Hiobs viele Gesichter: Studien zur Komposition, Tradition und frühen Rezeption des Hiobbuches [1 ed.] 9783666552656, 9783525552650

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Hiobs viele Gesichter: Studien zur Komposition, Tradition und frühen Rezeption des Hiobbuches [1 ed.]
 9783666552656, 9783525552650

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Markus Witte

Hiobs viele Gesichter Studien zur Komposition, Tradition und frühen Rezeption des Hiobbuches

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Ismo Dunderberg, Jan Christian Gertz, Hermut Löhr und Joachim Schaper Band 267

Vandenhoeck & Ruprecht

Markus Witte

Hiobs viele Gesichter Studien zur Komposition, Tradition und frühen Rezeption des Hiobbuches

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0939 ISBN 978-3-666-55265-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen

Zum Gedenken an Ernst Kutsch (1921–2009)

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Was die Hiobforschung bewegt – Eine historisch-kritische Übersicht über 300 Jahre literaturgeschichtliche Arbeit am Buch Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Hiobs Sprache und der Text des Hiobbuches . . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Die Form des Hiobbuches und die Formen in ihm . . . . . . . . . . . . 22 3. Von der Kompositionsgeschichte zur Redaktionsgeschichte . . . . . . . 23 4. Hiob der Idumäer und die vorderorientalische Tradition vom leidenden Gerechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 5. Von der innerbiblischen Rezeption zur Rezeptionsgeschichte als Teil der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 6. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Die literarische Gattung des Buches Hiob – Robert Lowth (1710–1787) und seine Erben . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Die heilige Form oder der Beitrag von Robert Lowth zur Formgeschichte des Buches Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Die richtige Form oder der status quaestionis um 1800 . . . . . . . . . . 43 3. Die reine Form oder der Ort des Buches Hiob in der Welt der Literaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4. Das eine Buch Hiob und die Vielfalt seiner Formen . . . . . . . . . . . 52 5. Die Formen und ihre Funktionen oder die Frage nach dem Sitz im Buch Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . 55 6. Form und Zeichen oder die Frage nach der Welt des Textes und der Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 7. Ausblick auf gegenwärtige Fragen zur Formgeschichte des Buches Hiob 59 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Der leidende Mensch im Spiegel des Buches Hiob . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Hiob – Der leidende Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Deutungen des Leidens im Buch Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3. Vom fragenden zum antwortenden Menschen . . . . . . . . . . . . . . 79 Beobachtungen zum Verhältnis von Zeit und Leid im Buch Hiob . . . . . 81 1. Zeit und Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

8 3. 4. 5. 6. 7.

Inhalt

Die Reflexion der existenziellen Grenzzeiten . . . . . . . . . . . . . . . 87 Die Erfahrung der Determination der Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . 91 Der Rekurs auf mythische Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Das Hier und Jetzt und der Wunsch nach Verewigung . . . . . . . . . . 96 Zeit und Leid in Gott geborgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Hiobs „Zeichen“ – Traditions- und theologiegeschichtliche Anmerkungen zu Hiob 31,35–37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Die rechtsgeschichtliche Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Der begriffsgeschichtliche Hintergrund des „Zeichens“ . . . . . . . . . 103 3. Die materiale Identifikation des „Zeichens“ . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Hiobs „Zeichen“ in seinen literarischen Kontexten . . . . . . . . . . . . 109 5. Hiobs „Zeichen“ und die Torah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6. Hiob als „Zeichen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Die Torah in den Augen Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Weisheit und Torah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Das Deuteronomium im Buch Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Die Auseinandersetzung um die Torah im Spiegel der Redaktionsgeschichte des Buches Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Hiob und seine Frau in jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Faktoren der literarischen Rezeption einer biblischen Figur . . . . . . . 133 2. Hiobs Frau im Spiegel der Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Hiobs Sohn – Eine textgeschichtliche Notiz zu Hiob 42,17 (Septuaginta) . . 165 Hiob und die Väter Israels – Beobachtungen zum rabbinischen Hiob-Targum . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Hiob und Abraham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Die Erzväter im rabbinischen Targum zum Hiobbuch . . . . . . . . . . 172 3. Hiob – Adam – Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Vorwort Der Raum, der dem Menschen angewiesen ist, ist ein winziger Ausschnitt, der Raum Gottes ist die Unendlichkeit selbst. Und noch schwerer lastet auf dem Verhältnis zwischen Mensch und Gott die Verschiedenheit der Zeiten. […] Von dieser Verschiedenheit der Zeiten ist das Buch Hiob übervoll. (Margarete Susman)1

Der vorliegende Band versammelt acht ausgewählte Aufsätze zum Buch Hiob, die ich in den Jahren 2003 bis 2016 an unterschiedlichen, zum Teil etwas entlegenen Orten veröffentlicht habe, und eine noch nicht publizierte forschungsgeschichtliche Übersicht zur kritischen Hiobforschung in den letzten 300 Jahren. Die Beiträge behandeln die literarische Gattung des Buches Hiob, zentrale anthropologische und theologische Themen, wie das Verhältnis von Gerechtigkeit, Leid und Zeit, sowie die frühe Rezeptionsgeschichte. Die Stellung des Hiobbuches im Kontext der vorderorientalischen „Theodizeedichtungen“ und sein Ort in der israelitisch-frühjüdischen Literatur- und Theologiegeschichte kommen dabei ebenso zu Wort wie die Buchgestalten der frühen griechischen, aramäischen, syrischen und lateinischen Übersetzungen. Alle Aufsätze verbindet, dass sie die vielfältigen Gesichter, die Hiob im Laufe der Komposition, Redaktion und frühen Rezeption erhalten hat, zum Strahlen zu bringen versuchen. Ein Schwerpunkt liegt auf den antiken und spätantiken Versionen des Buches. Denn in ihnen setzt sich die Vielfalt der Profilierung der Figur Hiobs, die sich schon in der komplexen Kompositions- und Redaktionsgeschichte des hebräischen Textes spiegelt, fort. Narrative Leerstellen, die das hebräische Hiobbuch enthält, werden gefüllt. Im Modus einer innerbiblischen Schriftauslegung werden Figuren aus dem Buch ausgestaltet und Hiob selbst in der Geschichte biblischer Gestalten und Geschehen verortet. Die frühe Rezeptionsgeschichte erweist sich als Fortsetzung der Kompositons- und Redaktionsgeschichte, sie lässt mitunter im Ausgangstext angelegte Erzähl- und Denkstrukturen genauer erkennen, reflektiert Geschichten der Aneignung des Hiobbuches und trägt selbst zu einem tieferen Verstehen dieses Werks bei. Der Beitrag zu den Vorlesungen über die Hebräische Poesie, die Robert Lowth im Jahr 1753 in Oxford gehalten hat und welche die eigentliche neuzeitliche ästhetische, poetologische und rhetorische Analyse der biblischen Schriften begründet haben, bietet eine bis heute reichende form- und kompositions 1 Susman, Hiob, 39.

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Vorwort

geschichtlich fokussierte Forschungsgeschichte. Dabei wird aufgezeigt, wie sich die Klassifikation des Buches als Poesie – zunächst im Gegenüber zur Einschätzung als Historie – im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, maßgeblich gefördert durch die Arbeiten von Johann Gottfried Herder (1744–1803), durchsetzt und wie sich fortschreitende philologische, literarkritische, traditions- und redaktionsgeschichtliche sowie semiotische und intertextuelle Erkenntnisse auf die gattungsgeschichtliche Einordnung niederschlagen. Es folgen zwei thematisch orientierte Aufsätze, einerseits zum Leidensverständnis, das von der gesamten bisherigen Forschung mit Recht als ein zentrales Thema des Hiobbuches betrachtet wird, andererseits zum Verständnis der Zeit, das sich mir  – wie der eingangs zitierten jüdischen Philosophin und Literatin Margarete Susman (1872–1966) – in den letzten Jahren immer deutlicher als ein roter Faden im Buch, neben der Frage nach Gott, nach dem Menschen, nach der Gerechtigkeit und nach dem Verhältnis von Glück und Glaube, darstellt. In diesen beiden Aufsätzen gehe ich von der Endgestalt des hebräischen Hiobbuches aus, beziehe aber punktuell Überlegungen zu seiner Redaktionsgeschichte mit ein. Im daran anschließenden Beitrag werden motiv- und traditionsgeschichtliche Überlegungen zu Hiobs Herausforderungsrede, insbesondere zu ihren (ursprünglichen) Abschlussversen in Hi 31,35–37, in die literatur- und theologiegeschichtliche These überführt, dass sich im hebräischen Hiobbuch ein kritischer Torahdiskurs greifen lässt. Diese These wird im folgenden Aufsatz weiter ausgebaut, indem exemplarisch Bezüge des Hiobbuches in seinen mutmaßlichen literarischen Schichten auf das Deuteronomium als Torah aufgezeigt und theologisch ausgewertet werden. Mit einer Nachzeichnung, wie die Frau Hiobs zunächst im hebräischen Hiobbuch, dann in der Septuaginta und im Targum aus Höhle 11 in Qumran und schließlich im Testament Hiobs sowie im frühmittelalterlichen Targum erscheint, wird der Weg vom Ausgangstext in die frühe Rezeptionsgeschichte beschritten. Die Studie zum Namen des Sohnes, den der Septuaginta-Nachtrag in Hi 42,17 bietet, geht auf diesem Weg weiter und leistet zugleich einen Beitrag zur sprachund traditionsgeschichtlichen Herkunft des Septuaginta-Appendix. Die abschließende Untersuchung der Korrelation Hiobs mit den Vätern Israels, die im frühmittelalterlichen Targum erfolgt, zeigt an ausgewählten Texten Grundmuster der rabbinischen Exegese und benennt Parallelen zu patristischen Hiobauslegungen, für die hier vor allem auf die großen Kommentare von Johannes Chrysostomos, Didymos, dem Blinden, Olympiodor, dem Diakon von Alexandria, und Julian, dem Arianer, zurückgegriffen wird. Insbesondere die Beiträge zur Frau Hiobs, zu Hiobs Sohn und zu Hiob versus Abraham, Isaak und Jakob können den auch theologisch wichtigen Pluralismus der antiken Versionen und die hermeneutische Leistungsfähigkeit der Rezeptionsgeschichte verdeutlichen. Für den Nachdruck wurden alle Beiträge aufeinander abgestimmt, aber nicht substantiell verändert. Seit der Erstpublikation erschienene Literatur wurde be-

Vorwort

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hutsam so eingearbeitet, dass die ursprüngliche Fußnotenzählung weitestgehend beibehalten werden konnte und die Leser und Leserinnen gleichzeitig auf neuere Publikationen zum Thema aufmerksam werden. Auf die kritische Ausgabe des Hiobbuches, die im Laufe des Jahres 2017 im Rahmen der Biblia Hebraica Quinta erscheinen soll, konnte leider nur summarisch in der einleitenden Forschungsübersicht eingegangen werden, aber nicht in den textkritischen Anmerkungen zu einzelnen Versen, in denen auf die Apparate der BHK3 und der BHS verwiesen wird. Vereinzelte Überschneidungen zwischen den Aufsätzen wurden bewusst in Kauf genommen, damit jeder Beitrag auch für sich lesbar ist. Für die Genehmigung zum modifizierten Nachdruck der Aufsätze danke ich den Verlagen Brill, de Gruyter, Echter, Lebenskunst und T & T Clark International, an imprint of Bloomsbury Publishing Plc., sowie der Evangelischen Verlagsanstalt. Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe FRLANT danke ich den Herausgebern, insbesondere meinem freundschaftlich verbundenen Kollegen Jan Christian Gertz, sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Gestalt der Herren Moritz Reissing und Christoph Spill. Bei der Vereinheitlichung der Beiträge, beim Lesen der Korrekturen und bei der Anfertigung der Register haben mich Paul Bismarck, ­Ruben Burkhardt, Heye Jensen, Gesine Meier und Brinthanan Puvaneswaran unterstützt. Allen genannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sei herzlich gedankt. Schließlich bin ich der Humboldt-Universität zu Berlin zu großem Dank verpflichtet, dass sie mir über die „Förderlinie Freiräume“ im Rahmen der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern im Sommer 2016 ein Forschungssemester gewährt hat. Während dieser Zeit konnte ich den Sammelband mitsamt dem einleitenden Beitrag zur Forschungsgeschichte in die vorliegende Form bringen, einen umfangreichen Vortrag zur Hermeneutik des Hiobbuches für die Konferenz der International Organization for the Study of Old Testament im Jahr 2016 in Stellenbosch (Südafrika) vorbereiten2 und meinen für die Reihe Altes Testament Deutsch (Vandenhoeck & Ruprecht) geplanten Kommentar zum Buch Hiob ein gutes Stück voranbringen. Gewidmet ist der Band dem Andenken an meinen Erlanger alttestamentlichen Lehrer Ernst Kutsch (1921–2009), der mich als studentische Hilfskraft 1987/1988 mit in seine eigene Hiobforschung hineinnahm und in mir die seither nicht mehr erloschene Begeisterung für das Hiobbuch weckte. Berlin, 1. März 2018

Markus Witte

2 Der Vortrag ist jetzt unter dem Titel Hiob als jüdisches, christliches und paganes Werk. Überlegungen zur Hermeneutik heiliger Schriften im IOSOT Congress Volume Stellenbosch 2016, hg. von L. C. Jonker, G. R. Kotzé und C. M. Maier (VT.S 177, Leiden: Brill, S. 329–353), erschienen.

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Vorwort

Ein Hinweis zur Zitation: In den Fußnoten wird Sekundärliteratur nur mit dem Nachnamen des Verfassers oder der Verfasserin, einem Kurztitel des herangezogenen Werks und der Seitenangabe aufgeführt. Im abschließenden Literaturverzeichnis finden sich die vollständigen bibliographischen Angaben. Texte aus der klassischen Antike und patristische Werke werden, wenn nicht auf eine besondere Ausgabe verwiesen wird, nach den Ausgaben zitiert, wie sie dem Thesaurus Linguae Graecae3 zugrunde liegen. Schriften aus Qumran sind in der Regel nach der Zählung in der Ausgabe von F. García Martínez und E. J. C. Tigchelaar, The Dead Sea Scrolls. Study Edition, Bd. 1–2, Leiden 2000, zitiert. Angaben aus dem Babylonischen Talmud folgen dem Soncino Talmud.4 Die Abkürzungen richten sich nach dem Abkürzungsverzeichnis der vierten Auflage der RGG4. Dort nicht aufgeführte bibliographische Abkürzungen sind der dritten Auflage des von S. M. Schwertner erstellten Internationalen Abkürzungsverzeichnisses für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/New York 2014, entnommen. Abweichend vom System der RGG4 werden die Namen antiker Autoren ausgeschrieben und „Targum“/„Targume“ konsequent mit Tg abgekürzt.

3 Thesaurus Linguae Graecae®. A Digital Library of Greek Literature. University of California, Irvine, CA (http://stephanus.tlg.uci.edu/index.php). 4 The Soncino Babylonian Talmud, includes Soncino English Text, Talmud Hebrew Aramaic Texts, Rashi᾽s Commentary on the Talmud, The CD-Rom Judaic Classics LibraryTM, CDRom 1991–1993 (2005).

Was die Hiobforschung bewegt – Eine historisch-kritische Übersicht über 300 Jahre literaturgeschichtliche Arbeit am Buch Hiob Alles kommt hier auf Geschmack und Urtheil an. (Wilhelm Martin Leberecht de Wette, 1817)1

Wie in anderen Bereichen der alttestamentlichen Wissenschaft, zumal der Pentateuchkritik, werden auch in der Hiobforschung im Laufe des 18. Jahrhunderts die entscheidenden literaturgeschichtlichen Fragen gestellt, welche die Forschung bis heute bewegen. So werden im Schatten von Aufklärung und Romantik die Überlegungen, die Baruch de Spinoza in Aufnahme rabbinischer Beobachtungen und Aphorismen in seinem 1670 erschienenen Tractatus theologico-politicus essayistisch angestellt hatte, nach der Jahrhundertwende systematisch aufgenommen und vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sukzessiv in literar- und traditionsgeschichtliche Modelle überführt. Indem Spinoza knapp die Meinungen refe­riert, Mose habe das Buch Hiob verfasst, dieses könne eine Parabel oder auch eine wahre Geschichte sein, es sei möglicherweise aus einer anderen Sprache ins Hebräische übersetzt worden, das Schicksal Hiobs, der auch bei Ez 14,14.20 erwähnt werde, sei Anlass gewesen, über Gottes Vorsehung nachzudenken, und er selbst mutmaßt, zumindest der Dialog könne das Werk eines Mannes in seinem Studierzimmer sein, der heidnische Poesie nachahme,2 sind die wesentlichen Felder abgesteckt, die in der Hiobforschung des 18. bis 20. Jahrhundert intensiv bearbeitet werden. Den Startpunkt zu einer exemplarischen Sichtung und Auswertung der seit dem 18. Jahrhundert geleisteten literaturgeschichtlichen Arbeit am Hiobbuch mag hier der in erster Auflage 1712 publizierte Hiob-Kommentar des aufgrund seiner umfassenden Gelehrsamkeit seinerzeit hoch geschätzten französischen Benediktiners Augustin Calmet (1672–1757) bilden.3 1 Wette, Lehrbuch (1817), 314. 2 Spinoza, Tractatus theologico-politicus, 130 (Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, hg. v. Gawlik, 175 f). 3 Das Urteil über den Beitrag Calmets zur Forschung schwankt. Während ihm Kutsch 1957 in der dritten Auflage der RGG (Bd. 1, 1587) noch zehn Zeilen (zuzüglich elf Zeilen Literaturhinweise) widmete, verzeichnet die RGG in der vierten Auflage keinen eigenen Eintrag mehr zu ihm. Auch in Henning Graf Reventlows vierbändiger Darstellung der Epochen der Bibelkritik kommt Calmet nicht vor. Noch ganz anders sah das 1869 bei Diestel, Geschichte des Alten Testamentes, 441 f, aus: „Sein stetes Absehen ist auf eine grammatische Interpretation gerichtet. Durch eine Fülle trefflicher historischer Bemerkungen, durch unbefangne Kritik der patristischen Exegese, durch besonnene Rücksichtnahme auf alte Versionen, durch Verschmähung der mystischen Allegorie entschädigt er für manche Deutungen (wie bei Gen. 3,15), in denen er der

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Was die Hiobforschung bewegt

Vergleicht man die Fragen, die Calmet in der Einleitung seines Kommentar stellt, mit den Überschriften der Einführung in Lindsay Wilsons Hiobkommentar aus dem Jahr 2015,4 so zeigt sich ein erstaunliches Kontinuum der Hiobforschung: Es geht 1.) um die Sprache und den Text des Hiobbuches, 2.) um seine literarische Gattung, 3.) um seine Komposition und Redaktion, 4.) um die hinter ihm stehende Tradition und 5.) um seine Rezeption. Und selbst die Fragen, ob es sich beim Hiobbuch um reale historische Ereignisse handele und ob die Reden zwischen Hiob und seinen Freunden tatsächlich so gehalten wurden, die sich nach 300 Jahren Hiobforschung eigentlich erledigt haben sollten, begegnen noch bei L. Wilson. Die folgende Skizze orientiert sich an den fünf genannten Punkten. Im Mittelpunkt stehen literaturgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Entwicklungen seit dem frühen 18. Jahrhundert. Jeweils exemplarisch werden wichtige Impulse für die kritische Erforschung des Hiobbuches beleuchtet und in ihrer historischen Entwicklung nachgezeichnet. Bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts gehen diese im Wesentlichen auf christliche, überwiegend protestantische Exegeten aus Europa, zurück. Danach erfolgen wegweisende Anstöße in zunehmenden Maß auch aus der römisch-katholischen und jüdischen Auslegung, zunächst ebenfalls noch aus Europa, dann auch aus den USA und aus Israel, inzwischen aus der ganzen Welt. Insgesamt zeigt sich, dass sich die kritische Hiobforschung weniger hinsichtlich bestimmter Tendenzen klassifizieren lässt als im Blick auf bestimmte Schwerpunkte.5

1. Hiobs Sprache und der Text des Hiobbuches Dass Hiob und seine Freunde ein eigentümliches Hebräisch sprechen und der Text des Buches vor besondere Herausforderungen stellt, war schon den Kirchenvätern und der mittelalterlichen Exegese bewusst. Mit den im 16./17. Jahrhundert erstellten Polyglotten,6 die synoptisch den Masoretischen Text, die Septuaginta kirchlichen Orthodoxie folgt, und bleibt einer der ausgezeichnetsten und klarsten katholischen Exegeten, so wenig Anerkennung und Nachfolge auch seinen richtigeren Principien in seiner Kirche fanden.“ Und Rogerson, Early Old Testament Critics, 843–846, der vor allem Calmets umfangreiches und in mehrere Sprachen übersetztes Dictionnaire historique, critique, chronologique, géographique et littéral de la Bible (Paris 1721, Genf 21730) würdigt, attestiert dessen Kommentaren besonderen Materialreichtum; ähnlich schätzt Bultmann, Early Rationalism, 877, Calmets Kommentare wegen der großen Synthesen von Philologie sowie klassischer und patristischer Bildung, ohne deren apologetische Tendenz zu leugnen. 4 Calmet, Commentaire, II; L. Wilson, Job, V. 5 Für ausführliche Forschungsüberblicke speziell zum 20. Jahrhundert sei hingewiesen auf Kuhl, Literarkritik, und auf van Oorschot, Tendenzen, 351–387. 6 Neben der Complutensischen Polyglotte (1514–1517) und den Polyglotten von Antwerpen (1568–1572) und von Paris (1628–1645) fand vor allem die von Brian Walton herausge­ gebene Londoner Polyglotte (1654–1657) weite Verbreitung.

Hiobs Sprache und der Text des Hiobbuches

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und die Vulgata, mitunter auch die Peschitta, einzelne Targume sowie arabische und samaritanische Textzeugen bieten, stehen im frühen 18.  Jahrhundert entscheidende Hilfsmittel zur Bearbeitung des schwierigen Textes zur Verfügung. Zudem hat die christliche Hebraistik im 16./17. Jahrhundert besondere Fortschritte in der Lexikographie und der Grammatik erzielt. So gehört es zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum Standard der Hiobkommentare, Probleme des hebräischen Textes unter Rückgriff auf die antiken Versionen zu lösen. Dies gilt nicht nur für die protestantischen und für einzelne römisch-katholische Kommentare, die den hebräischen Text zugrunde legen, sondern auch für Ausleger, die sich primär auf die Vulgata beziehen, wie der eingangs zitierte Calmet.7 Einen entscheidenden Wendepunkt in der Erforschung der Sprache und des Textes des Hiobbuches stellt der 1737 erschienene, über 1200 Seiten umfassende Kommentar des Niederländers Albert Schultens (1686–1750) dar.8 Vor dem Hintergrund der bereits in der Spätantike diskutierten Frage, ob Hiob als historische Figur und sein Buch als Spiegel einer wahren Geschichte aus Arabien stammen,9 unterzog Schultens das Hiobbuch einer gründlichen philologischen Exegese. Er kam zu dem Ergebnis, dass das Buch in einem Arabo-Hebrä­ischen Dialekt verfasst sei und somit zahlreiche seiner sprachlichen Probleme mithilfe des Arabischen gelöst werden könnten. Unter Berufung auf rabbinische Gelehrte und christliche Hebraisten betrachtete Schultens das Arabische als die Tochtersprache, die mehr als das Aramäische und Syrische vom ursprünglichen Arabo-Hebräischen des Hiobbuches bewahrt habe. Dementsprechend spielen die antiken Versionen bei ihm eine untergeordnete Rolle. Auch wenn die weitere Forschung nur vereinzelt Schultens arabischen Ableitungen hebräischer Wörter im Hiobbuch gefolgt ist, so spiegelt sich die überragende Bedeutung seines Kommentars in diversen Kompendien seines Werks und in steten Bezugnahmen auf ihn.10 7 Diese Prävalenz der Vulgata hält sich in der römisch-katholischen Auslegung bis ins frühe 20. Jahrhundert, ohne dass dadurch der hebräische Text ausgeblendet würde. Exemplarisch dafür ist Knabenbauer, Commentarius, der eine Fundgrube hinsichtlich der älteren römisch-katholischen Forschung (aber nicht nur für diese) darstellt. Der Kurswechsel zeigt sich in den Kommentaren von Dhorme, Job, und Peters, Job. So gehen Dhorme und Peters konsequent vom hebräischen Text aus, behandeln aber immer auch die lateinischen Hiobübersetzungen, wie sie in der Vulgata und in der Vetus Latina vorliegen. Damit sind ihre Kommentare wichtige Referenzwerke auch für die jüngste Hiobforschung, in der die Bedeutung der lateinischen Versionen für die Text- und Rezeptionsgeschichte neu entdeckt wird. 8 Schultens, Liber Jobi. Vorangegangen waren 1708 die Animadversiones philologicae in Jobum. 9 Den Anlass zu dieser Diskussion bilden einerseits die arabische (edomitische) Lokalisierung von Hiobs Heimatland Uz (Hi 1,1 vgl. Gen 36,28 par. 1Chr 1,42; Klgl 4,21; Jer 25,20), andererseits der Nachspann der Hiob-Septuaginta, demgemäß Hiob/Job alias Jobab (vgl. Gen 36,33 f) im idumäischen Grenzgebiet lebte und eine arabische Frau heiratete (HiLXX 42,17a–e); vgl. dazu Witte, Hiobs Sohn, in diesem Band, S. 165–170. 10 Grey, Liber Iobi; Vogel, Commentarius; Grynaeus, Hiob ; Muntinghe, Het boek Job; Berg, Das Buch Hiob.

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Was die Hiobforschung bewegt

Sprachgeschichtlich ähnlich gelagert waren die forschungsgeschichtlich einflussreichen Coniecturae in Iobum et Proverbia Salomonis (1749) des Leipziger Arabisten und klassischen Philologen Johann Jakob Reiske (1716–1774).11 Dabei bot Reiske, der sich ausdrücklich durch die Lektüre von Schultens ermutigt sah und gleichfalls mittels des Arabischen – und einer an klassischen griechischen und lateinischen Autoren erprobten Kritik – versuchte, Licht in den Text zu bringen, auch eine Reihe von freien Konjekturen, die bis in die Hiob-Kommentare des 20. Jahrhunderts Eingang gefunden haben. Das Ringen um die Sprache des Hiobbuches setzte sich im 19.  Jahrhundert fort. Dieses wurde durch intensive Studien zum biblischen Hebräisch im Kontext einer historischen und vergleichenden Grammatik besonders durch die Arbeiten von Wilhelm Gesenius (1786–1842) und Heinrich Ewald (1803–1875) befördert. Zutreffend bestimmte Gesenius – gegen Schultens und seine Richtung – Spezifika des hebräischen Hiobtextes als poetische Diktion und als Aramaismen.12 Die Entdeckung epigraphischer Zeugnisse aus dem Alten Orient und Ägypten, vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, gab weitere neue Impulse. Schultens und Reiske sowie vor ihnen mittelalterliche jüdische Exegeten wie Ibn Esra und Kimchi hatten sich nur auf nachbiblische arabische Zeugnisse stützen können. Ebenso musste zunächst auch noch Ewald, der neben dem Arabischen und Äthiopischen auch auf das Sanskrit zur Erklärung einzelner philologischer Phänomene im Hiobbuch zurückgriff, auf den außerbiblischen Raum ausweichen.13 Die Entdeckung der keilschriftlichen Archive von Ninive, später von Assur, Babylon und Uruk, eröffnete ganz neue Möglichkeiten zur Erschließung des Textes, wie auch weiterer literatur- und traditionsgeschichtlicher Hintergründe des Hiobbuches (siehe dazu unten Abschnitt 2 bis 4). Als einer der ersten wertete Friedrich Delitzsch (1850–1922), berühmt-berüchtigter Begründer der Assyriologie, Direktor des Vorderasiatischen Museums zu Berlin, Auslöser des Babel-­ Bibel-Streits und trauriges Haupt eines glühenden intellektuellen Antijudaismus, das keilschriftliche Material philologisch für das Hiobbuch, aus.14 Hatte sich sein Vater, Franz Delitzsch (1813–1890), dem die Forschung einen der gediegensten philologischen Kommentare zum Hiobbuch verdankt,15 noch gegen die vorschnelle Heranziehung keilschriftlicher Texte gewandt und demgegenüber das Arabische und die verschiedenen Stufen des nachbiblischen Hebräisch zur Erklä 11 Reiske, Conjecturae. 12 Gesenius, Geschichte, 33. 13 Ewald, Bücher; Ders., Dichter, Teil 3. Wegweisend war hier sowohl in philologischer als auch in poetologischer Hinsicht der britische Jurist, Indologe und Sprachwissenschaftler William Jones (1746–1794), dessen 1774 erschienenes Werk zur arabischen, hebräischen und persischen Poesie J. G. Eichhorn 1777 neu herausgab und somit noch weiter verbreitete (W. Jones, Libri). 14 Fd. Delitzsch, Hiob. 15 Fz. Delitzsch, Iob.

Hiobs Sprache und der Text des Hiobbuches

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rung schwieriger Stellen bevorzugt, so griff sein Sohn in seiner knapp kommentierten Übersetzung des Hiobbuches nun mehrfach auf das Akkadische zurück. Zusätzliches Material zur Erhellung sprachlicher Probleme des Hiobbuches – und anderer, vor allem poetischer Texte des Alten Testaments – boten dann die 1929 entdeckten und schon nach kurzer Zeit entschlüsselten, aufgrund des Ausbruchs des zweiten Weltkriegs aber systematisch erst nach 1945 ausgewerteten Texte aus Ugarit (Ras Schamra). So begründete der am Päpstlichen Bibelinstitut lehrende nordamerikanische Jesuit Mitchell Dahood (1922–1982) eine ganze Schule, die trotz des großen zeitlichen Abstandes zwischen den spätbronzezeitlichen Texten aus Ugarit und der biblischen Literatur philologische Probleme des Hiobbuches unter Rückgriff auf ugaritische Lexeme und grammatische Phänomene zu erklären versuchte.16 Inzwischen ist es um diesen schon zur Zeit seiner Blüte heftig umstrittenen Zugang ruhig geworden. Das Buch Job in the Light of Northwest Semitic Philology (1987) von Walter Ludwig Michel, der sich selbst als „the last Dahoodian“ bezeichnete, blieb Fragment.17 Schließlich erweiterten die Funde von Qumran (1947 ff), unter denen sich kleinere Fragmente zum hebräischen Buch (2Q15; 4Q99–101), davon ein Manuskript in althebräischer Schrift (4Q101), sowie Teile von mindestens zwei HiobTargumen fanden (4QtgJob, 11QtgJob), nicht nur den Wortschatz des vor-mischnischen Hebräisch, sondern vor allem auch die Kenntnisse über die Text- und Überlieferungsgeschichte des Hiobbuches.18 Eine systematische Auswertung des durchaus zu differenzierenden Hebräisch der Qumrantexte im Blick auf das Buch Hiob steht aber trotz einzelner Studien zur Übersetzungstechnik von 11QtgJob noch aus.19 Annähernd zeitgleich zu den Arbeiten von Dahood und seinen Schülern sowie zur Entdeckung der Hiob-Targume aus Qumran stehen die Wiederaufnahme

16 Dahood, Words; Blommerde, Grammar; Ceresko, Job. Auf Kommentarebene fanden diese Vorschläge eine positive Aufnahme bei Pope, Job, und (etwas zurückhaltender) bei J. Gray, The Book of Job. 17 W. L. Michel, Job. 18 Zu den hebräischen Fragmenten siehe Ulrich, The Biblical Qumran Scrolls, 727–731: 2Q15 mit gesicherten Textresten aus Hi 33,28–30 (vgl. Baillet/Milik/deVaux, in: DJD III, 71); 4Q99 mit gesicherten Textresten aus Hi 31,14–19; 32,3 f; 33,10 f.24–26.28–30; 35,16; 36,7–11. 13–27.32 f; 37,1–5.14 f; 4Q100 mit gesicherten Textresten aus Hi 8,15–17; 9,27; 13,4; 14,4–6; 31,20 f (vgl. Ulrich/Metso, in: DJD XVI, 171–180); 4Q101 mit gesicherten Textresten aus Hi 13,18–20.23–27; 14,13–18 (vgl. Skehan/Ulrich, Sanderson, in: DJD IX, 155–157). Zu den Targumen aus Höhle 4 (4Q157/4QtgJob) mit gesicherten Textresten zu Hi 3,5–9; 4,16–5,4 (vgl. Milik, in: DJD VI, 90) und aus Höhle 11 (11Q10/11QtgJob) mit Fragmenten zu Hi 17,4–42,12 (vgl. García Martínez/Tigchelaar/van der Woude, in: DJD XXIII, 79–180, pls. ix–xxi) siehe Sokoloff, Targum, und Beyer, Texte (1984), 280–298; Ders., Texte Erg.Bd. (1994), 133; Ders., Texte Bd. 2 (2004), 171 f). 19 Vgl. Shepherd, Targum and Translation.

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des arabistischen Ansatzes bei Alfred Guillaume (1888–1965)20 und der solitär gebliebene Versuch von Naftali Herz Tur Sinai (Harry Torczyner, 1886–1973),21 das gesamte Hiobbuch aus dem Aramäischen zu erklären, wodurch das von der Forschung bereits früh richtig erkannte Phänomen der lexikalischen und grammatischen Aramaismen im Buch falsch gedeutet wurde. Im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts ist aber ein Stadium erreicht, in dem zur Erforschung des Hiobtextes breit auf das Aramäische, Arabische, Akkadische, Ugaritische und nachbiblische Hebräisch zurückgegriffen wird.22 Eine umfassende Anwendung bieten, mit ganz unterschiedlichen Akzenten, die monumentalen Kommentare von David J. A. Clines (1989–2011) und Choon-Leong Seow (2013).23 Dabei verzeichnet Clines, der Tendenz des von ihm edierten Dictionary of Classical Hebrew entsprechend, eine Fülle von neuen, entweder kontextuell oder sprachvergleichend erschlossenen Lexemen im Hiobbuch. Einen zweiten Schwerpunkt der Arbeit am Text – neben der rein philologischen Erschließung – stellt die eigentliche Textkritik dar. Beide Zugänge sind, wie das Werk von Reiske zeigt, nicht immer scharf voneinander zu trennen. Gleichwohl ist gerade seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts eine gewisse Konkurrenz zwischen ihnen zu beobachten, insofern der Rückgriff auf benachbarte Sprachen häufig dazu dient, den MT zu bewahren. Die genannten Polyglotten und die im 16./17. Jahrhundert erzielten Erkenntnisse zur Entstehung des MT sowie die durch die Aufklärung bedingte Ablösung von kirchlichen Dogmen führten seit der Mitte des 18.  Jahrhunderts zu einem freieren Umgang mit dem biblischen Text. Dieser wurde noch durch die opulenten Sammlungen von Varianten des hebräischen Textes durch Benjamin Kennicott (1776–1780) und Giovanni Battista de Rossi (1784–1798) unterstützt und schlug sich in zahlreichen Emendationsvorschlägen nieder.24 Eine frühe Frucht der neuen Konjekturalkritik stellen die Notae Criticae in universos Veteris Testamenti libros des Oratorianers Charles François Houbigant dar (1686–1783).25 Zahlreiche seiner Konjekturen zum Hiobbuch haben Eingang in die großen philologisch orientierten Kommentare gefunden. Den Gipfel dieser Form von Textkritik, die umfassend die Versionen berücksichtigt und mittels freier Konjekturen den Urtext herzustellen versucht, bilden die Hiobstudien des zunächst in Breslau, dann in Halle und schließlich in 20 Guillaume, The Arabic Background, 106–127; Ders., The Unity of the Book of Job, 26–46; Ders., Studies; in geringerem Umfang: G. R. Driver, Problems, 72–93. 21 Tur Sinai, Book of Job. 22 Zu einer exemplarischen kritischen Bestandsaufnahme der vergleichenden Philologie, insbesondere zum Umgang mit echten oder vermeintlichen Hapaxlegomena siehe Grabbe, Comparative Philology; J. Gray, The Book of Job, 32–38; 76–91; Seow, Putative Hapax Legomena, 145–182. 23 Clines, Job 1–20; Ders.; Job 21–37; Ders., Job 37–42; Seow, Job 1–21; in etwas verkleinertem Maßstab auch J. Gray, The Book of Job. 24 Kennicott, Vetus Testamentum; Rossi, Variae Lectiones. 25 Houbigant, Notae criticae.

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Heidelberg lehrenden Georg Beer (1865–1946).26 Beers breite Berücksichtigung der Textgeschichte des MT, der Septuaginta, der Peschitta, der unterschiedlichen lateinischen Versionen, des vielschichtigen rabbinischen Hiob-Targums und der jüngeren arabischen, äthiopischen und koptischen Übersetzungen stehen hinter dem von ihm bearbeiteten kritischen Apparat zum Hiobbuch in der dritten Auflage der Biblia Hebraica, die erstmals den Codex Leningradensis (B 19A) zugrunde legte. Seine textgeschichtlichen Untersuchungen leben fort in den philologisch orientierten Kommentaren von Karl Budde (1896) und Bernhard Duhm (1897), die selbst intensiv und kreativ an der Textkritik des Hiobbuches arbeiteten, sowie von Gustav Hölscher (1937) und Georg Fohrer (1963).27 Nach der Einschätzung der folgenden Generation überspannte Beer mit seinen Vorschlägen zur Textkorrektur, häufig auch aus metrischen Gründen, den Bogen.28 Die im Rahmen der Biblia Hebraica Stuttgartensia besorgte Neubearbeitung des Apparates zum Hiobbuch von Gillis Gerleman (1974) bietet nur noch einen Bruchteil der von Beer mitgeteilten Informationen und bevorzugt mitunter zweifelhafte arabische oder ugaritische Lexeme gegenüber freien Konjekturen. Wie der textkritische Apparat zum Hiobbuch in den neuen, in Vorbereitung befindlichen großen Ausgaben der Biblia Hebraica Quinta, der Hebrew University Bible und der Oxford Hebrew Bible /Hebrew Bible: A Critical Edition, konkret aussehen wird, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht sagen.29 Die fünfbändige Critique textuelle de l’Ancien Testament des im Jahr 2002 verstorbenen Dominikaners Dominique Barthélemy spiegelt jedenfalls eine neue Blüte der Textkritik.30 26 Beer, Text; Ders., Textkritische Studien. Beers Arbeiten spiegeln eine Blüte textgeschichtlicher Forschung im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie basieren auf zahlreichen Neueditionen der aramäischen, griechischen, lateinischen und syrischen Versionen des Hiobbuches. Unter ihnen ragen die Septuaginta-Editionen von Swete, The Old Testament in Greek, sowie Lagardes Ausgaben der lateinischen Hiob-Übersetzung des Hieronymus und der Targume zu den Hagiographen heraus. Sie wurden von zahlreichen Studien zur Hiob-Septuaginta und Hiob-Peschitta flankiert. Vgl. auch die textkritischen Arbeiten der jüdischen Forscher Ehrlich, Randglossen; Perles, Analekten; Ders., Analekten. Neue Folge, und Margolis, Studien. 27 Budde, Hiob; Duhm, Hiob; Hölscher, Hiob (1937, zitiert wird hier und in allen folgenden Beiträgen nach der zweiten Auflage von 1952); Fohrer, Hiob. Aber auch in den großen Kommentaren, die Beer nicht oder nur sehr eingeschränkt folgen, werden seine Konjekturen stets erwähnt, vgl. Driver/Gray, Job; Dhorme, Job; Alonso Schökel/Sicre Diaz, Job; J. Gray, The Book of Job; Clines, Job –1–20; Ders., Job 21–37; Ders., Job 38–42; Seow, Job 1–21. 28 So mündlich der Beer-Schüler Ernst Würthwein (1909–1996), dem die Forschung nicht nur ein Standardwerk zum Text des AT und einen Kommentar zum Buch der Könige verdankt, sondern auch eine theologisch sehr tiefgründige Analyse der Gottesreden (Würthwein, Gott und Mensch in Dialog). 29 Die Ausgaben des Hiobbuches in der HUB und der OHB/HBCE liegen noch nicht vor, die von Robert Althann erstellte Hiob-Lieferung der BHQ ist in Vorbereitung; s. u. S. 34 Anm. 103. 30 Barthélemy, Critique textuelle, Bd. 5.

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Eine eigentümliche Verschmelzung der vergleichenden Philologie und der Textkritik im Stil von Beer bietet die wenig verbreitete, aber wichtige Untersuchung der Tempora im Hiobbuch des Semitisten Hartmut Bobzin (1974).31 Ausgehend von dem berühmten Diktum Hölschers, „Es sei ein für allemal daran erinnert, daß der Bedeutungsunterschied der Tempora in der hebräischen Dichtung, besonders der jüngeren Zeit, so gut wie verwischt […] und ihr Wechsel nur noch ästhetisches Mittel des Stils ist“,32 hält Bobzin daran fest, dass die morphologischen Unterschiede der Verben und die Position der jeweiligen Verbform im Satz eine grammatisch eindeutige Funktion haben. Diese versuchte er über die Anwendung der aus der Akkadischen Grammatik entlehnten ‚Tempora‘-Differenzierung zwischen ḫamṭu (Ḥameṭ) und marû (Mare’) zu bestimmen und so der von ihm diagnostizierten Willkür der modernen Hiobübersetzungen entgegenzutreten. Doch einen Schönheitsfehler hat das nützliche Werk: Wo sich der Gebrauch der Tempora nicht in sein System fügt, rechnet Bobzin mit einer Fehlpunktation der Masoreten oder Störungen in der Textüberlieferung und greift daher häufig zum Mittel der freien Konjektur. Einen immer kräftiger werdenden Seitenast der textkritischen Forschung am Ausgang des 19. Jahrhunderts bilden gezielt der Septuaginta gewidmete Studien. Das Phänomen, dass die ursprüngliche griechische Übersetzung des bzw. eines hebräischen Hiobbuches, der Old-Greek-Text (OG), ungefähr 18 % kürzer als der MT ist – der heutige Hiobtext in der Septuaginta geht erst auf Origenes ­(185–254) zurück, der den OG zumeist aus der jüngeren Übersetzung des Theodotion auffüllte – und sich mitunter markant vom MT unterscheidet, wurde bis dahin auf die griechischen Übersetzer zurückgeführt. Dennoch konnte und kann einzelnen Lesarten der Septuaginta, die bekanntlich in älteren Handschriften als der MT vorliegt, der Vorzug gegenüber dem MT gegeben werden. Der zum Katholizismus konvertierte Orientalist Gustav Wilhelm Hugo Bickell (1838–1906), der auch bedeutende Beiträge zur Poetologie geleistet hat, kehrte die Erklärung um und versuchte wahrscheinlich zu machen, dass der OG einen älteren Text des Hiobbuches als der MT repräsentiere.33 Die Arbeiten Bickells und Edwin Hatchs (1835–1899), der wie Bickell die Priorität des OG gegenüber dem MT vertrat, begründeten eine Hochschätzung der Septuaginta und deren Wiederentdeckung als einem eigenständigen literarischen Werk, dessen Wert sich nicht auf seinen Beitrag zur Textkritik beschränken lässt. Die umfangreichen Untersuchungen zum Hiobbuch in der Septuaginta, die der jüdische Bibel­ wissenschaftler Harry Orlinsky (1908–1992) in den 1950/60 Jahren vorgelegt 31 Bobzin, Tempora. 32 Hölscher, Hiob, 14. 33 Bickell, De indole ac ratione; Ders., Kritische Bearbeitung; Ders., Job; Ders., Carmina; vgl. Hatch, On Origen’s Revision; Wutz, Job; Dalrymple-Hamilton, Breaking Thorough the Massoretic Barrier.

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hat,34 sowie die in den zurückliegenden 20 Jahren im Zusammenhang der großen internationalen Septuaginta-Übersetzungsprojekte der Bible d’Alexandrie, der New English Translation of the Septuagint und Septuaginta Deutsch entstandenen Einzelstudien von Johann Cook und Claude E. Cox, die nun alle auf der großen kritischen Edition von Joseph Ziegler (1982) basieren, erklären sich vor diesem Hintergrund.35 Für die Erforschung der aramäischen, lateinischen und syrischen Versionen des Hiobbuches lässt sich eine ähnliche Entwicklung nachweisen. Ich werde darauf im fünften Abschnitt kurz zurückkommen. Mit der genannten sprachvergleichenden Erschließung des Hiobbuches, der erwähnten Freiheit gegenüber dem Wortlaut des biblischen Textes und der im Folgenden näher dargestellten ästhetischen Dimension der Bibel beginnt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Blüte literarischer Hiobübersetzungen, die nicht für den kirchlich-liturgischen Gebrauch, sondern für die private Lektüre gedacht sind.36 Das besondere Interesse an Fragen der Theodizee, das sich in der Philosophie nach Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) widerspiegelt und bei dem das Erdbeben von Lissabon (1755) sowie die gesellschaftlichen Umbrüche im Schatten der Französischen Revolution (1789) gleichermaßen Pate standen, hat hier auch eine Rolle gespielt. Seit den 1780/90er Jahren ist der Faden poe­ tischer Übersetzungen des Hiobbuches nicht mehr abgerissen, wobei dieser Faden in Krisenzeiten, seien diese politisch, religiös, ökonomisch oder natürlich bedingt, jeweils dicker ist. Schon am Übergang zum nächsten Themenfeld stehen Studien zur Poetologie des Buches Hiob, das heißt vor allem zur Metrik, Rhetorik und Stilistik der Dichtung. Ihre systematische Untersuchung begann mit den Arbeiten des Oxforder Lordbischofs und Professors der Rhetorik Robert Lowth (1710–1787) zum sogenannten Parallelismus membrorum als Grundelement der hebräischen Poesie.37 Sie setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit Untersuchungen zum Strophenbau sowie zur Metrik fort.38 Vor allem seit den 1980er Jahren hat sie wesentliche Weiterführungen seitens der vergleichenden Poetologie, des rhetorical criticism und der Metaphernforschung erfahren.39 34 Orlinsky, Studies in the Septuagint; siehe auch Gerleman, Studies, und Gard, Exegetical Method. 35 Zur Forschungsgeschichte der Hiob-Septuaginta siehe ausführlich Witte, Job (in: Kreuzer, Handbuch), 407–422. 36 Eckermann, Versuch einer neuen poetischen Uebersetzung; Moldenhawer, Hiob; Hufnagel, Hiob; Pape, Hiob; Stuhlmann, Hiob. 37 Lowth, De Sacra Poesi; zum Parallelismus membrorum siehe ebenda die praelectio XIX und die Preliminary Dissertation im Jesajakommentar von 1778 (Lowth, Isaiah). 38 Köster, Hiob; Ewald, Über liedwenden, 116–121; Hontheim, Job; Vetter, Metrik; Bickell, Carmina; Ders. Job. 39 Alter, Art; Ders., Characteristics, 611–624; Webster, Strophic Patterns; Watson, Poetry; Alonso Schökel, Manual; van der Lugt, Criticism; Fokkelman, Major Poems; siehe aber auch schon König, Stilistik.

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2. Die Form des Hiobbuches und die Formen in ihm Seit der Alten Kirche finden sich Versuche, das Buch Hiob einer literarischen Gattung zuzuweisen und formgeschichtlich zu klassifizieren. Doch erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts kam es zu systematischen poetologischen und rhetorischen Untersuchungen des Hiobbuches. Im zweiten Aufsatz dieses Sammelbandes wird diese formgeschichtliche Arbeit am Hiobbuch seit ihrer neuzeitlichen wissenschaftlichen Begründung durch Robert Lowth ausführlich dargestellt,40 so dass ich mich hier auf eine ganz knappe Nachzeichnung entscheidender Etappen beschränke. In einer ersten Phase intensiver formgeschichtlicher Untersuchungen stand die Frage nach dem Referenzrahmen zur Klassifikation der Gattung des Hiobbuches als Gesamtwerk und der in ihm verwendeten Gattungen im Mittelpunkt. Bezog sich Lowth noch auf die klassische griechische und römische Dichtung,41 so trat mit den Arbeiten Johann Gottfried Herders ­(1744–1803)42 und dann Heinrich Ewalds der Vordere Orient als Raum, aus dem das Hiobbuch gattungsmäßig und mentalitätsgeschichtlich zu verstehen sei, in den Vordergrund. In einer zweiten, sich über das gesamte 19. Jahrhundert erstreckenden Phase dominierte die Frage nach der Gattung des Gesamtwerks, das als Drama, als Epos, als weisheitliches Streitgespräch, als Lehrgedicht u. a. angesprochen werden kann. Bereichert wurde die formgeschichtliche Frage durch die auch für die Traditionsgeschichte wichtige philologische Erschließung der Poesie aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie durch die Entdeckung ägyptischer und akkadischer Quellen.43 Charakteristisch für eine dritte, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzende Phase, für welche die Arbeiten von Richard G. Moulton (1849– 1924) und Hermann Gunkel (1863–1932) stehen,44 waren 1.) die Fokussierung auf die im Buch Hiob verwendeten Formen, 2.) die getrennte Betrachtung des prosaischen Rahmens und des poetischen Hauptteils sowie 3.) Analysen zur Metrik und Strophik.45 Verbunden mit der Frage nach dem Sitz im Leben der einzelnen Gattungen im Buch kamen in einer vierten Phase in der Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt die Fragen nach dem Sitz im Leben des gesamten Buches (Recht, Kult, Weisheit)46 sowie nach der Funktion der Mischung von Gattungen im Buch auf.47 Letztere Frage hat in der fünften und jüngsten Phase formgeschichtlicher Studien seitens semiotischer und intertextuell ausgerichteter Studien eine ent 40 Siehe Witte, Gattung, in diesem Band S. 37–64. 41 Lowth, De sacra Poesi. 42 Herder, Poesie; Ewald, Bücher; Ders., Dichter, Teil 3. 43 Siehe dazu Abschnitt 4 S. 29–31. 44 Moulton, Study; H. Gunkel, Literatur; Ders., Grundprobleme. 45 S. o. S. 21 Anm. 38 und 39. 46 Westermann, Aufbau; Richter, Studien; Gese, Lehre. 47 Fohrer, Hiob; Dell, Book; Hartley, Job; vgl. auch Murphy, Literature.

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scheidende Weiterführung erlebt:48 Nun werden nicht mehr nur einzelne verwandte Gattungen zum Vergleich herangezogen, sondern mittels semiotischer Analysen soll die gesamte textliche Enzyklopädie erhoben werden. Damit wird der Charakter des Hiobbuches als eines zutiefst intertextuellen Werks deutlich. Parallel dazu kamen wichtige Anstöße auch für die Formgeschichte durch strikt textorientierte Zugänge,49 andererseits durch rezeptionsorientierte Ansätze, für die der einem reader-response criticism verpflichtete Großkommentar von Clines exemplarisch ist. Demzufolge hat das Buch Hiob keine Gattung, sondern erhält erst im schöpferischen Prozess des Lesens eine solche. Kennzeichnend sowohl für den textorientierten als auch für den rezeptionsorientierten Zugang ist die Betrachtung der sogenannten Endgestalt des Buches Hiob. Fragen der literarischen Entstehung, wie sie unter den Bedingungen eines seit der Aufklärung etablierten historischen Denkens eigentlich unvermeidlich sind, und Probleme der Vielfalt der Buchgestalten, wie sie sich besonders in Form der Septuaginta zeigen, bleiben dabei zugunsten eines close reading des MT (bewusst) ausgeschlossen.

3. Von der Kompositionsgeschichte zur Redaktionsgeschichte Wenn Calmet, wie viele vor und nach ihm, die talmudische These referiert, das Buch Hiob könne eine Parabel, ein Maschal (‫)משל‬, sein (bBB 14b),50 ist ein entscheidendes Stichwort zur Frage nach der literarischen Komposition gefallen. Für Calmet verband sich mit der Kennzeichnung des Hiobbuches als Parabel die historische Frage, ob Hiob tatsächlich gelebt habe und ob die Reden zwischen ihm und seinen Freunden wirklich gehalten worden seien. Calmet bejahte diese Frage und wertete die Reden als eine Art poetischer Protokolle des zwischen dem historischen Hiob und seinen Freunden gehaltenen Dialogs, die ein in der Sprache der Psalmen, der Proverbien und Jeremias beheimateter, inspirierter Verfasser angefertigt habe.51 48 Fishbane, Book of Job, 86–98; Köhlmoos, Das Auge Gottes; Kynes, My Psalm. Repräsentativ für die Vielfalt intertextueller Zugänge ist der von K. Dell und W. Kynes herausgegebene Sammelband Reading Job Intertextually. 49 Whedbee, Comedy, 1–39; Habel, Job (1985); siehe auch Janzen, Job; Seitz, Job, 5–17; Good, In Turns of Tempest. 50 Calmet, Commentaire, IX; vgl. im zeitlichen Umfeld Calmets z. B. B. Spinoza, Tractatus theologico-politicus, 130 (mit Bezugnahme auf Maimonides), oder Clericus, Libri Hagiographi, praefatio, [iii]; 11. 51 Die Annahme der Historizität Hiobs bis dahin, dass das Buch mindestens in seinem Grundbestand auf Hiob selbst zurückgehe, ist im 18. Jahrhundert noch weit verbreitet, vgl. z. B. J. H. Michaelis, Adnotationes in Librum Iobi. Die eigentliche Abfassung wird bei einzelnen Exegeten dann auf Mose (J. D. Michaelis, Einleitung, 88 f), einen Dichter zur Zeit Davids oder Salomos (J. A. Hoffmann, Neue Erklärung des Buchs Hiob, cap. viii) oder auf einen noch späteren Autor zurückgeführt (Calmet, Commentaire, XIVf).

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Die literarische Integrität des Buches wurde von Calmet nicht bestritten. Ihre Problematisierung setzte mit knappen Überlegungen des Oratorianers Richard Simon (1638–1712) zur späteren Ergänzung des Prologs ein.52 Dahinter standen zunächst die schon oben im Zusammenhang mit Herder erwähnte Überzeugung der Ursprünglichkeit der Poesie und das Anliegen, das hohe Alter, bisweilen auch die Authentizität der Reden Hiobs, zu verteidigen. So konnte die Ergänzung des Prologs und des Epilogs auf einen späteren Autor zurückgeführt werden, der das mutmaßlich aus dem arabischen bzw. idumäischen Raum stammende Werk für die Aufnahme unter die heiligen Schriften Israels bearbeitet habe. Mitunter wurde dieser Bearbeiter in Samuel, in einem Propheten, d. h. einem inspirierten Autor, aus dem Umfeld Davids oder Salomos oder in einem unbekannten Schreiber aus der Zeit des Abschlusses des Kanons gesehen.53 Die Rückführung des prosaischen Rahmens auf einen jüngeren Autor als den der Dichtung zieht sich aufgrund der beiden genannten hermeneutischen Vorannahmen mit unterschiedlichen Spielarten durch die Forschung des 18./19. Jahrhunderts,54 auch wenn ihr zunächst die Annahme, ein Dichter könne sowohl prosaisch als auch poetisch arbeiten, so Friedrich Wilhelm Carl Umbreit (1824),55 dann die Rückführung des Rahmens auf ein „Volksbuch“, das der eigentliche Dichter benutzt habe, so Budde (1896),56 und immer wieder das Postulat, die Dichtung sei ohne den Prolog gar nicht zu verstehen, so von Johann Gottfried Eichhorn (1824) bis Fohrer (1963) und Seow (2013),57 entgegengesetzt wurden. Vor dem Hintergrund sprachgeschichtlicher Beobachtungen zum späten Hebräisch des Prologs und des Epilogs58 sowie traditionsgeschichtlicher Parallelen zu ägyptischen und mesopotamischen Vorwurfdichtungen und zu griechischen Tragödien, die ohne narrativen Rahmen auskommen,59 wird aber die These der Posteriorität des 52 R. Simon, Histoire Critique, 30. 53 Vgl. Carpzov, Introductio, 58 (Samuel); Schultens, Commentarius, Bd. 1, praefatio [xxxiv]: „ab aliquo vatum Hebraeorum, quum in Canonem Ecclesiae Iudaicae Codex hicce Hebraeo-Arabicus reciperetur.“ 54 Hasse, Vermuthungen, 161–192 (mit der Rückführung weiterer „historischer Notizen“ wie Hi 32,1–5, der Antwort Hiobs in Hi 42,1–6 und des Gebrauchs des Tetragramms in Hi 40,1.3 auf den Sammler der „poetischen Urkunden“, 170 f); Stuhlmann, Hiob, Teil 1, 36–40; Bernstein, Über das Alter, 122–130; Knobel, De carminis Iobi argumento; Heiligstedt, Commentarius, XVI–XX (beschränkt auf die Annahme, nur die beiden Satansszenen in Hi 1,6–12 und 2,1–7 seien sekundär). 55 Umbreit, Hiob, XXVII. 56 Budde, Hiob, XIII; ähnlich bereits Wellhausen, Rezension, 552–557; dann Duhm, Hiob, VIIf, und Fd. Delitzsch, Hiob; u. v. a. 57 Eichhorn, Einleitung (1824), Bd. 5, 192–194; Fohrer, Hiob, 32 f; Seow, Job 1–21, 29; u. v. a.. 58 Hurvitz, Date, 17–34; Syring, Hiob, 51–127. 59 Auch beim aramäischen Achikar-Roman dürfte die Zusammenstellung der (älteren) poetischen Weisheitssprüche und der (jüngeren) Prosaerzählung sekundär sein, siehe dazu Kottsieper (in: TUAT III, 320–347, hier: S. 321).

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Rahmens gegenüber der Dichtung bzw. ihres Grundbestandes mit guten Gründen bis heute vertreten.60 Den editionsgeschichtlichen Überlegungen zur Ergänzung des prosaischen Rahmens traten bereits in der Mitte des 18.  Jahrhunderts überlieferungsge­ schichtlich begründete Vorschläge zur Umstellung einzelner Passagen in der Dichtung zur Seite. So rechnete Thomas Heath (1756), für den das Hiobbuch ein genuin hebräisches Werk aus der Zeit während oder nach dem babylonischen Exil war, mit einer fehlerhaften Überlieferung des Textes im Bereich der Kapitel 31 sowie 40,1–42,6. Als ursprüngliche Textfolge rekonstruierte Heath 31,1–25.38–40a.26–37.40b bzw. 40,15–41,26 als direkte Fortsetzung der ersten Gottesrede in Kap.  38,1–39,30 mit Hiobs Antwort in 42,1–6, gefolgt von einem zweiten Redewechsel zwischen Gott (40,1 f)  und Hiob (40,3–5) sowie einem Schlusswort Gottes (40,6–14).61 Im Blick auf die logische Abfolge der einzelnen ethischen Felder, auf denen sich Hiob bewährt hat, und die dramaturgische Zuspitzung auf die Herausforderung Gottes in 31,35–37 werden bis heute einzelne Verse in Hiobs großem Unschuldsbekenntnis in Kap. 31 umgestellt, wobei insbesondere die V. 38–40a anders positioniert werden. Hingegen wurden die formalen und theologischen Unterschiede zwischen den Gottesreden, sofern sie nicht auf einen Autor zurückgeführt wurden, in der weiteren Forschung nicht mehr überlieferungsgeschichtlich,62 sondern literargeschichtlich mittels der Annahme einer (mehrfachen) Fortschreibung erklärt. Matthias H.  Stuhlmann (1804) und Georg Heinrich Bernstein (1813) hielten die ausführliche, sich von den zumeist auf eine Strophe beschränkten Tierbildern in Kap.  39 unterscheidende Beschreibung des Leviathan in 41,4–26 für sekundär, während Eichhorn (1824) und Ewald (1828) die Beschreibungen des Behemoth und des Leviathan insgesamt (40,15–41,26) für einen Einschub erklärten.63 Ebenfalls noch textmechanisch begründet war der Vorschlag von B ­ enjamin Kennicott (1780), das Problem, dass im dritten Redegang (Kap. 22–28) der dritte Freund Hiobs, Zophar von Naama, keine Rede mehr hält, während Hiob in 60 Siehe dazu Kuhl, Neuere Literarkritik, 194; Witte, Vom Leiden, 192 mit Anm. 66. 61 Heath, Essay, 128–131; 163; 172 f. Vgl. auch Kennicott, Dissertatio Generalis, in: Ders., Vetus Testamentum, Bd. 2, 115 (Ders., Remarks, 163), mit der Umstellung von Hi 40, 1–14 an das Ende der Dichtung (Hi 38,1–39,30; 40,15–41,26; 42,1–6; 40,1–14), und Eichhorn, Über einige Stellen, 609–633, mit der Textfolge Hi 38,1–40,31; 41,4–26; 40,32–41,3; 42,1–3. (4–5).6. Zu Eichhorns späterer Position siehe unten Anm.  63. Die Diskussion, ob Hi 31,38– 40a an der ursprünglichen Stelle steht oder in das Unschuldsbekenntnis selbst zu verlegen sei, wurde bereits im 16. und 17. Jahrhundert geführt (vgl. entsprechende Referate bei Schultens, Liber Jobi, 886; Kennicott, Remarks, 163 f; Knabenbauer, Commentarius, 367). 62 So auch noch Hartley, Job, 421 f; Clines, Job 21–37, 1030 f. 63 Stuhlmann, Hiob, Teil  2, 129 f; 135 f; Bernstein, Über das Alter, 135 f; bzw. Eichhorn, Einleitung (1824), Bd.  5, 207–210 (mit gleichzeitiger Neuordnung des Textes: Hi 40, 15–31; 41,4–26; 40,32–41,3; 42,1–6; 40,1–14) und Ewald, Bemerkungen, 766–775; Ders., Dichter, Teil 3, 53 f; 311–343; vgl. Merx, Das Gedicht von Hiob, LXXXIX–CII.

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Kap. 27,13–23 eine typische Freundesposition vertritt, mittels der Rekonstruktion einer dritten Rede Zophars aus 27,13–23 zu lösen.64 Bis Kennicott wurden die Inkongruenzen im dritten Redegang rhetorisch oder psychologisch erklärt. Wo vorausgesetzt wird, dass es sich beim Buch Hiob um ein literarisch einheitliches Werk handelt, findet sich dieses Erklärungsmuster bis heute. Wohingegen die These Kennicotts positiv rezipiert wurde, konnte sie um weitere Umstellungsvorschläge ergänzt werden, sei es, dass die im Vergleich zum ersten und zweiten Redegang auffallend kurze dritte Rede Bildads in Kap. 25 nun aus der Hiobrede in Kap. 26 aufgefüllt wurde, sei es, dass weitere Passagen in Hiobreden, die im Widerspruch zur eigentlichen Meinung Hiobs stehen, wie Kap. 24,13–25, in eine Freundesrede verlagert wurden oder dass für den Bereich von Kap.  24–28 mit einer Ansammlung von nicht ausgearbeiteten Fragmenten gerechnet wurde.65 Einen Höhepunkt erreichte die These einer buchweiten überlieferungsgeschichtlich zu erklärenden Unordnung des Textes in den 1920er Jahren.66 Aber auch in jüngerer Zeit gehen selbst Ausleger, die entweder von einem Autor ausgehen, wie John E. Hartley (1988), oder die sich bewusst an der Endgestalt des Buches orientieren und der Theorie eines autonomen Kunstwerks verpflichtet sind, wie Clines (1989–2011), zumindest für die Kap. 24–28 von einer textmechanisch bedingten Fehlstellung aus, letzterer sogar in einem besonders hohen Maß mit der Umstellung von Kap.  32–37 vor Kap.  29–31 und der Beurteilung von Kap. 28 als krönendem Abschluss der Elihureden.67 Die erste umfangreichere Passage, die dem ursprünglichen Hiobdichter aus formalen, sprachlichen und theologischen Gründen abgesprochen wurden, stellen die Reden des Elihu (Kap. 32–37) dar, die sich aufgrund der Nichterwähnung ihres Protagonisten im Prolog, ihrer eigenständigen prosaischen Einleitung, der namentlichen Anrede Hiobs, ihrer unmittelbaren Abfolge von vier bzw. fünf Reden, der Unterbrechung zwischen der Herausforderung Gottes in 31,35–37 und der darauf bezogenen Rede Gottes in 38,1–3 sowie ihrer spezifischen Vorstellung eines Fürspracheengels von der übrigen Dichtung abheben. Nachdem ihre Authentizität schon in der rabbinischen Diskussion des 14./15. Jahrhunderts problematisiert worden war, häuften sich seit dem letzten Drittel des 18.  Jahrhunderts die Vorschläge, sie insgesamt als eine sekundäre Einlage oder eine Art Beischrift zu einer älteren, nur aus Hi 3–31 und 38,1–42,6 bestehenden Dichtung zu verstehen.68 Ihre programmatische Entfaltung fand diese These bei

64 Kennicott, Dissertatio Generalis, in: Ders., Vetus Testamentum, Bd. 2, 114 f; Ders., Remarks, 169–171. 65 Vgl. dazu die Übersichten bei Witte, Vom Leiden, 239–247. 66 Vgl. Torczyner, Hiob; Buttenwieser, Job; Houtsma, Textkritische Studien. 67 Hartley, Job, 24–26; Clines, Job 21–37, 708. 68 Bereits Hasse, Vermuthungen, 170, hatte Hi 32,1–5 als sekundäre „historische Notiz“ betrachtet.

Von der Kompositionsgeschichte zur Redaktionsgeschichte

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Stuhlmann (1804).69 Seither wird sie von der kritischen Forschung überwiegend geteilt.70 Dabei schwankt das literarische und theologische Urteil über sie bzw. ihren Verfasser von einem totalen Verdikt bis hin zu einer besonderen Würdigung als Wegbereiter der eigentlichen Lösung des Hiobproblems. Im weiteren Verlauf der literargeschichtlich orientierten Forschung wurden Inkongruenzen innerhalb der Elihureden, wie die unterschiedliche Länge der Reden und unterschiedliche Theologien, dann ihrerseits auf verschiedene Schichten zurückgeführt71 und im Rahmen redaktionsgeschichtlicher Gesamtmodelle mit anderen im Buch erhobenen Schichten korreliert.72 Im Schatten der Rückführung der Elihureden auf einen späteren Verfasser konnten dann auch die genannten Kohärenzstörungen im dritten Redegang literargeschichtlich als Fortschreibungen erklärt werden, mittels derer Hiob am Ende des Dialogs mit den Freunden als Vertreter der Theorie von der Bestrafung der Frevler skizziert werden solle. In diese literargeschichtlichen Überlegungen wurde fortan Kap.  28 einbezogen.73 Das Kapitel ist im vorliegenden Text zwar Teil einer Rede Hiobs. Es erscheint aufgrund seiner eigenständigen, nicht auf den Abschluss von Kap. 27 abgestimmten Eröffnung, seines besonderen, mittels eines Refrains strukturierten Aufbaus, seiner tendenziellen Nähe zur ersten Gottesrede sowie seines spezifischen Verständnisses von der verborgenen Weisheit aber als ursprünglich eigenständige Komposition.74 Die Einschätzung, dass Hi 28 sekundär ist, wird dann auch von weiten Teilen der kritischen Forschung geteilt. Unabhängig davon, ob Kap. 28 zum ursprünglichen Bestand des Buches gerechnet und im Kontext einer Fortschreibung betrachtet wird, ist aber bis heute die Frage umstritten, ob und wie diese Ausführungen über die Weisheit nun als Teil einer Hiobrede zu verstehen sind, ob sie Hiob, wie die vergleichbaren Abschnitte in Kap. 9,5–10(14); 12,5–13,2; 26,5–14, als einen weisen Lehrer über Gott als Schöpfer zeigen sollen, oder ob es sich um ein Interludium im Stil eines Chorliedes der griechischen Tragödie, möglicherweise auch um einen Kommentar des allwissenden Erzählers, handelt. Bis zum Ausgang des 19.  Jahrhunderts wurden weitere Passagen des Hiobbuches als mutmaßliche Erweiterungen identifiziert, so dass das ursprüngliche Buch mitunter auf einen Prolog mit anschließendem Dialog zwischen Hiob und 69 Stuhlmann, Hiob, Teil  1, 61–65, zu früheren Vertretern wie J. G. Eichhorn (1787), J. C. Velthusen (1789/90) und J. E. C. Schmidt (1797) siehe Witte, Noch einmal, 20–25. 70 Prominente Ausnahmen stellen hier z. B. Budde, Hiob, oder Hartley, Job, und Seow, Job 1–21, dar. 71 Nichols, Elihu Speeches, 97–186; Pilger, Erziehung; Lauber, Weisheit. 72 Mende, Leiden; Vermeylen, Métamorphoses. 73 So betrachtete es Stuhlmann, Hiob, Teil  2, 69 f, als Teil  der dritten Rede Bildads in Kap. 25, während es Bernstein, Über das Alter, 135, auf den Verfasser der Elihureden zurückführte. 74 Zur Behandlung dieser Fragen in der neueren Forschung siehe S. C. Jones, Rumors of Wisdom, 1–17.

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Was die Hiobforschung bewegt

seinen drei Freunden (Kap. 3–27; 29–31) reduziert wurde.75 Charakteristisch für alle zwischen 1780/90 und 1880/90 vorgelegten literargeschichtlichen Interpretationen ist, dass ihr Hauptaugenmerk auf der Rekonstruktion der ursprünglichen Komposition, der Bestimmung ihres literarischen Profils und ihrer theologiegeschichtlichen Verortung liegt, während die als sekundär und jünger betrachteten Stücke nur am Rande, häufig getrennt von der Auslegung des mutmaßlich ursprünglichen Buches betrachtet werden.76 Diese Ansätze lassen sich als redaktionskritisch, aber noch nicht als redaktionsgeschichtlich bezeichnen. Denn der Aufweis, wie sich durch die einzelnen Fortschreibungen das kompositionelle und theologische Profil des jeweils vorangehenden „Hiobbuches“ verändert hat, wie das erweiterte „Buch“ im Licht der jeweiligen Redaktion zu lesen ist und wie sich die ermittelten Zusätze in die israelitisch-jüdische Literaturgeschichte einfügen, wird dabei nicht angegangen. Ansätze zu einer redaktionsgeschichtlichen Darstellung bilden die Skizzen eines mehrstufigen Wachstums von G. L. Studer (1875), von Thomas K. Cheyne (1887) und von Morris Jastrow (1920), der vollkommen zu Recht konstatiert, dass nur eine konsequente Berücksichtigung der literarischen Entstehung des Buches zu einem echten Verstehen führt.77 Aber noch im großen Kommentar von Fohrer (1963) werden die als sekundär eingestuften Elihureden für sich betrachtet und nur im petit-Druck ausgelegt, oder bei Gray (2010) werden als sekundär angesehene Stücke im Anhang ausgelegt. Eine deutlichere literargeschichtliche Berücksichtigung fanden die als sekundär eingestuften Stücke bei Autoren, welche die Erweiterungen im Sinne einer Vermittlung von literarkritischen und ganzheitlichen Versuchen auf unterschiedliche Lebensphasen eines Autors zurückführten,78 oder die mit unterschiedlichen Rezensionen des Hiobbuches rechneten.79 Entscheidende Impulse zu einer echten redaktionsgeschichtlichen Auslegung gingen von Einzelstudien zu verschiedenen Passagen des Buches seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts aus.80 Die Überführung in eine Gesamtdeutung, die das Buch Hiob als das literarische Produkt einer mehrere Generationen umfassenden und unterschiedliche zeitgeschichtliche Erfahrungen verarbeitenden theologischen Diskussion versteht, findet sich dann modellhaft bei Wolf-Dieter Syring (2004) und Jürgen van Oorschot (2007) sowie monographisch bei Roger 75 Vgl. Studer, Integrität, 688–723; Ders., Das Buch Hiob; Cheyne, Job, 66–70; Volz, Weisheit; Baumgärtel, Hiobdialog; Kraeling, Ways of God; Kuhl, Neuere Literarkritik, 284–291; tendenziell auch Vermeylen, Job. 76 Vgl. Ewald, Bücher; Ders., Dichter, Teil 3; Merx, Das Gedicht von Hiob; Fd. ­Delitzsch, Hiob. 77 Jastrow, The Book of Job, 11. 78 Vgl. Dhorme, Job, LXXVI; Peters, Job, 47*; Gordis, Job, 536; 548 f. 79 Vgl. Studer, Das Buch Hiob; Steinmann, Job (im Anschluss an van Hoonacker, Une question); Maag, Hiob. 80 Maag, Hiob. Vermeylen, Job; Mende, Leiden; Witte, Vom Leiden; Syring, Hiob.

Hiob der Idumäer und die vorderorientalische Tradition

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Marcel Wanke (2013) und Jacques Vermeylen (2015), im Bereich der Kommentare (mit Einschränkungen) bei Hans Strauss (2000).81 Auch als eine Art Gegenbewegung zu den literargeschichtlich orientierten Interpretationen, die mitunter als ‚Atomisierung‘ des Textes (miss-)verstanden werden, erscheinen der schon im Abschnitt 3 beschriebene holistic approach und (vor allem angelsächsische) Kommentare, die sich werkimmanent gezielt nur auf die Auslegung der sogenannten Endgestalt konzentrieren.82

4. Hiob der Idumäer und die vorderorientalische Tradition vom leidenden Gerechten Die Grundfragen der Traditionsgeschichte des Hiobbuches, d. h. nach der Herkunft des Stoffes, nach der hinter diesem Buch stehenden Denk- und Geisteswelt, nach der Geschichte der in ihm verarbeiteten Motive und nach entsprechenden literarischen und theologischen Parallelen, spiegeln sich bereits in der lokalen und zeitlichen Verortung der Gestalt Hiobs im Epilog der Septuaginta, im Testament Hiobs und im Babylonischen Talmud oder in den Überlegungen Baruch de Spinozas (1670), auch die Heiden könnten heilige Bücher gehabt haben.83 Im Zusammenhang der Thematisierung des Textes, vor allem aber der Gattung, der Komposition und der Redaktion, sind oben auch schon einzelne traditionsgeschichtliche Überlegungen vorgestellt worden. Zum eigentlichen Forschungsgegenstand wurden die Traditionsgeschichte sowie die geistes- und kulturgeschichtlichen Kontexte nach der eher summarischen Auflistung von Parallelen bei Ewald und Konstantin Schlottmann (­ 1819–1887) mit der Entdeckung von ägyptischen und mesopotamischen Klagegebeten, Dialogdichtungen, weisheitlichen Streitgesprächen und Lebenslehren seit dem Ende des 19. und dann im Laufe des 20. Jahrhunderts. Die Suche nach dem historischen Hiob, die schon in der literargeschichtlich orientierten Forschung des 18./19. Jahrhunderts zugunsten des Interesses am Autor und an seinem Buch immer weiter in den Hintergrund getreten war, wurde damit vollends obsolet zugunsten der Geschichte des „Hiob“-Stoffes sowie seiner kultur- und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen und Vernetzungen. Seit der Publikation von Fragmenten der akkadischen Dichtung ludlul bēl nēmeqi (1875)84 und der Babylonischen Theodizee (1895), der weitere vergleich 81 Syring, Hiob, 151–173; van Oorschot, Entstehung, 165–184; Wanke, Praesentia Dei; Vermeylen, Métamorphoses; Strauss, Hiob. 82 Vgl. Anm. 49 sowie Whybray, Job; Balentine, Job; J. H. Walton, Job; Longman III, Job; Seow, Job 1–21; L. Wilson, Job. 83 Spinoza, Tractatus theologico-politicus, 130. 84 Seither sind weitere Fragmente dieser Dichtung entdeckt worden, siehe dazu Annus/ Lenzi, Ludlul bēl nēmeqi.

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Was die Hiobforschung bewegt

bare keilschriftliche Texte zur Seite getreten sind und die inzwischen in leicht zugänglichen Übersetzungen vorliegen,85 hat sich die Bestimmung der geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der im Hiobbuch verhandelten Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und dem unschuldigen Leiden zu einem wesentlichen Zweig der Hiobforschung entwickelt. Dabei bezieht sich der traditionsgeschichtliche Vergleich nicht nur auf die Gruppe eigentlicher Theodizee- oder Vorwurfdichtungen, deren summarische Vorstellung in Forschungsberichten, Monographien und Kommentaren inzwischen eine Art Kanon von nichtbiblischer Hiobliteratur suggeriert.86 Der Vergleich erstreckt sich auch auf einzelne motivische Parallelen, zumeist mythischer Art, in anderen Werken des Alten Orients und der klassischen Antike,87 sowie auf die Welt der altorientalischen Bilder und ihrer Symbolik, wie sie sich vor allem auf Rollsiegeln und in der Glyptik niedergeschlagen hat.88 Begleitet von Untersuchungen zum Menschen- und Gottesbild sowie zum Gerechtigkeits- und Leidensverständnis, das dieser sogenannten Hiobliteratur des Alten Orients zugrunde liegt,89 geht es dabei auch um die grundsätzliche Vergleichbarkeit, die jeweiligen sozial- und theologiegeschichtlichen Kontexte und um die Frage des konkreten Einflusses auf das Hiobbuch, zumal wenn einzelne Parallelen lange vor dem biblischen Werk und in einer anderen Sprache abgefasst sind. Dies gilt in besonderer Weise für die auf Akkadisch abgefassten und bisher nur in mesopotamischen Archiven entdeckten Theodizeedichtungen,90 aber auch für im näheren lokalen Umfeld des Hiobbuches entstandene ägyptische Weisheitstexte und für den aramäischen Achikar-Roman.91 Insofern bildet die Erhel-

85 Lambert, Babylonian Wisdom Literature; Oshima, Babylonian Poems. Vgl. TUAT III, 102–157; CoS 1.151–154. 86 Vgl. Lévêque, Job, Bd.  1, 13–51; H.-P. Müller, Hiobproblem, 49–72; Sitzler, Vorwurf, 61–109; van der Toorn, Theodicy; Witte, „Weisheit“ in der alttestamentlichen Wissenschaft, 1163–1170. 87 Fuchs, Mythos. 88 Vgl. dazu bereits Carey, Book of Job, 425–486, der seinem Kommentar über 80 Zeichnungen von Bildwerken vor allem aus Ägypten und Mesopotamien als Illustrationen einzelner Stellen des Hiobbuches beigab und dabei auf die Werke von François Champollion (1790– 1832), Ippolito Rosellini (1800–1843), Carsten Niebuhr (1733–1815) und Sir Austen Henry Layard (1817–1894) sowie auf Bestände des Britischen Museums zurückgriff. In jüngerer Zeit gingen dann, wie schon bei der Interpretation der alttestamentlichen Psalmen vor dem Hintergrund der altorientalischen Bildwelt, auch beim Hiobbuch wichtige Impulse von Othmar Keel, Jahwes Entgegnung, aus. Vgl. dazu dann auch auf der Ebene der Kommentare Cornelius, Job. 89 Stamm, Leiden; Soden, Fragen, 57–76; Sitzler, Vorwurf. 90 Uehlinger, Hiob-Buch, 97–163; Sedlmeier, Ijob, 85–136. 91 Siehe dazu einerseits Sitzler, Vorwurf, 3–60; Schellenberg, Hiob und Ipuwer, 55–79; Schneider, Hiob 38, 108–124; Loprieno, Theodicy, 27–56, andererseits Weigl, AchikarSprüche.

Von der innerbiblischen Rezeption zur Rezeptionsgeschichte

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lung der Überlieferungsgeschichte und der Überlieferungswege der ägyptischen, aramäischen und akkadischen Paralleltexte zum Hiobbuch eine wesentliche Aufgabe der gegenwärtigen Forschung. Eine solche Klärung ist schließlich auch für die griechischen Tragödien nötig, die in jüngster Zeit wieder stärker in den Blick der kompositions- und traditionsgeschichtlichen Hiobforschung geraten sind. Nachdem Horace M. Kallen (1918) die einseitige, aber einflussreiche These aufgestellt hatte, das Hiobbuch sei letztlich eine ins Hebräische übertragene Umformung einer Tragödie im Stile des Euripides, wurden zunächst vor allem thematisch orientierte Vergleiche zwischen dem Hiobbuch und dem Aischylos zugeschriebenen Gefesselten Prometheus und einzelnen Tragödien des Sophokles angestellt.92 Inzwischen haben sich Françoise Mies (2003/6) und Bernhard Klinger (2007) diesem Problem umfassend gewidmet.93 Auch wenn die klassischen Tragödien annähernd zeitgleich zum inzwischen mit einem breiten Forschungskonsens in das 6./5.–4./3. Jh. v. Chr. datierte Hiobbuch entstanden sind, so ist doch ungeklärt, auf welchen Wegen ein Hebräisch schreibender, jüdischer Autor in vorhellenistischer Zeit griechische Literatur kennen konnte. Klinger, der eine literarische Beziehung zwischen griechischen Tragödien und dem Hiobbuch für gut möglich hält, überführt seinen kompositions- und traditionsgeschichtlichen Vergleich zwischen den Tragödien und dem Hiobbuch in die literaturpsychologische These, dass das Drama geradezu die ideale Gattung für die literarische Auseinandersetzung über die Gerechtigkeit Gottes und das Leiden des Gerechten sei. Die sich daran anknüpfende Frage nach dem Charakter des Tragischen im Buch Hiob und nach dessen Verhältnis zu moderner tragischer Dichtung gehört dann zu einem wesentlichen Moment der rezeptionsgeschichtlichen Forschung am Hiobbuch, die hier abschließend behandelt werden soll.

5. Von der innerbiblischen Rezeption zur Rezeptionsgeschichte als Teil der Auslegung Die Frage nach der Rezeption des Hiobbuches begleitet die Geschichte der kritischen Hiobforschung von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Dabei bezieht sie sich sowohl auf die innerbiblische als auch die außerbiblische Aufnahme, Auslegung und Wirkung des Hiobbuches. Den forschungsgeschichtlichen Auftakt dazu stellt die Nachzeichnung der innerbiblischen Rezeption dar. Zu ihr gehören 1.) die Benennung neutestamentlicher Stellen, die auf Hiob oder das Hiobbuch

92 Kallen, Book of Job; H. G. May, Prometheus and Job, 240–246; Murray, Prometheus and Job, 56–65; U. Simon, Job, 42–51. 93 Mies, Le genre littéraire, 336–369; Klinger, Leiden.

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Was die Hiobforschung bewegt

Bezug nehmen,94 2.) die Auflistung alttestamentlicher Texte, in denen auf Hiob oder das Hiobbuch angespielt wird, und 3.) die Interpretation von Unterschie­ den zwischen dem MT und der Septuaginta, vor allem im Bereich der Rede der Frau Hiobs in HiLXX 2,9 und des Epilogs in HiLXX 42,17. Alle drei Aspekte werden bereits in den altkirchlichen Kommentaren zum Hiobbuch behandelt und begegnen dementsprechend auch in den Kommentaren der nachfolgenden Jahrhunderte. Hinzu kommen dann  – und dies zeigt sich ebenfalls schon bei den altkirchlichen Kommentaren  – in den jeweils jüngeren Werken ausdrückliche Rekurse auf vorangehende Auslegungen, so dass die Auslegungsgeschichte ein wesentlicher Teil  der Auslegung wird. Für den hier behandelten Zeithorizont des 18.  bis 20.  Jahrhunderts lassen sich beide Dimensionen der Rezeptionsgeschichte, die innerbiblische Aufnahme und die Auslegungsgeschichte, erneut beispielhaft am Kommentar von Calmet zeigen.95 Mit der im Laufe des 18. Jahrhunderts verstärkten philologischen Berücksichtigung der antiken Versionen traten aber auch deutlicher die sachlichen Unterschiede zwischen dem MT, der Septuaginta, der Vulgata, der Peschitta und dem Targum ins Bewusstsein. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts führte das zu einer eigenständigen Erforschung der alten Versionen, zunächst noch weitgehend textund sprachorientiert, seit der Mitte des 20. Jahrhunderts aber auch gezielt sachund inhaltsbezogen. Studien zum Text, zur Übersetzungstechnik, zur Tradition und Theologie der Hiob-Septuaginta, Hiob-Vulgata, Hiob-Peschitta und zu den Hiob-Targumen (zum rabbinischen und zu den aus Qumran bekannten), aber auch die Erstellung kritischer Editionen der großen altkirchlichen Hiob-Kommentare, bilden seit 30 Jahren ganz eigene, kontinuierlich wachsende Forschungs­ zweige.96 Inzwischen liegen erste annotierte Übersetzungen zur Hiob-Septuaginta, Hiob-Peschitta und zu den Hiob-Targumen vor.97 Ein Desiderat sind kritische Kommentare zur Hiob-Septuaginta, Hiob-Vetus Latina, Hiob-Vulgata und Hiob-Peschitta, die ihren eigenen Platz neben den altkirchlichen Kommentaren und den Kommentierungen des MT haben. Schon im 19.  Jahrhundert weitete sich der rezeptionsgeschichtliche Blick, insofern nun auch Werke, die sich auf den biblischen Hiob beziehen, seien es 94 Eigentliche Zitate aus dem Hiobbuch sind nur Hi 5,12 f in 1Kor  3,19 und Hi 41,3 in Röm 11,35, möglicherweise auch noch Hi 13,16 in Phil 1,19. Ob die einzige namentliche Nennung Hiobs im NT in Jak 5,10 f auf das Hiobbuch oder auf eine im antiken Judentum verbreitete Hiobtradition zurückgeht, ist umstritten, siehe dazu Vicchio, Job, Bd. 1, 140–143; Herzer, Jakobus, 329–350. 95 Calmet, Commentaire, I–XVIII. 96 S. o. S. 20 Für die großen Kommentare von Johannes Chrysostomos, Olympiodor, Julian und Didymos stehen exemplarisch die von Ursula und Dieter Hagedorn erstellten Editionen zur Verfügung. Eine Anthologie patristischer Auslegungen bieten Simonetti/Conti, Job. 97 Kepper/Witte, Job, Septuaginta Deutsch, Erläuterungen, Bd. 2, 2041–2126; Rignell, Peshitta; Mangan, Targum.

Von der innerbiblischen Rezeption zur Rezeptionsgeschichte

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Nachdichtungen wie das Testament Hiobs aus dem 1./2. Jh. n. Chr.,98 muslimische Hioblegenden, mittelalterliche Singspiele oder Goethes Faust, berücksichtigt wurden. Auch dieser Teil  der Rezeptionsgeschichte bildet inzwischen eine eigene, ebenfalls wachsende Forschungsrichtung: die Geschichte der Rezeptionsgeschichte. Ihr Horizont reicht von Wiederentdeckung der rabbinischen sowie der altkirchlichen und mittelalterlichen christlichen Exegese über die literarische Aufnahme bis hin zur Rezeption in bildender und darstellender Kunst.99 Wo nicht nur punktuell auf philologische Erkenntnisse der Rabbinen oder der Kirchenväter zurückgegriffen wird, sondern wo explizite oder implizite Aufnahmen der Figur oder des Buches Hiob aus der Literatur und der Kunst bewusst in die jeweilige Auslegung integriert werden, erscheint die Rezeptionsgeschichte als ein Schlüssel der Interpretation. Repräsentativ für eine solche rezeptionsgeschichtlich-dialogische Auslegung sind die Kommentare von Jürgen Ebach (1995/96), Samuel E. Balentine (2006) und Seow (2013).100 Die universale Dimension des Buches Hiob, das Menschen, unabhängig von ihrer Religion, anspricht und im eigentlich theologischen Sinn alle Menschen betrifft, wird dabei sehr viel deutlicher als in den ebenfalls unter der Überschrift ‚Rezeption‘ zu fassenden Zugängen, die sich nur einem ausgewählten Aspekt der Rezeption widmen, sei dieser befreiungstheologisch, feministisch-theologisch, ökologisch oder christotelisch.101 Diese partikularen Zugänge zu Hiob in den vergangenen 30 Jahren waren und sind bedeutsam: Aber wie Hiob lernen muss, dass die Welt größer als er und Gott größer als beide ist,102 so zeigt auch ein Gang durch 300 Jahre kritische Forschung, dass das Hiobbuch immer mehr zu bieten hat als seine Kommentierung. Nur ein methodisch und sachlich möglichst pluraler Zugang, der seine verschiedenen Textformen, kanonischen Gestalten, Gattungen, Kompositions- und Redaktionsstufen, traditionsgeschichtlichen Tiefen und rezeptionsgeschichtlichen Weiten bedenkt, ist in der Lage, sich den Deutungen von Gott und Mensch im Buch Hiob anzunähern.

98 Zur Text- und Überlieferungsgeschichte des TestHi siehe Schaller, in: JSHRZ III, 318–321. 99 Vgl. Centre d’analyse et de documentation patristiques, Job; Vicchio, Job, Bd.  1–3; Besserman, Legend of Job; Langenhorst, Hiob; Oberhänsli-Widmer, Hiob;­ Terrien, Iconography; Larrimore, Book of Job; Batnitzky/Pardes, Book of Job. 100 Ebach, Streiten; Seow, Job 1–21. 101 Gutierrez, Hablar de Dios; Brenner, A Feminist Companion; Habel, Finding Wisdom; L. Wilson, Job. Zu weiteren rezeptionsorientierten kontextuellen Zugängen siehe Clines, Job 1–20, XLVII–LVI. 102 Weiser, Weltordnung.

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Was die Hiobforschung bewegt

6. Rückblick und Ausblick Kennzeichnend für die gegenwärtige Hiobforschung ist  – wie auch für andere Bereiche der alttestamentlichen Forschung – ihre methodische und hermeneutische Pluralität. Von eigentlichen Tendenzen kann man angesichts dieser Vielfalt kaum sprechen. Es lassen sich aber drei Schwerpunkte benennen. Einen wesentlichen Forschungszweig bilden nach wie vor Untersuchungen zum Text, und zwar sowohl zu seiner sprachlichen Gestalt als auch zu seiner kritischen Konstitution. Die Hiobforschung partizipiert hier an der Blüte der Qumran- und der Septuagintaforschung, an den Fortschritten der vergleichenden Semitistik, die auf immer mehr Quellentexte zurückgreifen kann, sowie an der Neubearbeitung kritischer Editionen der Biblia Hebraica (Biblia Hebraica Quinta, Hebrew University Bible, Oxford Hebrew Bible).103 Das bekannte Diktum des Hieronymus, dass der Hiobtext einem Aal gleiche, der beim Versuch, ihn zu fassen, immer wieder den Händen entgleite,104 hat dabei nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Studien zur eigentlichen Literargeschichte betreffen vor allem die weitere Erhellung der traditionsgeschichtlichen Kontexte und die Entwicklung von redaktionsgeschichtlichen Gesamtmodellen, die das Hiobbuch als Produkt eines weisheitlichen Diskurses im Umkreis des Zweiten Tempels beschreiben und in der (früh)jüdischen Literatur- und Theologiegeschichte verorten. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei auch den schon von Calmet notierten Beobachtungen zu den intertextuellen und den literargeschichtlichen Beziehungen zwischen dem Hiobbuch und der Torah sowie weiteren alttestamentlichen Büchern (Deuteronomium, Psalmen, Jesaja und Jeremia).105 Die entscheidende Frage betrifft dann die Interpretation dieser Bezüge im Blick auf die literatur- und theologiegeschichtliche Verortung des Hiobbuches. Dazu gehört auch die Bestimmung von eschatologischen, auch protoapokalyptischen Splittern im Buch (vgl. Hi 14,12*; 19,28 f; 29,18–20; 31,11 f.28). Dass in hellenistischer Zeit Weisheit und Eschatologie eine Symbiose eingehen können, steht außer Frage.106 Eine Zuordnung des Hiobbuches zu einem „apocalyptic genre“ scheint mir aber verfehlt.107 Reichte das Pendel der Datierungen des Buches im 18. Jahrhundert noch von der vormosaischen Zeit bis zum babylonischen Exil und bewegte es sich im 19.  Jahrhundert schwerpunktmäßig zwischen der frühen Königszeit und frühpersischen Zeit, so wird das Buch nunmehr mit einem großen Konsens in der 103 Siehe dazu das Themenheft Bible Editions der Hebrew Bible and Ancient Israel 1/2 (2013). 104 Prologus Sancti Hieronymi in Libro Iob (in: Weber, Biblia Sacra, 731). 105 Siehe dazu exemplarisch Dell/Kynes, Reading Job Intertextually; Schipper/Teeter, Wisdom and Torah. 106 Siehe dazu Witte, Psalm 37, 39–65; Ders., „Weisheit“ in der alttestamentlichen Wissenschaft, 1173. 107 So aber Johnson, Now My Eye Sees You.

Rückblick und Ausblick

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Zeit zwischen dem 6./5–4./3. Jh. v. Chr. angesetzt. Dabei fügt sich die literargeschichtliche Forschung am Hiobbuch in den weiteren Horizont der Erforschung der vorderorientalischen und ägyptischen Weisheitsliteratur, speziell ihrer Trägerkreise, Überlieferungswege und der sie bestimmenden politischen, religiösen und ökonomischen Faktoren.108 Schließlich ist die Rezeptionsgeschichte, als Geschichte der Auslegungen und Wirkungen, als Gesprächspartner der Auslegung und als Zugang zum Verstehen des Ausgangswerks, ein zentrales Feld der aktuellen Hiobforschung. Auch hier teilt die Hiobforschung ein Interesse, das die gesamte gegenwärtige bibelwissenschaftliche Forschung prägt. In dieser kommt aber dem Hiobbuch, das in der Welt der Literatur als „alte ehrwürdige Pyramide“ einmalig dasteht (Herder),109 zu Recht ein einzigartiger Rang zu. Das Phänomen, dass beinahe in jedem Jahr ein neuer Kommentar und neue Übersetzungen erscheinen, was sich bereits für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts nachweisen lässt, unterstreicht diese besondere Bedeutung des Hiobbuches, mit dem die Forschung nie zu einem Ende kommt.

108 Zu einem neueren Versuch der Korrelation des Hiobbuches mit entsprechenden zeitgeschichtlichen Entwicklungen siehe Perdue, Sword, 117–151; Ders., Scribes. 109 Herder, Poesie, Teil 1, 311.

Die literarische Gattung des Buches Hiob – Robert Lowth (1710–1787) und seine Erben Niemand klassifiziert so gerne als der Mensch, besonders der deutsche. (Jean Paul)1

Die Frage nach der literarischen Gattung (genre)2 des Buches Hiob zu stellen, ist gefährlich. Bekanntlich wurde Theodor von Mopsuestia auf dem Konzil von Konstantinopel (533) unter anderem auch deshalb verurteilt, weil er das Buch Hiob als eine von einem heidnischen Weisen erfundene Dichtung im Stil einer griechischen Tragödie bezeichnet hatte (und daher aus dem Kanon der biblischen Schriften hatte ausschließen wollen).3 Und selbst der eigentliche Begründer der alttestamentlichen Gattungsforschung, Hermann Gunkel (1862–1932), musste sich vorwerfen lassen, seine Einordnung des Hiobbuches als Streitreden der Weisen klinge „fast kleinlaut“4. Dennoch sollte der Frage nach der Gattung des Hiobbuches sowohl aus literaturgeschichtlichen als auch aus hermeneutischen Gründen nicht ausgewichen werden. In every respect the poem of Job stands in a class by itself. More than any other book in the Hebrew canon it needs bringing near to the modern reader, untrained as he is in Oriental and especially in Semitic modes of thought and imagination. Such a reader’s first question will probably relate to the poetic form of the book.5 (Thomas K. Cheyne)

In den 1753 veröffentlichten Praelectiones de Sacra Poesi Hebraeorum des Oxforder Professors für Poesie und späteren Lordbischofs von London Robert Lowth nimmt die methodisch abgesicherte Auseinandersetzung mit der Formgeschichte des Buches Hiob, zumal mit der Frage nach seiner übergreifenden literarischen Gattung, eine zentrale Stellung ein. Mittels einer genauen Erfassung des poetischen Profils und eines textorientierten Vergleichs mit analogen literarischen Werken der Antike versucht Lowth, den Reichtum der hebräischen Poesie darzustellen, und begründet in diesem Zusammenhang auch die neuzeitliche formgeschichtliche Arbeit am Buch Hiob. Im Folgenden soll gezeigt werden, 1 Paul, Ästhetik, 67. 2 Die begriffliche und sachliche Differenzierung zwischen Form und Gattung (genre) ist vor allem ein Problem in der neueren Forschung, vgl. dazu Rösel, Formen, 187. 3 Theodor von Mopsuestia, In Jobum; vgl. dazu Pirot, Théodore, 131–134; Vosté, Théodore, 390–393. 4 Köhler, Mensch, 154, mit Bezug auf Gunkel, Hiobbuch, 1929. 5 Cheyne, Job, 107.

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Die literarische Gattung des Buches Hiob

wie die Forschung im Laufe ihrer Geschichte im direkten oder indirekten Anschluss an Lowth die literarische Gattung des Hiobbuches grundsätzlich bestimmt hat, wie sie die jeweilige Einordnung begründet hat und auf welche literaturgeschichtlichen Analogien sie dabei verwiesen hat. Dabei werden auch das Verhältnis zwischen der literaturgeschichtlichen Gattungsbestimmung und der Auslegung sowie die rezeptionsästhetischen Implikationen der formgeschichtlichen Einordnungen skizziert.

1. Die heilige Form oder der Beitrag von Robert Lowth zur Formgeschichte des Buches Hiob 1.1 Der Kontext der Interpretation von Lowth Die Interpretation des Buches Hiob von Lowth bewegt sich zwischen zwei Fronten.6 Auf der einen Seite steht der schon im ersten Beitrag dieses Bandes angesprochene Commentaire littéral sur le livre de Job (1712) von Augustin ­Calmet. Im Vorwort seines Kommentars erwähnt Calmet Versuche, das Hiobbuch als Tragödie zu beschreiben. Es gebe Ausleger, die meinten, die Erzählung von Hiob sei zur Unterhaltung („à plaisir“) verfasst und die Reden Hiobs und seiner Freunde seien „une piéce [sic] de Poësie, toute de l’invention de quelqu’homme d’esprit, qui  a voulu représenter, non ce qui étoit en effet, mais ce qui pouvoit être.“7 Auch wenn Calmet die Verwendung poetischer Elemente im Buch Hiob in formaler Hinsicht keineswegs bestreitet, so bedeutet doch die Bezeichnung dieses Buches wesenhaft als Poesie für ihn Fiktion und dies heißt Widerspruch zu Historizität und zur Verbindlichkeit der heiligen Schrift. Poesie ist für Calmet daher letztlich keine angemessene Kategorie, die biblischen Schriften zu beschreiben.8 6 Instruktiv dafür ist der Briefwechsel zwischen Lowth und Warburton aus dem Jahr 1756 (Lowth/Warburton, Letters). 7 Calmet, Commentaire, IX. Im Hintergrund dieser Äußerung steht die Gegenüberstellung der Intentionen des Historikers und des Dichters in der Poetik des Aristoteles (Kap. 9): Der Historiker teile das wirklich Geschehene mit (τὰ γενόμενα), der Dichter hingegen das, was geschehen könnte (οἷα ἂν γένοιτο). In der lateinischen Übersetzung von 1791 (Calmet, Commentarius, Bd.  5, 311) fehlen bezeichnenderweise die auch von Lowth im Briefwechsel mit Warburton (Lowth/Warburton, Letters, 456) zitierten Wendungen „à plaisir“ und „une piéce de Poësie“. In den von Lowth selbst besorgten Ausgaben der Sacra Poesis von 1753 und 1763 wird Calmet nicht ausdrücklich genannt; die entsprechende Anmerkung in der von Gregory angefertigten Übersetzung von 1787 (Gregory, Lectures, 389) stammt vom Übersetzer. 8 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Calmet zwischen natürlicher Poesie und künstlicher Poesie (d. h. Poesie im eigentlichen Sinne)  unterscheidet, wobei die natürliche Poesie, zu der er auch die poetischen Elemente in der Bibel zählt, in die Urzeit der Menschheit zurückreiche. Vgl. dazu Bultmann, Urgeschichte, 29, und Dyck, Athen, 97–99. Zur Problematik eines äquivoken Poesiebegriffs siehe bereits Cramer, Poesie, hier zitiert nach Ders., Psalmen, 43–58 und Herder, Briefe, 29.

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Auf der anderen Seite steht die Hiobdeutung von William Warburton (1698– 1779), der zur Zeit von Lowth zunächst Prediger von London und später Lordbischof von Gloucester war. In einem Exkurs zu seiner Divine Legation of Moses (1737–1741) hatte Warburton die These vertreten, das Buch Hiob sei eine von Esra verfasste, dramatisch angelegte Allegorie auf die unter dem babylonischen Exil und seinen Folgen leidenden Israeliten.9 Negation der Poesie als Kategorie für die biblischen Schriften einerseits, Bestreitung der Historizität und des hohen Alters des Hiobbuches andererseits: Demgegenüber versucht Lowth Geschichtlichkeit, Poesie, Kanonizität und Frühdatierung im Blick auf das Buch Hiob zu vereinbaren.

1.2 Lowths Praelectiones über das Hiobbuch Lowth befasst sich im dritten und letzten Teil der Sacra Poesis, welcher der Darstellung der verschiedenen Arten (species) der hebräischen Dichtungen gewidmet ist, und hier wiederum in den letzten drei Vorlesungen (XXXII–XXXIV) mit dem Hiobbuch. Durch diese Positionierung wird schon äußerlich der besondere Rang deutlich, den dieses Buch für Lowth im Rahmen der biblischen Schriften einnimmt. Ähnlich eröffnet Johann David Michaelis, der die Lowth’schen Praelectiones, mit umfangreichen eigenen Anmerkungen versehen, 1758/1761 herausgegeben und dadurch – neben anderen – deren Rezeption von der deutschen Forschung des 18. Jahrhunderts begründet hat,10 seine Deutsche Übersetzung des Alten Testaments (1769) und seine Einleitung in die göttlichen Schriften des Alten 9 Warburton, Legation, in Works, Bd. 5, 298–384. Mit Warburton führte Lowth gerade über das Buch Hiob einen mehrjährigen literarischen Streit. Für dessen erste Phase steht der Briefwechsel von 1756. Eine neue Runde erlebte die Auseinandersetzung anlässlich einer Ergänzung von Lowth zur 32. Vorlesung der Sacra Poesis (2. Auflage von 1763), auf die Warburton in einem Appendix zur Divine Legation of Moses (1765) reagierte und Lowth A Letter to the Right Reverend Author of the Divine Legation of Moses Demonstrated verfasste (1765). Zu diesem Streit siehe auch Ryley, Warburton, 62 f, und Smend, Entdecker, 189 f. 10 Lowth, De sacra Poesi. Erheblichen Anteil an der Verbreitung des Werks von Lowth hatte auch die ausführliche Rezension von Moses Mendelssohn in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste (1757) (wieder abgedruckt in: Mendelssohn, Schriften, Bd. 4/1, 171–210), vgl. dazu Löwenbrück, Michaelis, 159 f; Smend, Lowth, 43–62. Gleichwohl musste noch 1793 Carl Benjamin Schmidt, der unter dem Titel Auszug aus D. Robert Lowth’s Lord Bischofs zu London Vorlesungen über die heilige Dichtkunst der Hebräer mit Herder’s und Jones’s Grundsätzen verbunden. Ein Versuch, zur Beförderung des Bibelstudiums des alten Testaments, und insbesondre der Propheten und Psalme. Nebst einigen vermischten Anhängen eine Paraphrase der Praelectiones de sacra poesi Hebraeorum anfertigte, feststellen, dass Lowths Werk ein „treffliches, aber vielleicht noch nicht genug bekanntes und genug gebrauchtes Buch“ sei (a. a. O., 5). Während die Sacra Poesis ins Englische (1787), Französische (1812) und Italienische (1832) übersetzt wurde, fehlt bis heute eine deutsche Übersetzung. Zu einer frühen kritischen Auseinandersetzung mit den Lowth’schen Klassifikationen siehe J. A. Cramer, Von dem ­poetischen Charakter der Psalmen (1755/1759; wieder abgedruckt in: Cramer, Einleitung, 295–306).

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Bundes (1787) mit dem Buch Hiob.11 Nach einer Übersicht über die prophetische (‫)נבואה‬, die elegische (‫ )קינה‬und die didaktische Poesie (‫ )משלים‬sowie die Ode (‫ )שיר‬und den Hymnus bzw. das Idyll (‫ )שיר‬des Alten Testaments kommt Lowth zur dramatischen Dichtung (poemata dramatica). Zu dieser rechnet er neben dem von ihm allegorisch gedeuteten Hohenlied auch das Buch Hiob. Das im Bereich der alttestamentlichen Literatur inhaltlich und formal einzigartige Hiobbuch basiere auf einer wahren Geschichte. Es sei weder eine fiktive Trostschrift des Mose zur Erbauung der in Ägypten versklavten Israeliten, wie es ­Michaelis vertrat,12 noch eine Allegorie der nachexilischen Situation Israels, wie es Warburton behauptete.13 Das Buch sei rein Hebräisch abgefasst – hier verwirft Lowth ausdrücklich die im wichtigsten Hiobkommentar des 18. Jahrhunderts von Albert Schultens vertretene These einer arabischen Grundform.14 Als Verfasser komme aus sachlichen (res), aus sprachlichen (sermo) und aus kompositionellen (universus character) Gründen weder Elihu15 noch Mose16 noch Esra oder ein anderer nachexilischer Autor17 in Frage, sondern entweder Hiob selbst oder einer seiner Zeitgenossen. Jedenfalls sei das Hiobbuch das älteste Buch des Alten Testaments – ein Urteil, das unter Verweis auf den Buchcharakter dieses Werks später Hermann Gunkel18 wiederholen wird. Lowth erkennt deutliche formale und tendenzielle Unterschiede zwischen den narrativen Teilen in Kap. 1–2 und 42,7– 17 einerseits und den Reden andererseits. Die stilistische Differenz zwischen der Rahmenerzählung und den Reden erscheint ihm wie der Unterschied zwischen Livius und Vergil oder zwischen Homer und Herodot.19 Dennoch führt Lowth das Buch als Ganzes auf einen Autor zurück.20 Ansätze zu einer literarkritischen 11 Michaelis, Übersetzung, Bd. 1; Ders., Einleitung. Den Beginn mit dem Hiobbuch begründet Michaelis literaturgeschichtlich mit dem Hinweis auf das hohe Alter des Hiobbuches („das älteste unter allen biblischen Büchern“) und inhaltlich, insofern dieses die zentralen theologischen Fragen nach der Unsterblichkeit der Seele und dem Ort der göttlichen Gerechtigkeit stelle (Übersetzung, 35*). 12 Michaelis, Übersetzung, 38*; Ders., Notae, 649–652; Ders., Einleitung, 1–23, 72–106. 13 Warburton, Legation, in Works, Bd. 5, 330–369, Bd. 6, 145–154. 14 Schultens, Liber Iobi; Vogel, Commentarius, Bd. 1–2; vgl. auch Reiske, Conjecturae. 15 Lightfoot, Opera, Bd. 1, 24 f. 16 Michaelis, Einleitung, 72–106; zur Annahme der mosaischen Abfassung im unmittelba­ ren Umfeld von Lowth siehe auch Grey, Liber Iobi, praefatio, XII, und Kennicott, Remarks, 152. 17 Warburton, Legation, in Works, 370–384; Heath, Essay, VIII. 18 Gunkel, Literatur, 91. 19 Lowth, De Sacra Poesi (praelect. XIV), 150. 20 Lowth, De Sacra Poesi, 365, zeigt sich in der entsprechenden Passage, die Gregory in seiner englischen Übersetzung (Lectures, 359–364) sehr viel eindeutiger in Richtung einer einheitlichen Verfasserschaft wiedergibt, mit den Thesen einer sekundären Rahmung der ursprünglich selbständigen Hiobdichtung vertraut, wie sie vor ihm Richard Simon, Histoire Critique, 30, und A. Schultens, in der Vorrede zum Kommentar, XXXI–XXXIV, vertreten haben. Zu weiteren Vertretern siehe Witte, Vom Leiden, 192, und Syring, Hiob, 25–28. Allerdings nennt Lowth keine entsprechenden Vertreter der von ihm bestrittenen These.

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Differenzierung, wie sie sich im Hiobkommentar von Thomas Heath (1756) und bei dem mit Lowth zusammenarbeitenden Benjamin Kennicott (1780/1787) finden,21 bietet er nicht. Hauptziel der Hiobdichtung sei es, den Menschen über die eigene Schwäche und über die Stärke Gottes zu belehren sowie den Menschen zum Glauben an Gott und zur Unterwerfung unter Gott zu führen. Lehre der gesamten Hiobgeschichte sei es, ein Beispiel für Geduld im Leid, die letztlich belohnt werde, zu geben. Lowth spürt eine gewisse Inkongruenz zwischen dem Ziel der Dichtung und dem Skopus des gesamten Buches. Er verzichtet aber angesichts vieler ihm noch dunkel erscheinender Stellen auf eine abschließende Klärung und widmet sich dann der wirkungsgeschichtlich bedeutenderen Frage nach der literarischen Gattung des Hiobbuches. Bereits in der Überschrift der entscheidenden 33. Vorlesung fällt das eingehend begründete Urteil: „poema Iobi non esse iustum drama“. Damit bestreitet Lowth eine im 16. und 17. Jahrhundert weit verbreitete formgeschichtliche Klassifikation des Buches Hiob.22 Zunächst unterscheidet Lowth zwei Definitionen von Drama: 1.) eine antike, der zufolge die dialogische Form das entscheidende Merkmal des Dramas sei, 2.) eine moderne, der zufolge zum Dialog eine in diesem ausgeführte Handlung (actio) oder Geschichte (fabula) komme. Der ersten Definition entspreche das Hiobbuch letztlich nicht, weil es eine Mischung aus Erzählung und Dialog darstelle, der zweiten entspreche es nicht, weil dem Hiobdialog die Handlung fehle und diese auch nicht durch die rahmende Erzählung kompensiert werde. Obgleich Lowth damit bereits die Problematik der Einordnung des Hiobbuches als Drama aufgezeigt hat, unterzieht er in einem zweiten Schritt die Hiobdichtung einer genauen Prüfung, und fragt, ob diese die wesentlichen Kriterien eines echten Dramas (nämlich a.) einen drama 21 Heath rechnete mit einer mechanisch bedingten Vers- und Blattvertauschung und ordnete den Text in Kap. 31 und im Bereich von Kap. 38–42 neu an: 31,1–25.38.40a.26–37.40b und 38,1–39,30; 40,15–42,6; 40,1–14; 42,7–17 (Heath, Essay, 128–131, 163–173). Kennicott, der Heath darin folgte, glaubte zusätzlich in 27,13–23 die Reste einer im Laufe der Textüberlieferung verlorengegangenen dritten Rede Zophars zu erkennen (Kennicott, Remarks, 162–171). Auch wenn Heath und Kennicott textgeschichtlich argumentierten, bilden ihre Beobachtungen doch die Voraussetzung zu späteren literarkritischen Lösungen der Probleme in 27,13–23 und 40,1–41,26. 22 Vgl. exemplarisch Mercerus (Mercier), Commentarius, praefatio: Das Buch Hiob lasse sich in drei Teile oder Akte wie eine Tragödie gliedern (I: Die Heimsuchung Hiobs; II: Der Dialog Hiobs mit den Freunden; III: Die Entscheidung durch Gott). Man habe im Buch fünf Personen, durch die das Ganze wie in einer Tragödie oder besser noch – wegen des glücklichen Ausgangs (laetum exitum) – in einer Komödie verhandelt werde und als sechste Person Gott als Richter auftrete. Den Satan könne man noch als siebte Person hinzunehmen. Vgl. auch Beza, Commentario, und Gerhard, Loci Theologici, Bd. 5, § 140: Das Buch Hiob kann wie das Drama in protasis, epistasis und laeta catastropha gegliedert werden.

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tischen Aufbau, b.) eine dramatische Katastrophe, c.) die Figur eines deus ex machina und d.) eine genaue Anzahl von Akten und Szenen) aufweise. Das Ergebnis für die Dramendeutung der Hiobdichtung ist negativ: Die Hiobdichtung enthält die Nachahmung von Sitten, aber gerade nicht die für das Drama gemäß der Poetik des Aristoteles (Kap. 6) entscheidende Nachahmung von Handlung. Für die Hiobdichtung gilt: „nulla rerum motio aut conversio, nulla actio“ – und dies sei nicht nur formal nachweisbar, sondern auch inhaltlich durch das argumentum der Hiobdichtung ausgeschlossen. Dieser poetologisch und inhaltlich begründeten Abweisung der Anwendung des Dramenbegriffs fügt Lowth in einem dritten Abschnitt eine detaillierte Gegenüberstellung der Hiobdichtung mit den beiden Oedipus-Tragödien des Sophokles an. Dass Lowth gerade Sophokles auswählt, ist kein Zufall. Denn wie in der literaturgeschichtlichen Forschung des 18. Jahrhunderts Homer als Muster des Epos und Pindar (gefolgt von Horaz) als Paradigma der Lyrik galt, wurde Sophokles als das Beispiel für dramatische Dichtung angesehen.23 Lowths Vergleich gipfelt in dem Urteil, das Hiobbuch könne nur dann richtig mit einer griechischen Tragödie verglichen werden, wenn die Handlung entweder aus dem Drama eliminiert oder zum Hiobbuch addiert werde. Nach griechischer Poetik könne die Hiobdichtung eher noch als θρῆνος (monody) oder κομμός (elegiac dialogue) bezeichnet werden. In seiner vorliegenden Gestalt stelle das Buch Hiob eine Größe eigener Art dar, die nicht nach einer fremden Norm zu messen sei – letztlich sei es dann auch zweitrangig, ob es eher didaktisch oder ethisch oder pathetisch oder dramatisch genannt werde; entscheidend sei, dass diesem Werk der erste Platz in der hebräischen Dichtung eingeräumt werde  – und dass es, so gemäß der grundsätzlichen Intention der Praelectiones, gelesen werde. Denn das Hiobbuch übertreffe alle anderen Monumente der hebräischen Dichtung hinsichtlich seiner poetischen Gesamtanlage, zu der nicht zuletzt die besonders schönen Parallelismen zählten.24 Der Nachzeichnung der poetischen und kompositionellen Struktur des Hiobbuches ist die abschließende 34. Vorlesung De poematis Iobi moribus, conceptionibus et stylo gewidmet. Hier arbeitet Lowth dann auch, nach seiner prinzipiellen Ablehnung des Dramenbegriffs, durchaus dramatische Elemente in der Hiobdichtung heraus25 und weist einzelne

23 Trappen, Formen, 186; Cullhed, Language, 185–237. Der kanonische Rang, den die griechischen und römischen Autoren in Fragen der Poetik im 18. Jahrhundert spielten, zeigt sich auch immer wieder bei Lowth (z. B. De Sacra Poesi, 22; 345 f); siehe dazu auch Kugel, Idea, 274. 24 In der Übersicht zu den drei Arten der Parallelismen (synonym, antithetisch, synthetisch/konstruktiv) in der Preliminary Dissertation zum Jesajakommentar von 1778 führt Lowth als besonders eindrückliche Beispiele aus dem Hiobbuch 3,4.6.9; 12,13–6 und 26,5 an. Typisch für das Hiobbuch seien synthetische/konstruktive Parallelismen (Lowth, Isaiah, XXVIII). 25 Vgl. auch Lowth, Isaiah, XXVII: „The Poem of Job, being on a large plan, and in a high Tragic style“; vgl. auch C. B. Schmidt, Auszug, 184.

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ihrer Abschnitte den zuvor begründeten Gattungen (genera) und Dichtungsarten (species) zu.26 Der wesentliche Beitrag, den Lowth mit seinen Praelectiones zur Erhellung der Formgeschichte des Hiobbuches geleistet hat, besteht zunächst in zwei Punkten: 1.) in der ausführlichen Begründung und Würdigung des Hiobbuches als Poesie. Dadurch wird die methodisch kontrollierte Anwendung poetologischer Kategorien und der gezielte literaturgeschichtliche Vergleich mit nichtbiblischen poetischen Texten möglich. 2.) in dem Bemühen, das Buch Hiob sowohl in seiner Gesamtkomposition als auch in seinen Teilen einzelnen poetischen Gattungen der hebräischen Dichtung zuzuweisen. Damit wird der Weg zu einem methodisch begründeten literaturgeschichtlichen und ästhetischen Verstehen des Buches Hiob im Kontext der biblischen Texte eröffnet.27

2. Die richtige Form oder der status quaestionis um 1800 2.1 Reaktionen auf Lowth Kennzeichnend für die formgeschichtlichen Klassifikationen des Hiobbuches in den ersten Jahrzehnten nach Lowths Poetik ist die Vielfalt der vorgeschlagenen Gattungen und der Korrelationen mit scheinbar analogen Literaturen. Die grundsätzliche Beurteilung des Hiobbuches als Poesie wird von allen folgenden kritischen Exegeten geteilt, ohne dass diesen damit der Wahrheitsgehalt des Hiobbuches verloren geht. Nicht unerheblichen Anteil an dieser Einschätzung dürfte wie schon bei der Verbreitung der Lowth’schen Thesen in Deutschland das Urteil von Johann David Michaelis gehabt haben: „Hiobs und seiner Freunde Reden sind durch und durch Poesie, noch dazu die erhabenste und begeistertste Poesie, die wir in der an Gedichten so reichen Hebräischen Bibel haben“.28 Ein erheblicher Dissens besteht in der Frage, ob das Hiobbuch eher der epischen, lyrischen, dramatischen oder didaktischen Poesie zuzurechnen sei. Darin spiegelt sich die lebhafte gattungsgeschichtliche Diskussion, die in der gesamten Literaturwissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geführt wurde.29

26 So bilden die Klagen Hiobs in Kap. 3; 6 f; 10; 14; 17; 19; 29 f die schönsten Beispiele für die hebräische Elegie (‫( )קינה‬De Sacra Poesi, [praelect. XXIII], 264 f). 27 Siehe dazu auch die umfassende forschungsgeschichtliche Würdigung bei Prickett, Words, 105–123. 28 Michaelis, Einleitung, 9. 29 Siehe dazu Lessenich, Dichtungsgeschmack, 149; Scherpe, Gattungspoetik, 82–113; Trappen, Gattungspoetik, 123–139.

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2.2 Thomas Heath Ohne Hinweis auf Lowths Vorlesungen vertrat nur drei Jahre nach deren Publikation Thomas Heath in seinem in London erschienenen Hiobkommentar erneut die Einordnung als Drama – und auch Michaelis formulierte pathetisch: „So poetisch läßt man im Drama die auftretenden Personen reden […] Wie Drama sieht es aus, nicht wie Geschichte.“30  – eine literaturgeschichtliche Klassifikation, die sich bis in die Gegenwart immer wieder findet.31 Dabei stellte Heath das Hiobbuch einerseits den Tragödien des Euripides, andererseits den Komödien des Plautus zur Seite. Von diesen unterscheide sich die Hiobdichtung allerdings dadurch, dass sie nicht für die Bühne, die den Orientalen unbekannt gewesen sei, bestimmt war. Vielmehr führe der Hiobdichter die für die Handlung wichtigen Personen und die Lösung des Konflikts im Prolog und Epilog seines „tragical dialogue“ selbst narrativ ein.32

2.3 Johann Gottfried Herder Eine gewisse Inkonsistenz in der Argumentation von Lowth stellt dessen Forderung dar, einerseits die hebräische Poesie aus der hebräischen Literatur selbst zu verstehen, andererseits sein methodisches Vorgehen, bei der Bestimmung der alttestamentlichen Gattungen immer wieder auf die Kategorien der griechischen und römischen Poetiken, vor allem von Aristoteles und Horaz zurückzugreifen. Genau dies wurde Lowth von Johann Gottfried Herder vorgeworfen: Er (d. h. Lowth) gab nach Englands Weise Prälectionen, wollte seinen Gegenstand ab ovo aufnehmen und nach griechischer und römischer Art behandeln: er wählte also auch römische und griechische Namen, und beliebte das Fachwerk der neuern Poetik, obs gleich seinen uralten, morgenländischen, heiligen Objekten nicht immer 30 Michaelis, Einleitung, 9–11; vgl. auch Hermann Samuel Reimarus (1698–1768) in den von G. E. Lessing herausgegebenen Fragmenten (1777) bei Smend, Das Alte Testament, 80–104, hier: S. 96. 31 An erster Stelle ist hier Kallen, Book of Job, zu nennen, der im Anschluss an Theodor von Mopsuestia (vgl. Anm. 3) im Hiobbuch eine nach dem Muster der Tragödien des Euripides gestaltete, mit einzelnen Chorliedern (Hi 28 nach Kap. 14; Hi 24,2–24 nach Kap. 21 und Hi 40,15–41,26 nach Kap. 31) versehene Komposition zu erkennen glaubte. Die jetzige, narrative Gestalt des Hiobbuches führte Kallen auf eine orthodoxe Redaktion zurück. Obgleich Kallen seine phantasievolle Neuordnung des hebräischen Textes und die angenommene Beeinflussung des Hiobdichters durch Euripides kaum näher begründete, blieb seine Hypothese nicht ohne Einfluss; vgl. die forschungsgeschichtliche Diskussion bei Hadas, Hellenistic Culture, 130–146; Steinmann, Job, 23; Lévêque, Job, Bd.  1, 104–116; de Wilde, Hiob, 25–27, 60 f; Mies, L’espérance, 235–237; Vicchio, Job, Bd. 1, 22 f; Seow, Job 1–21, 48. 32 Heath, Essay, VII.

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angemessen war. Daher die manchmal unpassende Fragen und Gesichtspunkte: ob das Buch Hiob ein wahres Drama? das hohe Lied ein wahres theokritisches Hirtengedicht sey? und unter welche Classe von Oden und Gedichten jeder Psalm, jeder Prophet gehöre?33

Herders Werk Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/1783) stellt nicht nur von seiner Konzeption her, sondern auch im Blick auf die Formgeschichte des Hiobbuches die fruchtbarste Auseinandersetzung und Weiterführung der Arbeiten von Lowth dar. „Durch Lowth ist Herder zu der Ansicht gekommen, dass man eine Poetologie der hebräischen Poesie schreiben müsse, und ebenso, dass man sie anders schreiben müsse, als Lowth es getan hat.“34 Das Hiobbuch wird bei Herder zum morgenländischen „Consessus einiger Weisen …, die pro und contra die Sache der Gerechtigkeit des obersten Weltmonarchen verhandeln“35. Herder kann sich bei der Nachzeichnung des Hiobbuches einzelner dramatischer Begriffe bedienen, wenn er von der „zwiefache(n) Szene, im Himmel und auf der Erde“, oder von den „unsichtbaren Zuschauer(n)“ und dem „Schauplatz des ganzen Buches“ spricht.36 Dennoch steht für ihn – wie für Lowth – fest, dass es „kein Drama“37 ist. Deutlicher als Lowth verortet Herder das Buch im orientalischen Milieu: „Die Morgenländer lieben solche gelehrte Consessus, lange Reden in geflügelten Sprüchen, die sie geduldig aus- und anhören und denn in eben der Weise beantworten.“38 Herder teilt mit Lowth die Einschätzung des Hiobbuches als „älteste Kunstkomposition der Welt“. Es zeigt sich bei Herder aber eine charakteristische Verschiebung in der Bestimmung des Verhältnisses von Poesie und Historizität. Für Calmet schloss der Begriff Poesie die Geschichtlichkeit des Dargestellten aus. Lowth versuchte Historizität und Poesie mittels der Zuordnung der hebräischen Dichtung zur Prophetie und mittels der Figur der heiligen, d. h. der göttlich inspirierten Poesie, zu vereinbaren. Herder hingegen liegt an der Geschichtlichkeit des Geschilderten nichts: Für ihn macht die „starke und kräftige Poesie“ das Hiobbuch zur Geschichte.39 „Ob die Geschichte Hiobs Geschichte oder Dichtung sey, ist uns einerley, gnug, er ist im Buche da.“40 In der Beurteilung des Hiobbuches als „consessus einiger Weisen“ sind Herder große Teile der deutschen Forschung gefolgt, u. a. Johann Gottfried Eichhorn (1787)41,

33 Herder, Studium, 15; 29 f. 34 Bultmann, Urgeschichte, 82. Zu Herders Beitrag zur Erforschung des Alten Testaments siehe auch Witte, Herder. 35 Herder, Poesie, Teil 1, 314. 36 Herder, Geist, 316 f. 37 Herder, Geist, 314. 38 Herder, Geist, 315. 39 Herder, Geist, 315. 40 Herder, Studium, 132; ähnliches gilt nach Herder für das Buch Jona (Studium, 101 f). 41 Eichhorn, Einleitung (1787), Bd. 3, 492.

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Johann Gottfried Hasse (1789)42 und Johann Conrad Christoph Nachtigal (1799)43. Dabei fehlte es auch nicht an Versuchen, Herders Begriff des „Morgenländischen“ mit der Lowth’schen Kategorie der hebräischen poemata dramatica zu verbinden: Das Hiobbuch wird in diesem Fall zum „morgenländischen Drama“44.

2.4 Wilhelm Martin Leberecht de Wette Eine merkwürdige Zwischenstellung nimmt hier Wilhelm Martin Leberecht de Wette ein (1817). In Weiterführung von Lowths poetischen Typen der hebräischen Poesie unterscheidet er zwischen lyrischer, lyrisch-elegischer, erotischidyllischer und didaktisch-gnomologischer Poesie. Zu letzterer zählt er das Buch Hiob. Gleichzeitig rekurriert de Wette auf Herders These von den Versammlungen der Weisen, denen das Hiobbuch sein dialogisches Grundmuster verdanke. Beides überführt de Wette dann aber in das Urteil, die „Aeltern“ (unter denen er Th. Beza, J. Mercerus, J. Gerhard und R. Lowth nennt) hätten den Vergleich des Hiobbuches mit der Tragödie „zu ängstlich gefaßt“; man könne es durchaus „die hebräische Tragödie nennen“.45 Eindeutiger ist hier später Heinrich Ewald (1836), der das Buch Hiob zwar inhaltlich und intentional als Lehrgedicht bezeichnet, aber der „Kunst nach […] als das göttliche Drama der alten Hebräer“46.

2.5 Wilhelm Friedrich Hufnagel Demgegenüber steht Einordnungen des Hiobbuches in die von Lowth in der 24.  Vorlesung behandelten carmina didactica, so beispielsweise bei Wilhelm Friedrich Hufnagel (1781), der zu den wenigen deutschen Alttestamentlern des 42 Hasse, Vermuthungen, 175 f. 43 Nachtigal, Weisen-Versammlungen, 380–451: Die Gegengesänge, die sich unter der Aufschrift ‚Hiob‘ erhalten hätten, seien Proben von Vorträgen der Versammlungen von Weisen. Hiob sei in Samuels Sängerversammlung oder Prophetenschule entstanden. Vgl. aber auch noch 100 Jahre später Merx, Das Gedicht von Hiob (1871), XXXIII: „Will man in der Form etwas vergleichen, so ist dies die arabische Maḳâma, oder die Musâmira, die Form der nächtlichen Unterhaltung, die den Semiten eigenthümlich ist.“ 44 Hezel, Bibel, Bd. 3, 463: „ein Drama in kunstloser Gestalt, ein morgenländisches und überdies noch das älteste in der Welt.“ 45 Wette, Lehrbuch, 409. In seinem Hiob-Artikel in der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, 8/2, 296, und in der siebten (und letzten von eigener Hand verbesserten) Auflage des Lehrbuches (1852), 383, wendet de Wette dann auch noch den Begriff des „Lehrgedichts“ an. 46 Ewald, Bücher, 60. In einer Anmerkung in der zweiten Ausgabe von 1854 fügt Ewald zur Unterstützung seiner Dramendeutung eine kuriose Entdeckung aus einer Handschrift von Leibniz an, dem das Hiobbuch „opernartig“ vorgekommen sei (Dichter, Teil 3, 56 f).

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ausgehenden 18.  Jahrhunderts gehört, die Lowth ausdrücklich zitieren,47 oder die Klassifikation als Epos.

2.6 Carl David Ilgen Die umfassendste Begründung dieser Zeit für die Bezeichnung des Hiobbuches als Epos findet sich in einem frühen Werk des in der Pentateuchkritik glücklicher agierenden Carl David Ilgen (1789).48 Der Vergleich mit den homerischen Epen (der im 17./18. Jahrhundert nicht ungewöhnlich war, denn auch Lowth konnte Hiob als „the Homer of the Hebrew Classics“ bezeichnen49) führte Ilgen zu dem Ergebnis, es handle sich um eine Epopöe, bestehend aus 27 Rhapsodien. Mit wenigen Ausnahmen fand Ilgens Einordnung des Hiobbuches in die Epik (zunächst) keine Gefolgschaft,50 obgleich er mit der prinzipiellen Bezeichnung des Hiobbuches als Epos in John Milton (1608–1674) einen prominenten Vorgänger hatte.51

2.7 Samuel Friedrich G. Wahl Moderner mutet demgegenüber die Einschätzung eines der ersten Rezensenten von Ilgens Werk, Samuel Friedrich G. Wahl (1789), an. Das Hiobbuch, so S. F. G. Wahl, „gehört offenbar zu einer Dichtungsart, welche in unseren beschränkten Poetiken noch keinen Namen und keine Stelle hat. Im Allgemeinen ist es ein Volks- oder Bardenlied, das mit den Liedern Ossians und der keltischen Barden viel gemein hat … Muß das Kind einen Namen haben, 47 Hufnagel, Hiob, § 2; ähnlich Sander, Hiob, 32; Seiler, Erbauungsbuch, 9ter Theil, 1, und Hirzel, Hiob, 7. Zu Hufnagels Beiträgen zum Hiobbuch siehe Witte, Hufnagel, 165–177. 48 Ilgen, Natura. Unmittelbare Vorgänger hatte Ilgen mit der epischen Klassifikation des Hiobbuches in den Werken von Stuss, Epopoeia, und von Lichtenstein, Liber. 49 Lowth, Letter (hier zitiert nach Smend, Entdecker, 190). Zum Vergleich alttestamentlicher Schriften mit Homer in der Forschung des 18.  Jahrhunderts siehe generell Norton, History, 206, und speziell die zahlreichen poetologischen Parallelisierungen zwischen Homer und Jesaja in Lowths Jesajakommentar, z. B.: „Dies Gleichniß (d. h. Jes 31,4) ist genau in dem Geiste und der Manier Homers, dessen Ausdruck es auch sehr nahe kommt (d. h. Ilias XII 299)“ (Koppe, Robert Lowth’s Jesajas, Bd. 3, 141). 50 Zu den Ausnahmen gehört u. a. Augusti, Grundriss, 221, für den das Hiobbuch einerseits ein „moralisches Epos“ darstellt, andererseits das „ausführlichste und gelungenste Lehrgedicht des AT“ (185). Zur Annahme, dass zumindest (literargeschichtlich zu differenzierende)  Teile des Hiobbuches episch geprägt seien (s. u. Abschnitt 4.1), siehe für das 19.  und 20.  Jahrhundert: Cheyne, Job, 108; Dillmann, Hiob; Budde, Hiob, X; König, Hiob, 17 f; Sarna, Epic, 13–25; Watson, Poetry, 85. 51 Milton, Reason, 107.

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Die literarische Gattung des Buches Hiob

so kann ich das Gedicht mit keiner Dichtungsart besser vergleichen, zu keinem näher bringen, als zu dem Duan der gallischen oder keltischen Dichtung.“52 Im Hintergrund dieses Vergleichs, der u. a. auch von Karl Wilhelm Justi (1794)53 unternommen wurde, steht die 1762 von dem Schotten James McPershon publizierte Sammlung keltischer Lieder Fingal. An Ancient Epic Poem in Six Books. Together with Severed Other Poems Composed by Ossian, the Son of Fingal, translated from the Gaelic Language, die zumindest bis zum Nachweis ihrer Fälschung einen bedeutenden Einfluss auf die europäische Literatur hatte.54

2.8 Ernst Friedrich Carl Rosenmüller Angesichts dieser Einordnungen entschied sich Ernst Friedrich Carl Rosenmüller (1824)55 in direktem Anschluss an Lowth, dessen Praelectiones er zusammen mit Michaelis’ Noten und wenigen eigenen Anmerkungen 1815 herausgab, wieder für die Bestimmung des Hiobbuches als Werk sui generis – der bis heute am weitesten verbreiteten Klassifikation56.

2.9 Zusammenfassung Allen in diesem Abschnitt vorgestellten Kategorisierungen ist gemeinsam, dass sie die literarische Form des Buches primär von seinem eigentlich poetischen Teil in Kap. 3,2–42,6* her bestimmen. Dass dieses Verfahren zu einseitig sei, betonte daher zu Recht Friedrich Wilhelm Carl Umbreit (1824). Mit seiner Kritik, die Bezeichnung des Hiobbuches als didaktisches, religiöses, lyrisches oder dramatisches Gedicht greife zu kurz, traf er auch einen wunden Punkt der Hiobanalyse von Lowth, der das Buch insgesamt als poema bezeichnete. Umbreit selbst wies das Hiobbuch dann aufgrund seiner Komposition aus Prolog, Dialog und

52 S. F. G. Wahl, Ilgen, 192. 53 Justi, Fragmente, 141 f. Als kompositionsgeschichtliche Analogien zur vermuteten Entstehung des Hiobbuches aus sekundär verknüpften Liedsagen führte Justi weiterhin die homerischen Epen, die Hieroglyphika des Horus Apollo von Neilopolis (5. Jh. n. Chr.) und die Argonautika des Orpheus von Kroton (6./5. Jh. v. Chr.) an. 54 Vgl. nur den Ausruf des jungen Werther: „Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt. Welch eine Welt, in die der Herrliche mich führt“ (Goethe, Leiden [Brief vom 12. Ok­ tober 1772], 67); zur Ossian-Rezeption in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts siehe Vilmar, Geschichte, 360, 385. 55 Rosenmüller, Scholia, Bd. 5, 25 f. 56 Vgl. dazu exemplarisch Driver/Gray, Job, XXII; Dhorme, Job, LXXIX; Pope, Job, XXX; Rowley, Job, 5; Hartley, Job, 38; Crenshaw, Job, 865; Spieckermann, Hiob, 1777; Seow, Job 1–21, 61.

Die reine Form oder der Ort des Buches Hiob

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Epilog, aufgrund seiner („wenn auch nur mit dem Schwerte der Zunge“57) vollzogenen Handlung und aufgrund seiner inhaltlichen Abfolge von Knüpfung, Verwirrung und Lösung eines Knotens wieder dem Drama zu.

3. Die reine Form oder der Ort des Buches Hiob in der Welt der Literaturen  Um 1800 sind alle wesentlichen Bestimmungen der literarischen Form des Hiobbuches als Gesamtkunstwerk in der Forschung vorhanden, die in unterschiedlichen Modifikationen bis heute vertreten werden. Neue Akzente erhielt die Frage nach der literarischen Gattung des Buches in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem durch Heinrich Ewald, Konstantin Schlottmann und Ernst Heinrich Meier.58

3.1 Heinrich Ewald Heinrich Ewald (1836 ff)  unternahm erstmals den umfassenden Versuch, die Form des Hiobbuches nicht nur hinsichtlich seiner poetischen Struktur zu beschreiben und pauschal der morgenländischen Dichtung zuzuweisen, sondern im Gefolge von Herder diese genetisch aus einfacheren Formen der hebräischen Poesie und aus der hebräischen Mentalität abzuleiten. Als darstellende, d. h. als dramatische Dichtung sei das Hiobbuch letztlich aus dem hebräischen Singspiel hervorgegangen. Dieses habe sich in literarisch kunstvoller Form zunächst im Hohenlied niedergeschlagen: „Wäre das Hohelied oder vielmehr die wirkliche volksthümliche darstellung wovon wir jetzt im HL. ein beispiel haben in Israel nicht vorangegangen, so hätte in ihm nie ein B. Ijob entstehen können.“59 Den Ursprung der hebräischen Spieldichtung, die sich in Gestalt des Hohenliedes als „Lustspiel“ zeige, in Form des Hiobbuches als „Trauerspiel“, sieht Ewald im Lied.60 Während das Hohelied noch für eine „einfache bühne bestimmt“ gewesen sei, könne dies für das Hiobbuch aus religiösen Gründen auf keinen Fall 57 Umbreit, Hiob, XXVIII. 58 Zur neuzeitlichen Geschichte der Erforschung des Strophenbaus und der Metrik der Hiobdichtung, die mit Köster, Hiob beginnt, siehe die ausführliche Darstellung bei van der Lugt, Criticism. Angesichts des handbuchartigen Charakters dieses Werks überrascht allerdings die Nichtberücksichtigung der Sacra Poesis von Lowth (vgl. besonders dessen praelect. III. ‫ מזמור‬sive de metris Hebraeis; Ders., Metricae Harianae brevis confutatio, in: De Sacra Poesi, 401–407; Ders., Isaiah, XXXIV. 59 Ewald, Liedwenden, 117. Zur unmittelbaren formgeschichtlichen Korrelierung von Canticum und Hiob vgl. Lowth, De Sacra Poesi, praelect. XXX–XXXI. 60 Ewald, Dichter, Teil 1/1, 69 f.

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Die literarische Gattung des Buches Hiob

gelten. Denn im Gegensatz zu anderen Völkern sei es für Israel unmöglich, seinen Gott auf die Bühne zu bringen. Hiob erhebe die ernste Spieldichtung in geistige Höhen, „an welche keine irdische bühne und kein sinnliches auge reicht“.61 Das Hiobbuch stellt mithin die reine Form dramatischer Dichtung dar. „Weder die Inder noch die Griechen und Römer haben ein so erhabenes und so rein vollendetes gedicht aufzuweisen.“62 Hiob ist für Ewald mehr als Oedipus oder Philoktet.63 Denn, so Ewald weiter, „nur wo eine wahre religion herrschte, konnten so rein erhabene und vollkommene kunstwerke entstehen wie wir an dem B. Ijob das nirgends übertroffene große beispiel haben.“64 Reine Poesie und reine Religion gehören somit untrennbar zusammen. Angesichts dieses Urteils versteht es sich von selbst, dass Ewald die Korrelierung des Hiobbuches mit neuzeitlicher Literatur entschieden zurückwies: „Mit den werken neuerer dichter wie Dante Shakspeare [sic] Göthe kann man es schon deswegen nicht rein vergleichen weil es diesen selbst schon mehr oder weniger gut verstanden vorschwebte.“65 Was den Vergleich mit neuerer Literatur anbelangte, hatte Franz Delitzsch (1864), der sich grundsätzlich der Ewald’schen Deutung des Hiobbuches als geistigem Drama und dessen Verständnis als der im Vergleich zu den Werken des Sophokles und Euripides reiferen Tragödie anschloss, weniger Vorbehalte, wenn er die dramatische Anlage des Buches mit Goethes Iphigenie auf Tauris und Torquato Tasso verglich.66 Den Vergleichspunkt bildete für Delitzsch wie kurz nach ihm für Th.K. Cheyne (1887) die Substitution der Handlungen durch Gesinnungen (so in der Iphigenie) bzw. durch Charakterzeichnungen (so im Torquato Tasso): Die Reden des Hiobbuches sind „as undoubtedly a germinal characterdrama, as the Song of Song is a germinal stage-drama. The work belongs to the same class as Goethes’s Iphigenie and Tasso.“67

61 Ewald, Dichter, Teil 1/1, 82. 62 Ewald, Bemerkungen, 27. 63 Ewald, Dichter, Teil 1/1, 80. Der Vergleich zwischen Hiob und dem sophokleischen Philoktet, den bereits Augusti, Grundriss, 223, vornimmt, dürfte letztlich unter dem Einfluss Lessings stehen, der im Laokoon Philoktet als Muster dramatisch dargestellten Affekts deutet (Lessing, Laokoon, 24–35). 64 Ewald, Bemerkungen, 28.  65 Ewald, Bemerkungen, 28. 66 Fz. Delitzsch, Iob, 17; vgl. auch Eberhard Schrader in der Neubearbeitung des Lehrbuches von de Wette (1869), 545. Fz. Delitzsch, dem die Forschung (neben Ewald) den philologisch und theologisch wichtigsten deutschsprachigen Hiobkommentar des 19. Jahrhunderts verdankt, würdigte ausdrücklich die Verdienste des von ihm ansonsten theologisch nicht geschätzten Rationalismus des 18. Jahrhunderts hinsichtlich der Betrachtung des Buches Hiob als poetisches Meisterwerk, ohne allerdings ausdrücklich auf Lowth, wohl aber auf Herder zu verweisen (33). 67 Cheyne, Job, 108.

Die reine Form oder der Ort des Buches Hiob  

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3.2 Konstantin Schlottmann Die von Lowth u. a. ausgeführte literaturgeschichtliche Parallelisierung des Hiobbuches mit der klassischen Tragödie und die von einzelnen Forschern des ausgehenden 18. Jahrhunderts angestellten punktuellen Komparationen mit Schriften anderer Kulturen werden bei Konstantin Schlottmann (1851) in den bis dahin am breitesten angelegten Vergleich mit europäischen und asiatischen Texten von der Antike bis zur Gegenwart überführt. Für Schlottmann ist wie für Ewald das Hiobbuch ein „geistiges Drama, dessen einzelne Handlungen nicht äußere […], sondern tief innerliche sind.“68 Der literaturgeschichtliche Vergleich mit indischen, persischen, griechischen, ägyptischen und semitischen (d. h. assyrisch-babylonischen und phönizischen)69 Parallelen lässt Schlottmann dann über Ewald hinausgehend zur Deutung des Hiobbuches als Menschheitsdrama kommen. Im Hiobbuch habe sich gesamtmenschheitliche Mythologie und Religion niedergeschlagen. Das Buch Hiob ist bei Schlottmann nicht nur heilige und reine Poesie, sondern Verdichtung der Urideen der Menschheit, der es den Weg zu ihrer ursprünglichen Einheit weist.

3.3 Ernst Heinrich Meier Bei Ewald (und noch stärker bei Schlottmann) wird deutlich, wie gerade die Einordnung des Hiobbuches in die dramatische Dichtung durch den Vergleich mit außerbiblischen Literaturen und durch inhaltliche Erwägungen bedingt ist. Daher musste sich Ewald von seinem ehemaligen Schüler, Ernst Heinrich Meier, an diesem Punkt „ein arges Miskennen [sic] der echten Kunstformen“70 attestieren lassen. Meier urteilte in seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Hebräer (1856), in der er in bewusster Weiterführung von Lowth und Herder „den organisch-geschichtlichen Entwicklungsgang der hebräischen Dichtung“ nachweisen und „aus den konkreten Lebensverhältnissen jeder Zeit“ erklären wollte71: Im Hiobbuch finden sich „die drei Grundformen aller Dichtung

68 Schlottmann, Hiob, 41. 69 Schlottmann bezog sich dabei im Wesentlichen noch auf Zeugnisse griechischer und römischer Schriftsteller, verwendete aber bereits die Berichte des Ausgräbers von Ninive, Sir Austen Henry Layard, Niniveh, Bd. 1–2, und erhoffte sich „bei der bevorstehenden Entzifferung der assyrischen Keilinschriften wahrscheinlich bald eine neue Bestätigung“ für seine Überzeugung von der wesentlichen Einheit der semitischen Religion (Schlottmann, Hiob, 83). 70 Meier, Geschichte, 522. 71 Meier, Geschichte, VIII.

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Die literarische Gattung des Buches Hiob

vereinigt: lyrische, epische und dramatische Elemente, und diese Vermischung […] ist für das Lehrgedicht wie für die Idylle charakteristisch“72. Aufgrund der im Hiobbuch vorherrschenden Gattung und aufgrund der in 27,1 und 29,1 angegebenen Bezeichnung der Hiobreden als Maschal ordnet Meier das Hiobbuch der didaktischen Poesie zu.

4. Das eine Buch Hiob und die Vielfalt seiner Formen 4.1 Neue Fragen am Ausgang des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts Mit Ernst Meier deutet sich ein forschungsgeschichtlicher Neuansatz an, der dann über die literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Richard G. Moulton (1896) und die gattungsgeschichtlichen Untersuchungen von Hermann ­Gunkel (1906) zu einer neuen Epoche der formgeschichtlichen Arbeit, auch am Buch Hiob führt.73 Kennzeichnend für die formgeschichtliche Erforschung des Buches Hiob zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind drei Phänomene: 1.) die Konzentration auf die literaturgeschichtliche Einordnung der im Buch Hiob verwendeten Formen und Gattungen, 2.) die differenzierte Betrachtung der literarischen Gattungen des narrativen Prologs und Epilogs und des poetischen Hauptteils. Hier wirkt sich vor allem die literarkritisch und stoffgeschichtlich problematisierte These von der ursprünglichen Selbständigkeit der Rahmenerzählung von der Dichtung aus, sei es, dass diese sekundär gerahmt wurde, wie es vereinzelt schon in der Forschung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vertreten worden war,74 sei es, dass diese in ein bereits literarisch fixiertes „Volksbuch“ eingeschrieben wurde.75 3.) das verstärkte Bemühen, die metrische und strophische Struktur der Hiobdichtung zu erhellen.76

72 Meier, Geschichte, 523. 73 Moulton, Study; Gunkel, Literatur; Ders., Grundprobleme, 29–38; Ders., Genesis; Ders., Propheten; Ders./Begrich, Psalmen; Witte, Anaylse. 74 Vgl. die Übersichten bei Witte, Vom Leiden, 192, und bei Syring, Hiob, 25–28. 75 Vgl. Budde, Hiob, XIII; Duhm, Hiob, VII f; Fd. Delitzsch, Hiob, 5 („Volkserzählung“). Der Begriff „Volksbuch“ wird gelegentlich auf Wellhausen (Rez. von Dillmann, Hiob, 555) zurückgeführt (vgl. Schmid, Hiob als biblisches Buch, 15 f), doch spricht Wellhausen selbst von „Volkssage“ (so auch Laue, Composition, 124). 76 Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Bickell, Carmina; Ders., Job; Ley, Hiob; Hontheim, Job; Vetter, Metrik; und dazu van der Lugt, Criticism, 2–30.

Das eine Buch Hiob und die Vielfalt seiner Formen  

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4.2 Hermann Gunkel Gegenüber diesen drei Forschungsfeldern tritt die Frage nach der literarischen Gattung des Gesamtwerks zunächst etwas in den Hintergrund.77 Charakteristisch für diese Entwicklung sind die Arbeiten von Hermann Gunkel. In Weiterführung der gattungsgeschichtlichen Ansätze von Herder, de Wette und Ewald,78 hat Gunkel vor allem in der Einleitung in die Psalmen der formgeschichtlichen Analyse der Reden der Hiobdichtung wichtige Impulse verliehen.79 Gleichwohl bleibt sein Urteil über die literarische Gattung des gesamten Buches, das er als „philosophisch-religiöses Streitgespräch“ mit seinen nächsten Parallelen in der ägyptischen Literatur bezeichnet,80 recht blass. Ähnliches gilt für Norbert Peters (1928), der sich bis dahin am umfassendsten um eine Zuweisung einzelner Redeteile der Hiobdichtung an einzelne Gattungen (Sprichwörter, Sentenzen, Klagelieder, Elegien, Hymnen, Lehrpsalmen u. a.) bemüht hatte und der wie Gunkel im Buch Hiob „ein in eine ältere, später midraschartig ausgebaute Volkserzählung eingespanntes religionsphilosophisches Gespräch mit paränetischer Zielstellung“ erkannte.81

4.3 Paul Volz und Friedrich Baumgärtel Sowohl für Gunkel als auch für Peters führte das beobachtete Phänomen der Gattungsmischung weder zur Preisgabe der grundsätzlichen literarischen Einheitlichkeit des Hiobbuches noch zu einer formgeschichtlichen Neubestimmung des Gesamtwerks – anders bei Paul Volz und bei Friedrich Baumgärtel. Für Paul Volz (1911) ist das Buch Hiob ein „Dom“, der in mehreren Phasen und aus unterschiedlichen Bausteinen, die jeweils eigenen literarischen Großgattungen angehören, errichtet wurde. Beim Rahmen handele es sich um eine Erzählung, bei dem Hauptteil der Dichtung (Kap. 3–31) um eine Klage bzw. ein „lyrisches Wechselspiel“ mit Elementen des Prozessverfahrens und Analogien zum ägyptischen Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele (ba), bei den Gottesreden in 77 Ausnahmen bilden u. a. Hontheim, Job, mit einer detaillierten Gliederung des Buches Hiob in Akte und Szenen, oder Moulton, Study, 471 f, der unter bewusster Absehung von literargeschichtlichen Fragen, das Hiobbuch in seiner Endgestalt als „dramatic parable in a frame of epic story“ bezeichnete. 78 Zum forschungsgeschichtlichen Hintergrund von Gunkel, für den das Werk von Lowth im Gegensatz zu den Arbeiten von Herder offenbar keine Rolle spielt, siehe Klatt, Gunkel. 79 Gunkel/Begrich, Psalmen, 32 f, 50, 77, 172, 205–211, 265. 80 Gunkel, Literatur, 93. Zu den Gunkel bekannten ägyptischen Paralleltexten siehe­ Erman, Literatur, 28–38. 81 Peters, Job, 60*.

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Die literarische Gattung des Buches Hiob

weiten Teilen um einen rednerischen Wettstreit und bei den Elihureden um die Mahnschrift eines Weisen.82 Wesentlich radikaler ging Friedrich Baumgärtel (1933) vor, der in großem Stil Klagelieder, Hymnen, Lieder auf die Gottlosen, Sentenzen, den Reinigungseid u. v. a. aus der ursprünglichen Dichtung eliminierte und die Hiobdichtung auf „ein lebendiges, gedanklich klar durchgeführtes […] Wechselgespräch“ mit nur einem Redegang und abschließendem Hiobmonolog reduzierte.83

4.4 Claus Westermann und Hans Richter Der Vorschlag Baumgärtels fand zu Recht keine direkte Gefolgschaft, zumal Baumgärtel es versäumte, ein literargeschichtliches Gesamtbild von der Entstehung des Hiobbuches zu entwerfen.84 Dennoch übte sein Werk zusammen mit dem von Volz einen starken Einfluss auf zwei Thesen der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts aus, die jeweils aus einer dem Hiobbuch immanenten und von diesem im Wesentlichen benutzten Gattung auf die literarische Gattung des gesamten Werks schlossen. Dazu gehören: 1.) der Vorschlag von Claus Westermann (1956), das Hiobbuch als eine „dramatisierte Klage“ zu verstehen,85 und 2.) der Versuch von Hans Richter (1954/1959), das Hiobbuch aufgrund der in ihm quantitativ und inhaltlich dominierenden Gattungen des Rechtslebens als das Buch eines gerichtlichen Prozesses zu deuten.86

82 Volz, Weisheit. 83 Baumgärtel, Hiobdialog, 169. 84 In gewisser Hinsicht stellt das Buch von Vermeylen, Job, eine redaktionsgeschichtlich modifizierte Weiterführung von Baumgärtel dar. 85 Westermann, Aufbau; neben Volz und Baumgärtel stand bei der Entfaltung dieser These vor allem Bentzen, Introduction, Bd. 1, 256, Pate. Rezipiert wurde sie u. a. von Horst, Hiob, 169; Seybold, Poesie, 1418; Ders., Poetik, 316–318; Heckl, Hiob, 19. 86 Richter, Studien. Bereits 100 Jahre früher hatte Johann Gustav Stickel bemerkt, dass im Hiobbuch der „Typus eines Gerichtsverfahrens“ auf ein didaktisches Werk angewendet war (Stickel, Hiob, 277). Richter, der dieses Werk offenbar nicht kannte, berief sich bei der Entfaltung seiner These vor allem auf Paul Volz und Ludwig Köhler (s. Anm. 4). Einen (vorläufigen Höhepunkt) der rechtsgeschichtlichen Deutung stellt die These von Magdalene, Scales (2007) dar, das Buch Hiob sei literarisch nach dem Muster eines gerichtlichen Prozesses gestaltet, wie er sich aus neubabylonischen Rechtsurkunden des 7.–5. Jh. v. Chr. rekonstruieren lasse. Dabei verbindet Magdalene ihre methodisch am „law-as-literature movement“ ausgerichtete rechtshistorische Untersuchung mit einem rezeptionsästhetischen Ansatz (s. u. S. 59; 63 f), insofern letztlich die Leser des Buches als Schiedsrichter im zwischen dem Satan, Gott und Hiob geführten Prozess agieren müssten (siehe dazu ausführlich Witte, Rezension, RBL 3/2008); vgl. auch Y. Hoffmann, The Book of Job as a Trial.

Die Formen und ihre Funktionen oder die Frage nach dem Sitz im Buch Hiob  

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Forschungsgeschichtlich steht neben diesen beiden Ansätzen die von Hartmut Gese (1958) unternommene Zuweisung des Hiobbuches an die vor allem in der mesopotamischen Literatur, und hier besonders in der Gestalt der akkadischen Dichtung ludlul bēl nēmeqi belegten Gattung des Klageerhörungsparadigmas.87 Während die Modelle von Westermann und Richter daran kranken, dass eine als dominierend bestimmte Gattung im Buch im Blick auf die Gattung des ganzen Buches generalisiert wird, überträgt Gese eine in der Umwelt des antiken Israel vorgefundene Gattung auf das Buch Hiob, ohne zuvor dessen Gattungen im Einzelnen zu analysieren.88

5. Die Formen und ihre Funktionen oder die Frage nach dem Sitz im Buch Hiob 5.1 Georg Fohrer Die eigentliche, von Gunkel begründete Gattungstypologie verhalf der weiteren Forschung zu einer exakteren Identifikation der im Hiobbuch verwendeten Formen. Die für Gunkel zentrale Frage nach dem Sitz im Leben der einzelnen Gattungen trug aber für die Frage nach Bedeutung der Formen im Hiobbuch zunächst noch nichts aus und führte im Blick auf das Gesamtwerk lediglich zur Bestätigung der schon seit Herder und Eichhorn vertretenen Zuordnung zu den weisheitlichen Dialogen bzw. zum „Lehrgedicht“. An diesem Punkt führte die vor allem von Georg Fohrer (1959)89 programmatisch aufgestellte Forderung weiter, nicht nur geschichtlich nach dem Sitz im Leben einer Gattung zu fragen, sondern auch inhaltlich nach ihrer Funktion in ihrem neuen literarischen Kontext, nach ihrem Sitz im Buch. Mit der bereits von Johannes Hempel (1934) formulierten,90 dann aber von Fohrer umfassend begründeten These einer bewussten Gattungsmischung wurden sowohl die einseitigen Beschreibungen des Hiobbuches als „dramatisierte Klage“ oder „Gerichtsverfahren“ abgewiesen als auch der spezifische Sitz einer Gattung in dem konkreten literarischen Werk aufgezeigt. D. h. der Hiobdichter hat Redeformen aus dem Rechtsleben („Parteireden der Weisen“), dem Kult („Hymnus und Klage“) und der Weisheit („Streitgespräche der Weisen“) aufgenommen, verknüpft und durch direkte Eingriffe in die jeweilige Redeform oder 87 Gese, Lehre, 63–78. Die Gattungsbezeichnung wurde rezipiert von H.-P. Müller, Parallelen, 148, und Seybold, Poetik, 316. 88 Zu einer grundsätzlichen methodologischen Kritik an diesen Ansätzen siehe Dell, Book, 89–73. 89 Fohrer, Form, 68–86; Ders., Hiob. 90 Hempel, Literatur, 179: „Es wird dabei zu bleiben haben, dass der Reichtum literarischer Gattungen, die miteinander verschlungen sind, dem Dialogdichter selbst eigen gewesen ist.“

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deren Integration in einen neuen Sachzusammenhang modifiziert.91 In der Auseinandersetzung um das richtige Verhalten im Leid, die nach Fohrer inhaltlich im Mittelpunkt des Hiobbuches steht, spielen die einzelnen Formen eine untergeordnete Rolle. Aus ihnen lasse sich, so Fohrer, weder eine Gesamtdeutung noch eine literarische Gattungsbestimmung für das Buch Hiob vornehmen. Dieses bilde vielmehr ein „Dichtwerk mit Rahmenerzählung“92. Wie bereits Lowth verweist Fohrer dann auch auf Berührungen mit der griechischen Tragödie, in denen er lediglich Analogien und keine Beispiele für die beiderseitige Behandlung eines internationalen Themas sieht.93 Die von Fohrer durchgeführte formgeschichtliche Einordnung aller Elemente der Hiobdichtung und die Bestimmung ihrer jeweiligen Funktion im Buch wurde von der Forschung breit rezipiert.94

5.2 Katherine J. Dell Nun ist das Phänomen der Gattungsmischung und der damit verbundenen neuen Kontextualisierung nicht auf das Hiobbuch beschränkt, sondern findet sich in mehr oder weniger großem Umfang im gesamten Alten Testament und in anderen antiken Literaturen. Damit stellt sich erneut die Frage, ob sich aus der bewussten Mischung von Formen und ihren Funktionen nicht doch eindeutiger auf den literaturgeschichtlichen Ort und die Gattung des Hiobbuches schließen lasse. Genau an diesem Punkt setzt die breit angelegte formgeschichtliche Untersuchung von Katherine J. Dell (1991) an.95 Die bewusste Rezeption und Verfremdung von Gattungen (reuse sowie improper use/misuse of genre)  sei in literaturgeschichtlicher Hinsicht typisch für die Gattung der Parodie und verweise geistesgeschichtlich auf eine Verortung des Hiobdichters in skeptischen Kreisen, die der traditionellen Weisheit Israels kritisch gegenüberstünden. Das Buch Hiob stelle somit ein Beispiel für „sceptical literature“ im Alten Testament dar. Kennzeichnend für Dells Ansatz ist einerseits ihre Unzufriedenheit mit der formgeschichtlichen Bezeichnung des Buches Hiob als Werk sui generis,96 andererseits ihr Versuch, mittels einer Analyse von Form und Funktion der „smallest genres“ unter Berücksichtigung des Inhaltes zu einem formgeschichtlichen Gesamtbild zu kommen.97 91 Fohrer, Hiob, 50–53. 92 Fohrer, Hiob, 53; ähnlich Tur Sinai, Book of Job, LVI. 93 Fohrer, Hiob, 47. Daneben bietet Fohrer natürlich auch eine Übersicht über die bis 1959 bekannten sumerischen, babylonischen, ägyptischen und aramäischen „Parallelen“ zum Hiobbuch. 94 Kegler, Hauptlinien, 9–12; Lévêque, Job, Bd. 1, 230–236; Murphy, Literature, 16–20; Alonso Schökel/Sicre Diaz, Job, 83; Hartley, Job, 38–43; Clines, Job 1–20; Seow, Job 1–21. 95 Dell, Book. 96 Dell, Book, 101, 107. 97 Dell, Book, 102, 109–138.

Form und Zeichen oder die Frage nach der Welt des Textes und der Leser  

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Einen zweiten Entwurf, aus dem Phänomen der Gattungsmischung die Gattung des Gesamtwerks zu skizzieren, legte in neuerer Zeit Marco Treves (1995) vor. Er korrelierte die Gattungsmischung im Hiobbuch mit den Komposittexten des Menippus von Gadara (3. Jh. v. Chr.). In den dramatisch-philosophischen Dialogen des Menippus sah Treves obendrein die literaturgeschichtliche Vorlage des Hiobdichters, der sein Werk in Kenntnis der Poetiken von Aristoteles und Neoptolemos von Parion (3. Jh. v. Chr.), aber auch der griechischen Tragödie geschrieben habe.98 Das Hiobbuch sei mithin „a philosophical dialogue in verse or a dramatic poem“ oder auch „a kind of philosophical tragedy“.99 So einseitig die Skizze von Treves ist, da sie die vorderorientalische Dialogliteratur ausblendet, so steht seine Analyse des Hiobbuches mithilfe griechischer und römischer Poetiken doch in Kontinuität zu Lowths Heranziehung von Aristoteles und ­Horaz.100

6. Form und Zeichen oder die Frage nach der Welt des Textes und der Leser 6.1 William Whedbee und Norman C. Habel Die Frage nach dem Sitz im Buch und nach der Funktion der Gattungsmischung erlebte aber nicht nur eine literargeschichtliche Weiterführung, sondern seit den siebziger Jahren des 20.  Jahrhunderts durch Impulse aus der Literaturwissenschaft101 auch eine text- und leserorientierte Fokussierung. Charakteristisch für eine erste Phase der textorientierten Konzentration sind im Blick auf das Buch Hiob die vom Strukturalismus beeinflussten Arbeiten von William Whedbee 98 Treves, Job, 261–272. Mit seiner These, dass das Hiobbuch aus formgeschichtlichen Gründen weder vorhellenistisch noch nicht-griechisch beeinflusst sein könne, belebte Treves ein Diktum von Oskar Holtzmann, das Buch Hiob als „religionsphilosophisches Werk“ sei für die Juden erst nach dem Kontakt mit den Griechen möglich und die dialogische Form sei eine „hebräische Nachbildung des philosophischen Dialogs bei Plato“ (Holtzmann, Staatswesen, 351), ähnlich Fries, Gespräch, 58: „Das Buch Hiob ist ein philosophischer Dialog.“ 99 Treves, Job, 261, 264. 100 Einen weiteren Versuch, das Phänomen der Gattungsmischung mittels der Annahme eines bewusst komponierenden Verfassers zu erklären, hat in neuerer Zeit Manfred Oeming mit der These vorgelegt, das Hiobbuch sei ein poimenischer Traktat, der exemplarisch typische Erfahrungen aus der Seelsorgepraxis aufgreife und literarisch vielfältig reflektiere (Oeming, Dialoge, 35–56; Oeming/Drechsel, Lehrstück, 421–440). Doch sprechen gegen eine solche Klassifikation als „Handbuch der Seelsorge“ sowohl literargeschichtliche als auch sozialgeschichtliche Überlegungen. Auch wenn das Hiobbuch seelsorgerlich gelesen werden kann, so eignet sich die Bezeichnung Seelsorgetraktat nicht als literaturgeschichtliche Gattungsbezeichnung. 101 Vgl. dazu Alter/Kermode, Literary Guide, 1–8, und Langenhorst, Hiob, 60–69 („Hiob aus literaturwissenschaftlicher Perspektive“).

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(1977) und Norman C. Habel (1985).102 Im Mittelpunkt des Interesses steht die Struktur des Endtextes. Dieser wird in movements und segments gegliedert, auf deren gegenseitiges Verhältnis hin analysiert und auf seinen code und seine message befragt.103 Aus dem Wechselspiel zwischen movements und segments sowie der Verwendung und Verfremdung traditioneller Formen ließen sich sowohl der eigentliche plot als auch das literarische genre des Buches erheben. Bei Whedbee, der als konstitutive Elemente im Hiobbuch einerseits eine basic story mit einem happy end, andererseits das Phänomen von Inkongruenzen im Gebrauch einzelner Redeformen und deren Funktionen, von Karikaturen (so vor allem in Gestalt der Freunde), Parodien (so vor allem in den Reden der Freunde) und Ironie (so vor allem in der Gottesrede) sieht, wird das Buch Hiob zur (ernsten) Komödie.104 Trotz dieser so stark an der Textoberfläche interessierten Sicht fällt doch auf, dass die Zuweisung des Buches Hiob zur Komödie letztlich aus inhaltlichen (im einzelnen höchst problematischen) Erwägungen erfolgt.105 Für Habel hingegen spielen Redeformen des Rechts eine entscheidende strukturelle Rolle der insgesamt drei movements, die das Hiobbuch bestimmen.106 Das Buch Hiob gerät damit gattungsmäßig in die Nähe des dramatisierten Rechtsstreits („lawsuit drama“)107, auch wenn für Habel die Vielfalt der verwendeten Formen letztlich die Zuordnung des Hiobbuches „to any single traditional genre structure“ ausschließt.108

6.2 Melanie Köhlmoos und Marco Treves Für eine zweite Phase der textorientierten Interpretation und deren Bedeutung für die Frage nach der literarischen Gattung des Buches Hiob ist die Berücksichtigung semiotischer und intertextueller Fragen kennzeichnend. Exemplarisch ist hier die Untersuchung von Melanie Köhlmoos (1999).109 Sie verbindet klassische form- und redaktionsgeschichtliche Fragestellungen mit einem vor allem 102 Whedbee, Comedy, 1–39; Habel, Job; Janzen, Job; Greenberg, Job, 283–304. 103 Vgl. dazu Polzin, Structuralism, 54–125. 104 Whedbee, Comedy, 4. 105 Siehe dazu auch die Kritik von Dell, Book, 95–102. 106 Habel, Job, 70–73: movement I. God afflicts the hero – the hidden conflict (1,1–2,10); movement II. the hero challenges God – the conflict explored (2,11–31,40); movement III. God challenges the hero – the conflict resolved (32,1–42,17). 107 Habel, Job, 54; vgl. dazu aber dezidiert Scholnick, Lawsuit Drama, und Magdalene, Scales, sowie Anm. 86 auf S. 54. 108 Habel, Job, 45. 109 Köhlmoos, Auge; zu intertextuellen Einzelfragen im Buch Hiob siehe Fishbane, The Book of Job, 86–92; 240 f; Mettinger, Intertextuality, 257–280; zu einem stärker informationstheoretischen Ansatz siehe Cheney, Dust.

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im Schatten von Umberto Eco110 stehenden semiotischen Zugang. Im Blick auf seine literarische Gattung als Gesamtkunstwerk wird das Hiobbuch einerseits als erzählender Text mit den Konstitutiva Akteuren, Handlung, Verlauf, Raum und Zeit verstanden, andererseits als ein Werk sui generis.111 Das von G. Fohrer beobachtete und von K. J. Dell weiterentwickelte Modell der Mischung von Gattungen wird bei Köhlmoos weitergeführt zum Modell der bewussten und planvollen Mischung von Texten. Das Hiobbuch erscheint als Paradebeispiel für ein intertextuelles Werk, das mit zahlreichen Referenztexten arbeitet.112 Das setzt beim Leser eine enorme Kenntnis (Enzyklopädie) von Formen, Traditionen und Texten voraus und fordert dessen gezielte Mitarbeit im Prozess des Lesens und Verstehens. Der Leser des Hiobbuches wird bei einem solchen zeichentheoretischen Zugang, der wesentlich auf die Erhellung der Leserlenkung durch den Text selbst (Textstrategie) zielt, zum Mitspieler.113 Das Buch Hiob wird damit erneut zu einem Drama. Nicht umsonst spielt für Köhlmoos das Motiv des Auges Gottes eine zentrale Rolle bei der Deutung des Hiobbuches als ein dramatisches Geschehen zwischen Hiob, seinen Freunden, Gott und dem Publikum, das auf einer unsichtbaren Bühne stattfindet. Das bereits von Thomas Heath (1756), Heinrich Ewald (1865), Marco Treves (1995) u. a. vertretene Verständnis des Buches Hiob als ein vor dem inneren Auge stattfindendes Lesedrama, das sich letztlich auf eine Sentenz in der Ars Poetica des Horaz berufen kann,114 findet durch diesen semiotischen Ansatz eine grundlegende Weiterführung.

7. Ausblick auf gegenwärtige Fragen zur Formgeschichte des Buches Hiob  Unter Rezeption und Modifikation der im 18. Jahrhundert durch Robert Lowth thematisierten Fragen nach der literarischen Gattung des Buches Hiob kreist die gegenwärtige formgeschichtliche Arbeit an diesem Werk um fünf Themenfelder: 1.) die formgeschichtliche Klassifikation des Gesamtwerks, 2.) die einzelnen im Hiobbuch selbst verwendeten Formen, 3.) die Strophik und Metrik des Hiobbuches, 4.) die literaturgeschichtliche Korrelation mit außerbiblischen Texten, 5.) das Verhältnis zwischen der Gattungsbestimmung und der Gesamtdeutung.

110 Eco, Lector; Ders., Limiti. 111 Köhlmoos, Das Auge Gottes, 24. 112 Ähnlich Spieckermann, Hiob, 1178. 113 Eine konsequent dem reader-response criticism verpflichtete Gesamtdeutung des Hiobbuches bietet der monumentale Kommentar von Clines, Job 1–20 (1989), Job 21–37 (2006), Job 38–42 (2011), vgl. dazu Witte, Rezension Clines. 114 Horaz, Ars poetica, 180–182; vgl. dazu Treves, Job, 269.

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7.1 Die formgeschichtliche Klassifikation des Hiobbuches als Gesamtwerk Hier herrscht in der neueren und neuesten Forschung eine ähnliche Vielfalt wie in der ersten Forschergeneration nach Lowth.115

7.2 Die Bestimmung der einzelnen im Hiobbuch selbst verwendeten Formen Lowths grundsätzliche Typologie von einzelnen im Hiobbuch verwendeten Formen hat sich bis heute bewährt. Gleichwohl können die einzelnen Formelemente aufgrund der verfeinerten Analysen von J. G. Herder (1782/1783), H.  Ewald (1836 ff), E. Meier (1856), H. Gunkel (1906 ff), G. Fohrer (1963), R. E. Murphy (1981), J. E. Hartley (1988) und K. J. Dell (1991) sehr viel genauer bestimmt werden.116 Entscheidend weiter führten die Fragen zunächst nach der soziokulturellen Verortung der jeweils verwendeten Form (Sitz im Leben), sodann nach der inhaltlichen und kompositionellen Funktion der jeweils verwendeten Form (Sitz im Buch; Sitz in der Literatur) und schließlich nach dem Verhältnis zwischen der jeweils verwendeten Form und dem Akt des Lesens, Verstehens und Deutens (Sitz im Leser).

7.3 Die Erhellung der Strophik und der Metrik des Hiobbuches Trotz intensiver einschlägiger poetologischer Arbeiten und trotz des umfangreichen Vergleichsmaterials im Bereich der vorderorientalischen Literaturen ist die gegenwärtige Forschung weit entfernt von einer einheitlichen Beantwortung der Fragen nach der strophischen Gliederung der Hiobdichtung und der Metrik der einzelnen Verse. Als Minimalkonsens gelten hier weiterhin 1.) das bereits von Johann Gerhard (1610/1622) geäußerte Diktum, das Buch Hiob werde zu Recht zu den poetischen Büchern gezählt, auch wenn sein metrisches Prinzip bis heute unbekannt sei,117 und 2.) die von Robert Lowth in der Sacra Poesis (praelect. XIX) und der Preliminary Dissertation zu seinem Jesajakommentar (1778)118 entfaltete Erkenntnis des Parallelismus membrorum als Grundelement der hebräischen 115 Siehe dazu auch die Forschungsberichte von Kuhl, Literarkritik, 306–313; Dell, Book, 88–95; H.-P. Müller, Hiobproblem, 76–91; Oorschot, Tendenzen, 377–383; Mies, L’espérance, 230–263; Seow, Job 1–21, 47–65. 116 Fohrer, Hiob; Murphy, Literature; Hartley, Job, und Dell, Book. 117 Gerhard, Loci Theologici, § 140. 118 Lowth, Isaiah, X–XXV.

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Poesie. Allerdings ist die Forschung durch die Arbeiten von Wilfred G. E. ­Watson (1984/2001), Robert Alter (1985/1987), Luis Alonso Schökel (1988), Pieter van der Lugt (1995) und Jan P. Fokkelman (1998 ff)  zu einer vertieften Wahrnehmung der poetischen Stilmittel (nicht nur) im Hiobbuch gekommen.119

7.4 Die literaturgeschichtliche Korrelation mit außerbiblischen Texten Standen Lowth und seinen Zeitgenossen lediglich Werke aus der klassischen Antike und vereinzelt aus dem arabischen, indischen und persischen Raum zum Vergleich zur Verfügung,120 so kann die gegenwärtige Forschung seit dem Ausgang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in stetig steigendem Maß ägyptische und mesopotamische Texte heranziehen, hinzu kommen mit den Textfunden von Elephantine (seit 1909; vgl. vor allem die Fragmente des Achikar-Romans),­ Ugarit (seit 1929; vgl. vor allem R. S. 25.460) und Qumran (seit 1947; vgl. vor allem 11QtgJob; 4QtgJob; 4QOrNab121) zusätzlich aramäische, ugaritische und nichtbiblische hebräische Texte.122 Entsprechend dem von Lowth in seiner 33. Vorlesung vorgelegten Verfahren des literaturgeschichtlichen Vergleichs zwischen dem Hiobbuch und den sophokleischen Oedipus-Dramen finden sich gegenwärtig Korrelationen mit allen inhaltlich und/oder formal verwandten Texten aus der Umwelt des Alten Testaments. Dabei überwiegen die Vergleiche mit der ägyptischen „Auseinandersetzungsliteratur“123 und den mesopotamischen Theodizeedichtungen und Streitgesprächen, die nach einem Vorschlag von Dorothea Sitzler (1995) unter dem Terminus „Vorwurfdichtungen“124 subsumiert werden können. Die griechische Welt wird zu Recht nicht völlig ausgeblendet. Die dabei erzielten Ergebnisse stehen in einer direkten Beziehung zu den unter 7.1. bis 7.3. genannten Themen. Zu dem Reichtum des literaturgeschichtlichen Vergleichs im engeren Sinn sind in den letzten 25 Jahren schließlich über rezep 119 Alter, Art; Ders., Characteristics, 611–624; Watson, Poetry; Alonso Schökel, Manual; van der Lugt, Criticism; Fokkelman, Major Poems. Zur Forschungsgeschichte siehe auch Kugel, Idea, und den von A. Wagner herausgegebenen Sammelband Parallelismus ­membrorum. 120 Vgl. dazu Jones, Libri. 121 = 4Q242 (Text und Übersetzung bei Beyer, Texte (1984), 223 f; Texte Erg.Bd. (1994), 104). 122 Zur Diskussion der einschlägigen Vergleichstexte siehe Lévêque, Job, Bd.  1, 13–86; H.-P. Müller, Hiobproblem, 49–72; Weinfeld, Job, 217–226; Uehlinger, Hiob-Buch, 97– 163; Sedlmeier, Ijob, 85–136. Die Texte sind in deutscher und englischer Übersetzung leicht zugänglich in den Reihen TUAT (hg. v. O. Kaiser) und CoS (hg. v. W. W. Hallo), zu den ägyptischen Texten siehe zusätzlich Lichtheim, Ancient Egyptian Literature, Bd. 1–3; Hoffmann/ Quack, Anthologie der Demotischen Literatur; Schneider, Hiob 38, 108–124, und Schellenberg, Hiob und Ipuwer, 55–79; zu Achikar siehe insbesondere auch Weigl, Achikar-Sprüche. 123 Zum Begriff siehe Brunner, Grundzüge, 22, und zur Anwendung dieser Gattungsbezeichnung auf das Hiobbuch: Kaiser, Einleitung, 392. 124 Sitzler, Vorwurf, 119–137.

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tionsästhetische, semiotische und wirkungsgeschichtliche Ansätze transhistorische Lektüreverfahren getreten, die das Buch Hiob nun mit literarischen (und nichtliterarischen) Werken aus den unterschiedlichsten zeitlichen und kulturellen Kontexten ins Gespräch bringen.125 Tragen diese Vergleiche (zumindest primär) nichts zu einer formgeschichtlichen Erhellung der Probleme des Hiobbuches und zur Frage nach seiner literarischen Gattung bei, so vermögen sie doch, zu dessen neuer Lektüre und neuen Formen der Wahrnehmung des Buches Hiob anzuregen – und entsprechen darin einem zentralen Anliegen von Robert Lowth.

7.5 Das Verhältnis zwischen der Gattungsbestimmung und der Gesamtdeutung Über die Frage nach der literarischen Gattung und den Versuch, diese im Vergleich mit inhaltlich und/oder formal analogen Texten zu bestimmen, verändern sich das Wesen Hiobs und sein kulturelles Profil. Bildlich gesprochen, wechselt Hiob je nach Bestimmung der literarischen Gattung das Gewand. Sein rätselhaftes Heimatland Uz tritt den Schauplätzen Athen, Babylon oder Ägypten zur Seite. Die Gattungsbestimmung bedingt die Wahrnehmung des Textes. Ein Drama liest sich anders als ein philosophischer Dialog, eine Klage anders als ein weisheitliches Streitgespräch. Methodisch heißt dies: Die formgeschichtliche Analyse des Hiobbuches muss fünf Punkte berücksichtigen: 1.) die in diesem Buch verwendeten Gattungen, deren soziokulturelle Herkunft und buchimmanente Kontextualisierungen, 2.) redaktionsgeschichtliche Erkenntnisse zur Literargeschichte des Buches Hiob und das Phänomen des Wandels der literarischen Gattung auf den unterschiedlichen redaktionellen Ebenen des Buches, 3.) inhaltlich und formal vergleichbare Texte aus dem Vorderen Orient und dem griechischen Raum, 4.) den im Buch verhandelten Inhalt, 5.) die Beziehung zwischen den verwendeten Gattungen und der gewählten Gattungsbezeichnung für das gesamte Werk einerseits und dem Leser andererseits. Zu den Fragen nach dem Sitz im Leben (nach der Tradition oder Tiefenstruktur des Textes) und nach dem Sitz im Buch (nach der Funktion oder Oberflächenstruktur des Textes) muss die Frage nach dem Sitz in der Welt des Lesers (nach der Rezeption oder der Assoziationsfläche des Textes) treten. 125 Vgl. dazu exemplarisch Lindblom, Job and Prometheus, 280–287; H. G. May, Prometheus and Job, 240–246; Irwin, Job and Prometheus, 90–108; Murray, Prometheus and Job, 56–65; U. Simon, Job, 42–51; Clines, Job 1–20, XXXIV–XXXVIII, XLVII–LVI; Ebach, Streiten, Bd. 1–2, sowie den Sammelband von Batnitzky/Pardes, Book of Job.

Nachwort    

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Die Exegese kann aus literaturgeschichtlichen Gründen nicht darauf verzichten, das Buch Hiob als Ganzes, aber auch seine einzelnen literar- und redaktionsgeschichtlich zu erhebenden Bausteine (A: eine ursprünglich selbständige, literarisch mehrschichtige Hioberzählung, B: eine ursprünglich selbständige, literarisch mehrschichtige Hiobdichtung, C: das redaktionell aus A und B komponierte Hiobbuch)126 bestimmten literarischen Gattungen zuzuordnen. Gleichzeitig muss sie aufgrund der inhaltlichen Offenheit des Hiobthemas, aber auch aus rezeptionsästhetischen Gründen, die Antwort auf die Frage nach der Gattung flexibel gestalten. Denn die verschiedenen Gattungszuweisungen sind jeweils auch Leseanweisungen und als solche eröffnen und begrenzen sie die Lesehorizonte. Für die literar- und redaktionsgeschichtlich ermittelbaren Elemente einer ursprünglich selbständigen Erzählung von der Bewährung des Frommen (A) bedeutet dies die Zuweisung zur Gattung der weisheitlichen Lehrerzählung,127 die ihre nächsten innerbiblischen Parallelen in den Büchern Ruth und Jona findet. Für die (literarisch mehrschichtige) ursprünglich selbständige Hiobdichtung (B) bedeutet das in Analogie zu den Kompositionen der Babylonischen Theodizee oder des Gesprächs eines Lebensmüden mit seiner Seele (ba) eine Zuordnung zur Theodizee- oder Vorwurfdichtung. Für das aus der Lehrerzählung und der Dichtung erstellte Buch (C), das nun, wie bereits Lowth zutreffend formulierte, ein Werk sui generis darstellt, eignet sich sowohl aus literaturgeschichtlichen als auch aus rezeptionsästhetischen Gründen am besten der Begriff Auseinandersetzungsliteratur. Ihr Überlieferungsort dürfte die jüdisch-hellenistische Weisheitsschule gewesen sein.

Nachwort Der oben stehende Beitrag wurde im Jahr 2003 anlässlich des 250jährigen Gedenkens an die Publikation von Robert Lowths Praelectiones (und von Jean Astrucs Conjectures sur les Mémoires originaux dont il paroit que Moyses s’est servi pour composer le Livre de la Genèse) in Oxford gehalten. Die Druckfassung wurde im Frühjahr 2004 bei den Herausgebern des Tagungsbandes eingereicht und erschien 2007.128 Die Arbeit an der formgeschichtlichen Bestimmung des Buches Hiob ist in den zurückliegenden Jahren natürlich weitergegangen. Gerade 126 Zu dem hier vorausgesetzten kompositions- und redaktionsgeschichtlichen Modell der sekundären Verknüpfung einer ursprünglich selbständigen Hioberzählung und einer ebenfalls ursprünglich selbständigen Hiobdichtung siehe Witte, Vom Leiden, 173–192; Syring, Hiob, 154–167; Wanke, Praesentia Dei, 430. 127 Vgl. dazu H.-P. Müller, Lehrerzählung, 22–43; Maag, Hiob, 20–45; Syring, Hiob, 14, 154–158. 128 J. Jarick (Hg.), Sacred Conjectures. The Context and Legacy of Robert Lowth and Jean Astruc, LHB 457, New York/London 2007.

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die Frage, ob und wie das Buch als Drama zu verstehen sei, wurde in vielfältiger Weise aufgegriffen. Auf eine umfassende Einarbeitung der seit 2003 erschienenen Studien musste hier verzichtet werden. Es sei aber ausdrücklich auf zwei umfangreiche Texte von Françoise Mies (2003/2006) hingewiesen,129 mit denen zusammen der hier gebotene Beitrag eine Art forschungsgeschichtliches Diptychon zur Gattung des Buches Hiob darstellt. Eine forschungsgeschichtliche Übersicht zu neueren Vergleichen zwischen dem Buch Hiob und der attischen Tragödie bietet auch Bernhard Klinger (2007).130 Dabei liest Klinger selbst das Hiobbuch als ein zwischen 300 und 200 v. Chr. komponiertes, literaturgeschichtlich unter dem Einfluss der attischen Tragödie stehendes Drama: So habe der Hiobdichter bewusst die Form des Dramas gewählt, um die Frage nach dem Leiden und der Gerechtigkeit zu behandeln.131 Weiterführende Studien zur Intertextualität des Hiobbuches, die oben im Abschnitt 6.2 beschrieben wurde, bieten Katherine Dell und Will Kynes (2013).132 Den neueren Stand einer rezeptionsästhetischen Perspektive spiegeln von Leora Batnitzky und Ilana Pardes gesammelte Aufsätze (2015) wider, in deren Mittelpunkt das Wesen des Dramatischen, Tragischen und Ironischen sowie deren Bedeutung für die Leserin und den Leser des Hiobbuches steht.133

129 Mies, L’espérance, 230–265; Dies., Le genre littéraire, 336–369. 130 Klinger, Leiden, 22–48. 131 Klinger, Leiden, 128–320; 331–336; vgl. jetzt auch Hirschfeld, Book of Job, 9–36. 132 Dell/Kynes, Reading Job Intertextually; siehe dazu Witte, Rezension von Dell/Kynes, 150 f. 133 Batnitzky/Pardes, Book of Job; siehe dazu Witte, Rezension von Batnitzky/Pardes, 605–608.

Der leidende Mensch im Spiegel des Buches Hiob Der Mensch ist ein fragendes Wesen, homo quaerens. Und der Mensch ist ein leidendes Wesen, homo patiens. (Wolfram Kurz)1

Auch wenn der einst von Gott gesegnete und dann von diesem in tiefes Elend gestürzte Hiob sowohl in dem nach ihm benannten Buch als auch in einer bei dem Propheten Ezechiel mitgeteilten Notiz, die Hiob in einem Atemzug mit den exemplarisch Gerechten der Urzeit Noah und Daniel nennt (vgl. Ez 14,14.20), als konkrete, einmalige Einzelgestalt erscheint, so steht sein Name doch als Chiffre für Unglück und Leid schlechthin. Zutreffend wird bereits im babylonischen Talmud die Vermutung geäußert, dass Hiob selbst nie gelebt habe, dass es sich bei dem vorliegenden Buch also nicht um eine biographische Zusammenstellung eines historisch verifizierbaren Geschehens handele, sondern um einen Maschal, eine lehrhafte Dichtung oder ein Gleichnis (vgl. bBB 15a).2 Hiob, die Verkörperung des homo religiosus et ­ethicus, der aufgrund und infolge eines innergöttlichen Disputs über Religion und Ethos seinen Besitz, seine Familie und letztlich seine Gesundheit verliert, wird zum Sinnbild des homo patiens  – und dies nicht erst im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte. Hiob, das ist der leidende Mensch, und zwar schon in dem gleich­ namigen Buch selbst, das die spätere jüdische Tradition – wohl aufgrund seiner inhaltlichen Nähe zu den Schöpfungstexten der Genesis, zum narrativen Milieu der Geschichten von den Erzvätern und zu der gleichfalls als mosaisch angesehenen poetischen Meditation über die Zeit des Lebens, Psalm 90 – Mose zuschrieb (bBB 14b)3 und das nach neueren literaturgeschichtlichen Erkenntnissen in einem längeren Fortschreibungsprozess, gleichsam unter ägyptischem wie unter griechischem Einfluss stehend, in der Zeit vom 6./5.–4./3. Jh. v. Chr. entstanden ist.

1. Hiob – Der leidende Mensch Dass das Buch Hiob am Beispiel des leidenden Gerechten eine gesamtmenschheitliche Ausrichtung besitzt, zeigt sich an drei Punkten: 1 Kurz, Therapeut, 325. 2 Goldschmidt, Talmud, Bd. 8, 57. 3 Goldschmidt, Talmud, Bd. 8, 56. In der christlichen Rezeptionsgeschichte spiegelt sich diese Vorstellung im Kanon der syrischen Bibel, der Peschitta, wider, die das Buch Hiob unmittelbar nach dem Pentateuch und vor dem Buch Josua bietet.

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1.) an der literarischen Gattung des Buches, 2.) an der programmatischen Eröffnung in Hi 1,1 und 3.) an den vor allem in den poetischen Reden Hiobs und seiner Freunde verwendeten Sprachformen.

1.1 Die literarische Gattung des Buches Das aus einem in Prosa abgefassten Prolog und Epilog (Hi 1–2; 42,7–17) und einem poetisch gestalteten Streitgespräch zwischen Hiob, drei bzw. vier ihm zum Trost gekommenen Freunden und Gott (Hi 3,1–42,6) bestehende Buch besitzt einerseits punktuelle Parallelen zu vorderorientalischen Dialogdichtungen: Zu nennen sind hier für den mesopotamischen Bereich vor allem die Babylonische Theodizee, ein wohl um 800 v. Chr. in die heute vorliegende Gestalt gebrachter und mindestens bis in die hellenistische Zeit immer wieder kopierter und tradierter Dialog zwischen einem leidenden Gerechten und seinem Freund, in dessen Verlauf auch die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes fällt, und für den ägyptischen Bereich „Das Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele (ba)“.4 Andererseits finden sich Berührungspunkte zur klassischen griechischen Tragödie, von der sich das Buch Hiob allerdings aufgrund des Fehlens einer fortschreitenden Handlung unterscheidet.5 Dennoch bildet das biblische Hiobbuch ein Werk sui generis. Im weitesten Sinn lässt es sich der Gattung der „Auseinandersetzungsliteratur“ zuweisen.6 Charakteristisch für diese Gattung ist, dass im Munde fiktiver oder von der Überlieferung vorgegebener Gesprächspartner typische Grundsätze der politischen oder religiösen Tradition mit gegensätzlichen Erfahrungen konfrontiert und dabei Grundfragen der menschlichen Existenz und Daseinsbewältigung paradigmatisch erörtert werden. Die im Dialog auftretenden Figuren sind Problemträger, keine individuell greifbaren oder historisch zu verifizierenden Einzelgestalten.

1.2 Die programmatische Eröffnung in Hi 1,1 Es war einmal ein Mann im Land Uz, Hiob war sein Name. Und jener Mann war fromm und aufrichtig und fürchtete Gott und hielt sich von dem Bösen fern. (Hi 1,1) 4 Vgl. von Soden, in: TUAT III, 143–157, bzw. Lichtheim, Literature, Bd. 1, 163–169. 5 Siehe dazu Witte, Gattung, in diesem Band, S. 37–64, sowie umfassend Klinger, Leiden, und knapp Hirschfeld, Book of Job, 9–36. 6 Zum Begriff der „Auseinandersetzungsliteratur“ siehe Brunner, Grundzüge, 20–32.

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Das Buch hebt an wie ein Märchen: „Es war einmal ein Mann, ein jemand, ein ‫“איש‬. Bewusst lautet das erste Wort des Buches, abweichend von der klassischen Erzählweise der hebräischen Bibel, nicht ‫„ ויהי‬und es geschah“, sondern ‫„ איש היה‬es war ein Mann“ (vgl. 2Sam 12,1; Esth 2,5). Das erste Wort des Buches beginnt mit dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets (‫)א‬, ein erstes Zeichen dafür, worum es in diesem Buch geht: um Erstes, um Grundlegendes der Existenz. Berücksichtigt man, dass die klassischen hebräischen Erzählungen mit einem historisierenden Narrativ beginnen und dass sich die einzige echte syntaktische alttestamentliche Parallele zu Hi 1,1 in der Eröffnung der Nathan-Parabel in 2Sam 12,1 findet, kann man aus diesem Buchanfang weiterhin schließen, der Autor wolle seine Erzählung bewusst aus dem Horizont der Geschichte herausheben und als Gleichnis stilisieren.7 Erstaunlicherweise erfährt der Leser zunächst nicht den Namen des Mannes, dessen Geschick im Mittelpunkt des Buches steht, sondern seinen Herkunftsort: „Es war einmal ein Mann im Land Uz“. Aus israelitischer Perspektive handelt es sich bei diesem Mann, unabhängig davon, ob man Uz mit einem gleichnamigen Ort im edomitisch-nordarabischen Raum oder im aramäischen Bereich identi­ fiziert,8 um einen Ausländer. Wagte der Erzähler etwa nicht, das Geschick eines leidenden Gerechten, die Klagen eines Leidenden gegen Israels Gott Jhwh einem Israeliten in den Mund zu legen? Wohl kaum – gehört doch die Klage vor Jhwh, die sich bis zur Anklage gegen den als zornig erfahrenen Gott steigern kann, zu den Grundmustern der alttestamentlichen Gebete: „Mein Gott, mein Gott wozu hast du mich verlassen!“ schreit der Beter von Psalm 22 zu Jhwh und klagt ihn so der Ungerechtigkeit gegenüber dem Frommen an (Ps 22,2). „Du hast mich betrogen, verführt und vergewaltigt!“ lässt ein anonymer Dichter den zum Paradigma des leidenden Gerechten erhobenen Jeremia gegen Jhwh rufen (vgl. Jer 20,7). Warum also heißt es, Hiob stamme aus dem Land Uz? Möglicherweise fühlte sich der Erzähler an eine alte Tradition gebunden, die das im folgenden Geschilderte im Land Uz, sei es nun in Edom oder in Aram, verortete. Das eigentliche Ziel dieser Angabe liegt aber nicht im Bereich der exakten, sondern der symbolischen Geographie. Der Hebräer kennt neben dem Nomen Uz (‫ )עוץ‬ein gleichlautendes Verb ‫עוץ‬, das einen „Plan fassen, raten“9 heißt. Dabei handelt es sich um eine Nebenform des auch im Hiobbuch mehrfach 7 Vgl. dazu schon Fz. Delitzsch, Iob, 43, und in neuerer Zeit Gordis, Job, 10. Die antike griechische Übersetzung der hebräischen Bibel, die Septuaginta, verstärkt diesen gleichnishaften Charakter, wenn sie das Buch mit der Formel ἄνθρωπός τις ἦν („Es war einmal ein Mensch“) beginnen lässt (vgl. Lk 16,1.19). 8 Zum edomitisch-nordarabischen Uz vgl. Gen  36,28; Jer  25,20; Klgl 4,21, zum ara­ mäischen Uz vgl. Gen 10,23; 22,21; Josephus, ant. I 145. und zur ausführlichen Diskussion der geographischen Verortung von Uz siehe Lévêque, Job, Bd. 1, 87–90. 9 Vgl. Jes 8,10; Ri 19,30.

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belegten Verbs ‫„ יעץ‬raten, beraten“10. Die beiden Verben ‫ עוץ‬und ‫ יעץ‬hängen eng mit dem Nomen ‫„ עצה‬Rat, Ratschluss, Plan“ zusammen, das im Hiobbuch eine zentrale Rolle spielt11. Demzufolge heißt es zu Beginn des Buches Hiob: „Es war einmal ein Mann im Land des Ratens.“ So weiß der Leser schon nach den ersten Worten, worum es im folgenden gehen wird: um ein grundlegendes Rätsel der Existenz. Zunächst wird sich Jhwh mit dem Satan beraten (Hi 1,6–12), dann wird Hiobs Frau dem Dulder raten, Gott zu segnen und zu sterben (2,9 f). Schließlich werden Hiob und seine Freunde einander raten und gemeinsam rätseln (Hi 3–28; ­29–37), bevor endgültig Jhwh den kosmischen Ratschluss skizziert (38,2) und sich Hiob in diesen Rat einfügt (42,3). Und letztlich rät der Leser – denn er hat die aktive Rolle der fortlaufenden Enträtselung der schrift- und buchgewordenen Klage Hiobs (Hi 19,23 f; 31,35). Zutreffend schrieb bereits Maimonides (1135–1204) in seinem „Führer der Unschlüssigen“, dass der Verfasser des Hiobbuches mittels der Verwendung des Homonyms ‫ עוץ‬schon zu Beginn der Lektüre den Leser auffordere, das im Buch Hiob enthaltene Gleichnis zu erwägen, die darin enthaltenen Lehren zu erfassen, diese zu verstehen und den wahren Glauben zu sehen.12 Erst in einem zweiten Atemzug erfährt der Leser den Namen des Helden: Hiob. In Alliteration mit dem Eröffnungswort des Buches ‫ איש‬heißt die Hauptfigur ‫איוב‬.13 Bei diesem Namen handelt es sich um einen seit dem 2. Jt. v. Chr. in zahlreichen semitischen Sprachen belegten Personennamen, der soviel bedeutet wie „Wo ist mein (göttlicher) Vater?“ oder „Wo ist der (göttliche) Vater?“. Der Name gehört dem Typ des Satznamens an, der eine Bitte um Gottes heilvolle Nähe darstellt: „Hiob“ steht so schon von seinem Namen her für das nach Orientierung, nach Selbstvergewisserung und nach Sinn fragende Geschöpf. Hiob, das ist der nach dem Sinn seiner Existenz, nach dem Sinn seiner Lebensgemeinschaft und nach dem Sinn des Kosmos fragende Mensch. „Wo ist mein göttlicher Vater?“  – Wo ist der Schöpfer, der Garant von kosmischer und individueller Ordnung, der Stifter und Erhalter von Gerechtigkeit im Leben des einzelnen und der Welt? Wo ist die sinnstiftende Größe? Das sind Grundfragen einer auf Gott bezogenen Existenz; das Hiobbuch ist „Rede von den ersten Dingen“. Nur den einen Namen teilt der Erzähler mit, wir erfahren nichts über den Namen des Vaters oder der Sippe Hiobs. Erst in einem historisierenden Nachtrag der Septuaginta wird Hiob mittels Gleichsetzung mit dem in Gen 36,33 f (vgl. 1Chr 1,44 f) genannten Jobab geneaologisch verortet. Doch im hebräischen Original fehlt jede Einordnung Hiobs in einen Stammbaum, die 10 Vgl. Hi 3,14; 12,17; 26,3. 11 Vgl. Hi 5,13; 10,3; 12,13; 18,7; 21,16; 22,18; 29,21; 38,2; 42,3. 12 Mose Ben Maimon, Führer, Buch III, 131. 13 Die im protestantischen Bereich übliche Wiedergabe des Namens ‫᾽( איוב‬ijjôb) mit Hiob geht auf Martin Luther zurück, der mit dem anlautenden „H“ wohl den konsonantischen Charakter des hebräischen Aleph (‫ )א‬wahren wollte.

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sonst so typisch für eine althebräische Erzählung ist (vgl. Gen 11,26–29). Hiob, der jemand (‫ )איש‬aus dem Land des Ratens (‫)עוץ‬, ist keine Figur der Historie, auch nicht der fiktiven, sondern des protologischen Gleichnisses. Diesen protologischen Charakter unterstreicht dann auch die Angabe, Hiob sei „groß unter den Söhnen des Ostens (‫ )בני קדם‬gewesen“ (Hi 1,3). So wird Hiob mittels des doppeldeutigen hebräischen Wortes ‫קדם‬, das ausgehend von seiner Grundbedeutung „vorne“ sowohl in einem lokalen Sinn den Osten als auch in einem temporalen Sinn die Vorzeit, besonders die weit entlegene Vorzeit, bezeichnen kann (vgl. ‫ מקדם‬in Gen 2,8), in der Tiefe der Ordnung stiftenden und Paradigmen setzenden mythischen Urzeit verortet. Für hebräische Ohren klingt in dem Namen ‫ איוב‬aber auch das Wort ‫אויב‬ „Feind“ an, so dass Hiob als Programmname für „der Feind (Gottes)“ bzw. „der (von Gott) Angefeindete“ verstanden werden kann (vgl. bBB 16a und bNid 52a–b)14. An „Hiob“ wird so – neben der Erfahrung der Ferne Gottes („Wo ist der Vater?“) – die Erfahrung der Feindschaft Gottes illustriert: „Wozu verbirgst du dein Antlitz und rechnest mich als Feind (‫ )אויב‬für dich?“, lässt der Dichter den Gemarterten Gott entgegenrufen (Hi 13,24, vgl. 33,10). Der Koran hat darüber hinaus den Namen Hiob (arab. ’Ajjūb) mit dem arab. Wort ’awwāb „bußfertig “ verbunden, so dass Hiob der exemplarische Büßer ist (vgl. Sure 38,44).15 Auch wenn die Zusammenstellungen mit dem hebräischen Wort ‫„( אויב‬Feind“) und mit dem arabischen Wort ᾽awwāb keine philologisch zutreffenden Ableitungen sind, so eröffnen sie doch für das Verständnis des Hiobbuches Lesehorizonte, die bereits von den ältesten Tradenten der Hiobüberlieferung intendiert sein dürften und die zeigen, dass Hiob als Protagonist für den Menschen in bestimmten Situationen und Dispositionen steht.

1.3 Die Sprachformen der Hiobdichtung Die wesentlichen Sprachformen und Redegattungen des poetischen Teils des Hiobbuches stammen aus der Welt der Weisheit und des Kultes des antiken Israel. Hinzu kommen vereinzelte Sprachformen aus juridischem Kontext. Allen drei genannten Bereichen, 1.) der auf Erfahrung und Tradition beruhenden Lebensweisheit, 2.) der rituell gestalteten Religion und 3.) dem Recht, ist gemeinsam, dass sie versuchen, menschliches Leben zu organisieren, zu stabilisieren und diesem Orientierung zu schenken. Dies zeigt sich besonders deutlich einerseits an den weisheitlichen Sentenzen, die vor allem die Reden der Freunde durchziehen: Vor der doppelten geistigen Annahme einer Entsprechung von persönlichem Handeln und persönlichem 14 Goldschmidt, Talmud, Bd. 8, 63 bzw. Bd. 12, 518 f. 15 Siehe dazu Johns, Narrative, 1–25.

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Schicksal sowie einer empirisch nachweisbaren, von Gott garantierten gerechten Weltordnung wollen sie zu einem gelingenden Leben des einzelnen wie der Gemeinschaft anleiten.16 Dies ergibt sich andererseits aus den vornehmlich in Reden Hiobs gebrauchten psalmistischen Sprachformen, die ihren ursprünglichen Verwendungsort im Bitt- und Klagegebet bzw. im Gotteslob haben.17 Zumal die aus dem Klagegebet sowie der Vergänglichkeitsklage entlehnten Elemente in einzelnen Reden Hiobs, die in ihrer Anwendung auf den Leidenden als Aufruf an Gottes Barmherzigkeit dienen, bieten eine grundsätzliche Beschreibung alttestamentlicher Anthropologie: Der Mensch erscheint als ein von Gott geschaffenes und auf diesen bezogenes, gleichsam endliches Wesen, das angesichts von Lebenskürze und Vergänglichkeit auf Lebensfülle hofft, die sich in einer unversehrten Beziehung zu Gott, zum nächsten gesellschaftlichen Umfeld und zur eigenen Person realisiert.18 Sowohl die von den Freunden vorgeführten Interpretationen von Hiobs Schicksal mittels einer sich auf die Erfahrung berufenden Lebensweisheit als auch die im Munde Hiobs vorgetragenen Klagen über sein Leid, über seine ihm im Leid fremd gewordene Umwelt und über den von ihm als Urheber seines Leidens erfahrenen Gott tragen den Charakter einer Reflexion über die conditio humana angesichts des Mannes Hiob aus dem Land Uz. Dass dieser als „fromm und aufrichtig, Gott fürchtend und sich von dem Bösen fernhaltend“ (vgl. Hi 1,1), ja als analogieloses Vorbild eines Gottesknechts (vgl. Hi 1,8) ins Leid gerät, verschärft das im Buch verhandelte Problem der Gerechtigkeit Gottes, nimmt dem Werk aber nichts von seinem grundsätzlichen Charakter, ein Lebensbuch und ein „Buch vom Sinn des Leidens“19 zu sein. Eine seiner wesentlichen Funktionen besitzt das Buch – in allen seinen literargeschichtlich nachweisbaren Redaktionsschichten – darin, zum rechten Verhalten im Leiden anzuleiten.

2. Deutungen des Leidens im Buch Hiob Zwar unterscheidet die ganzheitlich orientierte, auf einer synthetischen Lebens­ auffassung beruhende Anthropologie des Alten Testaments (und des Alten Orients) nicht in derselben Weise wie die Moderne zwischen einem physischen, psychischen oder geistigen Leiden, sondern sieht den Menschen jeweils in seiner

16 Vgl. Hi 4,7 f; 8,3–6; 11,11 f.; 22,23–26; 36,5–7 u. v. a. 17 Vgl. Hi 3,11–26; 10,18–22; 13,24–28; 17,11–16; 19,13–20; 30,16–31 bzw. Hi 9,5–12; 12,7–25; 26,5–14. 18 Vgl. Hi 7,1 f.7–10.17 f; 10,9–12; 14,1–22. 19 So der treffende Untertitel der mit einer knappen Kommentierung versehenen Übersetzung des Buches Hiob, die der von 1921–1927 in Gießen lehrende Alttestamentler Hans Schmidt (1877–1953) erstellt hat s. u. S. 80.

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Gesamtheit als Leib, Seele und Geist leiden. Gleichwohl umfasst das Leiden Hiobs sowohl in seiner Ursache als auch in seiner Konsequenz die genannten Aspekte des Leidens. Der Verlust der Habe, der nächsten Verwandten und der körperlichen Integrität, die daraus resultierende Entfremdung von der sozialen Umwelt, die den von Gott Geschlagenen meidet, weil sie fürchtet sich zu infizieren, die sich einstellenden Fragen nach Gründen für die Not und die verzweifelten Versuche, die aktuellen Leidenserfahrungen mit traditionellen Lebensdeutungen in Beziehung zu setzen und in die eigene Gottesbeziehung einzuschreiben – all das macht die Fülle des Leidens Hiobs aus, die einerseits die Schwere des Schicksals Hiobs verdeutlichen soll, andererseits mannigfaltige Kontaktstellen zur Identifikation bietet. Die Fülle des Leids provoziert eine Fülle an Deutungen des Leids. Literargeschichtlich auf unterschiedliche Autoren und Redaktoren rückführbar, stehen diese im heute vorliegenden Hiobbuch in einem spannungsvollen Dialog, der sein Ziel erst in dem allein schon sprachlich schwer zu deutenden, als Gottesrede stilisierten Urteil findet: Da sagte Jhwh zu Eliphas, dem Themaniter: Mein Zorn ist entbrannt über dich und über deine zwei Freunde, denn ihr habt in Bezug auf mich (‫ )אלי‬nicht recht (‫ )נכונה‬geredet wie mein Knecht (‫ )כעבדי‬Hiob. (Hi 42,7b)20

2.1 Die Deutungen des Prologs Für die Verfasser21 des narrativen Rahmens sind der Urheber von Hiobs Leid, das Ziel des Leids und der Umgang mit diesem eindeutig. Hiobs Schicksalsschläge (Hi 1,13–20) stammen von Gott selbst, sie dienen einem Test der Belastbarkeit der Beziehung zwischen Gott und Mensch und münden angesichts des 20 Umstritten sind vor allem die drei Fragen, ob 1.) ‫ אלי‬mit „über mich“ oder „zu mir“ zu übersetzen ist, 2.) ‫ נכונה‬adverbial im Sinne von „richtig, recht“ oder als Objekt „Richtiges, Rechtes“ zu verstehen ist und 3.) der Lesart des Codex Leningradensis (B 19A) und des Codex von Aleppo ‫„ כעבדי‬wie mein Knecht“ oder der in einzelnen Handschriften belegten Variante ‫בעבדי‬ „über meinen Knecht“ zu folgen ist. Zu einer ausführlichen Diskussion der philologischen Probleme und zu einer Alternative zu der von mir gebotenen Übersetzung siehe Oeming, Ziel, 121–142 sowie Kottsieper, „Thema verfehlt!“, 775–785. 21 In einer älteren, noch nicht mit der Dialogdichtung verbundenen Fassung, dürfte der heutige Rahmen als Hiobnovelle (Grundschicht) nur Hi 1,1–3a.5a*(ohne ‫)כי…בלבבם‬. b.13–21; 42,11aα.b.12–17 umfasst haben. Die wohl mehrschichtigen Erweiterungen in Hi 1,3b.5a*(‫)כי…בלבבם‬.6–12.22; 2,1–10.11–13; 3,1; 42,7–10 stehen in Zusammenhang mit der redaktionellen Verbindung der Dialogdichtung (Hi 3,2–42,6*) und der Hiobnovelle und gehen erst auf eine sehr späte Redaktionsschicht zurück; vgl. dazu Witte, Vom Leiden, 190–192, sowie mit Modifikationen Maag, Wandlung; Syring, Hiob; Wanke, Praesentia Dei, 430.

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Gotteslobs dessen, der alles aus Gottes Hand nimmt (Hi 1,21), in der doppelten Restitution des Dulders (Hi 42,11–17). Vor allem die später eingefügten Himmelsszenen (Hi 1,6–12; 2,1–6), die – zur Entlastung Jhwhs – den Satan als Versucher Gottes und des Menschen und als Verursacher der Leiden Hiobs auftreten lassen,22 sowie das literargeschichtlich davon abhängige Gespräch zwischen Hiob und seiner Frau unterstreichen die bereits in der Grundschicht des Prologs erkennbare Rückführung von Hiobs Leid auf Gott selbst (vgl. Hi 1,21 mit 2,3 bzw. 2,10): Und er (d. h. Hiob) sagte zu ihr (d. h. seiner Frau): „Wie eine von den Törichten redet, so redest du. Das Gute sollten wir von der Gottheit annehmen, aber das Böse sollten wir nicht annehmen?“ (Hi 2,10a)

Der Weise weiß um die Ambivalenz Gottes: Es ist derselbe Gott, der baut und niederreißt, der schlägt und verbindet, der Leben schenkt und Leben nimmt – töricht ist, wer von Gott nur das Gute erwartet oder wer Gottes Existenz leugnet (vgl. Ps 14,1). Denn entweder wird er der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht oder er entmachtet Gott, indem er das Böse aus dessen Wirkungsbereich ausgliedert und einer widergöttlichen Macht zuordnet. Für den weisen Gottesknecht Hiob aber ist die von (seinem) Gott gesetzte Wirklichkeit komplex und paradox zugleich. Gutes und Böses – in Gestalt eines Merismus beschreibt der Dichter eine Ganzheit. Zwei polare Begriffe kennzeichnen die Fülle: Gutes und Böses meint einfach alles. Weil für Hiob alles von Gott gewirkt wird, muss auch sein Leiden von seinem Gott kommen, vor dem er sich völlig entblößt sieht und an dem er dennoch als an seinem Grund festhalten muss: Hiob fürchtet Gott tatsächlich grundlos (vgl. Hi 1,9). Der einzige Grund seiner Gottesfurcht ist Gott selbst. „In all diesem sündigte Hiob nicht mit seinen Lippen“, konstatiert der Dichter (Hi 2,10b). Ob in dem betonten Abschlusswort „mit seinen Lippen“, das zudem gegenüber dem parallel konstruierten Summarium in Hi 1,22 überschießt, impliziert ist, Hiob habe zwar nicht mit Worten, wohl aber „mit dem Herzen Gott geflucht“ (vgl. Hi 1,5), bleibt offen. Allerdings spricht die alttestamentliche (und antike) Vorstellung vom Weisen, der seine Lippen, d. h. seine Sprache, jederzeit im Griff hat, eher dafür, hier ein Pendant zu Hi 1,22 zu sehen:

22 Zu einer analogen Verschiebung der innergöttlichen Verantwortlichkeiten vgl. die Erzählung von der „Bindung Isaaks“ in Gen 22 mit ihrer aus Qumran bekannten relecture 4Q225 (= 4QpsJuba): „Und danach wurde Abraham ein Sohn geboren, und er gab ihm den Namen Isaak. Und der Fürst der Anfeindung (‫ )שר המשטמה‬kam zu Gott und feindete (‫ )שטם‬Abraham im Blick auf Isaak an. Da sagte Gott zu Abraham: Nimm deinen Sohn, den Isaak, deinen einzigen, den du liebst und bringe ihn mir als Brandopfer dar …“ (4Q225, Frgm. 2 I,8–10; vgl. Jub 17,15 f).

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Wer seinen Mund hütet, bewahrt sein Leben, wer seine Lippen aufsperrt, hat Verderben. (Spr 13,3, vgl. Spr 21,23; Jak 3,2)

Auch nach dem zweiten Schlag gibt Hiob Gott keinen Anstoß: Hiob, der Aufrichtige (‫ישר‬, Hi 1,1) bewährt sich im Leiden. Die Deutung, die der Prolog dem Leiden damit gibt, ließe sich dann in die These überführen: Leiden dient der Bewährung. Rechter Umgang mit dem Leiden hieße demzufolge, dieses aufrecht zu ertragen.

2.2 Die Antworten der Freunde Bereits die erste (literargeschichtlich sehr komplexe) Rede des Eliphas von Teman (Hi 4 f) bietet nicht nur das kompositionelle und argumentative Grundmuster aller in Kap. 4–22 vorliegenden Freundesreden,23 sondern auch die drei wesentlichen Deutungen, die sich dann mit unterschiedlicher Intensität durch die Reden der weiteren Gesprächspartner verfolgen lassen. Wenn es – so die grundlegende Ausgangsposition des Eliphas – 1.) zwischen dem moralischen und religiösen Verhalten eines Menschen einerseits und dessen persönlichem Schicksal andererseits eine direkte Entsprechung gibt (vgl. Hi 4,7–9) und wenn sich 2.) aus dem persönlichen Geschick eines Menschen auf dessen moralisches und religiöses Verhalten zurückschließen lässt (vgl. Hi 5,2–7), dann ist Hiobs Leiden eine Strafe Gottes, und zwar eine Strafe entweder für offenbare oder für verborgene Sünden. Begleitet wird diese Vorstellung von der doppelten theologischen Überzeugung, dass Gott 1.) gerecht ist und jedem Menschen weltimmanent vergilt und 2.) barmherzig ist und auf Buße und Gebet des Menschen reagiert.24 In der ersten Rede des Eliphas nur in einer Sentenz angesprochen, von dem Dichter der Elihureden dann aber breit entfaltet,25 findet sich die mit der Deu 23 Kompositionell teilen die Freundesreden in Kap. 4–22 das Muster, dass auf einen einleitenden Teil, der sich in der zweiten Person Singular direkt an Hiob wendet, ein Hauptteil folgt, in dem die Situation Hiobs generell vor dem Hintergrund der traditionellen Weisheit reflektiert wird, bevor in einem abschließenden Teil eine direkte Applikation der weisheitlichen Weltsicht auf Hiob und Mahnungen an den Leidenden erfolgen. Typisch für die Freundesreden in den Kap. 4–22 ist, dass einzelne zentrale Begriffe aus der vorangegangenen Hiobrede rezipiert und mit einem neuen Bedeutungsgehalt wieder verwendet werden. Dabei zeigt sich, dass der Dialog zwischen Hiob und seinen Freunden weniger linear, als vielmehr meditativ-kreisend und spiralförmig verläuft. Die später in die Hiobdichtung eingefügte dritte Rede Bildads in Kap.  25 und die sekundären Reden Elihus in Kap. 32–37 weisen ein davon abweichendes Kompositionsschema auf (vgl. dazu Witte, Vom Leiden, 59–62 bzw. H.-M. Wahl, Schöpfer, 143–154). 24 Vgl. Hi 5,8; 11,13–20; 34,11 und besonders eindrücklich in der ersten Rede Bildads in 8,3–6. 25 Vgl. besonders die erste Rede des Elihu in Hi 33,12–29.

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tung des Leidens als Bewährung bzw. als Strafe verwandte Interpretation, Leiden diene der Erziehung: Siehe, glücklich ist der Mensch, den Gott zurechtweist, und die Züchtigung Schaddajs26 verwirf nicht. (Hi 5,17)

Die Erfahrung, dass Leiden den Menschen reifen lassen kann, ist hier zu der Überzeugung verdichtet, Leiden sei prinzipiell ein pädagogischer Akt.27 Diesen beiden Deutungen des Leidens, die grundsätzlich mit der Möglichkeit relativer Gerechtigkeit des Menschen vor Gott rechnen, hat ein späterer Redaktor in Hi 4,17–19 und dann an zwei weiteren kompositionell herausragenden Stellen der Dichtung (15,14–16; 25,4–6) das Motiv der geschöpflichen Unwürdigkeit des Menschen zur Seite gestellt: Kann ein Mensch vor Gott gerecht sein oder vor seinem Schöpfer rein ein Mann? Wenn er schon seinen Dienern nicht traut seine Boten des Irrtums bezichtigt,28 wieviel mehr die, die Lehmhäuser bewohnen, deren Grundmauern im Staub liegen,29 man zermalmt sie schneller als eine Motte? (Hi 4,17–19)

Hier nun wird das Leiden als ein Existential verstanden. Es gründet in der geschöpflichen Bedingtheit des Menschen, die ihn nicht nur aufgrund seiner Endlichkeit, sondern auch seiner moralischen und religiösen Minderwertigkeit wesentlich von Gott als dem allein Heiligen unterscheidet. Hiob erlebt, dieser Deutung zufolge, an seiner Person das an sich jedem Menschen zustehende Geschick. Dass dieses ausgerechnet Hiob trifft, während andere verschont bleiben, dient – so die Logik der Verfasser dieses Motivs – einerseits der Betonung von Gottes absoluter Souveränität, andererseits – vor dem Hintergrund der Stilisierung Hiobs im Prolog als analogielosem Frommen  – der Unterstreichung von Gottes Heiligkeit. Hiob, der schlechthin Heile (so die Grundbedeutung des zu 26 Zur Gottesbezeichnung ‫שדי‬/Schaddaj, die im griechischen Hiobbuch zumeist mit παντοκράτωρ („Allherrscher“) und in der Vulgata mit omnipotens („Allmächtiger“) übersetzt wird, siehe Witte, El Schaddaj. 27 Die griechische Übersetzung des Hiobbuches unterstreicht diesen Aspekt, indem sie das hebräische Wort ‫„( מוסר‬Zucht“) mit dem Begriff παιδεία („Erziehung“) wiedergibt und damit die in der Forschung häufig anzutreffende Rede von der „Leidenspädagogik“ begründet (vgl. z. B. H.-M. Wahl, Schöpfer, 72 u.ö.; kritisch dazu: Oeming, Elihus Auswege, 83). 28 Gemeint sind jeweils die Engel vgl. Hi 15,15; Ps  103,21 sowie 1QS XI,8; 1QHa IX,22; CD-B XX,8 (zu den letztgenannten Texten siehe die Ausgabe von García Martínez/Tigchelaar, Scrolls, Bd. 1, 96 f; 164 f; 578 f). 29 Metaphorisch für die geschöpfliche Konstitution des Menschen.

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meist mit „fromm“ übersetzten Wortes ‫תם‬, Hi 1,1), Hiob, das tadellose Opfertier, leidet nach dieser Vorstellung dann auch um Gottes willen: Und wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott, und wie kann rein sein ein von einer Frau Geborener? Wenn sogar der Mond nicht hell scheint und die Sterne nicht rein in seinen Augen sind, wieviel weniger der Mensch, die Made, und das Menschenkind, der Moder. (Hi 25,4–6)

Natürlich erhebt sich auch hier, wie bei der Deutung des Leidens als Erziehungsmaßnahme Gottes, die Frage nach der dahinter stehenden Theologie – und weiter, vorausgesetzt, diese Theologie rede authentisch von Gott – nach dem Wesen Gottes selbst, der offenbar zur Darstellung seiner absoluten Macht und Heiligkeit die totale Ohnmacht und Zerbrochenheit seines Geschöpfs braucht. Hiob selbst wird diese Fragen im Verlauf des Dialogs mit den Freunden stellen.

2.3 Die Fragen Hiobs Die von den Freunden vorgetragenen Deutungen seiner Situation als Folge eines Straf- oder Erziehungshandelns Gottes vermögen Hiob nicht zu überzeugen. Dem Verständnis seines Leidens als gottgeschickter Strafe steht das Bewusstsein eigener Unschuld entgegen (Hi 9,21.35). Den Hinweis auf die göttliche Erziehungsmaßnahme kontrastiert Hiob mit der Beschreibung des Übermaßes seines Leidens, das ihn an den Rand des Todes gebracht hat (Hi 7,3–6). Der Verknüpfung seines Leidens mit der grundsätzlichen, geschöpflich bedingten inferioren Disposition vermag Hiob letztlich zuzustimmen – allerdings erst nach der Gottesrede, die den Satz von der kreatürlichen Unwürdigkeit des Menschen in ein neues Licht stellt (Hi 40,3–5; 42,1–6).30 Bis sich der leidende Hiob zu dieser Erkenntnis durchzuringen vermag, durchziehen Fragen seine Reden. Nach einem sieben Tage und sieben Nächte währenden Schweigen (Hi 2,13), das Constantin Constantius alias Søren Kierkegaard (1813–1855) zu dem Ausruf veranlasste: Hiob! Hiob! O Hiob! Hast du wirklich nichts andres gesprochen als diese schönen Worte: der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt? [vgl. Hi 1,21] Hast du nicht mehr gesagt? Bist du in aller deiner Not dabei geblieben, nichts zu tun als sie zu wiederholen? Warum schwiegest du sieben Tage lang und sieben Nächte, was ging da in deiner Seele vor?31, 30 Die punktuellen Anspielungen auf das „Niedrigkeitsmotiv“ in 9,2 und 14,1.4 sind sekundär (vgl. Witte, Vom Leiden, 183.189). 31 Kierkegaard, Wiederholung, 68.

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schreit Hiob in die Dunkelheit seines Leids den Fluch über den Tag seiner Geburt (Hi 3). Der Hiob der Dichtung hat anderes gesprochen als der des Prologs. Dem Fluch über den Geburtstag, der nichts anderes ist, als der Wunsch, die von Gott gesetzte Zeit zu manipulieren,32 folgt die Frage nach dem Grund des Lebens (Hi 3,11.20), die abgelöst wird von den Fragen nach dem Grund des Leidens (7,20), nach der Gerechtigkeit Gottes (9,20–34) und nach dem Menschen selbst (7,17 f; 14,1–22): Was ist der Mensch, dass du (d. h. Gott) ihn großziehst und dass du dein Herz auf ihn richtest und ihn untersuchst allmorgendlich, ihn jeden Augenblick prüfst? (Hi 7,17 f in Umkehrung von Ps 8,5)

Gerade diese letzte Frage zeigt, worum es in den Fragen des Leidenden letztlich geht: um die Identität des Menschen – und um die Identität Gottes. Der leidende Hiob, der leidende Mensch, sieht durch das Leid sich selbst und sein Sinngefüge in Frage gestellt und fragt daher. Der Leidende fragt; er fragt sich selbst, seine Nächsten und die Größe, die er als Grund und Ziel seines Seins versteht – und sei diese das Nichts.

2.4 Die Antworten Gottes Und Jhwh antwortete Hiob aus dem Sturmwind und sagte. (Hi 38,1)

Erstmalig taucht in der Hiobdichtung – abgesehen von dem sekundären Vers Hi 12,9 – in der Einleitungsformel der Gottesrede der Eigenname des alttestamentlichen Gottes auf. Allein mit dieser Verwendung des Gottesnamens ist angedeutet, dass nun die Lösung des in der Dichtung angelegten Problems erfolgt. Mit der Wendung „aus dem Sturmwind“ wird die folgende Rede in ein Theophaniegeschehen eingebettet (vgl. Jes 29,6; Ez 1,4). In Umkehrung zur Entrückung Elias, den Jhwh im Sturmwind gen Himmel holt (vgl. 2Kön 2,1.11), entrückt sich Jhwh hier selbst und holt Hiob auf der Erde ein. Der Sturm kennzeichnet hier wie in Jer 23,18–20 (par. Jer 30,23; Nah 1,3) Gottes Erscheinen zum Gericht. So gibt bereits die Überschrift der ersten Gottesrede den Interpretationsrahmen für alles Folgende an. Jhwh erscheint zum Gericht. Er stellt sich Hiob – damit realisiert sich die von Hiob in seinen Klagen verbalisierte Hoffnung auf die unmittelbare Gottesbegegnung (vgl. Hi 19,25 f; 23,3–17; 31,35–37). Doch der, der Gott zur Rede stellen wollte, erfährt sich nun selbst als der von Gott Gefragte. Ent 32 Vgl. dazu Witte, Zeit und Leid, in diesem Band S. 81–100.

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gegen der zuweilen in der Forschung vertretenen Deutung der Gottesrede, dass es bei ihr nicht um den Inhalt, sondern um das Faktum gehe, dass also allein die Begegnung Hiobs mit Gott die Lösung bedeute,33 kommt es auch auf die Worte Gottes selbst an. Wie im Sinaigeschehen (vgl. Ex 19 f) die Jhwh-Epiphanie und die Kundgabe des Dekalogs untrennbar zusammengehören, so bilden auch hier die Jhwh-Offenbarung in Schau und Wort eine Einheit. Hi 38,1 zeigt tatsächlich, „wie der unendliche Gott sich dem Menschen aus kleinstem Raume offenbart“.34 Wer verdunkelt da den (göttlichen) Ratschluss (‫)עצה‬ mit Worten ohne Wissen? (Hi 38,2)

Gottes Rede beginnt mit einer Frage. Der Mensch, der Gott direkt begegnet, sieht sich in seiner Existenz von Gott in Frage gestellt. Der Begriff ‫ עצה‬gibt das Leitthema der folgenden Fragen an. ‫ עצה‬bezeichnet  – vor allem in prophetischen Texten des Alten Testaments – den geheimnisvollen Geschichtsplan Gottes (vgl. Jes 46,10).35 Dieser Plan schlägt sich sowohl im Ablauf der Weltgeschichte nieder als auch in der individuellen Biographie (vgl. Ps 73,24; 1QS XI,18–22).36 Wenn aber hinter allem, was geschieht, Gottes Plan steht, dann hat alles auch einen von Gott gewirkten Sinn – auch das Leiden Hiobs. Wer dies bestreitet, verdunkelt, wie der Hiobdichter Jhwh in Rekurs auf Hiobs Eingangsfluch (vgl. Hi 3,4) sagen lässt, Gottes Plan. Die dann folgenden Verse der Gottesrede (Hi 38,4–39,30) sind letztlich nur noch Konkretionen des Geschichtsplanes Gottes. Doch bevor der Dichter Jhwh das Spektrum der Schöpfung vor Hiob ausbreiten lässt, erfolgt noch ein ironischer Rückgriff auf Hiobs Herausforderung zum Rechtsstreit in Hi 31,35–37: Der, der Gott selbst wie ein Herzog (‫ )נגיד‬nahen wollte (Hi 31,37), soll sich jetzt wie ein Held (‫גבר‬, Hi 38,3; 40,7, vgl. Hi 3,3.23; 16,21) zum Streit mit Gott rüsten. Auf den ersten Blick scheinen die Reden Gottes aus dem Wettersturm (Hi 38,1–41,26) weder auf die Fragen Hiobs nach dem Grund und der Dauer seines Leidens, noch auf die vielfältigen Antworten der Freunde einzugehen. Die ausführliche Beschreibung des Kosmos und seiner souveränen Lenkung, exemplifiziert an Gottes Macht über das mythisch verklärte Flusspferd (Behemoth, Hi 40,15–24) und Krokodil (Leviathan, Hi 40,25–41,26), scheinen nur das im vorangegangenen Dialog mehrfach berührte Thema von Gottes Macht als Schöpfer

33 Vgl. Hesse, Hiob, 12. 34 Wiernikowski, Hiob, 69 (nach Anani b. Lasson, BerR 4,4). Im Hintergrund dieser Deutung steht ein Spiel mit den hebräischen Begriffen ‫ ְסָע ָרה‬bzw. ‫„( ְשָׂע ָרה‬Sturm“; Hi 38,1 bzw. 9,17) und ‫„( ַשֲׂע ָרה‬Haar“; Hi 4,15). 35 Vgl. weiterhin Jes  5,19; 19,17; 25,1; 28,29; 44,26; Jer  49,20; 50,45; Mi 4,12; Ps  33,11; 106,13. 36 Vgl. weiterhin 4Q511 Frgm. 48,1 und dazu Witte, Auf dem Weg, 103–112.

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und als universaler Richter auszumalen und zu vertiefen.37 Eine genauere Lektüre zeigt aber, dass die Gottesreden 1.) sehr eng mit der Dichtung, insbesondere mit der Eingangsklage Hiobs in Kap. 3, verbunden sind und 2.) eine über die Deutung des Leidens Hiobs in den Freundesreden hinausgehende Interpretation enthalten. So steht im Zentrum der Gottesreden die Zurückweisung der Anfragen Hiobs an den Schöpfergott und der Bestreitung von Gottes Macht über die Zeit, mit denen die Hiobdichtung begonnen hatte (Hi 3). Hiobs Negation des Schöpferwortes „es werde Finsternis“ (Hi 3,4 vgl. Gen 1,3) und der Wunsch des Leidenden, die Zeiten umzukehren (Hi 3,5–26), werden durch die Abschreitung des Kosmos, seiner gottgestalteten Phänomene und der in ihm geltenden, von Gott gesetzten Zeiten aufgehoben. Damit wird nicht das Leiden Hiobs selbst aufgehoben, wohl aber in eine neue Beziehung gesetzt. Gott verfügt über die Zeit – sei es über die kosmische Zeit, sei es über die individuelle Lebenszeit. Damit ist Gott aber auch der Herr über Leben und Tod. Dies soll Hiob, der in der Gottesrede durch die Tiefen und Höhen der Erde geführt, der mit Gottes Macht konfrontiert und dessen Stellung vor Gott relativiert wird, anerkennen. In den von Gott räumlich und zeitlich strukturierten Raum soll Hiob sich und sein Leid einfügen. Eine explizite Antwort auf die Frage Hiobs nach dem Grund seines Leidens gibt die Gottesrede nicht. Leiden erscheint als Mysterium, das sich einer letzten Erklärung entzieht. Es hat aber seinen Ort in der von Gott gestalteten Welt und hebt die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch nicht auf: Leiden hat Sinn; diesen zu entdecken, ist Aufgabe des Leidenden selbst. Nur er selbst kann diesen entdecken, nur er selbst kann die Antwort auf die Frage nach seinem Leiden, ja die Frage, die das Leiden selbst stellt, geben – dies zeigt das Scheitern der verordneten Antworten der Freunde ebenso wie die Befragung Hiobs durch Gott. In den Fragen Gottes entdeckt Hiob, den Sinn seines Leidens, der wohl darin besteht, Gott genauer kennenzulernen: Und Hiob antwortete Jhwh und sagte: Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, aber jetzt hat mein Auge dich gesehen. Darum verwerfe ich und bereue, weil (‫)על‬38 ich (ja doch) Staub und Asche bin. (Hi 42,1.5 f) 37 Aus diesem Grund fehlt es bis heute nicht an Stimmen in der Forschung, die Gottesreden seien sekundär und die ursprüngliche Dichtung habe mit Hiobs Herausforderung Gottes zum Rechtsstreit geendet, vgl. Volz, Weisheit, 78–88; modifiziert bei Hesse, Hiob, 11 f. 38 Das vieldeutige hebräische Wort ‫ על‬wird hier zumeist im Sinn von „auf “ übersetzt und der Halbvers dann als Bußritus gedeutet (vgl. Jes 58,5; Jer 6,26; Jon 3,6; Est 4,1.3; Dan 9,3). Für die hier vorgeschlagene kausale Übersetzung und die Interpretation als Zustimmung Hiobs zu seiner geschöpflich bedingten Distanz zu Gott vgl. Hi 30,19; Gen 18,27; 1QHa XVIII,5 sowie die Wiedergabe von Hi 42,6 in der Septuaginta („Ich aber halte mich für Staub und Asche“); vgl. Witte, Vom Leiden, 176.

Vom fragenden zum antwortenden Menschen    

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Das Leiden hat Hiob, „den Menschen hellsichtig und die Welt durchsichtig“39 gemacht: „aber jetzt hat mein Auge dich gesehen“ (Hi 42,5, vgl. 19,26).

3. Vom fragenden zum antwortenden Menschen In seiner vorliegenden hebräischen Gestalt enthält das Buch Hiob die Deutungen des Leidens als Strafe Gottes, als Bewährung des Frommen, als Erziehung, als Existential und als Mysterium. Ansatzweise findet sich die Vorstellung eines stellvertretenden Leidens für Gott (s. o.) und für den Menschen (Hi 42,7–10).40 Gemeinsam ist allen diesen Deutungen, dass sie Leiden nicht als sinnlos ansehen. Die wesentliche Lehre des Buches Hiob ist es, den leidenden Menschen zur bewussten Einstimmung in sein Leiden zu führen. Wie das Buch Hiob zeigt, gehören dazu sowohl das Schweigen als auch das Klagen, sowohl das Meditieren und Reflektieren als auch das Bitten und Rechten. Entscheidend ist aber, wie sich der Leidende selbst in der Begegnung mit der seiner Existenz sinngebenden Instanz zu seinem Leiden und zu dieser verhält. Damit bestätigt sich von seiten der Exegese die von Viktor E. Frankl vorgetragene These, „daß das Leiden selber eine Frage ist, daß wieder wir es sind, die da gefragt werden, daß der leidende Mensch, der Homo patiens, der Befragte ist: er hat nicht zu fragen, sondern er hat zu antworten, er hat die Frage zu beantworten, er hat die Prüfung zu bestehen – er hat das Leiden zu leisten.“41

Wie diese Antwort im Einzelnen ausfällt, ist weder vorherzusehen, noch zu erzwingen oder gar zu normieren, wesentlich ist, dass sie gegeben wird, und zwar vom Leidenden selbst. So lehrt das Buch Hiob, dass der Mensch als fragendes und als leidendes Wesen ein zur Antwort gerufenes ist: Dem homo quaerens et patiens muss der homo respondens zur Seite treten.

39 V. E. Frankl, Mensch, 330 f. 40 Vgl. dazu die Entfaltung von Hi 42,8 f im Hiob-Targum aus Qumran (11QtgJob XXXVIII,1 f) und im pseudepigraphen Testament Hiobs 42,8; 43,1 f (Schaller, in: JSHRZ III, 362 f). 41 V. E. Frankl, Mensch, 385; vgl. auch Susman, Hiob, 33: „Alle unsere letzten Fragen sind Fragen an die Macht, von der wir uns selbst in Frage gestellt, der wir uns bedingungslos ausgelie­fert fühlen, und das heißt, gleichviel ob der Name genannt oder geleugnet wird, Fragen an Gott.“

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Der leidende Mensch im Spiegel des Buches Hiob

Holzschnitt von Fritz Kredel auf dem Einband von: Hiob. Das Buch vom Sinn des Leidens. Gekürzt und verdeutscht von Hans Schmidt, Tübingen 1927.

Beobachtungen zum Verhältnis von Zeit und Leid im Buch Hiob

1. Zeit und Zeitlichkeit Zwei Wochen nach der Ermordung Dietrich Bonhoeffers im KZ Flossenbürg und 16 Tage vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs wurde in Berlin der Professor der politischen Geographie und Geopolitik, der Lyriker und Dramatiker Albrecht Haushofer von Männern der SS erschossen (23.4.1945). In der Zeit seiner sechsmonatigen Haft hatte Haushofer den Zyklus der sogenannten Moabiter Sonette verfasst, der mit folgendem Gedicht schließt: – Zeit – Ich träume viel bei Nacht und viel bei Tag. Die Zeit ist ohne Wert. Ich kann vergessen, Der Stunde wie der Woche Gang zu messen, Wenn ich mich nicht auf sie besinnen mag. Doch wittern auch die Träume wohl die Zeit – Erwach ich dann vom Dienstgeklirr der Schlüssel, Vom Mittagsruf nach meiner Suppenschüssel, Und raffe mich, zum Täglichen bereit: Dann weiss ich, aus Träumen aufgestört, Wie einer fühlt in seinen letzten Stunden, Der, an ein ruderloses Boot gebunden, Den Fall des Niagara tosen hört. Die Wasser schlagen an des Bootes Rand. Sie strömen rasch. Gebunden – ist die Hand.1

Die Zeilen Haushofers bestätigen in bedrängender Dichte, dass die Erfahrung der Zeit in der Erfahrung der Negation und der Diskontinuität gründet, in Augenblicken der existentiellen Krise und des Sinnverlustes. Ich zitiere den Philosophen Michael Theunissen: „Im selben Maß, wie der Sinn unseres Lebens sich entleert, wird Zeit auffällig.“2 Dieser Satz gilt sowohl im Blick auf die Bestimmung von Zeit als einem Nacheinander oder einer Abfolge von Ereignissen als auch hinsichtlich der Definitionen von Zeit als Gegenwärtigkeit, als Dauer oder Handlungszusammenhang und als Zukunft.3 Sei es, dass Zeit zyklisch als stete Wiederkehr des 1 Haushofer, Moabiter Sonette, 84. 2 Theunissen, Negative Theologie, 45. 3 Vgl. zu diesen vier klassischen Zeitbestimmungen Baumgartner, Zeit und Sinn, 24–26.

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Beobachtungen zum Verhältnis von Zeit und Leid im Buch Hiob 

selben verstanden wird, dass sie linear-verlaufend als kontinuierlich-diskontinuierliche Entwicklung beschrieben wird, sei es, dass Zeit punktuell-flächig ohne natürlich oder geschichtlich vermittelte Vernetzung gedeutet wird: Zeit wird jeweils bewusst als Zeitlichkeit, sie wird existentiell erfahren als Bruch, als Abbruch eines Ereignisses oder einer Geschehensfolge, als Einbruch oder Zusammenbruch von Beziehungen, als Durchbruch zu oder von etwas Neuem. Doch die Erfahrung der Negation fordert heraus zu deren Überwindung und zu deren Deutung, zu deren Integration in die eigene Person und zu deren Interpretation vor dem Hintergrund vergleichbarer oder gegensätzlicher Erfahrungen. Insofern dem Menschen unter den Bedingungen der Endlichkeit eine Aufhebung der Zeit aber unmöglich ist, verbleibt ihm, die Zeit zu deuten und zum rechten Umgang mit ihr zu finden. Leiden als eine konzentrierte Form der Negation und der Diskontinuität provoziert in besonderer Weise ein Nachdenken über die Zeit. Ich zitiere nochmals Theunissen: „Unterworfen sind wir der Herrschaft der Zeit grundsätzlich alle. In Psychosen werden wir ihr nur ausgeliefert.“4 Als Erfahrung der Vergänglichkeit schärft Leiden den Blick für die Zeitlichkeit und artikuliert diese pointiert. Dies kann sich niederschlagen in einer Klassifikation der Zeit in gute Zeiten und schlechte Zeiten, in erfüllte und verlorene Zeiten, in erhoffte und verwünschte Zeiten. Die Qualifikation der Zeiten und die Unverfügbarkeit der Zeit verweisen auf den Transzendenzbezug der Zeit. Zeit erscheint als eine Größe, die nicht in dieser Welt aufgeht, die über diese Welt hinausweist und die ihren Haftpunkt nicht nur in dieser Welt besitzt. Das Alte Testament gehört mitsamt seinem altorientalischen und antiken Kontext zu einer Welt, in der Gott und die Götter noch nicht gestorben sind. In einer solchen Welt, für welche die Botschaft von Friedrich Nietzsches Zarathustra (1883–1885), dass Gott tot sei,5 nur die Begriffe „Torheit“ (vgl. Pred 7,25) oder „Dummheit“ (vgl. Sir 20,31 [G]) übrig gehabt hätte, weil sie wusste, dass die Wirklichkeit viel zu komplex ist, als dass sie sich anthropologisch aufschlüsseln und anthropozentrisch bewältigen ließe, in einer solchen Welt bildet die Zeit eines der unsichtbaren Bänder zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Transzendenz und Immanenz. Erfahrung und Deutung der Zeit heißt in einer Welt, in der Gott als Schöpfer des Kosmos, als Wahrer des Rechts und als gestaltende Kraft der Geschichte bekannt, kultisch verehrt und im Gebet angerufen wird, zugleich Erfahrung und Deutung Gottes. Zeit erscheint hier als Gottesraum, Rede von der Zeit ist hier Rede von Gott: Die Rede der Zeit wird in diesem Kontext zur Theo-logie. Beispielhaft zeigt sich das in dem Buch vom leidenden Gerechten Hiob. Im Bereich der alttesta­mentlichen Schriften nur mit der Vergänglichkeitsklage des 4 Theunissen, Negative Theologie, 49, ähnlich S. 54 f. 5 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 293.

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90. Psalms und den Sentenzen des Predigers Salomo vergleichbar, reflektiert das Buch Hiob in seinen unterschiedlichen Gattungen und literarischen Schichten das Wesen der Zeit und meditiert über das Leben in der Zeit. Hiobs Schicksal ist – so könnte man mit Søren Kierkegaard sagen – „eine P r ü f u n g . […] da Prü­fung eine e i n s t w e i l i g e Kategorie ist, so ist sie ohne weiteres in ein Verhältnis zur Zeit gesetzt und muß daher aufgehoben werden in der Zeit.“6 Die Relationierung der Prüfung Hiobs zur Zeit ist im Buch selbst verdichtet zu einer theologischen Deutung der Zeit. Diese im Hiobbuch angedeutete theologische Interpretation der Zeit zu erhellen und sie – im Verhältnis zum gleichnishaften Charakter der Hiobfigur – als eine über das Hiobbuch hinausreichende Verstehensweise von Zeit und Gott vernehmbar zu machen, gelten die folgenden Ausführungen. Ausgangspunkt und Orientierungspunkt bilden die in Buch Hiob verwendeten ausdrücklichen Zeitbegriffe7 und die mittels dieser gebildeten Bezüge zwischen einzelnen Abschnitten des Buches. Dabei gehe ich von der Endgestalt des Buches aus und berühre form- und redaktionsgeschichtliche Fragen nur am Rande.8

2. Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit Das Leiden Hiobs beginnt an dem Tag (‫)יום‬, da sich die Söhne Gottes vor Jhwh versammeln und der Satan das Verhältnis zwischen erlebtem Glück und gelebter Religion problematisiert (Hi 1,6–12): Fürchtet der gottesfürchtige Hiob Gott etwa umsonst? Die Häufung des Begriffs ‫ יום‬in Hi 1,4–6 deutet darauf hin, dass der literargeschichtlich jüngere Verfasser der ersten Himmelsszene die zunächst indifferente Wendung ‫„( ויהי היום‬und es geschah des/eines Tages“, V. 6) auf einen ganz bestimmten Tag bezieht.9 Der unmittelbare Anschluss der Formel ‫ויהי היום‬ 6 Kierkegaard, Wiederholung, 79–81. 7 ‫„( אז‬dann“), ‫„( אחר‬hinter“), ‫„( אחרון‬zuletzt“/„letzter“), ‫„( אחרי‬danach“), ‫„( אחרית‬Ende“), ‫„( בקר‬Morgen“), ‫„( דור‬Generation“), ‫„( חדש‬Mond“), ‫„( חלד‬Lebenszeit“), ‫„( יום‬Tag“), ‫„( ירח‬Monat“), ‫„( לילה‬Nacht“), ‫„( לפני‬vor“), ‫„( מתי‬wie lange“), ‫„( נצח‬Dauer“), ‫„( נשף‬Dämmerung“), ‫( עד‬I „Zukunft“/ „Urzeit“; III „bis“), ‫„( עוד‬noch“), ‫„( עולם‬fernste Zeit“/„Ewigkeit“), ‫„( ערב‬Abend“), ‫„( עת‬Zeit“), ‫„( עתה‬jetzt“), ‫„( צהרים‬Mittag“), ‫„( קדם‬Vorzeit“), ‫„( קץ‬Ende“), ‫„( ראשית‬Anfang“), ‫„( ראישון‬erster“), ‫„( רגע‬plötzlich“), ‫„( שחר‬Morgenröte“), ‫„( שנה‬Jahr“), ‫„( תמול‬gestern“). Die Diskussion des zeitlichen Aspekts der Tempora im Hiobbuch wäre ein Thema für sich, zum grundsätzlichen Problem siehe Bobzin, Tempora, 1–70; D. Michel, Tempora, 11–13; 254–256; M ­ atheus, Zeit. 8 Gleichwohl vermag auch eine Analyse des Zeitverständnisses des Buches Hiob Beobachtungen zu dessen Literargeschichte zu unterstützen, insofern in traditionell als sekundär angesehenen Texten wie den Elihureden (Hi 32–37), in einzelnen Abschnitten des 3. Redegangs (Hi 21/22–27) und im Weisheitslied in Kap. 28 sowie Teilen der zweiten Gottesrede (Hi 40,6–41,26) das Zeitproblem einen geringeren Stellenwert besitzt bzw. in punktuellen Zusätzen wie Hi 14,12*; 19,28 f; 29,18–20 und 31,11 f.28 eine andere Lösung erfährt. 9 Zumeist wird die Wendung unspezifisch im Sinn von „eines Tages“ verstanden.

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an die Wendung ‫כל־הימים‬, mit der V. 5 schließt, und der Parallelismus zwischen V. 5b und V. 8bα sprechen dafür, diesen Tag in einem der Tage zu erblicken, an dem der fromme Hiob Gott Opfer darbringt, um seine Söhne vorsorglich zu entsühnen (V. 5).10 Der Tag der stellvertretenden Sühne Hiobs für seine Kinder wird zum Tag seiner stellvertretenden Prüfung für Gott. Das Unglück bricht über Hiob an dem Tag herein, da sich seine Kinder im Hause seines Erstgeborenen ihres Lebens freuen (Hi 1,13). Die folgende Schilderung der vier Schläge, die Hiob treffen (Hi 1,14–19), ist von einer stereotypen Gleichzeitigkeit gekennzeichnet. Der Überfall der Sabäer, das Herabfallen des Gottesfeuers, der Raubzug der Chaldäer und das Einfallen des Hauses, in dem sich Hiobs Kinder gerade aufhalten  – all das ereignet sich an einem Tag. Der syntaktische Anschluss von 1,20 mit einem Narrativ und die Aufnahme eines der Leitworte der Botenberichte (‫ )נפל‬sprechen dafür, dass der Erzähler den anschließenden Selbstminderungsritus11 mit dem Zerreißen des Obergewandes, dem Scheren des Haupthaares, dem Niederfallen (‫ )נפל‬zur Erde und der demütigen Verneigung sowie Hiobs Elendsruf und Gotteslob eben an dem einen Unglückstag lokalisiert. An einem Tag verliert Hiob alles und an eben diesem Tag sagt Hiob: Jhwh hat gegeben, und Jhwh hat genommen, der Name Jhwhs sei gesegnet. (Hi 1,21)

Im Blick auf das Verhältnis von Zeit und Leid spricht aus dieser Erzählfolge die Erfahrung der Gleichzeitigkeit von negativen Ereignissen. Sie findet ihr poetisches Pendant in der Eingangsklage Hiobs (Hi 3), die auf einer älteren Vorstufe des Hiobbuches in Analogie zur klassischen griechischen Tragödie oder zu Werken der vorderorientalischen Auseinandersetzungsliteratur die große Dialogdichtung eröffnete12 und die mit den Worten schließt: 10 Vgl. dazu auch LXX, die verdeutlichend mit ἡ ἡμέρα αὕτη („eben an diesem Tage“) übersetzt, und das Targum, das diesen Tag mit dem Gerichtstag an Neujahr (‫ )יום דינא בריש שתא‬identi­ fiziert (vgl. ApkEl 5,24 f). 11 Vgl. Ez 26,16; Esr 9,3.5. 12 Literargeschichtlich gehen der Grundbestand der in Kunstprosa abgefassten Exposition (Kap. 1*) und die Eingangsklage (Kap. 3) auf unterschiedliche Stadien des Hiobbuches zurück. Die strukturellen Parallelen zwischen Kap. 1 und Kap. 3 sowie gattungsgeschichtliche und inhaltliche Analogien aus dem Bereich der vorderorientalischen Auseinandersetzungsliteratur (vgl. exemplarisch die sekundäre Zusammenstellung der jüngeren Prosaerzählung und der älteren Weisheitssprüche im aramäischen Achikar-Roman [vgl. Kottsieper, in: TUAT III, 320–347], die rahmenlose Babylonische Theodizee [vgl. von Soden, in: TUAT III, 143–157] oder das ägyptische „Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele [ba]“ [Lichtheim, Ancient Egyptian Literature, Bd. 1, 163–169]) zeigen, dass Kap. 3 als Einleitung einer ursprünglich selbständigen Dichtung vollkommen genügt und diese erst sekundär mit einem Prosarahmen umgeben wurde.

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Denn gleich (‫)לפני‬13 meiner Speise kommt mein Seufzen, so dass mein Schreien sich ergießt wie Wasser. Denn gewaltiger Schrecken packte micht und kam über mich, und wovor ich mich gefürchtet habe, das kommt nun an mich. Ich war nicht ohne Sorge und habe nicht geruht und hatte keine Ruhe, da kam schon wieder Aufregung (‫)רגז‬. (Hi 3,24–26)

Im Leiden überstürzen sich die Ereignisse. Die Zeit verliert ihre Übersichtlichkeit und ihre Eindeutigkeit, der Tag erscheint als Nacht (Hi 17,12). „Unruhe“/ „Unheil“ (‫רגז‬, Hi 3,26; 14,1) wird zum Signum für die Zeit. Im Leiden währt die Gegenwart unendlich lang (Hi 7,4), die Vergangenheit hingegen unvergleichlich kurz (7,6): Wenn ich mich niederlege, dann sage ich: Wann stehe ich wieder auf? Aber er misst14 den Abend, und ich bin satt an Unrast bis zur Dämmerung. (Hi 7,4) Meine Tage waren schneller als ein Weberschiffchen und sind vergangen ohne jede Hoffnung. (Hi 7,6)

Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit wird vom Gefühl der Alltäglichkeit und fortwährenden Augenblicklichkeit des Leidens begleitet: Hiob sieht sich alltäglich mit Unheil umgeben (Hi 7,18).15 Der Augenblick (‫ )רגע‬wird zum Dauerblick (Hi 7,19). Gott sucht Hiob heim (‫פקד‬, Hi 7,18) und sieht ihn an (‫שעה‬, 7,19; 14,6), doch nicht zum Heil. Verwenden die alttestamentlichen Verfasser die Verben „heimsuchen“ und „ansehen“ sonst zur Bezeichnung von Gottes heilvoller Zuwendung,16 so wird hier der Gottesblick zum prüfenden Todesblick. Der Morgen (‫ )בקר‬wird für Hiob – im Gegensatz zu herkömmlichen Heilsvorstellungen – nicht zur Zeit der göttlichen Rettung,17 sondern der göttlichen Bedrohung. Der Morgen kündigt dem Leidenden nun nicht mehr den strahlenden Aufbruch des Rettergottes an, sondern verheißt ihm neues Leid. Die Strahlen der Sonne ver 13 Zu ‫ לפני‬in vergleichendem Sinn siehe Hi 4,19 und dazu Clines, Job 1–20, 75. 14 ‫מדד־ערב‬: zu einer Textänderung besteht kein Anlass. ‫ מדד‬ist synonym mit ‫ מנה‬in V. 3, implizites Subjekt ist Gott (vgl. Ps 39,5), ‫ נשף‬steht hier für die Abenddämmerung. 15 Zu dieser für die Gattung der Klage des Einzelnen typischen Generalisierung von Leidenserfahrungen vgl. Ps  6,7; 32,3; 38,7.13; 42,4.11; 44,16.23; 56,2 f.6; 73,14; 88,18; 102,9; Klgl 1,13; 3,3.14.62. 16 Vgl. die Verwendung der Wurzel ‫ פקד‬zur Bezeichnung von Gottes gnädiger Heimsuchung (Gen 21,1; Ex 3,16; 1Sam 2,21; Jer 15,15; 32,5; Ps 80,15; Ruth 1,6) sowie den Gebrauch von ‫ שעה‬im Sinne eines heilvollen Hinsehen Gottes (Gen 4,4 f). 17 Vgl. einerseits Ps 30,6; 59,17; 143,8, andererseits Ps 46,6; Jes 17,14 und dazu Janowski, Rettungsgewissheit, 185–191.

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wandeln sich dem Leidenden zu sengenden Feuerpfeilen. Gottes Nähe wird in der Zeit des Leids zur Gefahr. Der vom Leid verschonte Fromme des Alten Testaments kann, vom Anblick des gestirnten Himmels überwältigt, staunend die ursprünglich in der Vergänglichkeitsklage (vgl. Ps 144,3 f) beheimatete Frage stellen „Was ist der Mensch, dass du, Gott, seiner gedenkst, und dass du, Gott, dich seiner annimmst?“ und diese Frage dann im Bewusstsein seiner Gottesebenbildlichkeit in die Antwort überführen „Du, Gott, hast ihn wenig niedriger gemacht als die Götter, mit Ehre und Herrlichkeit, hast du ihn gekrönt“ (Ps 8,5 f). Dem Leidenden hingegen zerbricht diese positive Beziehung und wandelt sich zur Verneinung der eigenen Existenz. Der mit Gottes Herrlichkeit, mit Gottes Schwere (‫)כבוד‬, Ausgestattete, wird von ebendieser Schwere zermalmt. Das Gottesdiadem wird dem Leidenden zur Dornenkrone. Was ist der Mensch, dass du (d. h. Gott) ihn großziehst und dass du dein Herz auf ihn richtest, auf dass du ihn untersuchst allmorgendlich und ihn jeden Augenblick prüfst? (Hi 7,17 f)

Die Gleichzeitigkeit und die Dauer des Leidens sind für Hiob plötzlich Alltäglichkeit. Sie nivellieren die besonderen Zeiten, welche die Freunde ihm vor Augen stellen. Den Leidensnächten Hiobs sind die Offenbarungsnächte des­ Eliphas (Hi 4,12–21) und des Elihu (33,15–18) untergeordnet.18 Gilt die Nacht den Freunden als Zeit der besonderen und heilvollen Mitteilungen Gottes, so erfährt Hiob die Nacht als intensivierte Leidenszeit.19 Ihm zeigen sich nachts keine Engel wie ­Jakob in Bethel (Gen  28) oder wie Elia am Horeb (1Kön  19), sondern der zum Dämon entstellte Gott (Hi 7,13 f; 16,9). Die dem Frommen von den Freunden angekündigten besonderen Gerichtszeiten für die Gottlosen (vgl. Hi 15,20–35; 18,20; 34,21–30) bleiben aus. Die Zeiten des Gerichts verschwimmen dem unter Gottes Zeit Leidenden: Habt ihr nicht die befragt, die des Weges ziehen, und kennt ihr nicht ihre Zeichen, dass der Böse hinsichtlich des Tags des Unheils verschont wird, dass er hinsichtlich des Tags der Zornesglut gerettet wird20? (Hi 21,29 f)

18 Literargeschichtlich handelt es sich bei diesen beiden Texten, die den Aspekt der besonders qualifizierten Zeit betonen (Hi 4,12–21; 33,1–33), um spätere Einlagen in das Hiobbuch, vgl. zu ersterem Witte, Vom Leiden, 69–77 u. 91–114, zu letzterem Mende, Leiden, 30–45 u. 360–371. 19 Vgl. Hi 7,13 f; 17,12; 30,17; Ps 6,7. 20 Anstelle von ‫ יוָּבלוּ‬lies ‫( ֻיָּצל‬vgl. Am 4,11; Sach 3,2) und ziehe das Schluss-Waw zum folgenden Wort ‫( מי‬vgl. BHK3; Bobzin, Tempora, 301).

Die Reflexion der existenziellen Grenzzeiten    

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Warum sind die Zeiten vor Schaddaj verborgen21 und (warum) sehen die, die ihn (d. h. Schaddaj) kennen, nicht seine Tage? (Hi 24,1)

Gott scheinen die irdischen Zeiten verborgen, den Frommen die himmlischen. Seine Klage über das Ausbleiben der Zeiten göttlichen Richtens und Aufrichtens überführt Hiob in eine allgemeine Elendsmeditation über das Leiden der Kreatur. Zur Erfahrung der individuellen Gleichzeitigkeit von Negationen gesellt sich die Wahrnehmung von kollektiven Leidenszeiten (vgl. Hi 24,2–12).

3. Die Reflexion der existenziellen Grenzzeiten Nach einem sieben Tage und sieben Nächte währenden Schweigen (Hi 2,13), nach einem der Fülle des Leids entsprechenden Vollmaß an Zeit, verflucht Hiob seinen Tag (Hi 3,1). Wie die Eingangsklage in Hi 3,3 f und die dem Jeremia in den Mund gelegte „Konfession“ in Jer 20,14 nahelegen,22 ist damit zunächst der Geburtstag gemeint. Zugrunde gehe der Tag, an dem ich geboren ward, und die Nacht, die sagte: Ein Mann (‫ )גבר‬ist empfangen. (Hi 3,3)23

Der Leser, der darum weiß, dass Hiobs Unglückstag im Himmel beginnt (vgl. Hi 1,6.13; 2,1), erkennt in dem Fluch in Hi 3 zugleich einen Fluch über diesen Himmelstag.24 Der Fluch Hiobs über seinen Geburts- und Schicksalstag entfaltet 21 Der Halbvers ist textlich problematisch. Ich streiche mit LXX die Negation und verstehe Hi 24,1a aufgrund des Wortgebrauchs von ‫ צפן‬in Hi 10,13; 14,13; 17,4; und 23,12 sowie der Parallelen in Jer 16,17 und Ps 10,1 im Sinne eines Vorwurfs Hiobs an Gott, er interessiere sich nicht für die Zeiten auf der Erde (vgl. Hi 24,12 und Ps 73,11). Zu einer alternativen Übersetzung („Warum sind von Schaddaj nicht Zeiten aufgespart?“) und einer ausführlichen textkritischen Diskussion siehe Witte, Notizen, 81 f; zur Gottesbezeichnung Schaddaj s. o. Anm. 26 auf S. 74. 22 Vgl. auch Sir 23,14 (G), hier als Warnung, den Geburtstag zu verfluchen. 23 V. 3 bietet eine Fülle philologischer Probleme. Zunächst ist gegen den Vorschlag von Bobzin, Tempora, 72–77, die Verse 3–9 als Irrealis der Vergangenheit zu übersetzen, an der üblichen Wiedergabe festzuhalten. Hiobs Wunsch ist aber nicht nur retrospektiv, sondern bezieht seine fortdauernde Existenz mit ein. Sodann ist ‫ אמר‬in Parallele zu ‫ אולד‬in V. 3a als asyndetischer Relativsatz aufzulösen. Schließlich kann V. 3b (trotz der Abweichungen der Versiones und zahlreicher Emendationsvorschläge) in seiner masoretischen Fassung beibehalten werden, zumal ‫ גבר‬als Selbstbezeichnung des Leidenden in Klgl 3,1 eine Parallele besitzt und mit Hi 3,23; 16,21und 38,3 korrespondiert. 24 Kompositionell dient Hi 3,1 als Brücke von der prosaischen Exposition zur Dichtung. Literargeschichtlich geht der Vers wohl auf den Verfasser der Himmelsszenen von Hi 1,6–12; 2,1–13 zurück, der die Dichtung mit der Erzählung verknüpft hat (vgl. oben S. 84 Anm. 12).

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sich zu einem Fluch über die personal erlebte Zeit. Das Leiden wirft Hiob zurück auf den Beginn seiner Existenz und lässt ihn deren Ende ersehnen. Geburtsstunde (Hi 3,3) und Todestag (Hi 3,13.21) bilden die Kontexte der Gegenwart seines Leidens. In der Krise des Leidens treten die Krisenzeiten der Existenz in den Blick: Anfang und Ende des Lebens. Zeiträume werden übersprungen. Die Zeit zwischen Geburt und Gegenwart bleibt ausgeblendet, die Zeit des vor Augen stehenden Todes erscheint unendlich lang (Hi 3,13) – oder unendlich kurz: So steht der Klage Hiobs über seinen Geburts- und seinen Schicksalstag die Klage über die Kürze seiner Lebenstage zur Seite (Hi 7,1–16).25 Die Leidenszeit wird zum Ort der Reflexion der Todeszeit, weil sich der Leidende schon am Rand des Todes sieht (Hi 7,10). Dies ist typisch für das gesamte altvorderorientalische Todesverständnis, dem diesseitige Negationserfahrungen wie Krankheit, Verfolgung und Unterdrückung bereits als ins Leben reichende Arme des endgültigen Todes gelten.26 Von den Freunden in seinem Leiden nicht mehr erkannt (‫ולא הכירהו‬, Hi 2,12; vgl. 19,15) blickt der Leidende auf die Zeit voraus, da ihn, der unwiderruflich in die Unterwelt (‫ )שאול‬hinabgestiegen sein wird, niemand mehr kennen wird (‫ולא־יכירנו עוד‬, 7,10). Für den Dichter der Klagen Hiobs gibt es kein Zurück aus der Scheol, aus dem Hades. Die Unterwelt ist für den Hiobdichter, wie für die Verfasser der babylonischen Mythen von Ischtars (Inannas) Abstieg in die Unterwelt27 oder letztlich auch der homerischen Nekyia im 11. Buch der Odyssee,28 der Ort ohne bleibende Wiederkehr ins Leben. Was in Hiobs Eingangsfluch (Hi 3) noch ausgeklammert war – die Zeit zwischen Geburt und gegenwärtigem Leid – kommt in seiner zweiten Rede in den Blick (Hi 6 f). Doch angesichts der Übermacht des Leidens erscheint das Leben insgesamt als Sklavendienst (‫צבא‬, Hi 7,1 f; 14,14). Freiheit erhofft sich der von Gott Geknechtete (‫ )עבד‬nur noch im Tod (Hi 3,19; 7,2). Die Fülle des Lebens verkommt zur leeren Zeit (‫ירחי־שוא‬, Hi 7,3). Die in der Elends- und Vergänglichkeitsklage thematisierte Flüchtigkeit der menschlichen Existenz (vgl. Hi 9,25; 10,20;29 16,22; 17,11) markiert, bezogen auf Gott, zugleich die spezifische Differenz zwischen Gott und Mensch (‫)אנוש‬. Hiobs Jahre reichen nicht an Gottes Jahre (Hi 10,5; 36,26). Hiobs Zeit ist nicht Gottes Zeit (Hi 38,21). So klagt der Leidende vor Gott:

25 Vgl. auch Hi 9,25; 14,1.6.14; 17,1.11; 30,16.27 sowie Ps 90,10. 26 Alttestamentlich hat sich dies in besonderer Weise in individuellen Bitt- und Klage­ gebeten niedergeschlagen (vgl. Ps  18,5–7; 88,3–10; Klgl 3,6 u. v. a.), siehe dazu noch immer Barth, Errettung. 27 Übersetzt von G. G. W. Müller, in: TUAT III, 760–780. 28 Gleichwohl können die Toten hier mittels einer Beschwörung und eines Blutrunks zumindest vorübergehend wiederbelebt werden (Homer, Od. XI 23–42). 29 Anstelle von ‫ ימי יחדל‬lies ‫„( ימי חלדי‬Tage meines Lebens“), vgl. LXX (ὁ βίος τοῦ χρόνου μου), Syr (jwmt’ dḥj’) und dazu HALAT, 281a.

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Ich zerfließe, werde nicht ewig leben, lass ab von mir, denn ein Windhauch sind meine Tage. (Hi 7,16)30

„Ewiges Leben“ kennt das Alte Testament ohnehin fast nur als Prädikat Gottes.31 Der Appell Hiobs richtet sich an den Ewigen, der sich des Vergänglichen erbarmen soll (vgl. Ps 103,14–18; Sir 17,29–32 [G]). Erst in seinen literargeschichtlich jüngsten Schichten findet sich dann punktuell die Vorstellung vom „ewigen Leben“ als einer endzeitlichen Gabe an die Gerechten.32 Nur zweimal erfahren die zurückliegenden Lebenstage Hiobs in ihrer die Zeit zwischen Geburt und Tod umfassenden Dauer eine positive Würdigung. In den Eröffnungsstrophen der zwei Gleichnisreden (‫משל‬, Hi 27,1; 29,1)33, die den Dialog mit den Freunden abschließen bzw. die endgültige Herausforderung Gottes einleiten, betont Hiob umfassend das Bewusstsein seiner moralischen und religiösen Integrität. Neben die Beschreibung der Zeit als Erfahrungsraum seines Leidens stellt Hiob – wie die Freunde und Elihu auch – die Kennzeichnung der Zeit als Bewährungsort von Frömmigkeit (‫ )תמה‬und Gerechtigkeit (‫)צדקה‬. Die Klage in der Zeit führt zur Relationierung von Zeit und Ethos (Hi 27,6; 31,4–40a). Fern sei es von mir, (euch Recht zu geben)34, bis ich verscheide: Ich entziehe mir meine Frömmigkeit (‫ )תמה‬nicht selbst. An meiner Gerechtigkeit (‫ )צדקה‬halte ich fest (und lasse sie nicht los), nicht tadelt mein Gewissen35 einen meiner Tage. (Hi 27,5 f)

30 Vgl. Hi 14,14; 16,22; Ps 49,10; 89,49. Gen 3,22. 31 Vgl. Gen 3,22; Dtn 32,40; Dan 4,31; 12,7; Sir 18,1 (G); 42,23 (HB); Tob 13,1 (G/4Q200 Frgm. 6,5). 32 Vgl. Jes 26,19; Dan 12,2 vgl. 2Makk 7,9; PsSal 3,12; 1Hen 37,4; 40,9; 58,3; 92,3; 4Q181 Frgm. 1,II,4–6 (?), siehe dazu Witte, Auf dem Weg, 95–115. 33 In der vorliegenden Gestalt des Buches Hiob fungiert der ‫ משל‬in Hi 27,1–28,28 als Abschlusswort Hiobs gegenüber den Freunden, während nur der ‫ משל‬in 29,1–31,40 als dreigliedrige aus Rückblick auf das vergangene Glück (I), Klage über das gegenwärtige Leid (II) und Reinigungseid (III) bestehende Herausforderung Gottes dient. In der ursprünglichen Hiobdichtung stellte die Rede in Hi 23,1–24,12* das Abschlusswort des Dulders gegenüber den Freunden dar, während 27,1–6 seine Fortsetzung in 29,2–31,37* fand und die erste Strophe der Herausforderungsreden bildete. Die Texte in Hi 24,13–26,14 und 27,7–28,28 bilden das Ergebnis einer mehrfachen Fortschreibung, vgl. dazu Witte, Vom Leiden, 166–171. Diese redaktionsgeschichtliche These bewährt sich auch angesichts der unterschiedlichen Thematisierung der Zeit in den als primär bzw. als sekundär und tertiär angesprochenen Texten. 34 Dieser Versteil fällt kolometrisch und inhaltlich aus dem Schema der Verse 2–6 heraus, die auf die direkte Konfrontation mit Gott zielen, und steht im Zusammenhang mit dem sekundären Aus- und Umbau von Kap. 27 zu einem Abschlusswort an die Freunde (vgl. Hi 27,11 f). 35 Wörtl.: Herz, vgl. 1Sam 24,6; 25,31; Sir 14,1 (HA).

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Beobachtungen zum Verhältnis von Zeit und Leid im Buch Hiob 

Die Unschuldstage Hiobs waren zugleich Segenstage (Hi 29,2).36 Vor dem Hintergrund der für die Gattung der Klage, in besonderer Weise der Leichenklage, typischen Kontrastierung des einstigen Glücks (Hi 29,2) und jetzigen Unglücks (30,16.27)37 verklärt sich die Vergangenheit zur goldenen Zeit. Der dunklen Gegenwart steht einmalig in der Hiobdichtung die hyperbolisch beschriebene Zeit vor dem Leiden gegenüber (Kap. 29)38. Die Tage des Segens sind für Hiob verflogen, das Bewusstsein seiner Unschuld ist geblieben. Aus der (ursprünglich) direkten Folge von Hi 27,2–6 und 29,2–25 spricht ebenso wie aus der Sequenz von „Lebensklage“ (Kap. 30) und „negativem Sündenbekenntnis“ (Kap. 31) die Vorstellung vom Ethos als einer Konstanten im Strom39 der Zeit: „So tat es Hiob alle Tage“ (Hi 1,5).40 Bezieht sich der Erzählerkommentar in 1,5b in seinem unmittelbaren Kontext auf die skrupulöse Religionspraxis Hiobs, so umfasst die Wendung im Verbund von Hi 2,3.9; 6,10.29 auch das Ethos Hiobs. Während die Freunde und in besonderer Weise Elihu die Lebenszeit vom Maß der Gottesbeziehung abhängig sein lassen (vgl. Hi 8,12 f; 20,9; 33,19–30; 36,11), bricht für Hiob die Erkenntnis durch, dass Lebenszeit und Frömmigkeit zwar aufeinander bezogen sind, aber zwei eigenständige Größen bilden, die ihren Grund und ihr Ziel in Gott finden (42,5 f). Am Ende stirbt Hiob – satt an Tagen (‫שבע ימים‬, Hi 42,17).41 Die Formel aus der Welt der Sage und des Märchens42 steht hier nicht nur für Hiobs hohes Lebensalter als Zeichen seines Segens, sondern integriert sein Sattsein (‫ )שבע‬an Leid43 in seine Lebenszeit.

36 Vgl. dazu noch den knappen schöpfungstheologischen Rückblick in Hi 10,12. 37 Vgl. Klgl 1,6–7; 2,1–22; 4,5–7. 38 Dass Hi 29,2–6 auf Motive eines Urmenschmythos zurückgehe, die Wendung ‫ירחי־קדם‬ also nicht Hiobs frühere Lebenszeit, sondern die mythische Urzeit bezeichne (so Fuchs, Mythos, 147), überzeugt angesichts des Wortgebrauchs der Wurzel ‫ קדם‬und ihrer Derivate in der Hiobdichtung sowie des schöpfungstheologischen Rückblicks Hiobs in Hi 10,12 nicht; vgl. als unmittelbaren Bezugspunkt von Hi 29,2 30,27 sowie den Parallelismus von ‫„( ירחי־קדם‬frühere Monate“; LXX: κατὰ μῆνα ἔμπροσθεν ἡμερῶν) in 29,2 und ‫„( ימי חרפי‬Tage meiner Jugend“) in 29,4. Zu den Rekursen auf die mythische Zeit im Hiobbuch s. u. Abschnitt 5. 39 Zu den immer wieder neuen Wasser-Bildern, die sich im Buch Hiob zu Beschreibung von Zeiterfahrungen finden, gehören u. a. das Meer (Hi 14,11), das Wadi (Hi 6,15–17), der Fluss (Hi 22,16), der Regen (‫סחיפה‬, Hi 14,19 [konjiciert; vgl. HALAT, 708a, und die Diskussion bei Clines, Job 1–20, 284 f]) oder das Wasser allgemein (Hi 14,19). 40 Vgl. Hi 2,3.9; 6,10.29. 41 Das letzte Wort des Buches ist bezeichnenderweise ein Zeitbegriff! 42 Vgl. Gen 25,8; 35,29; 1Chr 29,28. 43 Vgl. Hi 7,4; 9,18; 10,15; 14,1.

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4. Die Erfahrung der Determination der Zeiten Vor der Integration der Leidenszeit in die Lebenszeit steht Hiobs Wunsch nach der Aussonderung seiner Zeit aus dem geordneten Lauf der Zeiten (Hi 3,6.9). Mittels Fluch sollen die personifiziert beschriebenen Zeiten manipuliert (Hi 3,8) und aus dem Bereich der Kompetenz Gottes eliminiert werden. Doch die Unterstellung der Zeiten unter die Mächte der Finsternis und des Chaos bedeutet letztlich die Bestreitung von Gottes Herrschaft über die Zeit: Gott kümmere sich nicht um ihn (d. h. den Tag) von oben. (Hi 3,4 aβ)44

Die Bedrückung in der Zeit gebiert Hiobs Wunsch nach einer Auszeit im Leid. Die Unterwelt könnte ihm zum Ort werden, gott-los und zeit-los45, damit leidlos zu sein. Würdest du mich doch in der Scheol verwahren, mich verbergen, bis sich dein Zorn gelegt, mir eine Frist setzen und dann meiner gedenken. (Hi 14,13)

Doch wie die erste Gottesrede (Hi 38,1–39,30), welche die Hiobdichtung ursprünglich beschloss, zeigt, achtet Gott auf Hiobs Tag (38,12). Gott verbirgt Hiob nicht in der Scheol, die Tore des Hades öffnen sich nicht vor ihm (38,17): Die Zeiten bleiben wesenhaft unumkehrbar und unverfügbar. Die Erfahrung des Misslingens, die Zeiten zu ändern, verdichtet sich dem Leidenden zur Vorstellung ihrer Determiniertheit: So sind mir nun Monate des Nichtigen zugeteilt (‫)הנחלתי‬, und Nächte der Mühsal sind mir gegeben46. (Hi 7,3)

44 ‫ דרש‬mit Jhwh als Subjekt bezeichnet sonst im Alten Testament ein heilvolles Achten auf etwas (vgl. Dtn 11,12; Ez 34,11). Die Ursprünglichkeit von Hi 3,4aβ ist allerdings fraglich. Die Häufung der Trikola in V. 4–6 scheint angesichts des durchgehenden Baus der Hiobdichtung aus Bikola (mit wenigen Ausnahmen in Abschlussversen einzelner Strophen) das Ergebnis einer späteren Glossierung zu sein. Für diese Annahme spricht auch der verwirrende Wechsel zwischen „Tag“ und „Nacht“ in diesen Versen. Ursprünglich dürfte in V. 4–6 nur vom Tag die Rede gewesen sein, während das in der Themenangabe in V. 3 ebenfalls genannte Motiv der Nacht erst in V. 7–9 entfaltet wurde. 45 Zur Vorstellung, im Totenreich herrsche keine zeitliche Strukturierung (‫)לא סדרים‬, die Unterwelt sei also zeitlos, vgl. den (allerdings textkritisch umstrittenen) Vers 10,22 sowie zu einem alttestamentlich nicht belegten temporalen Gebrauch von ‫ סדר‬bJev 82b und bShab 31a. 46 ‫מנו‬: 3. Person Pl. als unpersönlicher Ausdruck.

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Die Leidenszeit als wertlose Zeit (‫ )ירחי־שוא‬erscheint als von Gott zugewiesenes Erbe (‫)נחלה‬, das der mit diesem Beerbte gemäß dem idealen alttestamentlichen Bodenrecht (vgl. 1Kön 21,3 f) nicht veräußern darf. Hiob erfährt die Zeit als gesetzt, als eine von Gott gesetzte Grenze, die er nicht überschreiten kann (Hi 14,5; vgl. 16,22). Der Leidende erlebt sich vom gleichmäßigen Wechsel der Zeiten ausgespart und sehnt sich nach dem ihm bestimmten Lebenswechsel (‫חליפה‬, Hi 14,14). Die ihm von den Freunden beschriebene Freiheit Gottes im Umgang mit den Zeiten (Hi 5,9–27), die von den traditionellen Weisheitslehrern vertretene rechte Zeit (‫עת‬, 5,26; 22,16),47 wird für Hiob zur unrecht und ungerecht gesetzten Zeit: Du wirst in reifem Alter zum Grabe kommen, wie man den Garbenhaufen einbringt zu seiner Zeit (‫)עת‬. (Hi 5,26)

Der sogenannte ‫עת‬, den die antike griechische Bibel sachgemäß zumeist mit dem Begriff καιρός wiedergibt und den es für alles Geschehen und alles Handeln gibt, gerinnt für Hiob zur festen Zeit (‫חק‬, 14,5): Wenn seine Tage genau bemessen sind, die Zahl seiner Monde bei dir (d. h. Gott) liegt, – du hast ihm eine Grenze festgesetzt und er kann sie nicht überschreiten – dann blick doch weg von ihm und lasse ab48, bis er dem Tagelöhner gleich seinen Tag abgedient49. (Hi 14,5 f)

Die These von einer für jeden Frevler (‫ )רשע‬grundsätzlich festgesetzten Zeit des göttlichen Gerichts (vgl. Hi 15,23; 18,20; 20,28) hingegen wird dem statistischen Befund nicht gerecht. „Wie oft geschieht es denn, dass ein Frevler untergeht?“ (Hi 21,13.30): Jeder hat seine eigene Zeit. Die Tragik Hiobs ist es, dass er, der Gerechte, die vermeintlich generell den Gottlosen bestimmte Zeit als die ihm verhängte erfährt.

5. Der Rekurs auf mythische Zeiten Hiobs Leiden ist der Einbruch des Chaos in sein Leben. Um sein gegenwärtiges Leiden zu deuten, greift er auf Bilder der Urzeit zurück. Die Negation der eigenen Geburt (Hi 3,3) führt ihn in die Tiefen der Schöpfungszeit und korreliert mit der Negation der Ordnung in der Schöpfung insgesamt. Der Wunsch „es werde 47 Vgl. auch Hi 15,32 sowie Ps 1,3; Pred 7,17; 9,12; KAI 14,2 f. 48 Anstelle von ‫ ויחדל‬lies ‫( וחדל‬vgl. BHK3; BHS). 49 So nach ‫ רצה‬II (vgl. Bobzin, Tempora, 206); zumeist wird nach ‫ רצה‬I („froh sein“) übersetzt.

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Finsternis“ (Hi 3,4) ist die Verneinung des Schöpfungswortes „es werde Licht“ (Gen 1,3).50 Die Erfahrung der Leidenszeit als Chaoszeit versprachlicht sich im Bild des vom Schöpfergott in der Urzeit niedergerungenen Meeresdrachen: Bin ich denn das Meer (‫ )ים‬oder der Urzeitdrache (‫)תנין‬, dass du Wachen gegen mich aufstellen müsstest? (Hi 7,12)

Hiobs Beschreibung seines gegenwärtigen Leidens mit mythischen Motiven der Urzeit findet ihr Gegenüber zunächst im Rückgriff der Freunde auf die Erfahrungen vorangegangener Generationen (Hi 8,8–10) und auf die mythische Zeit (15,7; 20,4), sodann in Gottes Rückblick auf die Schöpfungszeit (38,4–21). Doch während in den Reden Hiobs die bedrohliche Seite der Urzeit als Chaoszeit betont wird, unterstreichen die Reden der Freunde und die Gottesreden deren stabilisierenden Charakter als Ordnungszeit und als paradigmatische Gerichtszeit: Bewahrst du den Weg der Vorzeit51, den Pfad52, auf dem Männer des Unheils gingen, die vernichtet wurden, und zwar vor (ihrer) Zeit, indem ein Strom gegossen wurde in ihren Grund? (Hi 22,15 f)

Im Hintergrund dieser Frage steht wohl eine Anspielung auf die über den gesamten alten Vorderen Orient verbreitete Sintflutmythe. Insofern sich in der Sintflut­ mythe ein zyklisches, ein linear-finales und ein punktuelles Zeitverständnis verbinden, bietet sie sich in besonderer Weise an, das Verhältnis von Zeit, Leid, Freiheit und Gott zu verbalisieren.53 Mit dem Rekurs auf den Mythos als einer Sprachform, Wirklichkeit mit einem göttlichen Handeln in der Urzeit zu erklären, wird, wie im Hinweis der Freunde auf die Tradition, der Ver­such unternommen, Hiobs punktuelle Leidenserfahrung in einen umfas­senderen zeitlichen Horizont zu stellen. Weil Erkenntnis nach der traditionellen Weisheitssicht zeitabhängig ist, weil Weisheit nur nährungsweise und auf dem Weg der Addition

50 Zur Beziehung zwischen Gen 1 und Hi 3 siehe Hartley, Job, 101 f. 51 Die Wendung ‫ ֹא ַרח עוָֹלם‬ist textkritisch umstritten, obgleich sie von allen Versionen bestätigt wird. Zumeist wird in ‫„( ֹא ַרח ֲע ָוִּלים‬Weg der Sünder“) umpunktiert (vgl. dazu die Diskussion bei Witte, Notizen, 42–44). MT hingegen spielt auf ein Ereignis in der mythischen Urzeit an; vgl. dazu bereits die Explikation im frühmittelalterlichen Targum (Mangan, Targum, 57) und in neuerer Zeit Gordis, Job, 48. 52 Anstelle von ‫ ֲאֶשׁר‬lies ‫( ֲאֻשׁר‬vgl. Hi 23,11; 31,7; Ps  37,31; 44,19; BHK3; Bobzin, Tempora, 307). 53 Auf einen vierten Zeitaspekt der alttestamentlichen Sintflutmythe weist zutreffend H. Weippert, Welterfahrung, 9–34, hin, indem sie aus der Zusage Gottes in Gen 8,22 bezüglich der Fortdauer des jahreszeitlichen Wechsels nach der Flut auf einen „Stillstand der Zeit“ während der Flut schließt (a. a. O., 10).

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zahlreicher Generationen erreichbar ist,54 bleiben Hiobs Ausführungen über seine Erfahrungen in der Zeit relativ und bedürfen der Revision unter Berücksichtigung überindividueller Zeiten. Hiobs Zeit reicht nicht in die Tiefen der Vorzeit und partizipiert nicht an der Urzeit. Dies verdeutlichen ihm die Freunde unter Rückgriff auf eine gleichfalls in der Antike verbreitete Mythe von der besonderen Weisheit des Urmenschen: Bist du denn als der erste Mensch geboren und vor den Bergen zur Welt gekommen? Hörtest dementsprechend du im Rat Gottes zu und rissest so die Weisheit fest an dich?55 Was weißt du denn und wir wissen es nicht, was kannst du erkennen und bei uns ist es nicht? Auch unter uns sind Alte und Greise, viel älter56 sogar als dein Vater. (Hi 15,7–10)

Vor allem in den vier Eingangsstrophen der ersten Rede Gottes aus dem Wettersturm (Hi 38,4–21) erfolgt dann eine ausdrückliche Desintegration Hiobs aus der Ur- und Schöpfungszeit. Hiobs Abwesenheit in der kosmischen Gründungszeit relativiert sein Urteil über den individuellen Lauf der Zeiten. Am Beispiel des Schöpfungsmorgens (Hi 38,4–7), der Gezeiten (38,8–11), der Tages- und Nachtzeiten (38,12–15), der Not- und Kriegszeiten als Paradigmen für Leidenszeiten (38,22 f), der Zeiten des Wetters und der Gestirne (38,24–38) sowie der Geburtszeiten (39,1–4) entfaltet der Dichter das Theologumenon von Gott als dem Herrn der Zeit. Zumal das Bild von der Geburtszeit der Steinböcke und Hirschkühe (Hi 39,1–4) bildet einen Kontrast zu Hiobs Fluch über die eigene Geburt. Die Zeit zu kennen, heißt über sie zu verfügen; die Monate zu zählen, heißt sie festzusetzen (Hi 39,2 f).57 Gott kennt die Zeiten. Der babylonische Talmud hat 54 Vgl. Hi 5,27; 8,8 f; (12,12 f); 15,10; 30,1; 32,4–6. 55 Zum mythischen Motiv von der Weisheit des ersten Menschen vgl. neben Gen 3,22 und Ez 28,3–5 vor allem Sir 17,7 (G); 4Q305 II,2; 4Q504 Frgm. 8 recto 5, sowie zur Interpretation von Hi 15,7 f vor dem Hintergrund eines Urmenschmythos Fuchs, Mythos, 101–104. 56 Wörtl.: „stärker an Tagen“. 57 Möglicherweise ist auch die Auswahl der in der ersten Gottesrede erwähnten Vögel durch die Intention, Jhwhs Herrschaft über die Zeit zu illustrieren, bedingt. Der Hahn (‫)שכוי‬ und der Ibis (‫ )טחות‬zeugen als Ankündiger bestimmter Tages- und Jahreszeiten für die Herrschaft des Schöpfergottes über die Zeit. Der von Jhwh versorgte Rabe (‫ערב‬, Hi 38,41), dessen Junge zu Gott um Hilfe rufen, ist in der Antike ebenfalls als Wetterprophet bekannt wie auch als Symbol für lange Lebenszeit (vgl. Aristoteles, Frgm. 241,7, bzw. Hesiod, Frgm. 171 [beide zitiert bei Hünemörder, Rabe, 743–744]). Wenn dem Verfasser der ersten Gottesrede eine Kenntnis ägyptischer Mythologeme unterstellt werden darf, wofür zahlreiche Indizien in der ursprünglichen Dichtung sprechen, dann ist nicht ausgeschlossen, dass er mit dem Ibis und dem Falken (‫נץ‬, Hi 39,26), dem heiligen Vogel des Thot bzw. des Horus, zwei ägyptische Symbole für die

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dieses Motiv zutreffend ausgelegt, wenn er Gott sagen lässt, er verwechsele nicht einen Augenblick mit dem anderen (vgl. bBB 16b). Auch wenn sich in der zweiten, literargeschichtlich jüngeren Gottesrede (Hi 40,6–41,26) inhaltlich der Schwerpunkt von den Zeiten in der Schöpfung hin zur Frage nach der Macht in der Schöpfung verschiebt und sich formal und motivisch die Art der Darstellung ändert,58 so fügen sich doch auch die Bilder vom Behemoth (Hi 40,15–24) und vom Leviathan (Hi 40,25–41,26) in den Duktus der ersten Gottesrede als Antwort auf Hiobs Eingangsklage in Kap. 3. Die beiden großen Wassertiere, der Behemoth als der „Erstling“ (‫ )ראשית‬der Schöpfung Gottes (Hi 40,19), und der Leviathan, das mythisch eingefärbte Krokodil, den nicht Hiob, wohl aber Gott sich dauerhaft (‫ )עולם‬zum Sklaven machen kann (Hi 40,28, vgl. 39,9), dienen nicht nur als Exponenten der Verfügungsgewalt Gottes über die gegenwärtig erfahrbare Welt (vgl. Ps 104,26), sondern aufgrund ihrer mythologischen Konnotationen (vgl. Hi 3,8) zugleich als Symbole für Jhwhs Herrschaft über die Urzeit (vgl. Ps 74,14) und die Endzeit (vgl. Jes 27,1; 4Esr 6,49; 2Bar 29,4; 1Hen 60,24). Hiob ist nicht der Meeresdrachen (Hi 7,12), dieser ist unvergleichlich auf der Erde (‫אין־על־עפר משלו‬, 41,25)  – selbst wenn Hiobs Leiden übergroß und er selbst unter Menschen analogielos ist (‫אין כמהו בארץ‬, 1,8; 2,3). Im Schlussvers der Ausführungen über den Leviathan und damit zum Abschluss der Gottesreden insgesamt wird Hiobs Stellung in der Zeit und vor Gott neu bestimmt: Dem, der sich in Zeiten seines Lebensglücks wie ein König (‫ )מלך‬unter seinen Truppen fühlte (Hi 29,25), dem, der sich angesichts seiner moralischen und religiösen Integrität Gott wie ein Fürst (‫ )נגיד‬nahen wollte (31,37), und dem, der sich von Gott selbst (ironisch) als Held (‫)גבר‬59 angesprochen erfuhr (38,3; 40,7), wird der Leviathan als wahrer König aller stolzen Wesen (‫מלך כל־בני־שחץ‬, Hi 41,26)60 vor Augen gestellt. Zeit in den Jhwh-Glauben integriert und so Jhwhs Herrschaft über die Lebenszeit und das Totenreich verdeutlicht. Und auch bei der sekundären Strophe auf die Straußenhenne (Hi 39, 13–18) spielt das Thema Zeit eine Rolle, wenn dort das Brüten und das plötzliche Emporschnellen angesprochen werden. Zu den in Hi 38 f genannten Vögeln siehe ausführlich Keel, Jahwes Entgegnung, 60 f, der allerdings die Erwähnung des Raben in Hi 38,41 nicht auf dessen Beziehung zum Phänomen Zeit zurückführt, sondern auf dessen Charakter als Aasfresser und Wüstenbewohner (vgl. Jes 34,11): So demonstriere der Verfasser der Gottesreden mit diesem Motiv, dass sich Jhwhs Herrschaft auch über die dämonischen Tiere erstrecke. 58 Zu den unterschiedlichen literargeschichtlichen Hypothesen, die die inhaltlichen und formalen Differenzen zwischen Hi 38 f und 40,1–41,26 zu erklären versuchen, siehe van Oorschot, Gott als Grenze, 231–259. Gegenüber dem Lösungsmodell von van Oorschot (a. a. O., 180–191) dürfte die ursprüngliche Gottesrede aber nur Hi 38,1–39,30* umfasst haben. 59 Die Verwendung von ‫ גבר‬korrespondiert mit Hi 3,3 (vgl. 3,23; 10,5; 16,21) und ist sicher ursprünglich, auch wenn die Variante ‫( גיבור‬vgl. BHS) und die ihr entsprechenden Lesarten von Syr (gnbr’) und Tg (‫ )גברא‬sachlich richtig sind. 60 Angesichts ihrer pointierten Stellung als Schlusswort der Gottesreden bezeichnet die Wendung ‫ בני־שחץ‬hier mehr als nur „alle stolzen Tiere“, wie dies für die einzige Parallele in Hi 28,8 zutreffen mag.

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Die Bezüge zwischen den Gottesreden und den Klagen Hiobs über seine Leidenszeit sowie die Konzentration der ersten Gottesrede auf Aspekte der Zeit zeigen, dass die Frage nach der Herrschaft über die Zeit eines der Grundthemen des Buches Hiob überhaupt ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich der prophetisch geprägte Terminus ‫„( עצה‬Ratschluss“)61, mit dem die erste Gottesrede eröffnet wird, auch als ein Strukturbegriff für Gottes Handeln in der Zeit verstehen: Und Jhwh antwortete Hiob aus dem Sturmwind und sagte: Wer verdunkelt da die „Gotteszeit“ (‫)עצה‬62 mit Worten ohne Wissen?63 Gürte doch deine Lenden wie ein Mann! Dann will ich dich fragen, und du lasse es mich wissen! (Hi 38,1–3)

Der Versuch, in den dunklen Zeiten des Leidens, die Zeit an sich finster sein zu lassen (Hi 3,4), wird hier als Manipulation entlarvt. Damit weisen die Reden Gottes ausdrücklich sowohl Hiobs Anspruch, die Zeiten zu beeinflussen, als auch dessen Bestreitung der göttlichen Herrschaft über die Zeit zurück.

6. Das Hier und Jetzt und der Wunsch nach Verewigung Die Reden Hiobs werden durchzogen vom Hinweis auf die Gegenwart seines Leidens und vom Schrei, seine Not hier und jetzt (‫ )עתה‬zu sehen und zu wenden.64 Das Sich-Einlassen der Freunde auf die Gegenwärtigkeit seines Leidens wäre Barmherzigkeit (‫חסד‬, Hi 6,14). Die Rekurse der Freunde auf Hiobs glückliche Vergangenheit (Hi 4,3 f), auf die Erfahrung vorangegangener Generationen (8,8 f) und auf seit der Urzeit (‫ )מני־עד‬bestehende zeitlos gültige Ordnungen (20,4) hingegen erscheinen dem Leidenden als Flucht vor der Zeit, in der er sich befindet. Der Ausblick auf künftiges Glück (Hi 5,24–26; 8,5–7; 11,15–20) verfängt angesichts der beschränkten Zukunftsfähigkeit und des gegenwärtigen Leidens nicht.

61 Zu ‫ עצה‬im Sinne des göttlichen Geschichtsplans vgl. Jes 5,19; 19,17; 25,1; 28,29; 44,26; 46,10; Jer  50,45; Mi 4,12; Ps  33,11; 106,13 sowie in individualisiertem Verständnis Ps  73,24; 1QS XI,18–22; 4Q511 Frgm. 48,1. In einer ähnlichen Funktion erscheint in Hi 42,2 der Begriff ‫( מזמה‬vgl. dazu Jer 23,20 und – anthropologisch gewendet – Gen 11,6). 62 Wörtl.: den (göttlichen) Ratschluss, vgl. S. 68. 63 In der zitathaften Wiederholung dieses Verses in Hi 42,3 ist die Wurzel ‫„( חשך‬finster sein“), mittels derer direkt auf Hiobs Fluchwunsch in 3,3 zurückgeblickt wird, durch die Wurzel ‫( עלם‬II, „schwarz sein/werden“) ersetzt und die Wendung ‫„( במלין בלי־דעת‬mit Worten ohne Wissen“) auf die Wortfolge ‫„( בלי דעת‬ohne Wissen“) komprimiert. 64 Vgl. Hi 6,3.28; 7,21; 16,7; 23,2 (‫)גם־היום‬.

Das Hier und Jetzt und der Wunsch nach Verewigung    

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Was ist denn meine Kraft, dass ich ausharrte, und was mein Ende (‫)קץ‬65, dass ich meine Seele streckte? (Hi 6,11)

Der Leidende verträgt keinen Zeitaufschub (Hi 21,21). Die Jetztzeit ist dem Leidenden Todeszeit (Hi 17,13–16). Doch weil der Ruf nach der Würdigung des Jetzt unerhört verhallt, richtet sich Hiobs Blick auf die ferne Zukunft. Seine Worte, die im Jetzt überhört werden, sollen künftig nicht mehr übersehen werden. Die gegenwärtige Klage des Leidenden soll sich wandeln zur stummen Anklage in der Dauer: Ach würden meine Worte doch nur aufgeschrieben, ach würden sie in eine Inschrift66 eingeritzt, mit einem Griffel aus Eisen und mit Blei, auf Dauer (‫)ָלַעד‬67 in das Felsgestein gemeißelt. (Hi 19,23 f)

Was nicht unmittelbar gehört wird, soll ewig gehört werden. Zielt der Wunsch Hiobs nach der Verschriftung seiner Worte auf eine Fortdauer in die Zeit hinein, so richtet sich seine Hoffnung, Gott als Löser (‫ )גאל‬zu sehen, auf eine unmittelbare Erfahrung in der Zeit. Hiobs diskontinuierliche Erwartung der Epiphanie Gottes als des Ersten und des Letzten (‫)אחרון‬68 zum Gericht bildet den Kontrast zu Bildads Ankündigung vom andauernden Erschrecken vergangener und künftiger Geschlechter (‫אחרנים‬, Hi 18,20)69 angesichts des Unglückstages des Frevlers. Die Zeit erweist sich hier als doppelachsig: Der Bitte nach Verewigung der Worte vor den Augen der Menschen als der horizontal erlebten, linear verlaufenden Zeit, steht die prophetische Sehnsucht nach der vertikal einbrechenden und punktuell erfahrenen Gottesschau zur Seite. In dieser Gottesschau erhofft sich Hiob seine 65 Bereits für die antiken Versiones ist strittig, ob der Begriff ‫ קץ‬hier zeitlich (vgl. LXX χρόνος) oder eher inhaltlich („Ziel“, vgl. Aquila τέλος) zu verstehen ist. Für eine temporale Wiedergabe, und zwar in dem Sinn von Lebenszeit, sprechen der Parallelismus zwischen V. 11 und V. 12 (so korrespondieren V. 11a und V. 12a [‫ כח‬// ‫ ]כח‬und V.11b und V.12b [‫ קץ‬// ‫)]בשר‬ und die Parallele in Ps 39,5. Zu einem temporalen Verständnis von ‫ קץ‬siehe dann auch 1QHa XIII,11 f; XX,8; XXIVbottom,7 f; Frgm. 58,5; 1QS IV,18; X,5 u. a. sowie zum nachbiblischen Gebrauch des verwandten Begriffs ‫ קצה‬im Sinn von „Lebenszeit“ bNed 41a. 66 Zu dieser Wiedergabe von ‫ ספר‬siehe ausführlich Clines, Job 1–20, 432. 67 Angesichts der beschriebenen inhaltlichen Dimension und der Wiederaufnahme des Verses in Hi 20,4 empfiehlt es sich auf jeden Fall, mit der Mehrzahl der neueren Ausleger das masoretische ‫ ָלַעד‬beizubehalten und nicht mit Theodotion (εἰς μαρτύριον) und Vg (in testimonium) in ‫ ְלֵעד‬umzupunktieren. 68 Zum Gebrauch von ‫ אחרון‬als Gottesname vgl. Jes 44,6 und siehe dazu W. L. Michel, Job, 195. 69 Zu einem zeitlichen Verständnis von ‫ אחרנים‬und ‫ קדמנים‬vgl. LXX (ἔσχατοι – πρώτους) und Vg (novissimi – primos), CD-A I,12 (‫ )דורות אחרונים‬und Jes 14,9–21, zu einer geographischen Interpretation im Sinn von „die im Westen – die im Osten“ zuletzt wieder Clines, Job 1–20, 407; Seow, Job 1–21, 770.

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Beobachtungen zum Verhältnis von Zeit und Leid im Buch Hiob 

„Ewigkeit“. In der Begegnung mit Gott in der Zeit erwartet er, sein Recht auf „auf ewig “ (‫ )לנצח‬zu erhalten (Hi 23,7). So sucht Hiob Gott in Zeit und Raum: Wenn ich gen Vergangenheit (‫ )קדם‬gehe, so ist er (d. h. Gott) nicht da, und gen Zukunft (‫)אחור‬, so nehme ich ihn nicht wahr.70 (wenn) ich ihn im Norden suche71, sehe ich72 ihn nicht, wende ich mich gen Süden, so sehe ich ihn nicht. (Hi 23,8 f)

Er spürt dem heilvollen Gott nach in seiner Vergangenheit und in seiner Zukunft, er wendet sich nach Norden (‫ )שמאול‬und nach Süden (‫)ימין‬ – doch der rettende, ihn gerecht richtende Gott lässt sich für ihn nicht finden.73 Ironischerweise werden genau diese Erfahrungen von Elihu, dem vierten Gesprächspartner Hiobs, theologisch manifestiert: Denn er (d. h. Gott) setzt über einen Mann keinen Zeitpunkt74, dass er mit Gott (El) vor Gericht treten könnte. (Hi 34,23) O dass doch Hiob bis zum Ende (‫ )עד־נצח‬geprüft werde, wegen der Antworten bei Männern des Übels. (Hi 34,36)

Hiobs Forderung nach Zeit und Ort der heilvollen und ihn rechtfertigenden Gottesbegegnung bleibt auch angesichts dieser Sentenz bestehen – und wird erfüllt. Seine Worte finden ihre erhoffte Verewigung (Hi 19,23–27) im Sehen Gottes (42,5): Und Hiob antwortete Jhwh und sagte: Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, aber jetzt hat mein Auge dich gesehen. Darum verwerfe ich und bereue, weil ich (ja doch) Staub und Asche bin.75 (Hi 42,1.5 f) 70 Zumeist werden ‫ קדם‬und ‫ אחור‬hier lokal („Osten – Westen“) verstanden, doch sprechen die Parallelen in Hi 29,2 bzw. 19,25 für eine temporale Übersetzung, vgl. auch LXX εἰς (γὰρ) πρῶτα und τὰ δὲ ἐπ’ ἐσχάτοις. 71 Anstelle von ‫ בעשׂתו‬lies ‫( בקשׁתיו‬vgl. BHK3). 72 Anstelle von ‫ יעטף‬lies ‫( אעטף‬vgl. BHK3). 73 Es ist nicht ausgeschlossen, dass mittels der geographischen Begriffen ‫ שמאול‬und ‫ ימין‬auch auf zentrale Stätten der Theophanie, den Gottesberg im Norden (vgl. den ‫ צפון‬Ps 48,3; 89,13) und den Gottesberg im Süden (vgl. Ps 89,13 [‫ ;]ימין‬Hab 3,3 [‫ )]תמין…הר־פארן‬angespielt wird, denen sich Hiob vergeblich zuwendet; vgl. dazu auch Gordis, Job, 261, und Hartley, Job, 340, sowie Witte, Torah, in diesem Band, S. 121–132. 74 Lies anstelle eines nur erschlossenen Substantivs ‫„( עוד‬Dauer“) ‫„( מועד‬Termin“, vgl. BHS). 75 Zur Übersetzung von Hi 42,6 siehe S. 78 Anm. 38; Witte, Vom Leiden, 176.

Zeit und Leid in Gott geborgen    

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Im Jetzt der Gottesschau verstummt der Ruf nach „Ewigkeit“. Hiob findet seine Lösung in der Zeit. Das Buch Hiob bleibt in allen seinen literarischen Schichten diesseitsbezogen und geht grundsätzlich von dem Tod als absoluter Grenze aus, vor der sich die Fragen über Glück und Unglück, Gerechtigkeit und Leid entschieden haben müssen.76 Die im Leiden erfahrene und beklagte Diastase von Gotteszeit und Menschenzeit (vgl. Hi 24,1) löst sich auf. Im Blick auf die kosmischen Zeiten und in der Gottesschau treffen sich Gotteszeit und Menschenzeit: Hiobs Zeit ist Teil von Gottes Zeit (vgl. Ps 31,16) – Hiobs Leid ist auch Gottes Leid.

7. Zeit und Leid in Gott geborgen Der am Phänomen der Zeit orientierter Durchgang durch das Buch Hiob hat gezeigt, dass Leiden die Wahrnehmung der Zeit bedingt und bestimmt. So intensiviert Leiden die Reflexion der Zeit hinsichtlich bestimmter Zeitpunkte. Als solche treten die Grenzzeiten Geburt und Tod besonders in den Blick. Weiterhin schematisiert Leiden die Zeit hinsichtlich bestimmter Qualifikation. Neben den Zeiten des Segens, den Zeiten der Fülle, stehen die Zeiten des Fluchs, die Zeiten der Leere. Im Leiden zerfällt die Zeit in unterschiedlich große Zeiträume: Einzelne Zeiten erscheinen gedehnt, andere verdichtet. Die Zeit wird in Zeitsprüngen erlebt. Der Umgang mit dem Leiden in der Zeit ist geprägt von einem Ausweichen vor der Gegenwart. Rückblicke auf die nähere und fernere Vergangenheit sowie auf die nähere und fernere Zukunft dienen häufig als Ersatz für die Rücksichtnahme auf die Gegenwart. Der Einzelne und seine Vorfahren bzw. der Einzelne und seine Nachfahren werden Gegenstand des Nachdenkens. Der Ausblick auf fernste Vergangenheit und fernste Zukunft, auf Urzeit und auf Endzeit, soll der Gegenwart neue Horizonte erschließen. Die im Hiobbuch ablesbare Wahrnehmung der Zeit und der in ihm vermittelte Umgang mit der Zeit decken sich zum Teil in erstaunlicher Weise mit empirisch erhobenen Formen pathologischen Zeiterlebens: der Erfahrung des Zusammenbruchs der Zeit als Spiegel des Zusammenbruchs der eigenen Existenz, dem Versuch, die Zeit zu vernichten, um der eigenen Vernichtung zu entgehen, dem Wettlauf mit der enteilenden Zeit oder dem Leiden unter dem scheinbaren Stillstand der sich unendlich dehnenden Zeit.77 Wenn die These stimmt, dass 76 Mögliche „eschatologische Splitter“, d. h. Texte, die auf eine endgültige Überwindung des Todesgeschicks hindeuten (vgl. Hi 14,12aβ; 19,28 f; 29,18–20 [sofern in V. 18 ‫ חול‬nicht mit Sand, sondern mit „Phönix“ wiedergegeben wird und in dem Vers eine Anspielung auf den „Phönixmythos“ gesehen wird, vgl. dazu Fuchs, Mythos, 143 f u. 151–161]; 31,11 f.28) sind textkritisch und semantisch unsicher und wurden daher in dieser Skizze ausgespart. 77 Vgl. dazu Theunissen, Negativität, 75.

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Beobachtungen zum Verhältnis von Zeit und Leid im Buch Hiob 

die Zeiterfahrung des Leidenden allgemein-menschliche Zeiterfahrung in vergrößertem Maßstab und geschärften Konturen darstellt  – womit nicht bestritten werden soll, dass auch Glückserfahrungen Zeit und Zeitlichkeit bewusst werden lassen können – dann besitzt die im Hiobbuch begründete Sinngebung der Zeit ein über dieses Werk und seine Entstehungswelt hinausreichendes Deutungspotential. Gemäß dem Hiobbuch wie auch gemäß literaturgeschichtlich und thematisch verwandter Psalmen78 erfährt die Zeit ihre eigentliche Sinngebung in ihrer Beziehung zu Gott, der als der Schöpfer die Zeit setzt, der an der Zeit seines Geschöpfs, auch im Leiden, teilhat und der als der Richter seinem Geschöpf in der Begegnung mit ihm in der Zeit „Ewigkeit“ schenkt. D. h. die Zeit ist dann stets ein mit Sinn gefüllter, wenn auch endlicher Handlungsraum. Diesen Sinn jeweils neu zu entdecken und die in diesem Raum bestehenden Handlungsmöglichkeiten jeweils neu zu nutzen, sind Zweck und Ziel des Menschen in dieser Welt. In den Worten des bisher nur in verschiedenen slawischen Versionen erhaltenen zweiten Henochbuches (1. Jh. n. Chr.), das die kanonische Überlieferung des Alten Testaments voraussetzt und dessen zentrale Texte zur Frage nach Zeit, Leid, Freiheit und Gott wie Gen 1, Ps 90 oder das Buch Hiob unter Aufnahme apokalyptischer Vorstellungen interpretierend fortschreibt, lautet diese Erkenntnis: Hört, meine Kinder! Bevor alles war und bevor die ganze Schöpfung geschaffen war, schuf der Herr seine ganze sichtbare und unsichtbare Schöpfung. 2 Wieviele Zeiten, die gewesen waren, [auch] vergingen – erkennt, daß er um dieser aller willen den Menschen schuf, zu seinem Bild und [zu seiner] Ähnlichkeit. Und er gab ihm Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören, und ein Herz, um nachzudenken, und einen Verstand, um Rat zu halten. 3 Der Herr setzte den Äon um des Menschen willen frei und schuf die ganze Schöpfung um seinetwillen, und er teilte [sie] ein in Zeiten, und von den Zeiten setzte er Jahre fest, und von den Jahren bestimmte er Monate, und von den Monaten Tage, und der Tage bestimmte er sieben, 4 und in diesen setzte er Stunden, und die Stunden maß er einzeln aus, damit der Mensch die Zeiten bedenke, und damit er die Jahre zähle, und die Monate und die Tage und die Stunden, und die Veränderungen, und Anfänge und Enden, damit er sein Leben zähle, vom Beginn bis zum Tod, und [damit] er seine Sünden bedenke, und damit er sein Werk schreibe, sowohl das böse als das gute. (2Hen 65 [A],1–4)79

78 Vgl. Ps 31; 37; 39; 49; 90 und dazu Witte, Psalm 37, 39–65; Ders., Seele, 67–93. 79 Übersetzung von Böttrich, in: JSHRZ V, 994–996.

Hiobs „Zeichen“ – Traditions- und theologiegeschichtliche Anmerkungen zu Hiob 31,35–37 Iob 31 ist besonders interessant durch das was nicht darin vorkommt. (Julius Wellhausen)1

1. Die rechtsgeschichtliche Deutung Auf dem Gipfel seines Dialogs mit den Freunden angelangt, ertönt, gleichsam als letzter Appell an Gott, Hiobs Ruf: Würde Gott2 mich doch nur hören! Siehe: Mein Zeichen (‫)תוי‬ – Schaddaj antworte mir! – und die Schrift, die der Mann meines Streites schrieb. (Hi 31,35)

Gelegentlich vor dem Hintergrund, dass das hebräische Alphabet mit dem Buchstaben ‫( ת‬tāw) schließt, als Bekenntnis Hiobs gedeutet, dieser habe nun sein letztes Wort gesprochen,3 wird der Vers zumeist rechtsgeschichtlich interpretiert. So findet sich eine rechtshistorische Deutung von Hi 31,35–37 beispielsweise schon bei Thomas Heath (1756), Friedrich Wilhelm Carl Umbreit (1824) oder Johann Gustav Stickel (1842).4 Mit punktuellen Modifikationen ist sie in die Mehrzahl der neueren Hiobkommentare eingedrungen und mitunter zum Generalschlüssel für die Interpretation des Hiobbuches avanciert.5 Gemäß dieser Deutung steht das „Zeichen“ Hiobs, das im Althebräischen die Form eines (Andreas-) Kreuzes trägt und als solches archäologisch als Zugehörigkeits- oder Eigentumsmerkmal nachgewiesen ist, stellvertretend für Hiobs Unterschrift unter 1 Wellhausen, Israelitische und Jüdische Geschichte, 200, Anm. 3. 2 In V. 35a ist wohl anstelle des sprachlich harten doppelten ‫לי‬, das in sechs hebräischen Handschriften, in der griechischen Übersetzung des Theodotion und in der Peschitta fehlt, im ersten Fall ein ‫ ֵאל‬zu konjizieren und ‫שֵׁמַע‬ ֹ in ‫ ִיְשַׁמע‬umzupunktieren; vgl. Driver/Gray, Job, I, 274; II, 228 f; de Wilde, Hiob, 304; Lévêque, Job, Bd. 2, 489; Witte, Vom Leiden, 184. Doch selbst wenn man mit Hinweis auf die Einleitung eines Wunschssatzes mit ‫ מי יתן לי‬in Ps 55,7 und auf die Wiedergabe im Targum bei MT bleibt, kann unter dem ‫שֵׁמַע‬ ֹ nur Gott gemeint sein (vgl. Hi 22,27), so dass der Vers eine dreifache Nennung Gottes enthält. 3 Humbert, Recherches, 91. 4 Heath, Essay, 130; Umbreit, Hiob, 252–254; Stickel, Hiob, 192–195. 5 Richter, Studien zu Hiob; Scholnick, Lawsuit; Many, Rechtsstreit; Dick, A Formcritical Study; Ders., Metaphor; Ders., The Oath.

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Hiobs „Zeichen“ – Anmerkungen zu Hiob 31,35–37

seine als Verteidigungsschrift verstandene Unschuldserklärung in Kap.  31. Für diese Interpretation kann auf die stark, wenn auch nicht ausschließlich, von juridischer Sprache gefärbte Gestaltung von Hi 31 verwiesen werden.6 Zum anderen rekurriert die rechtsgeschichtliche Deutung auf das vor allem aus dem ägyptischen Recht bekannte Verfahren, der richtenden Instanz Klage und Verteidigung in schriftlicher Form vorzulegen.7 Als Bestätigung und Ergänzung dieser Deutung wird V. 35c verstanden, sei es, dass Hiob wünsche, sein Rechtsgegner (‫ )איש ריבי‬möge die „Schrift“ (‫ )ספר‬endlich verfassen (‫ָכַּתב‬, prekatives Perfekt),8 sei es, dass Hiob fordere, ihm das bereits verschriftete Dokument vorzulegen.9 Dabei ist strittig, ob dieser ‫ ספר‬im Sinne einer Anklageschrift10 oder einer Entlastungsurkunde11 zu interpretieren ist. Schließlich wird der Begriff ‫ ענה‬in V. 35a vor dem Hintergrund seiner Verwendung in juristischem Kontext12 für eine rechtsgeschichtliche Deutung angeführt. Ebenfalls in den rechtsgeschichtlichen Kategorien bewegt sich der von Andreas Kunz (2001) durchgeführte Vergleich zwischen der transzendent orientierten Gerichtsvorstellung im 125. Spruch des ägyptischen Totenbuches und der immanent ausgerichteten Gerichtsvorstellung in Hi 31: In Umkehrung der ägyptischen Vorstellung des negativen Schuldbekennt­ nisses im Rahmen des Totengerichts vor Osiris würde Hiob „den Erweis seiner 6 Dass Hi 31 ebenso von kultischen (psalmistischen) und weisheitlichen Redeformen und Motiven geprägt ist, haben einerseits Westermann, Aufbau (21977), 32 (vgl. auch S. 65; 82; 104–106), anderseits Fohrer, Righteous Man, 78–93, deutlich aufgezeigt. Auf Parallelen zu Nichtigkeitsflüchen in vorderorientalischen Vertragstexten, wie sie auch in Dtn 28 und Dtn 30–33 greifbar sind, hat zu Recht Otto, Ethik, 167–171, aufmerksam gemacht. Als Gattungsbezeichnung für Hi 31 bietet sich aufgrund der Mischung der unterschiedlichen Sprachformen die von Ernst Kutsch eingeführte Bezeichnung „Unschuldsbekenntnis zumeist in Eidesform“ an (Unschuldsbekenntnis, 320). 7 Vgl. die Beschreibung des ägyptischen Prozesswesens bei Diodor Siculus, I 75, und dazu Burton, Diodor, 218–225; Seidl, Ägyptische Rechtsgeschichte, 29–44; Ders., Ptolemäische Rechtsgeschichte, 89–99 sowie Beispiele für eine Klageschrift (ἔντευξις) bei Wilcken, Urkunden, Nr. 151; 152; 160; 170; 195; 196. Demgegenüber versuchte Dick, Metaphor, Hi 31,35–37 vor dem Hintergrund des mesopotamischen Zivilprozesses zu erklären, vgl. dazu auch Magdalene, Scales, 144; 180–182; 190, die das Hiobbuch insgesamt im Kontext neubabylonischer Rechtsurkunden interpretiert und literarisch nach dem Muster eines Prozesses gestaltet sieht. 8 So im Gefolge von Vg (et librum scribat ipse qui iudicat) und Syr (wnktwb bspr’ djnwhj dgbr’) Alonso Schökel/Sicre Diaz, Job, 439; Habel, Job, 423; Hartley, Job, 425; Ebach, Streiten, II, 69; Magdalene, Scales, 180 f. 9 Unabhängig von der Frage, ob vor V. 35c ein Kolon ausgefallen ist, sprechen die zahlreichen asyndetischen Relativsätze in der Hiobdichtung (vgl. Hi 3,3; 7,2; 9,26; 11,16; 31,12) dafür, ‫ ָכּתב‬mit dem Targum und der LXX relativisch und resultativ zu übersetzen, vgl. dazu auch Bobzin, Tempora, 400, und die Mehrzahl der neueren Hiobkommentare. 10 So z. B. Fohrer, Hiob, 443; Dick, Metaphor, 47 f; Strauss, Hiob, 235, und Ebach, Streiten, II, 90, wobei nach Ebach diese Anklageschrift wie der in Hi 19,23 f genannte ‫ ספר‬mit dem Hiobbuch selbst gleichzusetzen sei. Vgl. dazu auch Magdalene, Scales, 181. 11 So z. B. Habel, Job, 438 f; Hartley, Job, 432–425. 12 Vgl. Dtn 5,20; Mi 6,3; 1Sam 12,1 sowie Hi 9,15.32; 19,7; 23,5 f.

Der begriffsgeschichtliche Hintergrund des „Zeichens“    

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Schuld wie das Zeichen seiner Gerechtfertigterklärung tragen“.13 Dass der Hiobdichter bei der Gestaltung der Klagen Hiobs vor und gegen Gott juridische Motive verwendet und Hiob sein Verhältnis zu Gott in rechtlicher Metaphorik beschreiben lässt, ist unbestritten.14 Gleichwohl bleibt bei der rechtsgeschichtlichen Deutung die Interpretation des „Zeichens“ Hiobs, für das weder ein eigentlicher noch ein metaphorischer Gebrauch im Sinn von „Unterschrift“ belegt ist, semantisch und kompositionell unbefriedigend.15 Inwiefern ‫ תו‬metaphorisch für die persönliche Repräsentanz Hiobs als juristischer Person vor Gott steht,16 müsste erst bewiesen werden.

2. Der begriffsgeschichtliche Hintergrund des „Zeichens“ Ein Blick in die antiken Übersetzungen von Hi 31,35 führt in der Frage nach der Bedeutung von ‫ תו‬nicht weiter. Die Übersetzer der Hiob-Septuaginta, in deren ursprünglichen Gestalt V. 35a fehlt, hatten hier entweder eine andere hebräische Vorlage oder formulieren frei um.17 Für letztere Annahme spricht, dass sich die griechischen Verse 35c–36 trotz ihrer inhaltlichen Abweichung vom MT auf eine 13 Kunz, Waage, 235–250; 249 (Kursivsatz im Original). Vollkommen zu Recht weist Kunz auf die Differenz zwischen Tb 125 und Hi 31 hinsichtlich der Erfahrungsräume der Rechtfertigung hin: einerseits postmortal (so im Totenbuch), andererseits vor der Grenze des Todes (so in der Hiobdichtung; bei den „apokalyptischen Splittern“ in Hi 14,12*; 19,28 f, aber auch in 29,18–20 und 31,11 f, handelt es sich in meinen Augen um eschatologisierende Fortschreibungen). Vgl. zu einer Parallelisierung des bis in die hellenistische und römische Zeit tradierten ägyptischen Totenbuches und Hi 31 bereits Humbert, Recherches, 91–96; Lévêque, Job, Bd. 1, 71–74; Kutsch, Unschuldsbekenntnis, 330–332. 14 Vgl. Hi 9,32–33; 13,22; 19,7; 23,4–6; 27,2. 15 So muss selbst Michael Brennan Dick, einer der entschiedensten Vertreter der rechtsgeschichtlichen Deutung von Hi 31, zugeben, Hiobs Erwähnung seines ‫ תו‬sei „troublesome“. Dick schlägt dann eine Verbindung mit der aus dem mesopotamischen Recht bekannten Verteidigungsschrift (kanīkum [„gesiegeltes Dokument“], ṭuppum [„Brief “/„Dokument“], kunukkum [„Siegel“]) vor (Dick, Metaphor, 48). 16 Strauss, Hiob, 234. 17 35a ※ τίς δῴη ἀκούοντά μου; ↙(Theodotion) 35b χεῖρα δὲ κυρίου εἰ μὴ ἐδεδοίκειν, 35c συγγραφὴν δέ, ἣν εἶχον κατά τινος, 36 ἐπ’ ὤμοις ἂν περιθέμενος στέφανον ἀνεγίνωσκον, 37 καὶ εἰ μὴ ῥήξας αὐτὴν ἀπέδωκα, οὐθὲν λαβὼν παρὰ χρεοφειλέτου. Der ursprüngliche Septuagintatext hat dann auf die Gestaltung des Unschuldsbekenntnisses in TestHiob 11,11 f gewirkt, wo Hiob bekennt, einen gegen ihn gerichteten Schuldbrief gelesen und mit einem „Kranz der Tilgung“ versehen zu haben (… τὸ χειρόγραφον καὶ ἀνεγίνωσκον στέφανον ἐπιφερόμενος ἀφαιρήσεως …) und auch sonst nichts von seinem Schuldner (παρὰ ὀφειλέτου) genommen zu haben. Nach Schaller, in: JSHRZ III, 335, wurden in hellenistischer Zeit Schuldscheine mittels eines Kreuzes getilgt.

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Hiobs „Zeichen“ – Anmerkungen zu Hiob 31,35–37

diesem zumindest nahestehende Vorlage zurückführen und V. 37 als ein kontextuell gebildetes Substitut erklären lassen. So fügt sich der Septuagintatext insgesamt wesentlich glatter in die Abfolge hypothetischer Vergehen Hiobs in 31,1– 34+38–40a18 als dies im Fall des MT ist, bei dem der Wunsch Hiobs nach einer unmittelbaren Gottesbegegnung (V. 35–37) die Kette der Integritätserklärungen unterbricht, was bis heute zu zahllosen Umstellungsvorschlägen und literarkritischen Operationen geführt hat.19 Ursprünglicher als die vom MT repräsentierte Fassung ist die Septuaginta hier jedenfalls nicht. Dies bestätigen, wenn auch indirekt, die anderen antiken Textzeugen. Die Peschitta mit ’n ’jtwhj („wenn es [möglich] wäre“) löst die Interjektion ‫ הן‬konditional auf, basiert aber ansonsten auf einem Lese- oder Hörfehler, sei es, dass die syrischen Übersetzer (‫ תהי)ה‬lasen oder an das aramäische Wort ‫ איתוי‬dachten.20 Das frühmittelalterliche Targum21 mit ‫ רגרוגי‬und die Vulgata mit desiderium meum lesen ‫ תו‬im Sinn von ‫תאוה‬ „Wunsch“.22 Das aus Höhle 11 in Qumran bekannte Targum mit Resten zu Hi 17, 14–42,12 weist zwischen V. 32 und V. 40 einen Textverlust auf und fällt damit, wie die weiteren aus Qumran bekannten Fragmente zum Hiobbuch,23 für eine Rekonstruktion des ältesten hebräischen Textes von Hi 31 aus. Eindeutig ist der Befund in Ez 9,4+6, neben Hi 31,35 der einzige biblische Beleg für das Wort ‫תו‬:24 3 Und die Herrlichkeit des Gottes Israels erhob sich von dem Keruben, auf dem sie war, zu der unteren Schwelle des Tempels. Und er rief zu dem mit dem Linnen bekleideten Mann, der das Schreibzeug des Schreibers an seiner Hüfte hatte, 4 und 18 Dabei ist zu beachten, dass die V. 1–4.18.23b.24a.27a.35a im Old Greek fehlten und in der Septuaginta aus Theodotion nachgetragen sind. 19 Vgl. dazu schon Heath, Job, 124–131, der V. 38–40a zwischen V. 25 und V. 26 positionierte, sowie die Übersicht der unterschiedlichen Vorschläge bei Alonso Schökel/Sicre Diaz, Job, 439. 20 Siehe dazu ausführlich Szpek, Translation Technique, 222. 21 Zu den Varianten in der Targumüberlieferung siehe Stec, Targum, 217*. 22 Diesem Verständnis folgen Gordis, Job, 355; de Wilde, Hiob, 304; Oeming, Begegnung, 95. 23 Zum Textbestand der Qumrantexte, die das Hiobbuch repräsentieren, siehe Anm.  18 S. 17. Verteilt auf verschiedene hebräische Handschriften, finden sich gesichert Textreste zu Hi 8,15–17; 9,27; 13,4; 13,18–20.23–27; 14,4–6.13–18; 31,14–19.20 f; 32,3 f; 33,10 f.24–26.28–30; 35,16; 36,7–11.13–27.32 f; 37,1–5.14 f (vgl. Ulrich, The Biblical Qumran Scrolls, 727–731). 4Q157 (4QtgJob) bietet gesichert Äquivalente zu Hi 3,5–9; 4,16–5,4 (vgl. ­Milik, in: DJD VI, 90). 24 Das vom Substantiv ‫ תו‬abgeleitete Verb ‫ תוה‬kommt neben der Verwendung im Kausativstamm in Ez 9,4 („kennzeichnen“) noch einmal im Intensivstamm in 1Sam 21,14 vor, wobei dieser Beleg unsicher ist (HALAT, 1563), sowie in der Form ‫ תאה‬in Num 34,7–8 im Sinn von „eine Grenze markieren“. Die von Friedrich Delitzsch (Hiob, 168 f)  erwogene Herleitung aus dem Akkadischen, sei es von tamû („schwören“, vgl. dann tamītu „Eid“), sei es von awû („sprechen“, vgl. dann tāwītu „Antwort“) passt zwar kontextuell, ist aber philologisch ausgeschlossen und wurde von der weiteren Forschung zu Recht nicht aufgenommen (vgl. bereits ablehnend gegenüber Delitzschs Vorschlag König, Wörterbuch, 536). Ungeklärt ist die Bedeutung des in der aramäischen Sfīre-Inschrift (KAI 222A 28) vorliegenden Lexems ‫( תוי‬vgl. Hoftijzer/Jongeling, Dictionary, II, 1206).

Der begriffsgeschichtliche Hintergrund des „Zeichens“    

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Jhwh sagte zu ihm: „Ziehe mitten durch die Stadt, mitten durch Jerusalem, und zeichne ein Zeichen (‫ )תו‬an die Stirn der Männer, die seufzen und jammern über all die Gräuel, die mitten in ihr getan werden.“ 5 Und zu den anderen sagte er vor meinen Ohren: „Zieht ihm in der Stadt hinterher und erschlagt; euer Auge soll nicht mitleidig blicken25, und ihr sollt nicht verschonen. 6 Greis (und) Jüngling und Jungfrau und Kinder und Frauen sollt ihr zum Verderben töten; aber keinen, der das Zeichen an sich hat, sollt ihr anrühren. Und bei meinem Heiligtum beginnt!“ Und sie begannen bei den Männern, den Ältesten, die vor dem Tempel waren. (Ez 9,3–6)

Hier steht der Begriff ‫תו‬, wie in der aus der Genisa in Altkairo und aus Qumran bekannten Damaskusschrift XIX,12 (‫)תיו‬, wo Ez 9,4–6 zitiert wird,26 für ein Zeichen der Zugehörigkeit zu Jhwh, das aus dem Gericht rettet. Als solches haben es auch die Septuaginta und die Peschitta von Ez 9,4–6 verstanden27 und als solches ist es in die Psalmen Salomos (15,6–13) eingedrungen: 6 Denn das Zeichen (σημεῖον) Gottes ist auf den Gerechten ist zur Rettung. 9b Denn das Zeichen des Verderbens ist auf ihrer [d. h. der Sünder] Stirn. (PsSal 15,6.9b)28

Außerbiblisch ist der hebräische Begriff ‫ תו‬im nordwestsemitischen Sprachraum gesichert bisher nicht belegt. Zwar wird in einem westaramäischen PapyrusAmulett aus Oxyrhynchos, das wohl aus der Zeit zwischen dem 4. und 6. Jh. n. Chr. stammt, gelegentlich als hebräisches Lehnwort das Lexem ‫ תוא‬erkannt und dieses mit „Zeichen“ übersetzt29, doch ist diese Lesung keineswegs gesichert30. Ebenso ist umstritten, ob das in einer phönizischen/punischen Inschrift aus Pyrgi aus dem 5./4. Jh. v. Chr. (KAI5 277,6) belegte Wort ‫ תו‬mit dem hebräischen Begriff zusammenzustellen ist.31 25 Anstelle von ‫ על־תחס עינכם‬lies ‫( אל־תחס עינכם‬vgl. BHS). 26 Vgl. 5Q12 und 6Q15 (= CD-B). Zur Zitation von Ez 9,4–6 vgl. auch bShab 55a (‫)תיו‬. 27 LXX: σημεῖον; Syr: rwšm’. Das Targum-Jonathan und die Vulgata transkribieren (‫תוא‬ bzw. thau). 28 Vgl. dann weiterhin die neutestamentliche Rezeption in Apk 7,3; 9,4; 13,16; 14,1. 29 Beyer, Texte Erg.Bd. (1994), 242–243. Markham J. Geller (Incantation, 96–98) bietet in seiner Zeichnung des Amuletts ebenfalls ‫תוא‬, lässt das Wort aber unübersetzt. Eine reiche Sammlung vergleichbarer Amulette bieten Naveh/Shaked, Amulets; Dies., Magic Spells. 30 So schlägt Christa Müller-Kessler (brieflich) die Lesung ‫ הוא‬vor. 31 Roschinski (in: TUAT II, 602–604) übersetzt in der entsprechenden Passage (…‫תו )…ובן תו‬ mit „Zeichen“, während Lipiński (in: Beyerlin, Religionsgeschichtliches Textbuch, 261) und Röllig/Donner (in: KAI2 II, 1968, 331) unter ‫ תו‬eine „Nische“ bzw. einen „Innenraum“ verstehen (vgl. hebr. ‫[ תא‬Ez 40,7], aram. ‫תוא‬, akkad. tā’um). Zur Diskussion siehe Hoftijzer/Jongeling, Dictionary, 1204, und Röllig (Akkadisch tu’um, 1203–1207), der sich 1996 erneut gegen die von Roschinski vorgetragene Ableitung des phönizischen (!) ‫ תו‬in KAI2 277 von ‫תוי‬/‫„ תוה‬Zeichen machen“ ausgesprochen hat und für die Zusammenstellung mit akkad. tā’um/tū’n „Zimmer, Wohnung“ plädiert.

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Hiobs „Zeichen“ – Anmerkungen zu Hiob 31,35–37

Legt man den sicheren und semantisch eindeutigen Beleg für den hebräischen Begriff ‫ תו‬in Ez 9,4+6 zugrunde, dann kann als eine erste These formuliert werden, dass in Hi 31,35 ‫ תו‬im Sinn eines Zeichens der Zugehörigkeit Hiobs zu Jhwh steht. Dieses „Zeichen“ soll Hiob – wie den in Ez 9,4 Gekennzeichneten und den in PsSal 15,6 genannten Gerechten – bei der unmittelbaren Begegnung mit Gott Schutz gewähren und zugleich Loyalität gegenüber Gott dokumentieren.32 Der Ruf Hiobs ‫ הן תוי‬bedeutet dann nichts anderes als ‫( ליהוה אני‬Jes 44,5). Dass das Alte Testament schützende Zeichen von Jhwh kennt, die entweder direkt auf dem Körper oder als Amulett um den Hals getragen werden, zeigen eindeutig Texte wie Gen 4,15, wo der Begriff ‫ אות‬geradezu als Synonym zu ‫ תו‬in Ez 9,4 steht, sowie Ex  28,36 f; 39,30; Jes  44,5; 49,16 oder Sach  14,20.33 Der Begriff ‫תו‬ reiht sich dann in die Reihe der sonst im Alten Testament verwendeten Terminologie für Amulette wie ‫( קשרים‬Jes 3,20; Jer 2,32), ‫( לחשים‬Jes 3,20), ‫( לוח‬Spr 3,3; 7,3) oder ‫( גלולים‬Ez 14,3) ein.34 Es fragt sich aber, ob das „Zeichen“ Hiobs inhaltlich nicht noch näher bestimmt werden kann.

3. Die materiale Identifikation des „Zeichens“ Der syntaktische Anschluss von Hi 31,35c ist, wie oben angedeutet, umstritten. Verzichtet man auf die freie Konjektur eines vor V. 35c ausgefallenen Kolons35 und betrachtet V. 35 als ein Trikolon, wie es für kompositionelle Schnittstellen der Hiobdichtung typisch ist36, so liegt eine Parallelisierung von V. 35c mit V. 35b näher, als die Unterordnung unter die Einleitung des Wunsches in V. 35a. D. h. das V. 35b einleitende ‫ הן‬bezieht sich auf ‫ תוי‬und auf ‫ספר‬.37 V. 35bα wird dann mittels V. 35c näher erläutert, während V. 35bβ eine Parenthese ist: Das „Zeichen“ Hiobs ist der ‫ספר‬, den der Gegner Hiobs (‫„ איש ריבי‬Mann meines Streits“) geschrieben hat. Unter dem ‫ איש ריבי‬kann, wie die Parallelen zu Verwendung der Wurzel ‫ריב‬ in der Hiobdichtung zeigen, nur Gott gemeint sein.38 Hiobs „Zeichen“ ist dann 32 Vgl. ähnlich Stevenson, Critical Notes, 145. 33 Vgl. die Übersichten bei Keel/Uehlinger, Göttinnen, 294–296; 318–321; 374; 401–406; 417–422; Uehlinger, Amulett, 443–444; Herrmann, Amulette, 1994, 91–93; siehe auch schon Wellhausen, Reste arabischen Heidentums, 165–166. 34 Vgl. dazu Barkay, Benediction, 139–192, und Herrmann, Amulette, 83–95. 35 So im Anschluss an den Vorschlag von Duhm, Hiob, 151, zahlreiche neuere Kommentare. Im Gegensatz zu meiner Analyse von 1994 (Witte, Vom Leiden, 184 f) beurteile ich das Kolon jetzt nicht mehr als Glosse. 36 Vgl. Hi 10,22; 24,12; 26,14; 28,28 und dazu van der Lugt, Criticism, 9–14. 37 So mit Stickel, Hiob, 192; Fz. Delitzsch, Iob, 420. 38 Vgl. Hi 9,3.32; 10,2; 13,19; 23,6; (33,13; 40,2); siehe weiterhin 1Sam  24,16; Jer  11,20; 20,12; Ps 35,23; 43,1; zur Bezeichnung Gottes als ‫ איש־‬vgl. Ex 15,3 (‫ )איש מלחמה‬und 1QM XII,10 (‫)איש כבוד‬. Abseitig ist die Identifikation des ‫ איש ריבי‬mit dem Satan (so Humbert, Recherches, 91). Die Gleichsetzung mit einem menschlichen Gegner (so Kunz, Mensch, 239; 249) belegt erst der stark variierte Text der LXX (s. o. S. 103 Anm. 17).

Die materiale Identifikation des „Zeichens“    

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ein von Gott bereits geschriebenes und dem Hiob in Gestalt seines „Zeichens“ vorliegendes Schriftstück. So motiviert das Kolon in V. 35c Hiobs Ruf zu Gott: Der Gott, der geschrieben hat, soll nun auch hören und antworten. Als von Gott geschriebene (‫ )כתב‬Dokumente erscheinen im Alten Testament ausweislich Ex 32,32 das „im Himmel befindliche“ Buch des Lebens39 oder aber nach Ex 24,12 der „vom Himmel gekommene“ Dekalog40. Da Hiob über das Buch des Lebens nicht verfügt, kann daher die weitergehende These aufgestellt werden, dass sich unter seinem „Zeichen“ ein mit dem Dekalog bzw. Teilen des Dekalogs beschriftetes Amulett verbirgt.41 Nun hat bereits Othmar Keel (1981) vor dem Hintergrund göttlicher Zugehörigkeitszeichen im Alten Orient nachgewiesen, dass die entsprechenden Anordnungen in Ex 13,9; Dtn 6,8 f und 11,18, die Worte von Jhwh als „Zeichen“ (‫ )אות‬an Kopf und Arme zu binden (‫)קשר‬, in einem ganz materialen Sinn gemeint sind.42 Archäologisch sind amulettähnliche Gebetsund Erinnerungszeichen mit Jhwh-Worten über die Phylakterien aus der Wüste Juda43 und den Papyrus Nash44 mindestens für das 2./1. Jh. v. Chr. belegt. In die Mitte des 2.  Jh. v. Chr. führt eine entsprechende Notiz im Aristeasbrief § 158 f (παράσημον μνείας).45 Die ältesten literarischen palästinischen Belege fallen in die Zeit um 100 v. Chr.46 Angaben zum Ursprung der Tefillin im babylonischen

39 Ps 69,29; zum Motiv vgl. weiterhin Ps 139,16; Dan 12,1; 4Q504 Frgm. 2 VI,14. In diese Richtung geht bereits die Peschitta zu Hi 31,35 (s. o. S. 102 Anm. 8). 40 Ex 24,12; 34,1; Dtn 4,13; 5,22; 10,2–4 sowie im Blick auf die gesamte Torah 2Kön 17,37. 41 Eine Interpretation von Hi 31,35c vor dem Hintergrund von Jer 17,1 als Anklageschrift Gottes scheitert daran, dass diese nicht die Funktion eines Amuletts als schutz- und segengewährendes Zeichen erfüllen kann. Zwar klagt Hiob in 13,26 darüber, dass Gott gegen ihn Bitteres „schreibt“ (‫)כי־תכתב עלי מררות‬, doch bezieht sich dies nicht auf eine Anklageschrift, über die Hiob verfügen könnte, sondern auf seine Erfahrung des ihm von Gott zugeschriebenen Leidens; zu Hi 13,26 f s. u. Abschnitt 5. 42 Keel, Zeichen, 159–240. 43 Vgl. 1Q13; 4Q128–148; 5Q8; 8Q3; xQ Phyl 1–4. Zur Beschreibung dieser Fragmente siehe Kuhn, Phylakterien, und Yadin, Tefillin. 44 Zur Interpretation des Papyrus Nash (Text und Abbildung bei Würthwein, Text, 146 f), der neben dem Dekalog das Schema Israel enthält, als Mezuza siehe Kuhn, Phylakterien, 24; Keel, Zeichen, 167; Schiffman, Phylakteries, 675–677; zur Deutung als Amulett siehe ­Naveh/ Shaked, Magic Spells, 29. 45 (158) Καὶ γὰρ ἐπὶ τῶν βρωτῶν καὶ ποτῶν ἀπαρξαμένους εὐθέως τότε συγχρῆσθαι κελεύει. Καὶ μὴν καὶ ἐκ τῶν περιβολαίων παράσημον ἡμῖν μνείας δέδωκεν ὡσαύτως δὲ καὶ ἐπὶ τῶν πυλῶν καὶ θυρῶν προστέταχε μὲν ἡμῖν τιθέναι τὰ λόγια, πρὸς τὸ μνείαν εἶναι θεοῦ: (159) καὶ ἐπὶ τῶν χειρῶν δὲ διαρρήδην τὸ σημεῖον κελεύει περιῆφθαι, σαφῶς ἀποδεικνὺς ὅτι πᾶσαν ἐνέργειαν μετὰ δικαιοσύνης ἐπιτελεῖν δεῖ, μνήμην ἔχοντας τῆς ἐαυτῶν κατασκευῆς, ἐπὶ πᾶσι δὲ τὸν περὶ θεοῦ φόβον. (Hervorhebung MW). Mit dem Begriff παράσημον können sowohl Embleme einer Stadt, eines Schiffes, bestimmter Bevölkerungsgruppen (z. B. Patrizier, Plebejer), aber auch königliche Insignien benannt werden (Belege bei Liddell/Scott, 1323 und 240*). 46 Bill. IV/1, 251 f.

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Hiobs „Zeichen“ – Anmerkungen zu Hiob 31,35–37

Talmud47 verweisen für Vorformen der Phylakterien auf die persisch-hellenistische Zeit, also die Epoche, in der auch das Hiobbuch mit seinen unterschiedlichen literarischen Schichten entstanden ist. Wenn in einem aus Edfu stammenden aramäischen Papyrus aus dem 3. Jh. v. Chr. die Wortfolge ‫ תפלה זי כסף‬bereits auf Phylakterien aus Silber hinweisen sollte,48 läge hier der bisher älteste Beleg für den spezifischen Gebrauch des Begriffs Tefillin vor. Den frühesten literarischen Beleg für die griechische Bezeichnung der Tefillin als φυλακτήριον („Schutzmittel/Amulett“) bietet bekanntlich Mt 23,5,49 während Flavius Josephus die Praxis und die Funktion der Tefillin ohne Verwendung eines Spezialbegriffs beschreibt (ant. IV 212 f)50. Aber auch die Silberröllchen vom Ketef Hinnom belegen, unabhängig davon, ob sie nun in das 6. Jh. v. Chr. oder in das 2./1. Jh. v. Chr zu datieren sind,51 schon für die vorrabbinische Zeit die Verwendung von Texten aus der Torah auf Amuletten, und zwar in ihrer doppelten Funktion über die Dokumentation der Zugehörigkeit zu Jhwh, Schutz und Segen anzuziehen und lebensfeindliche Mächte abzuwehren. Wenn die vorgeschlagene Identifikation des ‫ תו‬in Hi 31,35 mit einem Amulett, auf dem sich Worte der Torah befinden, zutrifft – Hi 31,35 somit in die Vorgeschichte der Tefillin gehört – stellt sich nun die Frage, wie sich diese Deutung zum unmittelbaren Kontext von Kap. 31 verhält.

47 Vgl. bSan 92b. 48 APFC, 192 u. 198 f (Nr. 81, Kol. C, Z. 30); TADAE III, 258–267; XIX (Nr. C3A 28, Z. 106); Yardeni, Remarks, 176–185; 184; Barkay, Benediction, 184. 49 Vgl. die Bezeichnung magischer Inschriften als φυλακτήριον in spätantiken Zauber­ papyri (Belege bei Liddell/Scott, 1960 und 310*) und das Lehnwort ‫ פלקטון‬auf einem christl.palästin.-aram. Amulett (Naveh/Shaked, Magic Spells, 107–109). 50 (212) Δίς τε ἑκάστης ἡμέρας ἀρχομένης τε αὐτῆς καὶ ὁπότε πρὸς ὕπνον ὥρα τρέπεσθαι μαρτυρεῖν τῷ θεῷ τὰς δωρεάς, ἅς ἀπαλλαγεῖσιν αὐτοῖς ἐκ τῆς Αἰγυπτίων γῆς παρέσχε δικαίας οὔσης φύσει τῆς εὐχαριστίας καὶ γενομένης ἐπ’ ἀμοιβῇ μὲν τῶν ἤδη γεγονότων ἐπὶ (213) δὲ προτροπῇ τῶν ἐσομένων: ἐπιγράφειν δὲ καὶ τοῖς θυρώμασιν αὐτῶν τὰ μέγιστα ὧν εὐεργέτησεν αὐτοὺς ὁ θεὸς ἔν τε βραχίοσιν ἕκαστον διαφαίνειν, ὅσα τε τὴν ἰσχὺν ἀποσημαίνειν δύναται τοῦ θεοῦ καὶ τὴν πρὸς αὐτοὺς εὔνοιαν φέρειν ἐγγεγραμμένα ἐπὶ τῆς κεφαλῆς καὶ τοῦ βραχίονος, ὡς περίβλεπτον πανταχόθεν τὸ περὶ αὐτοὺς πρόθυμον τοῦ θεοῦ. (Hervorhebung MW). 51 Renz/Röllig, HAE I, 447–456; Jaroš, Inschriften, 226–230. Zur Datierung der Silberröllchen vom Ketef Hinnom und deren Verhältnis zu den zahlreichen jüdischen Amuletten aus dem 4.–7. Jh. n. Chr. siehe Barkay, Benediction, 169–174, und Naveh/Shaked, Magic Spells, 26.  Zu eisenzeitlichen ägyptischen Amuletten aus Palästina mit sehr kurzen Inschriften und magischen Zeichen siehe Herrmann, Amulette, 81 f.

Hiobs „Zeichen“ in seinen literarischen Kontexten    

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4. Hiobs „Zeichen“ in seinen literarischen Kontexten Die Interpretation von Hiobs „Zeichen“ als einer (Vor-)Form eines Phylakterions fügt sich zunächst nahtlos in die Bildwelt der folgenden Verse. Gewiss, ich will es (d. h. das Zeichen) auf meine Schulter legen, will es mir als (reiche) Krone52 umbinden (‫)ענד‬, Die Zahl meiner Schritte will ich ihm verkünden (‫)נגיד‬, wie ein Fürst (‫ )נגיד‬will ich mich ihm nahen (‫)קרב‬. (Hi 31,36 f)

Die Ankündigung Hiobs, er werde das „Zeichen“ mit der göttlichen Inschrift um seine Schulter legen (V. 36a) und sich als Kranz/Krone umbinden (V. 36b), entspricht der in Ex 13,9.16; Dtn 6,8; 11,18, aber auch Spr 3,3; 6,21(‫ )ענד‬und 7,3 vorausgesetzten Vorstellung von Geboten, die am Körper getragen werden. Dass ein Amulett am Kopf bzw. als Kranz/Krone getragen werden kann, belegen für den vorderorientalischen Raum zahlreiche von Othmar Keel und Gabriel Barkay gesammelte Beispiele.53 Zwar fällt im Kontext der Vorschriften in Dtn 6,8 f und 11,18, denen zufolge die Phylakterien „zwischen den Augen“ getragen werden sollen, nicht die Bezeichnung „Kranz“ oder „Krone“. Doch eine Notiz bei Hieronymus, die Juden würden die Phylakterien „quasi coronam“54 umlegen, bestätigt das in Hi 31,35 f vorliegende Bild. In V. 37 verweist Hiob wie in V. 4 mit dem Motiv seiner „Schritte, die Gott zählen möge“ auf die Integrität seines Lebenswandels (vgl. Hi 14,16). Gerahmt von diesen beiden Versen, entfaltet Hiob in Hi 31,7–32 die ethischen und religiösen Bereiche, in denen er sich bewährt hat (Ehe; Umgang mit Sklaven, Armen, 52 Bei der vom Codex Leningradensis (B 19A) gebotenen Form ‫ עטרות‬handelt es sich wohl um einen Intensivplural. Eine Übernahme des von zwei hebräischen Handschriften, der Septuaginta, der Vulgata und der Peschitta gebotenen Singulars ‫ )עטרה( עטרת‬ist unnötig. 53 Keel, Zeichen, 193–212 (mit reichem Bildmaterial, auch zu einem dem althebräischen Taw entsprechenden Kreuzzeichen auf der Stirn [204–208], aber ohne Hinweis auf Hi 31,35!); Barkay, Benediction, 181–192. Aber auch und gerade für den griechischen und römischen Bereich ist die Vorstellung belegt, dass ein Kranz Amulettfunktion erfüllen kann (Grundmann, στέφανος, 617 f), vgl. z. B. Aischylos, Die Orestie/Die Grabesspenderinnen 1034–1039: Hier begibt sich Orest nach der Ermordung seiner Mutter bekränzt zum Heiligtum: „Und jetzt, ihr seht mich, wie ich will fromm angetan Mit diesem Ölzweig (θαλλός), diesem Kranze (στέφος) bittend ziehn Zum Heiligtum der Mitten, Loxias Gefild, Zum Licht der Flamme, die die ew’ge wird genannt. Um dies verwandte Blut zu flieh; denn Loxias Gebot mir, keinem andern Herde mich zu nahn.“ (Übersetzung aus: Aischylos, übertragen von Droysen, 298). 54 Hieronymus im Kommentar zu Mt 23,6 (PL 26,168,17); siehe auch seinen Kommentar zu Ez 24,15–27 (PL 25,230,2–7) und Vg zu Hi 31,36 (… quasi coronam).

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Hiobs „Zeichen“ – Anmerkungen zu Hiob 31,35–37

Witwen und Waisen; Götzendienst; Verhalten gegenüber Feinden und Fremden).55 Abgesehen von seiner Verankerung in der alttestamentlichen Weisheit, entspricht das ethische Ideal, das in Hi 31 entworfen wird, wie Manfred Oeming (1994/2001) detailliert nachgewiesen hat,56 in weiten Zügen dem Dekalog. Dieser bildet aber, wie die Qumran-Phylakterien und der Papyrus Nash zeigen, im Gegensatz zu den späteren rabbinischen Vorschriften,57 einen wesentlichen Bestandteil der frühen Tefillin.58 So findet das Bilderverbot (Dtn 5,8) seine Entsprechung in Hi 31,24–27(28)59. Das Verbot, den Namen zu missbrauchen, besitzt in Hi 31,5 ein Pendant. Mit dem Elternehrgebot (Dtn 5,16) lässt sich Hi 31,18 verbinden.60 Dem Ehebruchsverbot (Dtn 5,18) entsprechen die Ausführungen zur Sexualethik in Hi 31,(1).7–10. Der Umgang mit Besitz und Eigentum (Dtn 5,19.21) wird in Hi 31,13–18.29–32 entfaltet. Mit dem Verbot der falschen Zeugenaussage (Dtn 5,20) lässt sich Hiobs Bekenntnis zum Rechtsanspruch der Sklaven und der Armen korrelieren (Hi 31, 13–14.21–22.30)61. Das Begehrverbot (Dtn 5,21) bestimmt die Tendenz des gesamten Unschuldsbekenntnisses. Dass das Tötungsverbot nicht expliziert wird, versteht sich angesichts der gesinnungsethisch und schöpfungstheologisch so subtilen Stilisierung von Hi 31 von selbst (vgl. V. 15 und V. 29 f). Das Fehlen eines 55 Literarkritische Erwägungen stehen nicht im Mittelpunkt der hier präsentierten Überlegungen. Prinzipiell halte ich trotz der zuletzt von Syring, Hiob, 139–149; 168; 172, Kaiser, Hiob, 126, und Vermeylen, Métamorphoses, 151–153; 180–182, im Anschluss an Baum­ gärtel, Hiobdialog, 125–135; 148; 158, und Maag, Hiob, 152–154, vorgeschlagenen radikalen Reduktion von Hi 31 auf die Verse 35–37 den Makrotext von Kap.  31 für ursprünglich und rechne lediglich bei V. 1–3.11 f.23.28.[33 f?].38–40 mit späteren Fortschreibungen. Das ursprüngliche Unschuldsbekenntnis Hiobs dürfte demnach aus einem jeweils drei Distichen umfassenden, chiastisch strukturierten Rahmen in V. 4–6 // V. 35–37 und vier Strophen zu jeweils vier Bikola und einer Strophe mit sechs Bikola ( V. 7a.8–10; V. 13–18; V. 19–22; V. 24–27; V. 29–32) bestanden haben, vgl. dazu Witte, Vom Leiden, 184–186. Gegenüber der von mir 1994 vertretenen Literarkritik rechne ich inzwischen V. 15, V. 18 und V. 35c zum Grundbestand und verstehe V. 35cβ als asyndetischen Relativsatz (s. o. S. 102 Anm. 9). Zu einer weitergehenden Aufteilung der in Hi 31 angesprochenen ethischen Themen auf zwölf, vierzehn oder sechzehn Vergehen siehe Hartley, Job, 408. 56 Oeming, Hiobs Monolog, 66–75. Zu weiteren Parallelen in der materialen Ethik, die zwischen Hi 31 und Texten aus der Weisheit, den Psalmen, den prophetischen Büchern und dem Deuteronomium bestehen, siehe Osswald, Hiob 31, 9–17. 57 Gemäß bMen 34b enthalten die Tefillin lediglich die Texte Ex  13,1–10; 13,11–16; Dtn 6,4–9 und 11,13–21. Zur Reflexion darüber, ob die Tefillin auch den Dekalog enthalten sollten, siehe bSan X,3 und dazu Mann, Changes, 241–310; 291 f; Vermes, Worship, 71. 58 Vgl. 1Q13 Frgm. 1–19; 4Q128; 4Q129; 4Q134; 4Q135; 4Q137; 4Q139; 4Q142; 8Q03 Group III; xQ Phyl 3. 59 Vgl. auch Dtn 17,2 f. Nicht ohne Grund bestimmt Otto, Ethik, 170, die Verse 24–28 als Zentrum der theologischen Begründung des Ethos in Hi 31. 60 Vorausgesetzt ist bei diesem Verständnis folgende Übersetzung: „Denn von meiner Jugend an war er [nämlich der in V. 17 genannte ‫ ]יתום‬groß [d. h. wichtig] wie (mein) Vater/und von Mutterleibe an führte ich sie [die in V. 16 genannte ‫ ]עלמנה‬wie meine Mutter.“ 61 Vgl. auch die Dtn 5,11.20 und Hi 31,5 gemeinsame Verwendung des Begriffs ‫שוא‬.

Hiobs „Zeichen“ in seinen literarischen Kontexten    

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Pendants zum als genuin israelitisch angesehenen Sabbatgebot (Dtn 5,12–15) ist typisch für (spät-) weisheitlich geprägte Unschuldsbekenntnisse. So findet sich in den mit Hi 31 vergleichbaren „Konfessionen“ in Ps 15; 24; 26; 101; 119,101 f; Jes 33,14–16; Mi 6,6–8 oder TestIss 4 und TestBen 6 ebenso wenig eine Thematisierung des Sabbats wie in der so stark an der Torah orientierten Ethik des Sirachbuches62. Die Spitze der am Dekalog orientierten Unschuldserklärung bildet Hiobs Berufung auf das „Zeichen“ der Zugehörigkeit zu Jhwh mit der von Gott selbst versehenen Schrift (V. 35–37). Hiobs „Zeichen“ ist nichts anderes als eine Chiffre für das von Gott selbst verfasste Buch, die Torah. Es steht stellvertretend für Hiobs Bekenntnis zur Alleinverehrung von Jhwh und kann damit als Pendant zum ersten Gebot (Dtn 5,6 f) verstanden werden. Der konsequente Verzicht auf den Gebrauch des Jhwh-Namens in den Reden der Dichtung liegt auf dieser Linie.63 Doch nicht nur in Hi 31,35–37 bekennt sich Hiob in Anlehnung an die zentralen Texte der frühen Phylakterien zu dem einzigen Gott, sondern auch in 31,15 legt der Dichter dem leidenden Gerechten die aus Dtn 6,4 bekannte Gottesbezeichnung ‫„( אחד‬der Einzige“) im Kontext einer schöpfungstheologischen Begründung der Ethik in den Mund und lässt Hiob so als Zeugen des Schema­ Israel erscheinen.64 Gleichfalls zeigt die nächste Parallele zur Verwendung göttlicher Epitheta in Jes 44,6, dass Hiob auch in Hi 19,25 ein kräftiges Bekenntnis zu Jhwh, dem einzigen Gott ablegt (vgl. Jes 63,16). Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die erste Gottesbezeichnung in der ursprünglichen Eröffnung des Unschuldsbekenntnisses ( V. 4)65: ‫„ הוא‬Er“ (vgl. Dtn 32,6).66 Genau zu diesem Gott, 62 Siehe zu dieser Kaiser, Sittlichkeit, 110–121; Ders., Furcht, 2002, 39–75; 45 f. 63 Lediglich in Hi 12,9 wird in der Mehrzahl der hebräischen Handschriften das Tetragramm innerhalb einer Rede in einer geprägten Wendung (vgl. Jes  41,20) verwendet. Hier handelt es sich aber um die Ergänzung eines Verfassers, der vom Konzept des Hiobdichters abweicht. 64 Vgl. auch Hi 23,13: ‫הוא באחד‬, wobei das einleitende Beth als Beth-Essentiae zu deuten ist (Ceresko, Job, 130 f, und Witte, Notizen, 74 f); zur Gottesbezeichnung ‫ אחד‬siehe weiterhin Sach 14,9 sowie zur Sache Witte, Ethos der Barmherzigkeit, 231–232; Ders., Glaube, 251. 65 Bei Hi 31,1–3 dürfte es sich wie bei V. 38–40 um eine sekundäre Rahmung des Unschuldsbekenntnisses handeln (Witte, Vom Leiden, 184). 66 Zwischen Dtn 32 und einzelnen, allerdings wohl sekundären Abschnitten von Hi 31 bestehen weitere enge begriffliche und motivische Überschneidungen: Vgl. die das Moselied eröffnende Anrede der Erde (Dtn 32,1) mit dem abschließenden Bekenntnis Hiobs, er habe sich an dem Ackerboden nicht vergangen (31,38–40a). In beiden Fällen kann die Anrufung bzw. die Thematisierung der Erde vor dem rechtlichen Hintergrund der Zeugenschaft der Erde verstanden werden (vgl. z. B. Gen 4,10; Dtn 31,28; Jes 1,2; Mi 6,2; Ps 50,4 oder auch griechische Rechtstexte wie den „Eid von Plataiai“ (479 v. Chr., [in: Brodersen/Günther/Schmitt, Inschriften, I, 22–24; 23 Z. 19]); siehe weiterhin das Dtn 32,22 und Hi 31,12 gemeinsame Motiv vom verzehrenden (Gottes-)Feuer sowie die Dtn 32,31 und Hi 31,11.28 gemeinsame Verwendung des seltenen Begriffs (‫פלילי)ם‬, der darüber hinaus nur noch einmal in Ex 21,22 begegnet. Interessanterweise findet sich mit dem Phylakterionfragment 4Q141 (Textreste zu Dtn 32,14–20.32 f) auch ein Beleg dafür, dass Dtn 32 (zumindest teilweise) als Bestandteil der frühen Tefillin verwendet

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Hiobs „Zeichen“ – Anmerkungen zu Hiob 31,35–37

den Mose als Schöpfer und Vater (‫ )אב‬Israels besingt (Dtn 1,31; 32,6; vgl. erneut Jes 63,16), bekennt sich hier Hiob, der auf der Suche nach eben diesem göttlichen Vater ist, damit er nicht letztlich den Tod seinen „Vater“ nennen muss (Hi 17,14). Weitere Parallelen zwischen Hi 31 und den Texten, welche die aus Qumran bekannten Phylakterien enthalten, bestätigen die vorgeschlagene Deutung von Hiobs „Zeichen“ als einer (Vor-)Form der Tefillin. Die Reflexion einer Gottesbegegnung rahmt den Dekalog in Dtn 5 (vgl. V. 4 und V. 22). Hi 31,35–37 thematisiert ein solches Zusammentreffen mit Gott, wobei der Dichter entsprechend Dtn  5,27 das Verb ‫„( קרב‬sich jemandem nahen“, Hi 31,37) gebraucht.67 Weiterhin verkündet Hiob, er wolle Gott seine moralische und religiöse Integrität mitteilen (‫נגד‬, Hi 31,37): Dieser vom Menschen zu Gott verlaufenden Kommunikationslinie steht die von Gott zum Menschen gerichtete Rede gegenüber, wenn Dtn 5,5 davon berichtet, wie Gott mittels Mose seine Worte Israel mitteilte (‫)נגד‬. Der in Dtn 5,32 f geforderte Lebenswandel (‫דרך‬, ‫)הלך‬ des Frommen ist genau der Gegenstand von Hi 31 (vgl. die Weg-Metaphorik in V. 4 f und V. 37, in Hi 13,15 sowie in 23,10–12, einer Prolepse und einer Kurzfassung der Integritätserklärung in Kap.  31). Ziel des gerechten Lebens ist in Dtn  5,33 erfülltes Leben: Die Suche nach einem solchen zieht sich nicht nur durch Hi 31, sondern durch die gesamte Hiobdichtung.68 In der das Buch beschließenden (aus der ursprünglich selbständigen Hiobnovelle69 stammenden) Prosanotiz in Hi 42,16 f findet sie  – in Entsprechung zu Dtn  5,16.29.33; 6,2  – ausdrücklich ihr Ziel. Dtn 10,17–19a (vgl. 1Q13 Frgm. 20; 4Q128; 4Q138; 8Q03 Group III) verweist auf Gott als den Garanten des Rechts der Armen. Im Zentrum der theologischen Begründung der Sozialethik von Hi 31 steht genau dieses Theologumenon (Hi 31,14). In Dtn 11,16 (vgl. 4Q128; 4Q130; 4Q131 Frgm. 1; 4Q136; 8Q03 Group I) wird in einer für das Deuteronomium singulären Formulierung Israel vor dem Abfall von Jhwh gewarnt (‫)פתה לב‬. In Hi 31,27 bekennt Hiob mit denselben Worten, er habe sich (‫ )לב‬nicht zum Götzendienst verleiten lassen (‫)פתה‬. Hiobs Bekenntnis zu seiner Treue gegenüber Gott und der Torah gipfelt in der Selbstbezeichnung als ‫( נגיד‬Hi 31,37b). Vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen kultisch-rituellen Identifikation von Hiobs als Kranz/Krone getragenem wurde. Vgl. schließlich auch die Verwendung der Gottesbezeichnung ‫אלוה‬, die im Hiobbuch 41mal erscheint und in der Torah nur in Dtn 32,15.17. Siehe dazu auch Greenstein, Use of Deuteronomy 32, 66–78. 67 Mit der Mehrzahl der Ausleger ist ‫ ֲא ָק ֲרֶבנּוּ‬intransitiv zu verstehen. Zu einem kausativen Verständnis im Sinn einer Vorladung Gottes siehe Budde, Hiob, 195, der auf Ps 65,5 verweist. Doch bietet sich auch für ‫ וְּתָק ֵרב‬Ps 65,5 eine intransitive Übersetzung im Sinne eines sich intensiven Nahens Gottes an (vgl. Dtn 4,7; Ps 69,19; 85,10; 145,18; Jes 50,8; Klgl 3,57), so dass Hi 31,37 geradezu als anthropologische Kehrseite zu Ps 65,5 erscheint (vgl. auch Ps 65,3 als Parallele zu Hi 31,35). 68 Hi 3,20; 7,16; 14,14; 19,25–27; 21,7. 69 Siehe S. 71 Anm. 21.

Hiobs „Zeichen“ in seinen literarischen Kontexten    

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„Zeichen“ ist diese Titulierung sicher weder nur aus stilistischen Gründen (vgl. V. 37a: ‫ )אגידנו‬noch in einem unspezifischen Sinn von „Vornehmer“ (vgl. Hi 29,10; Spr 8,6; 28,16)70 gebraucht. Nun steht die Bezeichnung ‫ נגיד‬in der Mehrzahl ihrer Belege für die von Jhwh bestellten Könige Israels, zumeist für David.71 Dem Duktus des Unschuldsbekenntnisses in Kap. 31 mit der Berufung Hiobs auf die zeichenhaft am Körper getragene „Schrift Gottes“ folgend, bedeutet die Verwendung des Titels ‫ נגיד‬dann, dass sich Hiob mittels seiner Torahtreue in königlichen Stand versetzt sieht. Es ist die Torah, die Hiob als Erben Davids erscheinen und die ihn wie ein König Gott gegenübertreten lässt. Hi 31,36 f stellt damit einerseits einen Verwandten der Sentenz in Sir 11,1 (HA) dar, die nach einer im Jeru­salemer Talmud (jBer VII,2) überlieferten Variante dem Weisen zusagt, unter „Fürsten“ (‫ )נגידים‬zu thronen.72 Andererseits bietet Hi 31,36 f einen Vorläufer des Ausspruchs Rabbi Simons in den Sprüchen der Väter (mAv IV,17): „Drei Kronen (‫ )כתרים‬gibt es: die Krone der Thora, die Krone des Priestertums und die Krone des Königtums; doch die Krone des guten Namens überragt sie.“73 Unter den Texten, in denen im eigentlichen Sinn ein König Israels als ‫ נגיד‬bezeichnet wird, bietet 2Kön 20,1–5 (par. Jes 38,1–5) die nächste Parallele: Der vom Tod gezeichnete Hiskia (2Kön 20,1, vgl. Hi 7,5–6.; 19,20; 30,19) betet (2Kön 20,2, vgl. Hi 31,35a), legt ein Unschuldsbekenntnis ab, das dem deuteronomistischen Königsideal entspricht (2Kön 20,3, vgl. Hi 31,4; Ps 26)74 und erhält seitens des Propheten Jesaja das Orakel, als Nachkomme des exemplarischen ‫ נגיד‬David von Jhwh erhört, geheilt und mit neuem Leben beschenkt zu werden (2Kön 20,5) – genau darauf aber zielen Hiobs Unschuldsbekenntnis und Gebet in Kap. 31. Dem angekündigten Orakel entspricht die Gottesrede (Hi 38,1), der zugesagten Heilung steht die Restitution Hiobs gegenüber (42,10–16).

In einem nächsten Schritt soll nun der Frage nachgegangen werden, wie sich die Gleichsetzung des „Zeichens“ Hiobs aus Hi 31,35 mit einem Amulett, das Worte der Torah enthält, in das kompositionelle Gefälle der Hiobdichtung75 fügt. 70 Eine Ausnahme bildet der Vorschlag von Fuchs, Mythos, 165, die in Hi 31,36 f (wie in 19,9 und 29,14) ein Beispiel für urmenschliche und königliche Motivik in der Gestaltung der Hiobfigur sieht und die Passage als „radikalste Form“ von Hiobs Hybris und Titanismus versteht. 71 1Sam 13,14; 25,30; 2Sam 5,2 (par. 1Chr 11,2); 6,21; 7,8 (par. 1Chr 17,7); Jes 55,4; 1Chr 5,2; 4Q504 Frgm. 1 IV,6 f; 11QPsa 28,11. 72 Vgl. dazu Vattioni, Ecclesiastico, 55, sowie zum Motiv der Herrschaft der Gerechten bzw. der Weisen Hi 36,7; Jes 60,21; Ps 37,9.22.29; SapSal 3,8; 5,16; SibOr III,767–771; 1Hen 5,7; 96,1; 108,12; 4Q525 Frgm. 3 II,9 f. 73 Übersetzung von Bamberger, ‫פרקי אבות‬, 77 f; vgl. weiterhin bJoma 72b (die Torah dient dem Verdienstvollen als Kranz [‫ ]זר‬und versetzt ihn in königlichen Rang) sowie die spätere Vorstellung von den drei Kronen in TestAbr B 10,8 (Janssen, in: JSHRZ III/2, 232) u.ö. 74 Vgl. dazu Würthwein, Könige, ATD 11/2, 434. 75 Zur ursprünglichen Dichtung rechne ich den Grundbestand von Hi  3,2–24,12; 27,1–6; 29,2–31,37*; 38,1–39,30*. Alles weitere geht, ebenso wie die Verknüpfung mit der Grundschicht

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Hiobs „Zeichen“ – Anmerkungen zu Hiob 31,35–37

5. Hiobs „Zeichen“ und die Torah Die Vernetzung von Hi 31,35–37 mit der Hiobdichtung erschließt sich bei einem Blick auf die mit ‫ מי־יתן‬eingeleiteten Wünsche Hiobs. So führt eine Linie vom Wunsch Hiobs, man möge ihm neue Hoffnung schenken (Hi 6,8) über die Wünsche einer gottgeschenkten Auszeit im Leid (14,13), der Verschriftung seiner Worte (19,23), der direkten Begegnung mit Gott (23,3) und der Wiederherstellung der früheren Lebenssituation (29,2) zum abschließenden Wunsch, endgültig bei Gott Gehör (‫ )שמע‬und Antwort (‫ )ענה‬zu finden (31,35). Wie die Verwendung des Wortpaares ‫שמע‬ – ‫ ענה‬in den Psalmen zeigt,76 zielt Hiob damit auf die Erhörung seiner Schreie zu Gott (vgl. Ps 65,3). In Hi 5,8 und 8,5 raten die Freunde Hiob explizit, sich im Gebet an Gott zu wenden – was dieser fortwährend tut,77 obgleich sich bei ihm angesichts des Anhaltens seines Leidens die Befürchtung durchsetzt, Gott erhöre kein Gebet: Aus der Stadt, da stöhnen Sterbende, und die Seele der Durchbohrten ruft um Hilfe. Aber Gott achtet nicht auf das Bitten.78 (Hi 24,12) Ich rufe (fortwährend) zu dir um Hilfe, aber du antwortest mir nicht. Ich stehe vor dir, damit du mich genau beachtest. (Hi 30,20)

Aber letztlich fürchtet sich Hiob doch nicht vor der Dunkelheit (‫)אפל‬, wie sie Jhwh am Gottesberg umgab (Hi  23,17 versus Dtn  4,11; Sir 45,5 [HB]). In Hi 31,35–37 gibt Hiob noch ein letztes Mal seiner Hoffnung Ausdruck, Gott, der gegen ihn streitet, würde ihn erhören und ihm antworten.79 Als letztes Mittel, Gott zum Reden zu bringen, dient ihm der Hinweis auf sein „Zeichen“, auf sein Phylakterion. Sein „Zeichen“, seine Bewahrung der Torah, muss Gott endlich dazu bewegen, wie einst am Gottesberg, seine Herrlichkeit zu zeigen und Hiob nicht nur am Leben zu lassen, sondern ihm neues Leben zu schenken (Dtn 5,24). Vor diesem Hintergrund erscheint die Mahnung des Eliphas, Hiob möge aus Gottes Mund Weisung (‫ )תורה‬annehmen und Gottes Worte in sein Herz legen (Hi  22,22), nicht mehr als unspezifischer, weisheitlicher Rat. Es ist der in den der Hiobnovelle auf spätere Redaktionen zurück; vgl. dazu prinzipiell Witte, Vom Leiden, ­190–192; Kaiser, Grundriß, III, 73–82, sowie mit Modifikationen Syring, Hiob, 168; s. o. S. 71 Anm. 21. 76 Ps 4,2; 27,7; 102,2 f; 119,26.145+149; 143,1. 77 Hi 7,7–21; 10,9–22; 13,24–27; 17,1–3; 30,20–23. 78 Anstelle von ‫„( ִתְּפָּלה‬Anstoß“/„Empörendes“/„Widersinn“, vgl. Hi  1,22) lies ‫ְתִּפיָלּה‬, vgl. dazu Witte, Notizen, 97. 79 Hi 9,35–10,2; 16,19–21; 19,23–25.

Hiobs „Zeichen“ und die Torah    

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Augen des Eliphas ultimative Versuch, Hiob noch auf die Spur der Torah zu bringen (vgl. Dtn 6,6). Damit kehrt Eliphas letztlich, jetzt aber ausdrücklich zu seinem in Hi 5,17 artikulierten Makarismus zurück. Die nächsten Parallelen zu Hi 5,17 in Ps 94,12 und Spr 3,11 f, aber auch zu Ps 1, zeigen als Quelle der Erziehung Gottes die Torah (Ps 94,12): Ohne dass in Hi 5,17 der Begriff der Torah fällt, ruft Eliphas Hiob auf, aus der Torah zu lernen (vgl. Ps 1,2; Dtn 4,29–40).80 Damit spielt Eliphas neben der Rolle des Weisen, des Propheten und des Priesters auch die des Lehrers der Torah. Die Ausmalungen einer heilvollen Zukunft, die Eliphas in seiner ersten und seiner letzten Rede Hiob vor Augen stellt (Hi 5,19–26; 22,26– 30), entsprechen den Heilsankündigungen in der Torah (Dtn 28,3–8). Doch Hiob ist längst auf diesem Weg. Er hat den von Gott (in der Torah) vorgegebenen Weg bewahrt (‫)שמר‬.81 Er ist von den Geboten (‫)מצות‬82 nicht abgewichen, hat die Worte von „Gottes Lippen“ in seinem Innern (Hi 23,12, vgl. Dtn 30,14; Ps 37,31)83, bewegt (‫ )הגה‬die Worte der Torah in seinem Mund (Hi 27,4)84 und legt diese um seinen Hals. So hat Hiob mit seinem Unschuldsbekenntnis in Kap. 31 nicht nur die gegen ihn gerichteten Anklagen der letzten Freundesrede (Hi  22,6–9) abgewiesen und damit die Voraussetzung für eine erfolgreiche Erhöhrung seines Gebets (Hi  22,27) geschaffen, sondern er tritt betend mit der Torah an der Stirn Gott gegenüber, in der Erwartung, über ihm werde wieder, wie es Eliphas (Hi 22,28) und die Torah verheißen (Num 6,24–26), Gottes Licht erstrahlen (vgl. Hi 29,2 f). Der von Gott so schwer Gezeichnete (Hi 13,26 f) wirft das „Zeichen“ seiner Gottestreue in die Waagschale des erhofften gerechten Gerichts (Hi 31,6). Seines Kranzes als Ausweis seiner Würde von Gott beraubt (Hi 19,9),85 ist ihm sein „Zeichen“ als Kranz geblieben (Hi 31,36), der ihn zum Gott entsprechenden (‫ ) ֶנ ֶגד‬königlichen Gegenüber (‫ ) ָנ ִגיד‬macht (Hi  31,37). Steht eine Verschriftung der Worte Hiobs in den Felsen noch aus (Hi 19,23),86 so trägt er das gleichsam in Stein gehauene Wort Gottes (Dtn 5,22; 9,10; 10,1–5) nun bei sich, wenn er Gott im Bewusstsein seiner Torahtreue und im Gebet gegenübertritt, um Segen zu erhalten. 80 Vgl. Hi 5,18 mit Dtn 32,39. 81 Hi 23,11, vgl. Dtn 30,16 und weiterhin Dtn 5,10; 8,2.11; 28,9.45; 30,10. 82 Hi 23,12; ‫ מצוה‬ist ein Zentralbegriff deuteronomisch-deuteronomistischer Theologie und erscheint allein 46mal im Dtn; vgl. u. a. im Blick auf Hi 23,11 f; Dtn 4,2.40; 6,17; 28,1. 83 Anstelle von ‫„( ֵמֻחִקּי‬mehr als mein [eigenes] Gesetz“) lies ‫( ְבֵּחִקי‬vgl. Witte, Notizen, 74). 84 Vgl. dazu in positiver Formulierung Ps 1,2. Wird der Begriff ‫ תורה‬in Hi 22,27 weisheitlich verstanden, sollte Hiob nicht als Gerechter im Sinne „der“ Torah bezeichnet werden (so aber Strauss, Hiob, 184; 234 und S. 67). Zur Kontrastierung von ‫ רמיה‬und ‫ תורה‬in Hi 27,4 vgl. 1QS VIII,22. 85 Als Gegenüber dazu siehe auch Hi 29,14.20 und Hi 40,9 f sowie als Kontrast Ps 8,6, den der Hiobdichter in Hi 7,17 pervertiert (siehe dazu Kynes, My Psalm, 63–79), und Ps 103,4. 86 In rezeptionsästhetischer Perspektive mag dann eine Realisierung des Wunsches nach Verschriftung in der literarischen Existenz des Buches Hiob gesehen werden (Ebach, Schrift, 105).

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Hiobs „Zeichen“ – Anmerkungen zu Hiob 31,35–37

In der ursprünglichen Dichtung folgt als unmittelbare Reaktion auf den letzten Wunsch Hiobs die Jhwh-Rede aus dem Wettersturm. Hiobs „Zeichen“ zeigt Wirkung: Gott antwortet (‫ענה‬, Hi 38,1, vgl. 31,35b) dem Mann Hiob (‫גבר‬, vgl. 3,3.23; 16,21) – endlich. Hiobs Suche nach Gott in Raum und Zeit (Hi 23,8 f) kommt zum Ziel. Der, dem Hiob sich im Stand des mit der Torah Gekrönten nähern will (‫קרב‬, Hi 31,37), kommt selbst nahe (Hi 38,1)87. Doch Gott, dem Hiob seine Integrität, sein eigenes Wesen, mitteilen will (‫נגד‬, Hi  31,37), fordert anstelle dessen (ironisch) Mitteilung (‫ )נגד‬über die Schöpfung und damit über sein Wesen (Hi 38,4.18). Gott kennt Hiob, wie es der Dichter seinen Helden selbst sagen lässt (Hi 23,10)88 und wie es der jüngere Verfasser der das Buch einleitenden Himmelsszenen Jhwh in den Mund legt (Hi 1,8) – doch kennt Hiob wirklich Gott? Er lernt ihn tiefer kennen – im Verlauf der Gottesrede, an deren Ende Hiob in der ursprünglichen Gestalt der Dichtung verstummt bzw. in deren erweiterten Fassung ein Bearbeiter Hiob schließlich sagen lässt, er habe vor Gott ohne Einsicht Mitteilungen gemacht (‫נגד‬, Hi 42,3). In dem der Dichtung später zugewachsenen Prosaepilog wird Hiob ausdrück­ lich den in seinem Schlussappell an Gott beanspruchten Segen erhalten (Hi 42,12) – nachdem er, wie ein Bearbeiter eingefügt hat, für seine Freunde gebetet hat (Hi  42,10). Die aus Hi  31,35–37 ablesbare und mit Sprachformen und Motiven aus dem Recht, den Psalmen und der Torah gestaltete Einforderung des Segens wird in der Gottesrede bzw. den Gottesreden abgewiesen: Auch der Torahfromme braucht stets göttliche Unterweisung. Gleichwohl schenkt Gott, wie der Epilog vermerkt, in seiner Freiheit Leben. Die Interpretation des „Zeichens“ Hiobs in 31,35 als materialen Ausdruck seiner absoluten Zugehörigkeit zu Gott, als Bekenntnis seiner absoluten Torahtreue und als ein letzter Versuch, Gott mit dessen eigenen Worten zur Erhörung des Gebets und Verleihung des Segens zu bewegen, passt, wie unser skizzenhafter Durchgang gezeigt haben mag, sehr gut in das kompositionelle und inhaltliche Gefälle der Hiobdichtung. Abschließend soll auf die mit dieser Deutung verbundene Profilierung der Hiobfigur geblickt werden.

6. Hiob als „Zeichen“ Für den Leser, der von Hi 1,1–3 herkommt, erscheint Hiob – unabhängig davon, ob er das Land Uz nun im Bereich des südlichen Ostjordanlandes, in Edom, im nördlichen Ostjordanland, dem Hauran oder dem Safa-Gebiet, oder im Bereich 87 Wie Ez 1,4 und Nah 1,3 zeigen, deutet der Hiob-Dichter mit dem Begriff ‫סערה‬/‫ שׂערה‬eine Theophanie an. Dass Hiob Gott nicht nur gehört, sondern auch gesehen habe, vermerkt dann auch ausdrücklich ein späterer Bearbeiter in Hi 42,5 f (vgl. dazu Witte, Vom Leiden, 175–178). 88 Vgl. auch Hi 10,9–12; 14,5.15 f.

Hiob als „Zeichen“    

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der mythischen Vorzeit sucht89 – als Nichtisraelit. Das in der Rahmenerzählung vorausgesetzte Milieu entspricht dem der Erzählungen der Erzväter. Schließlich verweist die Trias der urzeitlichen Gerechten in Ez 14,14.20 (Noah, Daniel, Hiob) auf eine Verortung in vormosaischer Zeit auf außerisraelitischem Boden. So mag auf den ersten Blick das Bild eines Tefillin tragenden und sich auf die Torah berufenden Hiob befremden. Doch abgesehen davon, dass allein die Grundschicht der sekundär um die Dichtung gelegten Rahmenerzählung Hiob unter die „Söhne des Osten“ (‫בני קדם‬, Hi 1,3) rechnet,90 während die auf die Dichtung hin geschriebenen Zusätze bereits Hiob als „Jhwh-Knecht “ (Hi  1,8; 2,3; 42,7 f)91 bezeichnen und sich Hiob ausdrücklich zu Jhwh bekennen lassen (Hi  1,21), sei hier nur an andere prominente alttestamentliche „Anachronismen“ wie die Anrufung von Jhwh durch Enosch (Gen 4,26), die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren bei der Bestückung der Arche (Gen 7,2.8), die Integration des Jerusalemer Hohenpriesters in die Geschichte Abrahams (Gen 14,18–22) oder die Stilisierung Abrahams als Lehrer der Torah (Gen 18,19) erinnert. Die Liste ließe sich leicht verlängern. Dabei sei gleichfalls darauf hingewiesen, dass diese „Anachronismen“ jeweils spezifische theologische Funktionen erfüllen und durchweg auf teilweise sehr späte Fortschreibungen zurückgehen. Dass Hiob zumindest in die Vorgeschichte des Gottesvolkes gehört, steht dann bereits für den Epilogisten der Hiob-Septuaginta fest, der Hiob (Ιωβ) aufgrund der Gleichsetzung mit Jobab (Ιωβαβ) in die Familie Esaus einreiht: 17bα […] Er wohnte in dem Land Ausitis an den Grenzen Idumäas und Arabiens, früher aber hatte er den Namen Jobab. 17cα Nachdem er aber eine arabische Frau genommen hatte, zeugte er einen Sohn, mit Namen Ennon, er selbst aber hatte als Vater den Zare, einen Sohn der Söhne Esaus, und als Mutter Bosorra, so dass er der fünfte von Abraham an war. (HiLXX 42,17)92 89 Zum edomitisch-nordarabischen Uz vgl. Gen 36,28; Jer 25,20; Klgl 4,21, zum aramäischen Uz vgl. Gen 10,23; 22,21; Josephus, ant. I 145. und zur ausführlichen Diskussion der geographischen Verortung von Uz siehe Lévêque, Job, Bd. 1, 87–90; zur mythischen Interpretation siehe Witte, Mensch, in diesem Band S. 65–80. 90 Zur Ambivalenz des Ausdrucks ‫ בני קדם‬s. o. Witte, Mensch, in diesem Band S. 69. Zur Grundschicht der ehemals selbständigen Hiobnovelle rechne ich Hi 1,1–3a.5a*(ohne ‫)כי…בלבבם‬. b.13–21; 42,11aα.b.12–17; zu einer weitergehenden literarkritischen Differenzierung siehe Syring, Hiob, 151–168. Vom Bild des (sekundären) Prologs ausgehend, verortet der Nachtrag der Septuaginta (s. u. S. 141; 149 f; 154 sowie S. 165–170) Hiob eindeutig in geographischem Verständnis außerhalb des Heiligen Landes. Im Testament Hiobs ist er ein edomitischer Proselyt (TestHiob 1,5 f; 2,1; 5,2), und im babylonischen Talmud (bBB 15a–b)  wird dann ausführlich darüber diskutiert, ob Hiob Israelit war (vgl. auch BerR 57,4; 80,4). 91 Siehe dazu Rohde, Knecht, 50–56. 92 Vgl. AristEx (nach Euseb, praep. 9,25,1–4 [Denis, Fragmenta, 195 f]). Zu diesem Epilog siehe Witte, Hiobs Sohn, in diesem Band S. 165–170; und zur Parallelisierung Hiobs und

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Hiobs „Zeichen“ – Anmerkungen zu Hiob 31,35–37

Ein ähnlicher früher Versuch der Verortung Hiobs in die (Vor-)Geschichte Israels stellen die Erwähnung Hiobs, des Propheten, im „Lob der Väter“ Ben Siras (Sir 49,9 [HB])93 oder die spätantike jüdische Identifikation der Frau Hiobs mit Dina, der Tochter Jakobs, dar (vgl. Gen 34).94 Ob bei dieser Verknüpfung auch die intertextuelle Parallelität zwischen Hiob, der, von Gott gezeichnet, um den Segen kämpft und dessen Auge Gott schaut (Hi 42,5), und dem am Jabbok um den Segen ringenden, gleichfalls von Gott gezeichneten und Gott sehenden Jakob (vgl. Gen 32,25–31), im Hintergrund steht? Im Blick auf die hier vorgeschlagene Interpretation des „Zeichens“ Hiobs als einer frühen Form eines Phylakterions erscheint schließlich die Kennzeichnung der wunderwirkenden Gürtel (χορδή) bzw. Bänder (σπάρτη), die Hiob gemäß TestHiob 47,11 vor seinem Tod seinen Töchtern überreicht, als φυλακτήριον instruktiv.95 So werden diese „Gürtel“ auch als „Zeichen“ (σημεῖον) betitelt, und mit ihnen umgürtet stimmen die Töchter Hiobs die Loblieder des (himmlischen) Vaters an (ὕμνοι τοῦ πατρός, TestHiob 52,12) an. Auch wenn die Paraphrase von Hi 31,35–37 in dem aus dem 1./2. Jh. n. Chr. stammenden TestHiob auf der Septuaginta, die nichts von Hiobs „Zeichen“ weiß,96 beruht, so zeigt diese Auslegung und Fortschreibung des Hiobbuches doch die Möglichkeit einer Verbindung zwischen Hiob und einem letztlich von Gott selbst gegebenen Amulett und bestätigt damit – zumindest indirekt – unsere Deutung. In Abwandlung des eingangs zitierten Diktums von Wellhausen mag nun abschließend formuliert werden: Hi 31 ist besonders interessant durch das, was versteckt darin vorkommt, nämlich die sich hinter dem „Zeichen (‫ )תו‬Hiobs“ verbergende Anspielung auf die nach Ex  13,9; Dtn  6,8 f und Dtn  11,18 Mose als „Zeichen“ (‫ )אות‬des Bekenntnisses und der Erinnerung an Jhwh gegebene Torah. Abrahams in der Haggada: Kohler, Testament of Job; 267–292, sowie Witte, Hiob und die Väter, in diesem Band S. 171–189. 93 Die Erwähnung Hiobs in Sir 49,9 findet sich nur in der hebräischen Handschrift B und in der syrischen Version. Die Kennzeichnung als ‫ נביא‬ist zwar textkritisch umstritten, insofern in der hebräischen Handschrift B nach der Ausgabe von Beentjes, The Book of Ben Sira in Hebrew, nur die Buchstaben lesbar ‫[יא‬.]‫ נ‬sind, das Kolon am Ende fragmentarisch ist und die syr. Version kein Äquivalent zu ‫ נביא‬bietet. Angesichts der Qualifikation Hiobs als Prophet in bBB 15a und in Sure 4,161 sowie der Auflistung Hiobs unter den Propheten in der syr. Version der Vitae Prophetarum (Text bei Nestle, Syrische Grammatik, 105 f, Z. 385–402) ist die Lesart ‫ איוב נביא‬sachlich nicht ausgeschlossen. In der rekonstruierten hebräischen Fassung von Sir 49,9 erscheint Hiob dann gemäß Ps 112,5 als vorbildlich Gerechter: ‫וגם הזכיר את איוב נביא המכלכל כל ד]בר בצ[דק‬ (zur Rekonstruktion siehe Segal, ‫ספר‬, 336–339, der selbst aber ‫ נביא‬für nicht ursprünglich hält, und ausführlich Witte, Hiob unter den Propheten, 23–37). 94 Vgl. TgHi 2,9; Ps-Philo, LibAnt 8,8; bBB 15b; BerR 57,4; 80,4 u.ö. in der rabbinischen Literatur, sieh dazu ausführlich Witte, Hiob und seine Frau, in diesem Band S. 133–164. 95 Zur Deutung dieser Gürtel als Tefillin siehe Kohler, Testament of Job, 289–291, und Rah­nenführer, Testament Hiobs, 68–93; 89 f. Gegen diese Deutung hat sich, nach meiner Einschätzung zu Unrecht, Schaller, in: JSHRZ III, 368, ausgesprochen. 96 S. o. S. 103 Anm. 17.

Hiob als „Zeichen“    

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Mit dieser teilt das Buch Hiob mehr, als es auf den ersten Blick scheint und es in unserem kleinen Beitrag angedeutet werden konnte.97 Die Stimmen des Talmudabschnitts bBB 14b, die das Buch Hiob auf Mose zurückführten, und die Väter der Peschitta, die es nach dem Pentateuch anordneten, scheinen das gespürt zu haben: Diese zwei Beispiele eines wahren Gottesknechts (‫ )עבד יהוה‬und Gottesmanns (ἄνθρωπος τοῦ θεοῦ)98 – Hiob, der in doppeltem Sinn von Gott Gezeichnete (Hi 13,26; 31,35) und

Mose, mit dem Gott von Angesicht zu Angesicht redete (Ex 33,11; 24,10); Hiob, der Unvergleichliche auf Erden (Hi 1,8) und Mose, der Demütigste aller Menschen (Num 12,3); Hiob, der für seine Freunde betet (Hi 42,8), und Mose, der Fürbitter Israels (Dtn 9,20) –

gehören eng zusammen. Hiob und Mose: Sie sind zwei „Zeichen“ für „Gott und Mensch im Dialog“99.

97 Eine systematische literatur- und theologiegeschichtliche Analyse des Hiobbuches im Blick auf seine Auseinandersetzung mit der Torah steht noch aus; vgl. dazu knapp Knauf/ Guillaume, Job, 509, sowie den folgenden Beitrag in diesem Band, S. 121–132. 98 Vgl. Hi 1,8 und Num 12,7; Dtn 34,5 bzw. TestHiob 53,4 und DtnLXX 33,1. 99 So lautet der Titel der Festschrift für Otto Kaiser (2004), in der dieser Beitrag zuerst erschienen ist.

Die Torah in den Augen Hiobs

Die in dem vorangegangenen Beitrag vorgestellte Interpretation des „Zeichens“ Hiobs als einer Anspielung auf die Torah wird in den folgenden Zeilen aufgenommen, in einem weiteren forschungsgeschichtlichen Kontext verortet und hinsichtlich ihrer Bedeutung für ein literatur- und theologiegeschichtliches Gesamtverständnis des Hiobbuches skizziert. Leitend ist dabei eine bereits von Martin Noth (1940) angestellte Beobachtung: Im Hiobbuche sind es die Reden der Freunde Hiobs, in denen der Hiobdichter, der selbst in den Worten Hiobs von seiner eigenen Lebens- und Glaubenserfahrung aus die Richtigkeit der doppelten Vergeltungslehre bestreitet, die zu seiner Zeit landläufige Auffassung zu Worte kommen läßt. Wenn in diesen Reden auch nicht ausdrücklich auf das Gesetz Bezug genommen wird, so sind doch hier die Begriffe ‚gerecht‘ und ‚ungerecht‘ zweifellos am Gesetz orientiert. Diese Orientierung war für die späte Zeit so selbstverständlich, daß es einer ausdrücklichen Erwähnung ‚des Gesetzes‘ zur Erklärung der Worte ‚gerecht‘ und ‚ungerecht‘ nicht mehr bedurfte.1

1. Weisheit und Torah Spätestens seit den Untersuchungen der Poesie des Alten Testaments durch Robert Lowth (1753) und Johann Gottfried Herder (1782/83) steht fest, dass das Buch Hiob eine eigentümliche Mischung von Gattungen der Psalmen, der Weisheit und des Rechts, vereinzelt auch der Prophetie des antiken Israel und Juda, darstellt. Dass es sich dabei um eine bewusste literarische Kombination, mitunter auch um eine gezielte Transformation vorgegebener Gattungen handelt, haben vor allem Georg Fohrer (1963), John E. Hartley (1988) und Katherine J. Dell (1991) gezeigt.2 In neuerer Zeit wurde im Rahmen innerbiblischer Schriftauslegung und intertextueller Zugänge verstärkt nicht nur auf Gattungen hingewiesen, sondern auch auf konkrete biblische Texte, welche die Verfasser des Buches Hiob aus den Psalmen, der Weisheit und der Prophetie aufgenommen und damit kritisch fortgeschrieben haben.3 Angesichts einer solchen Mischung von Gattungen und Texten, die nicht nur eine kompositionsgeschichtliche Dimension aufweist, sondern auch ein Beispiel für eine gezielte literarische und theologische 1 Noth, Gesetze, 9–141, besonders 135. 2 Vgl. Witte, Gattung, in diesem Band S. 37–64. 3 Fishbane, Book of Job, 86–92; 240 f; Mettinger, Intertextuality, 257–280; Kynes, My Psalm; Dell/Kynes, Reading Job Intertextually.

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Auseinandersetzung darstellt, überrascht die Tatsache, dass bisher kaum untersucht wurde, ob, und wenn ja, wie und mit welchem Ziel, das Buch Hiob auf die Torah (hier exemplarisch fokussiert auf das Deuteronomium als Herz der Torah) zurückgreift. Gründe für dieses Defizit sind sicher das offensichtliche Fehlen einschlägiger Begriffe aus der Torah im Buch Hiob, das scheinbar nichtisraelitische Milieu der Rahmenerzählung sowie die zwei forschungsgeschichtlichen Paradigmen, die alttestamentliche Weisheit sei grundsätzlich ahistorisch und die Integration einer an der Torah orientierten Theologie in die Weisheitsliteratur finde sich erstmals bei Ben Sira um 180 v. Chr. in Gestalt einer Identifikation von Weisheit und Torah (Sir 24,23 [G]).4 Erst in jüngerer Zeit wurden im Rahmen intertextueller und redaktionsgeschichtlicher Studien bewusste Bezugnahmen des Buches Hiob auf die Torah nachgewiesen. Zu verweisen ist hier vor allem auf Studien von Michael Fishbane (1992), Manfred Oeming (1994/2001), David Wolfers (1995), Georg Braulik (1996), Konrad Schmid (2007) und Raik Heckl (2010). Insofern das Buch Hiob in der Zeit zwischen dem 6./5. Jh. v. Chr. und dem 4./3. Jh. v. Chr., also im Umfeld der spätesten Redaktionen der Torah, im Kreis jüdischer Weisheitslehrer als ein Dialog über die Grundfragen des Wesens Gottes und des Menschen sowie die angemessene Gestaltung der Beziehung zwischen Gott und Mensch entstanden ist und sich dabei auch mit traditionellen Heilsvorstellungen, wie sie in den Psalmen und der Spruchliteratur oder der Prophetie (vor allem aus dem Bereich von Jes 40–55) überliefert sind, auseinandersetzt, legt sich die Frage nach literarisch greifbaren sowie religionsgeschichtlich und theologisch auswertbaren Beziehungen zwischen diesem Buch und der Torah eigentlich von selbst nahe. Dass im Buch Hiob einschlägige theologische Begriffe aus der Torah, wie z. B. ‫ תורה‬selbst oder ‫ברית‬, weitgehend nicht auftauchen, spricht, wie die im vorangehenden Aufsatz genannten „Anachronismen“ in Gen  4,26; 7,2.8; 14,18–22 und 18,19,5 nicht dagegen, dass sachlich und strukturell theologische Grundlinien der Torah in diesem Buch aufscheinen. Für die spätantike und mittelalterliche jüdische und christliche Auslegung des Buches Hiob ist die neuzeitliche Dissoziierung von Weisheitsliteratur und Torah fremd. Die im babylonischen Talmud (bBB 14b) aufgestellte und auch von vielen Kirchenvätern geteilte These, Mose habe das Buch Hiob verfasst,6 die sich auch in der Peschitta in der Anordnung dieses Buches im Anschluss an den Pentateuch zeigt, spiegelt ebenso die Annahme einer literarischen und theologischen Verwandtschaft zwischen dem Buch Hiob und der Torah wider wie die zahlreichen 4 Die nötige Kurskorrektur signalisiert der von Bernd U. Schipper und D. Andrew Teeter herausgegebene Sammelband „Wisdom and Torah.“ 5 Witte, Hiobs „Zeichen“, in diesem Band S. 101–119. 6 Vgl. z. B. Leontius von Byzanz, In Job (homilia 5), Z. 86; 94, Polychronios von Apamea, Fragmenta in Job, Prolog 3 (in: Hagedorn/Hagedorn, Katenen, Bd. 4, 37 f), aber auch noch J. D. Michaelis, Einleitung (1787), 72–92.

Weisheit und Torah    

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Einspielungen der Torah im frühmittelalterlichen Targum zu Hiob.7 Natürlich stehen diese Einspielungen, die auf der Gleichsetzung der Wörter ‫„( אור‬Licht“) und ‫ תורה‬basieren (vgl. Spr 6,23),8 ebenso wie die haggadischen Eintragungen von Motiven aus der Urgeschichte,9 der Vätergeschichte10 oder der Mosegeschichte11 im Kontext einer Hermeneutik der Vollkommenheit und Selbstauslegung der Schrift. Dasselbe gilt für die rabbinische Meinung, Hiob habe zu den aus Babylon zurückgekehrten Exulanten gehört und in Tiberias ein Lehrhaus besessen (bBB 15a), oder für die von Polychronios von Apamea (gestorben um 430 n. Chr.) im Prolog seines Hiob-Kommentares mitgeteilte patristische Diskussion: Die einen sagen, unser Mann [Hiob] habe vor dem Gesetz [νόμος] gelebt, auf Grund der Genealogie am Ende des Buchs, die ihn als Fünften nach Abraham bezeichnet; andere aber, nach dem Gesetz, auf Grund seiner gesetzeskonformen Lebensführung, in welcher er — kein Israelit, so sagen sie, sondern Nachbar der Israeliten — durch gelegentliche Berichte unterwiesen war.12

Im Folgenden gehe ich nun der Frage nach, welche literarische und theologische Funktion die Bezugnahmen des Buches Hiob auf die Torah in Gestalt des Deuteronomiums insgesamt erfüllen. Methodisch kommen dabei im Wesentlichen Elemente eines traditionsgeschichtlichen und eines redaktionsgeschichtlichen Zugangs zur Anwendung. Das heißt, ich orientiere mich an den Autoren des Buches Hiob und an ihrem Gebrauch vorgegebener Texte und frage nach dem Ziel der Rezeption und Anspielung auf Deuteronomiumstexte in ihrem jeweiligen neuen Kontext des Hiobbuches. Kategorial entspricht dieser Zugang dem Modell einer innerbiblischen Exegese oder einer auslegenden Fortschreibung. Im Blick auf verschiedene Formen von intertextuellen Markierungen ist vor allem eine strukturelle Intertextualität zu berücksichtigen,13 da unmittelbare wörtliche bzw. sprachliche Beziehungen zwischen dem Buch Hiob und dem Deuteronomium nicht so offensichtlich sind. Leitfragen der folgenden Anschlussüberlegungen zum Beitrag Hiobs „Zeichen“ sind: 7 Dieses Targum ist zu unterscheiden von älteren Targumim zum Buch Hiob, deren Fragmente in Höhle 4 und in Höhle 11 in Qumran gefunden wurden (4QtgJob; 11QtgJob); s. o. S. 17 Anm. 18. TgHi ist in sich sehr disparat und hat, wie Mehrfachübersetzungen einzelner Verse zeigen, eine komplexe Entstehungsgeschichte. Es lässt sich nur annähernd in die Zeit zwischen dem 1. und dem 9. Jh. n. Chr. datieren (Weiss, Targum; Mangan, Job; Stec, Text). 8 Vgl. TgHi 3,16; 5,7 (Variante); 5,24; 11,8; 22,22; 24,13; 30,4; 36,33; 37,21. 9 Vgl. die Eintragungen Adams und des Gartens Eden (TgHi 28,5 f; 30,19; 31,33) oder der Sinflut (TgHi 4,8; 6,17; 22,17.19; 24,2). 10 Vgl. die Erwähnung der Erzväter (TgHi  3,19; 4,7; 14,18 [Variante]; 15,10), Sodoms (TgHi 28,5 [Variante]; 34,20), Esaus (TgHi 4,10; 15,19 f [Variante]) oder Ismaels (TgHi 4,11; 12,6); siehe dazu Witte, Hiob und die Väter, in diesem Band S. 171–189. 11 Vgl. TgHi 5,20–23; 12,6; 14,11; 15,29; 34,20; 37,1 (Variante). 12 Übersetzung aus Hagedorn/Hagedorn, Katenen, Bd. 4, 37. 13 Vgl. Braulik, Deuteronomium und die Bücher Ijob, 61–138.

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1.) Wie stellen sich das Problem Hiobs, des leidenden Gerechten, und die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes dar, wenn diese unter Rückgriff auf das Deuteronomium behandelt und im Licht der Torah diskutiert werden? 2.) Welches Verständnis ergibt sich für das Deuteronomium, wenn das Buch Hiob als eine literarische Auseinandersetzung mit diesem betrachtet wird? 3.) Wie ist dann die Haltung der hinter dem Buch Hiob stehenden Autoren zum Deuteronomium und darüber hinaus zur Torah redaktionsgeschichtlich, religionsgeschichtlich und theologisch einzuordnen?

2. Das Deuteronomium im Buch Hiob Die Grundschicht des Buches Hiob, die in meinen Augen weitgehend mit dem Makrotext der Dichtung, abzüglich der (mehrstufigen) Fortschreibungen in Hi 4,12–21; 15,11–16; 24,13–26,14; 27,7–28,28; 32,1–37,24; 39,13–18 und 40,1– 42,6, identisch ist,14 thematisiert die Frage nach der Macht und dem Wesen Gottes als Schöpfer. Zugleich entfaltet sie das Scheitern einer Theologie, welche die Beziehung zwischen Gott und Mensch mit Hilfe von Begriffen und Kategorien des Rechts zu deuten versucht. Hiob, mit dessen Name (‫איוב‬ – ‫אי אב‬ – „Wo ist der [göttliche] Vater?“) das Buch in allen seinen literarischen Schichten spielt, stellt mittels des Rufs „es werde Finsternis“ (Hi 3,4 im Kontrast zu Gen 1,3) und mittels der Klage, wozu Gott dem Menschen ein vom Leid (‫ )עמל‬geprägtes Leben gegeben habe (Hi 3,20 im Kontrast zu Ps 36,10), den Sinn des Lebens und damit die Macht des Schöpfers radikal in Frage. Dies provoziert seitens der Freunde Hiobs die Interpretation des Leidens als Folge einer bewussten oder unbewussten Sünde, also als Strafe, oder als Mittel der Erziehung (Hi 5,17), in jedem Fall als eine angemessene Reaktion des gerecht vergeltenden Gottes, der das Recht nicht beugt (Hi 8,3). Es sind die Freunde, nicht Hiob, die zuerst die Frage nach dem Recht und der Gerechtigkeit ausdrücklich und terminologisch greifbar in den Zusammenhang mit der Frage nach dem Leid bringen (Hi 4,7). Dennoch nimmt Hiob das sich sowohl weisheitlicher als auch deuteronomisch-deuteronomistischer Tradition verdankende juridische Deutungsangebot seiner von tiefem Schrecken (‫ )פחד‬und qualvoller Unruhe (‫ )רגז‬gezeichneten Situation (Hi  3,25 f; 7,4, vgl. Dtn  28,60.65–67)15 auf. Einmal ins Spiel gebracht, lässt sich der Gedanke, dass Gerechtigkeit Leben, Frömmigkeit Wohlergehen, religiöse, moralische und soziale Integrität Segen bewirken (Dtn 30,16), nicht ein-

14 Witte, Vom Leiden; Ders., Das Buch Hiob (in: Gertz, Grundinformation), 432–445. 15 Vgl. die Gegenüberstellung beider Texte bei Schmid, Schriftdiskussion, 241–261, besonders S. 251.

Das Deuteronomium im Buch Hiob    

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fach beiseite schieben. Wer dies versucht wie Hiob, für den jene Gleichung deuteronomischer Theologie nicht mehr aufgeht, gerät in eine doppelte Falle: Wenn er den Konnex von Gottes Gerechtigkeit und Schicksal des Menschen leugnet, erscheint er als ein Frevler, dem ein entsprechendes schlimmes Leben droht (Hi 15; 18; 20; vgl. Dtn 28,15–68). Wenn er sich aber auf dieses Denken einlässt, dann gerät er angesichts des Bewusstseins seiner Unschuld in einen Strudel von Selbstrechtfertigungen, an deren Ende nur die Überzeugung von der Ungerechtigkeit Gottes und der Welt stehen kann. Der Dichter lässt Hiob in beide Fallen tappen. Er lässt ihn letztendlich aber auch durch Gott selbst daraus befreien und zeigt damit die Grenzen, wenn nicht gar die Irrwege einer eindimensionalen Theologie des Rechts. Die Säulen und die Fronten dieser im Buch Hiob in Frage gestellten Theologie des Rechts sind nicht nur eine auf alltäglicher Erfahrung basierende, mittels natürlicher Beobachtung gewonnene und über Generationen weitergegebene Weisheit und die im altorientalischen und antiken Weltordnungsdenken gründende Vorstellung eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Die Grundlagen dieser im Buch Hiob kritisierten Theologie des Rechts sind auch die dem Mose durch einmalige Offenbarung vermittelten und durch Gott selbst Schrift gewordenen Gebote der Torah. Am deutlichsten wird dies an Hiobs umfassenden Unschuldsbekenntnis in Kap.  31 als einer materialen Problematisierung der Leistungsfähigkeit der Torah.16 Es zeigt sich aber auch in einzelnen Passagen der Reden der Freunde, die diesem nach dem dekalogischen Ideal gestalteten Unschuldsbekenntnis vorausgehen und die Hiobs direkte Auseinandersetzung mit der Torah vorbereiten, sowie an den Reden Hiobs in Kap. 23–2417 und in Kap. 27. Die Gottesreden (Hi 38,1–41,26) bestätigen diesen Befund ex negativo. Denn als sich Gott endlich Hiob, der – bildlich gesprochen – wie Eliah auf dem Weg ist zu den zentralen Stätten der Jhwh-Epiphanie, zum Gottesberg im Norden (Hi 23,9a, vgl. Ps 48,3; 89,13) und zum Gottesberg im Süden (23,9b, vgl. Ps 89,13; 16 Vgl. Witte, Hiobs „Zeichen“, in diesem Band S. 101–119 sowie Oeming, Hiobs Monolog, 66–73; Opel, Hiobs Anspruch, 79–156. Zur Problematisierung der Ursprünglichkeit von Hi 31 siehe Syring, Hiob, 139–149; Kaiser, Hiob, 126, und Vermeylen, Métamorphoses, 151; 180–182 – s. o. S. 110 Anm. 55. Wenn man, wie Syring, Kaiser und Vermeylen nur Hi 31,35–37 für ursprünglich hält und alle weiteren Teile von Hi 31 auf eine oder mehrere Redaktionsschichten zurückführt (vgl. Syring bzw. Kaiser und Vermeylen), wird die Frage nach dem Verhältnis zur Torah nur auf eine andere literargeschichtliche Ebene gehoben. Die Grundspannung zwischen der Torahtreue Hiobs und seinem Ergehen und die Frage, in welchem theologischen Verhältnis Hi 31 und das Deuteronomium stehen, bleiben. 17 Ich teile Brauliks These der literarischen Einheitlichkeit von Hi 24 nicht, sondern gehe weiterhin davon aus, dass zwischen einer Grundschicht in V. 1–12* und einer Ergänzung in V. 13–25 zu unterscheiden ist. Brauliks Interpretation von Hi 24,1–12 als kritischer Rezeption der deuteronomischen Sozialgebote stimme ich zu, wenngleich ich das kritische Potential dieser Bezugnahme hinsichtlich der Interpretation des Buches Hiob noch nicht für erschöpft halte (vgl. Braulik, Deuteronomium und die Bücher Ijob, 66; 66–90).

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Hab 3,3),18 offenbart, verliert er kein Wort über die Torah. Das Deuteronomium kommt in der gesamten ersten (und ursprünglichen) auf die Schöpfung konzentrierten Jhwh-Rede nicht vor — wie umgekehrt das Thema Schöpfung im Deuteronomium praktisch keine Rolle spielt19 — und Hiob verstummt. Die aus Hi 31,35–37 ablesbare und mit Sprachformen und Motiven aus dem Recht, den Psalmen und der Torah gestaltete Einforderung des Segens wird in der Gottesrede abgewiesen. Auch der Torahfromme, der seine Treue gegenüber der Torah für seine Gerechtigkeit hält (vgl. Hi 27,6 versus Dtn 6,25) braucht göttliche Unterweisung. Doch worin besteht dessen und  – damit auch des Lesers  – Belehrung? Wenn Hiob trotz seiner Treue zur Torah unter den von dieser dem Frevler geltenden Fluch leidet (Dtn 28,15–68), wenn die Frevler straflos ausgehen und in Frieden leben (vgl. Hi 21,6–33 versus Dtn 30,9), wenn Gott in seiner Epiphanie unter seinem Namen ‫( יהוה‬Hi 38,1) mit keiner Silbe auf die Torah eingeht (vgl. dagegen Ex 3,14; 6,3), dann kann dies im Gefälle der Dichtung nur eine Relativierung der Torah und ihrer Theologie sowie deren exklusiven Offenbarungsanspruchs bedeuten: Die Jhwh-Rede aus dem Sturm an Hiob tritt dann der Offenbarung Gottes vor Moses am Horeb gegenüber. Damit wird auch die alte, genuin weisheitliche kosmologische Begründung einer Gemeinschaft von Gott und Mensch gegenüber einer (vor allem deuteronomisch-deuteronomistisch geprägten) historischen Anbindung der Offenbarung an den Sinai reformuliert. Die mythische Weltdeutung tritt einer juridischen Rationalität gegenüber. Die von der Priesterschrift inaugurierte Klimax einer dreifach gestuften Offenbarung Gottes, als ‫( אלהים‬Elohim) vor der Welt, als ‫( אל שדי‬El Schaddaj) vor den Erzvätern und als ‫( יהוה‬Jhwh) vor Mose und Israel, begegnet modifiziert in der Hiobdichtung wieder. Doch die Torah, die Hiob, der die Torah des Moses gehalten hat, von Jhwh bekommt ist anders und mehr als die im Deuteronomium verschriftete. Hiob erscheint so gesehen geradezu Kritiker dieser Torah, weil sie, wie er selbst erlebt und von Gott bestätigt bekommt, nicht hält, was sie verspricht, und weil Gott anders und mehr ist als im Deuteronomium beschrieben. Das Scheitern einer Theologie des Rechts für Hiob bedeutet (noch) nicht das Ende der Theologie des Deuteronomiums, wohl aber eine tiefgreifende kritische Auseinandersetzung mit dieser.

18 Zu einem solchen Verständlich der geographischen Begriffen ‫ שמאול‬und ‫ ימין‬siehe Gordis, Book, 261 und Hartley, Job, 340, sowie Witte, Mensch, in diesem Band S. 65–80. 19 Die Ausnahmen sind marginal, vgl. Dtn 4,32.

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3. Die Auseinandersetzung um die Torah im Spiegel der Redaktionsgeschichte des Buches Hiob Die Auseinandersetzung mit der Torah hält sich durch alle Redaktionsschichten des Buches Hiob durch und zeigt, dass dieses insgesamt im Milieu eines kritischen Diskurses der Torah steht. Dies soll hier an vier Beispielen kurz skizziert werden. Gegenüber meinem redaktionsgeschichtlichen Modell von 1994 betrachte ich die Einfügung der Elihureden in Hi 32–37 nicht mehr als die älteste Redaktionsschicht,20 sondern verorte diese jetzt erst nach der sogenannten Niedrigkeitsredaktion und nach einer ersten Buchredaktion und führe auf den Elihuredaktor auch die Einfügung der zweiten Gottesrede in 40,6–41,26 zurück.21 Die Niedrigkeitsredaktion spielt das Motiv, dass der Mensch als Geschöpf vor Gott nicht gerecht sein könne, als zusätzliche Deutung für das Schicksal Hiobs ein (Hi  4,17–19; 15,14–16; 25,4–6). Hinter diesem Motiv steht eine gegenüber der ursprünglichen Hiobdichtung, aber auch gegenüber Dtn 9 radikalisierte Sündenvorstellung und eine negative Anthropologie. Den Menschen kennzeichnet als Menschen eine grundsätzliche, geschöpflich bedingte Ungerechtigkeit und Inferiorität gegenüber Gott (Hi 15,14–16; 25,4–6). Um die Bedeutung dieses Motivs zu unterstreichen, hat es der Verfasser in eine nächtliche Offenbarungsszene integriert (Hi 4,12–21). Die Szene erinnert begrifflich stark an Dtn 4,12.15 f und Num 12,4–8, daneben auch an 1Kön 19,11 f.22 Eliphas tritt mittels seiner Vision einer ‫ תמונה‬neben Mose. Die Eliphas zuteil gewordene Offenbarung erscheint so, wie die prophetische Torah des Habakuk, wenn nicht als Ersatz, so doch als Ergänzung zur Torah des Mose (vgl. Hab 2,3 f).23 In dem auf dieselbe redaktionelle Schicht wie Hi 4,12–21; 15,11–6 und 25,2–6 zurückgehenden Schlusswort Hiobs (Hi 40,3–5; 42,2.3aβ.b.5 f)24 wird nochmals auf eine besondere Schau Gottes hin 20 Witte, Vom Leiden, 190–192. 21 Die Niedrigkeitsredaktion hat das Motiv der kreatürlichen Sündhaftigkeit des Menschen offenbar bewusst zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Dialogs Hiobs mit seinen Freunden positioniert. Wenn ihr bereits die Elihureden vorgelegen hätten, könnte angenommen werden, dass sie ihr Motiv auch in diese eingelegt hätte. Umgekehrt rezipiert der Verfasser der Elihureden in Hi 33,15 das Nachtgesicht des Eliphas aus Hi 4,12–21. Für die Positionierung einer ersten Buchredaktion, d. h. einer Redaktion, die die ursprünglich getrennt überlieferte Hiobdichtung und Hioberzählung mittels der Einfügung von Hi 2,11–13 und Hi 3,1 verknüpft hat, vor der Elihuredaktion spricht auch, dass Elihu weder im Prolog noch im Epilog erscheint. Andererseits reagiert die Elihuredaktion mit der Figur des Fürspracheengels in Hi 33,23–25 offenbar auf die gleichfalls von der Buchredaktion eingefügten Himmelsszenen und die Figur des Satans (Hi 1,6–12; 2,1–7). 22 Vgl. Schmid, Schriftdiskussion, 255–258. 23 Vgl. Witte, Orakel, 67–91, besonders 74–77. 24 Vgl. Witte, Vom Leiden, 175–178.

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gewiesen (Hi 42,5). Hiob sieht hier sogar mehr als Mose (vgl. Ex 33,18) und Hiob reagiert, wie er es eigentlich von Gott selbst erwartet hatte: Er, Hiob, empfindet Reue (‫נחם‬, Hi 42,6), nicht Gott. Weil Gott keine Reue empfunden und sich nicht gewandelt hat, muss sich am Ende Hiob wandeln.25 Hinter Hi 4,12–21 und 42,5 f wird somit die Vorstellung einer revelatio continua deutlich, welche die einmalige Offenbarung der Torah (vgl. Dtn  3,24) inhaltlich um das Motiv der absoluten Ungerechtigkeit des Menschen erweitert. Die hier aufleuchtende Kritik am Deuteronomium ist weniger scharf als die der Grundschicht der Hiobdichtung. Aber auch hier zeigt sich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Deuteronomium, das schöpfungstheologisch und hamartiologisch ergänzt wird. Die Passagen der Buchredaktion26, welche die ursprünglich selbständige Hiobnovelle27 mittels der Einfügung von Hi 1,6–12.22; 2,1–13; 3,1; 42,7–10.11aβ mit der ursprünglich selbständig tradierten und dann um die genannten Elemente der Niedrigkeitsredaktion erweiterten Hiobdichtung verbunden hat, weisen die deutlichsten begrifflichen und motivischen Überschneidungen mit dem Deuteronomium auf.28 Der umfassende Segen Hiobs vor seiner Heimsuchung erscheint in den Farben der Verheißungen in Dtn  28,12 und 30,9.29 Die Krankheit Hiobs (Hi  2,7) wird mit der nur noch in Dtn  28,45 belegten Wendung ‫„( שחין רע‬ein böses Geschwür“) bezeichnet, wodurch Hiob mit jemandem parallelisiert wird, der unter dem Fluch der Torah steht. Ebenso hat die Notiz, dass Gott am Ende Hiobs Geschick wendete (‫שוב שבות‬, Hi 42,10), seine nächste Parallele in Dtn 30,3.30 Weiterhin wird Hiob von dieser Schicht als einzigartiger Gottesknecht (‫ )עבד יהוה‬bezeichnet (Hi  1,8; 2,3; 42,7 f), wodurch er sogar Mose zu übertreffen scheint (Num 12,7 f; Jos 1,2). Die Nähe Hiobs zu Mose wird in dieser Buchgestalt auch durch dessen Rolle als Fürbitter für seine Freunde besonders betont (Hi 42,8, vgl. Dtn 9,20). Mit der Notiz von der doppelten Erstattung des Verlustes Hiobs (Hi  42,10) unterstreicht die Buchredaktion die Gültigkeit des Theologumenons von der Gerechtigkeit Gottes.31 Insofern diese Redaktion aber ausdrücklich vermerkt, dass Hiob im Gegensatz zu seinen Freunden „in rechter

25 Vgl. dagegen Ex 32,14; Dtn 32,36; Jes 42,10; Jer 18,18; 26,3; Jon 3,6 und zur Vorstellung der fehlenden Wandlung Gottes Fishbane, Book of Job, 98 und Spieckermann, Wunder, 11– 28, besonders 22 f. 26 Vgl. S. 71 Anm. 21 und S. 113 Anm. 75. 27 Zur Grundschicht der ehemals selbständigen Hiobnovelle rechne ich Hi 1,1–3a.5*(ohne ‫)כי…בלבבם‬.13–21; 42,11aα.b.12–17; zu einer weitergehenden literarkritischen Differenzierung siehe Syring, Hiob, 151–168; s. o. S. 71 Anm. 21. 28 Zum Deuteronomismus der Rahmenerzählung siehe auch Heckl, Hiob, 263–272. 29 Vgl. Dtn 2,7; 14,29. 30 Vgl. Jer 29,14; 30,3; 33,7; Ez 39,25; Hos 6,11; Am 9,14; Ps 14,7. Der Vers bietet einen der zentralen Anknüpfungspunkte für ein kollektives Verständnis Hiobs als Chiffre für das unter dem Exil leidende Israel; vgl. Heckl, Hiob, 301–303, 381, 439 u.ö. 31 Vgl. Schmid, Schriftdiskussion, 251 f.

Die Auseinandersetzung um die Torah im Spiegel der Redaktionsgeschichte     129

Weise“ (‫ )נכונה‬über (‫ )אלי‬Gott geredet habe (Hi 42,7),32 bleibt auch hier der Deuteronomium-kritische Charakter der ursprünglichen Hiobdichtung erhalten. Die sekundär in ein erstes Buch Hiob eingeschriebenen Reden des Elihu (Hi 32–37) stehen tendenziell einer genuin und affirmativ am Deuteronomium orientierten Theologie am nächsten. Bereits der Name ihres Protagonisten lässt sich als eine Interpretation des Schema Israel verstehen: ‫„( אליהוא‬Mein Gott ist Er [Jhwh])“.33 Dieses Selbstverständnis wird durch den Vatersnamen ‫ ברכאל‬Barakel („Gott hat gesegnet“) unterstrichen, wodurch einerseits das Leitwort „segnen“ (‫ )ברך‬der Rahmenerzählung aufgenommen ist,34 anderseits ein Zentralbegriff aus Dtn 28. Dass der Verfasser der Elihureden seinen Helden wegen der „Selbstgerechtigkeit Hiobs“ (Hi 32,2) auftreten lässt, liegt auf der Linie von Dtn 9,4–6, gemäß der Israel nicht aufgrund seiner eigenen Gerechtigkeit, sondern nur aufgrund der Gerechtigkeit Gottes am Leben bleibt. Die theologischen Grundgedanken der Elihureden, dass 1.) Gott im Leiden erzieht (Hi 33,16, vgl. Dtn 8,5; 11,2), 2.) Gott ein unvergleichlicher Lehrer ist (Hi  36,22, vgl. Dtn  6,1) und 3.) Gott von unbegreiflicher Größe und Gerechtigkeit ist (Hi 37,23, vgl. Dtn 10,17), konvergieren mit der Theologie des Deuteronomiums (vgl. Dtn 32,4).35 Gleichwohl geht auch der Verfasser der Elihureden über das Deuteronomium hinaus, wenn er auf die besondere Inspiration Elihus als Quelle der Erkenntnis hinweist (Hi 32,8–10.18–22), welche die von Eliphas (4,12–21) und Zophar (20,4) in Anspruch genommene Inspiration übertrifft, wenn er mittels der Figur des Fürspracheengels die Gruppe der Göttersöhne in Dtn  32,8 (Variante, vgl. 4QDtnj; LXX) spezifiziert und wenn er die Rechtfertigung des Menschen auf eben einen solchen Fürsprachengel zurückführt: Wenn es dann vor ihm (d. h. Gott)36 einen Engel gibt, einen Fürsprecher, einen unter den Tausend, um für den Menschen dessen Aufrichtigkeit zu verkünden, dann ist er (d. h. Gott)37 ihm gnädig ist und sagt: „Befreie ihn38 vom Abstieg in die Grube,

32 Siehe zu dieser Übersetzung S. 71 Anm. 20. 33 Vgl. Dtn 32,29; Jes 43,10.13; 48,12; Ps 102,28. 34 Vgl. Hi 1,5.10.11.21; 2,5.9; 42,12. 35 Zu Schwerpunkten der Theologie Elihureden bzw. der Theologien in ihnen siehe auch Pilger, Gott, 29–38. 36 Zum Bezug auf Gott siehe auch Hartenstein, Angesicht, 87 f, der zu entsprechendem Gebrauch von ‫ על‬auf Hi 1,6; 2,1; 1Kön 22,19 und Sach 6,5 verweist. 37 Zumeist wird der Fürspracheengel als Subjekt angenommen (vgl. Pilger, Erziehung, 62 f), doch ist „das unsichtbare subiectum regens dieser Verse allein der sich erbarmende, gnädige Gott“ (H.-M. Wahl, Schöpfer, 65; vgl. auch Hartenstein, Angesicht, 87). 38 Wenn die Lesart ‫ פדעהו‬stimmt, liegt ein Hapaxlegomenon vor, dessen genaue Bedeutung unsicher ist. Zwei Handschriften bieten das geläufigere ‫( פרעהו‬vgl. BHS). Aufgrund der Parallele zu V. 28 wäre auch ‫„( פדהו‬kaufe ihn los“) denkbar.

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Die Torah in den Augen Hiobs

ich habe ein Lösegeld für ihn39 gefunden, sein Fleisch sei kräftig (wie) von Jugend an40, er kehre zurück zu den Tagen seiner Jugend.“41 (Hi 33,23–25)

Die Passage ist zentral für die Theologie der Elihureden. Sie beschreibt einen innergöttlichen Rechtfertigungsvorgang des Menschen. Die Rettung des Menschen liegt nicht in dessen Hand, sondern gründet in der Freiheit Gottes, der größer ist als der Mensch (Hi 33,12b), der sich aber auch des Menschen erbarmt (Hi 33,24). Dass Elihu am Ende ausdrücklich aus dem Verdikt Gottes über Eliphas und seine beiden Freunde ausgespart wird (Hi 42,7), deutet darauf hin, dass für die Tradenten dieser Buchgestalt Elihu die „richtige“ Theologie vertreten hat.42 Die torahkritische Tendenz der ursprünglichen Dichtung ist damit vollkommen umgekehrt: Die Gerechtigkeit Gottes gilt unbedingt (Hi  34,5–7; 37,23; 40,8; vgl. Dtn 32,4). Dass Elihus Zorn über die Freunde, die eine ähnliche, aber nicht identische und nicht so komplexe Theologie vertreten, entbrennt (Hi  32,3.5), liegt daran, dass sie nach den drei großen Reden Hiobs in 26,1–31,37 verstummten und so die These Hiobs, Gott breche das Recht, menschlicherseits unbeantwortet gelassen hatten.43 Auch wenn Elihu nicht den Titel eines „Propheten“ (‫ )נביא‬trägt, erscheint er auf dieser redaktionellen Ebene als legitimer prophetischer Nachfolger des deuteronomisch-deuteronomistischen Mose (vgl. Dtn 18,15–18). Die Elihuredaktion ist nicht der Endpunkt der Fortschreibung des „Buches“ Hiob. Sie hat aber die Tendenz der jüngsten profilierbaren Redaktionsschichten vorgeprägt. Als Reaktion auf Elihus Theologie vom gerechten Schöpfergott und dessen Feststellung, dass niemand nach Gott dem Schöpfer frage (Hi  35,10), werden Hiob, der sich gemäß der Grundschicht stetig auf der Suche nach dem Schöpfer befindet, ausdrücklich Schöpfungshymnen und Bekenntnisse zur Gerechtigkeit Gottes in den Mund gelegt.44 Zwar haben diese Schöpfungshymnen 39 Aus kolometrischen Gründen könnte ein ‫ לנפשו‬ergänzt werden (vgl. Ex 30,12; Spr 13,8; BHK3; H.-M. Wahl, Schöpfer, 63 f). 40 Die Lesung des Hapaxlegomenon ‫ רטפשׁ‬ist unsicher, entweder handelt es sich um eine vierradikalige Wurzel im Pass. Qal (vgl. G-K § 56; DCH), oder es ist ‫ ִיְטַפּשׁ‬zu lesen (vgl. BHS; Ps 119,70; H.-M. Wahl, Schöpfer, 64). 41 V. 25 gehört noch zur in V. 24 eingeleiteten wörtlichen Rede (vgl. TgHi; Hölscher, Hiob, 80; Oeming, Elihus Auswege, 84). 42 Gleichwohl gibt es schon in der ältesten Wirkungsgeschichte auch eine genau entgegengesetzte Linie, wenn z. B. im Testament Hiobs Elihu als Inkarnation des Satans verstanden wird (vgl. TestHiob 51,5; 52,2.8.17). 43 In Hi 32,3 ist anstelle des Tiqqun sopherim von ‫ איוב‬wohl ‫ האלהים‬zu lesen. 44 Vgl. Hi  9,2–14; 12,4–13,2; 26,5–14 bzw. 24,5–8.13–25; 27,7–10.13–23; 30,1b–8; 31,1– 3.11 f.23.28.33 f.38–40; 40,1–2; 42,3a.4 (vgl. Witte, Vom Leiden, 192). Gewisse stilistische Differenzen zwischen Hi 9,2–14 und 26,1–14 sowie zwischen 12,4–6 und 12,7–13,2 könnten dafür sprechen, dass zwischen einer für die Einfügung der Hymnen verantwortlichen Majestätsredaktion

Zusammenfassung    

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den Beiklang, dass sie vor allem Gottes zerstörerische Handeln in der Schöpfung beschreiben (Hi 9,2–14; 12,7–13,2; 26,5–14), doch lassen sie sich nicht auf diesen Aspekt beschränken, wie die auf diese Redaktion zurückgehende Einlage des Weisheitsliedes in Hi 27,11 f; 28,1–28* zeigt. Sie dienen wie die sekundären expliziten Bekenntnisse Hiobs zur Gerechtigkeit Gottes dem Nachweis, dass Hiob tatsächlich, wie in Hi 1,1 vorgestellt, der exemplarisch gerechte und fromme sowie der umfassende Lehrer seiner Freunde ist. Gegenüber der Kennzeichnung der Torahobservanz als Weisheit in Dtn 4,6 weist Hi 28 aber eine skeptische Tendenz auf: Einblick in die kosmische Weisheit ist dem Menschen verwehrt (Hi 26,14; 28,12–14.20–22); die dem Menschen gemäße Form der Weisheit ist die Gottesfurcht (Hi 28,28 vgl. 37,23 f; Spr 30,4). Ben Sira wird hier einen Schritt weitergehen, wenn er die kosmische Weisheit sich in der Torah inkarnieren lässt und damit den Frommen über die Torah an der komischen Weisheit partizipieren lässt (Sir 24,23 [G]).

4. Zusammenfassung Im Buch Hiob spiegelt sich in seinen literarischen Schichten eine vielfältige kritische Auseinandersetzung mit dem Gottesverständnis des Deuteronomiums. Dass kaum die eigentlichen theologischen Begriffe der deuteronomischen Theologie wie ‫ תורה‬und ‫ ברית‬auftauchen, liegt zum einen an einer rhetorisch bedingten Zurückhaltung, so im Fall des Begriffs ‫תורה‬, und ist zum anderen inhaltlich durch die individuelle Thematik des Buches Hiob als Auseinandersetzung des einzelnen leidenden Gerechten mit seinem Gott bestimmt, so im Fall des Begriffs ‫ברית‬. Ähnlich begegnet ein spezifisch deuteronomisch-deuteronomistischer Gebrauch des Begriffs ‫ ברית‬auch in den jüngeren Weisheitsbüchern nur dort, wo das Verhältnis Gottes zu Israel thematisiert wird.45 Erst im griechischen Sirachbuch erscheint dann διαθήκη auch zur Beschreibung des Gottesverhältnisses des einzelnen Frommen (Sir 28,7 [G]; 39,8 [G]). Insofern sich das Deuteronomium als Herz der Torah verstehen lässt, kann das Buch Hiob auch als ein kritischer Torahdiskurs bezeichnet werden. Dieser reicht von einer scharfen Infragestellung der von der Torah vertretenen Theologie der Gerechtigkeit Gottes, der Entsprechung von Torahgehorsam und gelingendem Leben sowie der Alleingültigkeit der Sinaioffenbarung in der Grundschicht der Hiobdichtung bis hin zum Versuch eines Ausgleichs in der Elihuredaktion und und einer für die Gerechtigkeitsbekenntnisse verantwortlichen Gerechtigkeitsredaktion zu unterscheiden ist. Hier werden beide Schichten als jüngste Strata im Buch zusammengefasst. Sie ließen sich auch als Endredaktion bezeichnen. Entscheidend für unsere Zwecke im Kontext dieses Artikels ist die Bestimmung ihrer Relation zum Deuteronomium. 45 Sir 17,12 (G); 24,23 (G); 44,20, 22; 45,15.24 f; SapSal 18,22.

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der Endredaktion. Theologiegeschichtlich erscheint der kritische Torahdiskurs des Buches Hiob als Vorläufer, möglicherweise sogar als Voraussetzung zu einer Identifikation von Torah und Weisheit in den Büchern Jesus Sirach und Baruch (vgl. Bar 3,9–4,4), die nur wenig jünger sind als die letzten Redaktionsschichten des Buches Hiob. Das Buch Hiob gehört damit in die Geschichte der kritischen Aneignung der Torah im Raum der Weisheit46 und ist so auch ein Beispiel für die Durchsetzung der Theologie des Deuteronomiums als der wesentlichen Referenztheologie des Judentums in hellenistischer Zeit.

46 Vgl. Spr 13,13; 19,16; 28,4.7.9; 29,18; Ps 19; 119.

Hiob und seine Frau in jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit1 2 Anima:

Von der Freiheit, dem Vertrauen und der Versuchung: Hiob konnte vielleicht nur das Und umgekehrt muß auch der Mensch mit schwere Kreuz fühlen. dieser Möglichkeit, daß Gott ihn bloß „versuche“, Ich habe mit eignen Augen gesehen, rechnen, damit er immerhin einen Antrieb habe, Wie man mich hier mit Schande sich in allen Anfechtungen sein Vertrauen zu bedeckt hat. Vielleicht verleumde bewahren, und nicht auf die unsterbliche Stimme ich mich selbst nur – Und Anima, von Hiobs Weib höre, die ihm zuredet: die Hiob das schwere Kreuz auf fluche Gott und stirb! die Schultern legte, Ist – Eva. (Oskar Kokoschka, 1917)1

(Franz Rosenzweig, 1930)2

1. Faktoren der literarischen Rezeption einer biblischen Figur 1.1 Die Figur erhält neue Gesichter und neue Gewänder Kennzeichnend für eine bereits innerbiblisch einsetzende Rezeption zentraler Figuren aus Torah, Neviim und Ketuvim ist die Zuweisung neuer Rollen und die zunehmende Profilierung der jeweiligen Figur. Dazu gehört nicht nur eine fortgesetzte, in vielen Fällen erstmalige Verortung in einem bestimmten genealogischen, geographischen und geschichtlichen Kontext, sondern auch eine vor allem mittels dialogischer Szenen ausgeführte Charakterisierung. Wie im Laufe der Redaktionsgeschichte der biblischen Schriften der Grad der literarischen und theologischen Komplexität steigt, so wachsen im Rahmen dieser Fortschreibung auch die biblischen Gestalten. Neue Reden, die der Figur in den Mund gelegt werden, neue Handlungsumstände und Figurenkonstellationen sowie neue Erzählerkommentare verändern die Figur, deren Milieu und damit verbunden deren narra­ tive und pragmatische Funktion.3 Im Bild gesprochen: Die Figur erhält neue Gesichter und neue Gewänder. Bezogen auf die Figur Hiob heißt das beispielsweise – ohne dass hier die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches entfaltet werden 1 Kokoschka, Hiob, 174. 2 Rosenzweig, Stern, III, 296. 3 Vgl. dazu exemplarisch Standhartinger, Frauenbild, 54–59.

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könnte –, dass aus dem leidenden Gerechten und dem in seinem Leiden Gott Anklagenden der über sein Leiden lehrende Weise wird.4

1.2 Literarische Faktoren: Die Auffüllung narrativer Leerstellen Zeigt sich die innerbiblische Ausgestaltung der jeweiligen Figur mittels Einschreibung in den Text, so erscheint die nachbiblische Profilierung als dessen Ausschreibung. In beiden, sich strukturell entsprechenden Fällen der Ausmalung der biblischen Figur sind narrative, literaturgeschichtliche und sozialgeschichtliche Faktoren bestimmend. So setzt die Ausgestaltung der biblischen Figur ein bei narrativen und semantischen Leerstellen, d. h. bei Fragen, die der Text offenlässt, die sich aber im Prozess der Rezeption einstellen – zumal, wenn sich der Leser oder die Leserin mit der entsprechenden Figur identifiziert. Dieser identifikatorische Aspekt spielt gerade bei der Rezeption biblischer Figuren eine wesentliche Rolle. Er gilt in besonderer Weise für eine Figur wie Hiob, in deren Mund mehr als in jedem anderen biblischen Buch ein identifikatorisches Ich erscheint und in dessen Reden paradigmatisch Grunderfahrungen menschlicher Existenz verdichtet sind.5

1.3 Literaturgeschichtliche Faktoren: Biblische und außerbiblische Textimpulse Die Profilierung biblischer Figuren geschieht wie der gesamte Vorgang der biblischen Fortschreibung nicht in einem literarischen Vakuum, sondern steht unter dem Einfluss vielfältiger biblischer wie außerbiblischer literarischer Impulse. So wird die Figur Hiobs bereits im Hiobbuch selbst unter dem Einfluss der biblischen Abraham- und Mose-Überlieferung modelliert. Ob bei der biblischen Stilisierung Hiobs auch der ugaritische Keret6, der babylonische König Nabonid7 oder der griechische Prometheus8 Pate gestanden haben, ist in der Forschung umstritten  – ausgeschlossen ist es nicht. Die innerbiblische Adaption 4 Zur Redaktionsgeschichte des Hiobbuches siehe mit unterschiedlichen Akzentuierungen Witte, Vom Leiden; Syring, Hiob; Van Oorschot, Entstehung, 165–184; Wanke, ­Praesentia Dei; zur Rezeptionsgeschichte Oberhänsli-Widmer, Hiob. 5 Witte, Mensch, in diesem Band S. 65–80. 6 KTU 1.14–1.16 (übersetzt von Dietrich/Loretz, in: TUAT III, 1213–1253). 7 4QOrNab (= 4Q242; Text und Übersetzung bei Beyer, Texte (1984), 223 f; Texte Erg.Bd. (1994), 104). 8 Vgl. besonders die Motivparallelen bei Aischylos, Prometheus 153–159; 186–192; 263– 276; 307–329; 997–1035 1080–1093; siehe dazu auch Klinger, Leiden, 41–45; 104–109.

Faktoren der literarischen Rezeption einer biblischen Figur    

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und Vernetzung einzelner Figuren, die sich an der wechselseitigen Übernahme von Erzählelementen, Motiven und Charakterzügen sowie der Einschreibung in die entsprechenden Stammbäume und Wohnräume verdeutlichen lässt, nimmt in der nachbiblischen Rezeption entscheidend zu. Wesentliche Parameter sind dabei vor allem die Figuren Abraham und Mose, so insbesondere bei der Ausgestaltung der Figur Hiobs, aber auch David und Salomo, und bei Figurenpaaren Adam und Eva sowie Abraham und Sara. Hinzu kommt die gerade im Fall der Rezeptionsgeschichte des Hiobbuches nachweisbare Übernahme paganer griechisch-hellenistischer Elemente.

1.4 Sozialgeschichtliche Faktoren: Gesellschaftliche Veränderungen Insofern eine literarische Gestalt immer auch 1.) eine Chiffre für ein Problem, 2.) ein Exponent für ein soziales Rollenverständnis und 3.) ein Paradigma für eine bestimmte Gruppenidentität ist, spiegelt sich in ihr die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit und das jeweilige Verhältnis der Geschlechter. So scheinen durch die Gestaltung Hiobs als großgrundbesitzendem Patriarchen im Prolog (Hi 1,3), durch Hiobs Rückblick auf seine von Wohlergehen gezeichnete Vergangenheit (Hi 29), durch sein umfassendes in Eidesform abgefasstes Unschuldsbekenntnis (Hi 31) oder durch seine Klagen über das Glück der „Gottlosen“ (‫רשעים‬, Hi 21; 24,1–12; 30,1–8) konkrete soziale Verhältnisse durch.9 Ebenso werfen der kurze Dialog zwischen Hiob und seiner namenlosen Frau in Hi 2,9 f, die formelhaften Äußerungen Hiobs über seine Frau in 19,17 und 31,9 f, das Bekenntnis Hiobs zu sexueller Integrität in 31,1 oder die namentliche Nennung der neuen Töchter Hiobs in 42,13–16 ein Licht auf die Rollen von Frauen in der antiken jüdischen Gesellschaft. Im Folgenden skizziere ich, wie die drei genannten Kräfte der Rezeption, d. h. die narrativen, sozialgeschichtlichen und literaturgeschichtlichen Faktoren, die Ausgestaltung der Frau Hiobs in jüdischen Schriften aus der hellenistisch-­ römischen Zeit prägen. Mein Schwerpunkt liegt auf dem literaturgeschichtlichen Aspekt. Dabei gehe ich davon aus, dass bereits die ältesten bisher nachweisbaren literarischen Rezeptionen des Hiobbuches, die sogenannte Hiob-Septuaginta einerseits und das aus Höhle 11 in Qumran bekannte Hiob-Targum andererseits, auf einer protomasoretischen Gestalt des Hiobbuches beruhen, die in den wesentlichen inhaltlichen und kompositionellen Zügen mit der masoretischen Fassung übereinstimmt. Die Skizze thematisiert das Bild der Frau Hiobs in der Hiob-Septuaginta und im Testament Hiobs, im Hiob-Targum aus Qumran (11QtgJob) und im frühmittelalterlichen Targum (TgHi) sowie in der Peschitta

9 Siehe dazu Kessler, Sozialgeschichte, 144.

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(Syr) und in den verschiedenen lateinischen Versionen (VL, Vg). Vorangestellt ist eine kurze Profilierung der Frau Hiobs im hebräischen Hiobbuch.

2. Hiobs Frau im Spiegel der Schriften 2.1 Hiob und seine Frau im hebräischen Hiobbuch Im hebräischen Hiobbuch begegnet Hiobs Frau nur an drei Stellen: 1.) Im Prolog im Anschluss an den zweiten Schlag des Satans, der Hiob die Gesundheit nimmt: Da sagte seine Frau zu ihm: „Noch immer hältst du an deiner Frömmigkeit fest.10 ‚Segne‘11 Gott und stirb (infolgedessen)!“ Und er sagte zu ihr: „Wie eine von den Törinnen redet, so redest du: Das Gute sollten wir von der Gottheit annehmen, aber das Böse sollten wir nicht annehmen? In all diesem sündigte Hiob nicht mit seinen Lippen. (Hi 2,9 f)

2.) Im Rahmen der ausführlichsten Klage Hiobs über die erfahrene Entfremdung von seinen Freunden und seiner Familie: Mein Atem ist meiner Frau fremd geworden, und zum Ekel wurde ich den Söhnen meines Leibes.12 (Hi 19,17)

3.) Im Kontext der Apodosis einer bedingten Selbstverfluchung Hiobs, für den Fall, dass er sich eines sexuellen Vergehens schuldig gemacht hätte: Wenn mein Herz wegen einer Frau betört worden wäre und wenn ich an der Tür meines Nachbarn gelauert hätte, 10 Der Satz könnte auch als Frage ohne einleitendes Fragewort verstanden werden (vgl. Waltke/O’Connor, Syntax, § 18.1c; Joüon/Muraoka, Grammar, § 161a). Die Konstruktion von ‫ עד‬mit explizitem Fragepronomen in Gen 31,14; 43,6 f; 45,3; Hag 2,19; Am 6,10 und Ruth 1,11 spricht aber dafür, in Hi 2,9 eine Aussage der Frau Hiobs zu sehen. 11 ‫ ברך‬ist hier euphemistisch für „(ver)fluche“ gebraucht (vgl. Hi  1,5.11; 2,5; 1Kön  21, 10.13; Ps 10,3 und die syrische Version von Hi 2,9: ṣḥ’ l’lh’ (Variante: l’lhk) „schmähe (deinen) Gott“; Gesenius18, s.v.; DCH, s.v.). Dass es sich um einen Euphemismus und nicht um einen eigentlichen Gebrauch von ‫ ברך‬im Rekurs auf Hiobs Lobpreis Gottes in 1,21 handelt, zeigt die Antwort Hiobs in 2,10. In der Reihe der Imperative ‫ ָּב ֵר ֱאִהים ָוֻמת‬gibt ‫ ָּב ֵר‬die Bedingung, ‫ ָוֻמת‬die Folge an (Diehl, Fortführung, 56; 95); zum Motiv vgl. Ex 22,27; Lev 24,15 f; Jes 8,21. 12 ‫ בני בטני‬bezeichnet nicht die Brüder Hiobs (so Gesenius18, s.v.; Clines, Job 1–20, 448 f), sondern seine leiblichen Söhne (vgl. Syr [Rignell, Peshitta, 148]; Tg ‫[ בר מעי‬Mangan, Targum, 53]; Jes 49,15; Spr 31,2; Beer, Text, 120; Hartley, Job, 288 f; DCH s.v.).

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dann möge meine Frau für einen anderen mahlen13, und über sie mögen sich andere beugen. Denn das ist eine Schandtat, und das ist eine Schuld, die vor die Richter gehört. Ja, ein Feuer ist es, das bis zur Unterwelt brennt und das alle meine Habe zum Entwurzeln bringt. (Hi 31,9–12)

Liest man diese drei Stellen unabhängig von ihrer form- und redaktionsgeschichtlichen Verortung im Verbund des gesamten Hiobbuches – und eine solche synchrone Lektüre ist für die ältesten Rezipienten des Hiobbuches anzunehmen –,14 so ergibt sich ein eigenes narratives Gefälle und Profil. Dieses soll im Folgenden nachgezeichnet werden.

2.1.1 Hiob redet mit seiner Frau (Hi 2,9 f) Der Wortwechsel zwischen Hiob und seiner Frau stellt im Gegensatz zu den Monologen Hiobs (Hi 1,5; 1,21) und der Boten (1,14–19) den ersten echten Dialog dar, der auf der Erde stattfindet. Auch wenn die Frau namenlos bleibt, bildet sie das erste Gegenüber Hiobs, das dieser im Du anredet. Die Feststellung der Frömmigkeit Hiobs (Hi 2,9aβ) erfolgt mit denselben Worten, mit denen Gott in der zweiten Himmelsszene die Standhaftigkeit Hiobs konstatiert (2,3bα).15 Die Aufforderung, Hiob möge Gott verfluchen (Hi 2,9bβ), entspricht hingegen begriff 13 Ob ‫ טחן‬hier metaphorisch im Sinn von „einen Sklavendienst verrichten“ (vgl. Jes 47,2; Syr; Gesenius18, s.v.) oder euphemistisch für sexuellen Kontakt (so LXX; VL; Vg; DCH) gebraucht wird, ist umstritten. Tg (‫ )תשמש‬ist hier ebenfalls doppeldeutig. Die Äquivalenz der Strafe und V. 10b sprechen für die sexuelle Deutung. 14 Redaktionsgeschichtlich gehen die genannten Texte wohl auf drei unterschiedliche Schichten zurück. So ist der Dialog zwischen Hiob und seiner Frau (Hi 2,9 f) wie die anschließende Szene von der Ankunft der Freunde (2,11–13) abhängig von der literarisch mindestens sekundären zweiten „Himmelsszene“ (2,1–6), die zur schweren Erkrankung Hiobs führt (2,7 f). Hi 19,17 bildet ein typisches Element eines individuellen Klagelieds mit entsprechenden Parallelen in biblischen und außerbiblischen Klagen (vgl. Ps 69,9; ludlul, I, 80–120 [von Soden, in: TUAT III, 119–121]). Der Vers gehört genuin zu der Klage Hiobs in Kap. 19 und ist als solcher Bestandteil der ursprünglichen Hiobdichtung; literargeschichtlich setzt er aber, wie der zweite Stichos zeigt, weder die Grundschicht des Prologs (vgl. 1,18 f: Tod der Kinder) noch die Fortschreibung in 2,9 f voraus. Hi 31,9 f gehört zu den stereotypen Größen des auf der Basis der Vergeltung argumentierenden Unschuldsbekenntnisses Hiobs (vgl. das ägyptische Totenbuch, 125,78 [bei Hornung, Totenbuch, 237]; Lehre des Anch-Scheschonki 353 f u. 384 f [bei Brunner, Weisheitsbücher, 285 u. 287]; aber auch Dtn 28,30). Der Grundbestand dieses Unschuldsbekenntnisses gehört zur ursprünglichen Hiobdichtung (siehe Witte, Hiobs „Zeichen“, in diesem Band, S.  101–119), die Konstatierung in Hi  31,11 f bildet aber (wie 31,1–3.23.28. [33 f?].38–40) eine Fortschreibung (vgl. Witte, Vom Leiden, 184 f; 216 f). 15 Vgl. dann auch im Munde Hiobs in Hi 27,5 und 31,6 sowie die Kennzeichnung Hiobs als ‫ תם‬in Erzählerkommentaren in 1,1 (par. Hi 1,8; 2,3).

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lich der Rede des Satans in beiden Himmelsszenen (1,11b; 2,5b). Die Frau Hiobs erscheint so als irdisches Sprachrohr Gottes und des Satans. Die innergöttliche Spannung zwischen Lebensstiftung und Lebenszerstörung, zwischen dem Gott, der Hiob gesegnet hat (‫ברך‬, Hi 1,10), und dem Gott, der Hiob vernichtet (‫בלע‬, 2,3), spiegelt sich im ambivalenten Bild der Frau, die Hiobs Frömmigkeit anerkennt und gleichzeitig resigniert zu deren Aufgabe rät. Dabei steht ihr letztes Wort an Hiob „und stirb!“ (Hi 2,9b) in scharfem Kontrast zum letzten Wort Gottes an den Satan „doch sein Leben bewahre!“ (2,6b). Die Antwort Hiobs qualifiziert den Rat seiner Frau als Kennzeichen einer Gottesleugnerin (‫נבלה‬, Hi  2,10)16: Die Beschränkung des Handelns Gottes auf das Gute, das Lebensförderliche (‫)טוב‬, verkennt demnach die Komplexität der Wirklichkeit und die Allwirksamkeit Gottes (vgl. Jer 42,5 f; Klgl 3,37 f). Die letzte Gottesrede (Hi  42,7) wird diese Einschätzung Hiobs bestätigen: So hat Hiob nach dem endgültigen Urteil Gottes „aufrichtig“ (‫ )נכונה‬geredet, wodurch er letztlich sein Leben und das der Freunde zu retten und Gott selbst von einer ‫ נבלה‬zurückzuhalten vermag (Hi 42,8). Erneut zeigt sich hier eine merkwürdige Korrespondenz zwischen der Rede der Frau Hiobs und der Rede Gottes in der sogenannten Rahmenerzählung. Dabei haben beide Reden letztlich die Funktion, die Integrität Hiobs zu unterstreichen, der eine ‫ נבלה‬abweist, auf der Seite des Menschen wie auf der Seite Gottes. Dass Hiob schließlich nicht dem Rat seiner Frau folgt, sondern auf die Verfluchung Gottes, die den Tod nach sich zöge, verzichtet, erscheint als ein Bekenntnis zum Leben und als ein Ausdruck seiner Hoffnung.17 Insofern die Antwort des nach dem zweiten Schlag des Satans schweigend im Staub sitzenden Hiob erst als eine Reaktion auf die Rede seiner Frau erfolgt, erscheint diese  – psychologisch betrachtet  – als eine lebenswichtige Sprachhilfe Hiobs.18 Synchron gelesen, öffnet sie Hiobs Mund (Hi 3,1) und initiiert so seine Fragen, die dann den Dialog mit den Freunden bestimmen.

2.1.2 Hiob redet über seine Frau (Hi 19,17; 31,9–12) Die Erwähnungen der Frau Hiobs in Hi 19,17 und 31,9 f.(11 f) unterstreichen auf synchroner Ebene die zentralen Aspekte des aus 2,9 f erkennbaren Bildes. So betont die Klage Hiobs, seine ‫ רוח‬sei seiner Frau fremd geworden (Hi 19,17a), die Distanz zu seiner Frau. Dabei verweist der Begriff ‫ רוח‬auf drei Bezugspunkte: 1.) auf die für seine Frau nicht nachvollziehbare Geistesart Hiobs (vgl. 7,11), 2.) auf 16 Vgl. zu dieser Konnotation von ‫ נבל‬Ps 14,1; 39,9; 74,18.22. 17 Zur „Hoffnung“ als einem Schlüsselmotiv des Hiobbuches siehe Mies, L’espérance. 18 Vgl. auch Clines, Job 1–20, 53; Vogels, Slogans, 372–376. Zutreffend weist Vogels darauf hin, dass Hiob in 2,10 erstmals von einem „wir“ spricht (‫) ְנ ַקֵבּל‬, während er in 1,21 nur von sich redet. Entsprechend folgert in BerR 19,21 Abba b. Kahana daher aus dem Wort ‫ ְנ ַקֵבּל‬, dass Hiob seine Frau ausdrücklich in seine Frömmigkeit einschließe.

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das entgegen dem Rat der Frau in 2,9 und den Klagen in Kap. 3 und Kap. 7 noch in Hiob steckende Leben (vgl. 27,3)19 und 3.) auf den Gestank, der von Hiobs krankem Leib ausgeht (2,7b, ‫שחין רע‬, vgl. Dtn  28,35)  – dieses Verständnis hat sich textlich im Testament Hiobs niedergeschlagen, wenn es dort heißt, dass die Freunde zunächst Weihrauch entzündeten, bevor sie sich Hiob überhaupt nähern konnten,20 und begegnet ikonographisch z. B. in der Verhüllung der Frau Hiobs mit ihrem Mantel auf dem Sarkophag des Junius Bassus oder in byzantinischen Miniaturen.21 Die hypothetische Preisgabe der eigenen Frau im Fall von Ehebruch (Hi 31,9 f) steht im Kontext einer an zentralen Geboten des Dekalogs orientierten rigiden Unschuldserklärung Hiobs.22 Die Notiz ist nicht nur ethisch interessant, sondern vor allem auch sozialgeschichtlich, insofern sie einerseits die patriarchale und besitzrechtliche Struktur des antiken jüdischen Eheverständnisses zeigt, andererseits auf die sich im Judentum seit der persischen Zeit durchsetzende Tendenz zur Monogamie hindeutet.23 Zur Profilierung des Bildes der Frau Hiobs im masoretischen Hiobbuch hingegen tragen die Verse wenig bei. Sie zeigen aber, wie auch die Unschuldserklärung in Hi 31,1, zumindest via negationis die bleibende Verbundenheit Hiobs mit seiner Frau, die grammatisch an allen drei Belegstellen mittels Suffix auf Hiob bezogen wird.24

2.1.3 Der Erzähler übergeht Hiobs Frau im Epilog Zu den Asymmetrien, die der Epilog (Hi 42,7–17) gegenüber dem Prolog (1,1–2,13) aufweist, gehört, neben der fehlenden Erwähnung des Satans, des vierten Freundes Elihu oder der Heilung Hiobs, auch die Nichterwähnung der Frau Hiobs. Dies fällt umso mehr auf, als der anonymen Frau Hiobs aus dem Prolog die mit Namen genannten und wegen ihrer Schönheit berühmten Töchter im Epilog gegenüberstehen (Hi 42,13–15).25 Man kann das Fehlen der genannten Fi 19 Vgl. Hi 6,4; 10,12; 17,1; Syr zu Hi 19,17 (hwjt nwkrj’ „fremd bin ich“); ähnlich Clines, Job 1–20, 448. 20 TestHiob 31,1–4; vgl. auch TestHiob 32,8; 34,4; 35,2; 2Makk 9,9 und die von Grünbaum, Sagenkunde, 263, und Apt, Hiobserzählung, 21, mitgeteilten arabischen Legenden, nach der Hiob wegen seines Körpergeruchs sein Dorf verlassen musste, sowie Cassiodor, Expositio in Ps 37 (zitiert bei Schaller, in: JSHRZ III, 350). 21 Vgl. Huber, Hiob, 78, nr. 43; 158, nr. 111, Hoogland Verkerk, Job, 20–29; Seow, Wife, Fig. 1 (nach S. 360). 22 Vgl. dazu Oeming, Hiobs Monolog, 57–75; Witte, Hiobs „Zeichen“, in diesem Band S. 101–119. Speziell zu Hi 31,9 f.(11 f) vgl. Spr 6,20–35; Sir 9,8; Papyrus Insinger (9. Lehre) 151– 179 (bei Brunner, Weisheitsbücher, 310–312); Lehre des Anch-Scheschonki 353 f (bei Brunner, Weisheitsbücher, 285) – siehe auch Anm. 68 auf S. 149. 23 Siehe dazu Archer, Role, 276 u. 285. 24 Hi 2,9: ‫ ;ִאְשׁתּוֹ‬Hi 19,17 und Hi 31,9 jeweils: ‫ִאְשִׁתּי‬. 25 Siehe dazu bereits bBB 16b sowie Omerzu, Erbe, 61.

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guren im Epilog erzähltechnisch mit dem Hinweis darauf erklären, dass eine Figur vor allem eine Funktion im Blick auf die Hauptfigur hat und nach Erfüllung dieser Aufgabe von der Bühne abtreten kann. Man könnte auch literargeschichtlich darauf hinweisen, dass die Himmelsszenen (Hi  1,1–6; 2,1–7), die Elihureden (Kap. 32–37) und der Dialog zwischen Hiob und seiner Frau (2,9 f) sekundär sind. Inhaltlich lässt sich aber aus der Notiz, dass Hiob neue Kinder geboren werden, auch eine Überwindung der Entfremdung zwischen Hiob und seiner Frau ablesen.26 Auffällig bleibt die Nichterwähnung der Frau Hiobs im Epilog auf jeden Fall.

2.1.4 Zusammenfassung Die Erwähnungen von Hiobs Frau im hebräischen Hiobbuch stehen sachgemäß innerhalb einzelner Passagen, in denen die Motive Anfechtung, Entfremdung und Integrität des leidenden Gerechten sowie die Fragen nach Leben und Tod besonders betont werden. Ein eigentliches Profil der Frau Hiobs lässt sich aus den drei genannten Belegen noch nicht erheben. Diese bilden aber Bausteine eines umfassenderen Bildes, wie es sich in unterschiedlicher Dichte in den antiken Übersetzungen und Weiterverarbeitungen des Hiobbuches findet. Dabei sind es vor allem vier narrative Leerstellen des hebräischen Textes, die in jüdischen Schriften der hellenistisch-römischen Zeit gefüllt werden: 1.) der fehlende Name der Frau, 2.) deren Empfindungen angesichts des Todes ihrer Kinder und der Krankheit ihres Mannes, 3.) die Motivation Hiobs für eine, wenn auch hypothetische Preisgabe seiner Frau, und 4.) deren Schicksal nach der Restitution Hiobs.

2.2 Hiob und seine Frau in der Septuaginta (HiLXX) Die wohl im 2. Jh. v. Chr. erstellte Hiob-Septuaginta27 ist um ca. 18 % kürzer als der MT und weist an einigen Stellen des Hauptteils eine andere kompositionelle Gliederung auf. Dies geht aber primär auf die Tätigkeit der Übersetzer und nicht auf eine grundsätzlich andere Vorlage als die des MT zurück.28 Die für die Er-

26 In diesem Sinn interpretiert Mies, L’espérance, 435, die Nichterwähnung der Frau Hiobs im Epilog. 27 Diese Datierung ergibt sich aus der Beobachtung, dass der jüdisch-hellenistische Exeget Aristeas, der aufgrund der Benutzung durch Alexander Polyhistor (etwa 100–40 v. Chr.) wohl auf die Zeit noch vor 100 v. Chr. zu datieren ist, vom ursprünglichen griechischen Hiobbuch abhängt (Freudenthal, Studien, 139; Gerleman, Studies, 74; Walter, Fragmente, 293–296; Gruen, Heritage, 118 f). 28 Vgl. Witte, Job (in: Kreuzer, Handbuch), 412 f.

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hebung des Bildes der Frau Hiobs entscheidenden Verse sind von der Kürzung nicht betroffen.29 Die Hiob-Septuaginta hat aber an zwei Stellen umfangreiche „Zusätze“ (Hi 2,9a–e; 42,17a–e), die beide zu einer schärferen Profilierung des Bildes der Frau Hiobs beitragen und die sich als eine Füllung narrativer Leerstellen der hebräischen Vorlage verstehen lassen.

2.2.1 Die Klage der Frau Hiobs (Hi 2,9a–e) Der erste Zusatz baut die im MT aus nur aus sechs Wörtern bestehende Rede der Frau in Hi 2,9aβ.b zu einer umfangreichen Klage aus (2,9a–e):30 9 Nachdem aber viel Zeit vorübergegangen war, sagte seine Frau zu ihm: Wie lange wirst du standhaft sein und sagen: a „Siehe, ich warte noch eine kleine Zeit ab und erwarte die Hoffnung auf meine Rettung?“ b Denn siehe, ausgelöscht ist dein Andenken von der Erde, (die) Söhne und Töchter, Geburtsschmerzen und Beschwernisse meines Schoßes, mit denen ich mich umsonst abgemüht habe mit Qualen. c Und du selbst sitzt im Moder des Gewürms und verbringst die Nacht im Freien. d Und ich irre umher31, und zwar als Tagelöhnerin, von Ort zu Ort32 und von Haus zu Haus, (und) warte darauf, wann die Sonne untergehen wird, damit ich ausruhe von den Qualen und Beschwerden, die mich jetzt umfangen. e Also: Sage irgendein Wort zum33 Herrn und stirb! 10 Der aber blickte auf und sagte zu ihr: Wie eine von den unverständigen Frauen hast du geredet.

29 Der sogenannte kirchliche Text der Hiob-Septuaginta stammt von Origenes, der den kürzeren Old Greek Text (OG) zumeist mit Versen bzw. Versteilen aus einer unter dem Namen Theodotion überlieferten Übersetzung angereichert und damit einen Mischtext produziert hat. OG geht auf eine vormasoretische Vorlage zurück, die der des MT über weite Strecken entspricht. 30 Der Kursivsatz zeigt die Differenzen gegenüber dem MT an. 31 πλανωμένη. Rahlfs/Hanhart, Septuaginta, bieten die Variante πλανῆτις („eine Herum­irrerin“). 32 Rahlfs/Hanhart, Septuaginta, lesen zusätzlich περιερχομένη („ziehe ich herum“). 33 Die Übersetzung von εἰς ist umstritten. Möglich wäre auch die Wiedergabe des εἰς mit „gegen“ (vgl. Mk 3,29; Lk 12,10; 22,65; Horst, Hiob, 22; Hartley, Job, 83; Clines, Job 1–20, 53). Der klassische Wortgebrauch von εἰς und die neutrale Formulierung εἶπόν τι ῥῆμα sprechen für die Übersetzung mit „zum“ (Heater, Translation, 35; Cox, Iob, NETS; Kepper/Witte, Septuaginta Deutsch; Seow, Wife, 355); vgl. die Variante πρός (HSS; Syh; TestHiob 26,2 f), die allerdings ebenfalls nicht eindeutig ist, da auch πρός in feindlichem Sinn gebraucht werden kann (vgl. Pindar, Pythia 2,88: χρὴ δὲ πρὸς θεὸν οὐκ ἐρίζειν) und Chrysostomos zur Stelle (οὐκ εἶπεν βλασφήμησον ἀλλ’ εἶπόν τι ῥῆμα πρὸς κύριον).

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Wenn wir die guten Dinge aus der Hand des Herrn34 empfangen haben, sollen wir dann nicht auch die schlechten ertragen? In all diesen Dingen, die ihm widerfahren waren, sündigte Hiob (Job) in nichts mit den Lippen gegen Gott. (HiLXX 2,9 f)

Die Herkunft dieses „Zusatzes“ ist umstritten. Da einzelne Stichen wie Übernahmen aus vorangehenden und nachfolgenden Hiobreden aussehen,35 könnte es sich um eine aus der griechischen Übersetzung des Hiobbuches selbst konstruierte Erweiterung handeln.36 Es muss aber auch mit der Möglichkeit einer Entlehnung aus dem breiten Strom der Hiob-Haggada, wie er sich im Testament Hiobs niedergeschlagen hat, gerechnet werden. Die Tatsache, dass die vororigenistische Hiob-Septuaginta insgesamt die Tendenz zur Kürzung hat und – abgesehen von „Zusätzen“ im Prolog und Epilog – keine substantiellen Überschüsse gegenüber dem MT besitzt,37 spricht jedenfalls dafür, dass die ausführliche Rede der Frau nicht zum ursprünglichen griechischen Hiobbuch gehört hat.38 Gegenüber dem hebräischen Text wird das Gespräch zwischen Hiob und seiner Frau genauer örtlich und zeitlich eingeordnet. Der Dialog findet außerhalb der Stadt, wo der aufgrund seiner Krankheit unrein gewordene Hiob auf einem Dunghaufen sitzt (HiLXX 2,8)39, und nach Ablauf einer unbestimmt langen Zeit statt. Durch die lokale und temporale Streckung wird zum einen die Standhaftigkeit Hiobs, zum anderen die noch bestehende innere Verbindung zwischen Hiob und seiner Frau verdeutlicht. 34 Mit der Übersetzung ἐκ χειρὸς κυρίου (gegenüber ‫ ֵמֵאת ָהֱאִהים‬im MT) nimmt die LXX ein Leitmotiv des gesamten Hiobbuches auf (vgl. HiLXX 1,11; 2,5; 5,18; 10,7 f; 12,9 f; 14,15; 19,21; 23,2b; 27,11; 31,35). 35 Vgl. in HiLXX: Hi 2,9aα // 7,2b; Hi 2,9aβ // 6,8b; 7,6b; Hi 2,9bα // 18,17a; Hi 2,9cα // 7,5a; Hi  2,9dβ // 6,18, Hi  2,9dγ // 7,4; Hi  2,9dδ // 3,13a; (3,23a); 10,20b; Hi  2,9dε // 3,24b; 7,11c; 10,1c; 31,23a. 36 Heater, Translation, 31–36. 37 Dass sich in V. 9a–e zwei LXX-Hapaxlegomena (διανυκτερεύω [vgl. Lk 6,12!], λάτρις) und zwei HiLXX-Hapaxlegomena finden (αἴθριος [vgl. Aischylos, Prometheus 113!], μόχθος), sagt angesichts der hohen Anzahl von absoluten und relativen Hapaxlegomena in HiLXX über die literargeschichtliche Verortung von 2,9a–e nichts aus; wohl aber die Tatsache, dass in Hi 2,9b ἀναμένω anstelle des sonst in HiLXX üblichen Begriffs ὑπομένω gebraucht wird (Ausnahme: Hi 7,2; vgl. auch Sir 2,7 [G]). Auch die unterschiedliche Wiedergabe von ‫ חזק‬und ‫ ברך‬in 2,3 und 2,9 könnte ein Indiz für eine spätere Entstehung von 2,9a–e sein (Clines, Job 1–20, 53). 38 Gleichwohl setzen die unter dem Namen Theodotion überlieferte griechische Fassung des Hiobbuches, die nach einer umfassenden Untersuchung von Peter J. Gentry aus dem frühen 1. Jh. n. Chr. stammt (Gentry, The Asterisked Materials, 494–499), und das TestHiob diese „Zusätze“ voraus. 39 Vgl. als Kontrast HiLXX 29,7 sowie zum Aufenthalt unrein gewordener Menschen „außerhalb der Stadt“ Lev 13,46; (14,40–46); 2Kön 7,3; Lk 17,12. Das Motiv hat in der Kunst stark gewirkt und begegnet von der frühchristlichen Malerei bis in die Gegenwart.

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Aus der Feststellung von Hiobs Frömmigkeit im hebräischen Text ist eine ausdrückliche Frage (μέχρι τίνος) nach der Dauer der Leidensfähigkeit Hiobs ge­worden.40 Insofern LXX kein direktes Äquivalent zum masoretischen ‫תמה‬ bietet und die Beständigkeit Hiobs hier nur mit καρτερέω gegenüber ἔχομαι ausgedrückt wird, ist die Beziehung der Rede der Frau zur Rede Gottes in Hi  2,3 weniger deutlich als im MT. Hingegen wird die Ausdauer Hiobs auch durch die folgende Zitation, die kein Äquivalent im MT und keinen vorausgehenden expliziten Bezugspunkt hat (Hi  2,9a), unterstrichen. Der Ausdruck ἔλπις τῆς σωτηρίας ist in der LXX sonst nicht belegt, findet sich aber, möglicherweise abhängig von HiLXX 2,9, in 1Thess 5,8.41 Mit dem Hinweis der Frau auf den Verlust der Kinder (Hi  2,9b)  wird nun einerseits eindeutiger als im MT markiert, dass bei dem ersten Schlag des Satans gegen Hiob tatsächlich die Kinder (und nicht die Knechte Hiobs) ums Leben gekommen sind (1,19; 21,11–13),42 andererseits wird eine Leerstelle des hebräischen Textes, nämlich die Frage nach den eigenen Empfindungen der Frau, artikuliert. Parallel zu den Formulierungen in Gen 3,16 und Tob 4,4 lässt der Verfasser des Zusatzes Hiobs Frau auf die Mühsal ihrer Schwangerschaft und auf ihre Geburtsschmerzen verweisen, die angesichts des vorzeitigen Todes der Kinder „umsonst“ (εἰς τὸ κενόν) waren.43 Inhaltlich nimmt ausdrücklich damit die Frau Hiobs dessen Lebensklage in Kap. 3 (vgl. besonders V. 10 f) vorweg. Mittels der Klage über das rastlose Umherziehen als Dienstmagd (λάτρις, Hi 2,9d) thematisiert der griechische Ergänzer ausdrücklich auch das Leiden der Frau und schreibt diese in das Schicksal Hiobs ein. Die Parallelisierung zwischen Hiob und seiner Frau zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Verfasser hier for-

40 μέχρι τίνος καρτερήσεις λέγων: καρτερέω entspricht ‫„( ַמֲח ִזיק ְבֻּתָמֶּת‬du hältst an deiner Unschuld fest“) im MT, während λέγων bereits die folgende Zitation Hiobs einleitet, so dass es nicht geboten ist, zu übersetzen: „fortfahren zu sagen“ (gegen Lust, Lexicon, 229). Zu καρτερέω (καρτερία) als terminus technicus der Bewährung in der Anfechtung (πειρασμός) und des Martyriums vgl. Sir 2,1 f (G) bzw. 4Makk 6,13; 9,9.28; 10,1.11; 11,12; 13,11; 14,9; 15,28.30; 16,4. 41 Hainthaler, Ausdauer, 226–229. Vgl. weiterhin grHen  98,14; Josephus, ant. I 327,4; XV 153,3. Die Wendung kommt auffallend häufig bei griechischen Rhetorikern vor, vgl. Isokrates, Antidoseos 299,3; Aelius Aristides, Panathinaikos 130,20; Dionysios v. Halikarnassos, Antiquitates Romanae 13,6,5,1; De Lysia 33,64; Cassius Dio, Historia Romana 74,2,4,1; 106,6. 42 Dass auch im hebräischen Text von Hi 1,19 der Tod der Kinder ausgedrückt werden soll, ist aufgrund des Kontextes in V. 18 (vgl. 1,13) und der klimaktischen Anlage der Hiobsbotschaften wahrscheinlich. Die Formulierung ‫ ְנָּע ִרים‬ist aber mehrdeutig (vgl. 1,15.16.17). Die LXX ist hier eindeutig, indem sie zwischen παῖδες (Hi 1,15.17) bzw. ποιμήνες (V. 16) einerseits und τὰ παιδία σου in 1,19 andererseits unterscheidet, ähnlich dann auch AristEx 3 (bei Denis, Fragmenta, 195 f) sowie TestHiob 18,1; 39,8: jeweils τὰ τέκνα αὐτοῦ. 43 Vgl. LevLXX 26,20 und als Kontrast Jes 65,23; HiLXX 39,16 sowie zur Ermahnung, die Mühsal der Mutter in Schwangerschaft und Geburt nicht zu vergessen, Sir 7,27 (G); Plato, Nomoi 717c; Xenophon, Memorabilien II 2,5; Euripides, Frgm. 1064; Lehre des Ani 242–261 (bei Brunner, Weisheitsbücher, 208); siehe dazu auch Bohlen, Ehrung, 287–295.

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melhafte Verse vor allem aus den Klagen Hiobs in Kap. 3 und Kap. 6 f verwendet und die Frau so Hiobreden antizipieren lässt. Der Aufruf an Hiob, er möge Gott „segnen“ im Sinn von „fluchen“, ist im ursprünglichen griechischen Text abgemildert (εἶπόν τι ῥῆμα, Hi  2,9e).44 Allerdings zeigt der sachlich mit dem MT übereinstimmende V. 10, dass auch der Hiob der LXX diese Aufforderung der Frau als Blasphemie und als Zeichen von Torheit versteht. Mit der gegenüber dem MT überschießenden Wendung ὁ δὲ ἐμβλέψας (V. 10a) wird nochmals die personale Beziehung zwischen Hiob und seiner Frau unterstrichen und gleichzeitig die wachsende Distanz zwischen beiden ausgedrückt. Letzteres betont der griechische Übersetzer auch durch die Kennzeichnung der Frau als einer Unbesonnenen (ἄφρων, Hi  2,10; vgl. 5,2 f; Spr 9,13; SapSal 3,12), was im Kontrast zum Urteil des Erzählers über Hiob, dieser habe Gott gegenüber kein Zeichen von Unbesonnenheit (ἀφροσύνη) gegeben (HiLXX 1,22), steht. Durch den stilistischen Wechsel in V. 10c zwischen δέχομαι („empfangen“) und ὑποφέρω („ertragen“)45 – gegenüber dem doppelten ‫ קבל‬im hebräischen Text – und durch die über den MT hinausgehenden Parallelisierungen mit Hi 1,22 in V. 10d (τοῖς συμβεβηκόσιν αὐτῷ vgl. HiLXX 42,11) und V. 10e (ἐναντίον τοῦ θεοῦ)46 wird nochmals das Motiv des Duldens Hiobs hervorgehoben: „Ein weiser Mann erträgt vieles“ (ἀνὴρ δὲ φρόνιμος πολλὰ ὑποφέρει, SprLXX 14,17b; TestHiob 26,3). Im Rahmen kanonischer und deuterokanonischer Texte hat die Szene in HiLXX 2,9 f kompositionell und tendenziell ihre nächste Parallele in den Dialogen zwischen Tobit und seiner Frau Hanna in Tob 2,13 f; 5,18–22; 10,4–7. Vor allem der erste Dialog in Tob 2,13 f ist narrativ in eine vergleichbare Situation eingeordnet: Der erblindete und arbeitsunfähige Tobit verdächtigt die für ihren gemeinsamen Lebensunterhalt sorgende Hanna fälschlich des Diebstahls, worauf diese ihn wegen seiner andauernd frommen Haltung kritisiert und nach dem Nutzen seiner Frömmigkeit fragt. Doch sie [Hanna] antwortete mir [dem Tobit]: Wo sind denn deine Barmherzigkeitserweise und deine (Taten der) Gerechtigkeit? Bekannt ist alles, was es mit dir auf sich hat. (TobB/A 2,14b)47

44 In einzelnen Varianten ist dies dann wieder eindeutig festgelegt: So erscheint in den Sacra Parallela I,1328, des Johannes Damascenus zusätzlich zu ῥῆμα βλάσφημον (vgl. Dan 3,96; SapSal 1,6; Apg 6,11; Hermas 96,1; Josephus, ant. VIII 392); die wichtige Minuskel 248 (13. Jh.) liest κατάρασαι; vgl. auch die Beischrift auf der Miniatur zu Hi  2,7–10 im Codex Vaticanus Graecus 749 (9. Jh.), bei Huber, Hiob, 110 f, nr. 71; und s. o. Anm. 33, S. 141. 45 Vgl. SprLXX 14,17; 2Makk 6,30; 7,36; 4Makk 14,12; 17,3; 1Petr 2,19; 2Tim 3,11. 46 Zur Redewendung ἁμαρτάνειν ἐναντίον θεοῦ vgl. GenLXX 13,13; 39,9; EpJer 1,1. 47 Unter den bisher aus Qumran bekannten aramäischen und hebräischen Fragmenten des Tobitbuches (4Q196 bzw. 4Q200) findet sich kein Äquivalent zu Tob 2,13 f.

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In der lateinischen Fassung des Tobitbuches ist die Parallele zwischen Hi 2,9 f und Tob 2,13 f ausdrücklich vermerkt: 12 Diese Versuchung ließ der Herr aber deswegen über jenen [Tobit] kommen, damit den Späteren ein Beispiel seiner Geduld wie auch [der] des heiligen Hiob gegeben würde. […] 15 Denn wie den seligen Hiob Könige verspotteten, so diesen [Tobit] seine Verwandten und Bekannten48, die sein Leben verlachten und sagten […]. 22 Darauf antwortete seine Frau erzürnt: Deine Hoffnung ist als nichtig offenbar geworden, und deine Barmherzigkeitserweise haben sich nur als Schein erwiesen. 23 Und mit solchen und anderen Worten dieser Art tadelte sie49 ihn. (TobVg 2,12–23)50

Die Parallele zwischen HiLXX 2,9 f und Tob 2,13 f ist auch redaktions- und sozialgeschichtlich interessant. So dürften die Dialoge zwischen Tobit und Hanna wie HiLXX 2,9 auf eine sekundäre Fortschreibung zurückgehen und dabei die gewachsene Bedeutung von Frauen im hellenistisch geprägten Judentum wider­ spiegeln.51 Motivisch steht die Rede der Frau Hiobs über V. 9b (ἐμῆς κοιλίας ὠδῖνες καὶ πόνοι) einerseits mit Gen 3,16 in Verbindung, so dass Hiobs Frau in ihrer Rolle als leidende Mutter als exemplarische Eva erscheint (vgl. Gen 3,20). In altkirchlichen Auslegungen von Hi 2,9 ist Hiobs Frau dann vor dem Hintergrund, dass ihr Aufruf an Hiob, Gott abzusagen, als vom Satan inspirierte Verführung gedeutet wird, ausdrücklich mit Eva als Verführerin (vgl. Gen 3,13) parallelisiert.52 48 Gegen Schüngel-Straumann, Tobit, 73, bezeichnet cognati nicht Tobits „Ehefrau“. 49 Gegen Schüngel-Straumann, Tobit, 73, ist in V. 23 nicht Hiob, sondern dessen Frau Subjekt. 50 Ob die Zusätze in der Vg in V. 12–87 und in V. 23 auf Hieronymus selbst zurückgehen oder ob er diese aus einer anderen Quelle (sei es aus einem Targum, sei es aus Cyprian, De mortalitate, 10) übernommen hat, ist umstritten (siehe dazu Philonenko, Sem. 18, 12 f; Fitzmyer, Tobit, 139). Oberhänsli-Widmer, Hiob, 81 f, vermutet, dass hier die Personenkonstellation zwischen Hiob und seiner Frau, wie sie sich im TestHiob (s. u.), zeigt, rezipiert sei, und verweist zutreffend auf das analoge Gegenüber von Adam und Eva in VitAd. 51 Vgl. Deselaers, Tobit, 374–379; Schüngel-Straumann, Tobit, 70 Anm. 27; Kessler, Sozialgeschichte, 176. 52 Siehe vor allem die Hiob-Kommentare von Didymos, Johannes Chrysostomos und Olympiodor jeweils zur Stelle. Besonders bei Chrysostomos erscheint Hiobs Frau in zahlreichen seiner Schriften als Paradigma der schlechten Ehefrau und als stärkste Waffe des Satan (Brottier, L’actualisation, 89–91). Auch auf dem Sarkophag des Junius Bassus (s. o. Anm. 21, S. 139) wird das Relief von Hiob, seiner Frau und dem Satan (?) unmittelbar flankiert von der Darstellung Adams, Evas und der Schlange (zum Bildprogramm des Sarkophags siehe Hoogland Verkerk, Job, 20–29). Zur Rezeptionsgeschichte von Augustins Bezeichnung der Frau Hiobs als diaboli adiutrix (vgl. auch Leontius von Byzanz, In uxorem Job, Z. 124–138, und noch Horst, Hiob, 28), siehe Susman, Hiob, 37 („seine Frau, eine zweite, düsterere Eva, [die] sich mit der Satansmacht verbündet“) sowie Oeming, Ijobs Frau, 27, und Seow, Wife, 351–373.

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Andererseits steht das Bild der als Mutter leidenden Frau Hiobs in einem starken Kontrast zum Bild der Mutter der Sieben Märtyrer, die gerade nicht die Klage anstimmt, dass ihre Schwangerschaften vergeblich und ihre Geburtsschmerzen umsonst gewesen seien (4Makk 16,7 f), und die daher, wie es auch in der HiobSeptuaginta anklingt, als Ideal der σωφροσύνη gilt.53 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die σωφροσύνη (neben der ἀφέλεια) im paganen Bereich zu den zentralen Tugenden der griechischen Frau zählte.54 Betrachtet man die Rede der Frau Hiobs in HiLXX 2,9 weitergehend vor dem Hintergrund der paganen griechisch-hellenistischen Literatur  – und dies ist neben dem Bezug auf die hebräischen Vorlagen der literaturgeschichtliche Referenzrahmen der LXX – dann steht Hiobs Frau neben den großen Frauenfiguren der klassischen Tragödie. Der Wortschatz der Übersetzer des griechischen Hiobbuches zeigt durchgehend deren Vertrautheit mit dem hellenistischen Bildungskanon.55 Hier nun sind es vor allem einzelne Passagen in den Dramen des Euripides, die Hiobs Frau als Schwester der Medeia, der Andromache oder der Hekabe erscheinen lassen. Der Nachweis einer literarischen Beeinflussung lässt sich zwar kaum führen. Dass sich aber die griechischen Übersetzer des Hiobbuches, zumal wenn sie in einer Metropole wie Alexandria anzusiedeln sind, von einer griechischen Tragödie anregen lassen konnten, ist nicht ausgeschlossen. Euripides wurde in der gesamten Antike aufgeführt und war im Hellenismus der beliebteste Tragiker. Den Theaterbesuch von Juden in Alexandria belegt Philo.56 Das MoseDrama (Exagoge) des Ezechiel aus der zweiten Hälfte des 3. Jh. v. Chr. zeigt, dass sich jüdische Dichter der hellenistischen Zeit an Gattungen der griechischen Literatur orientierten, sei es, dass die Exagoge zur Aufführung in einem jüdischen Theater, sei es, dass sie als Lesedrama gedacht war.57 Und welches Buch bot sich besser zur Korrelation mit griechischen Werken an als das dramatisch angelegte Buch Hiob!58 Auch wenn in den einzelnen Fällen die Ursachen für die leidvolle

53 Die Begriffe σωφροσύνη und σώφρων sind im jüdischen Schrifttum der hellenistischrömischen Zeit fast ausschließlich auf das im 1. Jh. n. Chr. entstandene 4Makk (sowie das Testament Josephs) beschränkt. 54 Vgl. Semonides, Frgm. 7,108; Xenophon, Oeconomicus VI 14 f; Plutarch, Phocion 19,1,3. 55 Homer, Hesiod, Sophokles, Euripides, Kallimachos, Apollonios v. Rhodos, vgl. dazu im Einzelnen Kepper/Witte, Septuaginta Deutsch, Erläuterungen, Bd. 2, 2067–2126. 56 Philo, prob. 141 f (mit einem Euripides-Zitat!); legat. 368,1; opif. 78; ebr. 177. Vgl. auch die positive Würdigung des Theaters im Aristeasbrief § 284; 316. 57 Vogt, Tragiker Ezechiel, 117; Frazer, Alexandria, Bd. 1, 707; Bd. 2, 987 Nr. 203; Oegema, Poetische Schriften, 37. Zum Aufkommen des „Lesedramas“ in hellenistischer Zeit siehe Lesky, Dichtung, 530–538. 58 Vgl. dazu Witte, Gattung, in diesem Band S. 37–64, wo auch die von Theodor von Mopsuestia bis Horace M. Kallen geführte Diskussion dargestellt wird, ob das hebräische Hiobbuch eine von griechischen Vorbildern (Euripides?) inspirierte Tragödie sei; sowie Mies, L’espérance, 237–263.

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Situation unterschiedlich sind, finden sich besonders eindrückliche Beispiele in den Klagen einzelner Frauen in den Tragödien des Euripides: Aus Klagen der Medeia: 797 Und weiter dann! Was nützt das Leben mir? Ich habe 798 kein Vaterland, kein Haus, kein Obdach vor dem Unglück. 1029 Ich habe euch umsonst, ihr Kinder, aufgezogen, 1030 umsonst gemüht mich, aufgerieben mich in Nöten, 1031 als ich bei der Geburt die wilden Schmerzen litt!59

Aus einer Klage der Andromache: 757 758 759 760

Du Kind in meinem Arm, du Liebstes deiner Mutter, du süßer Duft des Leibes! Ohne Sinn hat dich in deinen Windeln meine Brust genährt, umsonst hab ich gesorgt, in Mühsal aufgerieben mich.60

Aus einer Klage der Hekabe: 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165

Wehe, ich Arme! Was soll ich nur jammern? Welch einen Klageschrei? Welch einen Wehruf? Elend im elenden Alter, in der Knechtschaft, die nicht zu ertragen, nicht auszuhalten! O weh mir! Wer hilft mir? Welch ein Geschlecht und welch eine Stadt? Dahin ist der Greis, dahin sind die Söhne. Wohin soll ich gehen, nach hier, nach dort? Wohin mich wenden? Wo ist ein Gott oder Daimon als Beistand?61

2.2.2 Modifikationen der Reden Hiobs über seine Frau in HiLXX Die zweite Erwähnung der Frau Hiobs im hebräischen Text in Hi 19,17 wird in der LXX ohne Zusatz, aber mit charakteristischen Modifikationen wiedergegeben: Und ich flehte meine Frau an, und ich rief mit Schmeicheleien die Söhne meiner Nebenfrauen herbei. (HiLXX 19,17)

59 Euripides, Medeia (Übersetzung von Ebener, Euripides, I, 72; 79). 60 Euripides, Die Troerinnen (Übersetzung von Ebener, Euripides, II, 83). 61 Euripides, Hekabe (Übersetzung von Ebener, Euripides, I, 149).

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Hiob und seine Frau in jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 

Das drastische Bild des seiner Familie zum Ekel gewordenen Hiob ist damit entschärft und auf eine Klage des von seinen Nächsten Verlassenen konzentriert,62 aus der sowohl die Selbstdemütigung des Leidenden als auch Kritik an den Nächsten spricht. Der im MT bestehende Widerspruch zwischen Hi 19,17b und 1,19 ist in der LXX nicht vorhanden, insofern hier Hiob nicht die Söhne seines Leibes, sondern die Söhne seiner Nebenfrauen (παλλακίς) ruft.63 Von Nebenfrauen ist im hebräischen Hiobbuch keine Rede. Motivisch wird Hiob hierdurch weiter, wie bereits im Prolog des hebräischen Buches angelegt, in das Milieu der Patriarchen Israels eingeschrieben, deren Nebenfrauen (‫ )פילגש‬die Genesis häufig erwähnt.64 Auch die dritte Notiz zur Frau Hiobs im hebräischen Text in Hi 31,9–12 wird in der LXX substantiell äquivalent, wenn auch mit leichten Veränderungen wiedergegeben: Wenn mein Herz der Frau eines anderen Mannes gefolgt wäre, und wenn ich mich an ihren Türen hingesetzt hätte, dann möge auch meine Frau einem anderen gefallen, und meine kleinen Kinder mögen erniedrigt werden. Denn das ist eine nicht zu bändigende Glut des Zorns, die Frau eines anderen Mannes zu schänden. Denn das ist ein an allen Teilen brennendes Feuer, und wo immer es herbeikommt, da lässt es von den Wurzeln her zugrunde gehen. (HiLXX 31,9–12)

Der hypothetische Ehebruch Hiobs ist gegenüber dem MT durch den Zusatz ἀνδρὸς ἑτέρου verdeutlicht (V. 9a); der Aspekt der Verführung, der sich im MT zeigt (‫)נפתה‬, entfällt. Die Ambivalenz des Ausdrucks ‫„( תטחן‬sie möge mahlen“, V. 10) ist im Sinn einer sexuellen Interpretation aufgelöst (ἀρέσαι).65 Die Preisgabe der Ehefrau ist um die Auslieferung der eigenen kleinen Kinder (νήπια) er-

62 Übersetzungstechnisch basiert LXX auf einer mit der des MT vergleichbaren Vorlage, insofern der Übersetzer mit προσεκαλούμην δὲ κολακεύων ‫ ַחֹנִּתי‬von ‫ חנן‬I „flehen“ ableitet (vgl. V. 16, sowie Tg und Syr) und mit ἱκέτευον möglicherweise eine Form von ‫„ צרח‬schreien“ gelesen hat. 63 Auch Symmachos vermeidet den Widerspruch, der im MT vorliegt, indem er mit υἱοὺς παίδων μου („meine Enkel“) übersetzt; vgl. weiterhin HiLXX 17,5. 64 Vgl. Gen 22,24; 25,6; 35,22; 36,12; 46,20 (LXX) u.ö. Zur rabbinischen Diskussion, ob Hiob zeitgleich mehrere Frauen gehabt habe, siehe Ginzberg, Legends, II, 241; V, 388. 65 Vgl. auch die altlateinische Version (VL) des Hiobbuches, die wie die Fassung der Vulgata in ihrer vollständig erhaltenen Form von Hieronymus stammt, (placeat) und die Vg (scortum sit), wobei Hieronymus in der Wiedergabe von ‫ ִאָשּׁה‬bzw. γυνή fein zwischen mulier (31,9VL/ Vg ) und uxor (31,10VL/Vg; 31,11VL) unterscheidet; vgl. auch Syr, der in V. 9a nwkrjt’ „eine fremde (Frau)“ ergänzt (vgl. Spr 5,20; 6,24; bBB 16a: „Raba sagte: Erde in den Mund Hiobs; er wollte fremde Frauen [sehen], während Abraham nicht einmal seine [Frau] angesehen hatte, denn es heißt“ [vgl. Gen 12,11]).

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weitert.66 Der schwierige V. 11b (‫)והיא עון פלילים‬67 wird gemäß der jüdisch-hellenistischen Sexualethik paraphrasiert,68 wobei das Verb μιαίνω in der LXX eine zentrale Rolle in der Erzählung von der Schandtat an der Jakobstochter Dina spielt (Gen 34,13.27).

2.2.3 Hiobs Frau im Epilog der HiLXX Ein letztes Mal erscheint Hiobs Frau in der LXX in einem literarisch mehrschichtigen Nachtrag zum Epilog (Hi 42,17a.b–e). Dieser geht wie der Zusatz in 2,9a–e auf eine innergriechische Fortschreibung zurück, wobei auch hier  – trotz des als Quellenangabe zu deutenden Verses 42,17b –69 die Herkunft des Textstückes unsicher ist.70 Theodotion bietet es, der Exeget Aristeas setzt zumindest die 42,17b–e voraus. Über den hebräischen Text hinausgehend, erfährt der Leser hier, dass der edomitische König (βασιλεύς) Hiob/Job, der früher Jobab hieß,71 eine Araberin (γυνὴ ’Αράβισσα) zur Frau nahm, mit ihr einen Sohn namens­ Ennon (Εννων) zeugte und über Esau von Abraham abstammte. Die Notiz über die arabische Frau verblüfft in mehrfacher Hinsicht. Zunächst stellt sich die Frage, ob es sich um dieselbe Frau handelt, von der in Hi 2,9 die Rede ist, also um Hiobs erste (und einzige) Frau, oder um eine zusätzliche (Neben-)Frau oder um eine neue Frau, die Hiob nach dem implizit vorauszusetzenden Tod der ersten Frau (nach seiner Restitution) geheiratet hat.72 Der griechische Text hat mit diesem Zusatz eine neue narrative Leerstelle geschaffen, die dann im Testament Hiobs gefüllt wird. Sodann ergibt sich die Frage, weshalb betont wird, dass diese Frau eine ’Αράβισσα war. Basiert dies nur auf der geo­ graphischen Verortung Hiobs „im Land Ausitis an den Grenzen Idumäas und

66 Natürlich lässt sich darüber spekulieren, wie der genaue hebräische Wortlaut der Vorlage des griechischen Textes war (vgl. Beer, Text, 199 f). Wesentlich ist aber, wie der in sich verständliche griechische Text im Kontext des griechischen Hiobbuches und vor dem Hintergrund hellenistischer jüdischer und paganer Literatur zu verstehen ist. 67 Siehe dazu ausführlich Strauss, Hiob, 219 f, und Clines, Job 21–37, 963. 68 Vgl. TestBen 8,2; Jdt 13,16; Ps.-Phokylides 3; 67; 177–183; 190 f; 213 f. Zu weiteren altorientalischen und antiken Parallelen s. o. Anm. 22, S. 139, und W. T. Wilson, Pseudo-Phocylides, 79, Anm. 21. 69 Ich verstehe die mehrdeutige Wendung in 42,17b οὗτος ἑρμηνεύεται ἐκ τῆς Συριακῆς βίβλου im Sinn eines Hinweises auf die Übersetzung des Buches Hiob aus einer „syrischen“, d. h. hebräischen Vorlage; vgl. dazu Witte, Job (in: Kreuzer, Handbuch), 416. 70 Zumindest 42,17d könnten aus GenLXX 36,32–35 entlehnt sein, siehe dazu Witte, Hiobs Sohn, in diesem Band, S. 165–170. 71 Die wohl innergriechisch gewonnene Namensbestimmung beruht auf der Identifikation Hiobs (Ιωβ) mit dem in Gen 36,33 f genannten Jobab (Ιωβαβ); vgl. auch AristEx 3 (bei Denis, Fragmenta, 196). 72 Letzteres vermuten Schaller, in: JSHRZ III, 326, und Oberhänsli-Widmer, Hiob, 47.

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Arabiens“ (42,17bβ),73 oder hat das eine zusätzliche inhaltliche Konnotation? Zwei Hypothesen für eine inhaltliche Bedeutung der „Araberin“ möchte ich andeuten. 1.) In 42,17a heißt es, dass Hiob einst auferstehen werde.74 Im ursprünglichen griechischen Text von Hi 29,18 äußert Hiob die Hoffnung, dass er „wie der Phönix“ (‫)כחול‬75 lange leben werde. Der Phönix galt aber in der Spätantike als Symbol der Auferstehung;76 als seine Heimat wurde unter anderem Arabien vermutet.77 Vor diesem Hintergrund könnte also die Zuweisung einer arabischen Frau an Hiob als Symbol des neuen Lebens verstanden werden. In dem gemeinsamen Sohn Ennon nimmt dieses jedenfalls schon eine erste Gestalt an.78 2.) Nach der hinter Gal 4,24 f stehenden Tradition erscheint Hagar, die Magd Abrahams, als Araberin.79 Wird ein solcher Traditionshintergrund auch für HiLXX 42,17 angenommen, läge hier eine weitergehende Parallelisierung von Hiob und Abraham vor.80 Oder sollte hier eine Angleichung Hiobs an Mose vorliegen, des-

73 Zur Beschreibung der Grenzen Arabiens im zeitlichen Umfeld der LXX siehe Strabo, Geographie, 16,3,1: „Über Judäa und Cölesyrien liegt bis Babylonien und bis zum Stromgebiete des Euphrat hin gegen Süden das gesamte Arabien mit Ausnahme der Sceniten in Mesopotamien […] Arabiens nördliche Seite bildet also die erwähnte Wüste, die östliche aber der Persische Meerbusen, die westliche der Arabische und der südliche das große Meer außerhalb dieser beiden Busen, welches man im ganzen das Rote Meer nennt.“ (Übersetzung: Forbinger, Strabo, 1076); Simons, Texts, § 1172; § 1634–1653. 74 γέγραπται δὲ αὐτὸν πάλιν ἀναστήσεσθαι μεθ’ ὧν ὁ κύριος ἀνίστησιν; vgl. HiLXX 19,25 f; DanLXX 12,2.13; 2Makk 7,14; 12,43 und dazu die byzantinischen Miniaturen von der Auferweckung Hiobs, Noahs und Daniels (bei Huber, Hiob, 240 f)  sowie die spätere jüdische Vorstellung, dass Hiob wie Noah und Daniel erneuert werde (‫ ;נתחדש‬Ginzberg, Legends, V, 388 Anm.  35), die im Gegensatz zur in bBB 16a geäußerten Kritik an Hiob steht, er habe  – mit seinen Worten in Hi 7,9 – die Auferstehung geleugnet. 75 Im heute vorliegenden griechischen Text (ὥσπερ στέλεχος φοίνικος) ist das doppeldeutige Wort φοῖνιξ, das sowohl für „Dattelpalme“ als auch für den fabelhaften Vogel „Phönix“ stehen kann, aufgrund der Glosse στέλεχος „Stamm“ eindeutig mit „Palme“ zu übersetzen. 76 Vgl. 1Clem 25,1; Physiologus, nr. 7 (bei Treu, 18–20). 77 Vgl. Herodot, Historien II, 73; Diogenes Laert., Leben IX, 79. 78 Die von mir in der Erstpublikation dieses Beitrags (2009) geäußerte Vermutung, der Name Ennon könne in einem Zusammenhang mit dem hebräischen Wort ‫ אן‬I („Zeugungskraft“, „Vermögen“; vgl. Gen 49,3; Dtn 21,17; Hi 20,10) stehen und so auf Hiobs/Jobs neue Lebenskraft verweisen, ist hinfällig, siehe dazu meinen Aufsatz Hiobs Sohn, in diesem Band, S. 165–170. 79 In MT und LXX gilt Hagar gleichwohl als Ägypterin. Doch spricht für ihre arabische Zuordnung, dass sie nach Gen 25,12–18 die Stammmutter der arabischen Stämme ist. Zur Parallelität der Frau Hiobs und Hagars gehört auch das Motiv des Herumirrens (πλανάω) in HiLXX 2,9 und GenLXX 21,14. 80 Zur nachbiblischen Gegenüberstellung von Hiob und Abraham siehe bereits TgHi 5,17; 30,19; TestAbr A 15,15; bBB 15b–16a; vgl. dazu auch Ginzberg, Legends, II, 225–231 (V, 381– 383); Glatzer, God, 41–47; Leibowitz, Image, 360–375; Weinberg, Job, 281–296; Oberhänsli-Widmer, Hiob, 126–131, sowie Witte, Hiob und die Väter, in diesem Band, S. 171–189.

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sen midianitische Frau (vgl. Ex 2,15–22) bei dem jüdisch-hellenistischen Historiker Artapanos als Araberin erscheint und mit dem bereits auf der Ebene später literarischer Schichten des biblischen Textes charakteristische Überschneidungen81 bestehen?

2.2.4 Zusammenfassung Insgesamt bietet die LXX ein reicher ausgeschmücktes Bild der Frau Hiobs als der MT. Vor allem durch den Ausbau der Rede in Hi 2,9 mittels Zitation und Antizipation von Hiobreden und kompositioneller Angleichung an biblische Klagelieder (vgl. PsLXX 38) und an Klagen einzelner Frauen in Tragödien des Euripides erscheint die Frau Hiobs stärker als eigenes Subjekt. Gleichwohl hat die LXX neue Leerstellen produziert. Diese wird nun das Testament Hiobs füllen.

2.3 Hiob und seine Frauen im Testament Hiobs Das im 1. oder 2. Jh. n. Chr. auf Griechisch abgefasste TestHiob, das das vororigenistische griechische Hiobbuch voraussetzt und literarisch zur mit dramatischen und midraschartigen Elementen angereicherten Testamentenliteratur zählt,82 insofern es sich makrokompositionell als Ermahnungs- und Erbauungsrede des auf sein Leben zurückblickenden Hiob an seine Kinder gibt, widmet sich in umfassender Weise auch den Frauen Hiobs.

2.3.1 Hiobs zweite Frau (TestHiob 1,5 f) Bereits mit der ersten Erwähnung der Frau Hiobs, der nun als ägyptischer König erscheint (TestHiob 28,7; 29,3), wird eine zentrale Leerstelle des MT und der LXX gefüllt (TestHiob 1,5 f): Hiobs Frau, genauer Hiobs zweite, nach der Leidenszeit und nach dem Tod der ersten Gemahlin (1,6; 21,2) geheiratete Frau, trägt einen Namen: Dina (Δινα). Sie ist die Mutter der Hiob nach der Restitution geschenkten neuen Kinder. So wird Hiob mittels seiner Frau Dina in die Familie Jakobs (vgl. Gen 30,21; 34; 46,15) und damit weitergehend in die Geschichte Israels ein-

81 Artapanos (nach Euseb, praep. 9,27,19 [bei Denis, Fragmenta, 191]). Zur „Mosaisierung“ Hiobs siehe auch Witte, Hiobs „Zeichen“, in diesem Band S. 101–119; Ders., Torah, in diesem Band S. 121–132, sowie ausführlich Rohde, Knecht. 82 Zum Text siehe Brock, Testamentum. Auf die literarhistorischen Fragen des TestHiob kann hier nicht eingegangen werden, siehe dazu Philonenko, Sem. 18, 9–24; Schaller, in: JSHRZ III, 303–324; Spittler, in: OTP I, 829–868; van der Horst/Knibb, Studies; Rahnenführer, Testament.

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geschrieben. Eine ähnliche Funktion erfüllt Dina, wenn sie bei einzelnen Rabbinen zur Mutter von Josephs ägyptischer Frau Aseneth wird.83 Das Motiv der Heirat der Jüdin Dina gehört zum Programm der Einholung Hiobs ins Judentum im TestHiob,84 das die Leiden Hiobs letztlich als Folgen seiner Konversion vom Heiden zum Juden und seines Bekenntnisses zum allein wahren Gott versteht. Die Notiz, dass Hiobs erste (oder zweite) Frau die Jakobstochter Dina war, teilt TestHiob 1,5 f mit Ps-Philo, LibAnt 8,785, mit dem frühmittelalterlichen Targum zu Hi 2,9 und mit bBB 15b.86 Ausweislich der Diskussion in bBB 15b basiert die Identifikation der Frau Hiobs mit Dina auf der rabbinischen Verknüpfung des Wortes ‫„ נבלה‬Schandtat“ in Gen 34,7 mit der Bezeichnung von Hiobs Frau als einer ‫„ נבלה‬Törin“ in Hi 2,9. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ausgeschlossen, dass die alttestamentliche Erzählung von der Vergewaltigung der Dina in Gen 34, die in der zwischentestamentlichen Literatur ohnehin eine große Rolle spielt,87 auch hinter der Gestaltung von HiLXX 31,12 steht.88 Dass der von der hebräischen und aramäischen Wurzel dîn „richten/rechten/streiten“ abzuleitende Kunstname Dina auch inhaltlich gut zu Hiobs Frau passt (vgl. den Begriff ‫„ דין‬Gericht“ in Hi 19,29; 35,14; 36,17), dürfte ein weiteres Motiv bei dieser Benennung gewesen sein.89 Nun ist das TestHiob für griechische Leser in einem griechisch geprägten Umfeld geschrieben. Dabei bedient es sich gerade bei der Namensgebung, wie schon das griechische Hiobbuch im Fall der Töchter Hiobs (TestHiob 42,13–15),90 83 Vgl. dazu Aptowitzer, Aseneth, 243–256. 84 Vgl. auch die Ermahnung Hiobs an seine Söhne, keine nichtjüdischen Frauen zu heiraten (TestHiob 45,3; vgl. Tob 4,12; Esr 9,1 f; 10,3–44; TestLev 9,10; 14,6; Jub 20,4; 22,20; 25, 1–10; 30,7.11.13; JosAs 7,5); siehe dazu auch Philonenko, Sem. 18, 21, und OberhänsliWidmer, Hiob, 65–72. Eine strukturelle biblische Parallele zur Einholung eines heidnischen Mannes ins Judentum durch eine Frau bietet in gewisser Weise die Erzählung von der Heilung des ­Aramäers Naeman in 2Kön 5,2. 85 Dort explizit als erste und einzige Frau. 86 Vgl. weiterhin BerR 19,12; 57,4; 76,9; 80,4. 87 JosAs 23,13(14); Jdt 9,2–5; Jub 28,23; 30,1–17; 34,15; TestLev  2,2; 6,1–7,4; Theodotus (nach Euseb, praep. 9,22,1–11: Frgm. 3 und Frgm. 4 [bei Denis, Fragmenta, 204–207]); Demetrius (nach Euseb, praep. 9,21,1–19: 21,9 [bei Denis, Fragmenta, 174–179]); Josephus, ant. I 337–341.; Ps-Philo, LibAnt 8,7; Philo, migr. 223–225. Zur innerbiblischen Vorgeschichte der Erzählung von Dina siehe Levin, Dina, 61–72, zur nachbiblischen Rezeptionsgeschichte siehe Standhartinger, Frauenbild, 151–169. 88 Vgl. das Leitwort der Dina-Geschichte in ihrer LXX-Fassung μιαίνω (Gen 34,13.27) in Hi 31,12. 89 Vgl. schon Philo, migr. 223,5 (Δεῖνα κρίσις γὰρ ἑρμενεύεται); mut. 195,1 (Δεῖνα κρίσις ἢ δίκη). Zu muslimischen Traditionen, nach denen Hiobs Frau Raḥma („Gnade/die Barmherzige“) oder Liah/Leah hieß, siehe Grünbaum, Sagenkunde, 266; Apt, Hiobserzählung, 12–30 (Raḥma als Tochter bzw. Enkelin Josephs); Oberhänsli-Widmer, Hiob, 117 f; Seow, Wife, 363–366. 90 So gründet der Name der dritten Tochter ’Αμαλθείας κέρας in der mythischen Tradition von der Ernährung des neugeborenen Zeus durch die Ziege Amaltheia, deren abgebrochenes

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griechi­scher Mythologie und griechischer Etymologien. Deutlich zeigt sich dies bei den Namen der neuen Söhne Hiobs in TestHiob 1,3 Tersi (Τερσι), Choros (Χορος),91 Hyon (Υων),92 Nike (Νικη), Phoros (Φορος),93 Phiphe (Φιφη) und Phruon (Φρουων)94 und des Bruders Hiobs Nereus (Νηρευς)95 in 51,1; 53,1, einer Figur, die das TestHiob gegenüber dem MT und der LXX (vgl. jeweils Hi 42,11) neu ins Spiel bringt. D. h. im Blick auf die Wahl des Namens Dina sind auch die für griechische Ohren hörbaren Assoziationen zu beachten. Vor diesem Hintergrund könnte dann auf das Wort δίνη („Strudel“) verwiesen werden, das im metaphorischen Sinn für einen Wechsel des Schicksals stehen kann (vgl. Aischylos, Prometheus 1052).

2.3.2 Hiobs erste Frau – Teil I (TestHiob 21–27) Eine zentrale Rolle spielt jetzt Hiobs erste Frau, d. h. die Frau seiner Leidenszeit. Ihr sind auf der Basis der Zusätze der Hiob-Septuaginta, vor allem aber des offenbar breiten Stroms einer Hiob-Haggada, zwei eigene Erzählzyklen in Kap. 21–27 und in Kap. 39 f gewidmet. Ihr Name wird in den vier bis heute bekannten griechischen Manuskripten des TestHiob variierend mit Sitidos (Σιτιδος, Σιτωδος), Sigidos (Σιγιδος), Sitida (Σιτιδα), Sitis (Σιτης, Σιτις) oder Site (Σιτη) wiedergegeben.96

Horn Zeus später aus Dankbarkeit zum Füllhorn gemacht hat; vgl. Anakreon, Frgm. 16,1; Kallimachos, Hymnus auf Zeus, 48; Plutarch, Paroimia 2,227, sowie entsprechende hellenistische Darstellungen der Göttin Isis(-)Tyche mit Füllhorn (Leipoldt, Umwelt, III, 55 u. Abb. 265). 91 Möglicherweise eine Verballhornung des Namens τερψιχόρα („die Reigenfrohe“), eine der neun Musen. 92 Ion? Zum mythologischen Hintergrund siehe Euripides, Ion; Apollodor, Bibliothek I 50. Sollte Hiob dadurch zum Stammvater der Ionier erhoben werden? 93 Möglicherweise ein aus dem Namen νικηφόρος („den Sieg bringend“) gewonnener Name. 94 Möglicherweise zwei aus dem Wort ἐπίφρων („aufmerksam“) gebildete Namen. 95 In Varianten auch Νηρεος, Νιρεως, Νιρευς, Νηρεος. Gegen Schaller, in: JSHRZ III, 371, handelt es sich wohl nicht um eine Gräzisierung des Namens Nachor (vgl. Gen  11,22; 22,20 f: Nahor als Vater von Uz!), der in der LXX durchgehend mit Ναχωρ wiedergegeben wird, sondern um eine Anspielung auf die Gestalt des Meeresgottes Nereus, der in der griechischen Mythologie nicht nur als Vater vieler Töchter, der Nereiden (Homer, Ilias XVIII 35–67; Euripides, Ion 1082–1086; Apollodor, Bibliothek I 11) bekannt ist, sondern auch als Alter, der weder Recht noch Gesetz vergisst (vgl. Hesiod, Theogonie, 233–236), der das Epitheton eines Klugen (εὔβουλος) trägt (vgl. Pindar, Paian 3,92,8) und dem besondere Wahrsagekunst zugeschrieben wird (vgl. Horaz, Carmina I,15) – vgl. auch Philonenko, Sem. 18, 57. In Varianten (siehe nächste Anm.) zu TestHiob 1,5 (V) erscheint Ναωρ als Bruder Esaus (vgl. auch Sl). 96 Von den vier griechischen Handschriften P, S und V, die alle aus der Zeit zwischen dem 11. und dem frühen 14. Jh. stammen, ist P2 (16. Jh.) eine Abschrift von P. Hinzu kommen drei slavische Manuskripte (Sl) aus dem 10. Jh. (?) und ein koptisches Fragment aus dem 5. Jh. hinzu (vgl. dazu Brock, Testamentum Iobi, 7–16; Spittler, History of Research, 7–10; Römer/ Thissen, P. Köln Inv. Nr. 3221, 33–45).

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Die Schreibung Sitidos dürfte die ursprüngliche Lesart darstellen.97 Der Name hängt wohl mit dem Wort σῖτις „Getreide/Nahrung“ bzw. σιτίζω „füttern“ zusammen.98 Auch dieser Name – „Brotbringerin“ – ist Programm: So beschreiben die beiden Sitidos-Zyklen über weite Strecken, wie sich die Frau eines ehemaligen Königs um die wirtschaftliche Versorgung ihres durch die schwere Erkrankung arbeitsunfähigen Mannes müht, wie sie sich als Magd (παιδίσκη, δουλίς) verdingt, Betteln geht und letztlich ihr Haar für Brot gibt, sich somit selbst entehrt,99 um sich und ihren Mann am Leben zu halten (Kap. 21–23). Die Szene von der Versorgung Hiobs mit Brot (und Wasser) durch seine Frau bildet einen midraschähnlichen Ausbau von Hi 31,10100 und in besonderer Weise von HiLXX 2,9d (vgl. TobVg 2,19–22). In der Kunst wie in der späteren Legendenbildung hat diese Szene stark gewirkt.101 Der Verfasser des TestHiob legt nun bereits an dieser Stelle seiner Erzählung der Frau Hiobs eine erste Klage in den Mund, die ihre enge Verbundenheit mit ihrem Mann ausdrückt: Wehe mir (οὐαί μοι), bald wird er (d. h. Hiob) sich nicht mehr mit Brot sättigen können. (TestHiob 22,2)

Die aus HiLXX 2,9 bekannte Klage ist dann in TestHiob 24 breit ausgebaut, wobei der Erzähler in der auf diese Klage hinführenden Szene das Herz der Frau

97 Brock, Testamentum, 36; Schaller, in: JSHRZ III, 344–345; vgl. TestHiob 39,1; 40,4.13; demgegenüber bevorzugen Philonenko, Sem. 18, 39, und Spittler, in: OTP I, 848, die Schreibung Sitis. 98 So auch van der Horst, Images, 97; Oberhänsli-Widmer, Hiob, 79; Omerzu, Erbe, 87. Für weniger plausibel halte ich die Deutung von Philonenko, Sem. 18, 39, Schaller, in: JSHRZ III, 344, Spittler, in: OTP I, 850, und Clines, Job 1–20, 53, die den Namen mit Hiobs Herkunftsort Ausitis (vgl. HiLXX 1,1; 42,17; TestHiob 28,7) in Verbindung bringen (so auch­ Kahana, Apokryphen, Bd. 1, 528, der dementsprechend mit ‫„[ עוִּצית‬Usiterin“] rückübersetzt!). Kohler, Testament, 264–338, besonders S. 273, erklärt den Namen vor dem Hintergrund der hebräischen Wurzel ‫„ שׂטה‬abirren“ (bzw. ‫„ שׂטן‬anfeinden“; vgl. Hi 1,6–12; 2,1–7). 99 Zum Ehrverlust von Frauen durch Betteln vgl. bQid 22a; durch das Scheren der Haare Jes 3,17; 1Kor 11,6. 100 Vgl. Syr zu Hi 31,10: „Dann möge meine Frau für andere mahlen und möge an einem anderen Ort backen.“ 101 Ich kann diese wirkungsgeschichtliche Linie hier nicht weiterverfolgen, möchte aber eine arabisch-jüdische Legende erwähnen, nach der die Fürsorge der Frau für ihren Mann so weit geht, dass sie Hiob/’Ajjub auf ihren Schultern weg von seinen ihn verspottenden Nachbarn in ein anderes Dorf trägt (Grünbaum, Sagenkunde, 268; Apt, Hiobserzählung, 20–30, Oeming, Ijobs Frau, 34–36). Für frühe bildnerische Darstellung der Versorgung Hiobs mit Brot und Wasser verweise ich exemplarisch auf eine Wandmalerei in der Katakombe an der Via Dino Compagni (Din B 028, Anfang des 4. Jh. n. Chr., bei Huber, Hiob, 82, nr. 48; Hoogland Verkerk, Job, 23) und auf byzantinische Miniaturen (z. B. Marcianus Graecus 538 [10. Jh.], bei Huber, Hiob, 158 f, nr. 11; und Sinaiticus Graecus 3 [11. Jh.], bei Huber, Hiob, 188 f, nr. 141 – vgl. auch Seow, Wife, 358 f.

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durch den Satan verdrehen lässt (πλαγιάζω, TestHiob 23,11). Dem Leser wird so schon vor Hiobs Abweisung der Klage und des Rates seiner Frau das Signal gegeben, dass es sich bei der Rede der Frau um „Teufelswerk“ handelt.102 Sodann bietet TestHiob 25 eine Art „Chorlied“, das formal an das Lied auf die Weisheit in Hi 28 und inhaltlich an die Lebensklage Hiobs in Kap. 29 f erinnert, in dem die glückliche Vergangenheit und das jetzige Unglück der Sitidos refrainartig besungen werden. Klingt schon in der Einleitung dieses Liedes eine Parallelisierung zwischen Hiob und seiner Frau an (vgl. TestHiob 25,1 mit Hi 2,11), so ist diese durch das eigentliche Klagelied (TestHiob 25,2–8; vgl. Ruth 1,20 f)  weiter fortgeschrieben. Wie schon in HiLXX 2,9 erkennbar, schreitet die Erhebung der Frau Hiobs zu einem Subjekt und zu einem leidenden und klagenden Pendant Hiobs voran. Auf dieser Linie liegt auch die Begründung für den aus Hi 2,9b bekannten Rat der Frau Hiobs: Sage ein Wort zum Herrn und stirb. Und ich für meine Person werde auch frei sein von der Ermüdung (ἀκηδία) wegen der Mühe um deinen Leib. (TestHiob 25,10)

Schärfer als im MT und in der LXX fällt Hiobs Abweisung des Rates seiner Frau im TestHiob aus: Ihre Rede sei für ihn schlimmer als sein mehrjähriges Leiden, ihre mangelnde Geduld und Hoffnung auf Gott ein Zeichen ihrer Verführung durch den Satan,103 ihr Rat ein Angriff auf seine Integrität (ἁπλότης104; TestHiob 26,6). Die schon erwähnte Zuordnung der Frau Hiobs zum Satan wird anschaulich in der nächsten Szene, in der Hiob den hinter seiner Frau stehenden Satan auffordert (TestHiob 26,6), sich nicht mehr zu verstecken: Da kam er (d. h. der Satan) hinter meiner Frau hervor, stellte sich hin und sprach klagend: Siehe, Hiob (Job), ich gebe auf und weiche von dir zurück, obgleich du Fleisch bist und ich Geist. (TestHiob 27,2)

102 Auch den im TestHiob sehr negativ gezeichneten vierten Freund Elihu (TestHiob 41–43) lässt der Erzähler (auf der Basis von Hi 32,18) vom Satan inspiriert sein (TestHiob 41,5); vgl. dazu H.-M. Wahl, Elihu, 8–15. Im lateinischen Langtext L1 (Paris) der Apokalypse des Paulus (Kap. 49) ist es dann der Teufel selbst, der Hiob auffordert: dic verbum aliquod in dominum et morere. Im lateinischen Langtext L2 (Graz) ist es schließlich einer der Hiob plagenden Würmer (vgl. TestHiob 20,8 f; Tertullian, Geduld, Kap. 14) mit dem Namen Zabulus, der die aus Hi 2,9b bekannten Worte sagt (Silverstein/Hilhorst, Apocalypse of Paul, 107; 206). 103 Nach P und S droht der Satan, auch Hiob zu verführen; nach V und Sl ist die Frau die vom Satan verführte Verführerin Hiobs. 104 Mit diesem Wortfeld (ἁπλότης, ἁπλοῦς) kennzeichnen Aquila und Symmachos in ihren Übersetzungen die Frömmigkeit Hiobs (vgl. 1,1Aq; 1,8Aq; 2,9Sym; 27,5Sym; siehe auch 22,3Th sowie 1Makk 2,37.60; SapSal 1,1).

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Hiob und seine Frau in jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 

Mit der Aufgabe des Satans endet der erste Sitidos-Zyklos, der durch ein Leitwort des gesamten TestHiob gerahmt wird: μακροθυμία – „Geduld“ (TestHiob 21,4; 27,7).105 Diese Rahmung zeigt die narrative Funktion der Figur der Sitidos: Sie unterstreicht die Leidensfähigkeit und Ausdauer Hiobs, der – anders als Sitidos und der Held des hebräischen und des griechischen Hiobbuches – den Grund seines Leidens, nämlich die Rache des Satans für die Zerstörung eines Götzenbildes, und das Ziel seines Lebens, nämlich himmlischen Lohn zu erhalten, kennt (Kap. 4). Mit diesem Bild des über sein Leiden erhabenen Märtyrers Hiob ist natürlich auch das eigentliche theologische Problem, mit dem das hebräische und auch noch das griechische Hiobbuch ringen, nämlich die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Leidens des Gerechten, beseitigt.

2.3.3 Hiobs erste Frau – Teil II (TestHiob 39 f) Der zweite Sitidos-Zyklus (Kap.  39 f)  kreist um die Frage nach dem Tod und dem Leben nach dem Tod. Die Mutter, die um den Tod ihrer Kinder klagt und diese bestatten möchte (TestHiob 39,10), wird von Hiob auf die himmlische Aufnahme (ἀνελήφθησαν εἰς οὐρανούς) der Kinder verwiesen (39,12).106 Kurz vor dem eigenen Tod sieht Sitidos selbst ihre Kinder, „bekränzt von himmlischer Herrlichkeit“, und bekennt mit Worten, die an das berühmte Bekenntnis Hiobs in Hi  19,25 f erinnern, sie wisse nun,107 dass Gott ihrer gedenke, sie auferstehen, in die „himmlische Stadt“ eingehen und so für ihr irdisches Leiden himmlisch entlohnt werde (TestHiob 40,4). Dementsprechend stirbt Sitidos getrost (εὐθυμήσασα)108 in der Nähe einer Krippe und wird schließlich Gegenstand der Trauerklage der Tiere und der Armen der Stadt: Seht, Sitidos ist das, die einst so berühmte und geehrte Frau! (TestHiob 40,13) 105 Vgl. weiterhin TestHiob 26,5. Das Motiv der „Geduld (ὑπομονή) Hiobs“ basiert auf der Verwendung von ὑπομένω in HiLXX (6,11; 7,3; 9,4; 14,14; 17,13; 22,21) und von ἀναμένω in HiLXX 2,9a (vgl. auch 4Makk 7,22 f), begegnet dann in Jak 5,11; 1Clem 17,3; 26,3; Clemens von Alexandria, Stromata II 20,103 f; IV 25,160, sowie Tertullian, Geduld, Kap. 14, und zieht sich durch die altkirchliche Auslegung; siehe dazu auch Hainthaler, Ausdauer, 226–229; 275; 306; 404, und Herzer, Jakobus, 333–338. 106 Vgl. 2KönLXX 2,9–11; Sir (G) 48,9; 49,14; 1Makk 2,58; ApkEsr 1,7; TestAbr A 15,4; B 7,16. 107 Vgl. auch PsLXX 19,7 sowie das Bekenntnis der Alkmene in Euripides’ Herakliden ­869–873: „Zeus, spät erst hast du deinen Blick auf meine Not gelenkt; ich danke trotzdem dir für deine Hilfe. Bis heute habe ich gezweifelt, ob mein Sohn im Kreis der Götter lebt; jetzt weiß ich es genau. Nun, endlich, Kinder, sollt ihr von der Qual erlöst sein.“ (Übersetzung Ebener, Euripides, I, 261). 108 TestHiob 40,6; zur Formulierung vgl. Josephus, ant. XIV 369.

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Mit dem (fiktiven) Hinweis auf ein in den Paralipomena des Eliphas aufbewahrtes Klagelied wird der zweite Sitidos-Zyklus abgeschlossen und zugleich die Bedeutung der Frau Hiobs unterstrichen. Wie ihre Vision und ihr Schlussbekenntnis zeigen, ist Sitidos keineswegs spirituell blind.109 Ihre Bekleidung mit dem Purpurmantel des Eliphas (TestHiob 39,7) steht für ihre Restitution als Königin (vgl. Mk 15,17–20). Ihr Tod an der Krippe (φάτνη, TestHiob 40,6, vgl. HiLXX 6,5; 39,9 symbolisiert das ihr durch Hiob vermittelte Wissen um ihre Zugehörigkeit zu Gott: Ein Rind kennt seinen Besitzer und ein Esel die Krippe seines Herrn. (Jes 1,3; vgl. Lk 2,7–16)

2.3.4 Zusammenfassung Mit den Ausführungen über den Tod der Sitidos hat das TestHiob sowohl die im Prolog angedeutete Notiz vom „bitteren Tod der ersten Frau“ (TestHiob 1,5) narrativ ausgestaltet als auch die im MT und in der LXX offenen Fragen nach dem Schicksal der Frau Hiobs beantwortet.110 Dabei ist Sitidos nicht nur eine Kontrastfigur zur Betonung der Geduld und geistlichen Einsicht Hiobs. Sie ist auch eine erzählerisch profilierte, selbstgewichtige Gestalt, die in ihrem eigenen Leiden einen Lernprozess durchläuft und damit eine wichtige erzählpragmatische Funktion erfüllt. Nach dem TestHiob erscheint Sitidos: – als Königin, die zur Sklavin absteigt, die ihren erwerbsunfähigen Mann versorgt und so selbst Subjekt und Objekt der Klage wird, – als Bettlerin, die ihre kaum für sie ausreichende Nahrung mit Hiob teilt, – als vom Satan Entehrte, die ihr Haar für Nahrung gibt, und als Verführte,111 – als Dialogpartnerin des Satans und Hiobs, wobei die in HiLXX 2,9 angelegte Struktur fortgeschrieben wird und die Parallelität zu den Dialogen zwischen Tobit und Hanna zunimmt, – als pietätvolle Mutter, die sich um die ordentliche Bestattung ihrer Kinder sorgt, wodurch sie nicht nur dem jüdischen Ideal entspricht,112 sondern auch

109 Gegen van der Horst, Images, 99; Oberhänsli-Widmer, Hiob, 81 f. Hingegen unterstreicht auch Standhartinger, Frauenbild, die positive religiöse Bedeutung der Sitidos (a. a. O., 75 Anm. 127; 210: mit Hinweis auf Visionen in Apg 7,55 f [Stephanus]; ApkMos 32–42 [Eva]; Ps.-Philo, LibAnt 9,10 [Miriam]). 110 Siehe dazu auch Begg, Comparing Characters, 442. 111 Die These, dass Sitidos damit auf die Seite des Satans gehöre wie Hiob auf die Gottes (so van der Horst, Images, 100), trifft angesichts der Schilderung des Todes der Sitidos in TestHiob 39,6 nicht zu. 112 Vgl. Sir 38,16–23; Tob 1,17–19 und dazu Schüngel-Straumann, Tobit, 62–64.

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motivisch in die Nähe der biblischen Rizpa (2Sam  21,8–14) und der griechischen Antigone gerät,113 – als Visionärin, Beterin und in Gott Getröstete. In dieser Gesamtschau entspricht das Bild der Sitidos dem Porträt einer ‫אשת־חיל‬ (γυνὴ ἀνδρεία), wie es in Spr 31,10–31 gezeichnet wird. Damit steht das Bild der Frau Hiobs im TestHiob quer zu dem in der späteren jüdischen und christlichen Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte vorherrschenden (aber nicht ausschließlichen) negativen Bild.114 Schwierig zu beantworten ist die Frage, welche konkreten religions- und sozialgeschichtlichen Faktoren auf die Ausmalung des Bildes der Sitidos gewirkt haben. Insgesamt fällt die im Vergleich mit jüdischen Texten der Antike – nicht mit klassisch griechischen Texten wie den Tragödien – hohe Präsenz von Frauenfiguren im TestHiob auf,115 wobei sich auch partielle Hinweise auf eine weibliche Autorenschaft finden (TestHiob 49,3; 50,3; 51,3 f). Russell P. Spittler, der mit einer therapeutischen Herkunft der Grundschicht des TestHiob rechnet,116 führt die Ausgestaltung des Bildes der Frau und der Töchter Hiobs auf die besondere Rolle von Frauen in der ägyptisch-jüdischen Gruppe der Therapeuten117 zurück. Doch hat Berndt Schaller zu Recht jegliche Verbindung zwischen dem TestHiob und essenischem oder therapeutischem Gedankengut bestritten. Wahrscheinlich hat der in der paganen griechischen Umwelt in hellenistisch-römischer Zeit einsetzende gesellschaftliche Bedeutungszuwachs von Frauen,118 der im Hauptstrom der jüdischen Literatur eher (aber nicht durchgehend) zu einer Abwertung der Frau führte,119 hier positiv abgefärbt. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich im TestHiob insgesamt der Rückgang des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolges von Juden im nachptolemäisch-römischen Alexandria und der Umgang mit dieser Defiziterfahrung widerspiegelt, was die Verfasser des TestHiob auch an den Frauenfiguren vor Augen führen.120 113 Vgl. dazu Hartenstein, Solidarität, 123–143. 114 Siehe dazu ausführlich Seow, Wife, 351–355. 115 Vgl. van der Horst, Images; Standhartinger, Frauenbild, 75, Omerzu, Erbe, 57– 93, und Oberhänsli-Widmer, Hiob, 78, die 107 Verse von insgesamt 388 Versen des TestHiob mit weiblichen Akteuren zählt. 116 Spittler, in: OTP I, 833 f (Kap. 46–53, möglicherweise auch Kap. 33, gingen erst auf eine montanistische Überarbeitung zurück); zur Annahme eines essenischen oder therapeutischen Hintergrundes des TestHiob siehe schon Kohler, Testament, 273, und Philonenko, Thérapeutes, 41–53, Ders., Sem. 18, 15 f, sodann Russell, Pseudepigrapha, 60. 117 Siehe dazu Philo, cont. 28 f; 32–33; Swidler, Women, 66–69. Zur Tradierung des zumindest hinter TestHiob 46–53 stehenden Stoffes auf eine jüdische Gruppe von Frauen mit pneumatischen Fähigkeiten siehe Omerzu, Erbe, 88. 118 Siehe dazu Pomeroy, Women, xv–xix. 119 Swidler, Women, 17; 55; 167 f; Archer, Role, 277–287. 120 Kugler/Rohrbaugh, On Woman and Honor, 43–62; besonders 58–62.

Hiobs Frau im Spiegel der Schriften    

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2.4 Hiob und seine Frau in den Targumim Mit dem TestHiob hat die eigenständige Ausmalung des Porträts der Frau(en) Hiobs im Rahmen der spätantiken Literatur ihren Höhepunkt erreicht. Demgegenüber finden sich in den Targumim nur zarte Linien einer über das Bild der Frau im MT hinausgehenden Profilierung.

2.4.1 Hiob und seine Frau im Targum aus Höhle 11 in Qumran (11QtgJob) Das wohl im 1. Jh. v. Chr. entstandene, in Höhle 11 in Qumran gefundene Targum erlaubt aufgrund seines fragmentarischen Zustandes kaum eine Profilierung der Frau Hiobs.121 So fehlt in dem erst mit Hi 17,14 (Kol. I,1) einsetzenden Fragment ein Pendant zu Hi 2,9 f. Die zu Hi 31,9 f (Kol. XVIII,2 f) erhaltenen Reste entsprechen dem MT; allerdings scheint der Übersetzer (aus Scham?) 31,10b ausgelassen zu haben.122 Ob der Epilog, der mit Hi 42,12 (Kol. XXXVIII,10) abbricht, in irgendeiner Weise die Frau Hiobs erwähnte, ist nicht erkennbar. Eine Differenz in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Hiob und seiner Frau verdient aber Beachtung: So bietet 11QtgJob II,6 als Pendant zu Hi 19,17a die Wortfolge ‫לאנתתי רוח המכת‬. Die Wiedergabe ist umstritten. Michael Sokoloff bestimmt ‫ המכת‬als 1.  Person Sg. Perfekt Hafel von ‫ מכך‬und übersetzt: „I lowered (my) spirit for my wife“.123 Dementsprechend zeigt der Vers – soweit kontextuell erkennbar – wie in LXX den sich in seinem Leid selbst demütigenden Hiob, der (vergeblich) die Solidarität seiner Frau und die Achtung seiner patriarchalen Autorität einfordert. Sachlich entspricht dies der im MT ausgedrückten Isolationserfahrung Hiobs (vgl. Hi 19,13–19). Klaus Beyer hingegen interpretiert ‫ המכת‬als 3. Person Sg. fem. Perfekt Hafel und macht ‫ רוח‬zum Subjekt: „Ein Geist/Dämon hat meine Frau erniedrigt“.124 Bezugspunkt wäre dann vermutlich die Rede der Frau in Hi 2,9 f, die Hiob als vom Satan eingegeben betrachtete. Für ein solches Verständnis könnte auf TestHiob 27,1 f verwiesen werden, wo sich der hinter der Frau Hiobs stehende Satan dem standhaften Dulder geschlagen gibt und sich selbst als „Geist“ (πνεῦμα) bezeichnet.125 Der Gebrauch von ‫ רוח‬in

121 Fragmente eines in Höhle 4 gefundenen Targums (4Q157) bieten nur Bruchstücke zu Hi 3,5–9 und 4,16–5,4 (mit kleineren Unterschieden gegenüber dem MT im Bereich von 5,1–4). 122 García Martínez/Tigchelaar/van der Woude, DJD XXIII, 123. 123 Sokoloff, Targum, 30 f; 108; 216; ähnlich Maier, Qumran-Essener, I, 344; García Martínez/Tigchelaar/van der Woude, in: DJD XXIII, 92 f. 124 Beyer, Texte (1984), 285; 623; vgl. auch Maier, Qumran-Essener, I, 334 (Anm. 722). 125 Zu ‫ רוח‬als Bezeichnung eines bösen Dämons siehe 1QGenAp 20,16.20.26.28 f; 4QToba/b aram. (= 4Q 196/197) 6,8; bErub 18b sowie einzelne Amulettinschriften bei Beyer, Texte (1984), 693, Ders., Texte ErgBd. (1994), 412 f.

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11QtgJob126 spricht indes nicht für diese (grammatisch) mögliche Übersetzung von Beyer, sondern für die von Sokoloff vorgeschlagene Wiedergabe.

2.4.2 Hiob und seine Frau im rabbinischen Targum (TgHi) In dem schwer zu datierenden frühmittelalterlichen rabbinischen Targum, das relativ dicht am MT bleibt und verhältnismäßig wenig haggadische Ausschmückungen aufweist,127 findet Hiobs Frau an folgenden Stellen Erwähnung: 1.) In Hi  1,3 werden in einer über den MT hinausgehenden Spezifikation der Besitzverhältnisse Hiobs seiner Frau als eigener Besitz 500 Eselinnen zugeschrieben, was sich tendenziell mit der Beschreibung des früheren Reichtums der Sitidos in TestHiob 25 trifft. In Hi  1,15 macht das Tg dann ausdrücklich Lilith, die Königin von Saba (vgl. 1Kön  10/2Chr 9) und Margod (Zamargod),128 für den Raub der Eselinnen (und der Rinder) verantwortlich. Nach Gabrielle Oberhänsli-Widmer steht hinter dieser targumischen Interpretation die rabbinische „Warnung vor weiblicher Herrschaft – Königin und Erzweib – über den Mann als Grundkonstellation fatalen Verhängnisses.“129 2.) In Hi 2,9 wird von der Mehrzahl der Tg-Handschriften, wie oben erwähnt, ausdrücklich der Name der Frau, Dina, genannt und Hiob bzw. dessen Nachkommen dementsprechend in die Geschichte des Judentums eingefügt (vgl. TestHiob 1,5 f). 3.) In Hi 2,10 wird das Wort ‫„ נבלה‬Törin“, vor dem Hintergrund seiner Bedeutung „Schamlosigkeit/Schandtat“ (Gen 34,7), als Bezeichnung für eine Frau gedeutet, die eine Schamlosigkeit (‫קלנא‬, Gen 34,7TO) fern vom (Variante: im) Hause ihres Vaters begeht. Gegenüber der religiösen Kritik an seiner Frau im MT erfolgt im Tg damit ihre moralische Disqualifikation (vgl. Dtn 22,21).130 Entsprechend der in der Torah formulierten Sanktion konfrontiert Hiob somit 126 Vgl. 11QtgJob III,4 (Hi 20,3); XIII,6 (Hi 28,25); XVI,4 (Hi 30,15); XXXIII,8 (Hi 39,26); XXXIV,6 (Hi 40,10); XXXIV,8 (Hi 40,12). 127 Zur Überlieferungs- und Kompositionsgeschichte von TgHi  siehe Mangan, Targum, 5–9. An haggadischen Erweiterungen finden sich a.) eine Betonung des Gesetzes (3,16; 5,7 [Variante]; 5,24; 11,8; 22,22; 24,13; 30,4 u. v. a.), b.) Bezüge zur Ur-, Früh- und Heilsgeschichte (3,5; 3,19; 4,8; 4,18; 5,12–23; 28,6; 31,33 u. v. a.), c.) Eschatologisierungen (1,6; 2,11; 3,17; 5,4; 11,17; 14,14; 15,21; 20,26; 28,5; 36,7) und d.) ein Ausbau der Engelsvorstellung (3,3; 18,13; 20,27; 25,2; 28,7.22.27). 128 Die Angabe des Herrschaftsgebiets schwankt in den Handschriften. Die obige Übersetzung folgt MS ‫ =( ג‬MS Cambridge, University Library Ee. 5.9 bei: Stec, Targum, 53 f; 8*); so auch Mangan, Targum, 25 f. 129 Oberhänsli-Widmer, Hiob, 40. 130 Vgl. dazu auch die Neufassung der Dina-Geschichte bei dem jüdisch-hellenistischen Epiker Theodotus (bei Denis, Fragmenta, 205 f), nach der Dina das Haus Jakobs verlassen habe „während eines Volksfestes (πανήγυρις), um die Stadt zu besuchen“, und dazu Standhartinger, Frauenbild, 157.

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seine Frau, die ihm selbst den Tod als Folge seines Fluchs vor Augen gestellt hat, indirekt mit dem Tod. 4.) In Hi  19,17 entspricht das Tg prinzipiell dem hebräischen Text, wobei das masoretische ‫ ַחֹנִּתי‬in V. 17b wie in LXX von ‫ חנן‬I „flehen“ abgeleitet wird. 5.) In Hi  31,9–12 folgt das Tg ebenfalls grundsätzlich dem MT. Dabei ist die Preisgabe der Frau im Fall des hypothetischen Ehebruchs Hiobs ähnlich doppeldeutig wie im MT formuliert (V. 10a: ‫)תשמש עם חורן אתתי‬.131 6.) Indirekt erwähnt das Targum die Frau Hiobs noch im Rahmen der zweiten Rede Bildads in Hi 18,12 und 18,15. Die gesamte Rede in Hi 18 beschreibt im MT – wie alle Freundesreden im sogenannten zweiten Redegang (vgl. Hi  15; 20)  – das schlimme Schicksal des Frevlers (‫)רשע‬, mit dem indirekt Hiob gleichgesetzt wird. Die Mehrzahl der Targum-Handschriften hat in der Einleitung zur Darstellung des Untergangs der Frevler (‫ )רשעים‬den expliziten Hinweis auf diese ausgelassen (Hi  18,5), so dass die Identifikation der beschriebenen Figur mit Hiob noch fließender ist als im MT. TgHi  18,12b kündigt nun eine Erniedrigung für dessen Frau an (‫)וצערא מכוין לאנתתיה‬.132 Nach TgHi 18,15 wird sie in einem fremden Zelt wohnen (‫)תשרי אנתתיה במשכניה מדליתה ליה‬.133 Beide targumischen Notizen liegen auf der Motivlinie, die Hiobs Frau als Gedemütigte zeigt, wie sie in Hi 31,10 angedeutet, in HiLXX 2,9b–d fortgesetzt und in TestHiob 21–25 breit ausgezogen ist. Angesichts der weitgehenden Ausblendung der Frau Hiobs in der rabbinischen Reflexion134 über das Buch Hiob und angesichts der negativen Deutung, die der Aufruf der Frau in Hi 2,9 (‫ )ברך אלהים ומת‬bereits in der frühesten Auslegungsgeschichte erfahren hat, soll hier aber auf eine im Midrasch mitgeteilte Position hingewiesen werden. So meine der Satz ‫ברך אלהים ומת‬: Bete zu Gott, dass du sterben kannst, so dass du die Welt als aufrechter und gerechter Mann verlassen kannst, bevor du Sünde und Leiden siehst. Tatsächlich ist es undenkbar, dass er (d. h. Hiob) eine gerechte Person war und seine Frau nicht. (Leqeṭ Midraschim zu Hi 2,9)135 131 Zum euphemistischen Gebrauch von ‫„( שמש‬dienen“) im Sinn von „Beischlaf ausüben“ siehe Jastrow, Dictionary, s.v. 132 Zu dem Vers gibt es, abgesehen von kleineren Varianten, sechs verschiedene Übersetzungen im Targum (siehe zum Phänomen der Mehrfachübersetzung Stec, Targum, 85–94; 111–116). Der hier gebotene Text folgt Tg1 (bei Stec, Targum, 123*), vgl. auch Mangan, Targum, 50. Im Hintergrund der targumischen Fassung steht wohl eine Interpretation des masoretischen ‫„( ְלַצְלעוֹ‬für seinen Sturz“, vgl. ‫ )ֶצַלע‬auf der Basis von Gen 2,21 f (‫„ ֵצָלע‬Seite“ als pars pro toto für die Frau) (vgl. Mangan, Targum, 51). 133 Hier beruht die Eintragung der Frau auf dem Verständnis des masoretischen ‫„( ִתְּשׁכּוֹן‬es wird wohnen“) als 3. Person Sg. fem. 134 Siehe dazu Oberhänsli-Widmer, Hiob, 170. 135 Zitiert nach Glatzer, God, 46.

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Hiob und seine Frau in jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 

Auf dieser Linie einer positiven Würdigung der Frau Hiobs liegt schließlich auch der Lobpreis des Dulders in einer dem arabischen Dichter Wahb b. Munabbih zugeschriebenen arabischen Hioblegende aus dem 10. Jahrhundert: O Raḥma, gibt es jetzt jemanden, der dir gliche, dir, mit der die Engel gesprochen haben?136

3. Ein Ausblick Die literarische Ausgestaltung der Frau(en) Hiobs, wie sie sich vor allem in der Hiob-Septuaginta und im TestHiob zeigt, hat ihre Spuren hinterlassen: in der Kunst, in der Auslegungsgeschichte und in der Literaturgeschichte; in letzterer ist es – wie in vom reader-response criticism oder von feministisch-theologischen Ansätzen geprägten Exegesen –137 besonders die Frau Hiobs, der das Interesse moderner Autoren und Autorinnen gilt.138 Hiob selbst hat im Verlauf der antiken Redaktions- und Rezeptionsgeschichte immer mehr die Züge eines über sein Leiden erhabenen Philosophen angenommen. Eine solche „Philosophisierung“ und Anpassung an popularphilosophische Viten findet sich ja auch in der Darstellung anderer biblischer Figuren im jüdischen Schrifttum der hellenistisch-römischen Zeit, zumal bei Abraham und Mose.139 Ikonographisch hat sich das vor allem in frühchristlichen abendländischen, aber auch in mittelalterlichen und in modernen Darstellungen Hiobs als Philosoph niedergeschlagen.140 So könnte es durchaus reizvoll sein, auch einmal die Figurenkonstellation von Hiob und seiner Frau mit dem Gegenüber von Sokrates und seiner Frau Xanthippe zu vergleichen. Zumal die Abschiedsszene in Platos Phaidon 59e–60a, der Lobpreis Xanthippes auf Sokrates in Claudius­ Aelianus’ Varia Historia (VH) IX 7 oder auch dessen Beschreibung von Sokrates als ἀνὴρ σώφρων καὶ δίκαιος καὶ ἀγαθὸς καὶ ἐπὶ τούτοις σόφος in VH II 13,51 f im Gegenüber zu Hi 1,1 böten hier schöne Ausgangspunkte.141

136 Apt, Hiobserzählung, 22; Oeming, Ijobs Frau, 34–36. Zur positiven Darstellung der Frau Hiobs in der Kunst siehe Seow, Wife, 359–363. 137 Siehe dazu einerseits Clines, Job 1–20, 50–55, andererseits Brenner, Companion. 138 Siehe dazu ausführlich Oberhänsli-Widmer, Hiob, 181–332, und Langenhorst, Hiob, 71–320; knapper Oeming, Ijobs Frau, 36–40. 139 Siehe dazu Ego, Abraham’s Faith, 337–354. 140 Beispiele finden sich von der Katakombenmalerei an über mittelalterliche Darstellungen bis zu Aage Jörgensen (siehe die Abbildung auf S. 163); weitere Bilder bei Huber, Hiob, 82 f, Nr. 46, und Seow, Wife, 366. 141 Vgl. auch Xenophon, Symposion II 10 f. Zur altkirchlichen Parallelisierung von Sokrates und Hiob als Ideale eines wahrhaft philosophischen Umgangs mit dem Leiden siehe z. B. Gregor von Nazianz, Epistel 32 (Gallay, Saint Grégoire, 40–42).

Nachwort    

163

Zeichnung von Aage Jörgensen auf der Titelseite zu: Das Buch Hiob. Aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Franz A. Lambert, Berlin 1919.

Nachwort Der oben stehende Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 2. Juli 2007 auf dem Kongress der International Society for the Study of Deuterocanonical and Cognate Literature gehalten habe. Annähernd zeitgleich zum Abschluss der Originalpublikation dieses Beitrags erschienen im Jahr 2007 die thematisch eng verwandten Aufsätze von Manfred Oeming und Choon-Leong Seow,142 auf die hier auch wegen der ihnen beigegebenen Abbildungen besonders hingewiesen werden soll. Unter den seither publizierten und weiterführenden Studien zu literatur- und rezeptionsgeschichtlichen Fragen des Testaments Hiobs sind vor allem

142 Oeming, Ijobs Frau, 25–41, bzw. Seow, Job’s Wife, 351–373.

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ein Aufsatz von Jan Dochhorn (2010) und eine Monographie von Maria Haralambakis (2012) zu erwähnen, für eine breit angelegte, allerdings häufig unpräzise gender-orientierte Rezeptionsgeschichte sei auf ein Buch von Katherine Low (2013) verwiesen.143

143 Dochhorn, Das Testament Hiobs als exegetischer Text. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Hiob-Septuaginta, in: Kraus/Karrer, Die Septuaginta  – Texte, Theologien, Einflüsse, WUNT 252, Tübingen 2010, 671–688; Haralambakis, The Testament of Job. Text, Narrative and Reception History, Library of Second Temple Studies 80, London u. a. 2012, siehe dazu auch Witte, Rezension Haralambakis, 141 f, sowie Ders., Ethos der Barmherzigkeit, 239–241, und Low, The Bible, Gender, and Reception History: The Case of Job’s Wife, LHB 586, London u. a. 2013.

Hiobs Sohn – Eine textgeschichtliche Notiz zu Hiob 42,17 (Septuaginta) „Kennst du den ganzen Namen deines Freundes Halef?“ „Ja.“ „Wie lautet er?“ „Er lautet Hadschi Halef Omar.“ „Das ist nicht genug. Er lautet Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah. Du hörst also, daß er zu einer frommen, verdienstvollen Familie gehört.“ (Carl May)1

Die Vorstellung des kleinen arabischen Freundes, der Carl Mays Helden Kara Ben Nemsi auf seinen Abenteuern im Orient begleitet, steht ganz in der Tradition altorientalischer Genealogien. Sie spiegelt die hohe Bedeutung, welche im Vorderen Orient (bis heute) die Namen der Vorväter für die eigene Identität bilden. Dies gilt in gleicher Weise für reale wie für literarische Genealogien. Unabhängig davon, ob der jeweilige Stammbaum fiktiv ist, erhält er seine Strahlkraft vom Klang und der Symbolik der in ihm auftauchenden Namen. Umso erstaunlicher ist, dass der unbekannte Verfasser des Hiobbuches weder einen Namen des Vaters seines Helden nennt noch dessen Söhnen einen Namen gibt. So erhebt sich der leidende Gerechte aus dem geheimnisvollen Land Uz (‫עוץ‬, LXX: Αυσιτις)2 im Gegensatz zu den Patriarchen der Genesis, an deren literarisches Setting die Rahmenerzählung in Hi 1 f und 42,7–17 immer wieder anklingt, ohne Genealogie aus der Tiefe der Zeit. Während sich das Fehlen eines namentlich genannten Vaters noch mit dem Namen Hiobs (< ‫„ אי אב‬Wo ist der (göttliche) Vater?“)3 und der Paradigmatik der Figur erklären lässt, bleibt doch die Frage, weshalb die Söhne, und zwar die in Hi 1,18 f genannten, ums Leben gekommenen und die in 42,13 neu geschenkten, ungenannt bleiben – letzteres verblüfft umso mehr als die drei Töchter nach der Restitution Hiobs ja besonders klangvolle Namen erhalten (42,14): Jemima („Täubchen“), Kezia („Zimtblüte“) und Keren-Happuch

1 C. May, Durch Wüste und Harem, 39. 2 Wie schon Didymos der Blinde, Kommentar zu Hiob (Teil 1, Henrichs), 50 f, halte ich den Namen für einen Symbolnamen, der mit der Wurzel ‫עוץ‬/‫ יעץ‬in Zusammenhang steht. Dementsprechend bedeutet ‫„ ארץ עוץ‬das Land des Rates/des Ratens“. Es ist auf keiner Landkarte zu finden. Erst die LXX bietet im Appendix in Hi 42,17b eine „genaue“ geographische Lokalisierung („Er wohnte in dem Land Ausitis an den Grenzen Idumäas und Arabiens“); vgl. Witte, Mensch, in diesem Band S. 65–80. 3 Vgl. Mathys, Personennamen, 222.

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(„Schminkbüchsen“).4 Die Söhne Hiobs bleiben anonym und so bildet die Familie letztlich eine Staffage – es überlebt allein der Name Hiobs und mit ihm die Suche nach dem Vater. Schon die frühesten Rezeptionen des Buches haben diese Leerstellen des hebräischen Textes gefüllt. Das im 1. oder 2. Jh. n. Chr. verfasste griechische Testament Hiobs versieht zumindest die neuen Kinder mit Namen.5 Das wohl aus dem 1. Jh. n. Chr. stammende lateinische, möglicherweise auf einer hebräischen Vorlage basierende Liber Antiquitatum Biblicarum (Ps-Philo, LibAnt) hält fest, dass die Kinder Hiobs vor und nach dem Unglück dieselben Namen trugen.6 Die zwei sich unterscheidenden Namensketten im TestHiob und bei Ps-Philo, ­LibAnt gehen im Fall der Namen der Töchter auf Hi 42,14 zurück. Sie verdanken sich zudem gelehrter Spekulation und der Freude an symbolischer Kombinatorik, sind aber teilweise bis heute ungedeutet.7 Einen Vorläufer dieser Benennung der Kinder im TestHiob und bei Ps-Philo, LibAnt bietet der zweite Teil des Appendix in der Septuaginta in Hi 42,17b–e. Dieser Nachtrag, in dem Hiob geographisch lokalisiert und mittels der Gleichsetzung mit Jobab (‫יובב‬, Ιωβαβ) auf Basis von Gen 36,33 f (par. 1Chr 1,44 f) genealogisch verortet wird, hat bis in die jüngste Zeit immer wieder das Interesse der Septuagintaforschung geweckt. Dabei sind es vor allem die Fragen nach dem Verhältnis dieses Teils des Appendix zu der Parallele beim Exegeten Aristeas,8 nach seiner literarischen Herkunft und nach seiner textlichen Beziehung zum sogenannten Old Greek Text (OG) des Hiobbuches. Die Palette der Antworten reicht von der Annahme, der Appendix stamme vom Übersetzer des OG selbst, über die These, er gehe erst auf einen vororigenistischen Bearbeiter des OG zurück, bis hin zu den Vorschlägen, er sei von Aristeas abhängig oder basiere auf einer auch von diesem benutzten aramäischen Quelle.9 Im Mittelpunkt aller dieser Untersuchungen steht, neben der Interpretation der Auferstehungs 4 LXX: Hemera („Tag“), Kasia („Zimtblüte“) und Amaltheias Keras („Füllhorn“); vgl. Cook, Search, 218 f. 5 TestHiob 1,3: Tersi, Choros, Hyon, Nike, Phoros, Phiphe und Phruon sowie Hemera, Kasia und Amaltheias Keras. Die Namen sind aber nicht in allen Handschriften erhalten. Sie fehlen im Codex Vaticanus Graecus 1238 (V) und in der slavischen Version (Slav), vgl. Brock, Testamentum Iobi, 19. 6 Ps-Philo, LibAnt 8,8: Elifac, Ermoe, Diasat, Filias, Diffar, Zellud und Thelon sowie Meru, Litaz und Zeli. 7 Vgl. Schaller, in: JSHRZ III, 325, bzw. Jacobson, Commentary, Bd. 1, 349 f, der die Namen der Söhne bei Ps-Philo, LibAnt 8,8 auf GenLXX 36 zurückführt. Einen späten Nachhall dieser Erfindungskunst bietet Andrée Chedid in ihrer Erzählung La femme, in der sie den Kindern die Namen Samuel, Zebul, Makir, Aaron, Jacob, Ephes und Jonathan sowie Jemima, Kezia und Keren gibt. 8 Nach Euseb, praep. 9,25 (bei Denis, Fragmenta, 195 f). 9 Zur Evaluation dieser Thesen siehe Kutz, Job, 13–17; Reed, Job, 31–55; Witte, Greek Book, 33–54; Gorea, Job repensé, 219–221; Cook, Search, 216–229; Cox, Text of Old Greek.

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notiz in Hi 42,17a im ersten Teil des Appendix, die Korrelierung von Hi 42,17b–e mit Gen  36,31–35. Auf den in Hi  42,17c genannten Namen des Sohnes Hiobs Εννων,10 der nur noch einmal in der Septuaginta in 1Chr 4,8 (Codex B) als Verschreibung von ‫ ענוב‬vorkommt, wird dabei nicht eingegangen. Annette Y. Reed, die sich ausführlich mit der literarischen Technik und der zeitgeschichtlichen Intention des Appendix beschäftigt hat, vermerkt nur: „The final detail is difficult to identify with any certainty and will thus remain absent from the discussion.“11 Man muss schon bis zu Johann David Michaelis (1717–1791) zurückgehen, um wenigstens dem Versuch einer Deutung zu begegnen, auch wenn diese einigermaßen kurios ist: So vermutet Michaelis, der Appendix sei gemäß Hi 42,17b ursprünglich auf Syrisch geschrieben worden, dort habe an der entsprechenden Stelle zunächst ᾽nwn šmhn dbnwhj („dies sind die Namen seiner Söhne“) gestanden, ein Abschreiber habe dann die Worte šmhn dbnwhj ausgelassen und aus ᾽nwn („dies sind“) sei Ennon geworden.12 Die Sache scheint mir aber sehr viel einfacher zu sein. Die wesentlichen Informationen des Appendix stammen, wie in der Forschung richtig gesehen, aus der Esau-Toledot und der Liste der edomitischen Könige in Gen 36. Dementsprechend liegt es nahe, auch den Namen Ennon aus Gen  36 abzuleiten. Die Vorlage bietet der in Gen  36,38 f (par. 1Chr 1,49 f) genannte ‫בעל חנן‬, der in der Septuaginta mehrheitlich als Βαλαεννων erscheint.13 Die völlige Entsprechung von ‫ חנן‬und Εννων zeigt die Syrohexapla mit ḥnn.14 Für die Äquivalenz von ‫ ח‬und ε sei exemplarisch auf die Namen ‫ חוה‬und Ευα (Gen 4,1) sowie ‫ חנוך‬und Ενωχ (Gen 4,17) verwiesen. Die Auslassung des theophoren Elements ‫ בעל‬erklärt sich vor dem Hintergrund der Treue Hiobs gegenüber dem einen Gott Jhwh (vgl. Hi 6,10; 23,10–12; 31,15.24–28). Durch die Konzentration auf das Namenselement ‫„( חנן‬er hat sich erbarmt“), das epigraphisch und literarisch vielfach als eigener (Kurz-)Name belegt ist,15 wird ausgeschlossen, dass es sich bei ‫בעל חנן‬, der in Gen 36,38 als Sohn Achbors (‫עכבור‬/Αχοβωρ) 10 In einigen Minuskeln und in der bohairischen Übersetzung erscheint der Name in der Schreibweise ενων, in der sahidischen Übersetzung in der Form αινων (vgl. Ziegler, Iob, 413). Die Vetus Latina (vgl. Sabatier, Bibliorum Sacrorum Latinae Versiones Antiquae, Bd. 1, 908) und Hieronymus (vgl. Lagarde, Des Hieronymus Uebertragung, 237) transkribieren einfach Ennon. 11 Reed, Job, 42; vgl. Peters, Job, 503 f. 12 Michaelis, Einleitung, 16 f. 13 Die handschriftliche Überlieferung weist hier eine sehr große orthographische Vielfalt auf, vgl. Wevers, Genesis, 349 f. In 1Chr 27,28 gibt die LXX den Namen dann mit Βαλανας wieder. 14 Vgl. Meade, Hexaplaric Fragments, 439–441. 15 Als Bezeichnung unterschiedlicher Personen im AT: Jer  35,4; Esr 2,46; Neh 7,49; 8,7; 10,11.23.27; 13,13; 1Chr 8,23.38; 9,44; 11,43. Zu epigraphischen Belegen siehe Renz/Röllig, HAE II/1, 67 f; II/2, 219–221. Zu unterschiedlichen Langformen mit entsprechendem theophorem Element siehe ebenda sowie nach wie vor Noth, Personennamen, 187.

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erscheint, um denselben wie in Hi 42,17c handelt. Dass die Wahl aber ausgerechnet auf ‫„( בעל חנן‬Baal hat sich erbarmt“)16 fiel, hängt mit der Wurzel ‫„ חנן‬gnädig sein“ zusammen. So zieht sich diese Wurzel durch das Buch vom Rat der Freunde, Hiob möge Gott um Gnade bitten (Hi 8,5), über Hiobs Flehen um göttliche und menschliche Gnade (9,15; 19,16.21) bis hin zur Ankündigung Elihus, Gott werde sich schließlich gnädig erweisen (33,23–25).17 Passender als ‫חנן‬/Εννων/„(Gott) ist gnädig (gewesen)“ könnte der Name von Hiobs Sohn nach dem überstandenen Leid also kaum lauten. Gegen Olympiodor, der immerhin in einem Nebensatz die Frage stellt, ob dieser Ennon zu den ersten oder den zweiten Söhnen Hiobs gehörte,18 dürfte es sich doch um Hiobs Erstgeborenen nach seinem Leiden handeln.19 Allenfalls könnte man überlegen, ob der Name eher ḥānān oder ḥānûn20 zu vokalisieren ist. Letzteres bietet die arabische Übersetzung des Appendix. Die Wahl des Namens zeigt die literarische Technik des Verfassers, die zahlreiche Analogien in der Bildung von Genealogien im frühjüdischen Schrifttum besitzt: Aus vorgefundenen Texten in der Torah werden einzelne Namen ausgewählt und neu kombiniert. Dabei spielt eine inhaltliche Affinität zu der Figur, für die nun eine Genealogie konstruiert wird, eine entscheidende Rolle. Das in dem Namen Ennon enthaltene Potential zur Deutung Hiobs und seiner Geschichte kommt nur in seiner hebräischen bzw. aramäischen Fassung zur Entfaltung, nicht in seiner griechischen Form, wo dieser Name in der gesamten Gräzität nicht belegt ist. Damit bietet der Name Ennon ein Indiz für einen hebräischen bzw. aramäischen Ursprung der Notiz in Hi 42,17c – und zwar ganz unabhängig von der Frage, wie die vieldeutige Angabe in 42,17bα zu dem „syrischen Buch“ zu verstehen ist.21 Wenn aber die Ennon-Notiz auf eine hebräische oder aramäische 16 Vgl. epigraphisch bei Noth, Personennamen, Nr. 289 und bei Schwiderski, Inschriften, IdOstr-EN:120(4),1–3; IdOstr-EN:174(4),1.3; IdOstr-L2:192(4),2 f und in der Form ḥnb‛l („Hannibal“) z. B. in der punischen Inschrift KAI 68,2 oder in der Form jḥnb‛l in der punischen Inschrift KAI 80,2. 17 Zu dieser Passage siehe Witte, Torah, in diesem Band, S. 121–132. 18 Olympiodor, Kommentar zu Hiob (Hagedorn/Hagedorn), 396, Z. 12. 19 Das vermeintlich hohe Alter Hiobs, der gemäß der LXX zum Zeitpunkt, da ihn das Unglück traf, 78 Jahre alt war (vgl. HiLXX 42,16), sollte angesichts von Gen 17 kein Gegenargument sein. Hiob entspräche dann auch in dieser Hinsicht dem Erzvater, mit dem er bereits im biblischen Buch, dann aber vor allem im frühmittelalterlichen Targum und den Midraschim, so viel teilt; vgl. Witte, Hiob und die Väter, in diesem Band S. 171–189. 20 Vgl. Noth, Personennamen, Nr. 503; 2Sam 10,1–4; 1Chr 19,2–4.6; Neh 3,13.30, inschriftlich bei Schwiderski, Inschriften, AECT-L:3(7),13 f; IdOstr-LN:2(4),2–4; MurDoc:10(5),1. 21 Zur Diskussion siehe Reed, Job, 35–37, und Kepper/Witte, Job, Septuaginta Deutsch, Erläuterungen, Bd. 2, 2048–2050, 2125 f. Das Wort Συριακός muss nicht zwangsläufig auf eine aramäische Quelle verweisen (vgl. 2Kön 18,26; Esr 4,7; Jes 36,11; Dan 2,4; Cook, Search, 223), sondern könnte auch für eine hebräische stehen, vgl. Origenes, In beati Job librum zu Hi 42,17c (Pitra, Analecta, Bd. 2, 390 f; dieselbe Äußerung findet sich auch im Kommentar Julians zu Hi 42,17c (Hagedorn, 311).

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Vorlage zurückgeht, dann ist zu überlegen, ob nicht auch Hi 42,17d auf einer hebräischen (oder aramäischen) Fassung von Gen 36,31–35 basiert.22 Die Konvergenz in der Schreibung der Namen zwischen Hi  42,17d und GenLXX 36,31–35 muss nicht für eine Abhängigkeit von Hi 42,17d von der griechischen Fassung von Gen 36 sprechen,23 sondern kann auch mit einer identischen Übersetzungspraxis oder sekundärer Angleichung an die LXX erklärt werden. Wollte man hingegen den Namen Εννων im Griechischen als einen sprechenden Namen deuten, muss man die Variante Ενων zugrunde legen. Dann könnte man in Ενων entweder einen Hinweis auf die ägyptische Stadt Heliopolis/ On (‫ֹאן‬, ‫ אוֹן‬III, vgl. Gen 41,45 u.ö.)24 sehen und dies mit der im TestHiob 28,7 und 29,3 belegten Tradition, dass Hiob König in Ägypten war, verknüpfen, oder man könnte gemäß der Suda (ε, Nr. 1412) und dem byzantinischen Lexikon des Pseudo-Zonaras (13. Jh.) Ενων als Synonym zu dem philosophisch geprägten Begriff ἐνυπάρχων „existierend, in etwas seiend“ verstehen und das als Anspielung auf die fortdauernde Existenz Hiobs deuten.25 Doch ist die Variante Ενων textgeschichtlich eindeutig sekundär. Dass der byzantinische Historiker Georgius Cedrenus (11./12. Jh.) Ενων als Sohn Kains bezeichnet, ist Ergebnis einer Verschreibung von Ενωχ (vgl. Gen 4,17).26 Ebenso dürfte der Beleg für Ενων als Name im Zitat von Joh 3,23 bei Basilius von Caesarea eine Verschreibung von Αινων sein.27 Passend zum Namen ihres Sohnes und zur Geschichte ihres Mannes erhält die im Septuaginta-Nachtrag noch anonyme arabische Frau Hiobs in muslimischen Hioblegenden aus dem Mittelalter den Namen Raḥma „die Barmherzige“.28 So bilden der Appendix des griechischen Hiobbuches und die spätere Legendenbildung ein starkes Bekenntnis zu Gott als dem Gnädigen und Barmherzigen (‫)אל רחום וחנון‬, wie es die sich über das gesamte Alte Testament erstreckende Gnadenformel betont.29 Die schon im Prolog des Buches selbst anklingende und von 22 Vgl. Kutz, Job, 15 f; Cox, Text of Old Greek, [6]. 23 So aber G. B. Gray, Additions, 422–438, hier: S. 432; Reed, Job, 37 f. 24 Siehe auch Johannes Chrysostomos, Frgm. in Ieremiam (PG 64,1012,54). 25 Siehe dazu auch Witte, Hiob und seine Frau, in diesem Band S. 150 Anm. 78. 26 Georgius Cedrenus, Compendium historiarum, Bd. 1, 15 (PG 121,39 f). 27 Basilius, In Psalmum XXVIII (homilia 2) (PG 30,76,34). Die Lokalisierung ist umstritten, nach Eusebs Onomastikon (hg. v. Klostermann, 40) lag das Gewässer acht Meilen südlich von Scythopolis (Beth-Shean/Beīsan). Für den Hinweis danke ich meinem Kollegen Christoph Markschies. 28 Zur Frau Hiobs, die nach anderen antiken Traditionen auch Dina oder Sitis/Sitidos/Sigidos heißen kann, siehe ausführlich Witte, Hiob und seine Frau, in diesem Band, S. 133–164, und Cook, Search, 224–226; zu Raḥma siehe Grünbaum, Sagenkunde, 266; Apt, Hiobserzählung, 12. Die programmatische Kraft, die dem Namen der Frau Hiobs beigemessen wird, spiegelt sich auch in der modernen Literatur, so wenn z. B. die Frau von Joseph Roths Helden den Namen Deborah trägt (Roth, Hiob). 29 Vgl. Ex 34,6; Joel 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17; Sir 2,11. Hinzu kommen mehr als 20 Anspielungen, in denen einzelne Elemente der Gnadenformel zitiert werden, sowie außerkanonische Belege (CD-A II,4; 1QHa VIII,24; 4Q511 Frgm. 52, 54 f, 57–59,1 [Kol. III,1]).

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Hiob in seinen Reden immer wieder thematisierte Frage nach dem Wesen Gottes findet damit am Ende eine Antwort: Die Hiob-Notiz des Jakobus liegt ganz auf dieser Linie (vgl. Jak 5,11). Schließlich fügt sich auch die zunächst vielleicht nur auf lautlicher Assonanz beruhende Gleichsetzung von ‫איוב‬/Ιωβ mit ‫יובב‬/Ιωβαβ,30 dem Sohn des ‫זרח‬/Ζαρε („er [Gott] strahlt auf “),31 inhaltlich bestens zum Geschick Hiobs, wie es sein Pendant im Lobpreis auf den Gerechten in Ps 112 findet: 4 Es erstrahlt (zāraḥ)32 in der Finsternis ein Licht für die Aufrichtigen, gnädig (ḥannûn), barmherzig und gerecht. 5 Glücklich ist der Mann, der gnädig (ḥônen) ist und leiht, er wird seine Dinge auf rechte Weise ausführen33; 6 denn auf ewig wird er nicht wanken; zu einem ewigen Gedenken wird der Gerechte sein.

Dieses ewige Gedenken gilt Hiob, es mag für Ennon Ben Jobab Ben Zare gelten, dessen wesentliche Bedeutung darin besteht, die Gnade über den, der beständig zu Gott ruft, zu bezeugen, und es mag für den Jubilar, dem diese Zeilen gewidmet sind,34 gelten.

30 Die Bedeutung des Namens ist ungeklärt. Orientiert man sich an arab. wabba („sich zum Kampfe bereiten“, so Noth, Personennamen, 226), ergibt sich ein inhaltlicher Bezug zu Hi 31,37; 38,3; 40,7. Folgt man der mutmaßlichen Bedeutung des hebräischen Hapaxlegomenon ‫„( יבב‬laut rufen“/„schreien/„klagen“, vgl. Ri 5,28), ergeben sich sachliche Verbindungen zu Hiob fortwährenden Klageschreien (vgl. Hi 7,11; 9,16; 10,1; 13,22; 19,7; 30,20.28). Im Blick auf die vermeintliche Vorlage von HiLXX 42,17b–e lässt sich auch die Gleichsetzung von ‫ איוב‬mit ‫יובב‬ vor einem hebräischen oder aramäischen Hintergrund verstehen, selbst wenn sich die Identifizierung im Griechischen lautlich leichter nahelegt (vgl. Kutz, Job, 15). 31 Vgl. für unterschiedliche Personen Gen 36,33; 38,30; 46,12; Num 26,13.20 u.ö.; zur Motivik siehe Deut 33,2; Jes 58,10; 60,1–3 und Mal 3,20; Noth, Personennamen, 184 (Nr. 443). 32 Zur Diskussion, ob das Subjekt in V. 4 das Licht, Gott oder der Gerechte ist, siehe Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 233; zum Motiv, bezogen auf Hiob, siehe Hi 11,7; vgl. Jes 58,10 (par. Hi 31,16 f.31). 33 Vgl. Sir 49,9 ([HB ] – Hiob!), siehe dazu Witte, Hiob unter den Propheten, 23–37. 34 Johann Cook (geb. 1948) anlässlich seiner IOSOT-Präsidentschaft 2016.

Hiob und die Väter Israels – Beobachtungen zum rabbinischen Hiob-Targum

1. Hiob und Abraham Hiob ist eine zentrale Gestalt im Judentum: als Figur der biblischen Tradition, als Gegenstand der theologischen und philosophischen Reflexion und als Symbol der Existenzdeutung Israels. Doch in welcher Relation steht der leidende Gerechte aus dem fernen Land Uz zu Israel und zu den alten Glaubenshelden Israels, den Erzvätern? Die Bestimmung des Verhältnisses beider Größen ist nicht neu. Zumal in ihrer Zuspitzung auf das Gegenüber von Hiob und Abraham zieht sich die Korrelation dessen, der gemäß seinem Namen ‫„ אי אב