine allen EU-Bürger*innen gemeinsame und damit supranationale Bürgerschaft zu errichten, die ihre Beziehungen zu den Organen der EU regelt. Und in der Tat lässt sich die Unionsbürgerschaft in einer ersten Lesart auch als supranationales Rechtssystem, das heißt als vertikale Rechtsbeziehung zwischen der EU und ihren einzelnen Bürger*innen beschreiben. Geregelt wird diese Beziehung von Artikel 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der allen EU-Bürger*innen Rechte gegenüber den Institutionen der EU einräumt und sie so zum Beispiel ermächtigt, an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen (Art. 20(2)(b) AEUV). Würde sich die Unionsbürgerschaft allerdings auf die wenigen in Artikel 20 AEUV aufgelisteten Rechte beschränken, müsste man dem immer wieder vorgebrachten Vorwurf ihrer Substanzlosigkeit uneingeschränkt zustimmen. Sie würde ihren Träger*innen nur minimale Zusatzrechte bieten und in deren Alltag deswegen kaum von Bedeutung sein. Dieser Kritik kann jedoch begegnet werden, indem man auf eine zweite Form von Rechten verweist, die EU-Bürger*innen in Anspruch nehmen können. Neben Rechten gegenüber den Organen der EU spricht die Unionsbürgerschaft ihnen nämlich auch Rechte gegenüber anderen Mitgliedstaaten zu. Möchte man die verschiedenen Elemente dieser zweiten, nun horizontal statt vertikal ausgerichteten Rechtsbeziehung systematisieren, können zwei Rechtsarten, nämlich Mobilitäts- und Teilhaberechte, unterschieden werden. Dank der von der Unionsbürgerschaft gewährten Mobilitätsrechte genießen EU-Bürger*innen die Freiheit, sich innerhalb der EU uneingeschränkt zu bewegen, also ohne vorheriges Ansuchen in andere Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort, bei Wunsch auch dauerhaft, niederzulassen.25 Machen sie von dieser Freiheit Gebrauch, wird das zweite Rechtsbündel, nämlich die europäischen Teilhaberechte, aktiviert. Letztere ermöglichen es Unionsbürger*innen in ihren jeweiligen Aufenthaltsstaaten eine Reihe von Privilegien und Leistungen in Anspruch zu nehmen, die ursprünglich der nationalen Bevölkerung vorbehalten waren. Eine besondere Rolle spielt dabei Artikel 18 AEUV, der EU-Bürger*innen vor Benachteiligungen aufgrund ihrer Nationalität schützt und dadurch die Grundlage dafür schafft, dass sie in weiten Teilen gleichberechtigt am sozioökonomischen

25 Gemäß Artikel 7 2004/38/EG ist das Recht, sich in einem anderen EU-Staat niederzulassen ab einer Aufenthaltsdauer von mehr als drei Monaten jenen EU-Bürger*innen vorbehalten, die finanziell unabhängig sind und über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügen.

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sowie, hier allerdings deutlich begrenzter,26 am politischen Leben ihres Aufenthaltslandes teilhaben können.27 Vergleicht man nun die Rechte, die EU-Bürger*innen in anderen Mitgliedstaaten besitzen, mit jenen, die sie gegenüber den Organen der EU geltend machen können, so lassen sich zwei Unterschiede festhalten: Im Gegensatz zu den in Artikel 20 AEUV aufgelisteten supranationalen Rechten sind die in anderen EU-Staaten einklagbaren Rechtsgarantien zum einen deutlich umfangreicher, kommen zum anderen allerdings weniger Unionsbürger*innen zugute. Schließlich können Rechte, die in anderen Mitgliedstaaten wirksam werden, nur von jenen in Anspruch genommen werden, die ihre Heimat verlassen, um entweder temporär oder dauerhaft in einem anderen EU-Land zu leben.28 Werden beide Unterschiede zusammengefasst, muss die erste Lesart der Unionsbürgerschaft als supranationale Bürgerschaft in Zweifel gezogen werden. Anstatt neue, gesamteuropäische Volksgrenzen zu konstituieren, trägt sie vielmehr zu einer Transformation bestehender, das heißt bereits konstituierter Volksgrenzen bei. Entgegen der ursprünglichen Intention ihrer Erschaffer begründet sie also keine originäre, allen EU-Bürger*innen einheitliche Rechte garantierende supranationale Bürgerschaft, sondern bewirkt durch die oben skizzierten grenzüberschreitenden Mobilitäts- und Teilhaberechte eine wechselseitige Öffnung nationaler Bürgerschafts- und Migrationsregime, die, obgleich von der supranationalen Ebene koordiniert, erst im Rahmen transnationaler Kooperation ihre konkrete Umsetzung findet29.30

26 Gemäß Artikel 20 AEUV können EU-Bürger*innen in anderen Mitgliedstaaten nur an Kommunalwahlen sowie den Wahlen zum Europäischen Parlament, nicht aber an nationalen Wahlen teilnehmen. 27 Vgl. Kadelbach, Principles of European Constitutional Law, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.), Principles of European Constitutional Law, 2. Aufl. 2011, S. 443 (461 ff.). 28 Vgl. Bauböck, Integration durch Demokratie, in: Antalovsky/Melchior/Puntscher Riekmann (Hrsg.), Integration durch Demokratie, 1997, S. 297 (312). 29 Vgl. Olsen, Transnational Citizenship in the European Union. Past, Present, and Future, 2013, S. 134 ff. 30 Die Diskussion, wie die Unionsbürgerschaft konzeptuell einzuordnen ist, ist in der Literatur bis heute nicht abschließend geklärt. Espen D. H. Olsen folgend schließt sich dieser Aufsatz einer transnationalen, das heißt grenzüberschreitenden, Interpretation an, die auf den Weder-Noch-Charakter der Unionsbürgerschaft hinweist. Demnach weicht die Unionsbürgerschaft zwar vom klassischen und damit statischen Modell nationalstaatlicher Bürgerschaft ab, weist aber auch keine vollständige Loslösung von der nationalstaatlichen Ebene auf, wie dies Befürworter*innen einer supranationalen Lösung, das heißt einer freistehenden europäischen Bürgerschaft fordern. Ihr zentraler Mehrwert liegt, wie oben beschrieben, in den von ihr garantierten grenzüberschreitenden Rechten, welche dazu beitragen, dass nationalstaatliche Grenzen innerhalb der EU an Bedeutung verlieren, ohne gänzlich bedeutungslos zu werden. Genau wie die EU als Ganzes, die sowohl transnationale als auch supranationale Elemente und Institutionen aufweist, schließt die hier diagnostizierte primär transnationale Wirkweise der Unionsbürgerschaft die Existenz supranationaler Elemente allerdings nicht aus, vgl. Olsen (Fn. 29).

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2. Die Unionsbürgerschaft als Beispiel transnationaler Migrationsund Mitgliedschaftspolitik Wie im vorigen Abschnitt aufgezeigt, ging mit der Einführung der Unionsbürgerschaft eine Transformation nationaler Migrations- und Mitgliedschaftsregime einher. Indem sie Bürger*innen anderer EU-Staaten Mobilitäts- und Teilhaberechte zusprach, die ehemals einheimischen Bürger*innen vorbehalten waren, verringerte die Unionsbürgerschaft die Rechtsunterschiede zwischen beiden Bevölkerungsgruppen und reformierte auf diese Weise die Mitgliedschaftsgrenzen aller beteiligten europäischen Staaten. Um zu sehen, inwieweit diese Rekonstitution bestehender Volksgrenzen eine Antwort auf das Boundary Problem bildet, muss der Blick im Folgenden von den einzelnen Unionsrechten auf den Prozess ihrer Genese gelenkt und untersucht werden, inwieweit dieser die im zweiten Abschnitt aufgestellte doppelte Bedingung demokratischer Legitimität erfüllt. Sind die von der Unionsbürgerschaft garantierten Rechte das Ergebnis eines transnationalen Entscheidungsprozesses, der, erstens, Bürger*innen und Nicht-Bürger*innen gleiche Einflussmöglichkeiten einräumt und, zweitens, mit dem Fortbestand nationaler Gemeinwesen vereinbar ist? Vergleicht man die bisher diskutierten transnationalen Reformvorschläge mit dem der Unionsbürgerschaft zugrundeliegenden Gesetzgebungsprozess fällt ein zentraler Unterschied ins Auge: Anstatt das grenzüberschreitende Element, das alle Ansätze als transnational kennzeichnet, in nationale Gesetzgebungsverfahren einzugliedern, verlagert die Unionsbürgerschaft Entscheidungen zur Migrations- und Mitgliedschaftspolitik selbst auf die transnationale Ebene. Die Rechte, die EU-Bürger*innen seit Einführung der Unionsbürgerschaft in anderen Mitgliedstaaten besitzen, werden nicht mehr in den nationalen Parlamenten ihres jeweiligen Aufenthaltslands, sondern in gemeinsamen und damit transnationalen Entscheidungsverfahren bestimmt. Geregelt werden diese Verfahren von Artikel 25 AEUV, der für Änderungen der in den Europäischen Verträgen verankerten Unionsrechte ein besonderes Gesetzgebungsverfahren vorschreibt. Nachträgliche Ergänzungen müssen demnach nicht nur einstimmig vom Rat der Europäischen Union beschlossen werden, sondern auch die Zustimmung des Europäischen Parlaments erhalten, das entsprechende Vorschläge mit absoluter Mehrheit annehmen oder ablehnen, nicht aber abändern kann. Überprüft man nun, inwieweit dieser auf den ersten Blick komplexe Gesetzgebungsprozess die doppelte Bedingung legitimer Migrations- und Mitgliedschaftspolitik erfüllt, wird das Interesse dieses Aufsatzes für die Unionsbürgerschaft deutlich. Mit Blick auf die erste Bedingung, die für Nicht-Bürger*innen gleiche Mitsprachemöglichkeiten bei der Gestaltung ihrer Rechte fordert, kann zunächst festgehalten werden, dass nationale Bürgerschaften mit Einführung der Unionsbürgerschaft die alleinige Hoheit über ihre Volksgrenzen verloren haben. Zwar war auch mit den im zweiten Abschnitt vorgestellten transnationalen Reformvorschlägen ein gewisser Souveränitätsverlust nationaler Entscheidungsgremien verbunden. Allerdings unterscheidet sich die Unionsbürgerschaft dadurch, dass sie ihren Träger*innen nicht

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nur zusätzliche, sondern gleichberechtigte Einflussmöglichkeiten bei der Gestaltung ihrer Rechte einräumt. Schließlich können alle EU-Bürger*innen in gleichem Maße an europäischen Gesetzgebungsverfahren teilhaben und damit die Migrations- und Mitgliedschaftspolitik anderer EU-Staaten mitbestimmen. Genau wie die eingangs skizzierte kosmopolitische Position erfüllt die Unionsbürgerschaft folglich die erste Bedingung legitimer Grenzpolitik. Sie öffnet nationale Migrations- und Mitgliedschaftsregime für den gleichberechtigten Einfluss von Nicht-Bürger*innen und überwindet damit deren aus demokratietheoretischer Sicht nicht zu rechtfertigende Exklusivität.31 Im klaren Gegensatz zu den vermuteten Folgen kosmopolitischer Reformvorschläge wurde die Rechtsungleichheit zwischen nationalen Bürger*innen und EUBürger*innen mit Einführung der Unionsbürgerschaft allerdings nicht gänzlich überwunden und damit der Fortbestand nationaler Gemeinschaften nicht in Frage gestellt. Warum also nutzen EU-Bürger*innen ihre neu gewonnenen Einflussmöglichkeiten nicht, um in anderen Mitgliedstaaten die gleichen Rechte einzufordern, die einheimische Bürger*innen in Anspruch nehmen können? Um diese Frage zu beantworten, hilft es, sich den spezifischen Charakter der EU vor Augen zu führen. Letztere ist weder Staat noch Staatenbund und stellt damit besondere Legitimationsanforderungen an gemeinschaftliches politisches Handeln. So sind supranationale, europäische Rechtsakte – im Gegensatz zur gängigen Praxis von Staatenbünden – zwar unmittelbar für alle Mitgliedstaaten bindend, können ihre Legitimität aufgrund der Abwesenheit eines gesamteuropäischen Staatsvolkes oder Demos jedoch nicht einfach aus Mehrheitsentscheidungen speisen. Anstelle einer europäischen Demokratie sprechen zahlreiche EU-Expert*innen deswegen von einer europäischen Demoi-kratie, einer „Union of peoples, understood both as states and as citizens, who govern together, but not as one“32.33 Um trotz fehlender nationaler Einheit allgemeinverbindliche Regeln aufzustellen, beruhen demoi-kratische Entscheidungsprozesse auf einer zentralen Verfahrensnorm, nämlich jener der Gegenseitigkeit oder Reziprozität. Gesamteuropäische Entscheidungen werden nicht nur von allen europäischen Staatsvölkern oder Demoi gemeinsam getroffen, sie sind auch für alle beteiligten Parteien gleichermaßen bindend. Macht man sich diesen notwendigerweise reziproken Charakter aller EU-weiten Beschlüsse klar, wird deutlich, warum die Existenz separater Nationalstaaten trotz ihres Souveränitätsverlusts bei migrations- und mitgliedschaftspolitischen Fragen in der 31 Aus Argumentationsgründen ist die hier vorgeschlagene Rekonstruktion der Unionsbürgerschaft zunächst idealisierend, bevor im vierten Teil auf Abweichungen zwischen Theorie und Praxis eingegangen wird. 32 Nicolaïdis, European Demoicracy and Its Crisis, Journal of Common Market Studies 51 (2013), S. 351 (353). 33 Neben Kalypso Nicolaïdis siehe unter anderem: Cheneval/Schimmelfennig, The Case for Demoicracy in the European Union, Journal of Common Market Studies 51 (2013), S. 334 und Bellamy, A Republican Europe of StateS. Cosmopolitanism, Intergovernmentalism and Democracy in the EU, 2019.

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EU nicht gefährdet ist. Zwar können alle EU-Bürger*innen, wie wir gesehen haben, ihre Rechte in anderen EU-Ländern selbst mitbestimmen, allerdings sind sie nicht nur Nutznießer*innen, sondern auch Adressat*innen dieser neuen Rechtsgarantien. Alle Privilegien, die sie folglich in anderen Mitgliedstaaten erhalten, müssen sie in ihrer eigenen Heimat auch mit allen anderen EU-Bürger*innen teilen. Auch wenn es auf den ersten Blick also im Sinne aller EU-Bürger*innen sein müsste, in anderen Mitgliedstaaten die gleichen Rechte wie nationale Bürger*innen einzufordern, ist mit ihrer doppelten Rolle als Träger*innen und Adressat*innen der Unionsrechte ein doppeltes Interesse verbunden. So steht ihrem Interesse an einer Stärkung der Unionsbürgerschaft ein gleichberechtigtes Interesse am Schutz der heimischen demokratischen Ordnung gegenüber, das einer völligen Aufhebung aller Rechtsunterschiede zuwiderläuft. Institutionellen Ausdruck erhält diese doppelte Rollen- und damit Interessenskonstellation durch das Zusammenspiel von Rat und Parlament, die gemeinsam für die Gestaltung der Unionsbürgerschaft Verantwortung tragen. Während das intergouvernementale Gremium des Rates jene Interessen repräsentiert, die EU-Bürger*innen in ihrer Rolle als Mitglieder nationaler Gemeinschaften besitzen, vertritt das supranational organisierte Europäische Parlament seine Wähler*innen in ihrer Rolle als individuelle Bürger*innen und damit als potenzielle Nutznießer*innen der mit der Unionsbürgerschaft einhergehenden transnationalen Rechte.34 Bedenkt man folglich dieses doppelte Rollen- und Interessensgefüge, das in der Interaktion von Rat und Parlament zum Ausdruck kommt, kann davon ausgegangen werden, dass Unionsbürger*innen trotz ihrer mit Einführung der Unionsbürgerschaft neu gewonnenen Gestaltungsmöglichkeiten auch in Zukunft nur so viele grenzüberschreitende Freiheiten einfordern werden, wie mit den Funktionsbedingungen demokratischer Gemeinwesen vereinbar sind. 3. Die Vorteile transnationaler europäischer Migrationsund Mitgliedschaftspolitik aus praktischer Sicht Folgt man ihrer in diesem Aufsatz vorgeschlagenen Rekonstruktion, liegt der Schluss nahe, die Unionsbürgerschaft als demokratische Innovation zu bezeichnen. Indem sie die Definition grenzüberschreitender Mobilitäts- und Teilhaberechte auf die transnationale Ebene verlagert, ermöglicht sie es allen EU-Bürger*innen, die Volksgrenzen anderer Mitgliedstaaten mitzugestalten und bietet damit eine Antwort auf das Externalitätsproblem nationaler Migrations- und Mitgliedschaftsentscheidungen. In der bestehenden Literatur findet man für dieses Argument jedoch nur wenig Unterstützung. So ist es gerade die demokratische Komponente der Unionsbürgerschaft, die sowohl ihre Kritiker*innen als auch ihre Befürworter*innen immer wieder ins Zentrum der Diskussion rücken.35 Der zentrale Vorwurf lässt sich dabei in weiten Teilen als Antithese der hier vorgebrachten Argumentation lesen: Trotz ihres 34

Vgl. Bellamy (Fn. 33), S. 114 ff. Für eine Übersicht der Diskussion siehe Bauböck (Hrsg.), Debating European Citizenship, 2019, Teil 1. 35

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historisch einmaligen Potenzials, eine neue Antwort auf die Frage ,Wer gehört zum Volk?‘ zu entwickeln, habe die Unionsbürgerschaft die Chance verpasst, die Exklusivität nationalstaatlicher Demokratien zu überwinden. Schließlich sind mobile EUBürger*innen nur auf kommunaler und europäischer, nicht aber auf nationaler Ebene stimmberechtigt und damit weitestgehend vom politischen Leben ihres Aufenthaltslandes ausgeschlossen. Eine zentrale Rolle spielt diese Kritik, wie wir gesehen haben, in der einflussreichen Position liberal-nationalstaatlicher Denker*innen. Um die problematische Exklusivität bestehender Nationalstaaten zu überwinden, fordern sie letztere auf, allen langfristig ansässigen Immigrant*innen ein Recht auf Einbürgerung und damit auf gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben zuzusprechen. Verglichen mit liberal-nationalstaatlichen Reformvorschlägen orientiert sich die Unionsbürgerschaft hingegen nicht an einem unabhängigen, vordefinierten Bürgerschaftsideal, sondern überlässt die Definition ihrer Rechte der gemeinsamen Entscheidung aller europäischen Völker und damit indirekt ihren Träger*innen selbst. Entsprechend dieser Lesart beruht der demokratische Wert der Unionsbürgerschaft nicht auf dem Umfang ihrer Rechte, sondern auf der Inklusivität des vorgelagerten Entscheidungsverfahrens. Mit anderen Worten: Auch wenn die begrenzten Wahlrechte mobiler EU-Bürger*innen aus substanzieller Sicht bedauerlich erscheinen, können sie aus prozeduraler Sicht gerechtfertigt werden. Sie wurden von allen relevanten Parteien, nämlich ihren Träger*innen wie Adressat*innen, gemeinsam beschlossen und sind deswegen mit deren individueller Freiheit vereinbar. Aus der Perspektive einzelner Immigrant*innen, in diesem Fall mobiler EU-Bürger*innen, scheint diese Argumentation auf den ersten Blick natürlich wenig überzeugend. Schließlich sind es die konkreten Rechte, die sie im Aufenthaltsland besitzen, und nicht ihre Möglichkeit, diese Rechte mitzugestalten, die für ihre Integration entscheidend sind. Warum also auf die Inklusivität des Entscheidungsverfahrens pochen anstelle, so wie liberal-nationalstaatliche Denker*innen, die Inklusivität der Entscheidung, also die Inklusivität nationaler Migrations- und Mitgliedschaftsregime, anzustreben? Warum, anders formuliert, die Demokratietheorie zu Rate ziehen, anstatt die Frage ,Wer gehört zum Volk?‘ mit Hilfe gängiger Gerechtigkeitstheorien zu beantworten? Der Grund liegt in der eingangs kritisierten Instabilität nationalstaatlich verabschiedeter Reformen bestehender Migrations- und Mitgliedschaftsregime. Auch wenn diese die Rechte von Migrant*innen stärken und damit ihre Rechtsungleichheit verringern können, setzen sie deren Rechtsunsicherheit unverändert fort. Schließlich können nationale Mehrheiten – solange sie die alleinige Verfügungsgewalt über die Rechte von Immigrant*innen innehaben – nicht nur Reformen zu ihrer Stärkung erlassen, sondern diese Reformen nach Belieben auch wieder revidieren. Mehr noch, auch wenn eine gewisse Instabilität allen demokratischen Beschlüssen innewohnt und damit charakteristisch für demokratisch organisierte Gemeinwesen ist, zeichnen sich Entscheidungen zur Migrations- und Mitgliedschaftspolitik durch eine besonde-

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re Anfälligkeit für nachträgliche Restriktionen aus. Schließlich betreffen letztere in erster Linie Immigrant*innen, die keine Stimmrechte besitzen und deswegen keine Sanktionsgewalt ausüben können. Verbleiben Entscheidungen zur Migrations- und Mitgliedschaftspolitik also in der alleinigen Hoheitsgewalt nationalstaatlicher Akteure, können letztere die Rechte von Immigrant*innen nicht nur unilateral, sondern auch ohne merkliche Beeinträchtigung für ihre eigene Wählerschaft beschneiden und besitzen damit ein strategisch gesehen günstiges Instrument, um periodisch aufflammenden Ressentiments in der heimischen Bevölkerung zu begegnen. Natürlich sind Änderungen, wie wir gesehen haben, auch im Rahmen der Unionsbürgerschaft möglich, allerdings schneidet letztere mit Blick auf die Rechtssicherheit mobiler EU-Bürger*innen besser ab. So kann eine Reform der Unionsrechte weder unilateral von einzelnen Mitgliedstaaten noch ohne Kosten für die eigene Bürgerschaft beschlossen werden. Da die grenzüberschreitenden Teilhabe- und Mobilitätsrechte von EU-Bürger*innen auf transnationaler Ebene und damit von allen Mitgliedstaaten gemeinsam festgelegt werden, können sie auch nicht ohne Zustimmung aller anderen EU-Staaten geändert oder reformiert werden. Bleibt eine derartige Zustimmung aus, steht europäischen Regierungen nur eine Option offen, um sich ihren Verpflichtungen gegenüber anderen EU-Bürger*innen zu entziehen: Sie müssen die EU verlassen und damit in Kauf nehmen, dass auch ihre eigenen Bürger*innen die von der Unionsbürgerschaft garantierten Freiheitsrechte verlieren. Bezieht man Überlegungen zur Stabilität der gewährten Rechte in den Vergleich unterschiedlicher Reformvorschläge ein, muss die zunächst vermutete praktische Überlegenheit des liberal-nationalstaatlichen Ansatzes in Frage gestellt werden. Auch wenn die Unionsbürgerschaft mit Blick auf die mit ihr verbundenen Rechte hinter liberal-nationalstaatlichen Forderungen zurückbleibt, genießen diese Rechte einen höheren politischen Schutz. Sie hängen nicht mehr vom Wohlwollen nationaler Regierungen ab, sondern besitzen ihre eigene Legitimationsgrundlage und sind damit besser vor Änderungen im politischen Klima einzelner Mitgliedstaaten und daraus resultierenden migrationspolitischen Richtungswechseln geschützt.

IV. Wer gehört zum Volk? Verbleibende Boundary-Debatten in und jenseits der EU Anhand der Rekonstruktion der Unionsbürgerschaft als erstem Beispiel transnationaler Migrations- und Mitgliedschaftspolitik konnten die eingangs diskutierten transnationalen Reformvorschläge erweitert werden. Um einen Mittelweg zwischen nationalen und globalen Positionen aufzuzeigen, der dem Vorwurf reiner Symbolpolitik entgeht, bedarf es nicht nur einer Transnationalisierung nationaler Demokratien, das heißt einer Ergänzung nationaler Entscheidungsprozesse um transnationale Elemente, sondern einer Demokratisierung transnationaler Politik. Fragen der Migrations- und Mitgliedschaftspolitik müssen der alleinigen Entscheidungsgewalt nationalstaatlicher Akteure entzogen und gemeinschaftlich von unterschiedlichen Völ-

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kern oder Demoi in demokratischen, grenzüberschreitenden Entscheidungsverfahren geregelt werden. Abstrahiert man von den bisherigen Ausführungen zur Unionsbürgerschaft, können die eingangs formulierten Bedingungen legitimer Migrations- und Mitgliedschaftspolitik präzisiert werden. Um Nicht-Bürger*innen in die Gestaltung ihrer Rechte einzubeziehen, ohne dadurch den Fortbestand partikularer Gemeinwesen zu gefährden, müssen migrations- und mitgliedschaftspolitische Entscheidungen, erstens, transnational und, zweitens, reziprok sein, das heißt das Ergebnis grenzüberschreitender demokratischer Aushandlungen bilden, die für alle Parteien gleichermaßen bindend sind. Wendet man diese Kriterien in ihrer abstrahierten Form nun erneut auf die Migrations- und Mitgliedschaftspolitik europäischer Mitgliedstaaten an, können neben den beschriebenen Übereinstimmungen auch Abweichungen identifiziert werden, die auf weiteren Reformbedarf hinweisen. Welche Forderungen richtet das hier entwickelte Ideal transnationaler Migrations- und Mitgliedschaftspolitik also konkret an europäische Staaten? Welche Verpflichtungen, um auf unsere Ausgangsfrage zurückzukommen, haben wir gegenüber Nicht-Bürger*innen? Schließt man sich der vorgeschlagenen Rekonstruktion der Unionsbürgerschaft an, haben alle Mitgliedstaaten ihre demokratischen Verpflichtungen zumindest gegenüber einer Gruppe an Immigrant*innen, nämlich mobilen EU-Bürger*innen, erfüllt. Ihre Rechte werden, wie wir gesehen haben, vom Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament und damit in transnationalen, reziproken Entscheidungsverfahren bestimmt. Bei genauerer Betrachtung lassen sich jedoch schnell Unterschiede zwischen der in Teilen idealisierenden Rekonstruktion der Unionsbürgerschaft und ihrer tatsächlichen politischen Praxis identifizieren. So weist die dominante Rolle des Rates, der allein für die inhaltliche Ausgestaltung der Unionsbürgerschaft verantwortlich ist und dem Europäischen Parlament lediglich Veto-Rechte einzuräumen hat, auf den stärker intergouvernementalen als transnationalen Charakter des grenzüberschreitenden Entscheidungsprozesses hin. In Folge sind die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten individueller EU-Bürger*innen begrenzt, weswegen anzunehmen ist, dass die Unionsbürgerschaft mehr von den kollektiven Interessen der Mitgliedstaaten als den individuellen Bedürfnissen ihrer Bürger*innen geprägt ist. Geht man wie dieser Aufsatz jedoch davon aus, dass die Legitimität der Unionsbürgerschaft auf einem Ausgleich individueller und kollektiver Interessen und damit auf ihrer Fähigkeit beruht, zwischen nationalstaatlichen und kosmopolitischen Positionen zu vermitteln, ist weiterer Reformbedarf nötig. So lässt sich auch mit Blick auf die demokratische Legitimität innereuropäischer Volksgrenzen die in der EU-Literatur seit Jahren formulierte Forderung nach einer Demokratisierung europäischer Politik und damit einer stärkeren Einbeziehung individueller Bürger*innen unterstreichen. Nur wenn den direkt gewählten Organen, also den nationalen Legislativen sowie dem Europäischen Parlament, eine stärkere Rolle bei der Gestaltung der Unionsbürgerschaft zukommt, können EU-Bürger*innen tatsächlichen Einfluss auf ihre Rechte nehmen und damit die Legitimität nationaler Migrations- und Mitgliedschaftsregime stärken.

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Doch auch wenn die Unionsbürgerschaft dem hier vorgezeichneten Ideal transnationaler Migrations- und Mitgliedschaftspolitik vollends entspräche, ist klar, dass sie nur eine partielle Antwort auf das Boundary-Problem und die von ihm angeprangerten Externalitätsprobleme moderner Demokratien bieten kann. Schließlich sind alle Drittstaatangehörigen, also Immigrant*innen aus Ländern außerhalb der EU, von der Unionsbürgerschaft und den mit ihr einhergehenden transnationalen Mobilitäts- und Teilhaberechten ausgeschlossen. Anstatt die Rechtsungleichheiten zwischen Bürger*innen und Nicht-Bürger*innen generell in Frage zu stellen, führt die Unionsbürgerschaft folglich eine aus demokratietheoretischer Sicht nicht minder problematische Unterscheidungsebene ein, nämlich jene zwischen EU-internen und EU-externen Immigrant*innen.36 Während erstere an der Gestaltung ihrer eigenen Rechte mitwirken können und dadurch einen vergleichsweise hohen Rechtsschutz genießen, sind letztere vom Wohlwollen ihres Gastlandes abhängig und werden demzufolge nicht nur gegenüber der einheimischen Bevölkerung, sondern auch gegenüber anderen, nämlich EU-internen Immigrant*innen, benachteiligt. Den bisherigen Ausführungen entsprechend liegt die Antwort auf diesen verbleibenden Missstand nahe: Um nicht nur EU-Bürger*innen, sondern alle Nicht-Bürger*innen in die Gestaltung ihrer Rechte einzubeziehen, müsste der der Unionsbürgerschaft zugrundeliegende transnationale Entscheidungsprozess über seinen aktuellen europäischen Kontext hinaus erweitert werden und letzten Endes globale Ausmaße annehmen. Angesichts der gewaltigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten, die weltweit herrschen, sowie der daraus resultierenden Spannungen und Konflikte, kommen allerdings schnell Zweifel an der Realisierbarkeit einer universell verbindlichen transnationalen Migrations- und Mitgliedschaftspolitik auf. Doch auch wenn eine globale Ausdehnung der Unionsbürgerschaft keine praktische Lösung für die gegenwärtige Benachteiligung von Drittstaatangehörigen darstellt, richtet sie als normatives Ideal eine Reihe lang-, mittelund kurzfristiger Forderungen an die EU, mit denen der Willkür ihrer Migrationsund Mitgliedschaftspolitik entgegengewirkt werden kann. So gilt es langfristig weltweite Ungleichheiten zu reduzieren, um demokratische Lösungen möglich zu machen. Dem Kampf für globale Gerechtigkeit kommt damit eine zentrale demokratietheoretische Bedeutung zu. Nur wenn bestehende Machtgefälle überwunden werden, können unterschiedliche Völker in gleichberechtigte Verhandlungen eintreten und auf diese Weise eine gegenseitige Demokratisierung ihrer Mitgliedschaftsgrenzen bewirken. Da dieses Ziel vorerst nur im Rahmen regionaler Kooperation realisierbar erscheint, kommt der EU auf mittlere Sicht die Aufgabe zu, den nachbarschaftlichen Ausbau der Unionsbürgerschaft zu fördern, das heißt sich aktiv um neue Beitrittsländer zu bemühen und sie bei der Erfüllung der europäischen Aufnahmekriterien zu unterstützen. Genauso wie der Kampf für globale Gerechtigkeit hat die Förderung von Demokratie und Wohlstand in der Region eine legitimi36 Vgl. Benhabib, Citizens, Residents and Aliens in a Changing World. Political Membership in the Global Era, Social Research 66 (1999), S. 709 (716).

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tätssteigernde Funktion. Sie bereitet den Weg für zukünftige Erweiterungen und damit für eine progressive Ausdehnung des der Unionsbürgerschaft innewohnenden demokratischen Potenzials. Auf kurzfristige Sicht bieten allerdings weder Bemühungen um globale Gerechtigkeit noch um zukünftige Beitrittsverhandlungen eine Lösung für die Ungleichbehandlung, die alle Drittstaatangehörigen aktuell in ihren Gastländern erfahren. Ähnlich wie liberal-nationalstaatliche Ansätze spricht sich dieser Aufsatz deswegen für eine unilaterale, allerdings gesamteuropäische Lösung aus, nämlich für eine Ausdehnung der mit der Unionsbürgerschaft einhergehenden Teilhaberechte auf alle langfristig ansässigen Immigrant*innen. Zwar wird dieser Vorschlag, der Drittstaatangehörigen lediglich Rechte, nicht aber die Möglichkeit gewährt, diese Rechte mitzugestalten, das Externalitätsproblem bestehender Migrations- und Mitgliedschaftsregime nicht lösen. Allerdings kann er, anders als bereits zu beobachtende Rechtsangleichungen auf nationaler Ebene, eine derivative Form demokratischer Legitimität beanspruchen. Die mit der Unionsbürgerschaft einhergehenden Rechte sind schließlich jene Rechte, die Bürger*innen aus 27 unterschiedlichen Nationen als derart bedeutend für ihre individuelle Freiheit betrachten, dass sie sie in anderen Mitgliedstaaten besitzen möchten und deswegen auch anderen EU-Bürger*innen in ihrer eigenen Heimat zu gewähren bereit sind. Es sind, mit anderen Worten, demokratisch definierte Nicht-Bürger*innen-Rechte, die aufgrund dieser Eigenschaft auch ausnahmslos allen Nicht-Bürger*innen zuteilwerden sollten.

V. Schluss Die Frage ,Wer gehört zum Volk?‘ stellt alle modernen Demokratien vor ein Dilemma: Auch wenn sie zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern unterscheiden müssen, läuft diese Unterscheidung zwangsläufig grundlegenden demokratischen Werten zuwider. Die Unmöglichkeit, demokratisch legitime Entscheidungen über die Aufnahme und Integration von Immigrant*innen zu treffen, zeigt allerdings nicht die Grenzen der Demokratietheorie, sondern vielmehr ihre grenzüberschreitende Reichweite an: Sie verpflichtet uns, unsere Volksgrenzen gegenüber Nicht-Bürger*innen zu rechtfertigen. Um dieser Rechtfertigungspflicht nachzukommen, plädiert dieser Aufsatz für eine Transnationalisierung nationaler Migrations- und Mitgliedschaftspolitik. Die Rechte von Immigrant*innen müssen der alleinigen Entscheidungsgewalt nationalstaatlicher Akteure entzogen und auf transnationaler Ebene, das heißt von unterschiedlichen Völkern in gegenseitig bindenden Vereinbarungen, festgelegt werden. Erste Ansätze einer derart verstandenen transnationalen Migrations- und Mitgliedschaftspolitik finden sich im Kontext der Europäischen Union. Vermittelt über ihre jeweiligen Vertreter*innen im Rat und Europäischen Parlament können alle EU-Bürger*innen Einfluss auf die Gestaltung der Unionsbürgerschaft und damit auf ihre Rechte in anderen Mitgliedstaaten nehmen.

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Die Demokratisierungswirkung, die dieser Aufsatz der Unionsbürgerschaft zuschreibt, ist, in ihrer derzeitigen institutionellen Ausgestaltung, sicherlich begrenzt. So steht die Unionsbürgerschaft gegenwärtig ausschließlich EU-Bürger*innen offen, die darüber hinaus nur begrenzte Möglichkeiten haben, an der Gestaltung der mit ihr einhergehenden Rechte mitzuwirken. Doch auch wenn diese vielfach wiederholte Kritik an der Unionsbürgerschaft zweifelsohne berechtigt ist, untergräbt sie nicht das ihr innewohnende demokratische Potenzial, sondern fordert uns vielmehr dazu auf, um seiner Entfaltung willen auf eine weitere Demokratisierung transnationaler Politik hinzuwirken. Literatur Abizadeh, Arash, Democratic Theory and Border Coercion. No Right to Unilaterally Control Your Own Borders, Political Theory 36 (2008), S. 37 – 65. Abizadeh, Arash, On the Demos and Its Kin. Nationalism, Democracy, and the Boundary Problem, The American Political Science Review 106 (2012), S. 867 – 882. Agné, Hans, Why Democracy Must be Global. Self-Founding and Democratic Intervention, International Theory 2 (2010), S. 381 – 409. Ahlhaus, Svenja, Die Grenzen des Demos. Mitgliedschaftspolitik aus Postsouveräner Perspektive, Frankfurt 2020. Antalovsky, Eugen/Melchior, Josef/Puntscher Riekmann, Sonja (Hrsg.), Integration durch Demokratie. Neue Impulse für die Europäische Union, Marburg 1997. Bauböck, Rainer, Citizenship and National Identities in the European Union, in: Antalovsky, Eugen/Melchior, Josef/Puntscher Riekmann, Sonja (Hrsg.), Integration durch Demokratie. Neue Impulse für die Europäische Union, Marburg 1997, S. 297 – 331. Bauböck, Rainer, Expansive Citizenship. Voting beyond Territory and Membership, PS: Political Science and Politics 38 (2005), S. 683 – 687. Bauböck, Rainer (Hrsg.), Debating European Citizenship, Cham 2019. Bellamy, Richard, A Republican Europe of States. Cosmopolitanism, Intergovernmentalism and Democracy in the EU, Cambridge 2019. Benhabib, Seyla, Citizens, Residents and Aliens in a Changing World. Political Membership in the Global Era, Social Research 66 (1999), S. 709 – 744. Blatter, Joachim/Schulz, Johannes, Intergovernmentalism and the Crisis of Representative Democracy. The Case for Creating a System of Horizontally Expanded and Overlapping National Democracies, European Journal of International Relations, 2022, S. 1 – 26. Bogdandy, Armin von/Bast, Jürgen (Hrsg.): Principles of European Constitutional Law, 2. Aufl., Oxford/München 2011. Cheneval, Francis/Schimmelfennig, Frank, The Case for Demoicracy in the European Union, Journal of Common Market Studies 51 (2013), S. 334 – 350. Doucet, Marc G., The Democratic Paradox and Cosmopolitan Democracy, Millennium: Journal of International Studies 34 (2005), S. 137 – 155.

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Autorenverzeichnis Caterina, Edoardo, Assegnista di ricerca in Diritto costituzionale all’Università di Macerata. D’Aniello, Fernando, Cultore di Filosofia del diritto all’Università Federico II di Napoli. Di Martino, Alessandra, Professoressa ordinaria di Diritto pubblico comparato all’Università La Sapienza di Roma. Frick, Verena, Akademische Rätin a. Z. am Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Hausteiner, Eva Marlene, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Hilpert, Isabel, Wissenschaftliche Referentin des Direktors des Leibniz-Instituts für Länderkunde (IfL). Imbriano, Gennaro, Professore associato di Storia della filosofia all’Università di Bologna. Lippert, Barbara, Forschungsdirektorin der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin. Llanque, Marcus, Professor für Politische Theorie an der Universität Augsburg. Malatesta, Olimpia, Assegnista di ricerca in Sociologia dei processi culturali e comunicativi all’Università di Milano Bicocca. Meine, Anna, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Internationaler Vergleich und Politische Theorie der Universität Siegen. Nettesheim, Martin, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Tübingen. Poli, Maria Daniela, Abilitata alle funzioni di professoressa di II fascia per il settore Diritto comparato. Ridolfi, Giorgio, Ricercatore in Filosofia del diritto all’Università di Pisa. Schäfferle, Eva-Maria, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Leibniz-Forschungsgruppe „Transformations of Citizenship“, Goethe Universität Frankfurt am Main. Tulli, Filomena Medea, Dottoranda di ricerca all’Università di Trento e alla Ludwig-Maximilians-Universität München. Vasel, Justus, Juniorprofessur für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung von Rechtsfragen der künstlichen Intelligenz an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Voßkuhle, Andreas, Professor und Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Präsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.