Wie Religion für Krisen taugt: Zum Beitrag religiöser Bildung in Krisenzeiten. 17. Arbeitsforum für Religionspädagogik 2022 [1 ed.] 9783666703294, 9783525703298

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Wie Religion für Krisen taugt: Zum Beitrag religiöser Bildung in Krisenzeiten. 17. Arbeitsforum für Religionspädagogik 2022 [1 ed.]
 9783666703294, 9783525703298

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Mirjam Schambeck / Winfried Verburg (Hg.)

Wie Religion für ­Krisen taugt Zum Beitrag religiöser Bildung in Krisenzeiten

Mirjam Schambeck / Winfried Verburg (Hg.)

Wie Religion für Krisen taugt Zum Beitrag religiöser Bildung in Krisenzeiten

Vandenhoeck & Ruprecht

17. Arbeitsforum für Religionspädagogik 2022

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Elisabeth Wöhrle sf Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-70329-4

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

ERSTES KAPITEL: Krisendiagnostik – religionssoziologische und theologische Zugänge und Deutungen In welcher Gesellschaft leben wir? (Religions-)Soziologische Zeitdiagnosen 10 Michael N. Ebertz

»… dann hätten uns hinweg die Wasser gespült.« In Krisen sprachfähig bleiben mit der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Georg Steins

Heilsrelevant? Systemrelevant? Überlegungen zur Bedeutung von Religion in Krisenzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Karlheinz Ruhstorfer

Vulnerabilität, Vulneranz und Resilienz – theologische Perspektiven über die Corona-Pandemie hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Hildegund Keul

Zwischen Skandal und großem Egal – die Kirchen in der Resonanz- und ­Glaubwürdigkeitskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Matthias Drobinski

Was Religion und Theologie in Krisenzeiten zu bieten haben – religionssoziologische, sozialpsychologische und religionspädagogische Überlegungen 84 Mirjam Schambeck sf

Krieg, Klima und andere Krisen – religiöse Bildung in einer (aus-)sterbenden Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Claudia Gärtner

ZWEITES KAPITEL: Kosmos Schule und Religionsunterricht in Krisen­ zeiten – bildungswissenschaftliche und religionspädagogische Zugänge und Analysen Kognitive Aktivierung im Unterricht unter Pandemie­bedingungen aus instruktionspsychologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Jörg Wittwer/Thamar Voss

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Inhalt

Qualität im digitalen Religionsunterricht – Gelingensbedingungen für Lernprozesse aus der Perspektive von Schüler:innen und Lehrer:innen . . . . 136 Andrea Dietzsch

Digitaler Religionsunterricht in Coronazeiten – empirische Einblicke, religionsdidaktische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Annika Sturm

Und das Wort ist binär geworden – Religionsunterricht im blendedlearning-Format . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Martina Mayer

Denn sie tun nicht, was sie wissen – religiöse Bildung und die Motivation zur Transformation in der Klimakrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Katrin Bederna

DRITTES KAPITEL: Religionsunterricht in Krisenzeiten – Konkretionen und Anregungen Körperlichkeit und virtuelle Welten: Geht dem Religionsunterricht die Körperlichkeit verloren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Caroline Teschmer

Rituale als Hilfe in Krisenzeiten? Herausforderungen und Möglichkeiten christlicher Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Benedikt Kranemann

Theodizee und aktuelle Krisen im Religionsunterricht – inhalts-, subjektund beziehungsorientiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Julia Münch-Wirtz

»… in der Cloud/Geheiligt werde Dein Markenname …« Kognitive Aktivierung zur Krisenreflexion mit Gedichten von Markus Pohlmeyer . . . . 246 Norbert Brieden

AUSBLICK Warum der Religionsunterricht gerade in Krisenzeiten unverzichtbar ist . . . 262 Mirjam Schambeck sf

VERZEICHNIS DER HERAUSGEBER:INNEN UND DER AUTOR:INNEN

Einleitung

Klimawandel, Pandemie, ein weiterer Krieg in Europa und der dadurch bedingte vorzeitige Tod vieler Menschen machen in bedrohlicher Weise deutlich, wie verwundbar Menschen sind und wie sehr Menschen andere verwunden. Die Bedrohungslagen selbst oder deren Folgen werden von den Überlebenden oft als Krisen bezeichnet. Ihrem altgriechischen Wortsinn nach bezeichnet »krisis« den entscheidenden Wendepunkt einer bedrohlichen Situation, an dem sich die Situation zum Besseren, aber auch zum Schlechteren entwickeln kann. Ob diese Wendepunkte schon erreicht sind und ob eine Wende zum Besseren erhofft werden kann, ist ungewiss, erst im Nachhinein feststellbar. Die Ungewissheit bleibt, verunsichert zusätzlich. So kann es auch im kommenden Winter wieder den für Schüler:innen nachweislich belastenden und Lehrer:innen herausfordernden Distanzunterricht geben, vielleicht diesmal nicht zur Reduktion von Ansteckungen, sondern zur Reduktion von Heizenergie und explodierender Kosten der Schulträger; Schulschließungen – allerdings noch ohne Distanzunterricht – gab es schon 1973 in der sogenannten Ölkrise. Diese Ungewissheit, verbunden mit der Erwartung, dass Worst-case-Szenarien wahrscheinlicher sind als optimistische Szenarien, trifft die besonders, die nach menschlichem Ermessen noch eine lange Zukunft auf dieser Erde vor sich haben: Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene. Weil die Bedrohungen Schüler:innen von der Grundschule bis zu beruflichen Schulen direkt angehen, sind sie Thema in der Schule – und damit auch im Religionsunterricht. Die Frage ist, ob und was Religionsunterricht bei der Thematisierung beitragen kann. Diese Frage schärft sich zu für den katholischen Religionsunterricht, weil dessen Inhalte von einer Kirche verantwortet werden, die selbst durch ihren Umgang mit sexualisierter Gewalt, der im krassen Widerspruch zur verkündigten Botschaft steht, zusätzliche Verletzung vor allem junger Menschen in Kauf genommen hat, um Schaden von Institution und Täter:innen abzuwenden. Wie kann katholischer Religionsunterricht ein taugliches Unterrichtsfach sein, um vulnerablen Schüler:innen Begegnung zu ermöglichen, Raum für

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Einleitung

ihre Fragen zu geben und Deutungsmöglichkeiten anzubieten, um über Widerfahrenes und Bedrohliches nachzudenken? Was und wie kann Religionsunterricht, in dessen Inhaltlichkeit die Bibel – vom Brudermord des Kain im ersten Buch bis zu den vier apokalyptischen Reitern Krieg, Pandemie, Teuerung und Tod im letzten Buch – und in deren Ritualen Vulnerabilität im Mittelpunkt stehen, dazu beitragen, um Schüler:innen mit und trotz ihren Verwundungen und ihrer Verwundbarkeit Mut zur Zukunft zu geben? Diesen Fragen spüren die Beiträge in diesem Buch nach, das auch Tagungsbeiträge des Arbeitsforums für Religionspädagogik, veranstaltet im März 2021 sowie im Mai 2022 von der Konferenz der Leiter:innen der diözesanen Schulabteilungen, der Arbeitsgemeinschaft Katholische Religionspädagogik und Katechetik (AKRK) und des Deutschen Katechetenvereins (dkv), umfasst. Was Religion und Theologie zu bieten haben und was auch nicht, was ein (Religions-)Unterricht in Distanz leisten kann und was nicht und was dabei zu beachten ist, wie Religionsunterricht Krisen schüler:innenorientiert und theologisch herausfordend thematisieren kann, das sind die zentralen Fragen dieses Bandes. Auf diese Fragen geben die Beiträge dieses Buches aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften und Praxisfelder Antworten, die sich als Anregungen für eine weitere Auseinandersetzung mit den Fragen in Theorie und Praxis verstehen. Unser Dank gilt allen Autor:innen für ihre Beiträge. Ein besonderer Dank geht an das Lehrstuhlteam Religionspädagogik der Uni Freiburg: Frau Angelika Meichelbeck, Sekretärin am Lehrstuhl, hat – wie nun schon so oft – mit akribischer Sorgfalt das Masterlayout erstellt und sämtliche Finessen der Zitationsregeln überwacht. Ebenso großer Dank gebührt dem Assistenten zur Vertretung am Lehrstuhl, Herrn Tobias Balle, sowie den studentischen Mitarbeiterinnen Julia Klär, Luisa Bauer, Lena Rückert und Mirjam Lehmköster für das genaue Korrekturlesen und die vielen guten Hinweise bei der Manuskripterstellung. Freiburg i. Br/Osnabrück, am 08. Juli 2022 Mirjam Schambeck sf und Winfried Verburg

ERSTES KAPITEL Krisendiagnostik – religionssoziologische und theologische Zugänge und Deutungen

In welcher Gesellschaft leben wir? (Religions-)Soziologische Zeitdiagnosen Michael N. Ebertz

Was sind sogenannte Zeitdiagnosen noch wert in einer »Zeitenwende«, die von politischer Seite ausgerufen wurde? Wie oft »wenden« sich denn die »Zeiten«? Ich erinnere mich daran, dass Wolfgang Huber schon vor bald 25 Jahren ein Buch mit dem Titel: »Kirche in der Zeitenwende« herausbrachte, in dem übrigens an keiner Stelle der Ausdruck Zeitenwende definiert wird. Entwerten sich Zeitdiagnosen nicht selbst, zumal sie ständig so etwas wie den Eindruck von »Zeitenwenden«, ja von »einer raschen Abfolge zahlloser Epochenzäsuren«1 erzeugen, oder haben sie nur eine aufmerksamkeitsökonomische Funktion? Was für eine Plausibilität haben Zeitdiagnosen angesichts des Klimawandels, der Corona-Pandemie und des Zusammenbruchs der 75-jährigen Friedensordnung in Europa im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine? Mit welchen »Wendepunkten«, die in der Geschichtsschreibung eine besondere Anziehungskraft haben, lassen sich denn solche »Zeitenwenden« vergleichen – mit 2008 (Zusammenbruch der Wallstreet), mit 2001 (Terroranschläge in den USA), 1989 (Fall der Mauer), 1945 (Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gesellschaft), 1914 (Beginn des »Weltenbrands« des Ersten Weltkriegs), 1492 (Entdeckung Amerikas), 476 (Untergang des weströmischen Reichs) und 1177 v. Chr. (Untergang der spätbronzezeitlichen Kulturen bzw. der ersten großen Zivilisationen2)? Sind »wir«, wie Annalena-Baerbock im Februar 2022 in dramatischer Weise formulierte, »in einer anderen Welt aufgewacht«? Haben »wir« nicht schon im Ausbruch der Corona-Pandemie eine Zäsur erlebt und sind in einer anderen Gesellschaft wachgeworden? Hatten »wir« uns eine 1 Kaube, Jürgen, Jahrmarkt der Zeitdiagnosen, 2. 2 Cline, Eric H., Untergang der Zivilisation, 236.249, führt das Ende der bronzezeitlichen Reiche im östlichen Mittelmeer (wie auch den Untergang des Weströmischen Reichs) »nicht auf eine einzige Invasion oder Ursache« zurück, sondern auf einen »Systemkollaps« bzw. einen »Multiplikatoreneffekt« einer »komplexen Reihe von Ereignissen …, die die eng miteinander vernetzten Reiche der Ägäis und des Orients erschütterten und schlussendlich zum Zusammenbruch eines gesamten Systems führten«.

In welcher Gesellschaft leben wir?

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andere Welt zurechtgelegt, gar geträumt und erträumt? Kollabieren »unsere« bisherigen Zeitdiagnosen nicht mit dem »Zusammenbruch der seit dem Ende des Kalten Krieges dominierenden liberalen Ordnung«3, auf den Peking wie Moskau setzen? Erweisen sie sich als Illusion? Sind sie nicht selbst in eine Krise geraten, weil sie etwas gestern behaupten, was heute nicht mehr gilt? Muss man sie emeritieren, relativieren, suspendieren, kompostieren, das heißt entweder aufgeben oder neu oder nur »richtig« denken und verwandeln? Kamen Zeitdiagnosen nicht schon immer zu spät, haben sich widersprochen und mussten in einer Kakophonie enden, wenn man sie gleichzeitig sprechen lässt? Tatsächlich hatten wir ja auch bisher die Antwort auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben, nie einfach, sondern vielfach: »Postindustrielle Gesellschaft« (Daniel Bell 1985), »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck 1986), »Posttraditionale Gesellschaft« (Anthony Giddens 1990), »Multioptionsgesellschaft« (Peter Gross 1994), »Kommunikationsgesellschaft« (Richard Münch 1995), »Weltgesellschaft« (Martin Albrow 1996), »Verantwortungsgesellschaft« (­Amitai Etzioni 1997), »Netzwerkgesellschaft« (Manuel Castells 2001), »Erlebnisgesellschaft« (Gerhard Schulze 2005) – so heißen einige der Etiketten auf dem »Jahrmarkt der Zeitdiagnosen.«4 Und von diesen Gegenwartsdeutungen, die weitere Bilder – eines Flickenteppichs oder der »babylonischen Sprachverwirrung«5 – assoziieren lassen, gibt es noch einige mehr: Die »Single-Gesellschaft« (Stefan Hradil 1995), die »Wissensgesellschaft« (Helmut Willke 1998), die »Beschleunigungsgesellschaft« (Hartmut Rosa 2005), die »Sicherheitsgesellschaft« (Tobias Singelnstein/Peer Stolle 2006), die »Abstiegsgesellschaft« (Oliver Nachtwey 2016), die »Gesellschaft der Angst« (Heinz Bude 2014), die »nächste Gesellschaft« (Dirk Baecker 2007), die »Gesellschaft der Singularitäten« (­An­dreas Reckwitz 2017), die »überforderte Gesellschaft« (Armin Nassehi 2021). Das witzigste Etikett ist für mich das der »Diagnose-Gesellschaft« von Fran Osrecki.6 Obwohl all diese Etikettierungen von Autor:innen mit Prominenz und Reputation ausgehen, kann keine für sich beanspruchen, durchgehend akzeptiert 3 Bierling, Stephan/Groitl, Gerlinde, Die liberale Ordnung, 6: Die Eckpfeiler des Modells der liberalen Ordnung unter der Pax Americana (im Kontrast zur Pax Sovietica) sind »die Anerkennung des Existenzrechts der anderen Staaten, der weitgehende Ausschluss von Gewalt als Instrument der Politik, die Achtung von Regeln und Beschlüssen, die unter Gleichberechtigten vereinbart wurden, die Lösung von Konflikten durch Kompromisse, dazu Selbstbestimmung, gemeinsame Institutionen, freier Handel«. 4 Kaube, Jürgen, Jahrmarkt der Zeitdiagnosen, 2; Zur Bedeutung der Kategorie des Neuen s. Ebertz, Michael N., Neu!, 100–110. 5 Sennett, Richard, Die flexible Gesellschaft, 271. 6 Vgl. Osrecki, Fran, Diagnosegesellschaft.

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Michael N. Ebertz

zu sein.7 Jede Zeitdiagnose enthält auch eine Krisen-, wenn nicht eine Kata­ strophendiagnose und hebt jeweils spezifische Gewinner- und Verlierer-Typen hervor. Auffällig ist aber auch: Neben ihrer »Präferenz für Neuheitsbehauptungen« liegt einer Vielzahl von Zeitdiagnosen »ein völlig überintegriertes Gesellschaftsbild«8 zugrunde. Auffällig wird erst bei der Zusammenstellung heute gängiger Zeitdiagnosen, dass von einer integrierten Gesellschaft keine Rede sein kann. Denn an dieser Zusammenstellung wird ja offensichtlich, dass Ȥ sehr heterogene Entwicklungen nebeneinander laufen, sich auch überlagern. So zeigt sich, dass sich die Gegenwartsgesellschaft nicht einfach auf einen organisch-integralen Begriff bringen lässt. Sie ist eben keine Gemeinschaft. Deutlich wird neben dieser Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse zudem Ȥ die selektive Aspekthaftigkeit bzw. individuelle Standortgebundenheit der Deutungen, die fragmentarische Realitäten unterschiedlich stark gewichten. Dies ist nicht Ausdruck eines Relativismus, sondern einer Relationalität.9 Dies lässt auch darauf schließen, Ȥ dass in unseren Zeiten Menschen gleichzeitig nebeneinander, hintereinander oder durcheinander in verschiedenen sachlichen, zeitlichen und sozialen Realitäten leben und sich möglicherweise auch darin unterscheiden, und Ȥ dass sie unterschiedliche Realitäten miteinander kombinieren. Offensichtlich leben wir – lebt jeder und jede von uns – in vielen Gesellschaften gleichzeitig. Offensichtlich wird auch, dass es keine Einheits- oder Zentralperspektive mehr auf die Zeiten, in denen wir leben, gibt, woraus geschlossen werden kann, dass die heutige Gesellschaft polyzentrisch geworden ist, also nicht (mehr?) über ein allgemein anerkanntes Zentrum verfügt.10 Angesichts dieser multiperspektivischen Vielfalt an Zeitdiagnosen schalten die einen auf Ignoranz   7 Vgl. Reese-Schäfer, Walter, Deutungen der Gegenwart; Hastedt, Heiner (Hg.), Deutungsmacht von Zeitdiagnosen.   8 Kaube, Jürgen, Jahrmarkt der Zeitdiagnosen, 2.   9 Zu dieser Unterscheidung s. Ebertz, Michael N., Relativismus oder Relationismus?, 55–79. 10 Eher haben wir ein Zuviel als ein Zuwenig an Perspektiven, Deutungen und – so etwa der italienische Philosoph Gianni Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 299, – an Informationen. Eine Deutungs- und Informationsmenge, die »von keinem einzelnen Agenten der Gesellschaft erfasst werden kann«, womit die aufklärerische Vorstellung, dass Gesellschaften durch Wissen planbar, überschaubar und kontrollierbar wären, sich »ins Gegenteil verkehrt«. Auch entstehen unterschiedliche Perspektiven hinsichtlich einer Sache und es stellt sich die Frage, ob und inwieweit angesichts einer solch gesteigerten Perspektivendifferenz und Multiperspektivität Selbst- und Fremdverstehen überhaupt möglich sind und ob nicht eher von der Unwahrscheinlichkeit von Konsensbildungen auszugehen ist.

In welcher Gesellschaft leben wir?

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und Indifferenz, während die anderen sich mit immer neuen Deutungsansätzen bekämpfen und immer weitere Unübersichtlichkeiten produzieren und wieder andere die Aktualisierung von scheinbar normativen Gewissheiten betreiben, wozu sie auch »Nation« und/oder »Religion« bemühen. Will man sich an diesen Ignoranzen, Kämpfen und Fundamentalismen nicht beteiligen, wird man die Diversität der Perspektiven mit Bezug auf eine Sache als soziale Tatsache auch in Bildungsprozessen ernst nehmen müssen, um sie konstruktiv – etwa als »Dialog«11 – zu gestalten. Die Antwort auf die Frage nach dem Auftrag von Religion, Christentum, Kirche und Religionspädagogik in der Gegenwartsgesellschaft wird dann freilich hoch komplex ausfallen, wenn man allein schon diese Frage übersetzt in die Frage nach dem Auftrag von Religion, Christentum, Kirche und Religionspädagogik in der »Risikogesellschaft«, der »Erlebnisgesellschaft«, der »Multioptionsgesellschaft«, der »Gesellschaft der Singularitäten« und so weiter. Dementsprechend vielfältig und vielschichtig werden auch die möglichen Antworten ausfallen, und die Verantwortlichen sind mit der Schwierigkeit, den jeweiligen Kurs zu finden, weiß Gott nicht zu beneiden. Sie können freilich nicht allein im kirchlichen Binnenbereich gesucht werden, sondern nur im kritischen Dialog mit den Repräsentant:innen der jeweiligen Perspektive, um für das heutige Leben der Kinder, der Jugendlichen und ihrer Familien anschlussfähig zu werden. Freilich lassen sich die Zeitdiagnosen sortieren, etwa in spekulative und empirische Ansätze unterscheiden, nach einer deduktiven oder induktiven Herangehensweise oder nach einem deskriptiven oder normativen Anliegen.12 Lassen Sie mich aus der Fülle eine kleine Auswahl von drei Zeitdiagnosen treffen und sie stichwortartig skizzieren. Ganz bewusst wähle ich solche Zeitdiagnosen aus, die a) eher nicht durch Brüche Aufmerksamkeit und Neugierde wecken, sondern für das Beständige stehen, das bekanntlich keinen Nachrichtenwert hat, aber b) Krisendiagnosen mit sich führen, c) ziemlich empirienah sind und aus meiner Sicht d) höchste Relevanz für das gegenwärtige religiöse Feld haben.

11 Vgl. Ebertz, Michael N., Christlich-islamischer Dialog, 56–66; ders., Dialog und Dialogprobleme, 284–308. 12 Vgl. Siller, Peter/Meinefeld, Ole, Was heißt »Zeitdiagnose«?, 14 f.

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1 Wir leben in einer funktional differenzierten Gesellschaft Soziolog:innen versuchen, Gesellschaften durch die Form der Differenzierung zu beschreiben, die eine Gesellschaft in sich hervorbringt. Im vorindustriellen Europa und in Restbeständen lange danach wurden als seine hauptsächlichen Teilsysteme die Stände und Schichten verstanden: Adel, Klerus, verschiedene bürgerliche Gruppen (Handwerker) und Bauern. Die gesellschaftliche Ordnung war die Ordnung dieser Gruppen, in die man hineingeboren wurde und denen man in der Regel lebenslang zugehörte. Dementsprechend herrschte in dieser Sozialstruktur das Eingeburtsprinzip auch in der Kirche vor. Durch die Säuglingstaufe wurde man in ihr Mitglied. »Die moderne Gesellschaft, in der wir seit 250 Jahren leben, beruht«, so betonen insbesondere Vertreter:innen der soziologischen Systemtheorie, »auf einem vollständigen Austausch dieser Ordnungsform. An die Stelle hierarchisch geordneter Stände setzt sie durch Sachthemen und gesellschaftliche Funktionszuweisungen geordnete Kommunikationssysteme: Politik, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft, Erziehung, Recht, Kunst, Sport, Massenmedien, das Gesundheits- oder Krankheitssystem sowie das System der Intimbeziehungen und Familien. Niemand hat heute die Gesamtheit seiner Lebensvollzüge in nur einem dieser Funktionssysteme«.13 Statt ihnen zuzugehören, nimmt man nur punktuell an ihnen teil (in der Soziologie wird dies Inklusion genannt), und diese Personen, die punktuell an den Funktionssystemen teilnehmen, sind Individuen, die sich durch die extreme Diversität ihrer Teilnahmen charakterisieren lassen. Das Individuum existiert (als psychophysisches System) außerhalb dieser Funktionssysteme, »es ist nur in einzelnen Ereignissen mit ihnen verknüpft. Neben der funktionalen Ordnung selbst ist das Individuum die andere revolutionäre Erfindung der modernen Gesellschaft«.14 Diese gesellschaftlichen Teilsysteme spezialisieren sich – ähnlich arbeitsteilig wie die entstehenden Industriebetriebe – auf die Bearbeitung bestimmter Sachfragen, die nicht einfach von einem anderen System geleistet werden können. In einer anderen Theoriesprache wird diese Spezialisierung »institutionelle Segmentierung«15 genannt. Die damit gewonnene Sensibilität geht mit einer gewissen Indifferenz für alles Übrige einher. Das betrifft dann auch das religiöse Teilsystem, was als Ausdruck der gesellschaftlichen »Säkularisierung« gesehen wird. Jede Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Teilsysteme vergrößert deren Sensibilität einerseits und deren Indifferenz andererseits. Wenn immer 13 Stichweh, Rudolf, Simplifikation des Sozialen, 197. 14 Ebd., 197. 15 Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, 139.

In welcher Gesellschaft leben wir?

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mal wieder zu hören ist, dass sich die Kirche als organisiertes Teilsystem im gesellschaftlichen Funktionssystem der Religion auf »ihr Kerngeschäft« zentrieren soll, lässt sich dieses Postulat ebenso als unreflektierter Reflex der funktionalen Differenzierung verstehen wie die zeitliche Platzierung der Fußballweltmeisterschaft 2022 auf die Advents- und Weihnachtszeit oder die Forderung, einen Feiertag zu streichen, indem man »Peter, Paul und Mary« zusammenlegt. Das, was typisch für Religion ist, nämlich sich nirgendwo unzuständig zu sehen, weisen die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme zurück, überlassen ihr (und ihren organisationellen und interaktiven Inseln) aber in großer Unverbindlichkeit ihre Funktion, Beobachtbares und Unbeobachtbares mit Hilfe der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.16 Die damit einhergehende strukturelle Rücksichtslosigkeit gilt auch gegenüber der Vollperson der Individuen, deren Inklusion allein die Familie betreibt, die in der Coronakrise ihre Zuständigkeit für das Erziehungsgeschehen verfestigen konnte.17 Die anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme, an denen die Individuen nur noch punktuell teilnehmen, müssen »darauf verzichten, die Person als solche intensiv in Anspruch zu nehmen«18, und können partiell den Handlungssinn bestimmen, aber nicht mehr den umfassenden Lebenssinn der Individuen. Dies gilt auch für das Religionssystem, das ja nur noch in den Köpfen seiner Repräsentant:innen allen anderen Systemen übergeordnet ist. Damit bleibt die persönliche Identität von der Sozialstruktur unterbestimmt und wird »zu einer reinen Privatsache«.19 Die Einzelpersonen sind in einer funktional differenzierten Gesellschaft zum individuellen religiösen Entscheiden verdammt oder befreit, wie man will. Statt restriktiv und systemreproduktiv kann Religionspädagogik allenfalls situativ attraktiv für Einzelpersonen sein.20 Zwar stehen die Funktionssysteme untereinander in Beziehungen, diese dürfen aber nicht als Integration missverstanden werden. Niklas Luhmann spricht dagegen von »struktureller Kopplung«. Strukturelle Kopplungen von Funktionssystemen beziehen sich vor allem auf die Leistungsbeziehungen. So 16 So treffend im Anschluss an Niklas Luhmann: Nassehi, Armin, Organisation des Unorganisierbaren, 204. 17 Vgl. Stichweh, Rudolf, Simplifikation des Sozialen, 202. 18 Luckmann, Thomas, Problem der Religion, 57. 19 Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, 139. 20 Obwohl die Kirchen als religiös spezialisierte Institutionen einen transzendenten, einen umfassenden Lebenssinnzusammenhang repräsentieren und sich in ihnen – wie in den Sekten – spezifisch religiöse Normen verdichten, fehlen ihnen nicht nur die Fähigkeit zum Bewusstseinszwang, sondern – im Unterschied zu den anderen großen Institutionen von Politik und Wirtschaft – auch zum Handlungszwang und zur Handlungskontrolle.

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finanziert das Wirtschaftssystem alle anderen Funktionssysteme, das politische System z. B. durch Steuern. Dieses ist seinerseits mit der Wirtschaft über Gesetze verbunden, mit dem Recht in der Form der Verfassung, mit der Wissenschaft über die Hochschulgesetzgebung, dem Erziehungssystem über die staatliche Kontrolle der Familien, Kitas und Schulen. Das Erziehungssystem liefert dem Wirtschaftssystem in Form von Zeugnissen verwertbare Absolventinnen und Absolventen, die Familien allen Systemen einschließlich dem Religionssystem ihren Nachwuchs. Im Religionssystem erhalten die Familien dafür Zugang durch die Taufe ihrer Kinder, d. h. das Ticket zu Heilswahrheiten und Heilsgütern, also zu verdichteter religiöser Kommunikation, das in den anderen Funktionssystemen, die in der Schule durch die verschiedenen Fächer repräsentiert werden, ausgespart wird. In anderen gesellschaftlichen Teilsystemen zählen andere Tickets, und die Taufe zählt nicht einmal mehr als Ticket für einen Platz in einem katholischen Kindergarten, einer katholischen Schule, einem katholischen Krankenhaus oder einem katholischen Altenpflegeheim. Im Blick auf das Religionssystem ist nun entscheidend, dass die Familien im Zuge ihrer Spezialisierung auf die Erziehungsfunktion und ihrer wachsenden Sensibilisierung für die Kinder im Erziehungssystem die strukturelle Koppelung mit vielen anderen gesellschaftlichen Teilsystemen (etwa der Kunst und dem Religionssystem) vernachlässigen, wenn diese keine Macht über die Familien haben, also mit ihren Entscheidungen die Entscheidungen in den Familien kaum tangieren. So kann den kirchlichen Erwartungen an die Familien bezüglich der religiösen Sozialisation ebenso wenig Nachdruck verliehen werden wie den kirchlichen Erwartungen an das Intimsystem. Ungleich anders dagegen können die Schulen im Erziehungssystem die Familien unter Erregungszwang setzen. Für die Reproduktion des Kirchensystems als organisationelle Insel im Religionssystem hat diese weitgehende Entkoppelung von Familie und Religion elementare Folgen: Vor unseren Augen vollzieht sich derzeit eine massive Erosion des Modells »Nachwuchskirche«.21 Nur lose gekoppelt mit den Familien sind die Kirchen herausgefordert, einen Paradigmenwechsel vorzunehmen, um ihr Wachstum neu zu organisieren. Da sie zu diesem Paradigmenwechsel offensichtlich nicht fähig oder bereit sind, beschleunigen sie ihr Schrumpfen, und das auch noch sehr kostspielig. Folgen für die intermediären religionspädagogischen Koppelungen zwischen Kirche, Familie und anderen Einrichtungen des Erziehungssystems liegen auf der Hand. Auch der schulische Religionsunterricht mit seinen Formen religiöser Kommunikation muss ohne Vorleistungen aus dem Familiensystem auskommen. Die für Religion typische 21 S. hierzu Ebertz, Michael, Entmachtung, bes. 22–28.

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Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz ist dann entweder überhaupt nicht eingeübt oder in ihrer potenziellen Wildheit und Grenzenlosigkeit noch nicht domestiziert.22 Die Corona-Pandemie hat die Basisstruktur unserer Gesellschaft, die in der funktionalen Differenziertheit liegt, manifestiert; wurde doch die Eigenlogik der gesellschaftlichen Teilsysteme darin offensichtlich, dass zeitlich (Synchronisation), sozial und sachlich »nicht aus einem Guss«23 interveniert wurde. Als Gewinner der Corona-Krise hat der Soziologe Rudolf Stichweh das politischadministrative, das Gesundheitssystem und das Wissenschaftssystem, aber auch die digitalisierten Massenmedien ausgemacht, als Verlierer das Religionssystem. Es habe sich in der Corona-Krise durch die »physische Anwesenheit aller Beteiligten, die für viele Formen von Religiosität charakteristisch ist, … in einer Reihe von Fällen als ein besonders virulenter Krisenherd erwiesen.«24 Ich ergänze: Es wurde auf der Interaktionsebene geistlicher Kommunikation unter leibhaftig Anwesenden und damit auch in ihrer gemeinschaftsförmigen Körperpraxis in den Gottesdiensten und Wallfahrten erheblich irritiert.25 Die Gemeinschaftsförmigkeit im bestätigenden Amen, Beten und Singen, wie es die protestantische Tradition akzentuiert, fiel ebenso aus wie im Friedensgruß und Kommunionempfang in der katholischen Eucharistiepraxis oder in der orthodoxen Liturgie, in der Brot und Wein, vom Priester in einem Kelch »zu einer Art Brei« gemischt wird, »der mit einem für alle benutzten Löffel den Gläubigen direkt in den Mund gegeben wird«.26 Noch bedeutsamer ist für den Systemtheoretiker Stichweh, dass »dem Anschein nach nirgendwo religiöse Deutungsvarianten des durch das Virus ausgelösten Krisengeschehens verfügbar sind und eine relevante Rolle spielen.« Sie können »nicht mehr das Spiel spielen, das Geschehen als eine Strafe für Fehlhandeln zu deuten«.27 Diese traditionelle Sinnressource sei verbraucht. Jedenfalls fiel das Religionssystem mit seiner spezifischen sachlichen Sinnform, die Corona-Pandemie deutend in einen mehr oder weniger konsistenten Gesamtzusammenhang zu stellen, aus. Als Antwort auf die Frage, was der Fall sei, hinterließ es eine Lücke, auch und gerade dadurch, dass es die Verneinung der traditionellen Deutung, in der ­Seuche eine göttliche Strafe zu sehen, nicht durch eine alternative Interpretation kompen-

22 23 24 25 26 27

Vgl. Nassehi, Armin, Organisation des Unorganisierbaren, 205. Nassehi, Armin, Unbehagen, 85. Stichweh, Rudolf, Simplifikation des Sozialen, 202 f. Vgl. Feulner, Hans-Jürgen/Haslwanter, Elias (Hg.), Gottesdienst auf eigene Gefahr?. Heller, Dagmar, Aus der Orthodoxie, 111, Anm. 12. Stichweh, Rudolf, Simplifikation des Sozialen, 203.

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sierte.28 Angesichts eines Krieges, der ja in der Regel »eher eine Steigerung aller Funktionssysteme mit sich bringt«29, wird man weiterfragen, ob die Plausibilität des Christentums in Europa nicht erneut erschüttert wird, wenn es – freilich auf dem Hintergrund unterschiedlicher Koppelungen von Politik und Religion – im »Westen« den Krieg delegitimiert und in Moskau legitimiert. Auch hier wird die potenzielle Wildheit von Religion – des Christentums – offensichtlich. Religion vermag ja »Heil und Segen zu verschaffen«, aber wir sehen derzeit »mit Entsetzen: Mit ihrem Wesen ist offenkundig stets ein Unwesen auf dem Plan, welches Zerstörung und Vernichtung wirkt«, so Wolfgang Beinert.30 Damit scheint mir auch die christliche Ökumene, die ja nicht nur zwischen Katholik:innen und Protestant:innen zu denken ist, an einem Nullpunkt, wenn nicht einem Minuspunkt angekommen zu sein. In diese Richtung tendiert auch das Christentum in den jüngeren, d. h. zukünftig reproduktiven Generationen, wenn man den neueren Studien Glauben schenken darf: Zwar setze »die dichte Aufeinanderfolge von tief in das Leben eingreifenden Krisen« angesichts von Klimawandel, Corona-Pandemie und Kriegserfahrung den jungen Menschen zu; aber es sieht ganz danach aus, »dass Religion und besonders der christliche Glaube bei jungen Menschen kaum noch eine Rolle für die Krisenbewältigung spielten. Auf der langen Liste, was jungen Menschen helfe, stünden vor allem die sozialen Kontakte wie Familie, Freunde und die soziale Umgebung im Vordergrund«, so heißt der Befund in der neuesten Studie »Jugend in Deutschland – Sommer 2022«.31 Eine neuere repräsentative Studie bezeichnet die heute 19- bis 27-Jährigen, die übrigens über ein hohes Bildungskapital verfügen, als vielleicht die erste »wirklich postchristliche Generation«.32

2 Wir leben in einer »Dienstleistungsgesellschaft« Obwohl noch viele Politiker:innen von »unserer modernen Industriegesellschaft« sprechen, leben wir schon längst in einer Gesellschaft, deren ökonomisches Teilsystem durch Dienstleistungserbringungen bestimmt ist. Das Etikett der »Dienstleistungsgesellschaft« steht für eine der vielen Diagnosen unserer Zeit und meint insofern nur einen – aber einen wichtigen – Aspekt 28 29 30 31

Vgl. Ebertz, Michael N., Darf Gott strafen?. Stichweh, Rudolf, Simplifikation des Sozialen, 201. Beinert, Wolfgang, Missbrauchte Religion, 344 f. So die Notiz »Jugend bleibt im Krisenmodus« in der FAZ vom 4. Mai 2022, 7; vgl. auch Schnetzer, Simon, Trendstudie Sommer 2022. 32 SI – Sozialwissenschaftliches Institut der EKD (Hg.), Was mein Leben bestimmt?, 40.

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der Gegenwart. Es akzentuiert ein gesellschaftliches Teilsystem, nämlich das Wirtschaftssystem, dessen Transformation Auswirkungen auf viele andere Teilsysteme, ja die gesamte gesellschaftliche Ordnung habe. Der amerikanische Soziologe Daniel Bell hat die Diagnose der »postindustriellen Gesellschaft« bereits in den 1970er Jahren auch als Prognose gestellt, die sich bis heute bewährt hat. Nachdem sich der Anteil der Erwerbstätigen im Agrarsektor, dem Primären Wirtschaftssektor, zurückgebildet habe, nehme auch der Anteil im Sekundären Sektor, dem Industriesektor, ab und es wachse die Zahl der Beschäftigten im Tertiären Sektor. Tatsächlich hat auch in Deutschland der Anteil der Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich die Fünfzig-Prozent-Marke (von 45 Prozent auf 54 Prozent) erstmalig zwischen 1970 und 1980 überschritten. Schon in den 1990er Jahren wurden es zwei Drittel, und seit der Jahrtausendwende bis heute arbeiten nur noch knapp ein Viertel der Erwerbstätigen in Deutschland im Sekundären, aber drei Viertel im Tertiären, also im Dienstleistungssektor. Der tägliche Erfahrungsraum der großen Mehrheit auf dem Arbeitsmarkt ist somit schon lange nicht mehr die industrielle Fertigung. Wissen und Fachkompetenz werden zur zentralen Achse, um die sich die neue Technologie, das Erwerbsleben, das Wirtschaftswachstum und die soziale Milieubildung formieren. Fachliches Wissen und Können werden zur Voraussetzung von Macht. Muskelkraft wird ebenso abgewertet wie der Arbeiter als Repräsentant der Industriegesellschaft und diejenige Person, der Zugang und Voraussetzung für den Wissenserwerb versperrt ist. Auch deshalb verliert körperliche Gewalt im Zusammenleben unserer Gesellschaft an sozialer Akzeptanz, wofür es freilich noch andere Gründe gibt, die seinerseits Norbert Elias in seiner Diagnose der »zivilisierten Gesellschaft«33 herausgearbeitet hat, die sich auch im Familienund Schulleben34 bis hinein in die Gottesbilder35 manifestiert. In der »Dienstleistungsgesellschaft«, wo Kommunikation und Wissen zu zentralen Achsen des Erwerbslebens werden, zugleich freilich auch viele im Niedriglohnsektor arbeiten, erfahren vielfältige und differenzierte Formen der Face-toface-Interaktion – nicht zuletzt im Bildungs- und im Gesundheitswesen – eine starke Aufwertung. Aushandlung, Begleitung und Beratung (»auf Augenhöhe«) verdrängen befehls- und gehorsamsbestimmte Sozialbeziehungen, selbst innerhalb der Familien zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern. Die Emanzipation der Frauen ist auch eine Folge der Chancen, die ihnen die Dienstleistungsgesellschaft bietet. Frauen werden in den Arbeitsmarkt gebracht, womit auch 33 Vgl. Elias, Norbert, Prozess der Zivilisation. 34 Vgl. Elias, Norbert, Zivilisierung der Eltern, 7–52. 35 Vgl. Ebertz, Michael N., Die Zivilisierung Gottes; Ders., Christsein in der zivilisierten Gesellschaft, 4–10.

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die herkömmliche Geschlechterordnung, Ehe- und Familienvorstellungen unter Druck geraten. Was sich hier vollzogen habe »und noch vollzieht«, sei »für die Menschheitsgeschichte bedeutsamer als etwa die Entdeckung der Atomenergie oder die Ausbreitung der Automation«, so seinerzeit schon Kardinal Joseph Höffner in seiner »Christlichen Gesellschaftslehre«.36 Die durch den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft erzeugte Öffnung des Bildungs- und Wirtschaftssystems nicht zuletzt für Mädchen bzw. Frauen stößt – auch in der Kirche, in der seit den 1980er Jahren Frauen das Ehrenamt erobern – einen fundamentalen Prozess an, den Norbert Elias in Unterscheidung von der institutionellen Demokratisierung im politischen Feld »funktionale Demokratisierung«37 genannt hat. Es gibt einige Hinweise, dass die Chancen dieses neuen Erfahrungsraums im heutigen kirchlichen Zusammenleben noch kaum ergriffen wurden. Zwar erhält schon seit Jahren und Jahrzehnten die funktionale Autorität der Theologie als Reflexionsort des Glaubens eine – zumindest innerkirchliche – Aufwertung zuungunsten einer bloß auf der Basis von rituell vermittelter Amtsautorität operierenden Repräsentanz des Christentums. Aus Seelsorge als »Seelenführung« wird Seelsorge als Begleitung. Aber klerikale Amtsautorität verliert auch an gesellschaftlicher Akzeptanz, wenn sie sich Argumentationen verschließt, sich einer bloß routineförmigen und belehrenden Interaktionslogik verschreibt und diese nicht als symmetrisches Begegnungsgeschehen umformt; wenn sie Frauen die Emanzipation verwehrt und aus der religiösen Dienstleistungserbringung ausschließt, ja wenn dem religiösen Dienstleistungsbegriff selbst – zugunsten einer »communio hierarchica« – der legitime theologische Status verweigert wird. Die Kirche ist damit herausgefordert, ihre Arbeit von Herrschaft auf Leistung, auf Dienstleistung, umzustellen, sie also von der vertikalen, gesetzes- und gehorsamsorientierten Über- und Unterordnungsbeziehung in eine horizontale Tauschbeziehung umzulegen. Das ist ein Optionswechsel, der nicht wenigen Christinnen und Christen schwerfällt. Von der nachkonziliaren »CommunioTheologie« überschattet und gern überlesen, findet sich in Lumen Gentium 4 die Kirche in einer Doppelstruktur beschrieben, bestehend aus »communio et ministratio«. In der Übersetzung von Rahner und Vorgrimler steht da: »Gemeinschaft und Dienstleistung«. Dies heißt somit: 1. Die Kirche ist nicht nur als Gemeinschaft zu begreifen. 2. Die Kirche hat sich (strukturell) differenziert aufzustellen. 3. Kirche als Gemeinschaft ist nicht der Kirche als Dienstleistung übergeordnet, denn der Geist »eint sie in Gemeinschaft und Dienstleistung«. Nicht nur »dienen« ist ein theologisch qualifizierter Begriff (»das tun wir ja 36 Höffner, Joseph Kardinal, Christliche Gesellschaftslehre, 86 f. 37 Elias, Norbert, Soziologie, 70.

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schon immer …«), sondern auch »Dienstleistung« ist ein solcher geworden. Mit dieser »neuen« Selbstbeschreibung hat sich Kirche als Organisation auch in der modernen »Dienstleistungsgesellschaft« neu aufgestellt, hat sich ausdifferenziert. Sie hat gleichsam – auch im profanen Leben anzutreffende – Grundformen des Sozialen in sich hineinkopiert. Die Christ:innen, die sich in der gemeinschaftlichen und milieubestimmten Enge von kirchlichen Gemeinden nicht wiederfinden, werden zu religiös Suchenden und haben in einer auch religiösen »Multioptionsgesellschaft«38 der »religiös-säkularen Konkurrenz« (Jörg Stolz) – zwei andere zeitdiagnostische Etiketten – Dienstleistungsalternativen, die relativ leicht zugänglich sind. Warum überhaupt »Sakramente, aber nicht Inszenierung von Trancezuständen? Warum zeitlich vertagte Erlösungshoffnungen, aber keine gegenwärtig hilfreiche Magie?«, könnte man da mit Luhmann fragen.39 Auf diesem Hintergrund sind auch die religionspädagogischen Felder herausgefordert, sich stärker gegenüber dem Dienstleistungsformat zu öffnen. Kinder wachsen nicht mehr in kirchlich sozialisierenden Familien, geschweige denn in »Hauskirchen« und anderen kirchlich-religiösen Gemeinschaften auf.

3 Leben wir in einer »Gesellschaft der Singularitäten«? Im Kontrast zu einer »Kultur, die das Opfer sucht, menschliches Leiden hinnimmt und den Künsten den Auftrag gibt, dafür die passenden Bilder zu finden«40, stellt Dirk Baecker für die heutigen Lebensformen typischerweise ihre Pluralität und ihre Optionalität bzw. Komplexität heraus, »die sich Gegebenheiten dort schaffen, wo und wie man sie braucht«41. Es ist eine Kultur, welche auch die »Lebensform des Wechsels« präferiert, des »Wechsels zwischen verschiedenen Situationslogiken«42, Perspektiven und Erfahrungsräumen. Charakteristisch für diese Lebensformen ist, »dass sie für jede beliebige soziale Situation Ausweichchancen schaffen«: Man ist »fast nie gezwungen, die jeweilige Situation länger auszuhalten, als man dazu bereit ist«43, und der Umgang mit Komplexität in der Familie, im Beruf, im Museum oder in der Kirche lebt davon, »dass wir uns auf sie einlassen und wieder von ihr ablassen können«.44 So kann man »aus 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Ebertz, Michael, Christsein in einer Multioptionsgesellschaft, 5–11. Luhmann, Niklas, Religion der Gesellschaft, 243 f. Baecker, Dirk, Bewältigung der Corona-Krise, 19. Ebd., 20. Ebd., 21. Ebd., 20. Ebd., 21.

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der Arbeit in den Konsum, aus der Familie in die Freizeit, aus der Politik in die Wirtschaft, aus den Massenmedien in die Religion oder die Wissenschaft ausweichen und umgekehrt«.45 Die Hochschätzung dieser Lebensform des Wechsels und Ausweichens wurde uns ganz besonders angesichts der Limitierungen unter den Pandemieerfahrung bewusst und wird uns wohl noch mehr unter den Klima- und Kriegsfolgenbedingungen bewusst werden. Außer dem »Ausweichwert« zeigt die »Medaille« moderner Lebensformen auf ihrer anderen Seite den »Möglichkeitswert«, also das Ideal, »das Leben in der Fülle aller seiner Möglichkeiten zu leben«, wie Andreas Reckwitz46 im Blick auf »die Kultur« der Gegenwartsgesellschaft betont. Zum Modus des flexiblen Ausweichens fügt sich sozusagen der Modus des flexiblen Kombinierens oder Collagierens. Damit entsteht eine »Kultur der Einzigartigkeiten«, die ­Andreas Reckwitz zu einer der jüngsten Zeitdiagnosen führt, der »Gesellschaft der Singularitäten«. Singularisierung meint etwas anderes als Individualisierung. Einzigartigkeit werde »überall: in den Dingen und Objekten, in den Ereignissen und Orten, auch in den Gemeinschaften, schließlich in sich selbst und dem Anderen als Individuum«47 gesucht und hoch bewertet, d. h. positiv valorisiert. Einzigartigkeit ist nicht einfach natürlicherweise da, sondern sie wird »sozial fabriziert«48, etwa in den Bewertungsportalen im Internet oder durch öffentliche Rankings. Lebensformen werden »von anderen beobachtet« und »als besonders oder eben »nur« als durchschnittlich«49 beurteilt. »In der Warenproduktion geht es um Güter, die den Anspruch haben, etwas Besonderes, Authentisches zu sein, ob das Bio-Produkte sind, touristische Ziele oder Wohnungseinrichtungen. Aber auch Schulen und Universitäten konkurrieren miteinander um das Etikett des Besonderen, auch Städte und Stadtviertel. Deshalb spielen Rankings eine so wichtige Rolle.«50 Selbst »die eigenen Kinder«, so Reckwitz, »müssen besonders sein, und natürlich der Beruf. Aus all diesen Elementen setzt sich dann idealerweise dieses besondere Leben zusammen, für das ich dann Anerkennung bekomme«51. Diese »Zusammensetzung«, das Kombinieren von Gütern, Menschen und Handlungen und das Wechseln von diesen ermöglichen es, angeheizt durch die Digitalisierung, Medialisierung und den Kulturkapitalismus mit sei45 Ebd., 20. 46 Reckwitz, Andreas, Logik des Besonderen, 17–21; vgl. ausführlich: Ders., Gesellschaft der Singularitäten. 47 Reckwitz, Andreas, Logik des Besonderen, 17. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd.

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nen »Besonderheits-Gütern«, Lebensformen mit einem Lebensstil zu pflegen, »in dem man sich mit einzigartigen Dingen umgibt, außergewöhnliche Ereignisse erlebt, besondere Orte aufsucht, mit besonderen Menschen zusammen ist.«52 Es ist die »Logik des Besonderen«, die zur »Lebensform des Wechsels« passt. Lebensformen werden singularisierbar, weil modellierbar, und unterliegen immer weniger einer Notwendigkeitslogik. An den heutigen Lebensformen wird insbesondere der »Lebensstil« am Maßstab der »Kreativität« valorisiert, womit eine deutliche »Ästhetisierung« zur Basisorientierung wird. Dabei geht es um mehr als um eine rein technische Produktion von Neuartigem, vielmehr um die sinnliche und affektive Erregung durch dieses Neue in Permanenz. Es geht um eine entsprechende Modellierung des Individuums als schöpferisches Subjekt, die dem Künstler analog ist.53 Das Neue wird dabei aus seiner Unterwerfung unter eine Fortschrittsidee oder eine Verbesserungslogik herausgelöst und so gleichsam »entnormativiert«54 oder entzweckt, indem es als Reiz zum Eigenwert, gewissermaßen selbst zur Norm wird. Das Neue besteht »in seinem momenthaften ästhetischen Reiz, der immer wieder von einer anderen, nächsten sinnlich-affektiven Qualität abgelöst wird«.55 »Ästhetik«, also die sinnliche Wahrnehmung, wird dabei zu einem Selbstzweck, »ihr Spezifikum ist ihre Sinnlichkeit um der Sinnlichkeit, ihre Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen«.56 So dehnten sich »ästhetische Praktiken auf Kosten primär nicht-ästhetischer, zweckrationaler und normativer Praktiken aus«57 und bewirken eine »ästhetische Sozialität«58 der Lebensformen. Diejenigen Subjekte erfahren eine hohe soziale Anerkennung, denen eine »kreative Lebensführung«59 gelingt: Nicht nur »schöner wohnen«, sondern kreativer wohnen, nicht nur »schön essen gehen«, obwohl man satt ist, sondern »kreativ kochen« ist angesagt. Geht das: Kreativ Gottesdienst gestalten, kreativ taufen, kreativ Religion unterrichten?60 Auf der Basis des Wertewandels seit den letzten Jahrzehnten vollzieht sich somit ein kultureller Wandel von einer »Logik des Allgemeinen« zu einer »Logik des Besonderen«, der auch für das religiöse Feld folgenreich ist: Die Kirchen, so 52 Ebd. 53 Reckwitz, Andreas, Kreativität, 146. 54 Ebd., 149. 55 Ebd. 56 Ebd., 150. 57 Ebd., 151. 58 Ebd., 152. 59 Ebd., 158. 60 Priester wie Friedhelm Mennekes sind offensichtlich charismatische Ausnahmegestalten; s. Mennekes, Friedhelm, Zwischen Freiheit und Bindung.

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Reckwitz, könnten diesem Wandel kaum nachkommen, denn sie stehen für den »Durchschnitt«, für die Logik des Allgemeinen, für das, »was früher selbstverständlich war und für alle galt, wo jeder hineingeboren wurden [sic]«.61 Allerdings werde heute zwar nicht in den Kirchen, aber auch in der Religion »das Singuläre« gesucht: »auf der Gemeinschaftsebene, aber auch in der religiösen Zeremonie selbst oder in der individuellen, spirituellen Erfahrung. Sie soll den Charakter des Außeralltäglichen haben. Religionsgemeinschaften, die das bieten«, seien »attraktiv. Zen-Buddhisten im Westen etwa oder in Lateinamerika die Pfingstkirchen«. Auch das Konversionserlebnis, sei, so Reckwitz weiter, etwas sehr Charakteristisches für die spätmoderne Religiosität: Man wird nicht mehr automatisch in eine Religion hineingeboren, sondern bekennt sich aktiv, individuell dazu, vielleicht sogar als Ergebnis einer inneren Umkehr, die sich in eine dramatische oder berührende Geschichte packen lässt.62 Die Kirchen könnten sich noch als Betreuungsorte für diejenigen verstehen, die in der »Kultur des Singularismus« nicht mithalten könnten, an ihr scheitern oder durch sie entwertet oder von ihr enttäuscht werden. Eine spannende Frage ist, ob sich auch »die« Religionspädagogik für eine religiöse Logik des Besonderen aufgeschlossen sehen kann und ob und gegebenenfalls wie sie dies auch an den Orten – etwa der Schule – zu leisten vermag, die eher auf die Logik des Allgemeinen verpflichtet sind. Oder/und, ob sie sich primär für die Abgehängten in einer solchen Gesellschaft der Singularitäten verantwortlich sieht. Überhaupt stellt sich abschließend die Frage, wie sich »die« Religionspädagogik für die Ambivalenzen sensibel hält, die eine jede Zeitdiagnose mit sich führt, von denen ich hier nur eine kleine Auswahl habe skizzieren können – eine Religionspädagogik in einer funktional differenzierten Gesellschaft, in einer Dienstleistungsgesellschaft und in einer Gesellschaft der Singularitäten. Von diesen drei Diagnosen gehen stillschweigende Appelle aus; zum einen, sich nicht von einem auslaufenden ekklesiastischen Reproduktionsmodell instrumentalisieren und aufreiben zu lassen, auch nicht von der Intention, Religion als eine Art Regelwerk zu sehen, »das dem Menschen zeigen soll, wo es langgeht«63; zum anderen die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz, also die »immanente Beobachtung von Unbeobachtbarem«64 aus den christlichen und anderen religiösen Traditionen heraus einzuüben und sich auf den Beistand zur Gestaltung der persönlichen Lebensführung und Identitäten zu konzentrieren. 61 62 63 64

Reckwitz, Andreas, Logik des Besonderen, 20. Vgl. ebd. Mennekes, Friedhelm, Zwischen Freiheit und Bindung, 16. Nassehi, Armin, Organisation des Unorganisierbaren, 204.

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Die Diagnose der Dienstleistungsgesellschaft hält für die Religionspädagogik den Ruf bereit, auf eine wertschätzende Interaktionsqualität im religiösen Vermittlungsgeschehen zu achten und dabei die Sorge der Kinder und Jugendlichen – im Sinne einer »Spiritualität der Frage«65 – ins Zentrum zu rücken – mit Verweis auf Ulrich Oevermann könnte man auch sagen: insbesondere im Hinblick auf ihre Begleitung in einer »nicht stillstellbaren Bewährungsdynamik«66 und Unsicherheit als permanenter Quelle »der potenziellen Krise«.67 Die Diagnose des Singularismus hätte die kreative Seite der Religionspädagogik zu kultivieren und sich dabei sowohl von den religiösen Weisheiten und Artefakten, aber auch von der Kunst inspirieren zu lassen als auch eigenen sinnlichen und spirituellen Erfahrungen Raum zu geben, auch wenn sich die offizielle Kirche damit schwer tut. Die anderen Zeitdiagnosen halten andere »Appelle« für die Religionspädagogik parat, die aber an anderer Stelle Thema sein könnten. Literatur Baecker, Dirk, Welchen Beitrag kann die Kultur zur Bewältigung der Corona-Krise leisten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 71 (2021) H. 13–15, 19–26. Beinert, Wolfgang, Missbrauchte Religion. Die Ukraine als Opfer des religiösen Fundamentalismus, in: Stimmen der Zeit 147 (2022) 343–352. Bierling, Stephan/Groitl, Gerlinde, Die liberale Ordnung und ihre Feinde, in: FAZ vom 25.04.2022, 6. Cline, Eric H., 1177 v. Chr. Der erste Untergang der Zivilisation, Darmstadt 2021. Ebertz, Michael N., Christlich-islamischer Dialog: Chancen und Grenzen aus soziologischer und christlich-theologischer Sicht, in: Antes, Peter/de Wahl, Heinrich (Hg.), Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Verfassungsrechtliche Grundlagen und konfessionelle Perspektiven, Stuttgart 2018, 56–66. –, Christsein und Kirche in der multiplen (Angst-)Gesellschaft: Teil 2: Christsein in einer Multioptionsgesellschaft, in: Heliand-Korrespondenz (2018) H. 2, 5–11. –, Christsein und Kirche in der multiplen (Angst-)Gesellschaft: Teil 3: Christsein in der zivilisierten Gesellschaft. In: Heliand-Korrespondenz (2018) H. 3, 4–10. –, Darf Gott strafen – Soziologische Anmerkungen zu einem Tabu (unveröffentl. Vortrag auf der Online-Tagung der Domberg-Akademie »Corona-Krise: Gottes-Krise? Gott und Glaube in der Pandemie« am 19./20.03.2021. –, Dialog und Dialogprobleme – im Kontext der pluralisierten Gesellschaft, in: Fürst, Gebhard (Hg.), Dialog als Selbstvollzug der Kirche, Freiburg i. Br. 1997, 284–308. –, Die Zivilisierung Gottes. Der Wandel von Jenseitsvorstellungen in Theologie und Verkündigung, Ostfildern 2004. –, Entmachtung. 4 Thesen zu Gegenwart und Zukunft der Kirche, Ostfildern 2021. –, Neu!, in: Hofmeister, Klaus/Bauerochse, Lothar (Hg.), Machtworte des Zeitgeistes, Würzburg 2001, 100–110.

65 Mennekes, Friedhelm, Zwischen Freiheit und Bindung, 68. 66 Oevermann, Ulrich, Strukturelle Religiosität, 341. 67 Oevermann, Ulrich, Modell der Struktur von Religiosität, 63.

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–, Relativismus oder Relationismus? Wissenssoziologische Anmerkungen im Blick auf das kirchliche Feld der Ambiguität, in: Deibl, Marlene/Mairinger, Katharina (Hg.), Eindeutig mehrdeutig. Ambiguitäten im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wissenschaft und Religion, Wien 2022, 55–79. Elias, Norbert, Die Zivilisierung der Eltern, in: Ders., Aufsätze und andere Schriften II, Berlin/ Amsterdam 2016, 7–52. –, Über den Prozess der Zivilisation. Zwei Bände, Frankfurt 31977. –, Was ist Soziologie?, München 51986. Feulner, Hans-Jürgen/Haslwanter, Elias (Hg.), Gottesdienst auf eigene Gefahr? Die Feier der Liturgie in der Zeit von Covid-19, Münster 2020. Hastedt, Heiner (Hg.), Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2019. Heller, Dagmar, Aus der Orthodoxie, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 71 (2020), 109–113. Höffner, Joseph Kardinal, Christliche Gesellschaftslehre, Studienausgabe, Kevelaer 41983. Kaube, Jürgen, Auf dem Jahrmarkt der Zeitdiagnosen, in: FAZ vom 05.01.2013, 2. Luckmann, Thomas, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung, Freiburg i. Br. 1963. –, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991. Luhmann, Niklas, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000. Mennekes, Friedhelm, Zwischen Freiheit und Bindung. Im Gespräch mit Brigitta Lentz über Kirche und Kunst, Köln 2008. Nassehi, Armin, Die Organisation des Unorganisierbaren, in: Karle, Isolde (Hg.), Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig 2009, 199–218. –, Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, München 2021. Oevermann, Ulrich, Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und sozialer Zeit, in: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.), Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt 1995, 27–102. –, Strukturelle Religiosität und ihre Ausprägungen unter Bedingungen der vollständigen Säkularisierung des Bewußtseins, in: Gärtner, Christel/Pollack, Detlef/Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.), Atheismus und religiöse Indifferenz, Opladen 2003, 340–388. Osrecki, Fran, Die Diagnosegesellschaft: Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011. Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017. –, Die Logik des Besonderen dominiert überall. Ein Gespräch mit Claudia Keller, in: Herder Korrespondenz 72 (2018) H. 6, 17–21. –, Kreativität. Wie ein Künstlerideal zum Imperativ wurde, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Stichworte zur Zeit. Ein Glossar, Bielefeld 2020, 145–164. Reese-Schäfer, Walter, Deutungen der Gegenwart. Zur Kritik wissenschaftlicher Zeitdiagnostik, Stuttgart 2019. Schnetzer, Simon, Trendstudie Sommer 2022: Deutschlands Jugend im Dauerkrisen-Modus. Wegen der Kriegsgefahr bröckelt die optimistische Grundstimmung. Ergebnisse der jüngsten Trendstudie »Jugend in Deutschland – Sommer 2022«, in: https://simon-schnetzer.com/ blog/pressemitteilung-zur-trendstudie-sommer-2022/. Sennett, Richard, Die flexible Gesellschaft, in: Pongs, Armin (Hg.), In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, Band 2, München 2000, 265–291. SI – Sozialwissenschaftliches Institut der EKD (Hg.), »Was mein Leben bestimmt? Ich!«. Lebensund Glaubenswelten junger Menschen heute, Hannover 2018. Siller, Peter/Meinefeld, Ole, Was heißt »Zeitdiagnose«. Anmerkungen zu einem nachgefragten Genre, in: Heinrich-Böll-Stiftungen (Hg.), Stichworte zur Zeit. Ein Glossar, Bielefeld 2020, 11–21.

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Stichweh, Rudolf, Simplifikation des Sozialen, in: Volkmer, Michael/Werner, Karin (Hg.), Die Corona Gesellschaft, Bielefeld 2020, 197–206. Vattimo, Gianni, Die transparente Gesellschaft, in: Pongs, Armin (Hg.), In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, Band 2, München 2000, 293–311. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

»… dann hätten uns hinweg die Wasser gespült.« In Krisen sprachfähig bleiben mit der Bibel Georg Steins

1 Krisengedanken »Ich hatte gerade noch Zeit, den Koffer mit den wichtigsten Dokumenten zu nehmen und mich vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen …«, so erzählte in einer Fernsehsendung eine Frau, die in letzter Minute am 14. Juli 2021 kurz vor Mitternacht der Flutwelle im Ahrtal entkommen ist. Die nächtliche Hochwasserkatastrophe, die eine der schönsten Kulturlandschaften Deutschlands in wenigen Stunden hinweggespült hat und in der weit über einhundert Menschen ihr Leben verloren haben, ruft unmittelbar biblische Bilder und Begriffe wach: die Rede ist von sintflutartigen Regenfällen und Zerstörungen apokalyptischen Ausmaßes. Um das völlige Ausgeliefertsein und die totale menschliche Hilflosigkeit eindringlich vor Augen zu führen, wird in der Bibel kein Bild so oft bemüht wie die unbeherrschbaren, alles verschlingenden Wassermassen.1 Nach der überschriftartigen Ankündigung in Gen 1,1, dass jetzt eine Erzählung über die Erschaffung von Himmel und Erde folgt, lenkt der zweite Vers den Blick auf die Vor-Welt und führt in knapper Form die negativen Urgegebenheiten an: die Erde als weglose, grauenerregende Wüste, die totale Finsternis und die uferlosen Wasser der Urflut. Bei allen drei Gegebenheiten handelt es sich nicht um neutrale Beschreibungen natürlicher Zustände, sondern um emotional hoch aufgeladene Bildkomplexe, die den gedanklichen Gegenentwurf zur Errichtung und Einrichtung einer »Lebenswelt« bieten, wie sie in der »Schöpfungswoche« Schritt für Schritt entfaltet wird.2

1

Das Zitat im Titel aus Psalm 124,4, in der Übersetzung von Buber, Martin, Das Buch der Preisungen, 186. 2 Vgl. Seebass, Horst, Genesis I, 66: »Während das absolute Nichts alttestamentlich nicht recht vorstellbar wird, vermitteln die Hinweise auf eine grausige Öde erst den rechten Eindruck von dem, was Schöpfung bedeutet: Wohlgestalt, Wohlordnung, Rhythmus, Leben. Der Kontrast heißt nicht: nichts – etwas, sondern gräßlich – herrlich.«

»… dann hätten uns hinweg die Wasser gespült.«

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Damit wird bereits den Eingangsversen der Bibel das Katastrophenbewusstsein eingeschrieben: Ein Leben in geordneten Räumen und Zeiten ist offenkundig alles andere als selbstverständlich, das Leben steht immer unter der Bedrohung durch Todesmächte. Der nach der Vorstellung von Gen 1 von einer festen »Schale« (lateinisch firmamentum) überwölbte Raum des geordneten Lebens ist oben wie unten umflutet vom Chaoswasser; auch die Finsternis ist nicht abgeschafft, sondern eingefügt in ein Wechselspiel mit dem Licht; der »wüste Nicht-Ort« (hebräisch tohuwabohu) ist zu einem »wohnlichen Ort« geworden (vgl. Jes 45,18; Jer 4,23), die Nähe der weiter bestehenden Wüste lässt diesen Kontrast umso stärker erleben. Die Bibel will die Welt begreifen, indem sie die für das Leben wesentlichen Vorgänge auf ihre Grundbewegungen hin »durchschaut«: Allem zugrunde liegt der Machtkampf von Tod und Leben. Diese Weltsicht ist daher »dynamisch« zu nennen; sie ist an den Kräften – biblisch ausgedrückt: den »Mächten und Gewalten« (1 Kor 15; Kol 1 f. u.ö.) – interessiert, die das Leben bestimmen. Es wäre unbedacht und voreilig, diese unbezweifelbar mythische Weltsicht als aus heutiger Sicht überholt abzutun. »Mythisch« ist sie schon allein deshalb, weil sie von göttlichen Kräften so direkt und anschaulich wie von Menschen und deren Verhalten spricht. Mit dieser Aussage über die Denk- und Sprachform ist jedoch kein Urteil über die Bedeutung oder den Wahrheitsanspruch verbunden. Dass diese Weltbeschreibung naturwissenschaftlich nichts austrägt, wird sich nicht bestreiten lassen; es sollte aber nachdenklich stimmen, dass der biblische Zugriff auf die Welt sich offenkundig sehr nah auch an unseren gegenwärtigen Erfahrungen bewegt und uns – wie oben angedeutet – Bilder und Wörter zuspielt, die uns in existenziellen Krisen sprachfähig machen oder sprachfähig halten. Das Bewusstsein der Bedrohtheit des Lebens, ein Krisen- und Katastrophengespür, durchzieht die zwei-eine Bibel des Alten und Neuen Testaments von ihrer ersten bis zur letzten Seite: Im Licht von Gen 1,2 wirken die zwei wie eingesprengt wirkenden und leicht zu übersehenden kleinen Sätze in den letzten Kapiteln des Neuen Testaments – »auch das Meer ist nicht mehr« und »Nacht wird es nicht mehr geben« (Offb 21,1.25; 22,5) – wie ein letzter Seufzer der Erleichterung, denn »Meer« und »Nacht« sind, wie gezeigt, in der Bibel eindrückliche und oft herangezogene Bilder für die Gegenkräfte des Lebens, Assoziationsräume des machtvollen Todes. Das biblische Finale in der Offenbarung des Johannes holt ein, was schon am Anfang angeklungen war, aber dann bald überlagert wurde: Denn am Anfang der Bibel steht nicht das barocke Katastrophengemälde, sondern die Botschaft ihrer »Beherrschung«. Von den bedrohlichen Mächten ist nur kurz die Rede,

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ihnen wird weder in der Erzählung noch in der Welt der Schöpfung breiter Raum zugestanden. Das ist doch die Pointe von Gen 1: Sechs Mal erklingt der Refrain »dass es gut war (ergänze: und ist)«, beim siebten Mal noch gesteigert zum finalen Gongschlag: »alles sehr gut«! So erhält die ab Gen 2,4 folgende ausladende Erzählung mit all ihren Ab-, Um- und Aufbrüchen ihr großes positives Vorzeichen. In diesem Spannungsfeld zwischen Tod und Leben, in dem von Beginn an der Nachdruck auf der Beherrschung der Todesmächte liegt, entwickelt die Bibel ihre realistische Wahrnehmung der zerstörerischen und der lebensförderlichen Kräfte, die das soziale und individuelle Leben bestimmen. Sie zeigt sich dabei ebenso sünden- wie leidempfindlich3: Da ist zum einen die vom Menschen ausgehende »Gewalt«, die nicht nur hier und da das geordnete Leben stört, sondern die Tendenz hat »pandemisch« zu werden, alles zu erfassen und die Ordnungen des Lebens zu zerstören (vgl. Gen 6,11–13). Destruktive Gewalt ist Ausdruck der missbrauchten Freiheit, der Sünde, die in der Brudermorderzählung Gen 4, der »Ur-Geschichte« der Sünde, dem Menschen als Schuld zugerechnet wird. In der anspruchsvollen literarischen Anlage der Bibel wird diese Gewalt- und Schuld-Geschichte des Menschen, die beide Testamente durchzieht, jedoch nicht einfachhin als Geschichte über die Schwäche und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen erzählt. Die Bibel integriert die Sündengeschichte des Menschen in eine theologisch anspruchsvolle Konzeption und gibt ihr damit eine besondere Deutung. Die Erzählung geht sachlich (nicht zeitlich, weil diese Ebene hier keine Rolle spielt) weit zurück hinter den Punkt, an dem menschliche Freiheit sich zum ersten Mal mit ihrer tödlichen Möglichkeit präsentiert. In der sogenannten »Paradies- und Sündenfallerzählung« Gen 2 und 3 wird die Gottesnähe des Menschen betont, aber auch die Ambivalenz narrativ umkreist, die mit der Selbständigkeit des Menschen von Anfang an gegeben ist. Gen 2 und 3 sind wie die zwei Teile eines einzigen Gemäldes und müssen immer als Einheit in den Blick genommen und zusammen »gelesen« werden. Was sie zusammenhält, ist der Erwerb der Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden. Diese Kompetenz ist nichts Schlechtes4, sondern die Grundlage bewussten menschlichen 3 Anders als in der Geschichte des Christentums ist der biblische Akzent nicht einseitig beim Sünden- und Schuldbewusstsein gesetzt (s. u.). Zu den fatalen theologischen, pastoralen und politisch-gesellschaftlichen Folgen dieser Einseitigkeit vgl. die Kritik bei Metz, Johann Baptist, Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt, 311–322. 4 Das kann gegen eine wie betoniert wirkende Deutung, die darin undifferenziert Hybris und Abwendung von Gott sieht, nicht deutlich genug betont werden; »Autonomie« ist die Auszeichnung des Menschen, der Begriff umfasst wesentlich die Gabe der Unterscheidung, vgl. 1 Kön 3,9.

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Lebens. Kinder müssen diese Unterscheidungsfähigkeit erst erwerben; ihren Verlust zum Beispiel bei Hochbetagten werten wir als Zeichen von Schwäche oder Krankheit. Sobald der Mensch »erwacht« und erwachsen geworden ist, kann er diese Gabe der Unterscheidung so einsetzen, dass er das gottgewollte Gute befördert oder zerstört. In Gen 2 und 3 geht die Erzählung bis an die Grenze des Erzählbaren, indem sie eine paradoxe Konstellation ausmalt: Gottes Weisung, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2,17), richtet sich an den Menschen, der diese Fähigkeit noch gar nicht besitzt und daher das Gebot nicht verstehen kann. Er kann nur wie ein unmündiges Kind unter Androhung von Strafe parieren. Die Paradoxie wird fortgeführt, wenn nach der Übertretung des Gebotes einerseits festgehalten wird, dass der Mensch nun diese Fähigkeit erworben hat (Gen 3,22) – und genau darin Gott gleich geworden ist5 –, der Mensch aber andererseits massive Beeinträchtigungen seines Daseins erfährt (Schmerzen, Mühsal, Entfremdung zwischen den Geschlechtern, das Erleben des Todes als Verhängnis); er muss – erwachsen geworden – »jenseits von Eden«, dem Hort des göttlichen Umsorgtseins, existieren. Diese Erzählung vom Erwerb der Urteilsfähigkeit und damit der Ermöglichung von Freiheit ist Teil einer Schöpfungserzählung – und sie lenkt damit auch die Aufmerksamkeit auf den Schöpfer. Das ist ein wichtiger, nicht selten übersehener Teil der Botschaft: Die destruktiven Seiten der menschlichen Freiheit werden nicht nur als Ausdruck menschlicher Gebots- und Grenzüberschreitung, sondern zugleich als Merkmale der göttlichen Schöpfung eingeführt. Die Erzählung an dieser Stelle in Begriffe und Thesen überführen zu wollen, ist unmöglich und wäre geradezu fatal; denn das Schillernde, Unbestimmte, das regelrecht »Unfassbare« gehört hier zum Kern der Sache: Die Freiheit des Menschen in der Beziehung von Gott und Mensch wird narrativ von innen her beleuchtet, aber niemals restlos ausgeleuchtet; dies wäre gar nicht möglich. Die Freiheitsgeschichte des Menschen ist in der Sicht der Bibel folglich von Anfang nicht allein oder vorrangig als Sündengeschichte zu lesen. Es bleibt »im Anfang« ein Moment der Fraglichkeit, der Undurchschaubarkeit, die Gott nicht aus der Verantwortung für die leidvollen Möglichkeiten der menschlichen Freiheit in seiner Schöpfung entlässt.6

5 Die Beschränkung auf diesen Aspekt ist bedeutsam; die Differenz zwischen Gott und Mensch wird selbstverständlich nicht aufgehoben. 6 Mir scheint, dass die Bibel weise genug ist, eine Theodizee zu Lasten des Menschen ebenso zu vermeiden wie eine Anthropodizee zu Lasten Gottes. Die Frage wird nicht theoretisch geklärt, sondern als Jahrtausenddrama erzählt, dessen Vielgestaltigkeit und Vielstimmigkeit allein der

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In jedem Klageschrei der biblischen Beterinnen und Beter wird dieser Anfang der Schöpfung erinnert – und darin die Hoffnung laut, dass der Schöpfer noch nicht fertig ist »mit dem Werk seiner Hände« (vgl. Ps 8). Klagen ist biblisch weit entfernt von Larmoyanz, Undankbarkeit oder sogar Unglauben, im Gegenteil: Wer klagt, nimmt ein Recht wahr und erkennt mit scharfem Blick und ohne Beschönigung an, was ist. Und zugleich hält der klagende Mensch fest an Gott, dem Schöpfer, dessen Welt sich mit all ihren Abgründen zeigt, die der Schöpfer vernünftigerweise nicht wollen kann. Die Klage erklärt nicht den leidvollen Zustand der Welt, sie verweigert im Gegenteil eine beruhigende Antwort – weil nur Gott diese Antwort geben kann. Wer klagt, stellt immer nur eine Frage, die Frage nach dem Sinn: »Wozu, Gott?«. Gott ist die Antwort auf diese eine Frage schuldig, nur er kann sie geben, nicht der Mensch, auch nicht die Theologie. Wer auf den Gedanken käme, die Bibel ins Flut- und Fluchtgepäck zu packen, hätte sich für ein Buch mit einem erheblichen Verstörungspotenzial entschieden.

2 JHWH – ein Krisenname Der Gottesname JHWH wird in der Bibel ab Gen 2 verwendet; bemerkenswert ist aber der Kontext, in dem dieser Name das erste Mal expliziert wird. Das geschieht noch nicht im Buch Gen, sondern in der bekannten Dornbuschszene in Ex 3. Mose fragt nicht nur in einem vordergründigen Sinn nach dem Namen, der ihm aus der langen Vor-Geschichte des Volkes mit diesem Gott (wenn man nur der biblischen Erzählung folgt) bekannt sein muss. Die kurze Frage in Ex 3,13 (»Was – sein Name?«) meint: »Was ist’s um seinen Namen?«; denn genau darum kreist der Text in Ex 3,1–15. Der überlieferte Gottesname JHWH wird wie ein konjugiertes hebräisches Verb (in der dritten Person Singular) gelesen und verstanden als »er wird da sein«. In der Gottesrede an Mose aus dem Dornbusch spricht Gott von sich selbst in der ersten Person; der Name wird dann entsprechend transformiert zu »ich werde da sein«. Auffällig ist die Häufung dieser wortspielerischen Umsetzung des Gottesnamens in Ex 3,14: In diesem einen Vers findet sich der Ausdruck »ich werde da sein« allein drei Mal. Das hat seit der Antike immer wieder die Aufmerksamkeit der jüdischen Ausleger:innen auf sich gezogen.

Wucht des Themas angemessen erscheint. Umso wichtiger ist es, das von Gott gesetzte positive Vorzeichen, das über jedem Dunkel leuchtet, zu bedenken.

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Nach dem Grundsatz, dass Wortwiederholungen nicht nur der Verstärkung dienen, sondern einen Mehrwert an Bedeutung in den Text einbringen, wird nach dem Sinn dieser Wiederholungen gefragt und der Text regelrecht »ausgeforscht«. Man könnte dies als exegetische Routine verbuchen; in Ex 3 eröffnet der jüdische Midrasch (= Befragung und Erklärung) jedoch auf diese Weise die grundlegende Bedeutung des Gottesnamens:7 »[Gott spricht:] ICH WERDE SEIN bei ihnen in dieser Not – DER ICH SEIN WERDE [Ex 3,14a] bei ihnen in der Unterdrückung, die sie durch andere Königreiche erleiden werden. Woraufhin Mose zu ihm sagte: Herr der Welt! Warum soll ich zu ihnen [den Israeliten] von künftigen Nöten sprechen; diese Not [in Ägypten] macht ihnen schon genug zu schaffen. Gott antwortete ihm: Du hast gut gesprochen. SO SOLLST DU SPRECHEN [Ex 3,14b] usw. ICH WERDE SEIN – ohne den Zusatz DER ICH SEIN WERDE, der sich auf die zukünftigen Nöte bezieht – HAT MICH ZU EUCH GESANDT.«8 So legt der einflussreichste Pentateuchkommentator, Rabbi Schelomo Jizchaqi, kurz Raschi genannt9, Ex 3,14 aus. Er wendet die in der jüdischen Exegese beliebte Technik des »gap filling« an: Zwischen die Worte des originalen Bibeltextes werden auslegende Texte eingeschoben. So wird an dieser Stelle aus der göttlichen Antwort an Mose eine Fortsetzung des Dialogs mit Mose. Halbsatz für Halbsatz wird der Bibeltext aufgenommen und in einem Dialog durch Auffüllungen erklärt. Die erklärungsbedürftige Häufung der Umschreibung des Gottesnamens durch »Ich werde sein« an dieser Stelle wird aufgelöst, indem zwischen der internen Kommunikation mit Mose und der externen mit den Israeliten unterschieden wird. Mose erfährt, dass die umständlich wirkende und geheimnisvoll bleibende Umschreibung des Gottesnamens in Ex 3,14a nur für ihn bestimmt ist. Den Israeliten gilt die klare Botschaft von Ex 3,14b: Gott steht auf ihrer Seite und will sie aus ihrer Not in Ägypten herausbringen. Eine etwas jüngere Auslegung identifiziert die Notlagen ausdrücklich mit den drei großen Katastrophen Israels im 1. Jahrtausend v. Chr.: Der Zohar Chadash deutet die dreimalige Erwähnung der Phrase »ich werde sein« als »Anspielungen auf die drei Exile (Nöte), in denen die Schechina das jüdische Volk begleitet hat: 7 In Großbuchstaben ist der Bibeltext wiedergegeben, die Teile in Normaldruck geben die »Auffüllung« durch den Midrasch wieder. 8 Übersetzt aus: Chumash with Targum Onkelos, Haphtaroth and Raschi’s Commentary. Shemoth, 12. 9 Raschi lebte von 1040 bis 1105 und wirkte in der Nähe von Reims und in Worms.

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die Unterdrückung in Ägypten, das Babylonische Exil und die Bedrohung durch die Griechen [gemeint sind die Seleukiden im 2. Jh. v. Chr., G.St.]. Die vierte Not, die Unterdrückung durch Edom [d. i. ein Deckname für Rom, G.St.] offenbarte Gott ihnen nicht, aber Er sagte (Jes 60,22): Ich bin der Herr; zu gegebener Zeit eile ich zu Hilfe. Wenn sie die Erlösung brauchen, führe ich sie eilends aus. Wenn sie ihrer nicht bedürfen, wird es sich zur rechten Zeit ergeben.«10 »Schechina« ist in der rabbinischen Literatur einer der Ersatznamen für das ehrfurchtsvoll nicht ausgesprochene Tetragramm JHWH. Er bezeichnet das »(Ein-)Wohnen«, die Gegenwart Gottes inmitten seines Volkes, die Hilfe bringt und Sicherheit und Ruhe schenkt. Im Gottesnamen ist nach biblischem und jüdischem Verständnis all das präsent: das Wissen um die ständige Bedrohung und die Erfahrung göttlicher Rettung aus den »Exilen«. Im Namen sagt Gott sein leidenschaftliches Engagement für sein geknechtetes Volk und seine verlässliche Nähe zu: »ich eile zu helfen – wann immer ihr es nötig habt.« Der Gottesname JHWH ist die Abkürzung für die Hoffnung Israels auf den rettenden Gott in jeder Krise. Wer den Namen Gottes kennt, kann gezielt klagen: kann sich be-klagen, kann Gott an-klagen, und kann die Feinde des gottgeschenkten Lebens ver-klagen und dabei die Erfahrungen von gelungenen Rettungen wachhalten, die im Dank und im Lob erzählt werden. Die bibelnahe rabbinische »Erkundung und Erhellung« des Gottesnamens geht einen anderen Weg als der Mainstream der christlichen Theologie, der inspiriert von der Philosophie begrifflich zu fassen sucht, was »Gott« bedeutet. Der Name Gottes ist in der rabbinischen Tradition kein Begriff, sondern die äußerste Verdichtung unzähliger Geschichten gläubiger Frauen und Männer. Die Dornbuscherzählung Ex 3 lässt uns erkennen, wie diese Verdichtung geschieht und was sie bedeutet: In der Spur von Ex 3 hält der Gottesname fest, dass Israels Gott sein Krisenbegleiter war, ist und sein wird. Diese Ausprägung des Gottesverständnisses kann als »geschichtlich« bezeichnet werden. Mit »geschichtlich« ist jedoch hier kein abstrakter Bezug auf »die Vergangenheit« gemeint. »Geschichtlich« ist ganz wörtlich zu verstehen, es heißt »bezogen auf Lebensgeschichten«, deren Besonderheit nicht darin besteht, dass sie »damals passiert« sind, sondern dass sie »vergegenwärtigt« werden können. An ihnen zeigt sich ein Muster, eine Möglichkeit der Krisenbewältigung. Auf diesen »paradigmatischen«

10 Übersetzt aus: Miqraoth Gedoloth/Shemot Vol. 1, 38 f.; die Texte sind schwer zu datieren; beim Zohar Chadash handelt es sich um Auslegungen, die in das im 14. Jh. redigierte Werk Zohar noch nicht aufgenommen wurden.

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oder »anamnetischen« Gebrauch des Gottesnamens komme ich im letzten Teil noch einmal zurück.

3 Sprechen in der Krise Der Dornbuscherzählung Ex 3 geht in der Art eines Teasers ein kurzer Abschnitt voraus, der von der Klage der Israeliten erzählt, durch die Gott zur Wahrnehmung ihrer Situation bewegt wird (Ex 2,23–25): »In jenen vielen Tagen geschah: Der König von Ägypten starb. Die Söhne Jissraels aber seufzten aus dem Dienst, sie schrien auf, ihr Hilferuf stieg zu Gott empor aus dem Dienst. Gott aber hörte ihr Gestöhn, Gott aber gedachte seines Bunds mit Abraham, Jizchak und mit Jaakob, Gott aber sah die Söhne Jissraels, Gott erkannte.«11 In drei Sätzen wird die Artikulation der Not durch die Israeliten ausgedrückt: In der Mitte steht der hebräische Ein-Wort-Satz »sie schrien um Hilfe«, der die bedrückende Situation in äußerster Kürze benennt. Martin Buber übersetzt noch anschaulicher: »sie schrien auf«. Gottes Reaktion auf die dreifach benannte Not der Israeliten ist vierfach ausgedrückt: Zwei Aussagen über die sinnliche Wahrnehmung (»hören« und »sehen«) sind verschränkt mit zwei mentalen Akten (»gedenken« und »erkennen« oder »verstehen«/»die Lage begreifen«). Gottes Tun geht also gewissermaßen über die Not der Israeliten hinaus, wie der vierte ebenfalls denkbar knappe Satz besagt: »Gott begreift«12, er erkennt die Notsituation und versteht, welche Rolle er nun zu übernehmen hat. »Sie schrien auf, Gott begreift«: Die Rettung nimmt bereits ihren Anfang mit der Klage der Kinder Israels. Die Klage ist Gebet, das sich der Wirklichkeit stellt und sie vor Gott hinstellt. Die Klage bringt den Gott der Verheißung gegen 11 Buber, Martin/Rosenzweig, Franz, Die Bücher der Weisung, 156 z.St.; ich wähle diese Übersetzung, weil ihr Zeilenumbruch die vierfache, d. h. umfassende Wahrnehmung der Situation durch Gott optisch besonders eindringlich darstellt. 12 Wenn wie in der Einheitsübersetzung von 2016 dieser Satz mit »Gott hatte es wahrgenommen« übersetzt wird, wird dieser Satz nivelliert, denn dass Gott wahrgenommen hat, wird bereits zuvor mehrfach konstatiert (Gott hatte gehört und gesehen).

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die unhaltbaren Zustände in Stellung; unhaltbar sind sie, wenn und solange sie der Verheißung Gottes nicht entsprechen. So konfrontiert die Klage Gott mit seinen Versprechen, richtet das Gedächtnis der göttlichen Verheißungen »im Exil« der Welt auf. Beispiele klagenden Betens finden sich in der Bibel (auch im Neuen Testament) zur Genüge. Um das klagende Sprechen zu verstehen, wähle ich einen Zugang von außen, der jedoch biblisch inspiriert ist. Mit ihrem Gedicht Salva nos ermöglicht Hilde Domin (1909–2006) einen Röntgenblick in das Innere des klagenden Betens.13 Salva nos 1 Heute rufen wir heute nennen wir. Eine Stimme die ein Wort sagt das Widerfahrene mit etwas Luft die in uns aufsteigt mit nichts als unserm Atem Vokale und Konsonanten zu einem Worte fügend einem Namen es zähmt das Unzähmbare es zwingt einen Herzschlag lang unser Ding zu sein. 2 Dies ist unsere Freiheit die richtigen Namen nennend furchtlos mit der kleinen Stimme einander rufend mit der kleinen Stimme das Verschlingende beim Namen nennen mit nichts als unserm Atem 13 Domin, Hilde, Sämtliche Gedichte, 117 f.

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salva nos ex ore leonis den Rachen offen halten in dem zu wohnen nicht unsere Wahl ist. Der lateinische Titel des Gedichts und die Wiederaufnahme und Fortführung der von Domin nicht übersetzten lateinischen Phrase im letzten Gedichtabschnitt rahmen den Text und stellen einen biblischen und liturgischen Bezug her. Die lateinischen Zitate lehnen sich an den 22. Psalm an: Es ist der Hilferuf eines von Gott Verlassenen um Rettung aus Todesnot, der auch im Offertorium des katholischen Requiems zitiert wird: »Rette mich aus dem Maul des Löwen« (Ps 22,2214). Mit der Übertragung in den Plural (»rette uns«) verlässt Domin den intimen Raum des privaten Betens und deutet die Allgemeingültigkeit ihrer Ausführungen an. Hilde Domins Gedicht lässt sich lesen als Reflexion über die Befähigung zum klagenden Sprechen (und Beten) und über die Kraft der Klage. Bis in das physiologische Substrat hinein wird der Vollzug der Klage durchschaut und in Einzelaspekte zerlegt, um von dort aus mit fast naturwissenschaftlicher Strenge die Leistung der Klage zu demonstrieren. Drei Isotopieebenen, drei Bedeutungsstränge, sind im Gedicht eng miteinander verflochten: Auf der Ebene der Physiologie geht es um den Einsatz der Stimme. Die Stimme ist »klein«, nur »etwas Luft«, »nichts als Atem«; diese Stimme kann »Vokale und Konsonanten« zusammenfügen. Behutsam andeutend wird an einer Stelle die schwache physiologische Seite auch als soziales Phänomen entschlüsselt: So klein und leicht die Stimme sich erfahren mag, sie ist nicht allein, weil sie Stimme ist, die auf sich aufmerksam machen und von anderen wahrgenommen werden kann. Die Stimmen können sogar »einander rufen«. Die akustische Kontaktnahme steht am Beginn von Gemeinschaft. So baut sich das durchgängige »wir« auf, das dem Bedrohlichen entgegensteht. Eine zweite Isotopieebene ist mit der physiologischen Seite der Artikulation untrennbar verbunden, aber sachlich von ihr zu unterscheiden: die Ebene der Semantik, der Bedeutung des Artikulierten. Das »Rufen« ist nicht nur vernehmbare Lautung, es ist ein verstehbares »Nennen«. Aus Vokalen und Konsonanten wird »ein Wort« geformt, um etwas zu »sagen«. Diese Ebene läuft auf das alles zusammenhaltende Stichwort zu: »einen Namen«, das Bedrohliche »beim Namen nennend« und insofern »die richtigen Namen nennen«. Drei Mal wird der Terminus »Name« gebraucht, so oft wie die »Stimme« als Produktions14 Bzw. Ps 21,22 in der Zählung der Vulgata.

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organ für den Namen. Wird das richtige Wort, der treffende Name gesagt, ist das ein Welt verändernder Eingriff. Als Name ist das Wort machtvoll, weltverändernd, schöpferisch. Damit kommt die dritte Isotopieebene in den Blick; es ist die Ebene der Macht. Hier stellen sich »das Widerfahrene«, »das Unzähmbare« oder »das Verschlingende« auf, die wie in Zoomtechnik mit zunehmender Konkretion des Gefährdungspotenzials den Blick schließlich auf den »Rachen« des Löwen15 hinlenken. Auf dieser Ebene wird aber auch die in jeder Namensgebung erfahrene Ermächtigung der Namen Gebenden angesprochen. Darin liegt – »Freiheit«. Es ist eine kleine Zeitspanne, lediglich von der Länge eines Herzschlags, aber das Momentum ist entscheidend, nicht die Dauer. Die Freiheitserfahrung wird doppelt ausgelegt, als »Freiheit von …« und als »Freiheit zu …«. Die »Freiheit von …« ist die Erfahrung der »Furchtlosigkeit«. Die »Freiheit zu …« liegt in der Macht, das »Unzähmbare« wenigstens für circa eine Sekunde – gerade so lange wie ein »Herzschlag« dauert – zu zähmen und damit »den Rachen offen zu halten«. Niemand wird aus freien Stücken seine Wohnung im Rachen des Löwen wählen, doch selbst in extremis ist der Mensch nicht machtlos, solange er Stimme und Namen hat. Das Gedicht spielt die Situation des Gebets verhalten ein, indirekt durch einen Wechsel ins Lateinische als traditioneller Liturgiesprache der römischkatholischen Kirche, aber gerade so auch unübersehbar und unüberhörbar in Überschrift und kursiv gesetztem Zitat gegen Ende des Textes. Schon im Imperativ »rette uns« deutet sich die Form des Gebetes an, es geht konform mit der siebten Bitte im Vaterunser: »… und erlöse uns von dem Bösen«. In der kleinen Stimme, im Benennen des Verschlingenden, nicht zuletzt angestoßen und befähigt durch die Worte der Psalmen und der Liturgie, scheint eine nicht unbedeutende Macht auf, die die Zukunft offenhalten kann, ein weltveränderndes Können, das als Geschenk in Freiheit ergriffen werden kann und das Befreiung schafft.

4 Sprache in der Krise Welche Sprache ist der Krise angemessen? Hilde Domin entwickelt ihre »Theorie der Krisensprache« nicht zuletzt mittels einer Anleihe bei einem biblischen Psalm. Der Psalter kann geradezu als eine Sprachschule für Krisenzeiten 15 So die von der Lutherbibel geprägte deutsche Übersetzungstradition. »os leonis« geht direkt auf den hebräischen Urtext zurück und ist das »Löwenmaul«.

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bezeichnet werden, und zwar in allen seinen Teilen. Nicht nur die große Zahl der individuellen und der kollektiven Klagelieder liefert reiches Anschauungsmaterial, auch die Vielzahl der Danklieder und Hymnen eignet sich als »Fibel« für das Erlernen der Krisensprache, denn jeder Psalm reflektiert auf seine Weise das Drama der Befreiung: Im Klagepsalm geschieht dies aus der Not heraus, im Lobdank16 aus dem Rückblick auf die glückliche Überwindung der Gefahr. Auch das Lob ist biblisch auf die Erfahrung der Krise bezogen, ist ein Modus der Krisensprache. Psalm 12417 bietet sich als Textbeispiel an; in ihm meint man noch den Seufzer der Erleichterung nach gerade überstandener Gefahr zu vernehmen. Der Beter setzt mehrfach an, er wiederholt sich wie einer, der eben erst eine erschütternde Erfahrung überstanden hat und nun nach Worten sucht. Psalm 124 1 Ein Lied der Hinaufzüge; bezüglich David 2 3 4 5

Wenn nicht JHWH gewesen wäre für uns – spreche doch Israel –, wenn nicht JHWH gewesen wäre für uns, als sich erhoben über uns Menschen, dann hätten sie lebendig verschlungen uns, als aufflammte ihr Zorn gegen uns. Dann hätten die Wasser überflutet uns, ein Sturzbach wäre gegangen über unser Leben; dann wäre(!) gegangen über unser Leben die aufbrausenden Wasser.18

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Gesegnet sei JHWH, der nicht gab uns als Beute für ihre Zähne. Unser Leben entkam wie ein Vogel aus dem Klappnetz der Vogelfänger.

16 Danken und Loben sind oft gar nicht zu trennen, auch im hebräischen Vokabular können sich beide Akte überschneiden. 17 Nachstehend in einer eigenen Arbeitsübersetzung. 18 Möglicherweise sind die Verse 4 u. 5 später hinzugefügt; die »aufbrausenden Wasser« könnten auf Babel anspielen (vgl. den Decknamen für Babel in Jer 50,31 f., der von der gleichen Wurzel abgeleitet ist: »aufbrausen, hochfahren«). Mit seinen Wiederholungen und sprachlichen Neuprägungen zeigt sich dieser Abschnitt eng verwandt mit Ps 123,3 f. (vgl. Ps 123,4 »die Hochfahrenden« und 124,5 »die Aufbrausenden«); dazu und zur erwägenswerten Datierung des Psalms in den Krisen des 2. Jh. v. Chr. s. Delitzsch, Franz, Die Psalmen, 789–793.

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Das Klappnetz zerriss, und wir, wir entkamen.

8 Unsere Hilfe ist im Namen JHWH(s), des Machenden von Himmel und Erde. Der Psalm feiert Gott als Retter, aber so, dass in jeder Zeile die tödliche Gefährdung des Lebens und die menschliche Hilfsbedürftigkeit ausdrücklich miterwähnt werden. Anders als in Texten, die dankend auf die überwundene Notlage zurückschauen, setzt der Psalm im ersten Teil (V. 1–5) mit einem »Gedankenspiel« ein: Das irreale Konditionalgefüge der Vergangenheit ist ein starkes sprachliches Mittel, um die Lage der Sprecher zwischen JHWH und den feindlich gesinnten Menschen zu fokussieren. Die prekäre Situation der Sprechergruppe wird geradezu formelhaft verdichtet in der Stilfigur »für uns – über uns – gegen uns«. Ein irreales Konditionalgefüge besitzt trotz des hypothetischen Charakters eine starke semantische und pragmatische Eigenschaft: Es behauptet in kunstvoller Verschlüsselung einen festen Zusammenhang: In Psalm 124 ist das die Abhängigkeit der Rettung allein von JHWH. Im knappen dritten Teil des Psalms (V. 8) wird diese Einsicht effektvoll als Schlussstatement nochmals festgehalten: »Unsere Hilfe (ist) im Name JHWH(s)«, eine Quintessenz, die die Erfahrung verallgemeinert und zeitlos gültig sein will. V. 8a kann daher als Ausdruck der impliziten Wahrheitsbedingung des Konditionalgefüges aus dem ersten Psalmteil verstanden werden: der Gottesname »JHWH« steht als Kurzformel für Gottes Solidarität mit seinem Volk, gegen die Bedrohung durch »Menschen«. Der Mittelteil in den V. 6 und V. 7 wählt mit dem Segensspruch (hebräisch beracha), wie er bis heute für das jüdische Gebet typisch ist, nochmals eine andere Sprachform. Dieser Segensspruch mit seiner angehängten komprimierten Rettungserzählung ist eine Antwort auf die erfahrene Hilfe. Er ist zugleich Dank, Lobpreis und Bekräftigung der Verbindung zwischen JHWH und der Sprechergruppe. Der Psalm beschreibt weder die Bedrohung noch die Rettung direkt, sondern verwendet Bilder, die lebhafte Vorstellungen wachrufen können und sich auf viele Erfahrungen beziehen lassen: Das drastische Bild des Verschlingens bei lebendigem Leib aus V. 3 wird in V. 6 fortgesetzt; zum Wortfeld der »Beute für ihre Zähne« aus V. 6 fügt sich das Bild der Vogeljagd mit einer Klappnetzfalle aus V. 7. Die Rettung wird positiv nur an dieser Stelle ausgedrückt, und zwar im Bild des zerrissenen Fangnetzes, das überraschend-wunderhaft passiert. Eine andere Bildwelt schiebt sich in den V. 4 und 5 dazwischen und steigert das Bedrohungsszenario ins Unermessliche: Wasserfluten, Sturzbäche und auf-

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schäumende Wasser evozieren die wichtigste Chaostopik der Bibel, die Urflut – das Gegenbild der von JHWH als Lebensraum »Himmel und Erde« gestalteten Schöpfung schlechthin. Davon ist in Ps 124,8 die Rede.19 Die häufig zum Beispiel vor Beginn eines Gottesdienstes zitierte Wendung verliert in Zusammenhang des Psalms ihre formelhafte Harmlosigkeit. Sie wird zum Statement gegen alles »Verschlingende«20, erinnert nicht eine vormals geschehene Schöpfung, sondern präsentiert Israels Gott als den Inbegriff des ewig-verlässlichen Widerstands und Retters: V. 8b ist partizipial und damit zeitlos formuliert (»der Machende«), was in der gewohnten Widergabe (»der Himmel und Erde geschaffen hat«) verdeckt wird. In den folgenden Thesen werden die Beobachtungen zur Gestalt der Krisensprache in Ps 124 verallgemeinert; dabei ist implizit die gesamte Bibel im Blick. Ȥ Was für biblische Sprache überhaupt gilt, trifft auch auf die Krisensprache zu: Sie ist anschaulich, konkret und alltagsnah; dadurch zeigt sie sich bedürfnisorientiert und lebensbedeutsam; sie ist anschlussfähig für existenzielle Erfahrungen in den Tiefen und Höhen des Alltags. Ȥ Die biblische Sprache ist stark bildhaft; dadurch spricht sie an, weckt Assoziationen und ruft eigene Erfahrungen wach. Ȥ Biblische Krisensprache ist leibbezogen und damit auch beziehungsorientiert: Es geht um die Überwindung von Isolierung und den Aufbau von Kommunikation. Ȥ Die verwendeten Ausdrücke sind weit und offen und damit zugleich »elastisch« und für den Ausdruck je unterschiedlicher individueller Erfahrungen geeignet. Daher wirkt die Sprache oft »formularhaft«; sie kann leicht auf neue Ereignisse in neuen Kontexten übertragen werden. Auf diese Weise führt die biblische Bildsprache die Zeiten zusammen: der Blick geht über von der Vergangenheit ins je neue »Heute«. Die Erfahrungen von Menschen aus unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen werden als eine »Gegenwart« wahrgenommen, die das von Gott her stets Gültige und Verlässliche anschaulich macht. »Anamnese« als Eingedenken der Rettungstaten Gottes ist nicht nur ein mentaler Akt, sondern sie hängt in gewisser Weise bereits an der offenen Bildsprache der Bibel, die nicht auf die einmalige Verwendung zielt; diese Sprache ist aktualisierbar, gegenwartsoffen. Ȥ Die Sprache der Bibel neigt zu Typisierungen. Mit ihrer Schwarz-Weiß-Technik ist sie anfällig für Vereinfachungen. Das darf im Umgang mit biblischen 19 Daher könnte der Schöpfungsbezug V. 8 mit der Erweiterung des Bildfeldes in V. 4 f. zusammenhängen. 20 Vgl. Ps 124,3 und das Gedicht von Hilde Domin, Gesammelte Werke, 117 f.

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Texten niemals verharmlost oder vergessen werden. Zugleich ist allerdings die Tendenz zur Elementarisierung auch eine »starke Seite« der Bibel, denn darin liegt die Chance zur Sortierung und Strukturierung der Wahrnehmungsvielfalt und zur Orientierung des Handelns auf ein klares Ziel hin. Ȥ Die mythische Prägung biblischer Sprache erleichtert die Versprachlichung von Ängsten und Sehnsüchten: Die untergründigen Kräfte und Mächte, die das Leben bestimmen, lassen sich benennen und auf diese Weise beherrschen. Aufgrund dieser Eigenart ist die Bibel zugleich äußerst machtsensibel; darin liegt eine wichtige Voraussetzung für Machtkritik. Die Bibel bleibt aber auch realistisch hinsichtlich der Einschätzung menschlicher Handlungsmöglichkeiten. Ȥ Biblische Sprache nimmt die Welt als Einheit wahr, Innenleben und Außenwelt werden nicht strikt getrennt, ebenso wenig Natur und Gesellschaft. Die Wirklichkeit wird als Einheit erfasst, in der die Grenzen zwischen den Zeiten und Räumen »weich« sind, weil alles in der Gegenwart des einen Gottes angeschaut wird.

5 Krisengedenken Das Nachdenken über Krisen, näherhin die Versuche, in ihnen zu bestehen und Auswege aus ihnen zu finden, konzentriert sich biblisch im Namen des Gottes Israels. Ps 124 ist dafür ein markantes Beispiel, denn der Gottesname JHWH steht nicht nur am Beginn der drei Abschnitte des Psalms, er wird auch in den Eingangsversen 1 und 2 kunstvoll umspielt21, indem gleich zwei Mal das Verb (hebräisch hajah, d. h. »sein/werden«) eingespielt wird, das hebräische Ohren aus dem Gottesnamen JHWH heraushören können und nach Ex 3,12–15 auch sollen. Ein Nachhall von Ps 124,1–3 ist noch im Römerbrief 8,31b zu hören, in dem es wörtlich merksatzhaft heißt: »Wenn Gott für uns, wer gegen uns?« In den Namen Gottes ist die Erinnerung an Krisen und Gefahren ebenso eingeschrieben wie die Rettung aus ihnen. In beiden Aspekten des Gedenkens – die Erfahrung des im Tode-Seins und die Befreiung aus den Fesseln des Todes (vgl. Ps 18,4 f.;17 f.) – kann das Vertrauen gründen. Biblisch beschreibt »glauben« nicht einen religiösen Bewusstseinsakt, sondern das Eingebundensein in eine dramatische Lebensbeziehung mit Höhen und Tiefen, das Festhalten an Gott, selbst wenn alles dagegenspricht. 21 Vgl. Zenger, Erich/Hossfeld, Frank-Lothar, Psalmen 101–150, 476.

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Von »glauben« ist im Alten Testament nur selten die Rede, stets jedoch in solchen Situationen, in denen alles auf dem Spiel steht (z. B. Gen 15,6; Ex 4,31; 14,31; Jes 7,9; 28,16). Es hat den Anschein, dass das Wort hä’ämin22 für solche epochalen Momente aufgehoben wird, um an ihnen deutlich werden zu lassen, dass die Gottesbeziehung »bis zum Äußersten« reicht und alle Dimensionen des Lebens einschließt: »Aus Tiefen rufe ich dich, JHWH« (Ps 130,1). Die Bibel zum Fluchtgepäck zu nehmen, legt sich also nahe. Aber wer ist tatsächlich geneigt, sie auch einzupacken? Wer fliehen muss, nimmt mit, was ihr oder ihm vertraut, lieb und teuer ist. Das bloße Wissen um die geschichtliche, kulturelle und religiöse Bedeutung reicht nicht aus, zur Bibel zu greifen, wenn das Wasser bedrohlich anschwillt. An diesem Punkt stellt sich eine ernste Frage an den Religionsunterricht: Gelingt es, in ihm Momente echter Begegnung mit der rettenden Kraft des biblischen Wortes zu schaffen? Kann sich eine Faszination für den Pflichtstoff, der die Bibel zumeist und zuerst nun einmal ist, aufbauen? Gelingt der Überstieg von der Information über die Bibel zum faszinierten Eintauchen in die literarisch entfaltete Welt (in) der Bibel (nicht in eine hypothetische Welt dahinter, aus der die Bibel kommt)? Es scheint sich um dieselben Fragen zu handeln, die sich auch etwa an den Literaturunterricht stellen. Und doch sind sie in Bezug auf die Bibel schärfer und vielleicht lästiger; denn der Anspruch der Bibel geht über den der Literaturvermittlung hinaus. Die Bibel begegnet nach ihrem eignen Anspruch mit performativer Wucht (ich wähle bewusst dieses starke Wort): »Stellt euch hin, erlebt an euch selbst die befreiende Kraft des Wortes!« (vgl. Ex 14,13). Sie bewahrt das Gottesgedächtnis der Glaubensgemeinschaft, ist der Anker der Anam­nese, der Vergegenwärtigung der rettenden Macht Gottes. Die Bibel ist das Lebens- und Glaubensbuch einer religiösen Gemeinschaft (Kirche/Gemeinde), der klassische und maßgebliche Ausdruck ihres Gotteszeugnisses, durch die Zeiten getragen zur Erschließung ihrer Erfahrungen als religiöse »vor Gott«.23 Wenn die Beschäftigung mit der Bibel nicht diesen Punkt berührt, kommt sie über eine sterile Bibelkunde nicht hinaus. Wer hier stehen bleibt, wer nie weiter hineingeführt worden ist in diesen Kosmos der Bilder und Sprachformen, wird »in Not und Gefahr« niemals auf die Idee kommen, zur Bibel zu greifen. Der schulische Religionsunterricht ist keine Glaubensschule, die Unterscheidung von der Katechese hat ohne Zweifel ihre Berechtigung. Aber dennoch steht jede Bibeldidaktik irgendwann vor der Frage, ob sie vorrangig Wissens22 Von ihm ist das »Amen« abgeleitet, mit dem die Hörenden sich das Gotteslob zu eigen machen. 23 Das ist die eigentliche Bedeutung des oft als »Rechtsbegriff« missverstandenen Ausdrucks »Kanon« oder »Heilige Schrift«.

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wertes über die Bibel mitteilt oder ob sie auch von dem Ziel geleitet ist, Wege freizulegen, damit Schüler:innen »mit Wonne aus dieser Quelle der Freiheit schöpfen« können (vgl. Jes 12,3). Alle kulturellen Schätze (Brauchtum, Musik, Literatur und auch die reichen Angebote der Konfessionen oder Religionen) müssen von innen heraus angenommen werden, um das Leben bereichern zu können. Welche Vision also leitet die unterrichtliche Beschäftigung mit der Bibel? Welches Bild von Bibel soll aufleuchten? Die Bibel als Quelle der Religionsgeschichte, die sie zweifellos auch ist, oder als Quelle des Trostes, die sie zu einem kostbaren Begleiter im Lebensgepäck machen kann? Trost tut not; dazu eine Reminiszenz aus dem Flutsommer 2021: Der Künstler Klaus Haupt aus dem schwer von der Juliflut getroffenen Weinort Dernau im Ahrtal erzählt von einem Nachbarn, den er auf der Straße traf; er saß weinend am Boden. Er habe versucht, ihn zu trösten. Als er wenige Tage später die nächste Erschöpfte draußen sitzen sah, merkte er, dass er selbst nicht immer die Kraft besitzt, andere zu trösten. Haupt findet, es sollte einen weiteren Spendenaufruf geben, nicht für Waschmaschinen, Kleidung oder Geld, sondern für Trost, Hoffnung und Zuwendung. Deutschland solle doch überlegen, wie man Menschen im Flutgebiet auch emotional unterstützen könne. Die Flutregion müsse man als eine Modellregion begreifen, alles sei neu, das Ausmaß der Katastrophe, die Facetten des Leids. Das könne auch eine Chance sein, gesellschaftlich neue Wege zu gehen. Der Künstler hat ein Projekt gestartet »Dernau danach«. Es geht um Bestärkung, um Trost.24 Es sollte niemand auf die Idee kommen, im Ahrtal Bibeln zu verteilen. Das Trostpotenzial dieses Jahrtausendbuches erschließt sich nicht so leicht; dazu braucht es kundige Einweisung und geduldige Einübung. Aber wo sollte dieser Bibel-Schatz, der zum kulturellen (und nicht nur kirchlichen) Gedächtnis gehört, bewahrt, überliefert und von Zeit zu Zeit gehoben werden, wenn nicht auch am Lernort Schule? Literatur Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, herausgegeben im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz, des Erzbischofs von Luxemburg, des Erzbischofs von Vaduz, des Erzbischofs von Straßburg, des Bischofs von Bozen-Brixen, des Bischofs von Lüttich, Stuttgart 2016. Buber, Martin, Das Buch der Preisungen, Gerlingen 1975 u.ö. –/Rosenzweig, Franz, Die Bücher der Weisung. Die fünf Bücher des Mose, Köln 1954. 24 Nach ZEIT ONLINE: Tomšić, Sara, Damit es wieder hell wird, in: ZEIT ONLINE [https:// www.zeit.de/entdecken/2021-11/flutkatastrophe-dernau-klaus-haupt-kuenstler-dunkle-jahreszeit-hoffnung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F] 2021.

»… dann hätten uns hinweg die Wasser gespült.«

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Chumash with Targum Onkelos, Haphtaroth and Raschi’s Commentary. Shemoth, Jerusalem 1984. Delitzsch, Franz, Die Psalmen, Leipzig 1883 u. ö. Domin, Hilde, Sämtliche Gedichte, hg. von Herweg,Nikola/Reinhold Melanie, Frankfurt/Main 4 2020. Metz, Johann Baptist, Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt, in: Stimmen der Zeit (1992) 311–322. Miqraoth Gedoloth/Shemot Vol. 1, New York 1995. Seebass, Horst, Genesis I. Urgeschichte (1,1–11,26), Neukirchen-Vluyn 1996. Tomšić, Sara, Damit es wieder hell wird. Flutkatastrophe in Dernau, in: ZEIT ONLINE [https:// www.zeit.de/entdecken/2021-11/flutkatastrophe-dernau-klaus-haupt-kuenstler-dunkle-jahreszeit-hoffnung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F] 2021. Zenger, Erich/Hossfeld, Frank-Lothar, Psalmen 101–150, Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, Freiburg i. Br. 2008. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

Heilsrelevant? Systemrelevant? Überlegungen zur Bedeutung von Religion in Krisenzeiten Karlheinz Ruhstorfer

1 Krisenzeiten Die Nachrichten überschlagen sich. Crisis? What crisis? So lautete der Titel einer Platte der Pop Band Supertramp aus dem Jahr 1975. Auf dem Cover sieht man einen Mann in Badehose in einem Liegestuhl liegen, neben ihm ein Sonnenschirm und ein Tischchen mit einem Drink. Urlaubsstimmung. Rings herum Industriebrache. Abgase. Schwarzgrauer Himmel. Ruß und Dreck überall. Krise? Was für eine Krise? 2022 weiß man nicht genau, von welcher der vielen Krisen man sprechen sollte. Am besten wäre es wohl, sie zu ignorieren: die Coronakrise, den Angriffskrieg auf die Ukraine, die Klimakrise, die weltweite Krise der demokratischen Systeme, die Krise der spätmodernen Gesellschaften, die Kirchenkrise, die Gotteskrise … Stellen wir uns einen Moment lang der Wirklichkeit: Die Coronakrise führte zu schwersten Erschütterungen unserer Alltagswelt. Leere Regale in Supermärkten, Menschen mit Masken und Beschränkungen des sozialen Lebens. Menschen spüren ihre eigene Vulnerabilität in radikal neuer Weise. Wir erleben individuelle Verunsicherung sowie die Angst vor Krankheit und Tod. Die Folgen der sozialen Isolation sind noch kaum abzuschätzen – vor allem für Schüler:innen. Dabei hat diese Krise eine globale Dimension unbekannten Ausmaßes. Alle sind betroffen. Es gibt keine Schonräume und keine Grenzen. In dieser Situation versucht man auch immer wieder positive Effekte zu erspähen. Und in der Tat gibt es paradoxerweise ja auch die heilsame Erfahrung der Entschleunigung, die Reduktion auf das Wesentliche und die Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Daneben erahnen wir Effekte auf das religiöse Leben. Die Kirchen selbst fürchten einen bisher unbekannten Traditionsabbruch, andererseits halten sie eine neue Besinnung auf religiöse Werte für möglich. In manchen Zeitungen und theologischen Journalen finden sich Überlegungen zur Theodizeefrage. Aber systemrelevante Beiträge der Kirchen bleiben eher im Verborgenen.

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Scheinbar wie aus dem Nichts erlebten wir vor wenigen Monaten den Ausbruch eines Krieges in Europa. Der Überfall Putins auf die Ukraine hat zunächst katastrophale Folgen für die betroffenen Menschen vor Ort. Aber auch wir im Westen fühlen plötzlich die Bedrohung von Frieden, Demokratie und Freiheit. Eine längst überwunden geglaubte Kriegsrhetorik hält Einzug in die Medien. Auch hier sehen wir Auswirkungen auf unseren Alltag bis in die Supermärkte, wenn Nudeln und Sonnenblumenöl plötzlich ausverkauft sind. Schleichend verbreitet sich die Angst vor dem dritten Weltkrieg. Und die Religion? Spielt jedenfalls eine ambivalente Rolle. Gerade in Russland ist von einer nicht unerheblichen Systemrelevanz der orthodoxen Kirche für den Staat und das Kriegsgeschehen auszugehen. Ich erinnere hier nur an die Äußerungen des Patriarchen von Moskau, der den Angriffskrieg rechtfertigte und seine Landsleute vor einem Verfall religiöser Werte wie im Westen warnte. Andererseits hören wir von verschiedenen Kirchen eindringliche Mahnungen zu Frieden und Versöhnung. Zugleich gibt es erstaunliche Diskussionen über die Frage nach dem gerechten Krieg. Welche Rolle können Kirchen in einem wirklichen oder vermeintlichen Kampf für das Gute, die Freiheit und Gerechtigkeit spielen? Klar ist, dass sich gerade auch die Religion vor allem in den westlichen Ländern in einer massiven, bisher nie da gewesenen Krise befinden. So können Kirche und Religion nicht einfach die Lösung für die Probleme unserer Zeit sein. Vielmehr sind sie Teil eines umfassenden Krisenkomplexes. Weltweit durchleben Religionen krisenhafte Übergangsphänomene, die ein teilweise sehr widersprüchliches Bild vermitteln. Religiöse Erneuerung und reaktionärer Fundamentalismus stehen gegen Relativismus und Religionszerfall. Gerade der religiöse Fundamentalismus wird seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten als ernsthafte Gefahr wahrgenommen. Es ist an den Islamismus in der arabischen Welt zu denken, aber auch an den fundamentalistischen Iran oder den Extremismus in Indonesien. In Afrika und Lateinamerika breiten sich rasant hochproblematische Pfingstkirchen aus. Und die mächtigste Nation des Westens, die USA, wird selbst von einer unheilvollen Spaltung zerrissen, in der christlicher Fundamentalismus eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Zugleich erleben wir in Europa extreme Schrumpfungsprozesse der etablierten Kirchen und einen noch nie dagewesen Bedeutungsverlust des Glaubens. Die Religionskrise und ihre Genese

Die aktuelle Kirchenkrise hat ihre unmittelbare Ursache offensichtlich im Missbrauchsskandal. Die Übergriffigkeit von Kirchenleuten auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene erschüttert die Biographien der Betroffenen in grauen-

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voller Weise. Aber auch die Kirche selbst wird dadurch in ihrem Mark getroffen, kommt ihr doch die für sie so entscheidende Glaubwürdigkeit abhanden. Insofern kirchliche Machtstrukturen den Missbrauch begünstigt haben, ist die Verfassung des Systems Kirche ein Teil des Problems. Wir befinden uns in einer massiven Innovationskrise. Der Innovationsstau, der weit in die Kirchengeschichte zurückreicht, kulminiert in dramatischen Ausmaßen. Zugleich ist hier auf die Ungleichzeitigkeiten zu verweisen, in denen sich die verschiedenen Teilkirchen dieser Welt befinden. Was für Deutschland gilt, muss nicht für Afrika gelten. Und was für Südamerika gut ist, muss es nicht auch für Spanien sein. Dass sich die evangelischen Kirchen ebenfalls in einer fundamentalen Krise befinden, macht das Problem nicht kleiner, sondern zeigt, dass in der Tiefenstruktur der beiden Kirchen und ihrer Botschaft ein basales Selbstverständigungs- und Vermittlungsproblem besteht. Es stellen sich die Grundfragen: Was haben die Kirchen den Menschen unserer Tage zu bieten? Worin besteht ihre verbindliche Botschaft? Was muss sich dringend ändern? Für welches System kann Kirche noch relevant sein?

2 Geschichtlicher Exkurs Mittelalter

Wir befinden uns inmitten einer Transformationsdynamik, die nicht bloß in tagespolitischen Kontexten erklärt werden kann. Die Systemrelevanz der Kirche war in verschiedenen Epochen sehr unterschiedlich. Für das katholische Selbstverständnis wird gerne das Mittelalter als Idealzeit herangezogen. In der Tat war damals Religion tatsächlich systembildend. Zwar ist von alters her gerade im westlichen Christentum zwischen den Systemen von Religion und Gesellschaft, Kirche und Politik, Theologie und Philosophie zu unterscheiden, aber Religion, Kirche und Theologie spielten eine konstitutive Rolle für Gesellschaft, Staat und Kultur. Theologie galt als die erste und höchste Wissenschaft. Ethik, Politik und Wirtschaft hatten eine religiöse Fundierung, und die christlichen Orden waren Träger der Bildung, während die Bischöfe und anderen kirchlichen Amtsträger eine entscheidende Rolle in der öffentlichen Verwaltung innehatten. Sinnfällig wurde diese konstitutive Funktion der Kirche in der Doppelspitze der mittelalterlichen Einheitskultur: Papst und Kaiser. Dabei stellte sich mit der Frage nach dem Vorrang und der Macht auch die Grundfrage, ob denn die Kirche systemrelevant für das Reich oder nicht umgekehrt das politische Gemeinwesen systemrelevant für die Kirche war. Ersteres freilich entsprang mehr dem Wunschdenken der Kirche als den faktischen Realitäten. Ebenso war die uni-

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versale Reichweite des Doppelsystems von Reich und Kirche weitgehend Imagination. Aber besonders im katholischen Narrativ der Gegenwart erhält sich die Fiktion von der guten alten Zeit. Neuzeit

In der Neuzeit verschoben sich die Verhältnisse grundlegend. Der Führungsanspruch von Kirche und Religion wurde in Frage gestellt, wenngleich die Kirche dadurch in keiner Weise ihre Systemrelevanz verlor. Allerdings veränderten sich alle beteiligten Systeme fundamental. Seit dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit entwickelte sich das Bewusstsein um den Menschen als Individuum, welches die Freiheit Gottes und des Menschen immer mehr zum Konstruktionspunkt der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Systeme machte. So entstand mit dem Aufkommen der freiheitsbasierten bürgerlichen Welt überhaupt erst der Staat in einem spezifischen Sinn. Die Vermittlung der Individuen und ihrer Freiheit wurde maßgeblich für den neuartigen Nationalstaat und ebenso für die Landeskirchen. Die epochalen Neuerungen betrafen nicht nur die protestantischen Kirchen, sondern mit dem Tridentinum auch die katholische Kirche, die ihrerseits die Gestalt eines frühneuzeitlichen Staates annahm. Die Struktur der Systeme war davon geprägt, dass nicht mehr nur die Hierarchie, sondern auch die Gottunmittelbarkeit des Einzelnen konstitutiv wurde. Diese neuartige Rolle des freien Individuums führte zu einer vollkommen veränderten Bedeutung der Bildung des Einzelnen für Staat, Gesellschaft und Kirche. Damit aber erhielt auch die religiöse Bildung eine neue systemrelevante Bedeutung für alle beteiligten Entitäten. Wenn aber die Bibel als neues Volksbuch verstanden wurde – so im Protestantismus –, dann mussten Lese- und Verständniskompetenz möglichst breit geschult werden. Es ist hier an die Rolle von Katechismen für die kulturelle und religiöse Bildung in beiden Konfessionen zu erinnern. Ein Spezifikum der katholischen Bildung stellten die Geistlichen Übungen der Jesuiten dar, die als Gewissens- und Herzensbildung zu verstehen sind und zur unmittelbaren Gottesgegenwart führen sollten. Nicht zuletzt ist daran zu erinnern, dass die Dynamik des freiheitlichen Geistes vor allem im calvinistischen Christentum zur besonderen Blüte des kapitalistischen Wirtschaftens führte. Die Vielfalt der Konfessionen wiederum wurde zur Herausforderung für den Staat, der in neuer Weise auf der religiösen Bildung fußte, weshalb der neuzeitliche Staat auf konfessionelle Einheitlichkeit durch eine systemrelevante Staatsreligion drängte.

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Moderne

In der klassischen Neuzeit wurde die Systemrelevanz von Religion kaum bestritten. Eine gewisse Ausnahme stellte das Frankreich der französischen Revolution dar. Weil der Katholizismus sich kaum gegenüber dem republikanischen System zu öffnen bereit war, wurde seine Bedeutung stark eingeschränkt, was sich allerdings unter Napoleon bereits wieder änderte. Die im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts anhebende nachmetaphysische Moderne ist die Epoche der radikalsten Konfrontation zwischen Religion und Gesellschaft, Theologie und anderen Wissenschaften, Kirche und Staat, Glauben und Wissen. Hier ereignet sich die anthropologische Wende, die dazu führt, dass nicht mehr Gott im Zentrum des Gesamtsystems steht, sondern der Mensch als empirisches, weltliches, sinnliches Wesen. Der Mensch der Moderne ist nicht mehr ein Gedanke Gottes, wie noch etwa bei Hegel, sondern Gott ist ein Gedanke des Menschen, wie dies Feuerbach herausgestellt hat. Es kommt zu einem theoretischen Bedeutungsverlust von Religion. Eine gewisse Spitze stellt hier ein Diktum von Karl Marx dar, der postuliert, dass die Kritik der Religion der Anfang aller Kritik sei. Diese Rede wird noch von Nietzsches Wort vom Tod Gottes überboten. Es kommt zu einem theoretischen Bedeutungsverlust von Religion jedoch nicht nur wegen der modernen Philosophie, sondern auch die modernen Naturwissenschaften, die Geschichtswissenschaften und die Gesellschaftswissenschaften ließen die Relevanz des Gottesglaubens rasant schwinden. Die Annahme eines Gottes ist nicht mehr Teil des Systems Wissenschaft. Doch auch ein praktischer Bedeutungsverlust verändert den Status von Religion und Kirche dramatisch: Anthropologische Begründungen von Ethik, anthropologische Soziallehren und Sozialpraktiken (z. B. Sozialgesetzgebung) sowie anthropologische Begründungen von politischer Herrschaft (Volkssouveränität vs. Gottesgnadentum) entbinden die Religion von ihrer Systemrelevanz ebenso wie der Fortschritt von moderner Technik, Medizin und Psychologie. Die Erfindung von Eisenbahn, Glühbirne und schmerzstillenden Medikamenten lassen die biblische Wunderwelt zum weltfremden Anachronismus herabsinken. Postmoderne

Die moderne Logik des Fortschritts und die die damit verbundene Negation alles Bisherigen führten zu einer neuartigen und zugleich gefährlichen Veränderungsdynamik der weltlichen Wirklichkeit. Die neuartigen weltlichen Organisationsprinzipien Nation, Klasse, Rasse etc. sollten in totaler Reinheit realisiert werden. Dabei sollte nicht nur alles Systemgefährdende ausgelöscht, sondern auch eine innerweltliche Vollkommenheit inszeniert werden. Der Versuch, eine homogen genormte Gesellschaft mit allen wissenschaftlichen, technischen und media-

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len Mitteln herzustellen, führte zur Auslöschung der Anderen, Abweichenden, nicht ins System Passenden. Deshalb wurde der moderne Systemzwang für die Postmoderne zum Anlass, das Sprengen der Systeme zum System zu erheben. Genauer gesagt erleben wir in der Postmoderne die Dekonstruktion des Systemdenkens. Geschlossene Einheiten werden aufgebrochen, umgeschrieben und fortgeschrieben. Eine unendliche Arbeit des Abbaus, Aufbaus, Umbaus der Systeme hat begonnen. Die poststrukturalistische Wende führte knapp eineinhalb Jahrhunderte nach dem Verscheiden Gottes zum Tod des Menschen. Die normative Kraft des Begriffs »Mensch« schwindet. Es ereignet sich eine postkoloniale Pluralisierung der wissensbasierten Normierung von »Menschen«. Strenggenommen ersetzen Theorien der Kommunikation und strukturale Betrachtungen den Menschen in seiner Rolle als systembildende Größe (Foucault). Bezogen auf unsere Frage nach der Systemrelevanz von Religion zeigt sich in der Postmoderne eine Krise der säkularistischen Theorien. Die moderne Destruktion der Metaphysik als onto-theo-logischer Wissenschaft geht über in die Dekonstruktion, die zwischen Bejahung und Verneinung oszilliert. Ebenso verlieren die bio-anthropo-logischen Theorien der Moderne an Boden und machen ein neues Verhältnis zu Religion möglich. Es findet sich hier eine Be(ent)grenzung der Religion an Stelle der modernen Negation. Die Krise der säkularistischen Praxis wiederum führt zu einer neuen Perspektive auf Fragen der ethischen Normativität. Ethik erscheint nun als Ethos der Andersheit der Anderen, das schließlich die Andersheit Gottes in neuer Weise berührt (Levinas, Derrida). Und auch das Subjekt wird als Gegenstand einer dekonstruktiven Ethik in den Technologien des Selbst und der Ethik der Existenz konstruktivistisch umgeformt, wobei auch wieder Fragen der Spiritualität eine Rolle spielen können. Kurz: Im Zenit der Postmoderne kommt es zu einer Wiederkehr der Religion, die wenige Jahre später Jürgen Habermas mit seiner Rede von der Postsäkularität aufnehmen wird.

3 Systemrelevanz – heute? Bezüglich der Frage, in welchem »Heute« wir leben, möchte ich auf die aktuelle Krise der Postmoderne hinweisen. Vermutlich erleben wir gerade eine Zeitenwende. Viele positive Aspekte der Postmoderne zeigen gerade auch problematische Seiten. So droht die Offenheit der Diskurse und die Beweglichkeit der Wahrheit in eine Unentscheidbarkeit und Unübersichtlichkeit abzugleiten. Fake News sind ein entsprechendes Phänomen. Die Kultur der Besonderheit und Alterität droht in einen Exzess der Singularitäten zu mutieren, der keinen

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Anspruch auf Allgemeinheit und Universalität mehr zulässt. Gegenbewegungen sind der bereits erwähnte religiöse Fundamentalismus, aber auch der politische Autoritarismus. Gerade der Konflikt zwischen dem offenen Westen und den autoritären Systemen Chinas und Russlands liefert den Stoff für eine politische Zeitenwende. Nach Jahrzehnten einer Kultur der Differenz herrscht allenthalben das prekäre und mehr noch gefährliche Bedürfnis nach Identität. Um aber zwischen harten und ausgrenzenden Identitäten zu vermitteln, wächst in der Krise der ökonomischen Globalisierung ein neues Bedürfnis nach Allgemeinheit, Universalität und ethischer Globalität. Neben den eingangs bereits angedeuteten Krisen ist jetzt noch an die umfassende Krise der Demokratien zu erinnern. Wenn Jürgen Habermas im Gefolge von Wolfgang Böckenförde nach religiösen Ressourcen für das politische Gemeinwesen sucht, dann mag dies ein Indiz dafür sein, dass die Grundlagen der freiheitlichen, auf Menschenrecht und Menschenwürde basierenden Kultur erodiert sind. Es gibt eine umfassende Normenkrise, in der es kaum mehr einen Konsens gibt, aus dem sich Ethik und Sittlichkeit speisen. Angesichts der Fragmentierungen und Frakturen in den westlichen Gesellschaften, die wenig Spielräume für Konsens und Gemeinsamkeiten lassen, stellt sich in aller Radikalität die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Immer wieder wird in den entsprechenden Diskursen auf die Potenzen der Religion verwiesen. Doch nicht nur, dass die Religionen und Kirchen selbst in einer grundstürzenden Krise sind, und dass eine wachsende Zahl an Menschen den Glaubensgemeinschaften keinen Kredit mehr geben, vielmehr müssen sich die religiösen Gemeinschaften hüten, sich zur Stabilisierung von Gesellschaft und Politik verzwecken zu lassen. Der Verlust der systembegründenden und systemstabilisierenden Funktion des Glaubens kann zunächst als elementare Befreiung wahrgenommen werden. Die Kirchen müssen eben nicht mehr Moral begründen, Politik legitimieren und psychische und somatische Gesundheit befördern. Es wird gerade durch die Entbindung von diesen Aufgaben möglich, dass sich die Religionsgemeinschaften auf ihre ureigensten Aufgaben konzentrieren. In dieser Situation der neuen Nutzlosigkeit des Glaubens möchte ich sieben Thesen aufstellen: 1. Religion sollte sich nicht verzwecken lassen. 2. Religion darf sich als Selbstzweck begreifen. 3. Die westliche Kultur sollte sich im Wissen darum, dass sie nicht mehr christlich ist, neu auf ihre christliche Herkunft besinnen. 4. Christentum kann als Teil des kulturellen Systems verstanden werden, ohne als dessen Grund fungieren zu müssen.

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5. Die Kirchen können dann eine Doppelfunktion ausüben: Stärkung des kulturellen Systems und Störung desselben. 6. Die Kirchen sollten sich auf die erbauliche Kraft der biblischen Schriften sowie der theologischen und philosophischen Überlieferung in einem sehr weiten Sinn konzentrieren. 7. Die Kirchen dürfen sich auf intellektuelle, biblische, spirituelle und kulturelle Bildung der Individuen kaprizieren. Auf diese vier Punkte möchte ich später noch einmal eingehen.

4 Christlicher Glaube – heute? Wie kann christlicher Glaube in unseren Tagen funktionieren? Weil Glaube immer geschichtlich situiert ist, scheint es mir sinnvoll, zunächst in einem Rückblick auf die Geschichte der Metaphysik sowie auf die nachmetaphysische Moderne und auf die Postmoderne mögliche Erträge aus der in den Epochen erarbeiteten Fülle an Glaubenswissen und Glaubenspraktiken zu sichten. Dabei wird es entscheidend werden, den dynamischen Charakter des Glaubens selbst herauszuarbeiten. Der Glaube verändert sich in der Geschichte, und er treibt Geschichte voran, ja er schreibt Geschichte(n). In diesen Narrativen können wir einen geschichtlich unterfütterten neuen Zugang zum Glauben finden. Konkret gesprochen stellt etwa die Metaphysik der patristisch-scholastischen Epoche und die Metaphysik der Neuzeit ein Erbe dar, das uns lehrt, wie Vernunft und Glauben, Freiheit und Gnade, Menschliches und Göttliches in unterschiedlicher Weise harmonieren können. Während in der Spätantike und im Mittelalter der Glaube nach Einsicht strebte (fides quaerens intellectum) und sich dabei die rationale Einsicht zu- und unterordnete, zeigt sich in der Neuzeit ein dialektisches Verhältnis von Glauben und Wissen. Scheinbar trennen sich hier die Wege, doch tiefer betrachtet führt die Emanzipation der Vernunft und der Freiheit spätestens seit der Aufklärung auch zu einem neuen Glaubenswissen und einem neuen Verständnis von Gnade. Es wäre zu zeigen, dass Kant, Fichte und Hegel, um nur diese Philosophen zu nennen, ihre Arbeit als eine rationale Rekonstruktion des Glaubens unter dem Vorzeichen absoluter Freiheit verstanden haben (Habermas). Umgekehrt bedeutet dies für den Glauben, der selbstbewusst zu sich finden will, dass er der Inspiration durch diese kritischen Vernunftwissenschaften bedarf. Das erfahrungsorientierte Paradigma der anthropologischen Moderne wiederum verweist den Menschen zwar auf sich selbst, doch auch in seiner End-

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lichkeit und Gebrochenheit kann er Spuren der Gottesgegenwart suchen und finden. Dies ist zumal deshalb möglich, weil die Theologie der Moderne von Kierkegaard über Harnack, Barth und Bultmann zu Karl Rahner und vielen anderen hier schon Brücken gebaut hat – selbst wenn diese Brücken keine wirkliche Versöhnung von Kirche und Welt, Religion und Moderne, Theologie und Philosophie bewerkstelligen konnten. Schließlich müssen wir auch von der erzählpragmatischen Annäherung der Postmoderne an den Glauben lernen. Auch die Sensibilität für die Anderen, Marginalisierten und Abweichenden sowie die Dekonstruktion der Systeme und die Textualität der Welt bleiben für uns verbindlich. Hinter die Einsichten und Errungenschaften des postmodernen Paradigmas der Pluralität und Alterität gibt es kein Zurück mehr. Das Antlitz des/der Anderen wird mir hier zum privilegierten Ort der Gotteserfahrung. Zugleich aber wird es entscheidend, in der Vielfalt der Narrative den Zugang zur Wahrheit stets neu zu entdecken. Um das Gesagte hier noch einmal zusammenzufassen. Nur wenn wir die intellektuelle Betrachtung des Glaubens (Metaphysik), die erfahrungsorientierte Annäherung (Moderne) und die narrativen Spuren der Religion (Postmoderne) verbinden, schaffen wir es, dem scheinbar unaufhaltsamen Bedeutungsverlust des Glaubens eine innere Erneuerung abzugewinnen. Wir müssen neu lernen, die Errungenschaften der Geschichte in ihrer Breite zu erschließen. Bezogen auf die Gottesfrage, an der sich letztlich alles entscheidet, gilt es, Gott in epochal je eigener Weise für unsere Zeit denkbar, erfahrbar und erzählbar werden zu lassen. Wir brauchen: den Gott über uns – Vater/Mutter (Altes Testament, griechische Metaphysik); den Gott neben uns – Sohn (sakramentale Gegenwart Gottes in Jesus Christus; Patristik und Scholastik); den Gott in uns – Geist (Gegenwart Gottes in Freiheit und Vernunft); den abwesenden Gott (die prekäre Nicht-Erfahrbarkeit Gottes in der Welt der Menschen); den vorübergehenden Gott (Spuren des Göttlichen in Allem und in allen Anderen). Dann wird es möglich, ganz neu zu fragen: Glauben? Was ist das? Freilich dürfen wir hier nicht vergessen, dass christliches Glauben selbst verschiedene Dimensionen hat. So werden wir zunächst den Glauben als Vertrauen aufnehmen dürfen, wie wir ihn vom (geschichtlichen) Jesus im Neuen Testament lernen können. Jesus vertraute auf Gott und nannte dieses radikale Vertrauen Glauben. Dieser Glaube ist es, der Berge versetzt, über das Wasser gehen lässt, der Blinde sehend macht und Lahme gehen lässt – bildlich gesprochen. Dann gibt es aber auch den materialen Glauben an Jesus. Dieser Glaube konkretisiert sich in Jesus als dem Sinnbild für das Göttliche im Menschen, in jedem Menschen. Er wird anschaulich in Jesus als der erzählten Geschichte Gottes mit seinen Freundinnen und Freunden, aber auch mit seinen Feinden. Er vertieft sich

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in Jesus als dem imaginierten Grund aller Hoffnung. Die Reich-Gottes-Botschaft verweist auf eine kaum wahrnehmbare und doch für den Glauben reale Hoffnung auf die Transformation der Welt in Gott. Und zuletzt wird in Tod und Auferstehung Jesu die Hoffnung auf die Verwandlung der Welt und mehr noch des Menschen über die sichtbaren Grenzen von Raum und Zeit hinaus. Leid wird geheilt, Tod wird zu Leben, Liebe gestiftet. Vor allem aber ist Glaube in einem weiten Sinn zu verstehen als gestreute Wirksamkeit des Geistes Gottes in Allem und Allen. Dieser Geist wird spürbar überall da, wo Trägheit, Armut, Unrecht, Streit und Hass überwunden werden, Trauernde Trost finden, Einsame Freundschaften schließen, wo Liebe, Lust und Leidenschaft über die Niederungen des Daseins hinausführen in die unendliche Weite Gottes.

5 Religiöse Bildung Religiöse Bildung ist meines Erachtens ein zentraler Ansatzpunkt, um die Zukunft der Religion auch in der aktuellen polymorphen Krisensituation zu ermöglichen. Ich sehe hier vier Felder, in denen Angebote für die Bildung und Erbauung der Persönlichkeit gemacht werden sollten: 1. Intellektuelle Bildung: Gerade in (post)modernen Wissensgesellschaften ist die intellektuelle Bildung, wie ich so oben angedeutet habe, nicht zu unterschätzen. Es gilt hierbei, die verschiedenen Wissensformationen zu vermitteln. Das herrschende naturwissenschaftliche Paradigma muss dabei mit anderen Gestalten des Wissens vermittelt und somit in seinem Geltungsbereich eingehegt werden. Noch viel zu oft erscheinen die Naturwissenschaften als die herausragenden und schlechthin wichtigsten Wissensproduzenten, die eben auch das existenzielle Selbstgefühl von Menschen nachhaltig prägen. Aber in einer rein naturalistisch gedeuteten Welt hat nicht nur Gott keinen Ort, vielmehr hat auch der Mensch in seinem Wert und mehr noch in seiner Würde keinen Ort. Im Zentrum der intellektuellen Bildung sollte die philosophisch-theologische Tradition in einem sehr weiten Sinn des Wortes stehen. Da gerade die Philosophie über Jahrhunderte einen paradigmatischen Charakter für das Selbstverständnis der Menschen der jeweiligen Epoche hatte, ist aus der Dynamik ihrer Geschichte viel darüber zu lernen, wie die Welt, wie der Mensch, wie Gott vernünftig gedacht werden konnten. Das gilt bis unmittelbar in unsere Gegenwart hinein, in die Krise der Postmoderne. Engstens mit der Philosophie war und ist die Theologie als Wissenschaft verbunden. Schon seit langer Zeit ist die Theologie

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Juniorpartnerin anderer Wissenskulturen, wobei sie teilweise einen reaktiven Charakter hatte. Sie reagierte nur mehr auf äußere Herausforderungen, ohne selbst kreativ und produktiv ihre Sache ins Spiel der Disziplinen einbringen zu können. Ohne intellektuelle Bildung kann eine religiöse Kultur in unseren Breiten auf Dauer keinen Bestand haben. 2. Biblische Bildung: Gerade im protestantischen Bereich war die Bibel über fast ein halbes Jahrtausend das Volksbuch schlechthin. Sie begleitete die Menschen durch die Stadien ihres Lebens. Sie spendete Trost. Sie motivierte. Sie erhob die Seele. Sie unterhielt die Menschen. Sie stiftete Gemeinschaft. Sie orientierte in Zeit und Raum. Vielfältige Gründe ließen die Bedeutung der Bibel deutlich schwinden. Vor allem die Hermeneutik der Schrift bereitete angesichts der Einsichten der Literatur- und Geschichtswissenschaften, aber auch der Naturwissenschaften und der Philosophie größte Schwierigkeiten. Und noch immer ist es nicht einfach, die Extreme eines Biblizismus, der die Texte sehr wörtlich versteht, und einer bloßen Historisierung, die die Texte letztlich ihrer Relevanz für die Gegenwart beraubt, zu vermeiden. Doch gibt es zahlreiche Ansätze, die Sprachwelten der Bibel in ihrer Potenz auszudeuten, Orientierung zu stiften und mehr noch Gott zu vermitteln. Die Basis müsste eine Vermittlung der biblischen Narrative sein, die es hermeneutisch abgesichert ermöglicht, die Prozesse der Selbstverständigung und Selbstkultur heutiger Menschen positiv zu beeinflussen. Einerseits müsste schlicht die Kenntnis der Texte in ihrer Fremdheit so vermittelt werden, dass es wieder zur Herausforderung wird, ihnen in ihrer frischen Sperrigkeit zu begegnen. Es geht dabei um nichts Geringeres als um die Fähigkeit, die Sprachgebäude der Bibel zu bewohnen. Ihr Potenzial, den Menschen eine Heimat zu geben, ist performativ zu erschießen. Interessante Anregungen dazu finden sich etwa in der Bibelhermeneutik des vor Kurzem verstorbenen Exegeten Ulrich Luz. 3. Spirituelle Bildung: Bevor ein – wie Karl Rahner sich ausdrückte – thematisches Wissen an die Menschen herangetragen werden kann, ist es notwendig, die tieferliegenden Schichten anzusprechen und mit ihnen zu arbeiten. Die lebensweltlichen Voreinstellungen bestimmen, gewissermaßen am subjektiven Pol der Erkenntnis ansetzend, immer schon, wie wir genau objektwelt­ liche Wirklichkeiten aufnehmen. Da die Ablagerungen der Lebenserfahrung in ein vorbewusstes Dunkel abrutschen, sind diese Schichten nicht einfach zugänglich. Doch gerade deshalb ist es wichtig, die vorreflexiv lebensweltlichen Haltungen im geschützten Rahmen spiritueller Arbeit zu reflektieren, bewusst zu machen und zu transformieren. Wenn nicht immer wieder auch in der subjektiven Tiefendimension des Menschseins angesetzt wird, können

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objektive Vermittlungen von Erkenntnis und Bildung niemals fruchten. Es bedarf dazu aber einer besonderen psychologischen und spirituellen Expertise. Es gab und gibt in der Kirche auch eine Tradition dieser Technologien des Selbst, die entsprechend zeitgemäß aktualisiert und fortentwickelt werden können. Im besten Fall wird gerade diese Bildung der Tiefenschichten unserer Persönlichkeit zu expliziten religiösen Erfahrungen führen. Denn im Grund des Leibes und der Seele wohnt nach alter Überzeugung jenes Geheimnis, das wir Gott nennen und das sich uns in einer Weise mitteilen will, wenn es uns eintauchen lässt in das dunkle Licht göttlicher Gegenwart, das streng genommen überall heilsam leuchtet, doch nur selten vernommen werden kann, weil die Verstellungen des Alltags dies nicht erlauben. Etwas provokativ formuliert könnte man sagen, spirituelle Bildung dient sowohl der Menschwerdung als auch der Gottwerdung. Schon die Bibel verheißt aber nichts Geringeres, wenn sie in 2 Petr 1,4 davon spricht, dass wir Anteil haben sollen an der göttlichen Natur. 4. Kulturelle Bildung: Religion ereignet sich niemals in einem leeren Raum der Abstraktion, sondern ist immer eingebettet in ein bestimmtes kulturelles Setting, das über bloße Wissenskonfigurationen, wie im ersten Punkt angesprochen, hinausgeht. Es ist wohl nicht übertrieben, mit Ernst Troeltsch Kultur als Form der Religion und Religion als Gehalt der Kultur zu bezeichnen. Dieser Gedanke mag gerade in unseren Tagen provozieren, da Religion immer mehr zu einem Sonderbereich am Rand der allgemeinen Kulturwelt abgedriftet ist. Dies liegt aber zu einem guten Teil in der Verantwortung der Religion, die häufig die richtige Mitte zwischen Adaption kultureller Vorgaben und Prägung kultureller Wirklichkeiten nicht zu treffen vermag. So ist es im aktuellen kulturellen Setting des Westens unmöglich, eine Religion zu vermitteln, die in ihrer Amtstheologie frauenverachtende Grundstrukturen tradiert. Ich spreche vom Verbot der Priester- und Bischofsweihe für Frauen. Andererseits stellt sich die Frage, worin denn der Mehrwert des kirchlichen Angebots besteht, wenn die welttranszendierende und -transformierende Kraft des Glaubens nicht mehr Teil der kirchlichen Verkündigung ist. Religion müsste in einen intensiven Austausch mit anderen Formen der kulturellen Selbstbeschreibung der Gesellschaften treten, um hier an das Gespräch mit Literat:innen, Filmschaffenden, bildenden Künstler:innen, aber auch mit Vertreter:innen des Sports und politischen Akteur:innen der verschiedensten Ebenen zu erinnern.

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6 Heilsrelevanz? Krisentauglichkeit? Wenn wir am Ende unserer kurzen, aber weit ausgreifenden Gedankenreise noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückblicken, möchte man doch fast verstummen. Die zahlreichen genannten Krisenphänomene überfordern alle Versuche, hier Lösungsvorschläge oder Krisenbewältigungsstrategien vorzuschlagen. Gerade das religiöse Feld erscheint selbst zu sehr von Katastrophen und Krisen zerfurcht und verwüstet zu sein, um als eine Lösungsstrategie für andere Krisenphänomene ins Spiel gebracht zu werden. Und doch spricht das Christentum – und andere Religionen tun dies in vergleichbarer Weise – im Grunde von nichts anderem als von Katastrophe und Krise. Beginnend mit dem Sündenfall, dem Brudermord Kains, der Sklaverei des Gottesvolks in Ägypten, den Abgründen der religiösen Persönlichkeiten – von Abrahams fast vollzogenem Mord an seinem Sohn bis zu Davids Anweisung, den Ehemann seiner begehrten Batseba zu töten. Auch das Neue Testament lebt aus der Spannung zwischen dem von Jesus verheißenen Anbruch des Gottesreichs und seinem eigenen schmählichen Scheitern am Kreuz. Diese Wirklichkeitstauglichkeit der Bibel ist es, die uns erlaubt, auch in unseren aktuellen Krisen von der Heilsrelevanz von Religion zu sprechen. Es geht nicht darum, Heilsrelevanz so zu verstehen, dass nur diese Menschen das Heil erlangen, die Teil der je eigenen Glaubensgemeinschaft sind. Es geht darum, in heillosen Zeiten von Heilung und Heil zu sprechen. Es geht darum, Menschen zu ermutigen und zu ermächtigen, selbst zur Verwandlung und Heilung menschlicher Individuen und Gesellschaften beizutragen. Die Versöhnung der Menschheit mit sich selbst, mit der Natur, mit allen Lebewesen ist kein Selbstläufer. Wir bedürfen des Zuspruchs aus dem tiefsten Grund. Ein solcher Zuspruch erlaubt es, das Faktum der Krisen überhaupt erst wahrzunehmen, ohne zu verzweifeln. Crisis? What crisis? Dieses ignorante Wort könnte dann einen anderen Ton gewinnen. Heil ist trotz der Krisen nicht unmöglich. In dieser Welt. Über diese Welt hinaus. Ein unmöglicher Gedanke! Mk 4,35–41 bietet ein sinnfälliges Beispiel für den furchteinflößend heilsrelevanten Zuspruch des Glaubens: »Am Abend dieses Tages sagte er zu ihnen: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren. Sie schickten die Leute fort und fuhren mit ihm in dem Boot, in dem er saß, weg; und andere Boote begleiteten ihn. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es sich mit Wasser zu füllen begann. Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu

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dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein. Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? Da ergriff sie große Furcht und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?«1

1 Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart 2016.

Vulnerabilität, Vulneranz und Resilienz – theologische Perspektiven über die CoronaPandemie hinaus Hildegund Keul

Die Vulnerabilitätsforschung erfuhr mit der Corona-Pandemie einen überraschenden Aufschwung. Bis Anfang 2020 bewegten sich die Debatten um diesen damals noch ausschließlich wissenschaftlichen Fachbegriff1 in ruhigen Fahrwassern der Forschung. Doch mit der Pandemie ging die Rede von »vulnerablen Gruppen« in die Alltagssprache ein und kommt nun auch Menschen außerhalb der Forschung selbstverständlich über die Lippen. Dass Vulnerabilität dabei sogar zum umstrittenen Politikum wurde, stellt der Frankfurter Soziologe Stephan Lessenich heraus.2 Wer ist inwiefern verwundbar, und welcher Handlungsbedarf ergibt sich daraus? Diese Frage birgt sozialen und politischen Sprengstoff. Die Pandemie und nochmals verstärkt der Ukraine-Krieg führen nachdrücklich vor Augen, welche unerhörte Macht die menschliche Verwundbarkeit im persönlichen und politischen, sozialen und kulturellen, und nicht zuletzt im religiösen Leben darstellt. Auch im Ukraine-Krieg wurde sie zum Treiber gesellschaftlicher Veränderungen. Daran zeigt sich, dass Verwundbarkeit nicht nur erlitten wird, sondern zum Handeln herausfordert. Sie ist ein neues Dispositiv der Macht, d. h. eine Größe, die das Denken und Handeln von Menschen und menschlichen Gemeinschaften bestimmt und die in der Lage ist, unvorhersehbare Transformationsprozesse in Gang zu setzen.3 Wer hätte bis vor Kurzem noch mit einer sprunghaften Aufstockung des Militäretats in Deutschland oder mit dem Antrag von Schweden und Finnland auf eine NATO-Mitgliedschaft gerechnet? Das »Agency-Potential der Vulnerabilität«4 ist für die Theologie insgesamt und speziell für die Religionspädagogik von größter Relevanz. Denn der christliche Glaube – mit Geburt, Kreuz und Auferstehung im Zentrum – zeichnet eine enge Verbundenheit zu Wunden und Verwundbarkeiten aus. Daher stellen sich 1 2 3 4

Vgl. Stöhr, Robert/Lohwasser, Diana/Noack Napoles, Juliane u. a., Schlüsselwerke, 5. Vgl. Lessenich, Stephan, Leben machen. Vgl. Keul, Hildegund, Schöpfung durch Verlust I, 10–36. Vgl. Keul, Hildegund, Schöpfung durch Verlust II, 83–115.

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entscheidende Fragen. Was kann die Theologie von anderen Wissenschaften über die Vulnerabilität lernen? Was hat sie selbst im Blick auf jene gesellschaftlichen Herausforderungen beizutragen, in deren Zentrum die menschliche Vulnerabilität steht? Was bedeutet das alles für die Religionspädagogik?

1 Vulnerabilität und Vulneranz – was bringt die Forschung Neues? Das Wort Vulnerabilität kommt aus dem Lateinischen: vulnus bedeutet Wunde, Verletzung, Beschädigung; Kränkung, Verlust, Schaden; auch Liebeskummer oder wunde Stelle; Niederlage. Wunde und Verwundbarkeit hängen demnach eng zusammen. Aber auch wenn sich beides nicht voneinander trennen lässt, so ist es trotzdem notwendig, beides zu unterscheiden. Ohne die Unterscheidung lässt sich die Macht nicht erkennen, die die Vulnerabilität ausübt. Denn Vulnerabilität bezeichnet die Möglichkeit, verletzt zu werden und Schaden zu erleiden. Menschen können dem Corona-Virus gegenüber vulnerabel sein, ohne jemals mit ihm in Berührung zu kommen. Das bedeutet, dass Vulnerabilität eine Zukunftskategorie ist. Es geht um eine Wunde, die in Zukunft eintreffen kann, aber nicht eintreffen muss. Trotzdem ist die Vulnerabilität nicht nur in der Zukunft verortet. Vielmehr beeinflusst sie das Handeln in der Gegenwart. Menschen können versuchen herauszufinden, wo sie verwundbar sind, beispielsweise körperlich bezüglich der Gesundheit oder sozial in den Auswirkungen von Isolation. Und dann können sie überlegen, was sie tun müssen, damit eine befürchtete Verwundung nicht tatsächlich eintritt. Die Erkenntnis von Vulnerabilität fordert zum Handeln auf. Das ist auch für die Forschung wichtig. So will die Klimafolgenforschung zum einen erfassen, wo Pflanzen, Tiere oder auch Landschaften zukünftig vom Klimawandel besonders betroffen sein können; und zum anderen, wie auf diese Verwundbarkeiten zu reagieren sei. Vulnerabilität lässt sich allgemein beschreiben als Offenheit an einer Stelle, wo sie zunächst nicht sein sollte, weil der Fluss des Lebens oder das Funktionieren des Systems gefährdet wird. Allerdings kann sich diese Offenheit, die zunächst bedrohlich erschien, im Nachhinein oder aufs große Ganze gesehen als Vorteil entpuppen. Menschen können Vulnerabilitäten falsch einschätzen, da sie sich auf eine mögliche Zukunft beziehen. Und die Zukunft steckt per se voller Überraschungen. Wir können aber auch genau richtig liegen mit unseren Prognosen und möglichen Schaden effektiv abwenden. In den letzten Jahren hat sich der wissenschaftliche Gebrauch des Begriffs Vulnerabilität verändert. Zunächst wurde er ausschließlich auf Lebewesen

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bezogen. Demnach wäre es ein Kennzeichen alles Lebendigen – und zwar nur des Lebendigen – vulnerabel zu sein. Dann aber breitete sich der Begriff auch auf Nicht-Lebendiges aus. Vulnerabel ist demnach auch ein Haus, z. B. vulnerabel gegenüber Sturm, Feuer oder Hochwasser. Die Ökologie brachte in die Debatten ein, dass auch Landschaften vulnerabel sind, und die Ingenieurwissenschaften arbeiten mit der Vulnerabilität digitaler Systeme. Die Herleitung aus dem lateinischen vulnus findet sich in vielen Darstellungen zur Vulnerabilität. Aber zum Wortfeld gehört ebenso: vulnerare (verletzen, verwunden, beschädigen, kränken, wehtun) und vulnificus (Wunden schlagend, verwundend) – womit sich schon andeutet, woher das Wort »Vulneranz« stammt und was es bedeutet: die Bereitschaft und Fähigkeit von Menschen, Wunden zuzufügen. Während »Vulnerabilität« mittlerweile ein gängiger Begriff ist, setzt sich »Vulneranz« erst seit Neuestem durch. Den Begriff führte die Politikwissenschaft eher beiläufig ein.5 Die Forschung verwendet den Begriff, um das Spezifische der menschlichen Gewaltsamkeit zu benennen und damit den sehr weiten Begriff der Gewalt näher einzugrenzen. Auch eine Umweltkatastrophe übt Gewalt aus, aber sie ist etwas Anderes als die Gewalt, mit der Menschen Kinder im Keller einsperren, andere Menschen foltern oder einen Krieg vom Zaun brechen. Die Rede von »vulnerablen Gruppen« hat sich mit der Pandemie eingebürgert. Aber sie hat ihre Tücken. Die erste Assoziation besagt, dass diese Gruppen besonders schutzbedürftig sind, weil sie sich allein nicht selbst helfen können. Damit wird Vulnerabilität eher auf der Seite der Passivität verortet oder auch der Schwäche, der Ohnmacht, der mangelnden Handlungsfähigkeit. Aber Vulnerabilität ist nicht passiv oder per se unschuldig. Vielmehr führt reelle oder auch nur vermeintliche Vulnerabilität im Persönlichen wie im Politischen häufig zur Vulneranz. Weil Menschen sich und ihre Gesellschaft von Migrant:innen bedroht und damit in ihrer Vulnerabilität angetastet fühlen, wollen sie die Einwanderung nach Europa verhindern; und das, obwohl die vulnerablere Gruppe jene Menschen sind, die aus ihrer Heimat fliehen müssen. Rechtspopulismus nutzt den Zusammenhang, dass Vulnerabilität Vulneranz zu legitimieren scheint, indem er das Gefühl schürt, selbst hoch verwundbar zu sein, auch wenn dies nicht den Tatsachen entspricht. Führungskräfte der katholischen Kirche befürchten, dass ihre Institution Schaden erleidet, wenn die sexuelle Gewalt durch Kleriker öffentlich bekannt wird, und setzen eine Vertuschung in Gang, die den Opfern nochmals mehr Gewalt antut. Weil ehemalige Liebes-

5 Vgl. Münkler, Herfried/Wassermann, Felix, Von strategischer Vulnerabilität, 82.

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paare im Scheidungsprozess hoch vulnerabel sind, aber nicht verwundet werden wollen, greifen sie zum Präventivschlag, der in unsägliche Gewaltspiralen führt. Aus Vulnerabilität entsteht häufig Vulneranz. Diese Erkenntnis fordert dazu heraus, die Komplexität der Machtwirkungen zu analysieren, die von der Vulnerabilität ausgehen. Diese Komplexität ist besonders hoch, weil wir es nie nur mit einer Verwundbarkeit zu tun haben, sondern immer mit einer Vielfalt von Verwundbarkeiten. Nicht immer wissen wir, welche es gibt, bis sie sich plötzlich bemerkbar machen. Dabei verlaufen die Machtwirkungen der Vulnerabilität nicht einlinig in eine Richtung, die leicht vorhersehbar wäre, sondern sie erzeugen häufig paradoxe Phänomene. Um zwei dieser Paradoxien geht es im Folgenden:

2 Das Verletzlichkeitsparadox – je besser geschützt, desto verwundbarer. Eine Entdeckung der Sicherheitsforschung Das »Verletzlichkeitsparadox« ist eine Entdeckung der Sicherheitsforschung aus dem Jahr 1994. Es besagt: Der stetig wachsende Ausbau von Strategien zu Schutz, Sicherheit und Wohlergehen (z. B. in der Energie-, Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung, der Infrastruktur, in Verteidigungssystemen) wirkt dann, wenn der Schadensfall trotzdem eintritt, umso destruktiver. »In dem Maße, in dem ein Land in seinen Versorgungsleistungen weniger störanfällig ist, wirkt sich jede Störung von Produktion, Vertrieb und Konsum der Versorgungsleistungen umso stärker aus.«6 In den Jahren seit 1994 steigerten Globalisierung und Digitalisierung dieses Problem. Das »Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB)« schätzte 2010, dass es aufgrund der komplexen Vernetzung von allem mit allem bereits innerhalb von 24 Stunden zu »katastrophalen Zuständen« kommen könnte.7 Eine Störung an entscheidender Stelle wirkt sich in komplexen Systemen exponentiell aus. Das Verletzlichkeitsparadox kommt in vielen Lebensbereichen zur Wirkung. Ein Beispiel liefert der gezielte Absturz des Germanwings-Flugs 4U9525 von Barcelona nach Düsseldorf im März 2015. Im Kontext der drastisch verstärkten Sicherungssysteme im Flugverkehr nach dem Terroranschlag auf das New Yorker WTC 2001 wurden auch die Cockpits von Flugzeugen durch dickere Türen und nicht-knackbare Spezialschlösser ausgestattet. Aber ausgerechnet diese hohe Absicherung machte das Flugzeug zur tödlichen Falle, weil der Pilot, der den 6 Steetskamp, Ineke/Wijk, Ad van, Stromausfall, 4. 7 Petermann, Thomas, Gefährdung, 15.

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Absturz verhindern wollte, nicht ins Cockpit gelangte. Der Täter, der sich selbst das Leben nehmen wollte, raubte 150 Menschen das Leben, darunter 14 Schülerinnen und 2 Schülern einer 10. Klasse – ein exponentielles Ereignis.8 Sicherungen sind unter Umständen selbst vulnerabilitätsproduktiv, was besonders militärstrategisch hoch prekär ist. Auch in der Coronazeit ist das Verletzlichkeitsparadox am Werk. Pandemien gibt es überhaupt erst, seit die Menschheit global eng vernetzt ist. Die erste weltweite Verbreitung gelang 1889/90 dem Influenza-Virus. Zuvor hatten Epidemien hunderttausenden oder gar Millionen Menschen das Leben gekostet, so bei der Pest im 14. Jahrhundert. Aber die Krankheit blieb auf die »Alte Welt« beschränkt. Vor der Eroberung Amerikas hatten Viren keine Chance, eine Pandemie zu erzeugen. Die »Spanische Grippe« erlangte ihre große Wirksamkeit durch die globale militärische Mobilität des 1. Weltkriegs.9 In den letzten Jahrzehnten führten die zahlreichen Strategien zur Verbesserung der Lebensumstände eines Teils der Menschheit zu einer globalen Vernetzung, die wiederum die schnelle Ausbreitung des Corona-Virus über die ganze Welt ermöglichte. Das Virus konnte sich blitzschnell auf den Bahnen bewegen, die die globale Vernetzung geschaffen hatte. Der Schaden entsteht damit weltweit in Form von Krankheits- und Todesfällen, Belastungen für die Gesundheitssysteme, ökonomischen Einbrüchen und dem Anstieg des Hungers. Der Schaden ist im Schadensfall exponentiell. Es braucht große, ebenfalls globale Anstrengungen, um die destruktiven Machtwirkungen der Pandemie einzudämmen. Verstärkend kommt hinzu, dass in einer Gesellschaft, die über starke Sicherungssysteme verfügt, die Menschen höhere Ansprüche an Schutz und Sicherheit stellen, die der Staat zu gewähren hat. Folglich zeigt die Bevölkerung weniger Bereitschaft, selbst der Vulnerabilität entgegenzuwirken. Schon im Techniknotfall erhöht sich das Gefahrenpotenzial durch das Verhalten von Menschen, die sich weniger auf Schadensfälle vorbereiten, weil sie sich in Schutz und Sicherheit wiegen. Unter Umständen sinkt auch die Bereitschaft, sich aktiv an der Bewältigung zu beteiligen, weil man den Staat für zuständig hält. Das Tragen von Mund-Nasen-Schutz musste in Deutschland gegen starke Widerstände durchgesetzt werden. Je länger die Pandemie dauerte, desto mehr wurde auf »Lockerungen« gedrängt, um zu einem luxuriösen Leben, beispielsweise mit Fernurlaub, zurückkehren zu können. Die eigene Vulnerabilität wird in hoch gesicherten Teilen der Gesellschaft stärker empfunden und politisch ins 8 »Strategien der Eindämmung oder Überwindung von Vulnerabilität haben die Tendenz, neue Vulnerabilitäten zu erzeugen, zumindest aber sichtbar und erfahrbar zu machen.« Burghardt, Daniel/Dederich, Markus/Dziabel, Nadine u. a., Vulnerabilität, 152. 9 Rengeling, David, Vom geduldigen Ausharren, 58–63.

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Spiel gebracht, als dies im Vergleich mit weniger gesicherten Gruppen oder Gesellschaften der Fall ist. In Deutschland, wo das Gesundheitssystem bei allen Schwierigkeiten eine hohe Resilienz dem Virus gegenüber erzeugte, waren die Klagen über verordnete Einschränkungen sehr hoch; in anderen Ländern wie Peru oder Brasilien hatten Menschen ganz andere Probleme. Das Verletzlichkeitsparadox bedeutet, dass der Versuch, Verwundbarkeit zu reduzieren, im Schadensfall zu ihrer – schlimmstenfalls exponentiellen – Erhöhung führt. Die Machtwirkungen verlaufen plötzlich nicht mehr in die intendierte, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Je abgesicherter eine Gesellschaft ist, desto höher ist die Zerstörung, wenn die Sicherung nicht funktioniert. Das Verletzlichkeitsparadox zerstört den alten Traum der Menschheit, zwar nicht qua Geburt, aber durch bestimmte Schutzstrategien unverwundbar zu werden. Auch in der Kirche tritt das Verletzlichkeitsparadox auf. Ein aktuelles Beispiel liefert hierfür die Vertuschung von sexueller, geistlicher und humaner Gewalt durch klerikale Führungskräfte. Die Vertuschung sollte die Kirche und vor allem ihren Klerus vor Schaden absichern – die eigene Institution, die eigenen Traditionen und Rituale, das eigene Personal und das System des mitbrüderlichen Klerikalismus. Die Kirchenleitungen befürchteten, dass die Kirche z. B. durch die Medien verletzt werden könnte, wenn der durch Priester und Ordensleute begangene Missbrauch öffentlich bekannt würde. Sie taten alles, damit dies nicht passiert. Sie ließen vulnerante Priester im Amt und versetzten sie lediglich in eine andere Gemeinde, solange »kein Skandal zu befürchten«10 war. Vertuschung lebt aus der Bereitschaft, jene zu opfern, die nicht zum eigenen inneren Zirkel gezählt werden. Gerade Kinder sind per se besonders schutzbedürftig, werden aber nicht geschützt, sondern durch die Vertuschung zum zweiten Mal verletzt, beispielsweise mittels Diffamierung, Ausgrenzung, psychischem Druck. Beide Formen der Vulneranz verstärken sich gegenseitig und fügen den Überlebenden und Nicht-Überlebenden unermesslichen Schaden zu. Ein Kipp-Punkt der Vulneranz ereignet sich in dem Moment, wo Missbrauch und Vertuschung öffentlich bekannt werden. Jetzt tritt jener Schadensfall ein, der durch die Sicherungsstrategie der Vertuschung eigentlich verhindert werden sollte, nun aber durch die Sicherung selbst ins Exponentielle getrieben wird. Wenn der Missbrauch nicht vertuscht, sondern konsequent geahndet, öffentlich bekannt und diskutiert worden wäre, so wäre der Schaden für die Überlebenden eingegrenzt worden; zugleich wäre die Kirche zwar beschädigt, aber der Scha10 Rechtsanwaltskanzlei Westphal/Spilker/Wastl (Hg.), Sexueller Missbrauch Minderjähriger, 721, Fall 37.

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den wäre nicht so bodenlos, wie er sich derzeit zeigt. Die römisch-katholische Kirche würde heute ganz anders dastehen. Der enorme Glaubwürdigkeitsverlust, den die kirchlichen Institutionen in den letzten Jahren erfahren und der alle Mitglieder der Kirche herausfordert, entstand durch die Vertuschung von Missbrauch. Sie trieb die Destruktion ins Exponentielle. Nicht nur die Vulneranz der Missbrauchstäter, sondern diese zusammen mit der Vertuschung verwandelten die Kirche in ein Trümmerfeld. Wie aber reagieren die Kirchenführungen auf die selbst produzierte Potenzierung des Schadens? Eine Reaktion fällt aus vulnerabilitätstheoretischer Sicht auf: Das Eigene wird nochmals verstärkt abgesichert. In der geistlichen Begleitung, in der Seelsorge, in der Bildungsarbeit, einfach überall wuchern Strategien aus dem Boden, die die eigene Institution absichern sollen. 2021 wurde bekannt, dass das Erzbistum Köln innerhalb von drei Jahren aus dem dortigen »Fonds für die Bedürfnisse des Bistums« 2,8 Millionen Euro für die sogenannte Aufarbeitung von Missbrauch ausgegeben hatte. Zur »Aufarbeitung« gehören in diesem Fall auch die Rechts-, Krisen- und Kommunikationsberatung für das Erzbistum. Bekanntlich kann man mit finanzintensivem Rechtsbeistand den eigenen Kopf aus so mancher Schlinge ziehen. Das Problem wird damit jedoch nicht gelöst, im Gegenteil. Statt die Überlebenden bei der Eingrenzung der destruktiven Machtwirkungen zu unterstützen, die von Missbrauch und Vertuschung ausgehen, wird verstärkt in die Sicherung des Eigenen investiert. Mit dieser Strategie verstrickt sich die Kirche immer weiter im Verletzlichkeitsparadox.

3 Das Verschwendungsparadox – Lebensgewinn durch Lebensverlust. Eine Entdeckung der Theologie Eigentlich müsste die Kirche es besser wissen, denn sie könnte dieses verheerende Paradox aus ihren eigenen Ressourcen kennen. »Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren …«, so lautet das Verletzlichkeitsparadox in biblischer Fassung (Lk 17,33). Interessanterweise fügt das Evangelium sogleich ein anderes Paradox hinzu, das in der Vulnerabilitätsforschung bislang noch nicht bekannt war: »… wer das eigene Leben dagegen verliert, wird es gewinnen.« Ich nenne dies das Verschwendungsparadox. Die Bibelstelle macht deutlich, wie paradox das ist, worum es hier geht. Zugegeben, was Lukas hier sagt, stimmt nicht immer. Nicht immer verlieren wir das Leben, wenn wir es zu bewahren versuchen – Selbstschutz ist ein Lebensprinzip, ohne das wir sehr schnell tot wären; und nicht immer gewinnen wir Leben durch etwas, das wir verlieren – häufig bleibt der Gewinn aus. Aber es gibt Fälle, da trifft das luka-

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nische Bonmot den Nagel auf den Kopf. Und diese Fälle sind häufiger, als es auf den ersten Blick erscheint. Dies gilt auch für das Verschwendungsparadox, bei dem Lebensverlust zu einem Lebensgewinn führt. Der chinesische Arzt und Erstentdecker des CoronaVirus Li Wenliang wagte viel, als er seine Beobachtungen zu einem bislang unbekannten, gefährlichen Virus seinen Kolleg:innen über ein soziales Netzwerk bekannt machte. Er wusste, was er tat. Er brachte das chinesische Machtsystem gegen sich auf und wurde dann tatsächlich von den Sicherheitsbehörden in Wuhan in die Mangel genommen. Dass er kurz darauf mit 33 Jahren an ­Covid-19 starb, ist mehr als tragisch. Wie hätte die Pandemie sich entwickelt, wenn Li Wenliang nicht zu seinem mutigen Schritt in die Öffentlichkeit bereit gewesen wäre? Mit seinem Wagnis setze er ein Zeichen der Humanität, zu dem er sich als Arzt verpflichtet fühlte. Daher wurde er mit Recht zur Symbolfigur jener Menschen, die sich beherzt der Pandemie entgegenstellen, obwohl sie wissen, dass sie damit Risiken eingehen. Auch die Menschen im Bereich von Medizin und Pflege erhöhen ihre eigene Vulnerabilität, um Anderen in ihrer Vulnerabilität beizustehen und ihren Leidensdruck zu mindern. Würden alle Menschen, die in einer Pandemie in Medizin und Pflege tätig sind, aus Gründen des Selbstschutzes ihre Arbeit niederlegen, hätte jedes Virus freies Feld und leichtes Spiel. Urplötzlich lebten wir in einer gnadenlosen Gesellschaft, die Verwundete rücksichtlos sich selbst überlässt. Aber viele Menschen handeln anders und stehen auch unter großen Gefahren für ein menschliches, einander zugewandtes Miteinander ein. Sie sind bereit, einander etwas zu schenken, d. h. etwas zu geben, ohne eine entsprechende Gegenleistung zu verlangen. In seinem Grundlagenwerk zur Ökonomie spricht der französische Philosoph Georges Bataille darüber, wie wichtig es ist, »dem Reichtum seine eigentliche Funktion, das Schenken, die Vergeudung ohne Gegenleistung, wiederzugeben«11. Ohne die Großzügigkeit des Schenkens kommt keine Gesellschaft aus. Denn auch das Leben bekommen wir geschenkt. Gerade Mütter, die ihren Kindern das Leben geben, riskieren bei Schwangerschaft, Geburt und der weiteren Mutterschaft enorm viel und erhöhen ihre Vulnerabilität lebenslang. Geburten sind auch Gewalterfahrungen, schmerzvoll und häufig mit dem Gefühl des Zerrissen-Werdens verbunden. Eltern können nicht darauf setzen, dass Kinder jemals etwas »zurückzahlen« werden, zumal nicht, wenn sie gerade neu geboren sind. »Jemandem das Leben schenken« ist der ursprünglichste Akt des Verschwendens.

11 Bataille, Georges, Ökonomie, 64.

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Die Extremform der Verschwendung findet sich dort, wo es um Leben und Tod geht. Bataille nennt dies: »sich selbst einen unerträglichen Verzicht auf Leben aufzuerlegen, um Leben möglich zu machen«12. Am 2. November 2020 wagten sich bei dem Attentat in Wien ein junger, aus Palästina stammender Mann sowie zwei türkischstämmige, miteinander befreundete Männer völlig ungeschützt in die Schusslinie des Täters, um einen schwerverletzen Polizisten zum Krankenwagen zu bringen.13 Ihnen war das Leben dieses Menschen so wertvoll, dass sie ihr eigenes riskierten. Ungeschützt in die Schusslinie gehen, um Anderen aus der Schusslinie zu helfen; die eigene Verwundung riskieren, um die Verwundung Anderer zu verhindern oder mindestens zu lindern: Hier geschieht das Aufleuchten eines Augenblicks, der dem Tod und der destruktiven Macht von Wunden widersteht. Das Verschwendungsparadox führen auch all jene Menschen vor Augen, die bereit sind, spirituellen, sexuellen und humanen Missbrauch in der Kirche öffentlich zu machen und zur Anklage zu bringen. Sie erhöhen ihre eigene Vulnerabilität, damit das Schweigen gebrochen und der Gewalt Einhalt geboten wird. »Schweigebruch«14 nennt ein Buchtitel dieses entschiedene Handeln, bei dem Menschen sehr viel riskieren. In einem unbeschreiblichen Kraftakt müssen Überlebende sich dem verworfenen Teil der eigenen Lebensgeschichte stellen, der mit schmerzlichen Erinnerungen, bohrender Scham und unberechtigten, aber hartnäckigen Gefühlen der Schuld behaftet ist. Darüber hinaus müssen die Überlebenden mit dem Schlimmsten rechnen, wenn sie es mit einer vertuschenden Institution zu tun haben. Der Moment der Offenlegung ist riskant, weil er für die Überlebenden zum Fluch oder zum Segen werden kann. Sie wissen nicht, ob die Gewaltspirale durchbrochen oder ob sie weitergedreht wird. Wer offenlegt, muss mit der Vulneranz der Institution rechnen. Aber ohne dieses hohe Risiko, das die Überlebenden eingehen, wären Missbrauch und Vertuschung in der katholischen Kirche niemals gestoppt worden. Das vulnerante System hätte weitere Opfer produziert. Das Verschwendungsparadox bedeutet, dass das freiwillige Erhöhen der eigenen Vulnerabilität zu einem Lebensgewinn führen kann, indem ein eigener Verlust riskiert wird. Gewalttäter durch Offenlegung von Missbrauch zu stoppen und die Vulneranz eines Systems zu durchbrechen, ist eine solche »Schöpfung durch Verlust«15. Überlebende stehen damit für einen anderen Umgang mit der 12 13 14 15

Ebd., 193. Keul, Hildegund, Verwundbar sein, 119 f. Hallay-Witte, Mary/Janssen, Bettina (Hg.), Schweigebruch. »Schöpfung durch Verlust« (Bataille, Georges, Ökonomie, 13) – im Original »création au moyen de la perte« – ist eine Formulierung von Georges Bataille, die ich zum Titel meiner zwei-

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eigenen Vulnerabilität, der nicht ausschließlich auf die Sicherung des Eigenen bedacht, sondern um des Lebens willen zu Risiken bereit ist. Dieser andere Umgang mit Vulnerabilität führt zu den Wurzeln des Evangeliums zurück, die in der Inkarnation zu finden sind. An dieser Stelle kommt die Theologie ins Spiel, die die besondere Verbindung des Christentums zur Vulnerabilität herausarbeitet.16 Demnach glaubt das Christentum daran, dass Gott sich in Jesus Christus sowohl der menschlichen Verwundbarkeit als auch der menschlichen Vulneranz aussetzt. Dies ist ein Akt purer Selbstverschwendung. Jesus kommt nicht zur Welt wie die Göttin Athene, die wohl gerüstet und kampfbereit als erwachsene Frau dem Kopf des Zeus entspringt, sondern er wird auf natürlichem Weg geboren von einer Frau. Neugeborene aber haben die höchste Vulnerabilität überhaupt, da sie sich nicht selbst mit notwendigen Lebensmitteln versorgen können, sondern den Unbilden des Lebens und den Angriffen böswilliger Menschen hilflos ausgesetzt sind. Seine Familie muss sogar, so erzählt es das Matthäus-Evangelium, kurz nach seiner Geburt mit ihm ins Nachbarland fliehen, was seine Verwundbarkeit nochmals erhöht. Seine Eltern schützen es vor der Vulneranz anderer Menschen. Damit bringen sie sich selbst in Gefahr, denn die Schergen des Königs Herodes sind dem Kind auf der Spur. Die Eltern erhöhen ihre eigene Vulnerabilität, um das Leben des Neugeborenen zu fördern, ja überhaupt erst zu ermöglichen. Diese inkarnatorische Bewegung, die von Gott ausgeht und sich im Verhalten seiner Eltern sowie überhaupt der Menschen an der Krippe spiegelt, führt Jesus in seinem Leben und seinem öffentlichen Wirken fort. Er setzt seine Verwundbarkeit aufs Spiel, um Leben für sich selbst und für Andere, besonders für Menschen in Armut und Bedrängnis aller Art, zu eröffnen und seine Option für besonders vulnerable Menschen zu realisieren. Dass er bereit ist, Risiken für Leib und Leben einzugehen, zeichnet sein Handeln als praktizierte Inkarnation aus. Er geht mitten hinein in die religiösen Auseinandersetzungen, die sozialen Turbulenzen und den politischen Aufruhr seiner Zeit. Er überschreitet den Selbstschutz zum Wohl Anderer. »Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.« (Mk 2,27) Allein dieser Satz leistet Widerstand gegen eine Institution, die sich selbst absichert und Menschen für ihren Erhalt funktionalisiert. Den Finger in die Wunde von Armut und Unrecht zu legen und Ungerechtigkeiten öffentlich zu adressieren, ist besonders gefährlich für einen Menschen wie Jesus, der keine militärische Macht hat, mit der er sich gegen drohende Angriffe zur bändigen DFG-Forschungsstudie über Vulnerabilität, Vulneranz und Selbstverschwendung gemacht habe: Keul, Hildegund, Schöpfung durch Verlust, Bd. I und II. 16 Das Biblische kann hier nur kurz umrissen werden; Vgl. zum Folgenden: Keul, Hildegund, Schöpfung durch Verlust II, 141–178.

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Wehr setzen könnte; kein Geld für Top-Anwälte oder zur Bestechung von Richtern; keinen Besitz, hinter dessen Schutzmauern er sich verschanzen könnte. Sein öffentliches Auftreten macht ihn öffentlich verwundbar und führt in seinem Fall ans Kreuz, aber durch das Kreuz hindurch auch zur Auferstehung. Eine solche Gabe an das Leben zu bringen, das erhöht die eigene Vulnerabilität, eröffnet aber zugleich die Chance, »Schöpfung durch Verlust« in Gang zu setzen.

4 Das Verschwendungsparadox in seiner Bedeutung für die Debatten zur Resilienz Kirche und Gesellschaft verdanken der Bereitschaft der Überlebenden, im schlimmsten Fall erneut und noch niederschmetternder verletzt zu werden, dass Missbrauch und Vertuschung nicht mehr aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen sind. Die Gewaltspirale hat sich nicht automatisch weitergedreht und wurde stark abgebremst, wenn auch nicht zum Stillstand gebracht. Viele Überlebende haben dafür einen hohen Preis gezahlt, da sie Diffamierung und Ausgrenzung ausgesetzt wurden und Retraumatisierung erleben mussten. Aber es gibt auch ein anderes Phänomen, dass nämlich Menschen, die diesen schweren Weg gehen, im Prozess der Offenlegung Unterstützung, Selbstwirksamkeit und Erfolg erfahren und mitten im heftigen Gegenwind eine Stärke gewinnen, mit der sie selbst nicht gerechnet hätten. Ein gutes Beispiel hierfür ist Johanna Beck17, aber auch viele andere Menschen, die in der Öffentlichkeit beharrlich für Aufarbeitung stehen. Hier zeigt sich eine weitere Dimension des Verschwendungsparadoxes: Die eigene Vulnerabilität freiwillig zu erhöhen, muss nicht automatisch schwächen, sondern kann Widerstandskraft und Stärke hervorrufen. Diese Tatsache ist für jene Debatten relevant, die aktuell auch in der Religionspädagogik um den Begriff der Resilienz geführt werden. Dieser ausufernde Diskurs kann hier nicht breit diskutiert werden. Aber ich möchte aus vulnerabilitätstheologischer Sicht einen Punkt einbringen, der noch zu wenig beachtet wird. Wenn jemand die eigene Vulnerabilität erhöht, um Leben zu eröffnen, so muss die mögliche Verwundung nicht unbedingt eintreten. Und selbst wenn sie eintritt, muss dies nicht unbedingt zu einer Schwächung führen. Im Gegenteil, das Riskieren eigener Vulnerabilität kann ein höchst widerständiger Akt sein, der die eigene Resilienz steigert. Diese Feststellung widerspricht einem binären, allerdings zu simplen Verständnis der Frage, wie sich Vulnerabilität und Resilienz zueinander verhalten. Hier geht es nicht um ein Nullsummenspiel, 17 Vgl. Beck, Johanna, Mach neu.

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das wie eine Waage funktioniert und wo der Gewinn einer Seite automatisch einen Verlust der anderen Seite bedeutet, und umgekehrt. Auf der einen Seite der binären Codierung stünde dann die Vulnerabilität, die sich durch Schwäche, Ohnmacht, Passivität, mangelnde Widerstandskraft, Abhängigkeit, Unsicherheit, Stressanfälligkeit, Lethargie auszeichnet; auf der anderen Seite stünde dann die Resilienz, die Sicherheit, Stärke, Kreativität, Autonomie, Stressbewältigung, Leistungsfähigkeit, Aktivität verkörpert. Wenn die Waagschale Resilienz nach oben geht, so ginge demnach die Waagschale Verwundbarkeit nach unten. Je höher die Verwundbarkeit, desto niedriger die Resilienz, und umgekehrt. Kritische Stimmen zum Resilienzdiskurs, die überwiegend aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, nicht aber aus den Naturwissenschaften kommen, widersprechen dieser Vorstellung.18 Dass die Theologie hierbei eine starke Stimme hat, wundert im Blick auf die Bibel nicht.19 Die Herausgeberinnen des Buchs »Vulnerability in Resistance« weisen zu Recht darauf hin, dass die binäre Codierung ein Problem darstellt, da sie einen komplexen Sachverhalt simplifiziert und dadurch problematisch, unter Umständen sogar gefährlich wird.20 Aus meiner Sicht laufen hier zwei Forschungsfelder auf interessante Weise zusammen. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Ausgehend von den Naturwissenschaften wurde »Vulnerabilität« lange Zeit als rein »negativer«21 Begriff verstanden, »Resilienz« hingegen als rein »positiver« Begriff. Das Motto der Resilienzförderung lautet dann: Resilienz erhöhen durch Absenken der Vulnerabilität. Resilienz wird somit zu einer Art Zauberwort oder Heilsbegriff.22 Die Resilienzforschung kritisiert mittlerweile sehr scharf diese Formatierung von Resilienz als Heilsbegriff. Dies geht bis hin zu Sarah Brackes Aufforderung: »Resist resilience!«23 (Widersteht der Resilienz!). Die Vulnerabilitätsforschung wiederum macht sich daran, die aktive, kreative Seite der menschlichen Vulnerabilität zu beleuchten. Verwundbarkeit lässt sich demnach auch sozial 18 Insbesondere weisen Butler/Gambetti/Sabsay auf paradoxe Kreuzbewegungen hin. So nennt Judith Butler das Agieren von Protest- und Widerstandsbewegungen auf offener Straße in Diktaturen das freiwillige Riskieren der eigenen Verwundbarkeit »the deliberate exposure to harm«; Butler, Judith, Rethinking, 20. 19 Exemplarisch steht hierfür die von der evangelischen Theologin Cornelia Richter geleitete DFG-Forschungsgruppe »Resilienz in Religion und Spiritualität«. 20 Butler, Judith/Gambetti, Zeynep/Sabsay, Leticia (Hg.), Vulnerability in Resistance, 1–11. 21 So die Ethikerin Erinn Gilson, die »a reductively negative understanding of vulnerability« kritisiert. Zwar sei es richtig: »in some cases, being vulnerable means being susceptible to pain, stigma and injustice« (Gilson, Erinn, Ethics, 4); aber bedeutet Vulnerabilität deswegen immer »liability to injury, weakness, dependency, powerlessness, incapacity, deficiency, and passivity«?, ebd., 5. 22 Vgl. Vogt, Markus/Schneider, Martin, Zauberwort Resilienz. 23 Bracke, Sarah, Bouncing back.

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verstehen als Offenheit für mitmenschliche Beziehungen; eine Offenheit, die Berührbarkeit, Empathie und solidarisches Handeln ermöglicht. Wenn beide kritischen Forschungsstränge miteinander verbunden werden, dann kann die Komplexität beider Größen zutage treten. Die menschliche Vulnerabilität ist hoch komplex und ruft häufig auch paradoxe, querlaufende Verbindungen zur Resilienz hervor. Das Erhöhen von Vulnerabilität kann zu einem Erhöhen der Resilienz führen. Es wäre ein spannendes Unternehmen, diese These anhand biblischer Erzählungen zu untersuchen. Hier lassen sich zahllose Bespiele im Alten wie im Neuen Testament finden wie die Witwe von Sarepta, die ihr letztes bisschen Getreide und Öl mit einem dahergelaufenen Propheten teilt und durch dieses paradoxe Verhalten die Hungersnot übersteht (1 Kön 17,8–24); oder Jesu Vorschlag, wenn man geschlagen wird, die andere Wange hinzuhalten in der Hoffnung, mit dieser Geste den Gegner zu entwaffnen (Mt 5,39; Lk 6,29).24 Resilienz lässt sich aber nicht nur durch das freiwillige Erhöhen eigener Vulnerabilität erzielen. Das macht nicht zuletzt der Ukraine-Krieg deutlich. Menschen und ihre Gemeinschaften können ihre Resilienz auch durch Vulneranz erhöhen. Auch das wird im Resilienzdiskurs vernachlässigt: Es gibt eine vulnerante, d. h. durch Vulneranz erzeugte Resilienz. Nicht nur aus christlicher Sicht macht es einen enormen Unterschied, ob Resilienz erzielt wird durch Anwendung von Gewalt oder durch das Erhöhen eigener Vulnerabilität. Dieser Unterschied bleibt verborgen, solange in binären Codierungen gearbeitet wird. Eine mögliche Lösung besteht darin, die Analysen prinzipiell dreiwertig durchzuführen und nach »Vulnerabilität, Vulneranz und Resilienz« in ihren vielfältigen Wechselbeziehungen zu fragen. Der Ukraine-Krieg stellt verschärft vor die Frage: Gibt es eine Resilienz, die durch Vulneranz erzielt wird, aber dennoch ethisch vertretbar ist? Die Debatte um die Lieferung sogenannter schwerer Waffen ist hier exemplarisch für die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen Vulnerabilität, Vulneranz und Resilienz. Wer hier aus einem nicht-betroffenen Staat heraus die Position der Neutralität oder der strikten Gewaltlosigkeit einnimmt, muss sich fragen lassen, ob dies nicht letztlich der Versuch ist, sich selbst die russische Vulneranz vom Leib zu halten – und damit zugleich die Ukraine der Vulneranz Russlands auszusetzen. Dies wäre der Versuch, die eigene Vulnerabilität möglichst niedrig zu halten, so dass die Vulnerabilität Anderer erhöht wird. Auch eine solche Sicherungsstrategie kann im Verletzlichkeitsparadox enden, wenn die russische Angriffswut ungebremst weitermacht und über die Ukraine hinaus noch mehr 24 Vgl. Keul, Hildegund, Schöpfung durch Verlust II, 115–129.

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Länder zu Opfern der Aggression macht. Aber auch wenn das Recht auf Selbstverteidigung und die Notwendigkeit von Waffenlieferungen bejaht werden, heißt das nicht, dass die Gewaltlosigkeit damit hinfällig wäre. Waffen können keinen Frieden schaffen. Aber sie können immerhin einen sich selbst potenzierenden Gewaltausbruch beenden, wie der 2. Weltkrieg gezeigt hat. Unter bestimmten Umständen, wie sie derzeit mit dem Angriffskrieg gegeben sind, ist es erforderlich, Waffen und Gewaltlosigkeit zusammenzudenken. Die Waffen zum richtigen Zeitpunkt abzulegen, ist vielleicht noch schwerer, als sie im richtigen Moment zu ergreifen – wobei das Letztere für die vielen Menschen, die in der Ukraine in zivilen Berufen aktiv waren und plötzlich, buchstäblich von heute auf morgen, Soldat:innen werden mussten, schon viel zu schwer zu ertragen ist.

5 Wunden verbinden – in doppeltem Sinn. Vulnerabilität im Religionsunterricht Was bedeutet das alles für die Religionspädagogik? Aus meiner Sicht ist der entscheidende Punkt, dass die Kirche genauso wie die Gesellschaft einen anderen Umgang mit Vulnerabilität brauchen. Es geht also um die Schnittstellen zwischen beiden, und genau dort arbeitet der Religionsunterricht. Er hat es mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun, die eine je spezifische Vulnerabilität aufweisen; und mit (biblischen) Texten, Traditionen und Ritualen, in deren Zentrum die Vulnerabilität steht. Die Kunst liegt darin, beides im konkreten Fall zusammenzubringen. Es ist ja kein Zufall, dass Religionslehrer:innen häufig die Ersten sind, die in einem schweren Unglücksfall an der Schule mit ihrer seelsorglichen und rituellen Kompetenz gefragt werden. In Sachen Vulnerabilität befragbar und handlungsfähig zu sein, gehört zur Kernkompetenz von Religionslehrer:innen. Dabei könnte der Religionsunterricht etwas einbringen, das gesellschaftlich dringend gebraucht, aber kirchlich vernachlässigt wird: die verbindende Kraft von Wunden. Diese zeigt sich besonders deutlich beim Pfingstfest, das abschließend beleuchtet werden soll.25 Der Tod Jesu beschädigte auch seine Jünger:innen und ließ sie traumatisiert zurück. Einen nahestehenden Menschen durch menschliche Gewalt zu verlieren und das auch noch mitanzusehen wie die Frauen unterm Kreuz, gilt heute zu Recht als traumatische Erfahrung.26 Dar25 Vgl. ebd., 179–192. 26 Die »American Psychiatric Association (APA)« zählt das persönliche Erleben der Tötung anderer, insbesondere nahestehender Personen sowie »die Konfrontation mit aversiven Details«

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auf könnten die Jünger:innen mit Selbstschutz reagieren, indem sie fliehen und ihre Gemeinschaft dem Zerfall überlassen (so die Emmaus-Jünger); oder sie könnten sich gegen Andere verschließen, in Deckung gehen und Schutzräume dichtmachen. Vielleicht tun sie dies auch, denn die Pfingsterzählung spricht vom »Obergemach«. Aber mitten aus ihren Erzählungen heraus, dass Jesus auf andere, unbegreifliche Weise präsent ist und lebt, weht plötzlich ein anderer Geist. Sie schließen ihre Türen auf und gehen hinaus. Sie setzen auf das Verschwendungsparadox, indem sie ihre Vulnerabilität nicht möglichst niedrig halten, sondern aufs Spiel setzen. Dabei machen sie die ganz besondere Erfahrung, dass ihre erlittenen Wunden nicht nur verbunden werden wollen, sondern dass sie eine eigene, verbindende Kraft entfalten. Bataille sagt sogar: »die Kreuzigung ist die Wunde, durch die der Gläubige mit Gott kommuniziert.«27 Wunden verbinden. In der Folge gründen die Jünger:innen eine Kirche, die nicht auf Abschottung, sondern auf Öffnung setzt. Um dem Leben zu dienen, bringen sie die Handlungsmacht ins Spiel, die das Riskieren der eigenen Vulnerabilität ermöglicht. Die verbindende Kraft von Wunden ist in der heutigen Gesellschaft zu wenig bekannt, obwohl sie in der Corona-Pandemie immer wieder zutage trat. Sie zeigt sich auch im Familienleben, wenn plötzlich jemand schwer erkrankt. Die Verwundung der einen Person verwundet auch jene Menschen, die ihr nahestehen, seien dies Familienangehörige, Freund:innen oder Kolleg:innen. Die gemeinschaftliche Verwundung verändert plötzlich die Kommunikation unter den Betroffenen von Grund auf. Die Wunde, eine schmerzliche Öffnung, macht sprachlos. Zugleich erfordert sie es, miteinander zu sprechen, und zwar ganz anders als sonst. Was so unsäglich ist, will besprochen werden, wenn auch stammelnd, brüchig, vielleicht sogar schluchzend. Verwundete sprechen anders miteinander, weil sie Abgrenzungen, die im Alltag vorherrschen, überwinden und in ihrer humanen Verbundenheit miteinander kommunizieren – mitten in die Öffnung, mitten in den Schmerz hinein. Vielleicht sind Verwundungen eine Voraussetzung dafür, dass Menschen intensiv, innig, intim miteinander kommunizieren können? »Die Kommunikation erfordert einen Fehler, einen ›Riß‹; sie tritt, wie der Tod, durch einen Fehler in der Rüstung ein. Sie erfordert eine Koinzidenz von zwei Rissen, in mir selbst und im anderen.«28 Der Normalfall ist eher der, in Rüstung, d. h. im Schutzmodus aufzutreten. Kommunikation bleibt oberflächlich. Eine Verwundung aber, die gemeinschaftlich trifft, erzeugt einen Riss auf beiden Seiten. Wird dieser Riss nicht zu den traumatischen Ereignissen; Falkai, Peter/Wittchen, Hans-Ulrich/Döpfner, Manfred, DSM-5, 169 f. 27 Bataille, Georges, Freundschaft, 44. 28 Ebd., 43.

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verdeckt, überspielt oder geleugnet, so wird über ihn eine tiefgreifende, intime Kommunikation möglich. Menschen agieren nicht mehr im Rüstungs-, sondern im Verletzlichkeitsmodus. Die Kommunikation dreht sich um das, was das Leben selbst ausmacht, um seine Kostbarkeit, die letztlich unsagbar ist, aber in der Kommunikation über den Riss zum Ausdruck kommt. Der Verletzlichkeitsmodus wiederum ist Voraussetzung dafür, Verschwendung zu riskieren, hingebungsvoll zu agieren und aus der Verbundenheit heraus in Solidarität miteinander zu handeln. Wunden verbinden, weil sie den Verletzlichkeitsmodus ermöglichen und die Bereitschaft zur Verschwendung wecken, zur Gabe ohne Gegengabe. Wenn der Religionsunterricht der Aufgabe nachgeht, über Vulnerabilität nachzudenken, ihre Macht zu durchschauen, ihre destruktiven Wirkungen zu begreifen, aber zugleich ihre kreativen Potenziale offenzulegen, dann erschließen sich nicht nur biblische Texte und christliche Rituale neu. Vielmehr setzen sich Kinder und Jugendliche mit den Machtwirkungen auseinander, die von vielfältigen Verwundbarkeiten – eigenen und fremden – ausgehen. Vielleicht lernen sie sogar, zumindest anfanghaft, auf die verbindende Kraft von Wunden zu setzen. Literatur Falkai, Peter/Wittchen, Hans-Ulrich/Döpfner, Manfred, Diagnostische Kriterien DSM-5, Göttingen 22020. Beck, Johanna, Mach neu, was dich kaputt macht. Warum ich in die Kirche zurückkehre und das Schweigen breche, Freiburg 2022. Bataille, Georges, Die Aufhebung der Ökonomie, München ³2001. –, Die Freundschaft und das Halleluja, München 2002. Bracke, Sarah, Bouncing Back. Vulnerability and Resistance in Times of Resilience, in: Butler, Judith/Gambetti, Zeynep/Sabsay, Leticia (Hg.), Vulnerability in Resistance. Durham/London 2016, 52–75. Burghardt, Daniel/Dederich, Markus/Dziabel, Nadine u. a., Vulnerabilität. Pädagogische Herausforderungen, Stuttgart 2017. Butler, Judith/Gambetti, Zeynep/Sabsay, Leticia (Hg.), Vulnerability in Resistance. Durham/London 2016. Butler, Judith, Rethinking Vulnerability and Resilience, in: Dies./Gambetti, Zeynep/Sabsay, Leticia (Hg.), Vulnerability in Resistance, Durham/London 2016, 12–27. Gilson, Erinn C., The ethics of vulnerability. A feminist analysis of social life and practice, London/New York 2014. Hallay-Witte, Mary/Janssen, Bettina (Hg.): Schweigebruch. Vom sexuellen Missbrauch zur institutionellen Prävention, Freiburg/Basel/Wien 2016. Keul, Hildegund, Weihnachten – das Wagnis der Verwundbarkeit, Ostfildern 32017. –, Schöpfung durch Verlust. Bd. I: Vulnerabilität, Vulneranz und Selbstverschwendung nach Georges Batailles, Würzburg 2021 (Print sowie Open Access https://doi.org/10.25972/WUP978-3-95826-159-4). –, Schöpfung durch Verlust. Bd. II: Eine Inkarnationstheologie der Vulnerabilität, Vulneranz und Selbstverschwendung, Würzburg 2021 (Print sowie Open Access https://doi.org/10.25972/ WUP-978-3-95826-173-0).

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–, Verwundbar sein. Vulnerabilität und die Kostbarkeit des Lebens. Ostfildern 2021. Lessenich, Stephan, Leben machen und sterben lassen. Die Politik mit der Vulnerabilität, in: WSIMitteilungen 73 (2020) 454–461. Münkler, Herfried/Wassermann, Felix, Von strategischer Vulnerabilität zu strategischer Resilienz, in: Schiller, Jochen/Gerhold, Lars (Hg.), Perspektiven der Sicherheitsforschung. Beiträge aus dem Forschungsforum Öffentliche Sicherheit. Frankfurt a. M., 2012, 77–95. Petermann, Thomas/Bradke, Harald/Lüllmann, Arne u. a., Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen Ausfalls der Stromversorgung. Endbericht zum TA-Projekt, in: www.tab-beim-bundestag.de/de/pdf/publikationen/berichte/ TAB-Arbeitsbericht-ab141.pdf. Rengeling, David, Vom geduldigen Ausharren zur allumfassenden Prävention. Grippe-Pandemien im Spiegel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit (= Gesundheitssoziologie 1), Baden-Baden 2017. Steetskamp, Ineke/Wijk, Ad van, Stromausfall. Die Verletzlichkeit der Gesellschaft. Die Folgen von Störungen der Elektrizitätsversorgung (Studie/Rathenau Instituut 26), Den Haag 1994. Stöhr, Robert/Lohwasser, Diana/Noack Napoles, Juliane u. a., Schlüsselwerke der Vulnerabilitätsforschung, Wiesbaden 2019. Vogt, Markus/Schneider, Martin, Zauberwort Resilienz. Analysen zum interdisziplinären Gehalt eines schillernden Begriffs, in: Münchner Theologische Zeitschrift 67 (2016) 180–194. Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl/Spilker/Wastl (Hg.): Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019, in: https://westpfahl-spilker.de/ wp-content/uploads/2022/01/WSW-Gutachten-Erzdioezese-Muenchen-und-Freising-vom20.-Januar-2022.pdf. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

Zwischen Skandal und großem Egal – die Kirchen in der Resonanz- und Glaubwürdigkeitskrise Matthias Drobinski

Ich möchte von einer Freundin erzählen, von der ich weiß, dass sie überzeugt katholisch war und ist, und auch trotz allem Hader immer wieder in die Kirche ging. Sie erzählte mir: »Meine Kinder haben mich gefragt: Wie kannst du in dieser sexistischen und homophoben Vereinigung bleiben?« Die Mutter hatte das immer noch so einigermaßen hingekriegt. Sie war in die Kirche gegangen, hatte mit ihrem schwulen Bekannten über die bigotte Sexualmoral und Ehelehre gelästert, sich über das Weiheverbot für Frauen geärgert, aber Priesterin hätte sie sowieso nicht werden wollen. Diese gutkatholische Doppelexistenz war für sie immer in Ordnung gewesen. Ihren Kindern aber erschien diese Doppelexistenz absolut untragbar, geradezu skandalös, fast schon als Unterstützung einer kriminellen Vereinigung. »Mama, wie kannst du da nur drinbleiben?« Tatsächlich: Mittlerweile ist sie ausgetreten. Und trotzdem geht sie ab und zu mal in die leere Kirche, um zu beten. Vor zwanzig Jahren musste, wer aus der Kirche austrat, noch seinen Schritt begründen. Jetzt müssen sich jene erklären, die drinbleiben. Wer geht, riskiert gesellschaftlich nichts mehr, sofern er oder sie nicht bei der Kirche angestellt ist. Der große Zorn, der gerade die katholische Kirche erschüttert, schlägt voll durch. Zwölf Jahre ist es her, als offenbar wurde, dass es in dieser Kirche nicht nur einzelne Missbrauchsfälle gibt, sondern furchtbar viele. Und dass die Ursache nicht im Fehlverhalten Einzelner liegt, sondern in der Art und Weise, wie diese Kirche mit Macht umgeht, mit klerikaler Macht; wie sie Sexualität, Homosexualität tabuisiert, abgewertet hat; wie sie in einer Männergesellschaft Frauen klein gehalten hat. Und immer noch gibt es Kirchenvertreter, die ihre daraus erwachsene Verantwortung leugnen, klein reden, bis hin zum emeritierten Papst Benedikt XVI. in Rom. Immer noch gibt es den katastrophalen Umgang mit Aufklärung und Aufarbeitung, wie wir es im Erzbistum Köln erlebt haben. Es gibt den hilflosen Rücktritt und den Rücktritt vom Rücktritt von Kardinal Marx; es gibt den Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der vor allem eins möchte: nicht zurücktreten. Das alles konterkariert die Aufklärungsbemühungen, die es

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ja durchaus gibt. Das nährt den Eindruck vieler Menschen, dass da eine Vereinigung am Werk ist, die sich der Verantwortung nicht stellen möchte, die nicht ihr Gewissen erforscht, was sie immerhin von ihren Gläubigen fordert. Das ist nicht immer gerecht. Noch nie gab es so viel Reformwillen in der katholischen Kirche, selbst bei der Mehrheit der Bischöfe. Dass Menschen, die nicht binär sind, öffentlich sagen: »Ich bin Teil dieser Kirche, ich bin dort angestellt, ich stehe zu meiner sexuellen Identität« – und das ohne arbeitsrechtliche Konsequenzen –, das wäre vor 20 Jahren unvorstellbar gewesen. Und trotzdem bleibt der große Skandal der katholischen Kirche erhalten. 30 Jahre Erstarrung sind nicht so einfach abzuschütteln. Niemand weiß, was Papst Franziskus an den Reformen akzeptieren wird, die der Synodale Weg vielleicht beschließt. Es ist auch noch längst nicht alles ans Tageslicht gekommen, was es in der katholischen Kirche an sexualisierter Gewalt, aber auch an geistlichem Missbrauch gibt. Da wird noch sehr, sehr viel aufzuklären, aufzuarbeiten, zu ändern sein. Das ist für viele Gemeinden eine sehr schwierige Situation. Sie haben den Eindruck: »Wir machen doch eine gute Arbeit. Wir gehen zu den Menschen hin, doch keiner glaubt uns mehr.« Das erlebe ich als große Kränkung von Menschen, die sich wirklich engagieren. Ich vermute mal, dass es manchen von den Religionslehrkräften im Religionsunterricht nicht anders geht. Das ist das, was ich als den großen Skandal beschreibe. Er trifft auch die evangelische Kirche, weil auch dort das Defizit im Umgang mit sexualisierter Gewalt noch groß ist; und insofern, dass es den christlichen Kirchen insgesamt nicht gut geht, wenn die katholische derart in der Krise steckt. Der Glaubwürdigkeitsverlust trifft auch sie. Wenn die eine Kirche sozusagen im Feuer steht, dann geht es der anderen meistens auch nicht gut. Hinter diesen augenscheinlichen Krisen und Skandalen steckt aber auch ein tiefergehender Prozess. Davon wurde bereits einiges durch die religionssoziologischen Perspektiven deutlich. Er konkretisiert sich in der Geschichte meiner Bekannten aus gutkatholischem Haus, die, gerade 50 Jahre alt geworden, aus der Kirche austritt, weil ihre Kinder diese Kirche für empörend halten. Die Entfremdung von der Institution und tiefer noch von der Religion, die sich hier zeigt, lässt sich nicht auf die gegenwärtigen Skandale zurückführen. Im Gegenteil: Dass das lang Verborgene und Verheimlichte endlich zum Skandal wird, liegt daran, dass die Kirchen das Sakrosankte verloren haben. Wir sind mitten in einem grundstürzenden gesellschaftlichen Wandlungsprozess. In diesem Jahr werden die Mitglieder der großen Kirchen zur Minderheit im Land. Es ist noch gar nicht absehbar, was das alles bedeuten wird für die Bundesrepublik, in der sieben Jahrzehnte lang die Kirchenmitglieder selbstverständlich in der Mehrheit waren und der Staat zwar weltanschaulich neu-

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tral, aber doch sehr religions- und kirchenfreundlich strukturiert war. Der Religionsunterricht ist in seiner Verankerung im Grundgesetz Ausdruck dieser Verbundenheit. Wird das so bleiben? Was heißt diese Entwicklung für das kirchliche Arbeitsrecht, die Kirchensteuer, das Subsidiaritätsprinzip? All dies wird in den kommenden Jahren auf den Prüfstand kommen. Die gegenwärtige Ampel-Koalition ist den Kirchen weniger eng verbunden als das vorige Bündnis aus CDU/CSU und SPD; die Zahl der Bundestagsabgeordneten, die den Kirchen eng verbunden sind, hat abgenommen. SPD, Grüne und FDP haben sich zum Ziel gesetzt, die Staatsleistungen abzulösen – jene Leistungen, die meist seit 1803, seit der Säkularisierung, an die Bistümer und Landeskirchen gezahlt werden. Es gibt Vorstellungen zur Familienpolitik oder auch zur Reproduktionsmedizin, die überhaupt nicht mit den ethischen Prinzipien der Kirchen vereinbar sind. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgetragen, eine Regelung zum assistierten Suizid zu finden, die die Freiheit zur Selbsttötung in den Mittelpunkt stellt. Den Kirchen weht ein durchaus rauer Wind entgegen. Und das gilt auch für die evangelische Kirche, die weniger vom großen Zorn getroffen, dafür aber vom großen Egal bedroht ist. Die Bindung der Mitglieder an ihre Kirche ist deutlich schwächer als bei den katholischen Glaubensgeschwistern. Und häufig taucht hier die Frage auf: Was ist mir die Mitgliedschaft in dieser Kirche noch wert? Viele Menschen, die mit Ende 20, Anfang 30 auf ihren Lohnsteuerzettel schauen, sagen: »Donnerwetter, diese Kirche ist ganz schön teuer. Lohnt sich das noch? Was habe ich davon?« Und immer seltener lautet die Antwort: »Ich möchte kirchlich heiraten, meine Kinder taufen lassen, mal christlich beerdigt werden, und wer weiß, wozu es gut ist – in Ordnung, das ist es mir wert. Ja, ich fänd’s vielleicht ganz schön, wenn meine Kinder getauft werden, aber ist es mir das auch wirklich wert?« Immer häufiger lautet die Bilanz: »Das lohnt sich für mich nicht, ich trete aus.« Der Glaube ist ohnehin nur noch für eine Minderheit entscheidend fürs Leben. Zentrale Glaubensinhalte wie die Auferstehung Jesu, wie die Vorstellung, dass es einen personalen Gott gibt, werden auch von vielen Kirchenmitgliedern nicht mehr geglaubt. An ihre Stelle tritt zunehmend eine Naturspiritualität, die an göttliche, alles verbindende Kräfte glaubt, mit denen man in Verbindung treten kann, für die Jesus ein cooler Typ war, aber keinesfalls Gottes Sohn. Selbst wenn die katholische Kirche es irgendwann einmal tatsächlich schaffen sollte, den Missbrauchsskandal aufzuarbeiten, den Betroffenen eine adäquate Anerkennung zukommen zu lassen, die gesellschaftliche, die veröffentlichte Meinung dahin zu bringen, dass sie sagt: Ja, das ist doch gut – selbst dann werden diese Prozesse weitergehen. Das ist mir sehr klar geworden während der Corona-Pandemie. Da lautete die kritische Frage vieler Journalist:innen: Wo waren sie denn, die Kir-

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chen, mit ihren klugen Deutungen, mit ihrem Trost, mit ihrer Sorge um die aufgescheuchten Seelen? Papst Franziskus’ Gebet vor dem Pestkreuz auf dem leeren, verregneten Petersplatz wurde als berührende, interessante Geste wahrgenommen. Der Rest unter der Rubrik »Versagen« abgeheftet. Ich fand das ungerecht, weil ich im Verhalten der Kirchen eher die zu erwartende Mischung aus Bewähren und Versagen erlebt habe, die es in großen Organisationen immer in solchen Situationen gibt. Ich habe tolle Pfarrer:innen, großartige Gemeinden und Gemeinschaften erlebt, die sich um Menschen gekümmert haben, ihnen trotz Kontaktbeschränkungen nahe blieben, großartige Gottesdienste ins Netz gestellt haben. Aber natürlich auch Kirchenmenschen, die froh waren, dass sie nicht mehr belästigt wurden von Gemeindemitgliedern, und ihre Kirche zugemacht haben. Woher aber kam das Narrativ vom Versagen, obwohl gepredigt und gedeutet wurde, was das Zeug hielt, obwohl prominente Kirchenvertreter:innen durchaus in den Medien vertreten waren? Ich fürchte, es kommt daher, dass, was die Kirchen taten, gar nicht mehr über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinaus bekannt und erfahrbar wurde – und das, was gesagt wurde, überhaupt nicht mehr als relevant wahrgenommen wurde. Die Vertreter:innen der Kirchen standen ganz hinten in der Schlange der Deutenden, hinter den Epidemolog:innen und Mediziner:innen sowieso, aber auch hinter den Psycholog:innen und Freizeitforscher:innen. Das Wort der Kirchen empörte nicht einmal mehr, es war egal geworden, und das, obwohl es ja um ethische und teilweise genuin religiöse Themen ging, um den Wert des Menschen, das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Verantwortung, um Angst, Einsamkeit, Sterben, Tod. Vielleicht ändert sich das jetzt, wenn es um die ethische Beurteilung des russischen Überfalls auf die Ukraine geht. Aber auch da wird es keine Rückkehr zu den Zeiten geben, wo kirchliche Positionen mehr oder weniger unmittelbar Einfluss auf politische Entscheidungen hatten. Gibt es also nichts anderes als den bevorstehenden Niedergang, vielleicht gar Zusammenbruch der christlichen Kirchen? Ist vielleicht in 20 Jahren alles vorbei? Vielleicht kriegt das die katholische Kirche in einem Akt der Selbstvernichtung hin, wenn sie den Weg der Marginalisierung weitergeht. Und ja: Jesus hat seinen Jüngern nicht versprochen, dass es bis zum Ende der Tage eine Institution mit Bischöfen, Kirchensteuer und prachtvollen Bauten geben wird. Es spricht aber doch wenig für den baldigen Zusammenbruch. Wahrscheinlicher ist das Szenario der von beiden großen Kirchen in Auftrag gegebenen Freiburger Studie1: 2060 werden beide Kirchen nur noch die Hälfte der Mitglieder 1 Vgl. Gutmann, David/Peters, Fabian, #projektion2060.

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und die Hälfte der Finanzkraft haben. Das bedeutet, dass immer noch ungefähr 20 Millionen Menschen Mitglied einer der beiden großen Kirchen sein werden. Diese Kirchen werden also durchaus groß und bürgerlich wohlhabend bleiben. Auch wenn sie nun vor einschneidenden Änderungen stehen, die organisatorisch und finanziell, aber auch theologisch und spirituell zu bedenken sind. Es wird weniger Ressourcen geben und weniger Hauptamtliche. Es wird viel stärker auf die einzelnen Christ:innen ankommen, wie sie sich engagieren. Ich habe vor vielen Jahren in einem Buch für mehr »Mut zum fröhlichen Verarmen« plädiert2 – fröhlich würde ich nicht mehr sagen, denn solche Prozesse sind schmerzhaft. Aber mutig sollten die Kirchen diesen Prozess auf jeden Fall angehen; mutig entscheiden, was Kern ihres Auftrags ist, kann den Blick dafür schärfen. Es wird die Frage sein, inwieweit es den Kirchen gelingt, trotz größerer Gemeinden, trotz weniger hauptamtlicher Nähe die Kirche im Dorf zu erhalten, die Kirche vor Ort, eine Kirche der Nähe. Dazu gehören auch die Religionslehrer:innen. Der Religionsunterricht ist sehr erhaltenswert, auch wenn er sich sehr wird ändern müssen, stärker ökumenisch, interreligiös. Es braucht Mut und Kreativität, sonst kommt irgendwann die Frage: Braucht es das noch oder kann das weg? Nein, das ist keine sehr bequeme Situation. Sie wird Verletzungen hervorrufen und Frust: »Keiner hört mehr auf uns.« Sie macht den Rückzug ins Identitäre attraktiv: »Ziehen wir uns auf uns selber zurück, verkünden wir die klare Lehre im Konzert der vielen anderen klaren Lehren; je konsequenter wir uns abgrenzen, desto spannender werden wir für andere.« Wir sollten diese Haltung nicht mit einer Überlegenheitsgeste und der gegebenen Arroganz abtun. Sie ist überraschend attraktiv. Weltweit sind evangelikale Christ:innen und konservative Katholik:innen mit ihr sehr erfolgreich. In den Vereinigten Staaten haben sie Donald Trump ins Amt geholfen, der die christliche Moral und Ethik mit Füßen getreten hat; angefangen vom Umgang mit Frauen bis hin zum Umgang mit Geld und Macht. Und nun betreibt Patriarch Kyrill in Moskau dieses identitäre Christentum in seiner furchtbarsten Form, indem er einen verbrecherischen Angriffskrieg religiös überhöht und die imperiale Ideologie der Russki Mir theologisch rechtfertigt. Die Gefahr ist durchaus da, dass auch bei uns die Neigung wächst, das Christentum in der aggressiven und polemischen Abgrenzung gegenüber anderen zu definieren. Es wäre ein Christentum zum Fürchten, das verrät, was Jesus wollte. Gibt es denn eine andere Chance für die Kirchen? Ich glaube, ja. Es gibt die Chance, auch als Minderheit Sauerteig zu sein, in die Gesellschaft hineinzu2 Vgl. Drobinski, Matthias, Oh Gott, die Kirche; ders., Kirche, Macht und Geld..

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wirken mit dem, was man hat, eine neue Identität zu entwickeln. Es wäre ein Christentum, das nicht mehr auf die selbstverständliche Macht der Institution setzt, sondern auf die Kraft des Argumentes, die Ausstrahlung seiner Gemeinschaft, die Faszination der christlichen Lebensentwürfe und Lebensweisen. Ich habe in meiner journalistischen Arbeit viel und notwendigerweise über Skandale geschrieben, über all das, was bei Kirchen nicht läuft, schiefläuft. Aber interessanterweise waren die Texte über die existenziellen Grundfragen des Glaubens und des Lebens die erfolgreichsten: Wann bist du gut, lieber Gott? Was heißt Hoffnung in Zeiten der Pandemie? Was ist Trost? Es gab bei der Süddeutschen Zeitung eine Zeit lang ein Online-Tool, das die Wirkung jedes einzelnen Artikels maß: Wie häufig wird er geklickt, wie lange wird er gelesen, wie häufig geteilt, wie sehr interessiert er die hoch verbundenen Leser:innen, die ein Abo haben oder vielleicht eins abschließen? Ich habe dieses Tool zuerst gefürchtet, doch bald war es mein Freund: Artikel zu Sinn, Religion, Kirchen waren oft ganz oben im Ranking. Glaube: das ist Emotion, das berührt, empört, das ist das pure Leben. Bei Publik Forum gewinnen wir gerade Leser:innen – ein unabhängiges Medium, das kritisch und in aller Freiheit über Religionen und Kirchen berichtet und die Spiritualität nicht vergisst; das ist publizistisch und ökonomisch durchaus erfolgreich. Wenn Menschen einen eigenen Geist ausstrahlen, transportieren, dann horchen wir Journalist:innen auf. Wenn wir auf Menschen treffen, die sagen, uns ist dieses Leben nicht egal, auf die kleinen Propheten des Möglichkeitssinnes, die den fairen Handel in der einen Welt fördern, für Menschenrechte und für die Armen vor der Haustür eintreten, die die Traurigen und Mutlosen trösten und aufrichten, die Orte der Unterbrechung und des Gebetes offenhalten. Die Christ:innen hüten besondere Orte, sie verwalten Beispiele guten Lebens. Noch wichtiger aber ist: Sie halten das Gottesgericht wach. Das Bewusstsein, dass es eine transzendente Dimension des Lebens gibt, die in der Politik, der Wirtschaft, der Forschung durchaus auch in Rechnung gezogen werden muss. Das ist ein wichtiger Dienst an der Gesellschaft, den die Kirchen nicht aufgeben dürfen: Das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass das Nächstliegende nicht das Letzte ist. Jesus hat die Verhältnisse immer wieder auf den Kopf gestellt: Der Gescheiterte und Gefolterte bringt die Erlösung. Die letzte Wahrheit wohnt beim himmlischen Vater, sie ist kein irdischer Besitz. Alle, die das behaupten, müssen die Christ:innen als Scharlatane enttarnen. Sei es, dass sie die Erlösung im Konsum predigen, im Sozialismus, im Nationalismus, in irgendwelchen identitären Reinheitsvorstellungen. Die Christ:innen in der Minderheit können zu Anwält:innen der Verunsicherung in einer Welt werden, in der die Unfehlbarkeitserklärungen nicht mehr vom Papst kommen, sondern aus dem Netz. Gegen

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alle Selbstgewissheiten der Welt sollten die Kirchen jesuanischen Zweifel säen: Die Wahrheit wohnt bei Gott, und solange das Ende der Welt auf sich warten lässt, müssen wir sie suchen, auch wenn wir wissen, dass wir sie nicht besitzen werden – leidenschaftlich suchen. Das würde dieser Gesellschaft fehlen, wenn das Christliche verschwände, sich in die Nischen zurückzöge, wenn die Kirchen museal würden, prächtige Gebäude aus Gedanken und Stein, die niemand mehr belebt. Daher wünsche ich mir von einem guten Religionsunterricht: Dass er die Leidenschaft weckt fürs Suchen, die Freude daran, dies gemeinsam zu tun. Wenn Religionslehrer:innen bei den Schüler:innen die Neugier wecken, die Lust am Nachdenken, Zweifeln, aber auch sich auf den Weg zu machen, dann bin ich sehr, sehr dankbar; und auch zu sagen, irgendwie macht euch auf diesen Weg, dann ist glaube ich sehr, sehr viel gewonnen. Wenn Religionslehrer:innen ihnen Mut machen, schwankendem Boden zu vertrauen und einfach zu gehen. Vieles um uns herum schwankt. Wir wissen nicht, wie dieser Krieg weitergehen wird. Wir rennen auf eine Erderwärmung zu, die für viele Menschen auf dieser Welt katastrophal, tödlich sein wird. Da die Hoffnung weiterzugeben, dass der schwankende Boden hält, dass nicht vergebens sein wird, was gerade vergebens zu sein scheint – das können die Christ:innen weitergeben wie niemand sonst. Literatur Gutmann, David/Peters, Fabian, #projektion2060. Die Freiburger Studie zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer. Analysen – Chancen – Visionen, Neukirchen-Vluyn 2021. Drobinski, Matthias, Kirche, Macht und Geld, Gütersloh 2013. –, Oh Gott, die Kirche: Versuch über das katholische Deutschland, Düsseldorf 2006. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

Was Religion und Theologie in Krisenzeiten zu bieten haben – religionssoziologische, sozialpsychologische und religionspädagogische Überlegungen Mirjam Schambeck sf

Die Krisen scheinen nicht mehr aufzuhören und bestimmen das Lebensgefühl auch von Jugendlichen seit geraumer Zeit: die Älteren von ihnen erinnern sich noch an die Finanzkrise 2008, dann den Reaktorunfall in Fukushima 2011, den Flüchtlingssommer 2015, der gesellschaftliche Verunsicherungen auslöste, 2018 kam die vermehrte Sorge um die Folgen des Klimawandels dazu, seit 2020 die Corona-Pandemie und mit dem 24. Februar 2022 sind mit dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine bis dato geglaubte Sicherheiten gänzlich zerronnen. Aktuelle Jugendstudien konstatieren, dass nicht nur die Krisen je für sich, sondern deren Dauermodus Jugendliche stark beeinträchtigt.1 Auch wenn die junge Generation ihre eigene Zukunft erstaunlich positiv einschätzt, verdunkeln Sorgen um ihre berufliche, finanzielle und wirtschaftliche Zukunft ihr Leben. Der kriegerische Überfall auf die Ukraine hat die psychische Belastung Jugendlicher nochmals gesteigert: 68 % bereitet der Krieg große Sorge, 46 % haben große Angst, dass sich der Krieg in der Ukraine auf ganz Europa ausweitet, 55 % bedrückt der Klimawandel, 46 % haben Angst vor einer Inflation, 40 % vor einer sozialen Spaltung, 39 % vor einer Wirtschaftskrise, um nur einige Zahlen zu nennen.2 Diese hohen Rankings lassen aufhorchen. Auch wenn die Krisen der letzten 20 Jahre alle Generationen betreffen, wirken sie auf Kinder und Jugendliche doppelt stark.3 Das hängt damit zusammen, dass sie selbst noch keine aktiven oder keine voll aktiven Gestalter von Gesellschaft sind. Mindestens finanziell abhängig, wirken die Instabilitäten, die sie erleben, wie etwas »Verhängtes« und »schicksalhaft Widerfahrenes«, auf das sie keinen Einfluss haben. Dazu kommt, dass die Elterngeneration, die sonst für Kinder und Jugendliche eine weitgehend stabilisierende und orientierende Funktion einnimmt, durch die 1 Vgl. Hurrelmann, Klaus/Schnetzer, Simon, Jugend in Deutschland. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. Schambeck, Mirjam, Spoiled youth – betrogen durch Corona!, 2–4.

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Krisen ebenfalls verunsichert wird und als Sicherheit gebende Instanz ausfällt. Keiner weiß, was werden wird, ob der Krieg eskaliert, was die wirtschaftlichen Folgen bedeuten, wie sie auf den eigenen Lebensstil drücken und ob sie noch eine hoffnungsvolle Zukunft erlauben. Das Gefühl von Ohnmacht aber lähmt und verstärkt die eigenen Ängste. Die Frage stellt sich damit gesellschaftlich, kirchlich und eben auch für den Kontext Schule, wie Kinder und Jugendliche in diesen schwierigen und unabsehbaren Situationen unterstützt werden können. Welchen Beitrag können dazu Religion und Theologie leisten und was bedeutet dies für Schule und den Religionsunterricht im Besonderen? Der folgende Beitrag lotet dazu Zuschreibungen zu Religion als Sinn- und Kraftressource aus, die von unverdächtiger, also nicht binnenreligiöser Seite aus vorgetragen werden (1 und 2), um von da aus (3) theologische Optionen zu entwickeln, wie Religion und Theologie zu Sinnreservoirs werden können, die auch (4) im Religionsunterricht eine Rolle spielen, wenn sie denn angemessen zum Tragen kommen.

1 Vom Nutzen der Religion und ihrer Absichtslosigkeit – ein religionssoziologischer Einwurf (D. Pollack) 1.1 Von der funktionalen Nicht-Notwendigkeit in (post-)modernen Gesellschaften Galt Religion in der Vormoderne als die Kraft schlechthin, Gesellschaften zusammenzuhalten, hat sie diese funktionale Notwendigkeit mindestens seit der Aufklärung eingebüßt. Religion bzw. das Christentum bzw. die Kirchen sind nicht mehr nötig, um in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften mit je eigenen Subsystemen zurechtzukommen. Gesellschaftliche Teilsysteme wie Recht, Wissenschaft, Politik, Kunst, Journalismus funktionieren nach je eigenen Codes und Rationalitätsmustern in sich und sind auf keine über den Teilbereichen liegenden Zentralperspektiven angewiesen.4 Um beispielsweise einen Kredit zu bekommen, ist nicht mehr die Religionszugehörigkeit ausschlaggebend, sondern der ökonomische Status des Kreditnehmers. Mit dieser Entflechtung und funktionalen Differenzierung, wie Niklas Luhmann dies nennt, verbanden sich enorme Freiheitsschübe und auch Effizienzsteigerungen. Der erreichte Wohlstand in Staaten (West-)Europas beruht zu einem großen Teil auch auf diesen 4 Vgl. Pollack, Detlef, Was eine säkulare Gesellschaft von den Kirchen (nicht) braucht, i. E.

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Differenzierungen und Funktionalisierungen. Zugleich bedeuten diese funktionale Ausdifferenzierung und damit auch autonome Entfaltung der je eigenen Logiken nicht, dass die Bereiche je für sich autark wären. Auch wenn es in postmodernen Gesellschaften wie der unseren nicht mehr möglich ist, dass ein Bereich unmittelbar in den anderen eingreift, so ist der Tausch der jeweiligen Leistungen untereinander aber sehr wohl gewollt, ja nötig für das Funktionieren der einzelnen Bereiche als auch der Gesellschaft insgesamt.5 So klar es also ist, dass Religion nicht mehr nötig ist, um die gesellschaftlichen Teilsysteme zusammenzuhalten, so stellt sich durch die momentanen Krisen mit angeschärfter Brisanz die Frage, ob Religion und wenn ja, was Religion dennoch in hochdifferenzierten und zugleich krisengeschüttelten Gesellschaften wie der unseren beitragen kann. Reicht es, dass sie ähnlich wie die anderen gesellschaftlichen Teilbereiche in dem Bereich funktioniert, der ihr zugewiesen ist – also der Bearbeitung des Transzendenzbezugs für diejenigen, die das wollen, und als Möglichkeit der Kontingenzbewältigungspraxis; oder verlangen funktional ausdifferenzierte Gesellschaften von der Religion noch anderes? 1.2 Von Funktionen, die Religion auch in (post-)modernen Gesellschaften zukommen Detlef Pollack bringt hier lohnende Überlegungen ins Spiel: Zum einen zeigt er, dass religiösen Praktiken und Überzeugungen auch in postmodernen Gesellschaften bestimmte Funktionen zukommen.6 Der Einsatz für mittellose Menschen, das Engagement für Kinder und Jugendliche, die es schwer haben, oder auch die Überzeugung, sich in konfliktiven Situationen um Versöhnung zu bemühen, sind Praktiken und Haltungen, die sich zwar nicht nur religiösen Motiven verdanken, die aber durch sie ge- und verstärkt werden können. Religion nutzt also durchaus zu etwas, was Gesellschaft stärkt. So erwartbar diese Aussagen in einem religionssoziologischen Denksystem sind, das die funktionale Ausdifferenzierung von Gesellschaft zur Grundlage nimmt, so überraschend ist die folgende komplementäre Ergänzung: Pollack schreibt der Religion eine wichtige Funktion zu, indem er ihre Absichtslosigkeit, ihre »nur um ihrer selbst willen erfolgende Verinnerlichung ihrer Sinnformen«7 als ihr innerstes Prinzip charakterisiert.

5 Vgl. ebd. 6 Vgl. ebd. 7 Ebd.

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Damit ist mehreres gesagt: So sehr Religion bestimmte Nutzen erbringt, so geht sie doch nicht in ihnen auf. Sie kann Menschen helfen, ihr Leben besser zu ertragen, mit Krisen leichter zurecht zu kommen, über die Institutionalisierung der Krankenfürsorge wichtige gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen. Religion geht aber darüber hinaus. Ihre innerste Ausrichtung, über das Vorfindliche hinaus zu zeigen, zu verweisen auf einen Horizont, der nicht aufgeht in den eigenen Nützlichkeiten, Gründen oder Gedanken, sich verschrieben und – christlich gesprochen – sogar verdankt zu wissen einem Größeren gegenüber, das uns als Ultimates bzw. – christlich gesprochen – als Du entgegenkommt; dies alles ist völlige Absichtslosigkeit und wird dann Religion gerecht, wo es in völliger Absichtslosigkeit geschieht. Diese Absichtslosigkeit, also das Gegenteil von Nützlichkeit, zeitigt mehrere Konsequenzen: Indem Religion ihr Innerstes – nämlich die Absichtslosigkeit – zur Geltung bringt, grenzt sie nicht nur ihren Nutzen ein, sondern entschränkt auch den teilsystemischen Religionsbereich. Sie wird nämlich für alle funktional ausdifferenzierten Subsysteme zur Anrede, nicht nur bei sich stehen zu bleiben, Autonomie nicht mit Autarkie zu verwechseln und die notwendigen Wechselbeziehungen und -wirkungen zwischen den Bereichen immer wieder anzugehen. Diese der Religion zuinnerste Absichtslosigkeit ist damit keine Neuauflage der alten Zentralperspektive, die Religion in vormodernen Gesellschaften zukam. Sie ist vielmehr eine Erinnerung daran, dass die Teilsysteme nicht voneinander wegdriften sollen, sondern ihre Stärken für die Menschen zur Verfügung stellen. 1.3 Was Religion damit in Krisen zu bieten hat Die Nützlichkeiten von Religion herauszustellen, die sich als Kontingenzbewältigungspraxen subsumieren lassen – also Sinn anzubieten, Motive für soziales Handeln zu liefern, Hoffnungen zu stiften, um an Krisen nicht zugrunde gehen zu müssen –, ist das eine Desiderat, das sich aus den religionssoziologischen Beobachtungen Detlef Pollacks für theologische Kommunikationssituationen ableiten lässt. Gerade in Krisensituationen sind diese Nützlichkeiten notwendiger denn je. Das andere Desiderat ist, um die der Religion zukommende Absichtslosigkeit zu wissen, dieser Absichtslosigkeit auch immer wieder einen Ausdruck zu geben, z. B. in Zeiten des Verweilens und NichtsTuns, des Schauens und Innehaltens, und darin der Nicht-Verzweckbarkeit des Menschseins immer mehr auf die Spur zu kommen. In Krisenzeiten lohnt es, beiden Bedeutungen von Religion nachzugehen und sie von theologischer Seite und gerade in religionsbezogenen Bildungssituationen wie dem Religionsunterricht für den gesellschaftlichen Diskurs zur

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Verfügung zu stellen; denn gerade der erlebte Kontrollverlust und die sedierenden Ohnmachtserfahrungen reichen an die innersten menschlichen Selbsterhaltungsmechanismen heran und gefährden sie. Genau an dieser Stelle setzt die Sozialpsychologie an. Ähnlich wie die Religionssoziologie formuliert sie aus nicht-binnentheologischer Perspektive wichtige Hinweise, wie Religion gerade in Krisenzeiten zur Geltung kommen kann.

2 Wenn Grundbedürfnisse gestört sind – (sozial-)psychologische Beobachtungen In der Sozialpsychologie, die nicht nur intrapsychische Prozesse, sondern v. a. die (Wechsel-)Beziehungen des Einzelnen in und zur sozialen Welt untersucht, ist eine der grundlegenden Fragen, wovon das Denken, Fühlen und Verhalten von Einzelnen und Gruppen beeinflusst wird; bzw. besser gesagt, was Menschen und Gruppen antreibt und welche Bedürfnisse sie mit ihren Handlungen, ihrem Verhalten und ihrem Denken befriedigen wollen.8 In der Forschungsliteratur hat sich dazu folgende Matrix von Grundbedürfnissen (important goals/basic motives) durchgesetzt:9 1. Die Suche nach Kontrolle (mastery), 2. Die Suche nach Verbundenheit und Beziehung (connectedness) sowie 3. Die Suche nach Wertschätzung des Ich und des Eigenen (valuing me and mine).10 Weil diese Grundbedürfnisse nicht nur Leben und Handeln von uns als Einzelne und als Gruppen orientieren, sondern auch sichern, hat es enorme Auswirkungen auf den Einzelnen wie auch auf soziale Gruppen, wenn sie gestört werden. Genau das aber passiert in Krisen und genau das ist angesichts des Dauermodus Krise seit 2008 zu beobachten. Insofern lohnt es, entlang der Grundbedürfnisse und was sie bedeuten, genauer zu fragen, welche Sicherungsmechanismen durch die Erfahrung der gegenwärtigen Krisen gestört sind und was deshalb besonders wichtige Maßnahmen sind, um hier gegenzusteuern.

  8 Vgl. Smith, Eliot R./Mackie, Diane M./Claypool, Heather M., Social Psychology, 19.   9 In der Individualpsychologie dominiert eine andere Matrix, nämlich diejenige des Leistungsmotivs, des Machtmotivs und des Motivs Anschluss/Bindung. Vgl. Rothermund, Klaus/Eder, Andreas, Allgemeine Psychologie: Motivation und Emotion, 94–96. Da hier allerdings die Großatmosphäre Krise und ihre Wirkung auf Einzelne und Gruppen interessiert, wird die Taxonomie aus der Sozialpsychologie vorgezogen. 10 Vgl. Smith, Eliot R./Mackie, Diane M./Claypool, Heather M., Social Psychology, 17 f.

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2.1 Die Funktion des Grundbedürfnisses »Kontrolle« Das Grundbedürfnis »Kontrolle« meint, uns und die Welt um uns so zu verstehen versuchen, dass wir das, was passiert, einordnen können, um Ereignisse in der sozialen Welt voraussagen zu können. Das Kontrollbedürfnis ist also ein Sicherungsbedürfnis, das über das Verstehen von sozialen Vorgängen funktioniert und darauf zielt, Menschen in zukünftigen Situationen handlungsfähig zu machen.11 Wenn ich z. B. weiß, dass die Klasse 7b kurz vor der morgigen Religionsunterrichtsstunde eine Mathematikklassenarbeit schreibt, werde ich mich als Religionslehrkraft darauf einstellen müssen, dass die Schüler:innen nicht ab der ersten Unterrichtsminute gespannt und interessiert in den Bänken sitzen. Das Kontrollbedürfnis motiviert mich als Religionslehrer:in, mir im Vorhinein unterschiedliche Strategien des classroom managements zu überlegen, die den Schüler:innen helfen, die Übergangssituation von der Klassenarbeit zum Reli-Unterricht zu bewältigen. Das Kontrollbedürfnis ist also einerseits eine starke Motivation, präzise und genaue Meinungen (opinions) und Haltungen (beliefs) gegenüber der sozialen Welt auszubilden, die es erlauben, Situationen weniger ausgeliefert, sondern handlungsfähiger gegenüber zu stehen. Andererseits ist es zugleich auch ein Impuls, die eigenen Fertigkeiten (skills) immer mehr auszubilden, um gar nicht erst in unmanövrierbare Situationen zu kommen. 2.1.1 Wie die Pandemie das Grundbedürfnis Kontrolle störte

Das Kontrollbedürfnis wurde nun aber durch die Krisen der letzten Jahre und insbesondere durch die, die COVID-Pandemie begleitenden, alltagsverändernden Maßnahmen dramatisch gestört. Zum einen setzte die COVID-Pandemie viele (rechts-)staatlichen, gesellschaftlichen und im Privatbereich geltenden Alltagsregeln außer Kraft. Allein die in westeuropäischen Demokratien bis dato so noch nicht vorgekommenen Einschränkungen der Grundrechte lösten katastrophale Grundverunsicherungen aus. Die massive Einschränkung der Versammlungsfreiheit z. B. kannten die jetzt lebenden Generationen höchstens noch von Erzählungen der Hochbetagten aus der Kriegsgeneration. Zum anderen galten plötzlich Alltagsroutinen nicht mehr. Die Lockdowns in der Arbeitswelt, die Schließung von Kitas und Schulen mit den daraus folgenden psychischen Belastungen für Kinder und Jugendliche, die Besuchsverbote in Alten- und Pflegeheimen und anfangs selbst das Verbot, bei sterbenden Verwandten im Krankenhaus dabei sein zu dürfen, ließen bisherige Sicherheiten im sozialen Leben zerbröckeln. Morgens aufzustehen, um zur Schule zu gehen, 11 Vgl. ebd., 17.

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den strukturierten Arbeitstag in der Schule, die Trennung von Arbeitsplatz und Zuhause, all das funktionierte in Coronazeiten nicht mehr. Alltag wurde unplanbar, unkontrollierbarer und jeden Tag zur riesigen Kraftanstrengung. Der soziale Kosmos wurde dadurch maximal unübersichtlich. Dieser ausgelöste Kontrollverlust hatte Auswirkungen auf viele Ebenen des Zusammenlebens: Man konnte nicht mehr absehen, welches Verhalten, welche Wirkung zeitigt (Ist allein das Sitzen auf einer Parkbank schon verboten, wie im ersten Pandemielockdown im März 2020?). Es war nicht mehr prognostizierbar, was werden wird, so dass bislang hoch wirksame Praktiken, die soziale Welt zu vermessen und damit für den Einzelnen als auch für Gruppen kontrollierbarer zu machen, ihre Bedeutung verloren. Der Grundsatz: Ich setze eine Handlung und kann abschätzen, welche Wirkung sie im sozialen Gefüge erzielt, funktionierte nicht mehr, weil sich z. B. Corona-Regeln immer wieder änderten, und keiner wusste, was am nächsten Tag relevant sein würde. Mit anderen Worten zerrannen sowohl die Konzepte, die bisher Welt beherrschbar machten, als auch Verhaltensweisen, die vorhersehbarer machten, was werden wird. Das löste intrapsychische Instabilitäten aus, die auch darin einen Ausdruck fanden, dass die psychischen Kliniken und Ambulanzen Kinder und Jugendliche in großer Zahl abweisen mussten, die dringend einen Therapieplatz gebraucht hätten. Von überlasteten Familien, vom Anstieg von Gewalttaten gegenüber Frauen und Kindern im familialen Umfeld ganz zu schweigen. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht verursachte die COVID-Pandemie maximale Unsicherheit. Wer im Hotel- oder Gaststättengewerbe arbeitete, wusste nicht, ob er morgen noch einen Job haben und seine Familie ernähren können würde. Wer als Freiberufler:in im Unterhaltungs-und Kunstbusiness engagiert war, konnte nicht planen, ob sie/er den täglichen Unterhalt noch aufbringen kann. Bewirkte die Pandemie, dass der soziale Makro- und Mikrokosmos in Deutschland von einem relativ gesicherten Grundgefühl in ein zunehmend unsicheres kippte, lässt sich Vergleichbares in den unterschiedlichen Teilbereichen des Lebens wie z. B. der Schule beobachten. Auch hier hebelte die Pandemie den schulischen Alltag völlig aus: Nicht einmal die basale Rahmenbedingung, dass Schüler:innen wie Lehrer:innen zur Schule kommen, um dort miteinander Unterricht zu gestalten, galt mehr. Dass der anfangs völlig ausgefallene Unterricht allmählich zum Distanzunterricht wurde, brauchte Zeit. Dann fiel auf, dass weder Schüler:innen noch Lehrer:innen entsprechend ausgestattet und kompetent waren, mit den Geräten, der Software und v. a. den Herausforderungen digitalen Unterrichts umzugehen. Erst Schritt für Schritt und regional sehr unterschiedlich bildeten sich Handlungsroutinen in der Krise

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aus, die diese anfangs völlig überfordernden Situationen wieder zu bearbeitbaren Herausforderungen machten. 2.1.2 Was helfen könnte und kann

Was hier geholfen hätte oder nach wie vor helfen könnte – ob von theologischer, religionspädagogischer oder (bildungs-)politischer Seite initiiert: Den Kontrollverlust aufdecken, identifizieren, auf seine Ursachen hin ausloten, fragen, was an diesen Problemursachen abgemildert oder evtl. sogar weggenommen werden kann, um so Kräfte wieder frei zu machen für die Entwicklung neuer Handlungsroutinen und Konzepte. Nach der Pandemie wissen wir, dass ein Großteil der anfänglichen Lähmung gerade im schulischen Kontext dadurch zu erklären ist, dass die Krise so kategorial neu und überhaupt nicht absehbar war, so dass sämtliche Problemlösungsstrategien, die bis dahin schulischen Alltag prägten, versagten. Ein weiterer Grund besteht darin, dass es lange brauchte, bis bei den Beteiligten angekommen war, dass es nach zwei Wochen Pandemie nicht zu Ende sein, sondern dieser Ausnahmezustand unser Leben ziemlich lange bestimmen wird. Die Krise als solche zu benennen, ohne sie zu verharmlosen oder aufzubauschen und Panik auszulösen, hilft, um Kontrolle zurück zu gewinnen. Als z. B. klar war, dass Unterricht nicht wochenlang ausfallen kann, mobilisierten die Schulen oft schneller als die behördlichen Verordnungen erlassen waren, wie die Schüler:innen mit Laptops ausgestattet werden und Lehrkräfte Unterricht digital abhalten konnten. Dieses Identifizieren und Benennen-Können von Krisen ist nicht unbedingt ein Anspruch, der allein der Religion, der Theologie oder den Religionslehrkräften zukommt. Insofern Religion aber qua se eine Sensibilität gegenüber dem auszeichnet, was Menschen angeht, umtreibt, sorgt und freut, ist eine Verletzung oder Gefährdung eines Grundbedürfnisses immer auch ein Punkt, an dem Religions-Akteur:innen gefragt sind. 2.2 Die Funktion des Grundbedürfnisses »Verbundenheit« Als zweites Grundbedürfnis firmiert in der Sozialpsychologie das Streben nach Verbundenheit (connectedness). Jede Person ist angetrieben, Gefühle zu erzielen und aufrecht zu erhalten, die zeigen, dass die/der Einzelne akzeptiert ist, gemocht wird und mit gegenseitiger Unterstützung rechnen kann.12 Dieses Ziel, Verbundenheit und Zugehörigkeit zu empfinden, drückt sich auch darin aus, dass z. B. Gruppenstandards und deren Nützlichkeiten bei Gruppenmit12 Vgl. ebd.

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gliedern mehr zählen als ein übergeordneter Nutzen. Smith, Mackie und Claypool illustrieren dies über ein Beispiel aus dem Nahost-Konflikt. Hier ist immer wieder zu beobachten, dass die Konfliktparteien den Nutzen für die je eigene Gruppe höher ansetzen als das Ende des Konflikts und einen Frieden für alle.13 2.2.1 Wie die Pandemie das Grundbedürfnis Verbundenheit störte

Vielleicht sogar noch sichtbarer als das Grundbedürfnis Kontrolle störten die Pandemie und ihre begleitenden Maßnahmen das Grundbedürfnis Verbundenheit. Die verordneten Kontaktbeschränkungen konzentrierten Menschen auf den Nahbereich. Wer als Single lebte, musste mit der verordneten Einsamkeit zurechtkommen. Auch die Art und Weise des Kontakts änderte sich durch die Pandemie flächendeckend und in bis dato nicht gekannter Intensität. Weil körperliche Nähe zur medizinischen Gefahrenquelle wurde, blieb das digitale Format als oft einzige Kontaktmöglichkeit bzw. das Telefon oder auch der schon längst in Vergessenheit geratene Brief. Zugehörigkeiten zu Gruppen, auch wenn sie nur zeitweise oder anonym erfolgten – wie bei Konzert-, Gastronomie-, Clubs-, Theaterbesuchen – waren nicht mehr möglich. Selbst feste Zugehörigkeiten, wie Lebenspartnerschaften, die als Fernbeziehungen funktionierten, wurden durch die pandemischen Bedingungen v. a. im ersten Lockdown auf nahezu menschenunwürdige Weise beschränkt. All dies hinterließ Spuren. Für Kinder und Jugendliche wirkte sich die medizinisch richtig indizierte Maßnahme, sich so wenig wie möglich mit anderen Menschen zu treffen, verheerend aus. Wir wissen heute noch mehr als vor der Pandemie, wie sehr die Schule als sozialer Ort für Kinder und Jugendliche fungiert. Dort treffen Schüler:innen ihre Freunde, dort finden sie Kontakt. Als die Schule ausfiel und selbst als der Distanzunterricht eingeführt wurde, litten viel zu viele Schüler:innen darunter, nicht mehr die gewohnten Begegnungsmöglichkeiten zu haben. Ist aber das Grundbedürfnis Verbundenheit gestört, haben Menschen keine Bezugsmöglichkeiten mehr, auf die sie zählen können und in denen sie akzeptiert sind, löst dies Verunsicherungen aus – intrapsychische genauso wie soziale. Regression, Aggression, Depression sind die bekanntesten Reaktionsmuster, die sich auch viel zu oft in der Schüler:innenschaft bemerkbar machten. Hier Alternativen anzubieten, ist von daher höchst notwendig.

13 Ebd.

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2.2.2 Was helfen könnte und kann

In Kontext Schule wurde sehr schnell deutlich, dass das durch die Pandemie gestörte Grundbedürfnis der Verbundenheit auf anderen Wegen wiederhergestellt werden muss. Selbst als noch die asynchronen Lehr-/Lernformate den Distanzunterricht bestimmten, weil die entsprechenden Serverkapazitäten noch nicht zur Verfügung standen, wurde Lehrkräften klar, dass sie anderweitig Kontakt mit ihren Schüler:innen suchen mussten. Lehrkräfte erzählten, dass sie Klassenmails verfassten oder sogar die einzelnen Schüler:innen adressierten. Andere riefen – sofern die Schüler:innen und Eltern das erlaubt hatten – jede Woche einmal bei ihnen an und fragten, wie es ihnen geht. Wieder andere erzählten von höchst kreativen Videos, die sie hochluden, nicht nur um Lernstoff aufzubereiten, sondern um Schüler:innen zu ermutigen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie alle gemeinsam unterwegs sind und die Lehrerin an sie denkt. Es stimmt, dass es eine Herkulesaufgabe für Lehrkräfte und Schüler:innen war, gute didaktische Settings für Distanzunterricht zu entwickeln und Lernen damit auch in Coronazeiten zu ermöglichen. Eine mindestens genauso wichtige Aufgabe war es, Schüler:innen wieder »sicherer« zu machen, sie Zugehörigkeit und Verbundenheit spüren zu lassen. Die Religionslehrkräfte und der Religionsunterricht waren in der Schule nicht die einzigen Akteur:innen und Orte, an denen dies gefordert war. Weil Religion aber nicht denkbar ist ohne Verbundenheit, schauten viele auf die Religionslehrer:innen und den Religionsunterricht und erhofften sich, dass zumindest dort, die für die gesamte Schule wichtige Verbundenheit ein wichtiges Augenmerk bekommt. 2.3 Die Funktion des Grundbedürfnisses Wertschätzung des Ich und des Eigenen Eng verbunden mit dem Grundbedürfnis der Verbundenheit ist das Grundbedürfnis, sich selbst und diejenigen, die einem wichtig sind, die eigene Familie oder auch die eigene Nation in einem positiven Licht zu sehen (valuing me and mine).14 Weil es nicht egal ist, was andere über einen denken, motiviert dieses Grundbedürfnis Menschen und soziale Gruppen dazu, alles Mögliche zu tun, um dieses Wohlgefallen zu erlangen. Artikuliert das Grundbedürfnis Verbundenheit also schon die Bedeutung, nicht für sich alleine da zu stehen, unterstreicht das dritte Grundbedürfnis, dass Menschen und soziale Gruppen auch Enormes bereit sind einzusetzen, 14 Vgl. ebd.

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um in dieser Verbundenheit und damit auch als Einzelner oder als bestimmte Gruppe gut da zu stehen. 2.3.1 Wie die Pandemie das Grundbedürfnis Wertschätzung störte

Insofern die medizinisch notwendigen Maßnahmen die Verbundenheit der Menschen stark einschränkte, erlebten sich viele nicht nur abgesondert, sondern auf sich zurückgeworfen. Die Menschen, die einem im vorpandemischen Alltag selbstverständlich und eher by the way signalisierten, dass man »ganz ok« war, fehlten jetzt. Die Möglichkeiten, sich im sozialen Gefüge einzuschätzen, ohne großen Aufwand taxieren zu können, wo man in der Gruppe stand, welche Position man dort einnahm, fielen weg. Ist das für Erwachsene schon schwierig, ist dies für Kinder und v. a. Jugendliche ein Desaster. In einer Zeit, in der die peers wichtiger sind als selbst die Familie, um auszutesten, wer man sein will, ist es eine Katastrophe, wenn diese wichtige Gruppe wegbricht. Gefragt nach dem, was Kindern und Jugendlichen in den Lockdowns am schwersten fiel, antworteten beide Kohorten: die Freunde.15 Wenn Wertschätzung aber fehlt, wenn das Wissen, dass man gut dasteht, keinen Widerhall findet, dann geht es mit der Zeit auch verloren. Und genau hier können Religion, Theologie und eben auch der Religionsunterricht viel einbringen. 2.3.2 Was helfen könnte und kann

Allein die geschriebene Mail, die Nachfrage, wie es geht, was die Kinder und Jugendlichen gerade machen, was sie umtreibt, sind Möglichkeiten, Wertschätzung auszudrücken, die in den Lockdowns von Lehrkräften vielfach genutzt wurden. Lehrkräfte erzählten, dass sie in den Corona-Lockdowns noch mehr als sonst den Eindruck hatten, dass es wichtig war, in der Unterrichtszeit immer wieder Meta-Reflexionsphasen einzubauen, in denen Schüler:innen erzählen konnten, was ist. Zeit zugestanden zu bekommen, Zuhörer:innen zu haben, mitzubekommen, dass man mit den eigenen »nicht so tollen Sachen« nicht alleine ist und es auch anderen gerade schwer fällt, sich zu konzentrieren, hat immer etwas mit Wertschätzung zu tun. In Lockdown-Zeiten waren diese Momente überlebenswichtig. Auch hier gilt: Religionslehrkräfte und der Religionsunterricht sind hoffentlich nicht die einzigen, die dies im Blick haben; sie sind aber allein schon aufgrund »ihrer Sache«, weil Religion zuinnerst und zutiefst das den Menschen Stärkende und Aufrichtende anzielt, darauf verwiesen. 15 Vgl. Calmbach, Marc/Flaig, Bodo/Edwards, James u. a. (Hg.), Wie ticken Jugendliche? 2020, 579.

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Sind die Bearbeitungen der Grundbedürfnisse und deren Störungen Aufgabe aller in der Schule Engagierten, so kann der Religionsunterricht aufgrund seiner Spezifik »Religion« und damit »Theologie« etwas einbringen, das gerade in Krisenzeiten von besonderer Relevanz ist. Im Folgenden soll zumindest eines dieser Deuteangebote – hier aus der christlichen Theologie – entfaltet werden.

3 Theologische Option: Wider das PerfektionierungsParadigma dem Scheitern ins Gesicht schauen Die Krisen der letzten Jahre und besonders die Corona-Krise hat uns als Einzelne und als Gesellschaft deutlicher denn je vor Augen gestellt, wie verletzlich wir sind, und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen: Das unsichtbare Virus, kleiner als 100 Nanometer, hat Tausende von Menschenleben gekostet und Millionen von Menschen krankgemacht. Selbst wenn man sich an die Hygiene- und Abstandsregeln hielt, konnte man sich vor einer Ansteckung nicht zu 100 % sicher sein. Uns wurde auf schreckliche Weise vor Augen geführt, dass wir körperlich verletzlich sind und auch jung zu sein keine Garantie darstellt, nicht krank zu werden. Dass unsere Wirtschaftssysteme im ersten Lockdown zu zerbrechen schienen, dass viele arbeitslos geworden sind und geschlossene Geschäfte nie mehr wieder öffnen konnten, waren andere Erfahrungen von Vulnerabilität. Die Liste könnte man noch lange fortsetzen. Die eigentliche Krisenerfahrung war m. E. nicht, dass Menschen und Gesellschaften vulnerabel sind – gestorben wurde schon vorher und (Wirtschafts-)Systeme implodierten auch früher. Die Corona­ krise machte aber deutlich, dass unsere bisherigen Sicherungssysteme nicht mehr halfen und wir die Verwundbarkeit nicht mehr wegreden konnten. Es traf nicht mehr nur die anderen – die Älteren, die wirtschaftlich Schwächeren; das Virus traf alle. Hatte es in westeuropäischen Gesellschaften ziemlich gut funktioniert, Schwächen und Schwache zu überdecken, neoliberalistisch sogar für ihre Schwächen selbst verantwortlich zu machen, so sprang die Verletzlichkeit nun allen ins Gesicht. Darauf aber waren wir nicht vorbereitet in einer Gesellschaft, in der das Höher – Schneller – Weiter zum Mechanismus avanciert war, jede Schwäche nur als Übergangsstadium für eine zukünftige Stärke zu lesen. Das Perfektionierungs-Paradigma funktionierte nicht mehr.16 Wohin also mit so viel Verletzlichkeit und dem Gefühl, der Krankheit und auch der zerbrechlichen sozialen Welt verloren ausgesetzt zu sein? 16 Vgl. Schambeck, Mirjam, Grundverunsicherungen, 5.

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Christliche Theologie, die ihre Mitte im gescheiterten Gekreuzigten findet, könnte hier viel anbieten – nicht in einem besserwisserischen Modus, sondern als Deuteangebot, mit diesen Überlegungen das eigene Leben abzutasten und dabei vielleicht etwas Stärkendes zu finden. Dem Verdrängen des Schwachen und des Scheiterns könnte eine sich am Gekreuzigten orientierende Gottrede dagegenhalten, dass das Scheitern nicht nur und v. a. nicht letztgültig zum Desaster des Lebens werden muss. Eine solche Theologie könnte ermutigen, dem Scheitern ins Gesicht zu schauen, zuzugeben, dass etwas schwer, ja überwältigend ist, der Trauer über dieses verlorene Leben einen Ort geben und zugleich wachhalten, dass mit diesem Scheitern keine Totalaussage über das eigene Leben getroffen ist. Weil Jesus in seinem Kreuzestod diese Erfahrung des Scheiterns auch in Gottes Geschichte hineingeschrieben hat, gilt zumindest das Angebot an uns, diesen Gott von unserem Leid nicht fern zu wissen. Und auch wenn es so überhaupt nicht der eigenen Erfahrung entspricht und in der Situation der Schwäche unvorstellbar bleibt, dass sich das Leben einmal wieder anders anfühlen wird, so könnte, ganz leise zumindest, die Zusage Mut machen, dass das Verheerende hoffentlich auch bei uns nicht das letzte Wort haben wird. Eine solche Theologie könnte damit nicht nur der und dem Einzelnen in je ihrer/seiner Lebenssituation stützend zur Seite stehen. Sie trüge auch gesellschaftlich viel aus, insofern wir lernen könnten, dass uns nicht die Perfektion der vermeintlich freien Märkte sichert, nicht das Wegreden von Pro­ blemen und Übertünchen von Klimasorgen eine gute Zukunft erlaubt, sondern ein ehrliches Vergewissern, was ist, und ein Sammeln aller Ressourcen, um miteinander weiter zu kommen. Die Theologien könnten hier als Lebenskunst fungieren, ganz ähnlich wie es die japanische Tradition des Kintsugi vormacht.17 Dort werden zerbrochene Keramikstücke nicht möglichst perfekt ineinandergepasst. Brüche werden nicht ununsichtbar gemacht. Kintsugi macht sie vielmehr sichtbar, indem es die Bruchstellen in einem aufwändigen Lackierungsverfahren verklebt und mit Gold- oder Silberpigmenten verziert. Waren sie vorher Makel, sind sie jetzt Kostbarkeiten, die das Gefäß schöner und wertvoller machen als zuvor. Auch wenn das nicht heißen soll, Brüche schön zu reden, so könnte die Theologie einladen, diese Lebenskunst zumindest kennenzulernen und zu prüfen, ob sie etwas auch für das eigene Leben austrägt. Zu fragen bleibt dann noch immer, warum die Theologie und die Kirchen als Teil-Akteurinnen theologischer Wissenschaftlichkeit gesellschaftlich und v. a. für die Menschen so wenig von Belang sind. 17 Vgl. Schambeck, Mirjam, Grundverunsicherungen, 5 f.

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4 Vom Empowerment des Religionsunterrichts in Krisenzeiten So sehr natürlich stimmt, dass der Religionsunterricht nicht alles rettet und der Krisenbewältigungsort in der Schule schlechthin ist, so kann er trotzdem seinen Beitrag leisten, nimmt man die oben identifizierten Krisenmomente ernst. Ohne hier eine abschließende Liste seiner Möglichkeiten aufzuzählen, sollen einige Vorschläge gemacht werden, wie der Religionsunterricht Empowerment in Krisenzeiten leistet. 4.1 Durch Rituale Struktur anbieten Ein Beitrag auf den durch die Coronapandemie ausgelösten Kontrollverlust kann sein, durch Rituale zu einer Strukturierung des Schulalltags beizutragen. Ein Ritual zu Stundenbeginn, ein Ritual am Ende, selbst wenn sie nicht inhaltlich religiös ausgestaltet sind, kann Schüler:innen helfen, Struktur zu finden. Struktur aber ist aufgrund ihres Wiederholungscharakters eine basale Voraussetzung, Situationen übersichtlicher und damit kontrollierbarer zu machen. Wenn die Rituale zudem so sind, dass die Schüler:innen einbezogen werden – das Gedicht oder den Song zu Beginn, darf jede und jeder einmal auswählen – dann ist das Ritual nicht nur ein Mittel zur Strukturierung, sondern ein Ausdruck, Verbundenheit zu ermöglichen. 4.2 Verbundenheit ermöglichen Auch wenn die digitale Lehr-Lernkultur viel Positives und Unhintergeh­bares gezeigt hat, so ist doch deutlich geworden, dass die personale Struktur von Lehr-Lern-Relationen unersetzbar ist. Die Lehrperson kann eben gerade nicht vollumfänglich durch E-Learning-Programme und -Trainings ersetzt werden. Das hat auch etwas mit dem Grundbedürfnis nach Verbundenheit zu tun, das ebenso in der Schule eine wichtige Rolle spielt. Diese immer wieder zu ermöglichen, kann ein bedeutender Beitrag des Religionsunterrichts in Krisenzeiten sein. Der Phantasie sind dafür so gut wie keine Grenzen gesetzt. 4.3 Für eine Lernkultur der Fehlerfreundlichkeit einstehen Blieb aus der Analyse der Grundbedürfnisse, wie sie die Sozialpsychologie kennt, übrig, dass Wertschätzung ein wichtiger Faktor ist, damit soziale Gruppen funktionieren, so kann das, übertragen für den Religionsunterricht, auch

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heißen, für eine Lernkultur der Fehlerfreundlichkeit einzustehen. Das ist nicht nur lernpsychologisch hilfreich.18 Wenn ernst genommen wird, dass Perfektion kein Maßstab für ein Leben in einer hochkomplexen Gesellschaft mehr sein kann, dann muss diese Erkenntnis schon in der Schule beginnen. Das hat Auswirkungen im Umgang miteinander, v. a. mit solchen, die (lern-)schwächer sind. Das zeigt sich aber auch im Feedback- und Feed-Forward-Verhalten. Fehler und gescheiterte Unterrichtssituationen werden dann v. a. daraufhin reflektiert, was an Unterstützung nötig ist, um es das andere Mal besser zu machen und mehr zu lernen. 4.4 Absichtslose Zeiten einbauen Vielleicht sogar mehr als andere Fächer kann der Religionsunterricht zum Garanten in der Schule werden, die alltagsunterbrechende Funktion und damit die der Religion eigene Absichtslosigkeit in der Schule einzuspielen. Indem nicht jede Unterrichtszeit intentionale Lernzeit ist, sondern auch Zeit zum Verweilen und Innehalten anbietet, kann der Religionsunterricht einen Beitrag zu einer Schulkultur leisten, in der es neben und angesichts des anzueignenden Wissens immer und zuerst um die Persönlichkeitsbildung der Schüler:innen geht.19 Religionsunterricht könnte so v. a. zu lernen geben, dass Krisen nicht wegzuredende Störungen sind, sondern zum Leben gehören. Das macht sie nicht sofort leichter; aber es nimmt das Gefühl, zufällig getroffen worden und als Pechvogel übrig geblieben zu sein, das vereinzelt. Sich gemeinsam vor und in Krisen zu wissen, könnte dagegen einen Solidarisierungsschub auslösen, den wir nötiger brauchen denn je. Literatur Calmbach, Marc/Flaig, Bodo/Edwards, James u. a. (Hg.), Wie ticken Jugendliche? 2020. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Bonn 2020. DKV-Vorstand, Statement zur Systemrelevanz des Religionsunterrichts, in: unterwegs (2020) H. 2, 3 f. EKD, Religiöse Bildung bleibt unverzichtbar – Religionsunterricht in der Corona-Krise, in: https:// www.ekd.de/religionsunterricht-in-der-corona-krise-61428.htm. Hattie, John, Lernen sichtbar machen, überarb. deutschsprachige Ausgabe von »Visible Learning« besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer, Baltmannsweiler 42013. 18 Vgl. Hattie, John, Lernen sichtbar machen, 280. 19 Vgl. DKV-Vorstand, Statement zur Systemrelevanz des Religionsunterrichts, 4; EKD, Religiöse Bildung bleibt unverzichtbar, 1.

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Hurrelmann, Klaus/Schnetzer, Simon, Jugend in Deutschland. Jugend im Dauerkrisenmodus – Klima, Krieg, Corona (= Jugendtrendstudie Sommer 2022) o. O. 2022. Pollack, Detlef, Was eine säkulare Gesellschaft von den Kirchen (nicht) braucht, in: Kropač, Ulrich/ Schambeck, Mirjam (Hg.), Konfessionslosigkeit als Normalfall. Religions- und Ethikunterricht in säkularen Kontexten, Freiburg i. Br. 2022 i. E. Rothermund, Klaus/Eder, Andreas, Allgemeine Psychologie: Motivation und Emotion, Wiesbaden 2011. Schambeck, Mirjam, Grundverunsicherungen – und was Religion anzubieten hat, in: feinschwarz vom 2. Dezember 2020, https://www.feinschwarz.net/grundverunsicherungen-und-wasreligion-dazu-anzubieten-hat/. –, Spoiled youth – betrogen durch Corona!, in: feinschwarz vom 24. November 2020, https:// www.feinschwarz.net/spoiled-youth-betrogen-durch-corona/. Smith, Eliot R./Mackie, Diane M./Claypool, Heather M., Social Psychology, 4th Edition revised, London 2014. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

Krieg, Klima und andere Krisen – religiöse Bildung in einer (aus-)sterbenden Welt Claudia Gärtner

1 Einleitung Es begann mit einer harmlosen Frage nach einem Müslibrötchen. Früh am Sonntagmorgen bestellte ich in der noch leeren Bäckerei ein Müslibrötchen. Die gebe es nicht mehr, antwortete die Bäckereifachverkäuferin. Man habe nicht mehr genügend Fachpersonal, um ein umfassendes Sortiment bereitzustellen, zu viele seien an Corona erkrankt und außerdem wären die Löhne zu gering – wie überall, so z. B. auch in der Pflege bei ihrer Schwester, die nun 50 statt 30 Stunden pro Woche arbeiten müsse. Hoffentlich würden ukrainische Flüchtlinge bald eingestellt, obwohl das ja furchtbar sei mit dem Krieg. Sie hätte große Sorge vor einem Atomkrieg, da würde sie lieber ohne Gas frieren. Um den Redefluss wieder in Richtung Backwaren zu lenken, streute ich eine Bemerkung zur anstehenden Präsidentschaftswahl in Frankreich ein, in der Hoffnung, so vielleicht zumindest an ein Croissant zu gelangen. Diesen Gesprächsimpuls griff die Verkäuferin dankbar auf und äußerte ihren Unmut über die rechtsradikale Kandidatin – wenn die gewänne, dann »Gute Nacht«! Zum Glück kamen weitere Kund:innen, so dass ich meinen Einkauf beenden und mit einem »Schönen Sonntag noch, ist ja wenigstens Sonnenschein!« die Bäckerei verlassen wollte. »Danke, aber wir brauchen endlich Regen, das Wetter spielt ja verrückt,« rief die Frau mir nach – und der Sonntag erschien plötzlich gar nicht mehr so schön. Corona, Fachkräftemangel, Niedriglohn, Krieg, Flucht, atomare Bedrohung, Rechtsextremismus, Demokratie-, Energie- und Klimakrise – der Verkäuferin gelang es, zwischen Müslibrötchen und Croissant zu illustrieren, was Alex Demirović als »multiple Krise«1 bezeichnet. Wir bewegen uns nicht von einer Krise in die nächste. Die Frage, wann das Leben endlich wieder »normal« und Corona, Klima oder Krieg vorbei seien, zielt an der Krisenproblematik vor1 Vgl. Demirović, Alex, Multiple Krise, 193–215.

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bei. Denn die einzelnen Krisen sind eng verwoben und Ausdruck sowie Folge einer vielschichtigen Krise, deren zentrale Ursache im hegemonialen Kapitalismus bzw. Neoliberalismus gesehen wird.2 Eine religionspädagogische Fokussierung auf ein einzelnes Krisenphänomen wie der Klimakatastrophe oder der Coronapandemie greift zu kurz. Daher werden im Folgenden einzelne Krisenphänomene zwar immer wieder zur Konkretisierung und Ausschärfung hinzugezogen, aber es soll grundlegender gefragt werden, inwiefern religiöse Bildung einen Beitrag zur Bewältigung der multiplen Krise beitragen kann. Ich habe angesichts der multiplen Krise vor einigen Jahren nach religiöser Bildung in einer verwundeten Welt gefragt3 und dabei in Anlehnung an den von Theodor W. Adorno eingebrachten und von der Würzburger Synode rezipierten Begriff der »verwalteten Welt«4 versucht, eine zeitdiagnostische Metapher zu finden. Angesichts von Mord und Gewalt in der Ukraine und in vielen weiteren Kriegen weltweit, des immer noch ungebremsten Klimawandels sowie eines drastischen Artensterbens muss die Zeitdiagnose nochmals geschärft werden. Ich möchte daher im Folgenden einer religiösen Bildung in einer (aus) sterbenden Welt nachgehen.

2 Bildung für nachhaltige Entwicklung als Ausgangspunkt für religiöse Bildung? Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ist ein seit Jahrzehnten international etabliertes Konzept. Spätestens seit der »Agenda 21« (1992, UN-Konferenz Rio) wurde Nachhaltigkeit zu einem zentralen Begriff, der ökologische und ökonomische Interessen zu verbinden sucht und in dessen Horizont BNE national und international an Bedeutung gewann. Leitend sind dabei 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG), die sicherstellen sollen, »dass alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben, unter anderem durch Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensweisen, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Weltbürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt und des Beitrags

2 Vgl. Blühdorn, Ingolfur/Butzlaff Felix/Deflorian, Michael u. a. (Hg.), Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. 3 Vgl. Gärtner, Claudia, Klima, Corona und das Christentum. 4 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg), Der Religionsunterricht in der Schule, Art. 2.3.4.

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der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung.«5 Mittlerweile existiert eine breite BNE-Infrastruktur, bestehend aus entsprechenden Netzwerken, Bildungsbüros, Internetplattformen und unzähligen Bildungsmaterialien. Religiöse Bildung findet somit eine ausdifferenzierte, globale Bildungslandschaft vor, an die sie anknüpfen kann, da grundlegende BNE-Ziele mit religiösen Bildungszielen vereinbar sind. Doch bei genauerer Analyse sollte, so die These, religiöse Bildung nicht unkritisch BNE-Konzeptionen übernehmen. Denn auffällig ist bei den SDG, dass die Ziele äußerst weit gefasst werden und nebeneinanderstehen. Damit sind sie zum einen komplex ausdifferenziert, so dass sie auf multiple Krisen bezogen werden können; zum anderen besteht die Gefahr, dass sie unzusammenhängend nebeneinander stehen bleiben, ohne hinreichend miteinander vernetzt oder hierarchisiert zu werden. Dann täuscht ein ausdifferenzierter Nachhaltigkeitsbegriff gerade über Konflikte und Krisen hinweg, weil Zielkonflikte ausgeblendet werden. So wird z. B. im Angriffskrieg auf die Ukraine deutlich, dass Frieden und Gerechtigkeit (Ziel 16) mit sauberer Energie (Ziel 7) und Wirtschaftswachstum (Ziel 8) in Spannung stehen. Das Stockholm Resilience Center hat die SDG daher in der Form einer Hochzeitstorte in eine hierarchische Anordnung gebracht. Die Basis der SDG bilden hierbei Ziele zum Erhalt der Biosphäre, gefolgt von gesellschaftlichen Zielen, auf denen wiederum ökonomische aufbauen. Deutlich wird an diesem Tortenmodell, dass ohne ökologische Grundlagen sowohl gesellschaftliche als auch ökonomische Ziele ins Wanken geraten. Gesellschaftliche Ziele wiederum sind die Basis für Wirtschaftswachstum oder nachhaltigen Konsum. Zugleich macht das Modell deutlich, dass es Konflikte zwischen den Nachhaltigkeitszielen gibt, wenn z. B. ökologische Ziele mit ökonomischen konfligieren. Verstärkend kommt hinzu, dass der Nachhaltigkeitsbegriff wie auch leitende Nachhaltigkeitskonzeptionen ökonomischen Ursprungs sind, ohne dass diese Wurzeln des Nachhaltigkeitskonzepts immer ausreichend reflektiert werden und zu einer anthropozentrischen Verengung von BNE und Nachhaltigkeit führen können.6 Ansätze einer transformativen Bildung fordern daher viel grundlegender, dass Bildung auf eine »qualitative Veränderung von Selbst- und Weltbildern [zielt …]. Dabei geht es zum Beispiel um unsere Beziehung zu anderen Menschen und zur natürlichen Welt, unser Verständnis von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und von globaler Gerechtigkeit, unsere Visionen alternativer Lebensentwürfe«7. Ein solches Verständnis transformativer Bildung 5 Vereinte Nationen, Transformation unserer Welt. 6 Vgl. Pufé, Iris, Nachhaltigkeit. 7 Konzeptwerk Neue Ökonomie, Was ist transformative Bildung?

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bietet ebenso religionspädagogische Anknüpfungspunkte wie Globales Lernen, das z. B. im »Orientierungsrahmen Globales Lernen«8 seinen Niederschlag findet. Hierin wird BNE mit Prinzipien Globalen Lernens verknüpft, wobei der Fächergruppe Religion/Ethik explizit die bedeutende Aufgabe zugeschrieben wird, »gewissermaßen ›quer‹ zu den übrigen Fächern übergreifende (ethische) Fragestellungen zu thematisieren … Auf diese Weise wird in der Fächergruppe gewissermaßen das Herzstück globaler Entwicklung selbst nochmals verhandelt und in kritischer Reflexion thematisiert: Das Leitbild einer nachhaltigen globalen Entwicklung ist als solches bereits ethisch ›aufgeladen‹, weil es ja handlungsorientierend und handlungsleitend sein soll.«9 In dieser kritischen und zugleich ethisch und normativ aufgeladenen Perspektive soll nun nach einem Beitrag von religiöser Bildung angesichts einer (aus-)sterbenden Welt gefragt werden.

3 Religion als Quelle von Resilienz!? In den zahlreichen Krisen wird Religion immer wieder zugeschrieben, sie könne individuelle und gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit stärken, indem sie Deutungsmuster, Narrative und Rituale besitze, um mit Krisen und Katastrophen umzugehen. Dabei wird insbesondere auf die spirituelle Kraft von Religion verwiesen, da sich hierdurch »langfristig eine gelassene, weise Auffassung des eigenen Selbst und der Welt einstellt.«10 Insbesondere zu Beginn der CoronaPandemie wurden in diesem Sinne brennende Kerzen in Fenster gestellt, es wurden Rituale des gemeinsamen Klatschens oder Singens entwickelt und der Papst feierte trotz Lockdown Liturgie auf dem leeren Petersplatz. Das Konzept der Resilienz zielt nicht nur auf individuelle Ressourcen, sondern bezieht sich auch auf die Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit von gesellschaftlichen (Teil-)Systemen. So wird seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine mit Hochdruck an einem resilienten Energiesystem gearbeitet, die Coronapandemie hat ein resilienteres Gesundheitssystem eingefordert und angesichts ausgedehnter Dürreperioden soll der deutsche Wald klimaresistent umgebaut werden. Zweifelsohne ist Resilienz eine notwendige Eigenschaft von Individuen und Systemen, doch zugleich ist dieses Konzept hochproblematisch. Denn es setzt weitgehend auf den Umgang mit Krisen und weniger auf deren Vermeidung, wenn z. B. klimatische Anpassungsmaßnahmen fokussiert werden,   8 Vgl. BMZ/KMK, Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung.   9 Ebd., 272. 10 Fathi, Karim, Resilienz im Spannungsfeld, 32 f.

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statt den CO2-Ausstoß zu senken. Resilienz-Konzepte laufen somit Gefahr, Strategien für Opfer zu bieten, ohne das Verursacherprinzip zu berücksichtigen. Dies wiegt umso schwerer, da die Opfer oftmals mehrfach betroffen sind. So waren ökonomisch benachteiligte Personen häufiger in den ersten Corona-­Wellen erkrankt, in kleineren Wohnungen bei schlechterer digitaler Ausstattung vermehrt bildungsbenachteiligt und stärker von psychischen Folgen betroffen. In dieser Perspektive ist ein Fokus auf individuelle Resilienz ungerecht. Daher sind »wir im Zeichen von Resilienz umso mehr dazu aufgefordert, uns nicht anzupassen und abzufinden mit der Welt, in der wir leben, sondern im Gegenteil darauf zu bestehen, dass wir sie verändern können … Und wir sind und bleiben aufgefordert, Strukturen und Machtverhältnisse, die Lebensgrundlagen zerstören und Ausbeutung, Ausgrenzung und Angst befördern, als das zu begreifen, was sie sind: nicht ontologisch, sondern menschengemacht.«11 Dies lässt sich auch aus theologischer Perspektive unterstreichen. Die Botschaft Jesu stellt nicht die individuelle Anpassung an Zustände oder den spirituellen Umgang mit vermeintlich schicksalhaften Situationen ins Zentrum, sondern sie verheißt das Reich Gottes, optiert für die Armen, prangert Missstände an und klagt Gerechtigkeit ein. Ebenso erweist sich die christliche spirituelle Praxis, insbesondere die christliche Mystik nicht nur als bestärkend, sondern sie ist auch unterbrechend, verunsichernd, störend. »Resilienz setzt auf Ostern, (… ohne zu) bedenken, dass christliche Gotteserfahrung auch die Erfahrung des Mit-Gekreuzigtseins ist und dass selbst der Auferstandene die Wundmale trägt.«12 Ein theologischer Resilienzbegriff müsste Karfreitag und Ostern zugleich umfassen, um nicht zu einem stabilisierenden Faktor von krisenhaften Situationen zu werden, wie Julia Lis mit der politischen Theologie von Johann Baptist Metz betont. Denn während «der Resilienzbegriff, wie er heute im neoliberalen Diskurs gebraucht wird, Widerstandsfähigkeit zu einer individuellen, erlernbaren Kompetenz von Individuen macht, die es ihnen ermöglicht, in der Katastrophe zu bestehen, meint geschichtliche Widerstandsfähigkeit bei Metz gerade den gemeinsamen Kampf um das Subjektseinkönnen aller Menschen. Den entscheidenden Unterschied macht dabei die Verknüpfung von Subjektwerdung und Solidarität aus.«13 Im Folgenden soll daher mit dem Begriff »Empowerment« ein Ausgangspunkt für religiöse BNE angesichts der multiplen Krise gesucht werden, der die mystisch-spirituelle und politische Dimension des Christentums zusammendenkt. 11 Graefe, Stefanie, Resilienz im Krisenkapitalismus, 195 f. 12 Bederna, Katrin/Gärtner, Claudia, Resilienz in der Klimakrise? 13 Lis, Julia, Subjektwerdung unter neoliberalen Bedingungen, 288.

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4 Religion als Quelle von Empowerment?! 4.1 Empowerment und Religionspädagogik Der Begriff des Empowerments wird von der UNESCO in Hinblick auf die Bekämpfung des Klimawandels durch BNE verwendet14 und auch in der Religionspädagogik insbesondere über die »Pädagogik der Befreiung« von Paulo Freire rezipiert.15 Grundlegend lässt sich dabei als Ziel umreisen, »für Menschen die Möglichkeiten zu erweitern, ihr Leben zu bestimmen«16, wobei primär soziale, politisch-gesellschaftliche Veränderungen, aber nicht individuelle Anpassungsleistungen fokussiert werden. Dies gilt es hinsichtlich gesellschaftlicher Tendenzen zur Selbstoptimierung und zum unternehmerischen Selbst zu betonen. Ulrich Bröckling warnt daher vor einem strukturell-machtvergessenen, individualpsychologisch verkürzten Konzept von Empowerment,17 das wie der Resilienzbegriff in einer »Grundstruktur neoliberaler Responsibilitätsverlagerung und Machtausübung durch Subjektivierung«18 verbliebe. Empowerment ist vielmehr der Machtbegriff inhärent und drängt somit auf die Thematisierung von Machtfragen. Wenn Empowerment »so etwas wie ein Scharnier dar(stellt), das die strukturellen Ressourcen (den gesellschaftlichen Möglichkeitsraum) und die personellen Ressourcen (den personalen Möglichkeitsraum) verbindet«19, dann sind hierbei auch Machtverhältnisse in Frage zu stellen. Michael Domsgen hat eine Religionspädogogik vorgelegt, in der Empowerment zur regulativen Idee wird.20 Hierin markiert Empowerment »eine spezifische Perspektive, unter der die Kommunikation des Evangeliums im Medium von Lernprozessen beschrieben und religionspädagogisch fruchtbar gemacht werden kann.«21 Es geht ihm in einer an Empowerment orientierten Religionspädagogik um eine das Christliche in Anspruch nehmende, darauf fußende und sich davon berühren lassende Lebensform.22 Wie könnte eine solche Lebensform in Hinblick auf die BNE angesichts der multiplen Krise aussehen? Wel14 Vgl. UNESCO/UNFCC, Action for climate empowerment. 15 Vgl. Freire, Paolo/Schreiner, Peter (Hg.), Unterdrückung und Befreiung; ders., Bildung und Hoffnung; ders., Pädagogik der Autonomie. 16 Rappaport, Julian, Ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeit, 269. 17 Vgl. Bröckling, Ulrich, You are not responsible, 323–344. 18 Bucher, Georg/Domsgen, Michael, »Empowerment« in religionspädagogischer Perspektive, 434. 19 Röh, Dieter, Soziale Arbeit, 239. 20 Vgl. Domsgen, Michael, Religionspädagogik, 343–346. 21 Ebd., 373. 22 Vgl. ebd., 369.

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chen spezifischen Beitrag kann das Christentum leisten – gerade in einer weltanschaulich pluralen, postsäkularen Welt? 4.2 Empowerment und religiöse Bildung in einer (aus-)sterbenden Welt Zahllose kirchliche Veröffentlichungen haben in den letzten Jahren sowohl auf die Dringlichkeit eines nachhaltigen Lebens als auch auf die christliche Verantwortung hingewiesen. Am bekanntesten ist sicherlich die Enzyklika Laudato sí (2015) von Papst Franziskus. Er verknüpft hier in äußerster Deutlichkeit ökologische, ökonomische und soziale Fragen. Die Klimakrise ist für Franziskus Teil einer multiplen Krise, ohne dass er diese Begrifflichkeit explizit verwendet. Er führt soziale und ökologische Missstände auf den Kapitalismus zurück und spart nicht mit Kritik an einer naiven Technikgläubigkeit und Technokratie. Eindringlich fordert er zur Umkehr auf, insbesondere der Wirtschaft, und plädiert für Postwachstumsstrategien. Im Fokus stehen die Armen, Unterdrückten und Entrechteten, die zum Maßstab des (christlichen) Handelns und Wirtschaftens werden müssen. Dabei richtet sich der Papst – und dies ist für eine Enzyklika bemerkenswert – nicht nur an Christ:innen, sondern Franziskus möchte »in Bezug auf unser gemeinsames Haus in besonderer Weise mit allen ins Gespräch kommen« (LS 3). Weiterhin bemerkenswert ist, dass dieser Text auch außerhalb kirchlicher Kreise positiv, teils sogar euphorisch aufgenommen wurde, insbesondere in der Klimabewegung, aber auch von vielen Politiker:innen unterschiedlichster Parteien. Dies zeigt zum einen, dass eine religiöse Betrachtung der ökologischen Krise an postsäkulare Diskurse anschlussfähig ist, ja sogar inspirierend sein kann; zum anderen lässt sich hieran aber auch die Frage aufwerfen, was das genuin Christliche an dem Umgang mit der multiplen Krise ist, das nicht auch in anderen ökologischen oder sozialpolitischen Diskursen bereits debattiert wird. Was kann also das Christentum spezifisch als Empowerment in eine religiöse BNE einbringen? 4.2.1 Vergemeinschaftung

Aus dem skizzierten Verständnis von Empowerment lässt sich ableiten, dass in entsprechenden Bildungsprozessen nicht nur die Entwicklung der lernenden Individuen, sondern immer auch »das Netzwerk sozialer Beziehungen und die Schaffung organisatorischer Rahmenbedingungen«23 berücksichtigt werden 23 Arnold, Karl Heinz/Hascher, Tina/Messner, Rudolf u. a., Empowerment durch Schulpraktika, 141.

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müssen. In Hinblick auf den Umgang mit der (ökologischen) Krise kann bzw. sollte dabei sowohl christliches Engagement für Nachhaltigkeit als auch eine religiöse BNE auf das Christentum als Glaubensgemeinschaft gründen. Mit mehr als zwei Milliarden Gläubigen stellt das Christentum immer noch die größte globale, institutionalisierte Gemeinschaft dar. Die christlichen Kirchen und Strukturen stellen nicht nur religiöse, spirituelle, sondern auch bedeutende gesellschaftliche globale, nationale wie auch lokale Möglichkeitsräume mit entsprechenden Ressourcen dar. Zugleich liegt hierin gesellschaftliches und politisches Potenzial, Möglichkeitsräume zu erweitern und Transformationsprozesse zu initiieren. So nehmen christliche NGOs an UN-Klimakonferenzen teil und vertreten dort einen teils stark wertebasierten Ansatz, »insofar as they emphasise the nonmaterial dimension of development.«24 Insgesamt scheinen zumindest einige religiöse Gruppierungen politisch eine stärkere »imaginative transformative normative agenda«25 zu besitzen als nicht-religiöse NGOs. Auch zahlreiche klimapolitische Gruppierungen wie z. B. Christians4Future oder Churches4Future sind Ausdruck einer christlichen Vergemeinschaftung, die Kirche und Gesellschaft ökologisch mitgestalten. Digitale kirchlich initiierte Plattformen oder ein jesuitischer Thinktank zur sozial-ökologischen Transformation verdeutlichen das christliche Potenzial.26 In der Umweltpsychologie und BNE wird die hohe Bedeutung von Werteund Normengemeinschaften, von Peers und Lerngemeinschaften betont. So geben fast vier Fünftel der Jugendlichen an, dass ihr Verhalten durch das Umweltverhalten von anderen beeinflusst werde. »Wenn umweltfreundliches Verhalten zu einer akzeptierten und breit praktizierten Norm würde, sähen diese Befragten darin einen Anlass, auch sich selbst stärker um ein solches Verhalten zu bemühen.«27 Für John M. Doris konstruieren und entwickeln Akteure ihre Biographien im sozialen Austausch und bringen zugleich hierin ihre biographisch geronnenen Werte und Haltungen zum Ausdruck.28 Folgt man Doris, dann entsteht werteorientiertes Handeln maßgeblich durch und in Gemeinschaft. Auch in der Umweltpsychologie wird herausgestellt, dass insbesondere in Gruppen mit gemeinsamen Werten und Normen eingebundene 24 Glaab, Katharina/Fuchs, Doris, Green Faith? 299. 25 Ebd., 305. 26 Vgl. Zentrum für Globale Fragen/Hochschule für Philosophie München/Philosophische Fakultät SJ, Digitale Dialogplattform zur sozial-ökologischen Transformation; Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten e. V., Jesuiten gründen Thinktank für die sozial-ökologische Transformation. 27 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU), Zukunft?, 44. 28 Vgl. Doris, John M., Talking to our selves, 153.

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Akteure und Akteurinnen motivierter und entsprechend ihrer Überzeugungen handeln. So definiert das Modell »Social Identity Model of Pro-Environmental Action«29 das umweltfreundliche Handeln als Ausmaß der Identifikation mit einer Gruppe, deren klimafreundliche Normen und Ziele und die wahrgenommene Handlungsfähigkeit der Gruppe. Anne-Kristin Römpke hat diese sozialpsychologischen Theorien auf kirchliches Engagement übertragen. »Aus umweltpsychologischer Sicht sind die Voraussetzungen für kirchliche Umweltarbeit günstig. Die Gemeinden sind lokal vernetzt und haben einen überschaubaren Handlungsrahmen (»lokal handeln«). Gleichzeitig gehören sie aber zu einer großen deutschlandweiten und weltweiten Gemeinschaft, die die Kommunikation der kollektiven Wirksamkeit erleichtert (»global denken«). Zudem sind Gemeinden bereits als solidarische Gemeinschaftsstrukturen organisiert mit den gemeinsamen Werten von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, die unmittelbar an Nachhaltigkeitsziele andocken können.«30 Diese theologischen und religiösen Eigengruppennormen und Ziele formieren somit in den gemeinschaftsbezogenen Strukturen von Kirche eine hohe Wirksamkeitserwartungen und fördern dementsprechend die Motivation zum Umwelthandeln. Was hier für Gemeinde formuliert wurde, lässt sich nur bedingt auf den Religionsunterricht übertragen. Zwar kann die Klasse zu einer entsprechenden normen- und wertebasierten Gruppe werden. Allerdings zeigen empirische Studien auf, dass die Wirkung von Unterricht in Hinblick auf Umwelthandeln und -einstellungen eher gering ist, wohl aber kognitive Lernerfolge aufweisen kann.31 Potenzial auch in Bezug auf die Veränderung von Einstellungen und Handlungsmotivation besitzt hingegen ein Whole-Institution-Approach, der die Schulgemeinschaft und -kultur fokussiert. Diesbezüglich wären z. B. schulpastorale Angebote denkbar, die auf ein gutes, werteorientiertes Schulleben zielen. In Hinblick auf Vernetzung und Vergemeinschaftung können durch Schulpastoral und RU auch Kontakte zur Kirchengemeinde, Jugendverbände uvm. hergestellt werden, die entsprechende gemeinschaftsbezogene Lern- und Handlungsräume eröffnen sowie passende Ressourcen bereitstellen können. Lokale und globale Vergemeinschaftung und Vernetzung werden so zu einem relevanten Bestandteil religiöser BNE.

29 Vgl. Fritsche, Immo/Barth, Markus/Jugert, Philipp u. a., A social identity model, 245–269. 30 Römpke, Anne-Kristin, Kirchengemeinden als Klimaschutzakteurinnen, 283–296. 31 Vgl. Niebert, Kai, Effective sustainability education, 1.

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4.2.2 Alterität und Utopiefähigkeit

»Alternativlos« wurde 2010 zum Unwort des Jahres gekürt. Damit kritisierte die Gesellschaft für deutsche Sprache, dass Politiker:innen immer wieder ihre Entscheidungen als alternativlos deklarieren. Dies gilt in der Klimakrise, dem Ukrainekrieg, der Coronapandemie uvm. Berühmtes Vorbild hierfür ist die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher, die mit »There is no alternative« die freie Marktwirtschaft verteidigte. Alternativlosigkeit ist jedoch aus christlicher Perspektive eine zutiefst unchristliche Haltung. Denn in der Alterität Gottes liegen Ursprung, Grund und Hoffnung auf eine andere Welt begründet. Gott unterbricht die Immanenz und damit auch die vermeintliche Alternativ­losigkeit der Welt und öffnet sie für das und den ganz Anderen.32 Die Offenbarung Gottes ist ohne die gleichzeitige Betonung der Alterität Gottes nicht zu denken. Gott offenbart sich und entzieht sich zugleich dem menschlichen Begreifen als der ganz Andere. Er überschreitet unsere Vorstellungskraft, er kann weder bildlich dargestellt werden noch ist er uns durch Rituale verfügbar. Insbesondere in dieser Alterität gründet das ideologiekritische Potenzial des Christentums, das so den Blick weitet und sich eben nicht mit der Alternativ­losigkeit des Gegebenen zufriedengibt. »Gerade weil Gott als der Andere nicht zu uns passt, kann er uns Kritik und Umkehr ermöglichen.«33 Bereits der Synodenbeschluss betont, religiöse Bildung müsse zur »Relativierung unberechtigter Absolutheitsansprüche« beitragen und »auf Proteste gegen Unstimmigkeiten und auf verändernde Taten«34 zielen. Damit eröffnet eine religiöse Bildung, die sich aus einem alteritätstheologischen Denken speist, Vorstellungs- und Handlungsräume, die alternative Praktiken und Erfahrungen ermöglichen. Das Verständnis von Gott als dem ganz Anderen und die Botschaft vom Reich Gottes bilden ein theologisches Fundament, das sich grundlegend von der Vorstellung der Alternativlosigkeit gesellschaftlichen und politischen Denkens und Handelns unterscheidet. Zugleich bildet es ein Fundament für eine zu entwickelnde Utopiefähigkeit. Diese ist Voraussetzung, damit aus (religiöser) gesellschaftskritischer Perspektive heraus religiöse Traditionen, Riten und Texte neu hinsichtlich ihres Potenzials zur Bewältigung der multiplen Krise erschlossen werden können: eine gute Schöpfungsordnung, die auf die Mitgeschöpflichkeit und Retinität allen Seins verweist, Traditionen der Armut, die zu einem suffizienten Leben ermuntern, prophetische Traditionen, die zur Umkehr aufrufen, die Kraft der Compassion, aus der solidarisches Handeln erwächst … So ver32 Vgl. Bederna, Katrin/Gärtner, Claudia, Wo bleibt Gott, 29. 33 Grümme, Bernhard, Alteritätstheoretische Religionsdidaktik, 125. 34 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg), Der Religionsunterricht in der Schule, Art. 2.3.4.

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standen besitzt das Christentum ein inspirierend-antizipatorisches Potenzial, das theopolitische Imaginationen35 freisetzt, wie ein gutes, nachhaltiges Leben für alle möglich wird. Heranwachsende können so Hoffnungsbilder der eigenen Religion und ihre lebensbejahende Kraft entdecken. Dies ist politisch und imaginativ, weil die »Erfahrung des Gottes Israels und Jesu … als kritischer Impuls verstanden [wird], Welt neu zu sehen, Ungerechtigkeiten aufzudecken und für ein menschenwürdiges Leben aller einzutreten«36.

5 Religion als Quelle von Ideologie und ideologischen Verstrickungen?! Nur kurz kann hier darauf eingegangen werden, dass kirchliche und religiöse Akteure in der multiplen Krise auch zutiefst irritierend bzw. ideologisch agieren, wenn z. B. kirchliche Amtsträger antisemitische Verschwörungsmythen in der Coronapandemie verkünden oder wenn der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I gegen Gay-Paraden, Gender und Verwestlichung wettert und damit einen Angriffskrieg theologisch rechtfertigt. Hier wird Religion für politische Zwecke ex- oder implizit missbraucht, was zu einer (aus-)sterbenden Welt beiträgt. Ebenfalls kritisch, wenn auch ambivalenter ist die gegenwärtige radikale christliche Friedensethik und -pädagogik zu betrachten. Wenn angesichts des Ukrainekriegs aus »jesuanischer Perspektive … militärische Mittel und also auch Waffenlieferungen keine Option«37 sein sollen, dann muss diese friedensethische Position auch auf ihre ideologischen Blinden flecken reflektiert werden. In Hinblick auf ökologische Fragen muss sich hingegen die Schöpfungstheologie ihrer tradierten anthropozentrischen Lektüre des Herrschaftsauftrags (Gen 1,28) bewusst sein, die zur Zerstörung der Schöpfung beigetragen hat.38 Das in den vorangegangenen Kapiteln skizzierte Potenzial des Christentums, das aus seinem normativen Fundament und Wahrheitsanspruch in der multiplen Krise Gesellschaft und Politik ideologiekritisch in Hinblick auf Klimazerstörung, Kapitalismus oder Neoliberalismus kritisiert, besitzt somit eine ideologieanfällige Kehrseite, die von ideologischen Verstrickungen wie dem christlichen Anthropozentrismus über ideologische blinde Flecken (z. B. Pazifismus) bis hin zu ideologischem Missbrauch (Homophobie, Kriegsunterstützung, Coronaleugnung, Verschwörungserzählungen) reicht. In religiösen Bildungs35 36 37 38

Vgl. Herbst, Jan-Hendrik, Die politische Dimension des Religionsunterrichts, 331–333. Schambeck, Mirjam, Mystagogisches Lernen, 415. Spiegel, Egon, Ukraine sollte weiße Fahne hissen. Vgl. Gärtner, Klima, Corona und das Christentum, 88–92.

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prozessen müssen diese Fallstricke des Christentums reflektieren und transparent gemacht werden.

6 Prinzipien einer religiösen Bildung in einer (aus-)sterbenden Welt Abschließend sollen die vorliegenden Ausführungen in religionspädagogische Prinzipien transformiert und auf insgesamt acht Prinzipien erweitert werden, die an anderer Stelle als 5k3p-Prinzipien ausführlicher entwickelt und erläutert wurden.39 Ȥ Komplex Die multiple Krise kann nur unter Bewahrung ihrer Komplexität angemessen erschlossen werden, was eine interdisziplinäre, ggf. auch fachübergreifende oder fächerverbindende Erarbeitung einschließt. Ȥ Kontrovers Sowohl die Komplexität der Krise als auch die unhintergehbare weltanschauliche und religiöse Pluralität bedingen es, dass die Frage, wie diese Krisen bewältigt werden können, in Wissenschaft und Gesellschaft kon­ trovers verhandelt werden. (Religions-)Unterricht muss daher, wie es im Beutelsbacher Konsens gefordert wird, diese Kontroversität abbilden. Auch christliche Theologie, ihre Werte, Normen und Traditionen und Narrationen müssen kontrovers verhandelbar sein. Dabei gibt es jedoch Grenzen der Kontroversität. Nur was wissenschaftlich kontrovers ist und einer freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht widerspricht, entspricht dem Kontroversitätsgebot, weshalb z. B. Klimawandelleugnung, Rassismus oder Angriffskriege nicht hierunter fallen.40 Ȥ Konstruktiv Obwohl sich angesichts der multiplen Krise ein Gefühl der Ohnmacht ausbreiten kann, ist religiöse Bildung von eschatologischer Hoffnung geprägt und setzt theologische Imagination frei (Kap. 4.2.2). Sie speist Hoffnung aus der Verheißung des Reich Gottes und schöpft Vorstellungen eines guten Lebens für alle aus der jüdisch-christlichen Tradition. In dieser Hinsicht trägt religiöse Bildung konstruktiv zum Empowerment bei. Als bekenntnisorientiertes Fach kann die Religionslehrkraft mit ihrem Glauben und ihrer Positionierung konstruktiv ein personales Angebot für Empowerment darstellen. 39 Vgl. Bederna, Katrin/Gärtner, Claudia, Religiöse Bildung für Nachhaltige Entwicklung, i. E. 40 Vgl. Drerup, Johannes, Kontroverse Themen.

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Claudia Gärtner

Ȥ Kritisch  Religiöse Bildung ist in doppelter Perspektive als eine kritische zu entwerfen. Erstens hinterfragt sie (ideologie-)kritisch leitende Herrschafts- und Machtverhältnisse, setzt sich für die Erweiterung von Möglichkeitsräumen und Selbstermächtigung ein. Zweitens richtet sich die Kritik auch ad intra und fragt nach eigenen blinden Flecken, nach ideologischen Verblendungen (Kap. 5), die zur multiplen Krise beitragen. Ȥ Kontextuell  Die Lebenswelt der Lernenden ist zutiefst krisengeprägt. Eine subjekt- und lebensweltorientierte religiöse Bildung ist damit auf die Bearbeitung der multiplen Krise bezogen. Dabei gilt es die Kontexte der Lernenden in mehrfacher Hinsicht zu erweitern: erstens über die individuellen und regionalen Horizonte hinaus hin zu globalen, zukunftsorientierten Perspektiven und zweitens durch Erinnerung an das befreiende Handeln Gottes, durch die Hoffnung auf das Reich Gottes. Das Christentum wird als eine lokale und globale, eine traditions- und zukunftsbezogene Größe eingebracht. Ȥ Politisch  Religiöse Bildung ist politisch. Sie ist normativ-parteiisch und nicht nur spirituelle Ressource für Individuen. Mystik und Politik sind zusammenzudenken. Ȥ Partizipatorisch Religiöse Bildung will Individuen zu strukturellem, machtkritischem und zugleich solidarischem Denken und Handeln ermächtigen. Dafür ist es notwendig, Lernen partizipatorisch zu gestalten, um Lernen selbst als eine Form der Ermächtigung und Selbstwirksamkeit zu erfahren und zu erlernen. Ȥ Praktisch Lernen und Glauben sind nicht nur theoretisch, sondern geschehen in und durch gelebte Praxis. Gemeinschaftliches, solidarisches Handeln, z. B. in Formen des service-learnings oder Compassionlernens, kann neue Möglichkeitsräume erschließen und Erfahrungen von einem anderen, guten Leben eröffnen. 5k3p, das ist kein einfaches religionspädagogisches Rezept. Es benötigt vielfältige Zutaten – genau wie ein Müslibrötchen!

Krieg, Klima und andere Krisen

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ZWEITES KAPITEL Kosmos Schule und Religionsunterricht in Krisenzeiten – bildungswissenschaftliche und religionspädagogische Zugänge und Analysen

Kognitive Aktivierung im Unterricht unter Pandemie­ bedingungen aus instruktionspsychologischer Sicht Jörg Wittwer/Thamar Voss

Infolge der Corona-Pandemie entstand in den Jahren 2020 und 2021 eine Ausnahmesituation, in der die Schulen in allen Bundesländern Deutschlands phasenweise geschlossen wurden. Zeitweise fand in den meisten Bundesländern auch ein Wechsel zwischen Präsenz- und Distanzunterricht statt. Somit mussten Schüler:innen ohne Vorbereitung im häuslichen Umfeld von Lehrer:innen über Distanz unterrichtet und begleitet werden. Befragungen aus der Zeit der ersten Schulschließung zeigen, dass Lehrer:innen und Schüler:innen diese Situation als sehr herausfordernd erlebten.1 In diesem Beitrag analysieren wir aus Sicht der Instruktions- und Unterrichtsforschung den Unterricht unter Pandemiebedingungen. Wir geben zunächst eine Übersicht über den Forschungsstand zur Bedeutung der Pandemie für Lehrer:innen, Schüler:innen und Unterricht und führen danach das Konzept der kognitiven Aktivierung als Merkmal für die Beschreibung der Qualität des Unterrichts unter den Einschränkungen einer Pandemie ein. Im Anschluss daran wird aus Sicht der Instruktionsforschung exemplarisch erläutert, wie sich auf der Grundlage instruktionspsychologischer Modelle Hinweise für einen Unterricht mit einem hohen Potenzial kognitiver Aktivierung auch unter Pandemiebedingungen ableiten lassen.

1 Vgl. Forsa Politik- und Sozialforschung GmbH (Hg.), Das Deutsche Schulbarometer; Vodafone Stiftung Deutschland (Hg.), Unter Druck; Wößmann, Ludger/Freundl, Vera/Grewenig, Elisabeth u. a., Bildung in der Coronakrise.

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1 Bedeutung der Pandemie für Lehrer:innen und Schüler:innen Mittlerweile liegen wissenschaftliche Studien (1) zu dem beruflichen Wohlbefinden der Lehrer:innen in den Zeiten von Corona und (2) zu dem Unterrichtserfolg in dieser Zeit – vor allem zu Lernerfolg und motivational-emotionalem Erleben der Schüler:innen – vor. (1) Viele Lehrer:innen berichteten während der Pandemie von einem hohen Stresserleben2, wobei es hierbei auch Unterschiede gab.3 Zu diesen Unterschieden trugen mehrere Faktoren bei: Lehrer:innen, die an ihren Schulen gute Austausch- und Unterstützungsmöglichkeiten wahrnahmen, erlebten ein höheres Wohlbefinden als Lehrer:innen, die diese Möglichkeiten an ihrer Schule als geringer einschätzten.4 Auch persönliche Voraussetzungen wie gutes Zeitmanagement und hohe selbsteingeschätzte technische Kompetenzen wirkten als Ressourcen zur Bewältigung der herausfordernden Situation.5 Ein generell hohes Angstempfinden stellte hingegen einen Risikofaktor dar.6 Schließlich waren mehr freundschaftliche Beziehungen und eine bessere Balance zwischen beruflichen und privaten Belangen mit geringerem Stresserleben der Lehrer:innen verbunden.7 (2) Nachteile für das Lernen der Schüler:innen durch die pandemiebezogenen Einschränkungen zeigten sich in unterschiedlicher Weise: Die tägliche Lernzeit der Schüler:innen war während der Schulschließung reduziert und im Mittel niedrig.8 Mehr Zeit wurde hingegen mit nicht-schulischen Aktivitäten verbracht.9 Internationale Studien, die die Ergebnisse aus Schulleistungstests zwischen früheren Schüler:innenkohorten und der Kohorte, die von den Einschränkungen des Schulbetriebs durch die Pandemie betroffen war, verglichen,

2 Vgl. Klapproth, Florian/Federkeil, Lisa, Heinschke, Franziska et al., Teachers’ experiences of stress; Pressley, Tim, Factors contributing to teacher burnout. 3 Vgl.Chan, Mei-ki/Sharkey, Jill D./Lawrie, Smaranda I. et al., Elementary school teacher wellbeing. 4 Vgl. ebd.; Kraft, Matthew A./Simon, Nicole S./Lyon, Melissa A., Sustaining a sense of success. 5 Vgl. Sokal, Laura J./Eblie Trudel, Laura G./Babb, Jeff C., Supporting teachers in times of change. 6 Vgl. Pressley, Tim, Factors contributing to teacher burnout. 7 Vgl. Sokal, Laura J./Eblie Trudel, Laura G./Babb, Jeff C., Supporting teachers in times of change. 8 Vgl. Grewenig, Elisabeth/Lergetporer, Philipp/Werner, Katharina et al., COVID-19 and educational inequality; Huber, Stephan G./Helm, Christoph, COVID-19 and schooling; Helm, Christoph/Huber, Stephan/Loisinger, Tina, Was wissen wir über schulische Lehr-Lern-Prozesse. 9 Vgl. Wößmann, Ludger/Freundl, Vera/Grewenig, Elisabeth u. a., Bildung in der Coronakrise.

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weisen auf Lernrückstände bei den Schüler:innen hin.10 Die Lernrückstände sind im Mittel nicht sehr groß (ca. 0.1 einer Standardabweichung). Relativiert an dem ungefähren Umfang des Unterrichtsausfalls (z. B. ca. 10 Wochen Schulabwesenheit durch den ersten Lockdown an den Grundschulen Baden-Württembergs), sind sie jedoch nicht zu vernachlässigen.11 Zudem finden sich Leistungsunterschiede sowohl zwischen Fächern als auch zwischen Schüler:innengruppen. So berichten Engzell et al. in den Niederlanden von größeren Lernrückständen in Mathematik als im Lesen. Der Nachteil war darüber hinaus größer in Schulen mit einem hohen Anteil an Schüler:innen mit Migrationshintergrund und Schüler:innen aus Nicht-Akademiker:innenfamilien.12 Auch Hinweise auf größere Lernrückstände für Schüler:innen mit niedrigeren Leistungsniveaus finden sich in Studien.13 Schon zu Beginn der ersten Schulschließung 2020 wurde die Verstärkung von Disparitäten und sozialer Ungleichheit von vielen Akteur:innen im Bildungssystem befürchtet.14 Die dargestellten Ergebnisse weisen darauf hin, dass diese Gefahr nicht vollständig abgewendet werden konnte. Lehrer:innen beobachteten bei vielen Schüler:innen zudem eine geringe Motivation während des Lernens im häuslichen Umfeld.15 Auch die Schüler:innen selbst berichteten im Mittel eine relativ geringe Lernfreude und hohe lernbezogene Ängste.16 Das motivational-emotionale Erleben stand dabei in Zusammenhang mit familiären Faktoren, aber auch mit Faktoren des Unterrichts.17 In einer Studie mit über 2.500 Eltern zeigte sich, dass die Motivation der Schüler:innen umso 10 Vgl. Engzell, Per/Frey, Arun/Verhagen, Mark D., Learning loss due to school closures; Maldonado, Joana E./De Witte, Kristof, The effect of school closures; Schult, Johannes/Mahler, ­Nicole/Fauth, Benjamin et al., Did students learn less; Skar, Gustaf B. U./Graham, Steve/­ Huebner, Alan, Learning loss. 11 Vgl. Schult, Johannes/Mahler, Nicole/Fauth, Benjamin et al., Did students learn less. 12 Vgl. Engzell, Per/Frey, Arun/Verhagen, Mark D., Learning loss due to school closures; siehe auch Maldonado, Joana E./De Witte, Kristof, The effect of school closures. 13 Vgl. in Bezug auf die Lernzeit und die schulischen Aktivitäten: Grewenig, Elisabeth/Lergetporer, Philipp/Werner, Katharina et al., COVID-19 and educational inequality; Wößmann, Ludger/Freundl, Vera/Grewenig, Elisabeth u. a., Bildung in der Coronakrise; in Bezug auf Mathematikleistungen: Schult, Johannes/Mahler, Nicole/Fauth, Benjamin et al., Did students learn less. 14 Vgl. Forsa Politik- und Sozialforschung GmbH (Hg.), Das Deutsche Schulbarometer. 15 Vgl. ebd.; Helm, Christoph/Huber, Stephan/Loisinger, Tina, Was wissen wir über schulische Lehr-Lern-Prozesse. 16 Vgl. Lessard, Leah M./Puhl, Rebecca M., Adolescent academic worries; Steinmayr, Ricarda/ Paschke, Patrick/Wirthwein, Linda, Elementary school; Tannert, Swantje/Gröschner, Alexander, Joy of distance learning. 17 Vgl. Chiu, Thomas K. F., Applying the self-determination theory; Steinmayr, Ricarda/Lazarides, Rebecca/Weidinger, Aanne F. et al., Teaching and learning; Tannert, Swantje/Gröschner, Alexander, Joy of distance learning; Wright, Michelle F./Wachs, Sebastian, Self-isolation.

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höher war, je häufiger Schüler:innen und Lehrer:innen während des häuslichen Lernens miteinander kommunizierten.18 Auch in einer Studie unter Schüler:innen fand sich dieses Muster: Die Freude und der Spaß am Lernen während des häuslichen Lernens hingen mit den Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Schüler:innen zusammen, die wiederum mit der wahrgenommenen Qualität der Schüler:innen-Lehrer:innen-Beziehung assoziiert waren.19 Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, den Unterricht unter Pandemiebedingungen systematisch zu analysieren. Aus Sicht der Unterrichtsforschung stellt sich die Frage, was unter gutem Unterricht verstanden wird.

2 Sicht- und Tiefenstrukturen des Unterrichts In der aktuellen (insbesondere deutschsprachigen) Unterrichtsforschung hat sich die Unterscheidung von Sicht- und Tiefenstrukturen durchgesetzt.20 Sichtstrukturen umfassen relativ gut beobachtbare Charakteristika von Lehr-LernArrangements wie die Methode, Sozialformen oder eingesetztes Medium. Die Tiefenstrukturen charakterisieren dagegen die Qualität der Lehr-Lern-Interaktionen, die gewöhnlich nicht direkt zu beobachten sind und sich somit in der Tiefe abspielen. Lehr-Lern-Interaktionen umfassen die Auseinandersetzung der Schüler:innen mit dem Lernstoff, die Interaktionen zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen sowie der Schüler:innen untereinander. Die Unterscheidung zwischen Sicht- und Tiefenstrukturen ist insbesondere von Bedeutung, weil zahlreiche Forschungsergebnisse zeigen, dass die Merkmale der Tiefenstrukturen (und weniger die Merkmale der Sichtstrukturen) wichtig für die Lernerfolge der Schüler:innen sind.21 Die Tiefenstrukturen werden daher auch als Merkmale der Unterrichtsqualität bezeichnet22, die häufig anhand von drei Basisdimensionen systematisiert werden: Effizienz der Klassenführung, Konstruktive Unterstützung und Potenzial zur kognitiven Aktivierung.23 Die Effizienz der 18 Vgl. Steinmayr, Ricarda/Lazarides, Rebecca/Weidinger, Aanne F. et al., Teaching and learning. 19 Vgl. Tannert, Swantje/Gröschner, Alexander, Joy of distance learning. 20 Vgl. Decristan, Jasmin/Hess, Miriam/Holzberger, Doris u. a., Oberflächen- und Tiefenmerkmale; Oser, Fritz K./Baeriswyl, Franz J., Choreographies of teaching; Trautwein, Ulrich/ Sliwka, Anne/Dehmel, Alexandra, Grundlagen für einen wirksamen Unterricht. 21 Vgl. Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike/Blum, Werner, et al., Teachers’ mathematical knowledge; Lipowsky, Frank/Rakoczy, Katrin/Pauli, Christine et al., Quality of geometry instruction; Praetorius, Anna-Katharina/Rogh, Wida/Kleickmann, Thilo, Blinde Flecken. 22 Vgl. Decristan, Jasmin/Hess, Miriam/Holzberger, Doris u. a., Oberflächen- und Tiefenmerkmale. 23 Vgl. Klieme, Eckhard, Unterrichtsqualität.

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Klassenführung umfasst die Strategien, die dazu dienen, Ordnungsstrukturen in den komplexen Klassensituationen herzustellen und aufrechtzuerhalten, um die aktive Lernzeit zu maximieren.24 Die konstruktive Unterstützung beschreibt, wie sehr Schüler:innen im Unterricht in ihren Lernprozessen begleitet werden und eine wertschätzende und respektvolle Interaktionskultur im Klassenraum herrscht.25 Das Potenzial zur kognitiven Aktivierung bezieht sich auf den Grad, zu dem im Unterricht Denkprozesse auf hohem kognitivem Niveau angeregt werden.26 Nach Fauth und Leuders bedeutet dies, dass die kognitiven Aktivitäten erstens auf die Lernziele fokussiert werden, zweitens an das bestehende Schüler:innendenken – das heißt, an das Vorwissen aus Unterricht und Alltag – angeschlossen werden und drittens anspruchsvolle kognitive Prozesse angeregt und aufrechterhalten werden.27 Zahlreiche Studien zeigen, dass ein hohes Potenzial zur kognitiven Aktivierung wichtig für den Erfolg des Unterrichts – insbesondere mit Blick auf das Verständnis der Lerninhalte – ist.28

3 Unterricht in der Zeit der Pandemie Wie sah der Unterricht unter Pandemiebedingungen mit Blick auf Sicht- und Tiefenstrukturen aus? Der Unterricht in Pandemiezeiten wurde sehr unterschiedlich gestaltet: Große Unterschiede wurden mit Blick auf die Bereitstellung der Lernmaterialien, auf die Kommunikationsform, die von den Lehrer:innen für den Austausch mit den Schüler:innen gewählt wurde, und die methodische Herangehensweise aufgezeigt.29 Sehr häufig wurden den Schüler:innen von Lehrer:innen Arbeitsblätter für die Bearbeitung bereitgestellt30, Videokonferenzen abgehalten31 und Erklärvideos eingesetzt.32 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. Seidel, Tina/Shavelson, Richard J., Teaching effectiveness. Vgl. Kunter, Mareike/Voss, Thamar, The model of instructional quality. Vgl. Leuders, Timo/Holzäpfel, Lars, Kognitive Aktivierung. Vgl. Fauth, Benjamnin/Leuders, Timo, Kognitive Aktivierung im Unterricht. Vgl. Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike/Blum, Werner, et al., Teachers’ mathematical knowledge; Fauth, Benjamin/Decristan, Jasmin/Decker, Anna-Theresia et al., The effects of teacher competence. Vgl. Forsa Politik- und Sozialforschung GmbH (Hg.), Das Deutsche Schulbarometer; Jaekel, Ann-Kathrin/Scheiter, Katharina/Göllner, Richard, Distance teaching; Wößmann, Ludger/ Freundl, Vera/Grewenig, Elisabeth u. a., Bildung in der Coronakrise. Vgl. Wößmann, Ludger/Freundl, Vera/Grewenig, Elisabeth u. a., Bildung in der Coronakrise. Vgl. Jaekel, Ann-Kathrin/Scheiter, Katharina/Göllner, Richard, Distance teaching. Vgl. Forsa Politik- und Sozialforschung GmbH (Hg.), Das Deutsche Schulbarometer; Vodafone Stiftung Deutschland (Hg.), Schule auf Distanz; Wößmann, Ludger/Freundl, Vera/Grewenig, Elisabeth u. a., Bildung in der Coronakrise.

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Diese Merkmale sind den Sichtstrukturen des Unterrichts zuzuordnen. Zur Umsetzung der Qualität des Unterrichts bezüglich der Merkmale der Tiefenstruktur ist bislang weniger bekannt. Die Ergebnisse einzelner Studien weisen darauf hin, dass Schüler:innen in der Zeit der Schulschließungen nicht immer angemessen zu einer kognitiven Aktivierung angeregt wurden: Häufig stand das repetitive Abarbeiten von Aufgaben im Vordergrund.33 Somit wurden selten kognitiv aktivierende, verständnisfördernde Tätigkeiten von Schüler:innen gefordert.34 Eine Analyse von Lernmaterialien, die während der Schulschließung im Mathematikunterricht eingesetzt wurden, zeigte, dass häufig Aufgaben verwendet wurden, die ein geringes Potenzial zur kognitiven Aktivierung boten.35 Auch das Potenzial digitaler Medien zur Unterstützung der kognitiven Aktivierung wurde selten ausgeschöpft.36 Jedoch ist es auch unter den Einschränkungen einer Pandemie wichtig, dass Schüler:innen zu kognitiver Aktivität angeregt werden.37 Das beobachtete geringe Potenzial zur kognitiven Aktivierung könnte zu den berichteten Lernrückständen während der Coronapandemie beigetragen haben. Um Hinweise zu erhalten, wie es gelingen kann, auch unter den Einschränkungen einer Pandemie einen kognitiv aktivierenden Unterricht zu gestalten, kann eine instruktionspsychologische Perspektive hilfreich sein.

4 Kognitive Aktivierung aus instruktionspsychologischer Sicht Das ICAP-Modell (Interactive, Constructive, Active, Passive) von Chi und Wylie38 und das KLI-Modell (Knowledge, Learning, Instruction) von ­Koedinger, Corbett und Perfetti39 sind instruktionspsychologische Modelle, die jeweils eine Taxonomie von Lernaktivitäten aufstellen, mit denen die Frage geklärt werden kann, unter welchen Bedingungen Unterricht kognitiv aktivierend ist.

33 Vgl. Huber, Stepan G./Helm, Christoph, COVID-19 and schooling. 34 Helm, Chrstoph/Huber, Stephan/Loisinger, Tina, Was wissen wir über schulische Lehr-LernProzesse. 35 Vgl. Scheja, Bruno/Rott, Benjamin, Fernunterricht. 36 Vgl. Lazarides, Rebecca/Rubach, Charlott/Quast, Jennifer, Lehrkräfteeinschätzungen. 37 Vgl. Helm, Chrstoph/Huber, Stephan/Loisinger, Tina, Was wissen wir über schulische LehrLern-Prozesse. 38 Vgl. Chi, Michelene T. H./Wylie, Ruth, The ICAP framework. 39 Vgl. Koedinger, Kenneth R./Corbett, Albert T./Perfetti, Charles, The Knowledge-LearningInstruction framework.

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4.1 ICAP-Modell Das ICAP-Modell unterscheidet vier Arten kognitiver Verarbeitung: Die erste Art ist die passive Verarbeitung, bei der Schüler:innen ihre Aufmerksamkeit auf den Lerngegenstand legen, ohne dabei sichtbar etwas anderes zu tun. Beispielsweise könnten sich Schüler:innen die Erklärung einer Lehrerin anhören. Die zweite Art ist die aktive Verarbeitung, die dem Ziel des Wiederholens oder Organisierens des Lernmaterials dient. Beispielsweise könnten Schüler:innen Stellen in einem Lehrbuchtext markieren. Die dritte Art ist die konstruktive Verarbeitung, bei der Produkte entstehen, die über das vorgegebene Lernmaterial hinausgehen. Hierzu gehört beispielsweise das Stellen von Fragen oder die Anfertigung von Notizen. Die vierte Art ist die interaktive Verarbeitung. Hierbei tauschen sich Schüler:innen über die Ergebnisse ihrer Lernaktivitäten aus. Beispielsweise könnten sich Schüler:innen zuerst allein Fragen zum Lernmaterial überlegen und anschließend zusammen die Fragen der anderen Schüler:innen beantworten.40 Nach dem ICAP-Modell sind mit den vier Arten der kognitiven Verarbeitung unterschiedliche Lernprozesse verbunden. Es wird angenommen, dass ein höheres Ausmaß an kognitiver Verarbeitung zu höherwertigen Lernprozessen führt: Bei einer passiven Verarbeitung sind vor allem einfache Speicherungsprozesse des Lernmaterials zu erwarten. Als Ergebnis entsteht Wissen, das nur in identischen Situationen angewendet werden kann. Eine aktive Verarbeitung führt zu Lernprozessen, die im Lernmaterial ausgewählte Informationen mit dem Vorwissen von Schüler:innen verknüpfen. Dies hat zur Folge, dass bestehende Wissensstrukturen vervollständigt werden, so dass eine Anwendung des Wissens in ähnlichen Situationen möglich ist. Bei einer konstruktiven Verarbeitung treten Schlussfolgerungsprozesse auf, durch die neue Informationen entstehen, die über das ursprüngliche Lernmaterial hinausgehen. Dadurch wird das vorhandene Wissen angereichert und kann auch in neuen Situationen angewendet werden. Durch eine interaktive Verarbeitung können Schüler:innen Denkanstöße erhalten, die zu gänzlich neuem Wissen führen, dessen Anwendung die Entwicklung neuartiger Ideen erlaubt.41 Eine hohe kognitive Aktivierung im Unterricht tritt gemäß dem ICAPModell dann auf, wenn eine kognitive Verarbeitung bei Schüler:innen angeregt

40 Vgl. Chi, Michelene T. H./Wylie, Ruth, The ICAP framework, 220–224. 41 Vgl. ebd., 225–229.

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wird, die zu höherwertigen Lernprozessen führt. Hierzu gehören vor allem die konstruktive und interaktive Verarbeitung.42 4.2 KLI-Modell Im Vergleich zum ICAP-Modell berücksichtigt das KLI-Modell explizit das Wissen, das Schüler:innen beim Lernen aufbauen. Dieses Wissen kann unterschiedlich aussehen. Es gibt vier Arten von Wissen: Die erste Art ist Wissen über Fakten, das sich auf einzelne Informationen (z. B. Herbst – autumn) oder zusammenhängende Informationen (z. B. Textabschnitt) bezieht. Die zweite Art ist Wissen über Konzepte. Hiermit sind Kategorien, die Objekte aufgrund von Gemeinsamkeiten zusammenfassen, gemeint (z. B. Reptilien). Die dritte Art ist Wissen über Prinzipien. Diese Wissensart umfasst Beziehungen zwischen Konzepten, die sich in Regeln, Gesetzen oder Axiomen ausdrücken (z. B. Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage). Die vierte Art ist Wissen über Prozeduren. Hierbei geht es um Schritte, die durchzuführen sind, um ein Ziel zu erreichen (z. B. Winkelberechnungen in Geometrie).43 Häufig folgt eine Prozedur einem bestimmten Prinzip (z. B. Rechnen mit Satz des Thales).44 Das KLI-Modell spezifiziert, welche Lernprozesse nötig sind, um den Aufbau der jeweiligen Wissensart zu unterstützen: Gedächtnis- und Flüssigkeitsprozesse dienen dazu, Lerninhalte im Gedächtnis zu speichern und den schnellen und fehlerfreien Abruf aus dem Gedächtnis zu stärken. Diese Lernprozesse werden vor allem für den Erwerb von Wissen über Fakten (z. B. beim Vokabellernen) und Prozeduren (z. B. beim Rechnen) benötigt. Verallgemeinerungs- und Verfeinerungsprozesse tragen dazu bei, zu verstehen, in welchen Situationen das Wissen anwendbar ist. Hierzu gehören Generalisierungs- (z. B. Pinguine sind auch Vögel) und Diskriminierungsprozesse (z. B. Delfine sind keine Fische, sondern Säugetiere). Diese Lernprozesse tragen zum Aufbau eines generalisierten Wissens über Konzepte, Prinzipien und Prozeduren bei, während sie für den Aufbau von Wissen über Fakten nicht so wichtig sind. Verstehensund sinnstiftende Prozesse sind sprachlich vermittelte Lernprozesse, bei denen Schüler:innen bewusst Informationen im Lernmaterial aufeinander beziehen oder in Dialog mit anderen Schüler:innen treten, um über den Lerninhalt zu

42 Vgl. ebd. 43 Vgl. Koedinger, Kenneth R./Corbett, Albert T./Perfetti, Charles, The Knowledge-LearningInstruction framework, 763–775. 44 Vgl. Merrill, M. David, Instructional design theory.

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diskutieren. Diese Lernprozesse sind hauptsächlich für ein tieferes Verstehen von Prinzipien bedeutsam, können aber auch dazu beitragen, das Wissen über Konzepte explizit zu machen.45 Nach dem KLI-Modell besteht eine erfolgreiche kognitive Aktivierung im Unterricht vor allem darin, diejenigen Lernprozesse anzuregen, die für den Erwerb einer Wissensart erforderlich sind.46 Damit scheint dieses Modell auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem ICAP-Modell zu stehen, das unabhängig von der Art des zu erwerbenden Wissens Aussagen über Lernprozesse trifft. Dennoch lassen sich beide Modelle aufeinander beziehen: Das KLI-Modell weist darauf hin, welche Lernprozesse durchzuführen sind, damit das zu erwerbende Wissen überhaupt aufgebaut wird. Zudem gibt es an, in welchen Lernsituationen es nicht unbedingt nötig ist, Lernprozesse mit einer hohen kognitiven Aktivierung durchzuführen. Dies gilt vor allem dann, wenn es um den Erwerb von Wissen über Fakten geht.47 Das ICAP-Modell verdeutlicht indes, dass ein hohes Maß an kognitiver Verarbeitung – und damit verbunden auch hochwertige Lernprozesse – in vielen Fällen notwendig ist, um Wissen zu erwerben, das auch in neuen Situationen angewendet werden kann.48 Die instruktionspsychologischen Modelle liefern konkrete Hinweise darüber, wie eine kognitive Aktivierung im Unterricht idealtypisch umgesetzt werden kann. In der Coronazeit haben Schüler:innen häufig Erklärungen erhalten und Aufgaben bearbeitet. Vor diesem Hintergrund stellen wir exemplarisch dar, wie die Darbietung neuer Lerninhalte instruktionspsychologisch zu gestalten ist, um eine hohe kognitive Aktivierung bei Schüler:innen anzuregen. Konkret gehen wir auf die Vorgabe von Lernzielen, die Gestaltung von Erklärungen, die Weiterverarbeitung mit Beispielen und die Verwendung von Prompts ein.49

45 Vgl. Koedinger, Kenneth R./Corbett, Albert T./Perfetti, Charles, The Knowledge-LearningInstruction framework, 775–780. 46 Vgl. ebd., 780–786. 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. Chi, Michelene T. H./Wylie, Ruth, The ICAP framework. 49 Für die Gestaltung weiterer Unterrichtselemente siehe: Voss, Thamar/Wittwer, Jörg, Unterricht in Zeiten von Corona.

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5 Vorgabe von Lernzielen Eine kognitive Aktivierung von Schüler:innen sollte auf Lernziele ausgerichtet sein.50 Daher kann es hilfreich sein, Schüler:innen die zu erreichenden Lernziele im Unterricht zu präsentieren.51 Lernziele geben an, was Schüler:innen nach dem Lernen können sollen. Das Lernziel wird erreicht, indem das hierfür erforderliche Wissen angewendet wird. Gemäß dem KLI-Modell gibt es Lernziele für die unterschiedlichen Wissensarten: Lernziele zu Fakten erfordern es, Informationen wörtlich oder paraphrasiert wiederzugeben (z. B. Die Schüler:innen können die wichtigsten Riten und Feste des Judentums nennen). Lernziele zu Konzepten verlangen von Schüler:innen, anhand vorgegebener Beispiele das zugehörige Konzept zu erkennen oder eigene Beispiele für ein vorgegebenes Konzept zu geben (z. B. Erkenne anhand der vorgegebenen Beispiele, ob es sich jeweils um ein Gotteshaus im Judentum, Christentum oder Islam handelt). Bei Lernzielen zu Prinzipien muss mit Hilfe eines Prinzips ein Sachverhalt erklärt oder vorhergesagt werden (z. B. Erkläre, warum der vorgegebene Fall ein Beispiel für utilitaristische Ethik ist). Lernziele zu Prozeduren erfordern es, Schritte durchzuführen, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen (z. B. Führe eine theologische Argumentation zu dem vorgegebenen Sachverhalt durch).52 Die Vorgabe von Lernzielen kann auf Schüler:innen in unterschiedlicher Weise kognitiv aktivierend wirken: Lernziele können dazu anregen, dass sich Schüler:innen Gedanken darüber machen, welche Anforderungen die Lernziele an ihr Lernen stellen. Lernziele können auch dazu beitragen, dass Schüler:innen Informationen im Lernmaterial, die zu den Lernzielen passen, auswählen und mit ihrem Vorwissen verknüpfen. Schließlich können Lernziele Schüler:innen dazu bringen, ihren Lernfortschritt zu kontrollieren, indem sie ihren aktuellen Lernstand mit den Lernzielen vergleichen.53 Jedoch ist zu beachten, dass Lernziele nicht automatisch Schüler:innen in dieser Weise kognitiv aktivieren. Vielmehr kann es erforderlich sein, Schüler:innen in der Durchführung der durch Lernziele potenziell angeregten Lernaktivitäten zu unterstützen.54

50 Vgl. Fauth, Benjamnin/Leuders, Timo, Kognitive Aktivierung im Unterricht. 51 Vgl. Wittwer, Jörg/Kratschmayr, Linda/Voss, Thamar, Wie gut erkennen Lehrkräfte typische Fehler. 52 Vgl. Koedinger, Kenneth R./Corbett, Albert T./Perfetti, Charles, The Knowledge-LearningInstruction framework. 53 Vgl. Gronlund, Norman E./Brookhart, Susan M., Gronlund’s writing instructional objectives; Smith, Patricia L./Ragan, Tillman J., Instructional design. 54 Vgl. Jiang, Lai/Elen, Jan, Why do learning goals (not) work.

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6 Erklärungen Erklärungen von Lehrkräften dienen dazu, Schüler:innen Wissen zu vermitteln, das sie für die Erreichung von Lernzielen benötigen.55 Beim Lernen neuer Inhalte werden häufig Erklärungen gegeben, ohne dass die Schüler:innen Lernaktivitäten zeigen. Dies entspricht einer passiven Verarbeitung von Informationen. In diesem Fall können trotzdem die Informationen in Erklärungen so präsentiert werden, dass sie auch bei einer passiven Verarbeitung, wie es das ICAP-Modell definiert, kognitiv aktivierend wirken. Dabei sollten die Informationen in Abhängigkeit der Wissensart, die für die Erreichung eines Lernziels nötig ist, unterschiedlich gestaltet werden.56 Informationen über Fakten stellen häufig Listen (z. B. Riten und Feste im Judentum) oder kürzere Texte dar. Die Informationen können mit Visualisierungen (z. B. Fotos) kombiniert werden.57 Zudem ist es möglich, Verbindungen zwischen den präsentierten Informationen explizit aufzuzeigen (z. B. Nennung eines Oberbegriffs). Informationen über Konzepte (z. B. Minbar) geben den Namen eines Konzepts an und präsentieren eine Definition des Konzepts zusammen mit Beispielen, die das Konzept veranschaulichen (z. B. Fotos von Minbars in Moscheen). Auch wenn keine beobachtbaren Lernaktivitäten durch Schüler:innen erfolgen, kann eine fokussierte Verarbeitung der Informationen dadurch gefördert werden, dass die Aufmerksamkeit von Schüler:innen auf die Merkmale, die das Konzept auszeichnen (z. B. Bauweise des Minbars), im Beispiel gelenkt wird.58 Dadurch können erste Verallgemeinerungs- und Verfeinerungsprozesse angeregt werden.59 Informationen über Prinzipien geben an, wie ein Prinzip heißt (z. B. utilitaristische Ethik), und veranschaulichen die Anwendung des Prinzips anhand von Beispielen (z. B. autonomes Fahren60). Hier besteht eine fokussierte Verarbeitung darin, dass Informationen über Konzepte, die Teil des Prinzips sind (z. B. Folgen von Handlungen), gegeben werden und erläutert wird, welche Merkmale des Konzepts in dem Prinzip angesprochen werden (z. B. Valenz von Handlungsfolgen wie Freude und Leid). Hilfreich ist es auch, wenn erklärt wird, in welchen Situationen das Prinzip anwendbar ist. 55 56 57 58 59

Vgl. Wittwer, Jörg/Renkl, Alexander, Why instructional explanations often do not work. Vgl. Chi, Michelene T. H./Wylie, Ruth, The ICAP framework. Vgl. Smith, Patricia L./Ragan, Tillman J., Instructional design. Vgl. Roelle, Julian/Berthold, Kirsten, The expertise reversal effect. Vgl. Koedinger, Kenneth R./Corbett, Albert T./Perfetti, Charles, The Knowledge-LearningInstruction framework. 60 Vgl. Meyer, Lukas, Pflichtenethik.

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Informationen über Prozeduren nennen die Prozedur und stellen dar, welche Schritte durchzuführen sind, um ein Ziel zu erreichen (z. B. Schritte beim Argumentieren einer religiösen Überzeugung). Die Durchführung der Schritte wird anhand von Beispielen veranschaulicht. Folgt die Durchführung der Schritte einem Prinzip (z. B. Schritte gemäß einem Argumentationsmodell), können die Informationen für eine fokussierte Verarbeitung zusätzlich das Prinzip zusammen mit den am Prinzip beteiligten Konzepten (z. B. Behauptung) verdeutlichen.

7 Weiterverarbeitung mit Beispielen Bei der Präsentation von Informationen spielen Beispiele zur Veranschaulichung des Lerninhalts eine zentrale Rolle. Dies gilt vor allem für Informationen über Konzepte, Prinzipien und Prozeduren. Für Fakten hingegen gibt es keine Beispiele (z. B. beim Lernen der Vokabel Herbst – autumn), weshalb für ihr Lernen vor allem Gedächtnis- und Flüssigkeitsprozesse61 wichtig sind, die beispielsweise durch wiederholtes Testen angestoßen werden können.62 Nach der Präsentation von Informationen über Konzepte, Prinzipien oder Prozeduren empfiehlt es sich, eine Weiterverarbeitung anzuregen, indem Schüler:innen weitere Beispiele erhalten, die sie aktiv verarbeiten. Dadurch werden im Sinne der kognitiven Aktivierung aktive und konstruktive Verarbeitungsprozesse bei Schüler:innen angestoßen.63 In einem ersten Schritt können Schüler:innen je nach Lernziel Beispiele für Konzepte, Prinzipien oder Prozeduren zusammen mit ihrer jeweiligen Bezeichnung erhalten und aufgefordert werden, die Beispiele miteinander zu vergleichen (z. B. Minbar in Moschee und Kanzel in Kirche). Auf diese Weise werden verstehens- und sinnstiftende Prozesse angeregt, die es Schüler:innen erlauben, selbst die wesentlichen Eigenschaften, die ein Konzept, ein Prinzip oder eine Prozedur auszeichnen, zu erkennen.64 In der Regel ist es vorteilhaft, mehrere Beispiele geleichzeitig zu präsentieren, weil dadurch unmittelbar Ver-

61 Vgl. Koedinger, Kenneth R./Corbett, Albert T./Perfetti, Charles, The Knowledge-LearningInstruction framework. 62 Vgl. Rummer, Ralf, Der Testungseffekt beim Lernen mit Texten. 63 Vgl. Chi, Michelene T. H./Wylie, Ruth, The ICAP framework. 64 Vgl. Koedinger, Kenneth R./Corbett, Albert T./Perfetti, Charles, The Knowledge-LearningInstruction framework.

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gleichsprozesse angestoßen werden. Dieses Vorgehen wird auch als Fallvergleich bezeichnet und hat sich in vielen Studien als lernwirksam erwiesen.65 Nachdem Schüler:innen die wesentlichen Eigenschaften eines Konzepts, eines Prinzips oder einer Prozedur identifiziert haben, können sie in einem zweiten Schritt weitere Beispiele erhalten, jedoch ohne Vorgabe, welches Konzept, welches Prinzip oder welche Prozedur dem jeweiligen Beispiel zugrunde liegt. Stattdessen müssen Schüler:innen selbst mit Hilfe ihres bereits aufgebauten Wissens das Konzept, das Prinzip oder die Prozedur erkennen (z. B. Vorgabe eines Fotos eines Minbars; Präsentation eines Falls, in dem ein Mensch entsprechend der utilitaristischen Ethik handelt). Dadurch werden weitere Verallgemeinerungs- und Verfeinerungsprozesse angestoßen.66 Dabei sollten die Schüler:innen auch Rückmeldung über die Richtigkeit ihrer Lösung erhalten und bei falscher Lösung über die richtige Lösung informiert werden, damit sie Verständnisschwierigkeiten beheben können. Die Identifikation von Konzepten, Prinzipien oder Prozeduren anhand von Beispielen ist ein zentraler Bestandteil vieler effektiver Instruktionsmethoden (z. B. Schemainstruktion).67 Werden verschiedene Konzepte, Prinzipien oder Prozeduren gelernt, stellt sich die Frage, in welcher Reihenfolge die Beispiele präsentiert werden. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Bei der geblockten Präsentationsweise werden zuerst mehrere Beispiele eines Konzepts, eines Prinzips oder einer Prozedur gezeigt, bevor mehrere Beispiele eines anderen Konzepts, eines anderen Prinzips oder einer anderen Prozedur gegeben werden. Bei der verschachtelten Präsentationsweise werden die Beispiele verschiedener Konzepte, Prinzipien oder Prozeduren hingegen gemischt vorgegeben. Welches Vorgehen wirksamer ist, hängt maßgeblich von den jeweiligen Konzepten, Prinzipien oder Prozeduren ab.68 Hierzu ein Beispiel: Sind die Beispiele verschiedener Konzepte sehr ähnlich (z. B. Delfin und Hai), ist es in der Regel von Vorteil, die Beispiele in verschachtelter Form und nicht in geblockter Form zu präsentieren.69 Dadurch werden Diskriminierungsprozesse angeregt, die es erlauben, die Unterschiede zwischen den Beispielen – und damit die Unterschiede zwischen den Konzepten – zu entdecken. Sind die Beispiele desselben Konzepts hingegen sehr unähnlich (z. B. Amsel und Pinguin), ist es gewöhnlich effektiver, diese Beispiele in 65 Vgl. Alfieri, Louis/Nokes-Malach, Timothy J./Schunn, Christian D., Learning through case comparisons. 66 Vgl. Koedinger, Kenneth R./Corbett, Albert T./Perfetti, Charles, The Knowledge-LearningInstruction framework. 67 Vgl. Peltier, Corey/Vannest, Kimberley J., A meta-analysis of schema instruction. 68 Vgl. Carvalho, Paulo F./Goldstone, Robert L., Putting category learning in order. 69 Vgl. Brunmair, Matthias/Richter, Tobias, Similarity matters.

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geblockter Form und nicht in verschachtelter Form zu präsentieren.70 Dadurch werden Generalisierungsprozesse angestoßen, mit deren Hilfe die Gemeinsamkeiten zwischen den Beispielen – und damit die Gemeinsamkeiten innerhalb des Konzepts – identifiziert werden. In einem dritten Schritt können Schüler:innen je nach Lernziel anhand vorgegebener Beispiele zu weiteren Verarbeitungsprozessen angeregt werden. Beispielsweise könnten sie bei Lernzielen zu Prozeduren nicht nur die zugrundeliegende Prozedur erkennen, sondern auch erklären, warum die Schritte in der im Beispiel vorgegebenen Weise durchzuführen sind. Auch könnten sie dazu aufgefordert werden, die Schritte aus einem Beispiel dem zugrundeliegenden Prinzip zuzuordnen. Hierbei werden sowohl Verallgemeinerungs- und Verfeinerungsprozesse als auch verstehens- und sinnstiftende Prozesse angestoßen.71 Umgesetzt wird dieses Vorgehen beispielsweise bei der Instruktionsmethode des Lernens aus Lösungsbeispielen, die sich in zahlreichen Studien als lernförderlich erwiesen hat.72 Grundsätzlich stellt sich bei der Präsentation von Beispielen die Frage, wie viele Beispiele verwendet werden sollten. In der Regel beeinflusst die Komplexität von Konzepten (z. B. viele Merkmale, die ein Konzept auszeichnen), Prinzipien (z. B. viele Konzepte, die an einem Prinzip beteiligt sind) oder Prozeduren (z. B. viele Schritte, die durchzuführen sind) den Lernerfolg. Folglich könnten bei höherer Komplexität mehr Beispiele verwendet werden.73 Generell ist es auch empfehlenswert, so viele Beispiele vorzugeben, dass Schüler:innen nicht zu früh selbst Beispiele entwickeln. Auch wenn die Generierung eigener Beispiele eine hohe kognitive Aktivierung bedeutet, kann dieses Maß an kognitiver Aktivierung in einer frühen Lernphase zu hoch sein und dazu führen, dass fehlerhafte Beispiele generiert werden. Darunter kann der Lernerfolg leiden.74 Zudem kann die Entwicklung eigener Beispiele in einer frühen Lernphase Schüler:innen zu der irrigen Annahme verleiten, dass sie durch diese Aktivität besonders viel lernen.75

70 Vgl. Steininger, Tim M./Wittwer, Jörg/Voss, Thamar, Classifying examples. 71 Vgl. Koedinger, Kenneth R./Corbett, Albert T./Perfetti, Charles, The Knowledge-LearningInstruction framework. 72 Vgl. Renkl, Alexander, The worked example principles. 73 Vgl. Steininger, Tim M./Wittwer, Jörg/Voss, Thamar, Classifying examples. 74 Vgl. Zamary, Amanda/Rawson, Katherine A., Which technique is most effective. 75 Vgl. Steininger, Tim M./Wittwer, Jörg/Voss, Thamar, Classifying examples.

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8 Verwendung von Prompts Es wurde dargestellt, dass Schüler:innen dazu angeregt werden können, Beispiele zu verarbeiten. Dies geschieht in der Regel mit Hilfe von Prompts.76 Prompts sind Hinweise, die dazu beitragen, dass ein bestimmtes Verhalten gezeigt wird.77 Häufig werden verbale Prompts eingesetzt. Beispielsweise kann ein verbaler Prompt dazu auffordern, dass Schüler:innen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen vorgegebenen Beispielen suchen. In Abhängigkeit des Leistungsstands von Schüler:innen können verbale Prompts unterschiedlich gestaltet sein: Bei leistungsstärkeren Schüler:innen können allgemeine verbale Prompts ausreichend sein.78 Diese Prompts fordern zu einer Lernaktivität auf, ohne genauer anzugeben, wie diese Lernaktivität durchzuführen ist (z. B. Vergleiche die Beispiele miteinander!). Wird erwartet, dass leistungsschwächere Schüler:innen von einem allgemeinen Prompt nicht profitieren, können spezifische verbale Prompts, die genauere Hinweise geben, wie eine Lernaktivität umzusetzen ist, eingesetzt werden (z. B. Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Beispielen!). Sind verbale Prompts generell nicht wirksam, können die Lernaktivitäten auch von den Lehrer:innen in Form eines Modellierungsprompts demonstriert werden.79 Bei der Nutzung von Prompts ist grundsätzlich darauf zu achten, dass Prompts nicht die eigenständige Durchführung von Lernaktivitäten einschränken, indem Schüler:innen nur noch dann Lernaktivitäten zeigen, wenn sie durch Prompts dazu aufgefordert werden.80 Daher sollten Prompts nicht mehr eingesetzt werden, wenn Schüler:innen ausreichende Fähigkeiten in der Ausübung der erforderlichen Lernaktivitäten entwickelt haben. Umgekehrt sollten Prompts erst gar nicht verwendet werden, wenn Schüler:innen auch ohne Prompts die Lernaktivitäten zeigen können.81

76 Vgl. Berthold, Kirsten/Renkl, Alexander, How to foster active processing of explanations. 77 Vgl. MacDuff, Gregory S./Krantz, Patricia J./McClannahan, Lynn E., Prompts and promptfading strategies. 78 Vgl. Alfieri, Louis/Nokes-Malach, Timothy J./Schunn, Christian D., Learning through case comparisons. 79 Vgl. Berthold, Kirsten/Renkl, Alexander, How to foster active processing of explanations. 80 Vgl. MacDuff, Gregory S./Krantz, Patricia J./McClannahan, Lynn E., Prompts and promptfading strategies. 81 Vgl. Roelle, Julian/Berthold, Kirsten, The expertise reversal effect.

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9 Fazit In diesem Beitrag haben wir aufgezeigt, dass die Coronazeit große Herausforderungen für Lehrer:innen und Schüler:innen mit sich brachte. Insbesondere war es aufgrund der mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen für Lehrer:innen schwierig, einen kognitiv aktivierenden Unterricht zu gestalten. Vor diesem Hintergrund haben wir instruktionspsychologische Modelle vorgestellt, die eine Konkretisierung von kognitiver Aktivierung als Basisdimension von Unterrichtsqualität erlauben. Auf der Grundlage dieser instruktionspsychologischen Modelle haben wir anhand der Darbietung von Informationen und deren Weiterverarbeitung mit Hilfe von Beispielen und Prompts exemplarisch dargestellt, wie eine kognitive Aktivierung umgesetzt werden kann. Diese Darstellung zeigt, dass es mit Hilfe einer instruktionspsychologisch fundierten Unterrichtsgestaltung prinzipiell möglich ist, auch unter den erschwerten Bedingungen einer Pandemie eine hohe kognitive Aktivierung bei Schüler:innen zu erreichen. Das skizzierte Vorgehen ist selbstverständlich nicht die einzige Möglichkeit, Unterricht mit einer hohen kognitiven Aktivierung umzusetzen. Es ist allerdings besonders dann geeignet, wenn Lehrkräfte neue Lerninhalte präsentieren, die sich Schüler:innen aufgrund von Einschränkungen, wie es in der Coronazeit der Fall war, vor allem allein und ohne direkte Unterstützung durch Lehrer:innen aneignen müssen. Literatur Alfieri, Louis/Nokes-Malach, Timothy J./Schunn, Christian D., Learning through case comparisons: A meta-analytic review, in: Educational Psychologist 48 (2013) 87–113. [https://doi.org /10.1080/00461520.2013.775712]. Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike/Blum, Werner, et al., Teachers’ mathematical knowledge, cognitive activation in the classroom, and student progress, in: American Educational Research Journal 47 (2010) 133–180. [https://doi.org/10.3102/0002831209345157]. Berthold, Kirsten/Renkl, Alexander, How to foster active processing of explanations in instructional communication, in: Educational Psychology Review 22 (2010) 25–40. [https://doi. org/10.1007/s10648-010-9124-9]. Brunmair, Matthias/Richter, Tobias, Similarity matters: A meta-analysis of interleaved learning and its moderators, in: Psychological Bulletin 145 (2019) 1029–1052. [https://doi.org/10.1037/ bul0000209]. Carvalho, Paulo F./Goldstone, Robert L., Putting category learning in order: Category structure and temporal arrangement affect the benefit of interleaved over blocked study, in: Memory & Cognition 42 (2014) 481–495. [https://doi.org/10.3758/s13421-013-0371-0]. Chan, Mei-ki/Sharkey, Jill D./Lawrie, Smaranda I. et al., Elementary school teacher well-being and supportive measures amid COVID-19: An exploratory study, in: School Psychology 36 (2021) 533–545. [https://doi.org/10.1037/spq0000441].

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Qualität im digitalen Religionsunterricht – Gelingensbedingungen für Lernprozesse aus der Perspektive von Schüler:innen und Lehrer:innen Andrea Dietzsch

1 Einleitung Im März 2020 musste Religionsunterricht plötzlich digital werden. Religionslehrende standen vor der Herausforderung, Lernen für alle im digitalen Setting zu ermöglichen: Welche Kriterien sind aber empirisch belegbar, die dazu beitragen, dass Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht gelingen können? Aus der Perspektive von Schüler:innen und Lehrer:innen zeigt der vorliegende Beitrag Impulse für gelingende Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht auf. Sie beruhen auf quantitativen und qualitativen Befragungen von (Religions-)Schüler:innen sowie der Auswertung von Unterrichtsbeispielen von Religionslehrer:innen. Die empirischen Daten werden mit den (in der allgemeinen Bildungswissenschaft gegenwärtig anerkannten) Basisdimensionen von Unterrichtsqualität diskutiert. Diese Diskussion soll Aufschluss darüber geben, inwiefern Qualitätskriterien, die im Präsenzunterricht erforscht wurden, auch Geltung für den digitalen Religionsunterricht haben. Sie soll außerdem aufzeigen, welche Gelingensbedingungen sich aus dem Spezifikum des Religionsunterrichts ergeben und damit, welche Aspekte von Unterrichtsqualität aus religionsdidaktischer Perspektive eingebracht werden können. Diese Ergebnisse sind von großer Bedeutung, weil der in der allgemeinen bildungswissenschaftlichen Forschung untersuchte Unterricht momentan vorwiegend auf der empirischen Erforschung des Präsenzunterrichts der Hauptfächer, nicht aber des Religionsunterrichts beruht. Der Beitrag schließt mit Kriterien für Qualität im digitalen Religionsunterricht, wie Lernen für alle ermöglicht werden kann.

2 Forschungsdesign Die folgenden Ergebnisse beruhen auf unterschiedlichen Studien, die die Wahrnehmung des digitalen Religionsunterrichts während der Covid-19-bedingten

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Schulschließungen von März bis (zum Teil) Juni 2020 aus Perspektive der Lernenden einerseits und aus Perspektive der Lehrenden andererseits erfassen. Die Perspektive der Schüler:innen wurde im Rahmen einer qualitativen Studie erhoben. Nach Abschluss des Schuljahres 2019/20 wurden insgesamt 13 Schüler:innen an sechs verschiedenen Schulen in Baden-Württemberg zu ihren Erfahrungen im und mit dem digitalen Religionsunterricht via synchroner Videokonferenz einzeln befragt.1 Ihre Wahrnehmungen wurden mithilfe qualitativer, teilstandardisierter Interviews erfasst. Als Interviewform wurde das problemzentrierte Interview nach Andreas Witzel2 gewählt; die Auswertung der Interviews orientiert sich am qualitativ-inhaltsanalytischen Vorgehen nach Philipp Mayring.3 Ergänzt wird die Perspektive der Religionsschüler:innen durch empirische Studien, die die Wahrnehmung von Schüler:innen auf den digitalen Unterricht in anderen Fächern oder auf Schule allgemein während des ersten Lockdowns untersuchen.4 Sie stellen eine Hintergrundfolie dar, mit der die empirischen Ergebnisse der qualitativen Studie zum digitalen Religionsunterricht diskutiert und kontrastiert werden – auch um Unterschiede zum oder Spezifika von digitalem Religionsunterricht erkennen zu können. Um die Perspektive der Religionslehrer:innen auf gelungene Lehr-Lern-Prozesse im digitalen Religionsunterricht zu erfassen, werden insgesamt 14 Unterrichtsbeispiele mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse5 induktiv-deduktiv ausgewertet. Religionslehrer:innen verschriftlichten ihre Vorstellung von gutem digitalen Religionsunterricht anhand eines konkreten Unterrichtsbeispiels, das sie zwischen März und Juni 2020 digital unterrichteten.6 Aus den Wahrnehmungen der Religionsschüler:innen konnten ebenso wie aus den Wahrnehmungen der Religionslehrer:innen Kategorien formuliert werden, die Aufschluss darüber geben, welche Kriterien Lernende und Lehrende für gelingende Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht als bedeutsam bewerten. 1 Ausführlich dazu: Vgl. Dietzsch, Andrea/Pfister, Stefanie, Digitaler Religionsunterricht, 54–70. 2 Vgl. Witzel, Andreas, Verfahren der qualitativen Sozialforschung. 3 Vgl. Mayring, Philipp, Qualitative Inhaltsanalyse. Die anonymisierten Interviewtranskripte können bei der Autorin eingesehen werden. 4 Vgl. Calmbach, Marc/Flaig, Bodo/Ewards, James u. a., Sonderkapitel der Sinus-Jugendstudie 2020; Andresen, Sabine/Heyer, Lea/Lips, Anna u. a., JuCo 1-Studie 2020; Rathgeb, Thomas, JIMplus Corona 2020; Huber, Stephan Gerhard/Günther, Paula Sophie/Schneider, Nadine u. a., COVID-19 und aktuelle Herausforderungen in Schule und Bildung; Wacker, Albrecht/ Unger, Valentin/Rey, Thomas, »Sind doch Corona-Ferien, oder nicht?«; Göllner, Richard/Jaekel, Ann-Kathrin, CUNITAS-Studie 2021; Helm, Christoph/Huber, Stephan/Loisinger, Tina, Was wissen wir …? 5 Vgl. Mayring, Philipp, Qualitative Inhaltsanalyse. 6 Ausführlich dazu: Vgl. Dietzsch, Andrea/Pfister,Stefanie, Digitaler Religionsunterricht, 76–147.

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3 Qualitätskriterien – Wie können Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht gelingen? Qualität im Unterricht bemisst sich im Folgenden daran, inwiefern Lernen für alle Schüler:innen der Schüler:innengruppe im jeweiligen Unterricht ermöglicht wird. Für die Diskussion der Qualitätskriterien im Präsenzunterricht mit den Gelingensbedingungen für Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht bilden jene Tiefenstrukturen des Unterrichts eine orientierende Struktur, die als generische Grunddimensionen der Unterrichtsqualität gegenwärtig empirisch validiert sind: Effektive Klassenführung, Konstruktive Unterstützung und Kognitive Aktivierung. Sie werden mit Eckhard Klieme7 um das Kriterium der Fachlichkeit als fachwissenschaftliche und -didaktische Kompetenz der Lehrperson erweitert.8 3.1 Effektive Klassenführung Die Basisdimension der Effektiven Klassenführung fokussiert darauf, wie gut es gelingt, »den Unterricht so zu steuern, dass Schülerinnen und Schüler die Ziele des Unterrichts verstehen, möglichst wenige Störungen auftreten, alle beim Lernen beteiligt sind und Unterrichtszeit somit effektiv genutzt werden kann«.9 Eine effektive Klassenführung verlangt von der Lehrperson ein hohes Maß an methodischem und didaktischem Repertoire, aber auch von whitinness (Allgegenwärtigkeit)10, um souverän und adäquat auf unerwartetes Verhalten von Lernenden reagieren zu können bzw. dieses erst gar nicht auftreten zu lassen. Aus den Studien zum digitalen Religionsunterricht sind einige Aspekte der effektiven Klassenführung empirisch belegbar: Zur Prävention von Störungen kann im digitalen Religionsunterricht erstens die Unterstützung in struktureller Hinsicht beitragen. Dies stellt gegenüber den Anforderungen im Präsenzunterricht sicherlich ein Novum dar: Damit Lernen im digitalen Religionsunterricht überhaupt gelingen kann, müssen Lernende über einen Raum zum   7 Klieme, Eckhard, Unterrichtsqualität, 404 f.   8 Im Folgenden kann keine ausführliche Darstellung der Basisdimensionen geleistet werden, sie findet sich u. a. bei: Dietzsch, Andrea/Pfister, Stefanie, Digitaler Religionsunterricht, 19–29; Klieme, Eckhard, Unterrichtsqualität, 393–408; Kunter, Mareike/Trautwein, Ulrich, Psychologie des Unterrichts; Lipowsky, Frank/Bleck, Victoria, Was wissen wir über guten Unterricht?, 219–249; Schweitzer, Friedrich, Religion noch besser unterrichten.   9 Trautwein, Ulrich/Sliwka, Anne/Dehmel, Alexandra, Grundlagen für einen wirksamen Unterricht, 9. 10 Vgl. Kounin, Jacob, Techniken der Klassenführung, 85 ff.

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ungestörten Lernen sowie Hard- und Software für digitalen Unterricht verfügen und im Umgang damit unterstützt werden. Somit schließt die effektive Klassenführung im digitalen Setting eine Unterstützung der Lernenden schon vor dem eigentlichen Lernprozess mit ein, um Störungen aufgrund technischer Schwierigkeiten etc. zu vermeiden. Zur Prävention von Störungen kann zweitens die Klarheit der Unterrichtsstruktur, der Aufgaben und Arbeitsaufträge sowie der Kommunikations- und Verhaltensregeln beitragen. Für den digitalen Religionsunterricht wird eine transparent erkennbare und nachvollziehbare Struktur des Unterrichtsprozesses von den Befragten sogar als grundlegend für Lernprozesse erachtet. Die empirischen Ergebnisse belegen eindrücklich, dass die Aufgaben und Regeln im digitalen Religionsunterricht im Vergleich zum Religionsunterricht in Präsenz noch konkreter, klarer und unmissverständlicher formuliert sein müssen. Dies begründen die befragten Schüler:innen und Lehrer:innen damit, dass die Mimik oder Gestik der Lehrperson im digitalen Raum größtenteils wegfallen und sie zur Klarheit der Aufgabenstellung nicht unterstützend wirksam sein können. Besonders wichtig sind klare Arbeitsaufträge als Voraussetzung für gelingende Lernprozesse, wenn Schüler:innen in einer Kombination aus asynchronen und synchronen Unterrichtssequenzen eigenständig arbeiten sollen. Zur Prävention von Störungen trägt im digitalen Religionsunterricht drittens die direkte, synchrone Kommunikation bei: Lehrende müssen bei auftretenden Unsicherheiten oder Verständnisschwierigkeiten erreich- und ansprechbar sein. Weiter konnte empirisch belegt werden, dass digitaler Religionsunterricht ein breites didaktisches Repertoire erfordert, um Lernen für alle zu ermöglichen. Im Vergleich zum Religionsunterricht in Präsenz ist eine andere Didaktik und Methodik notwendig, die die Gefahr des Monologisierens (v. a. von Lehrenden) durch Formen der Interaktion, Kooperation, Kollaboration und Diskussionen (auch im geschützten Rahmen) aktiv vermeidet. Auch die Kombination von synchronen und asynchronen Elementen stellt eine Möglichkeit dar, Lernen für unterschiedliche Lerntypen didaktisch zu ermöglichen, da beide Elemente unterschiedliche Funktionen im Lernprozess erfüllen und auf unterschiedliche Art und Weise das Lernen fördern. Gegenüber dem Unterricht in Präsenz stellt die absichtliche, eigenständige Integration von asynchronen Elementen in die Unterrichtskonzeption eine neue didaktische Dimension für Unterrichtsqualität dar. Sie ermöglicht jenen Lernenden das Lernen, die Schule oder unterrichtliche Anforderungen als Stressoren und das ungestörte Arbeiten zu Hause als positiv empfinden. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die effektive Klassenführung ein bedeutsames Kriterium für die Qualität von digitalem Religionsunterricht

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ist. Im Vergleich zu den Aspekten der effektiven Klassenführung in Präsenz lassen sich aufgrund der hier vorliegenden Ergebnisse vier bemerkenswerte Unterschiede konstatieren: Erstens kann Lernen im digitalen Religionsunterricht nur gelingen, wenn die (technischen und räumlichen) Voraussetzungen des Lernen-Könnens gegeben sind und damit keine Störungen aufgrund struktureller Probleme den Lernprozess ver- oder behindern. Zweitens ist die Klarheit der Aufgaben und Regeln im digitalen Setting im Vergleich zum Präsenzunterricht bedeutsamer und elementarer, um Lernen zu ermöglichen – besonders auch im Hinblick auf das eigenständige Arbeiten in asynchronen Unterrichtssequenzen. Drittens muss eine Didaktik für den digitalen Unterricht aktiv und im Vergleich zum Präsenzunterricht viel bewusster und gezielter interaktives Arbeiten zwischen Schüler:innen anbahnen, um alle am Lernen zu beteiligen.11 Viertens kann eine Didaktik im digitalen Raum durch asynchrone, in die Unterrichtskonzeption absichtsvoll integrierte Sequenzen jenen Lernendentypen Lernen ermöglichen, die das selbstregulierte, vom Druck im Klassenzimmer befreite Arbeiten zu Hause als lernförderlich wahrnehmen und schätzen. 3.2 Konstruktive Unterstützung Die Basisdimension der Konstruktiven Unterstützung soll »vor allem die psycho-soziale Entwicklung unterstützen, Motivation und Selbstkonzept«12 fördern. Diese Basisdimension kann sich lernförderlich auswirken durch »positive, durch Respekt und Wertschätzung geprägte Beziehungen zwischen Lehrkräften und Lernenden …, regelmäßige Erfassung des individuellen Lernfortschritts von Schülerinnen und Schülern und effektives Feedback (formatives Assessment), eine positive Fehlerkultur, die Fehler als notwendigen Teil von Lernprozessen betrachtet und konstruktiv als Lernchance nutzt …, [sowie] strukturierende und erklärende Maßnahmen und Hilfestellungen bei Verständnisschwierigkeiten (Scaffolding).«13 Die als Kriterium für konstruktive Unterstützung genannte Beziehung zwischen Lehrer:in und Schüler:in ist für den digitalen Religionsunterricht eindrücklich empirisch belegt. Besonders aus der Perspektive der Lernenden kann dezidiert formuliert werden, dass sie die wichtigste Voraussetzung für gelingende Lernprozesse und damit von größerer Bedeutung als in anderen Fächern ist – und dies aus zweierlei Gründen: Erstens ist die Beziehung zwischen 11 Vgl. Trautwein, Ulrich/Sliwka, Anne/Dehmel, Alexandra, Grundlagen für einen wirksamen Unterricht, 9. 12 Klieme, Eckhard, Unterrichtsqualität, 402. 13 Sliwka, Anne/Klopsch, Britta/Dumont, Hanna, Konstruktive Unterstützung, 4.

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Schüler:innen und Lehrer:in essenziell für eine vertrauensvolle und wertschätzende Atmosphäre, die eine Auseinandersetzung mit existenziellen Themen des Religionsunterrichts sowie eine (persönliche und damit angreifbar-verletzliche) Positionierung und Meinungsfindung ermöglicht. Zweitens stellt die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden die Voraussetzung für die kognitive Aktivierung dar. Dies begründen die Religionsschüler:innen damit, dass nur jene Religionslehrer:innen in der Lage sind, kognitiv aktivierenden Unterricht zu gestalten, die die Schüler:innen mit ihren Interessen, ihrem Vorwissen und kognitiven Leistungspotenzial wahrnehmen. Im Vergleich zur Beziehungsgestaltung im Präsenzunterricht und im alltäglichen Begegnungsraum Schule müssen sich Lehrende im digitalen Religionsunterricht anderer Formate und Kommunikationswege bedienen, um das persönliche Gespräch zu Schüler:innen zu suchen und damit Beziehungen aufzubauen bzw. zu pflegen. Wie die empirischen Ergebnisse belegen, ist die konstruktive Unterstützung der Schüler:innen von großer Bedeutung, damit Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht gelingen – und dies umso mehr, je jünger die Schüler:innen sind und je weniger familiäre Unterstützung sie bekommen (können). Im Vergleich zum Unterricht in Präsenz muss die konstruktive Unterstützung allerdings schon früher ansetzen, nämlich indem sie die Voraussetzungen für Lernen schafft: Lernen ist im digitalen Unterricht erstens nur möglich, wenn Lehrende Lernende bei der technischen und häuslich-räumlichen Infrastruktur unterstützen (siehe oben), zweitens, wenn Lehrende Lernende beim Erwerb von Selbstorganisationskompetenz unterstützen: Letzteres stellt vor allem für jene Schüler:innen die Voraussetzung zum (asynchronen) Lernen dar, die ihre Selbstregulations- und Selbstorganisationskompetenz als gering einschätzen und keine familiäre Unterstützung erhalten. Drittens kann Lernen im digitalen Religionsunterricht gelingen, wenn Lehrende bei auftretenden Unsicherheiten oder Verständnisschwierigkeiten ansprechbar sind und den Lernprozess kontinuierlich unterstützen. So ist auch das formative Feedback als regelmäßige Erfassung des individuellen Lernfortschritts als Gelingensbedingung für das Lernen im digitalen Religionsunterricht empirisch belegt: Vor allem für Religionsschüler:innen ist ein individuelles, klares, zielorientiertes, regelmäßiges und zeitnahes Feedback bedeutsam für ihren Lernzuwachs und trägt (sogar) maßgeblich zu ihrer Motivation bei. Weiter ist die Unterstützung des Lernprozesses durch Differenzierung vor allem aus der Perspektive der Religionslehrer:innen eindrücklich, etwas zurückhaltender aus der Perspektive der Lernenden empirisch belegbar: Lernen kann im digitalen Religionsunterricht gelingen, wenn differenzierte Fragestellungen oder Methoden die Auseinandersetzung mit den Unterrichtsinhalten für heterogene Lerngruppen hinsichtlich des Vorwissens,

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der Interessen und der Motivation ermöglichen und sowohl extrovertierten als auch eher zurückhaltenden Schüler:innen gleichermaßen Gelegenheit zum aktiven Lernen bieten. Im Vergleich zum Präsenzunterricht ist die Vielfalt der differenzierenden Methoden aufgrund des digitalen Formats ausgeprägter und breiter (möglich). Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die konstruktive Unterstützung ein bedeutsames Kriterium für die Qualität von digitalem Religionsunterricht ist. Im Vergleich zu den Qualitätskriterien von Unterricht in Präsenz lassen sich aufgrund der hier vorliegenden Ergebnisse zwei bemerkenswerte Unterschiede formulieren, die im digitalen Format begründet sind. So muss die konstruktive Unterstützung im digitalen Religionsunterricht bereits vor dem eigentlichen Lernprozess beginnen, um Lernen überhaupt zu ermöglichen: Das trifft zum einen auf die Unterstützung bei der technischen und räumlichhäuslichen Infrastruktur zu, zum anderen aber auch beim Erwerb von Selbstregulationskompetenz und Selbstorganisationskompetenz. Beide Kompetenzen stellen immer, aber sicherlich in besonderer Weise im digitalen, mitunter asynchronen, sozialkontaktlosen Format wichtige Voraussetzungen dafür dar, dass Lernen stattfinden kann. Weiter ergeben sich aus dem Wegfall des schulischen Kontextes als alltäglichem Begegnungsraum bedeutsame Konsequenzen für die Lernbegleitung und die Lehrende-Lernende-Beziehung: Zum einen muss das Scaffolding andere Formen annehmen, d. h., dass Lehrende aktiv nach anderen Formen der kontinuierlichen Lernbegleitung von Lernenden im digitalen Setting suchen müssen. Weil alltägliche Begegnungen und zufällige, das Interesse am Lernenden zum Ausdruck bringende Gespräch aufgrund des digitalen Formats nicht möglich ist, müssen sich Lehrende im digitalen Religionsunterricht anderer Formate und Kommunikationswege bedienen, um eine professionelle Beziehung zu Schüler:innen aufzubauen und zu pflegen. 3.3 Kognitive Aktivierung Als dritte Basisdimension guten Unterrichts ist die Kognitive Aktivierung von hoher Bedeutung für die Lernprozesse der Schüler:innen.14 Kognitive Aktivierung kann ermöglicht werden, indem der Lernstoff so aufbereitet wird, dass die Lernenden »sich aktiv und engagiert mit dem Lernstoff auseinander[…]setzen«15 14 Vgl. Fauth, Benjamin/Decristan, Jasmin/Rieser, Svenja u. a., Grundschulunterricht, 127–137; Decristan, Jasmin/Hondrich, Lena/Büttner, Gerhard et al., Impact of additional guidance, 358–370; Fauth, Benjamin/Leuders, Timo, Kognitive Aktivierung im Unterricht. 15 Trautwein, Ulrich/Sliwka, Anne/Dehmel, Alexandra, Grundlagen für einen wirksamen Unterricht, 9.

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und »eine tiefe kognitive Verarbeitung stattfinden«16 kann, weshalb präziser von einem Potenzial der kognitiven Aktivierung gesprochen werden muss. Ein kognitiv aktivierender Unterricht kann ermöglicht werden durch »anspruchsvolle Aufgaben und diskursive Auseinandersetzungen«, die »kognitive Konflikte auslösen, problemlösendes Denken und metakognitive Prozesse anregen [können]. Konzepte werden eigenständig re-konstruiert, also individuell angeeignet, Neuartiges wird elaboriert und in komplexe Denkstrukturen integriert«.17 Die empirischen Daten zum digitalen Religionsunterricht belegen die Bedeutsamkeit dieses Qualitätskriteriums eindrücklich: Religionsschüler:innen und -lehrer:innen haben eine klare Vorstellung davon, dass eine kognitive Aktivierung angebahnt werden muss und kann, indem Lehrende Unterricht und Unterrichtsinhalte didaktisch so gestalten, dass Schüler:innen eine Beziehung zu den Inhalten aufbauen können. Eine Resonanz zwischen Unterrichtsgegenstand und Schüler:innen kann ermöglicht werden, wenn sich der Unterrichtsinhalt den Schüler:innen als lebensweltrelevant und existentiell bedeutsam erschließt, er für sie eine kognitive Herausforderung darstellt und drittens in Auseinandersetzung mit Mitschüler:innen er- bzw. bearbeitet wird. Aus Perspektive der Religionsschüler:innen wird die kognitive Aktivierung durch zwei Voraussetzungen bedingt – zum einen durch die Beziehungsgestaltung, zum anderen durch die Fachkompetenz der Religionslehrperson. Ihres Erachtens sind nur jene Religionslehrer:innen in der Lage, kognitiv aktivierenden Unterricht zu gestalten, die die Schüler:innen als Person (mit ihren außerunterrichtlichen Interessen, ihrem Vorwissen und kognitiven Leistungspotenzial) wahrnehmen und zu ihnen eine professionelle Beziehung pflegen. Die Fachkompetenz stellt im digitalen Religionsunterricht die zweite und etwas nachgeordnete Voraussetzung für das Potenzial dar, Schüler:innen kognitiv zu aktivieren, insofern sie es Lehrenden ermöglicht, die Unterrichtsinhalte didaktisch lerngruppenadäquat und damit kognitiv aktivierend aufzubereiten (s. u.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die für den Präsenzunterricht (anderer Fächer) empirisch validierte Dimension der kognitiven Aktivierung auch für den digitalen Religionsunterricht belegt und durch den Aspekt der Beziehung/Resonanz differenziert werden kann.

16 Klieme, Eckhard, Unterrichtsqualität, 402. 17 Ebd., 402 f.

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3.4 Fachwissenschaftliche und -didaktische Kompetenz Als viertes Qualitätskriterium für Unterricht wird die Fachlichkeit der Lehrperson gegenwärtig diskutiert. Sie ermöglicht es Lehrenden, Fachinhalte im Hinblick auf das konkrete Vorwissen, den kognitiven Stand und den lebensweltlichen Kontext der Schüler:innengruppe aufzubereiten und damit inhaltliche Lerngelegenheiten (opportunities to learn) anzubieten und so zu einer fokussierten Informationsverarbeitung beizutragen.18 Die Fachkompetenz der Lehrenden wird vor allem aus Perspektive der Religionsschüler:innen als wichtig bewertet. Für die Lernenden stellt sie aus zweierlei Gründen eine bedeutsame Gelingensbedingung für Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht dar: Ihres Erachtens erlaubt die Fachkompetenz zum einen eine fachwissenschaftlich korrekte, fachdidaktisch lerngruppenadäquate und kognitiv aktivierende Aufbereitung von Unterrichtsinhalten; zum anderen ermöglicht sie eine konstruktive Unterstützung des individuellen Lernprozesses, indem sie zur Diagnose dessen beiträgt, was Lernende fachlich (schon) beherrschen und welche Entwicklungspotenziale sie haben. Die befragten Religionsschüler:innen formulieren allerdings klar, dass die Fachkompetenz der Religionslehrperson oder die (Beschaffenheit und Aufbereitung der) Inhalte des Religionsunterrichts eine geringere Bedeutung für die Qualität des digitalen Religionsunterrichts haben als eine wertschätzende Beziehung zwischen Lehrer:in und Schüler:in. Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass das im Präsenzunterricht empirisch validierte Qualitätskriterium der Fachlichkeit als Kombination von Fachkompetenz und Fachdidaktik als eine bedeutsame Gelingensbedingung für Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht empirisch bestätigt werden kann. 3.5 Spezifische Qualitätskriterien des (digitalen) Religionsunterrichts Aus der Diskussion mit den Qualitätskriterien des Präsenzunterrichts anderer Fächer lassen sich Aspekte von Unterrichtsqualität formulieren, die aus dem besonderen Profil des Religionsunterrichts erwachsen: Sie alle sind unter dem Stichwort von Resonanz oder Beziehung zusammenzufassen und werden im Folgenden in der Reihenfolge ihrer Bedeutsamkeit für gelingende Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht aufgeführt. Als übergeordnete und damit bedeutsamste Beziehung ist jene zwischen Lehrenden und Lernenden zu nennen. Die Beziehung zwischen Schüler:in und 18 Vgl. Lipowsky, Frank/Bleck, Victoria, Was wissen wir über guten Unterricht?, 228 f.

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Lehrer:in stellt die grundlegende Voraussetzung für Lernprozesse im Religionsunterricht dar, sowohl im digitalen Format als auch in Präsenz: »Die Beziehung legt fest, was in dem Unterricht möglich ist, … um den Religionsunterricht überhaupt als solchen zu ermöglichen« (David, #00:24:27–3#). Aus Perspektive der Religionsschüler:innen unterscheidet dies den Religionsunterricht grundlegend vom Unterricht anderer Fächer. Die Lehrende-Lernende-Beziehung wird außerdem als Voraussetzung sowohl für die kognitive Aktivierung als auch für die konstruktive Unterstützung von Schüler:innen bewertet. Damit kann postuliert werden, dass – zumindest für den Religionsunterricht im digitalen Format – die Beziehung zwischen Schüler:in und Lehrer:in nicht nur eine Dimension der effektiven Klassenführung ist, sondern geradezu als Überbegriff allen pädagogisch-didaktischen Handelns im Unterricht gesehen werden kann: Sie ist das Wasserzeichen, auf dem die effektive Klassenführung, die konstruktive Unterstützung und die kognitive Aktivierung basieren. Auch die Fachlichkeit der Lehrperson kann ohne eine solche Beziehung nicht lernwirksam werden. Somit kann konstatiert werden, dass ohne eine wertschätzende Beziehung zwischen Religionslehrer:innen und -schüler:innen kein Lernen-Wollen und -Können im (digitalen) Religionsunterricht stattfindet. Die zweite Beziehungsebene ist die zwischen Schüler:innen. Erst in der Beziehung, Interaktion, Zusammenarbeit und dadurch in der Begegnung mit anderen Schüler:innen begegnen sie dem Unterrichtsgegenstand und (auch) sich (anders) und werden am »Du zum Ich«19. Die dritte Beziehungsebene ist schließlich jene zwischen Schüler:innen und Unterrichtsgegenstand. Sie lässt sich sicherlich nicht als Alleinstellungsmerkmal des Religionsunterrichts im Vergleich zu anderem Fachunterricht plausibilisieren. Dennoch ist eine Beziehung zum Unterrichtsgegenstand notwendig, um einen Lernzuwachs im digitalen Religionsunterricht zu evozieren. Die Wahrnehmungen der Religionsschüler:innen und -lehrer:innen weisen darauf hin, dass im Vergleich zu (einigen) anderen Fächern die Bedeutung und Intention dieser Beziehung von Schüler:in und Unterrichtsgegenstand zu unterscheiden sind: Um gelingende Lernprozesse überhaupt zu ermöglichen, sind auch im digitalen Religionsunterricht die Lebensweltrelevanz und existentielle Bedeutung der Inhalte von großer Bedeutung. Somit ist der Beziehungsaspekt in dreifacher Hinsicht als spezifisches Qualitätskriterium des Religionsunterrichts zu formulieren, wenngleich die Beziehung zwischen Schüler:in und Lehrer:in die weitaus größte Bedeutung für gelingende

19 Buber, Martin, Werke, 97.

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Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht darstellt und sogar als deren Voraussetzung wahrgenommen wird.

4 Qualität im digitalen Religionsunterricht – fünf Thesen für gelingende Lernprozesse 1. Eine wertschätzende Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden stellt die Grundlage für gelingende Lernprozesse im digitalen Religionsunterricht dar. Lehrende müssen Schüler:innen als Individuum und Person mit ihren (außerunterrichtlichen) Interessen, ihrem Vorwissen, ihrer emotionalen Verfasstheit sowie ihrem kognitiven Leistungspotenzial und -stand wahr- und ernstnehmen und ihnen die Möglichkeit geben, als Expert:innen ihres Lernens an Lernprozessen und -inhalten zu partizipieren. Eine von Vertrauen und Respekt geprägte Lehrende-Lernende-Beziehung stellt die wichtigste Voraussetzung für den digitalen Religionsunterricht dar, um Schüler:innen eine Auseinandersetzung mit existentiellen Themen des Religionsunterrichts sowie eine (persönliche und damit angreifbar-verletzliche) Positionierung und Meinungsfindung zu ermöglichen. Die Beziehung zwischen Schüler:in und Lehrer:in muss im digitalen Religionsunterricht als Überbegriff allen pädagogisch-didaktischen Handelns im Unterricht gesehen werden. Allerdings beginnt und endet eine wertschätzende Lehrende-Lernende-Beziehung nicht im 45-Minuten-Takt: Sie bedarf außerunterrichtlicher Begegnungen und persönlicher Gespräche im alltäglichen Begegnungsraum Schule. Qualität im digitalen Religionsunterricht bemisst sich deshalb auch daran, welche anderen Formate und Kommunikationswege Religionslehrer:innen finden, um Begegnung und Beziehung im digitalen Setting zu evozieren. 2. Lernen für alle kann im digitalen Religionsunterricht ermöglicht werden, wenn Formen der konstruktiven Unterstützung und damit der individuellen Lernbegleitung integriert werden. Sie sind für gelingende Lernprozesse umso bedeutsamer, je jünger die Schüler:innen sind und je weniger familiäre Unterstützung sie erhalten. Lernen kann im digitalen Religionsunterricht nur dann gelingen, wenn dafür die technischen und räumlich-häuslichen Voraussetzungen geschaffen sind, weshalb die konstruktive Unterstützung im digitalen Format bereits vor dem eigentlichen Lernprozess beginnt. Kon­ struktive Unterstützung bedeutet im digitalen Religionsunterricht außerdem, die Lernenden zum selbstorganisierten und selbstregulierten Lernen zu befähigen und sie in ihrem individuellen Lernprozess kontinuierlich und in synchroner Kommunikation zu begleiten: Eine individuelle Lernbeglei-

Qualität im digitalen Religionsunterricht

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tung ist im digitalen Religionsunterricht elementar für gelingende Lernprozesse und zeigt sich in der (zeitnahen) Erreich- und Ansprechbarkeit der Lehrenden bei auftretenden Unsicherheiten oder Verständnisschwierigkeiten und in einem regelmäßigen Feedback, das individuelle Lernstände und -potenziale reflektiert und maßgeblich zur Motivation der Schüler:innen beiträgt. Eine konstruktive Unterstützung zeigt sich außerdem in der Wahrnehmung von heterogenen Lerntypen und -interessen sowie deren Vorwissen und kognitiven Potenzialen und in ihrem differenzierenden Umgang damit. Qualität im digitalen Religionsunterricht kann durch die Klarheit der Unterrichtsstruktur, der Aufgaben und Arbeitsaufträge (auch für asynchrone Unterrichtssequenzen) sowie der Kommunikations- und Verhaltensregeln erreicht werden: Um im digitalen Religionsunterricht Lernprozesse konstruktiv zu unterstützen, müssen Aufgaben und Regeln noch konkreter, klarer und unmissverständlicher formuliert sein als im Präsenzunterricht. Dazu muss reflektiert werden, welche synchronen, digitalen Formate und ritualisierten Formen der Kommunikation und Lernbegleitung eine in diesem Sinne umfassende konstruktive Unterstützung gewährleisten und welche strukturellen Herausforderungen bewältigt werden müssen. 3. Lernen kann im digitalen Religionsunterricht gelingen, wenn die kognitive Aktivierung der Schüler:innen angebahnt wird. Eine kognitive Aktivierung kann im digitalen Format erstens gelingen, wenn Lehrende die Unterrichtsinhalte didaktisch so aufbereiten, dass sich den Schüler:innen die Lebensweltrelevanz und existentielle Bedeutsamkeit der Unterrichtsinhalte erschließen können, weil sie Bezüge zu aktuellen persönlichen, gesellschaftlichen oder politischen Fragestellungen aufweisen. Zweitens kann eine kognitive Aktivierung angebahnt werden durch Interaktion, kooperatives bzw. kollaboratives Arbeiten sowie Diskussionen, weil Schüler:innen in der Auseinandersetzung mit anderen zu einer eigenen Positionierung finden sowie Inhalte artikulieren, bewerten und ihre Bedeutung (für sich) erschließen können. Drittens kann Lernen im digitalen Religionsunterricht gelingen, wenn Unterrichtsthemen didaktisch so aufbereitet sind, dass sie eine kognitive Herausforderung für Schüler:innen darstellen. 4. Qualität im digitalen Religionsunterricht kann nur erreicht werden, wenn eine durch das digitale Setting evozierte Andersartigkeit der Didaktik sorgfältig reflektiert wird. Im Vergleich zum Religionsunterricht in Präsenz ist eine andere Didaktik und Methodik erforderlich, die der Gefahr des digitalen Settings entgegenwirkt: Weil digitaler Unterricht (aufgrund technischer Gegebenheiten) zu Monologen (von Lehrenden) neigt, Lernen aber nur in der aktiven kognitiven Auseinandersetzung der Schüler:innen mit

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dem Unterrichtsgegenstand gelingen kann, müssen im digitalen Raum interaktive Elemente der Kooperation, Kollaboration oder Diskussion evoziert werden. Qualität im digitalen Religionsunterricht kann dann erreicht werden, wenn neue, andersartige Formate erprobt werden, um Lernen methodisch und didaktisch im digitalen Format zu ermöglichen. In diesem Sinne kann auch die Kombination von synchronen und asynchronen Elementen didaktisch als Mittel eingesetzt werden. Gegenüber dem Unterricht in Präsenz stellt die absichtliche, eigenständige Integration von asynchronen Elementen in die Unterrichtskonzeption einen neuen Aspekt für gelingende Lernprozesse unterschiedlicher Lerntypen dar, allerdings nur dann, wenn die Voraussetzungen für und die Verwendung von asynchronen Elementen im Hinblick auf die konkrete Lernendengruppe sorgfältig reflektiert werden. 5. Für die Qualität von digitalem Religionsunterricht spielt auch die Fachlichkeit als Kombination von fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Kompetenz der Lehrperson eine Rolle. Sie ermöglicht zum einen eine fachwissenschaftlich korrekte, fachdidaktisch lerngruppen-adäquate und k­ ognitiv aktivierende Aufbereitung von Unterrichtsinhalten, zum anderen eine kon­ struktive Unterstützung des individuellen Lernprozesses, indem sie zur Diagnose dessen beiträgt, was Lernende fachlich (schon) beherrschen und welche Entwicklungspotenziale sie haben. Das Qualitätskriterium der Fachlichkeit kann nur dann erreicht werden, wenn Religionslehrende bereit sind und unterstützt werden, neue fachdidaktische Kompetenzen für den speziellen Kontext des digitalen Formats zu erwerben. Literatur Andresen, Sabine/Heyer, Lea/Lips, Anna u. a., JuCo 1. Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo 2020. [https://dx.doi.org/10.18442/120]. Buber, Martin, Werke. Erster Band: Schriften zur Philosophie, München 1962. Calmbach, Marc/Flaig, Bodo/Edwards, James u. a., SINUS-Jugendstudie 2020 – Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Bonn 2020. Decristan, Jasmin/Hondrich, Lena/Büttner, Gerhard et al., Impact of additional guidance in science education on primary students’ conceptual understanding, in: The Journal of Educational Research, 108/2015, 358–370. Dietzsch, Andrea/Pfister, Stefanie, Digitaler Religionsunterricht. Fachdidaktische Perspektiven und Impulse, Göttingen 2021. Fauth, Benjamin/Decristan, Jasmin/Rieser, Svenja u. a., Grundschulunterricht aus Schüler-, ­Lehrer- und Beobachterperspektive: Zusammenhänge und Vorhersage von Lernerfolg, in: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 2014/28, 127–137. [https://doi.org/10.1024/10100652/a000129]. Fauth, Benjamin/Leuders, Timo, Kognitive Aktivierung im Unterricht. Wirksamer Unterricht 2, Stuttgart 2018.

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Helm, Christoph/Huber, Stephan/Loisinger, Tina, Was wissen wir über schulische Lehr-LernProzesse im Distanzunterricht während der Corona-Pandemie? – Evidenz aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 24/2020, 237–311. [https://doi.org/10.1007/s11618-021-01000-z]. Huber, Stephan Gerhard/Günther, Paula Sophie/Schneider, Nadine u. a., COVID-19 und aktuelle Herausforderungen in Schule und Bildung. Erste Befunde des Schul-Barometers in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Münster 2020. [https://doi.org/10.31244/978383094216]. Klieme Eckhard, Unterrichtsqualität, in: Harring, Marius/Rohlfs, Carsten/Gläser-Zikuda, Michaela (Hg.). Handbuch Schulpädagogik, Münster/New York 2019, 393–408. Kounin, Jacob, Techniken der Klassenführung. Übersetzung besorgt von Maja und Claudius Gellert, Stuttgart 1976. Kunter, Mareike/Trautwein, Ulrich. Psychologie des Unterrichts, Paderborn 2013. Lipowsky, Frank/Bleck, Victoria, Was wissen wir über guten Unterricht? – ein Update, in: Steffens, Ulrich/Messner, Rudolf (Hg.), Unterrichtsqualität. Konzepte und Bilanzen gelingenden Lehrens und Lernens: Grundlagen der Qualität von Schule 3, Münster 2019, 219–249. Mayring, Philipp, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 2003. Rathgeb, Thomas, JIMplus Corona 2020. Lernen und Freizeit in der Corona-Krise. [http://www. mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/JIMplus_2020/JIMplus_2020_Corona.pdf]. Schweitzer, Friedrich, Religion noch besser unterrichten. Qualität und Qualitätsentwicklung im RU, Göttingen 2020. Sliwka, Anne/Klopsch, Britta/Dumont, Hanna, Konstruktive Unterstützung im Unterricht. Wirksamer Unterricht 3, Stuttgart 2019. Trautwein, Ulrich/Sliwka, Anne/Dehmel, Alexandra, Grundlagen für einen wirksamen Unterricht. Wirksamer Unterricht 1, Stuttgart 2018. Wacker, Albrecht/Unger, Valentin/Rey, Thomas, »Sind doch Corona-Ferien, oder nicht?« Befunde einer Schüler*innenbefragung zum »Fernunterricht, in: Fickermann, Detlef/Edelstein, Benjamin (Hg.), »Langsam vermisse ich die Schule …«. Schule während und nach der CoronaPandemie, Münster 2020, 79–94. [DOI: 10.31244/9783830992318.04]. Witzel, Andreas, Verfahren der qualitativen Sozialforschung: Überblick und Alternativen, Frankfurt/Main 1982. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

Digitaler Religionsunterricht in Coronazeiten – empirische Einblicke, religionsdidaktische Konsequenzen Annika Sturm

1 Einleitung Die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus hat zu einer weltweiten Pandemie geführt, die auch in Deutschland das alltägliche Leben auf den Kopf gestellt und drastische Maßnahmen wie Schulschließungen und Fernlernen1 erfordert hat. Da die Schulen wie viele andere Lebensbereiche vom Ausmaß der Pandemie und der daraus folgenden Maßnahmen überrascht wurden, traf die neue Situation die Lehrkräfte, Schulleitungen und Schüler:innen gänzlich unvorbereitet und stellte alle Beteiligten vor neue Herausforderungen. Nach über zwei Jahren der coronabedingten Veränderungen des Schulbetriebs in Deutschland soll im Rahmen der nachfolgend skizzierten Studie aus der Perspektive von Religionslehrkräften und Schüler:innen gezeigt werden, wie Religionsunterricht im digitalen Kontext gestaltet wurde. Dabei stellen sich nicht nur Fragen nach Herausforderungen des Fernunterrichts sowie Indikatoren erfolgreichen Lernens im digitalen Kontext, sondern auch nach der Stellung des Religionsunterrichts im Besonderen. Gerade in Krisenzeiten ist von Interesse, welchen Mehrwert ein unter digitalen Bedingungen gelungener Religionsunterricht bieten kann. Taugt Religionsunterricht (noch) für Krisen?

1 Mangels geeigneterer Alternativen und in Anbetracht der hochfrequentierten Verwendung in der medialen Öffentlichkeit wird im Folgenden auf die Bezeichnung des »Fernunterrichts« bzw. »Fernlernens« sowie des »Digitalunterrichts« zurückgegriffen.

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2 Digitaler Religionsunterricht in Coronazeiten 2.1 Gelingensbedingungen digitalen Religionsunterrichts Diskussionen über die Lernangebote in Schulschließungszeiten werfen die grundsätzliche Frage auf, wie Unterricht im digitalen Kontext gelingen kann – hinsichtlich einer Gesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung, aber auch mit Blick auf zukünftige pandemiebedingte Schulschließungen. Zu Beginn der Corona­pandemie konnten in der Kürze der Zeit keine flächendeckenden didaktischen Konzepte implementiert werden, so dass Unterricht teils synchron (zeitlich gekoppelter Lernprozess), teils asynchron (zeitlich entkoppelter Lernprozess mit flexibler Aufgabenbearbeitung2) abgehalten wurde. So zeigte sich bereits nach wenigen Monaten des Fernunterrichts eine breite Varianz bei der Wahl und didaktischen Gestaltung der digitalen Lehr-Lern-Formen: In Schulschließungszeiten seien v. a. Arbeitsblätter verwendet worden, während synchroner Online-Unterricht oder die Nutzung digitaler Lernprogramme deutlich seltener Anwendung fanden3. Die vorliegende Untersuchung beruht auf empirischen Erkenntnissen, die es auch für den digitalen Religionsunterricht zu erheben gilt. Laut aktueller Studien führt eine ausreichende technische Ausstattung zu einer Erhöhung von Lernerfolg mit einem moderat höheren Lernaufwand sowie zu positiveren Emotionen der Schüler:innen. Die Lernzeit selbst ist nur schwach positiv mit Aufwand und Lernerfolg assoziiert4 – Schüler:innen investierten mit durchschnittlich 16 Stunden pro Woche während der ersten Schulschließungen deutlich weniger Zeit als im regulären Schulbetrieb5 –, aber signifikant positiv mit positive Emotionen, welche die Qualität des Fernunterrichts sowie die Selbstständigkeit der Schüler:innen beeinflussen6. Die positiven Emotionen hängen wiederum von der Qualität des Kontaktes mit der Lehrkraft ab, so dass die Beziehungsgestaltung auch – oder gerade – im digitalen Kontext nicht vernachlässigt werden darf. Für den weiteren Fernunterricht wurden nach der Rückkehr an die Schulen schnell Forderungen formuliert. Neben technischer und digitaler Grundvoraus2 Vgl. Unger, Valentin/Krämer, Yoka/Wacker, Albrecht, Unterricht während der Corona-Pandemie, 86. 3 Vgl. Voss, Thamar/Wittwer, Jörg, Unterricht in Zeiten von Corona, 605. 4 Vgl. Huber, Stephan Gerhard/Helm, Christoph, Lernen in Zeiten der Corona-Pandemie, 50. 5 Vgl. Nusser, Lena/Wolter, Ilka/Attig, Manja u. a., Die Schulschließungen aus Sicht der Eltern, 35. 6 Vgl. Huber, Stephan Gerhard/Helm, Christoph, Lernen in Zeiten der Corona-Pandemie, 52.

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setzungen benötigt es methodisch-didaktische Unterrichtskonzepte, wobei besonders synchrone Settings aufgrund der Relevanz des Austausches sowie der Beziehungsgestaltung von großer Bedeutung zu sein scheinen7. Darüber hinaus kommt spezifisch dem Religionsunterricht die besondere Aufgabe zu, Erlebnisse und Ängste der Schüler:innen aufzuarbeiten8. Die Thematisierung neu aufgeworfener Verunsicherungen trägt dem genuinen Potenzial des Religionsunterrichts Rechnung, auf seelsorgerischer Ebene zum Überstehen der Krise beizutragen sowie Deutungsangebote für existentiell-theologische Fragen zu eröffnen. 2.2 Grundverunsicherungen Jugendlicher Dass dieses Potenzial des Religionsunterrichts nicht unterschätzt werden darf, zeigt z. B. die Shell-Jugendstudie 2019 hinsichtlich der Wertvorstellungen Jugendlicher, da diese ihr »Leben in vollen Zügen genießen«9 und »viele Kontakte zu anderen Menschen haben«10 möchten. Seit dem Frühjahr 2020 wurden jedoch unzählige Aspekte jugendlichen Lebens eingeschränkt. Kaum verwunderlich, dass sich Kinder und Jugendliche um wertvolle Lebenszeit und prägende Erfahrungen betrogen fühlen11. So zeigten sich bereits zu Beginn der Coronapandemie erhöhte psychische Belastungen Jugendlicher aufgrund der durch die Krise hervorgerufenen Sorgen um die eigene Gesundheit, die Familie oder auch die persönliche wirtschaftliche Situation12. Angesichts dieser einschneidenden Erlebnisse stellt sich die Frage, was Jugendliche in Krisenzeiten stärken und ihre Ängste auffangen kann. Trotz rückläufiger Religionszugehörigkeiten und obwohl der Glaube an Gott nur noch für etwa ein Drittel der Jugendlichen Relevanz besitzt13, weisen die religiöse Ansprechbarkeit Jugendlicher sowie die in der Krisenzeit aufgeworfenen existentiellen Fragen14 auf ein hohes Potenzial von Religion und Glaube in Zeiten der Coronapandemie hin.

  7 Vgl. Huber, Stephan Gerhard/Günther, Paula Sophie/Schneider Nadine u. a., COVID-19 – aktuelle Herausforderungen in Schule und Bildung, 25 f.   8 Vgl. Käbisch, David/Koerrenz, Ralf/Kumlehn, Martina u. a., Gerade jetzt!, 395.   9 Shell Deutschland Holding, 18. Shell Jugendstudie, 106. 10 Ebd., 109. 11 Vgl. Schambeck, Mirjam, Spoiled youth – betrogen durch Corona! 12 Vgl. Calmbach, Marc/Flaig, Bodo/Edwards, James u. a., SINUS Jugendstudie 2020, 580 f. 13 Vgl. Shell Deutschland Holding, 18. Shell Jugendstudie, 151. 14 Vgl. Schambeck, Mirjam, Spoiled youth – betrogen durch Corona!

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2.3 Notwendigkeit des Religionsunterrichts in Coronazeiten Die Notwendigkeit des Religionsunterrichts, ja seine Systemrelevanz, lässt sich an diversen Aspekten festmachen: Kinder und Jugendliche waren aufgrund der plötzlichen Krisensituation mit vielfältigen »Grundverunsicherungen«15 konfrontiert. Religion als eine Form des Weltzugangs vermag Deuteangebote bereitzustellen, die auf diese Grundverunsicherungen reagieren und Hilfestellungen zur Krisenbewältigung bieten. Auch im digitalen Raum finden sich Formen von religiöser Kommunikation, Seelsorge und sogar Religionsausübung, die angesichts sich verringernder institutioneller Anbindung von Kindern und Jugendlichen an Bedeutung gewinnen könnten. Die Coronakrise trifft Menschen weltweit in ihrer ganzen Existenz. Für Schüler:innen bietet daher gerade der Religionsunterricht die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit in der Krisenzeit drängend aufgeworfenen existentielltheologischen Fragen, die aufgearbeitet werden und Resonanz erhalten können. So können z. B. Geschichten biblisch-religiöser Traditionen dazu dienen, vergleichbare Grundverunsicherungen und Hoffnungslosigkeiten sichtbar zu machen und durch ihre Aufarbeitung aus der Not heraus Perspektiven für das Überstehen der aktuellen Krise zu eröffnen16. Nicht zuletzt soll auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht werden, sich im Religionsunterricht mit aufkommenden fundamentalistischen Deutungen und Populismen17 auseinanderzusetzen, die z. B. die Pandemie als Bestrafung Gottes darstellen und mit dieser stark vereinfachten Welterschließung die Komplexität der Situation unterlaufen18. Primär aber zeigt sich die Notwendigkeit des Religionsunterrichts aufgrund seines Potenzials der Hoffnungsstiftung für die Krisenzeit und das Leben danach, da er »in religiöse Wissensbestände und Narrative gelingender Lebens- und Krisenbewältigung einführt«19 und den Schüler:innen deren Aneignung und Fruchtbarmachung für ihr persönliches Leben anbietet. Für eine allumfassende Bildung sowie Resilienzförderung in der Krise ist er somit unverzichtbar und kann helfen, der eigenen Vulnerabilität produktiv zu begegnen und »in der Anerkenntnis der Grenzen des Lebens […] Gelassenheit«20 zu finden. 15 Schambeck, Mirjam, Grundverunsicherungen – und was Religion anzubieten hat. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. dkv Fachverband für religiöse Bildung und Erziehung, Zur Systemrelevanz des Religionsunterrichts. 18 Vgl. Schlag, Thomas, Religiös, digital, distanziert kommunizieren?, 25. 19 Verst, Ludger, Neues aus der Parallelwelt. 20 Schambeck, Mirjam, Grundverunsicherungen – und was Religion anzubieten hat.

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3 Forschungsfragen Anschließend an die theoretischen Hintergründe und die Erkenntnisse über die mit den coronabedingten Schulschließungen einhergegangenen digitalen Lehr-Lern-Settings sollten in der empirischen Studie, die diesem Beitrag zugrunde liegt, folgende Bereiche mittels verschiedener Fragestellungen untersucht werden: Professionalität der Lehrkräfte

Ȥ Wurde der Religionsunterricht im digitalen Kontext hauptsächlich asynchron oder synchron unterrichtet? Ȥ Hat die Umstellung in den Fernunterricht die Lehrkräfte vor große Herausforderungen gestellt? Ȥ Wurde in der Zeit der Schulschließungen weniger Feedback gegeben? Lernerfolg im Fernunterricht

Ȥ Wie viel Zeit wenden die Schüler:innen für den digitalen Religionsunterricht auf? Ȥ Sind die Schüler:innen im Fernlernen weniger motiviert? Ȥ Wie wird der Lernerfolg im Fernunterricht eingeschätzt? Religionsunterricht im digitalen Kontext

Ȥ Welche Vorteile des digitalen Religionsunterrichts schätzen die Schüler:innen? Ȥ Welche Facetten des Religionsunterrichts können im digitalen Kontext nicht gleichermaßen abgebildet werden? Ȥ Welche Bedeutung hat eine gute Lehrenden-Lernenden-Beziehung für das Gelingen des digitalen Religionsunterrichts? Mehrwert des Religionsunterrichts angesichts der Belastungen der Schüler:innen

Ȥ Inwiefern hat die Zeit der Schulschließungen eine Belastung dargestellt? Ȥ Konnte ihr persönlicher Glaube den Schüler:innen Halt in der Krisenzeit bieten? Ȥ Konnte die Thematisierung der Lockdown-Erlebnisse Kraft und Halt in der Krisenzeit bieten? Ȥ Konnten Glaube, Religion und Religionsunterricht während des Lockdowns einen Mehrwert bieten?

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Gerade zu den letzten beiden Themenspektren liegen nur wenig empirisch gewonnene Erkenntnisse vor, so dass es von besonderem Interesse ist, ob der digitale Religionsunterricht den Schüler:innen einen Mehrwert bietet und zur Bewältigung der Krisenzeit beiträgt.

4 Forschungsdesign 4.1 Ziel der Studie Ziel der Studie war es, die Durchführung des Religionsunterricht in Zeiten der coronabedingten Schulschließungen zu untersuchen, um festzustellen, ob dieser einen Mehrwert für die Schüler:innen in der Krisenzeit birgt. Aufgrund der plötzlichen Umstellung in den Fernunterricht war es nicht möglich, Prä-PostTests zur Untersuchung der Leistungsentwicklung durchzuführen. Untersuchte Aspekte wurden aus diesem Grund nur durch Einschätzungen von Lehrkräften und Schüler:innen erfasst. Zur Beantwortung der vorgestellten Fragen wurden zwischen Mai und Juli 2021 Online-Befragungen durchgeführt. Zu Beginn des Befragungszeitraumes befanden sich die Schulen bereits seit Ende Dezember 2020 nicht mehr im regulären Schulbetrieb, sondern mussten den Unterricht digital bzw. als Wechsel- oder Hybridunterricht durchführen. Zum Ende des Befragungszeitraumes wurde wieder regulärer Präsenzunterricht durchgeführt. 4.2 Stichprobe Zur differenzierten Erfassung vielfältiger Aspekte des digitalen Religionsunterrichts am Gymnasium wurden sowohl römisch-katholische und evangelische Lehrkräfte als auch Schüler:innen befragt. An der anonymen Befragung haben 20 Religionslehrkräfte21 sowie 38 Schüler:innen22 von Gymnasien in BadenWürttemberg teilgenommen. Von letzteren konnten nach einer Fehlersuche und Datenbereinigung 34 Fragebögen ausgewertet werden.

21 Von den teilnehmenden Religionslehrkräften waren 85 % weiblich und 15 % männlich; 85 % unterrichten evangelischen Religionsunterricht und 15 % römisch-katholischen. 22 Die befragten Schüler:innen waren zu 70,6 % weiblich, 26,5 % männlich und 2,9 % divers; 67,6 % besuchen die Klassenstufen 6 bis 8, 32,4 % die Klassenstufe 11.

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4.3 Erfasste Konstrukte Die Befragungen erfolgten zu den vier vorgestellten Themenkomplexen, die wiederum je mehrere Hypothesen beinhalteten. Bei allen erfassten Konstrukten handelt es sich um Selbst- bzw. Fremdeinschätzungen der Religionslehrkräfte und Schüler:innen. Neben einzelnen Items mit Kurzantworten oder Single- bzw. Multiple-Choice-Fragen wurden größtenteils Ratingskalen (eins – stimme zu, vier – stimme nicht zu) zur Untersuchung der Konstrukte verwendet. Die halbstandardisierten Online-Fragebögen sollten die interessierenden Konstrukte in Form eines Pretests messen, der die Basis für weiterführende quantitative Befragungen mit statistischer Signifikanz bilden kann. Im Folgenden werden ausgewählte Befunde der Studie präsentiert. Weitere Informationen zur Auswertung der Skalen sowie vertiefte Befunde der Untersuchung können bei der Autorin angefragt werden.

5 Empirische Einblicke: Religionsunterricht in Zeiten der Coronapandemie 5.1 Professionalität der Lehrkräfte Die befragten Schüler:innen geben an, im Religionsunterricht v. a. asynchron unterrichtet worden zu sein (61,8 %), durch Arbeitsblätter (85,3 %)23, Aufgaben zu Videos (61,8 %), kooperative Lernformen (50,0 %) oder Projektarbeiten (44,1 %). Die Umstellung des Präsenzunterrichts auf digitale Lehr-Lern-Formen hat für 90 Prozent der befragten Religionslehrkräfte (eher) eine große Herausforderung dargestellt, allerdings haben vielen (70 %) digitale Vorkenntnisse (eher) geholfen, die Umstellung zu bewältigen. Während 85,3  Prozent der Schüler:innen die Umstellung in den digitalen Kontext als (eher) gelungen, weil schnell und kompetent, einstufen, fühlt sich mehr als die Hälfte der Lehrkräfte (55 %) auch nach einem Jahr der Schulschließungen (eher) unsicher. 65 Prozent möchten für zukünftigen digitalen Unterricht sogar (eher) nach Alternativlösungen suchen. 55 Prozent geben an, für digitale Lehr-Lern-Arrangements im Religionsunterricht – selbst nach einem Jahr digitalen Unterrichts – (eher) 23 Im Rahmen des Multiple-Choice-Fragenformates bedeuten die Prozentangaben eine Zustimmung zu den einzelnen Formaten. Da die Schüler:innen mit mehreren Formaten in Kontakt gekommen sein können, ergibt sich kein Gesamtwert von 100 Prozent.

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noch keine klaren methodisch-didaktischen Konzepte zu besitzen. Besorgniserregend ist zudem, dass nur für 35 Prozent der Lehrkräfte alle ihre Schüler:innen in der Zeit der Schulschließungen erreichbar waren. Ein elementares Desiderat digitaler Fernlehre muss jedoch sein, allen Schüler:innen gleichermaßen die Teilnahme am digitalen Unterricht zu ermöglichen. 5.2 Lernerfolg im Fernunterricht Da der Lernerfolg im Fernunterricht u. a. positiv mit der aufgewendeten Lernzeit zusammenhängt24, wurde die wöchentlich für den Religionsunterricht aufgewendete Zeit erfragt. Während ein Großteil der Schüler:innen (61,8 %) ihre wöchentliche Lernzeit unter 19 Stunden angibt – also deutlich geringer als im Präsenzunterricht –, fällt die für den Religionsunterricht aufgebrachte Arbeitszeit nicht signifikant geringer aus: Nur 29,4 Prozent der Schüler:innen verbringen unter einer Stunde wöchentlich mit dem Religionsunterricht. Positive Emotionen sind ebenfalls mit Lernerfolg assoziiert25. Obwohl erhöhte Belastungsempfindungen Jugendlicher festgestellt werden konnten26, haben 80 Prozent der Lehrkräfte ihre Schüler:innen (eher) als positiv eingestellt wahrgenommen. Allerdings bestätigten nur etwa die Hälfte der Schüler:innen (47,1 %) diese Aussage (eher). Dennoch gaben 58,8 Prozent an, (eher) Freude am digitalen Religionsunterricht gehabt zu haben. Die Hälfte der Lehrkräfte (50 %) gibt an, im Fernlernen (eher) nicht so viel Stoff bearbeitet zu haben wie sonst. Diskussionen, die das Kernelement des Religionsunterrichts darstellen27, sind laut den Lehrkräften (95 %) (eher) zu kurz gekommen. 85 Prozent sind der Ansicht, ihre Schüler:innen haben (eher) nicht die gleichen Kompetenzen erwerben können. 5.3 Digitaler Religionsunterricht Die Frage, was im Fernunterricht hilfreich war, zeigt, dass die Schüler:innen v. a. das Lernen im individuellen Lerntempo (82,4 %) zu schätzen wissen, aber auch das Mehr an Ruhe und Konzentration im häuslichen Umfeld (64,7 %), die mit der Internetnutzung einhergehenden Möglichkeiten (55,9 %) sowie das Ausschlafen und die zeitlich flexible Aufgabenbearbeitung (47,1 %). Trotz mög24 25 26 27

Vgl. Huber, Stephan Gerhard/Helm, Christoph, Lernen in Zeiten der Corona-Pandemie, 50. Vgl. ebd. Vgl. Calmbach, Marc/Flaig, Bodo/Edwards, James u. a., Wie ticken Jugendliche?, 579. Vgl. Dietzsch, Andrea, Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden im Religionsunterricht, 44.

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licher Vorteile gegenüber dem Regelunterricht an der Schule sind die befragten Lehrkräfte (95 %) (eher) nicht überzeugt, dass sich daraus mehr Vor- als Nachteile für die Schüler:innen ergeben. Diese Ansicht teilen manche Schüler:innen: Mehr als die Hälfte (53,0 %) gibt an, sich nach der Corona-Pandemie (eher) nicht noch weiteren digitalen Unterricht zu wünschen. Spezifischer betrachtet konnten einige Facetten des Religionsunterrichts im digitalen Kontext nicht auf die gleiche Weise umgesetzt werden wie im Präsenzunterricht. So gaben die Lehrkräfte (95 %) an, während der Schulschließungen (eher) weniger Persönliches von ihren Schüler:innen erfahren zu haben, was der erschwerten Kommunikation und Nicht-Erreichbarkeit einzelner Schüler:innen oder dem fehlenden Miteinander im Klassenraum geschuldet sein könnte. Defizite bestehen aus Lehrendenperspektive v. a. in Bereichen des persönlichen Austauschs (70 %), Diskussionen (60 %), Korrelation (30 %) sowie der Beziehungsgestaltung (15 %), Schüler:innenkompetenzen (10 %) und LehrLern-Methoden bzw. Klassenführung (10 %). Auch den meisten Schüler:innen (67,7 %) hat das Zusammensein im Klassenzimmer (eher) gefehlt. Defizite bestehen aus Lernendenperspektive v. a. darin, ihre Freunde im Unterricht nicht mehr zu sehen (41,2 %) und keine Diskussionen über Unterrichtsthemen führen zu können (26,5 %), so dass v. a. die interaktiven Facetten im digitalen Kontext zu kurz kommen. Die Überzeugung, dass eine gute Lehrenden-Lernenden-Beziehung eine elementare Gelingensbedingung des Lernens im Religionsunterricht darstellt28, teilen 90 Prozent der Lehrkräfte (eher). Die Bedeutsamkeit dieser Beziehung zeigt sich nicht zuletzt daran, dass ein Großteil der Schüler:innen angibt, bei einer guten Beziehung im Unterricht (eher) motivierter zu sein (79,4 %) und mehr zu lernen (73,5 %). Dies gilt es auch im digitalen Kontext zu berücksichtigen. Im Vergleich zu anderen Unterrichtsfächern sind Diskussionen ein elementarer Aspekt des Religionsunterrichts, da sie das Nachdenken über existentielle Fragen ermöglichen und somit eine Gelingensbedingung für Korrelation darstellen. Somit ist es bedenklich, dass die Mehrzahl der Schüler:innen (eher) der Ansicht ist, weniger Zeit mit Diskussionen verbracht (64,7 %) und weniger über persönliche Themen gesprochen zu haben (55,8 %). Die Themen des digitalen Religionsunterrichts waren nur für 29,4 Prozent der Schüler:innen (eher) bedeutsam. Gelingende Korrelation erfordert eine Verbindung zwischen erworbenem Wissen über die christlichen Glaubenstraditionen und der eigenen Lebenswelt der Schüler:innen. Obwohl 50 Prozent der Lehrkräfte (eher) annehmen, 28 Vgl. ebd., 46.

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dass diese kritisch-produktive Wechselbeziehung29 im digitalen Kontext nicht gelungen ist, glauben immerhin 60 Prozent (eher), dass die behandelten Themen existentielle Bedeutung entfalten konnten. 5.4 Mehrwert des Religionsunterrichts in Coronazeiten Wie zuvor erläutert, stellt das Fernlernen und die damit einhergehende Isolation für viele Schüler:innen eine zusätzliche Belastung dar. 40 Prozent der befragten Lehrkräfte geben eher an, in der Lockdownzeit wegen persönlicher oder schulischer Sorgen kontaktiert worden zu sein, fast allen (85 %) kamen ihre Schüler:innen im Fernunterricht (eher) belasteter vor als vor den Schulschließungen. Die Befragung der Schüler:innen hat ergeben, dass die Gründe der zunehmenden Belastungen v. a. in fehlendem Feedback zum eigenen Lernfortschritt (47,1 %) oder einer schwierigen Kommunikationssituation (26,5 %) bestehen. Allerdings geben auch etwa ein Viertel (26,5 %) der Schüler:innen explizit an, im Fernlernen keine Belastungsempfindungen verspürt zu haben. Der Lockdown ruft über das Fernlernen hinausgehende Sorgen hervor, u. a. wegen des wegfallenden Kontakts zu Mitschüler:innen (67,6 %), der Sorge um die persönliche Zukunft (32,4 %), um Eltern oder Großeltern wegen des Coronavirus (29,4 %) und des Gefühls von Einsamkeit und sozialer Isolation (23,5 %). Angesichts der Zunahme an Belastungen und Sorgen stellt sich die Frage, wie diesen begegnet werden kann bzw. worin Kinder und Jugendliche Hilfe für das Überstehen derselben finden. Dass Religion durchaus krisentauglich ist und helfen kann, den oben ausgeführten Grundverunsicherungen produktiv zu begegnen30, glauben auch die befragten Lehrkräfte. Zwar schätzen die meisten (65 %) ihre Schüler:innen (eher) nicht als gläubig ein, denken aber (65 %), dass zumindest denjenigen Schüler:innen mit einem Zugang zum Glauben dieser eher eine Stütze in der Krisenzeit darstellen kann. Von den Schüler:innen selbst bezeichnen sich nur 11,8 Prozent als gar nicht gläubig, während sich je 44,1 Prozent unsicher sind bzw. als gläubig betrachten. Dies verdeutlicht die hohe religiöse Ansprechbarkeit Jugendlicher, die sich trotz abnehmender Religionszugehörigkeiten zeigt31. Obwohl die Schüler:innen nicht häufig über Gott nachdenken (M: 3,0332), zeigen sich seit Beginn der Coronapandemie leicht 29 Vgl. Gemeinsame Synode der Bistümer, Der Religionsunterricht, 136 30 Vgl. Schambeck, Mirjam, Spoiled youth – betrogen durch Corona! 31 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 15. Kinder- und Jugendbericht, 248; Shell Deutschland Holding, 18. Shell Jugendstudie, 155. 32 Aufgrund der vierschrittigen Ratingsskala (eins – stimme zu, zwei – stimme eher zu, drei – stimme eher nicht zu, vier – stimme nicht zu) können Mittelwerte zwischen 1,0 und 4,0 liegen.

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erhöhte Werte (M: 2,76). Dies könnte mit der Angabe zusammenhängen, eher bei schlimmen Ereignissen (M: 2,88) als aus Dankbarkeit (M: 3,09) zu beten. Dennoch stellt sich die Frage, ob religiöse Angebote Schüler:innen faktisch erreichen bzw. ansprechen, wenn 38,1 Prozent angeben, während des Lockdowns weder an (Online-)Gottesdiensten teil- noch andere spirituelle Angebote in Anspruch genommen zu haben. Angesichts der vielfältigen Belastungsempfindungen könnte der Religionsunterricht dieses Deutungsvakuum füllen. Hier zeigt sich eine Sensibilität der Lehrkräfte, da ein Großteil (75 %) (eher) zustimmt, die Erfahrungen und Erlebnisse der Schüler:innen im Religionsunterricht aufgearbeitet zu haben. Fast allen (90 %) war es (eher) wichtig, die Sorgen und Ängste im digitalen Religionsunterricht anzusprechen, 65 Prozent haben (eher) versucht, ihren Schüler:innen durch den Religionsunterricht Kraft und Hoffnung für das Überstehen der Krise zu geben. Die Schüler:innen hingegen schätzen die Relevanz der Themen ihres Religionsunterrichts vor bzw. seit der Coronakrise als (eher) gering ein (58,9 bzw. 61,8 %). Obwohl mehr als die Hälfte (52,9 %) angibt, im Religionsunterricht über die Erlebnisse des Lockdowns gesprochen zu haben, war der Religionsunterricht nur 17,6 Prozent der Schüler:innen in der Schulschließungszeit eher wichtiger als zuvor. Nur einem verschwindend geringen Anteil (11,8 %) konnte der Religionsunterricht eher Kraft und Hoffnung in der Krisenzeit geben. Ausgehend von dem Gedanken, dass Religion Menschen in schwierigen Zeiten Halt bieten kann und für Krisen »taugt«33, stellt sich die Frage, ob der schulische Religionsunterricht, der existentielle Fragen der Schüler:innen aufgreifen und Glaubensüberzeugungen für ihre Lebenswelten fruchtbar machen will, einen Mehrwert für Kinder und Jugendliche besaß. Immerhin gab fast ein Drittel der Schüler:innen (29,4 %) an, vom digitalen Religionsunterricht (eher) begeisterter als von anderen Unterrichtsfächern gewesen zu sein. Darüber hinaus haben die Themen des digitalen Religionsunterrichts 41,4 Prozent (eher) mehr interessiert als die Inhalte des normalen Religionsunterrichts. Während des Lockdowns ist der Religionsunterricht bzw. ihr Glaube 17,6 bzw. 11,8 Prozent der Schüler:innen eher wichtiger geworden. Obwohl die Relevanz für einen Großteil der Schüler:innen nicht zugenommen hat, zeigt sich das Potenzial eines Religionsunterrichts in Krisenzeiten, der durch eine gelungene Umsetzung Kinder und Jugendliche erreichen und ihnen durchaus einen Mehrwert bieten kann.

33 Schambeck, Mirjam, Spoiled youth – betrogen durch Corona!

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6 Diskussion: Herausforderungen und Mehrwert – religionsdidaktische Konsequenzen für einen digital gelingenden Religionsunterricht Um einen krisentauglichen Religionsunterricht zu gestalten, der tatsächlich einen Mehrwert bietet, gilt es, die Defizite des Religionsunterrichts im digitalen Kontext zu benennen und auszugleichen. Die Befragungen der Lehrkräfte und Schüler:innen konnten diverse Herausforderungen aufzeigen, die es zu bearbeiten gilt, damit ein tatsächlicher Mehrwert hergestellt werden kann. Herausforderungen bestehen u. a. darin, dass sich die Sichtstrukturen im digitalen Kontext signifikant vom Präsenzunterricht unterscheiden. Diese sind jedoch – neben den Tiefenstrukturen – für einen gelungenen Religionsunterricht von Bedeutung. Um Diskussionen zu ermöglichen, braucht es regelmäßig einen synchronen Austausch. Die Befragung konnte jedoch zeigen, dass v. a. Material und Aufgaben über Lernplattformen bereitgestellt wurden. Gerade für den digitalen Religionsunterricht sollten sich die Lehrkräfte demnach mit der Abarbeitung von Aufgaben zurückhalten und mehr auf dialogische Gestaltungsaufgaben und Deutungsmöglichkeiten setzen, um Reflexionen über Ängste, Krisen, Selbstfindung und Solidarität zu ermöglichen34 und damit der Zielsetzung von Religionsunterricht gerecht zu werden. Eine weitere Herausforderung besteht im Lernerfolg. Etwa die Hälfte der befragten Schüler:innen (47,1 %) gibt (eher) an, meist motiviert und positiv eingestellt gewesen zu sein. Da positive Emotionen der Schüler:innen mit einem deutlich höheren Lernerfolg einhergehen, ohne dass sich der zeitliche Aufwand signifikant erhöht35, gilt es auch im Religionsunterricht, positive Emotionen zu fördern, nicht nur um die psychische Belastung zu verringern, sondern auch um des Lernerfolgs willen. Da fast die Hälfte (41,2 %) der Schüler:innen die Freude am digitalen Religionsunterricht (eher) verneint, stellt sich die Frage, wie dieser gestaltet sein muss, um Freude am Unterricht zu erzeugen und die Motivation zu erhöhen. Trotz eines ähnlichen Lernerfolgs scheint es schwieriger zu sein, spezifische Kompetenzfacetten, die über das Fachwissen hinausgehen, zu erwerben, u. a. diskursive Kompetenzen, aber auch solche, die der Religionsunterricht »in besonderer Weise fördert«36, nämlich »Rücksicht zu nehmen, Beziehung zu gestalten, Spannungen auszuhalten, spirituelle Fragen zuzulassen, Engagement 34 Vgl. Schlag, Thomas, Religiös, digital, distanziert kommunizieren?, 26. 35 Vgl. Huber, Stephan Gerhard/Helm, Christoph, Lernen in Zeiten der Corona-Pandemie, 50. 36 dkv Fachverband für religiöse Bildung und Erziehung, Zur Systemrelevanz des Religionsunterrichts.

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und Solidarität zu zeigen«37. 85 Prozent der Lehrkräfte sind überzeugt, ihre Schüler:innen hätten im digitalen Kontext (eher) nicht die gleichen Kompetenzen erworben wie sonst. Diese Angaben könnten mit weggefallenen Diskussionen zusammenhängen, die aus Sicht der Lehrkräfte (90 %) (eher) weniger Zeit eingenommen haben. Gerade für den Religionsunterricht kann darum festgestellt werden, dass digitale Formate den Bedürfnissen der Schüler:innen nicht gerecht werden können, wenn für die Entwicklung einzelner Kompetenzfacetten nicht die Möglichkeit zu Diskussionen und zum Austausch besteht. Diskussionen als »Kernelement«38 des Religionsunterrichts sollten keineswegs wegfallen, da sie die Thematisierung existentiell-theologischer Fragen erst ermöglichen. Anschließend an die aufgrund des digitalen Kontextes weggefallenen Austauschmöglichkeiten gestaltet sich auch die Lehrenden-Lernenden-Beziehung ohne körperliche Präsenz schwieriger. Sowohl informelle Gespräche der Schüler:innen als auch der Austausch mit den Lehrkräften fallen weg, so dass ein Großteil der Schüler:innen (67,6 %) angibt, das Zusammensein im digitalen Religionsunterricht (eher) zu vermissen. Die Rolle der Religionslehrkraft geht weit über eine reine Wissensvermittlung und Bereitstellung von LehrLern-­Settings hinaus. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, Ansprechperson in bedeutsamen Lebensfragen der Schüler:innen zu sein39, was sich auch in der Befragung zeigt. Bei den Lehrkräften ist der Wille zu einer guten Beziehung ausnahmslos vorhanden, fast alle (90 %) sind (eher) der Ansicht, Religionsunterricht könne ohne diese nicht gelingen. Nach Hattie hat die Beziehung zur Lehrkraft signifikante Auswirkungen auf die Lernprozesse der Schüler:innen und stellt eine Voraussetzung für eine hohe kognitive Aktivierung und konstruktive Unterstützung der Schüler:innen dar, wodurch wiederum eine höhere Unterrichtsqualität erzeugt werden kann40. Kognitiv aktivierender Unterricht und damit die Aufbereitung existentielltheologischer Themen als lebensweltlich relevant kann nur dann geschehen, wenn die Schüler:innen als Subjekte mit ihren persönlichen Interessen, Vorkonzepten und jeweiligem Leistungspotenzial wahrgenommen werden41. Kon­ struktive Unterstützung wiederum wird nur ermöglicht, wenn »die motivationalen und emotionalen Bedingungen, die strukturellen Voraussetzungen, die 37 Ebd. 38 Dietzsch, Andrea, Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden im Religionsunterricht, 44. 39 Vgl. Schambeck, Mirjam, Was Relilehrer/-innen können müssen, 131. 40 Vgl. Hattie, John, Lernen sichtbar machen, 141–143. 41 Vgl. Dietzsch, Andrea/Pfister, Stefanie, Digitaler Religionsunterricht, 186.

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Verständnisschwierigkeiten, also individuelle Lernwiderstände oder -hindernisse«42 der Lernenden wahrgenommen werden. Folglich ist es im digitalen Religionsunterricht von elementarer Bedeutung, den Austausch von Empfindungen zu ermöglichen, authentisches Miteinander zu fördern und verschiedene Kommunikationsformen in den Blick zu nehmen, die weit über eine »Arbeitsblätter-Kultur«43 hinausgehen. Ziel des Religionsunterrichts ist, dass »der Glaube […] im Kontext des Lebens vollziehbar, und das Leben […] im Licht des Glaubens verstehbar«44 wird. Um das zu erreichen, wird zwischen den Glaubensüberzeugungen und der Lebenswelt der Schüler:innen eine kritisch-produktive Wechselbeziehung angestrebt. Schon lange wird eine abnehmende Relevanz der Inhalte des Religionsunterrichts für die Kinder und Jugendlichen beklagt45. Die vorliegende Befragung bestätigt diese Tendenz, da ein Großteil der Schüler:innen (70,6 %) angibt, die Themen des digitalen Religionsunterrichts seien für sie als Person bzw. für ihre Lebenswelt (eher) nicht von Bedeutung. Korrelation kann nur geschehen, wenn die Schüler:innen als Deutesubjekte die bereitgestellten Lernangebote annehmen und selbst Korrelationen aufdecken, um die Glaubensüberzeugungen für ihre eigenen Lebenswelten bedeutsam werden zu lassen46. Zur »religionsbezogene[n] Korrelationskompetenz«47 von Lehrkräften gehört u. a. die Aufbereitung theologischer Themen, die wiederum nur durch das Wissen um Vorkonzepte der Schüler:innen gelingen kann. Aufgrund des weggefallenen Austausches könnte ein Wissensvakuum entstanden sein, das ein Scheitern von Korrelation mitbedingt. Auch deswegen sollte auf interaktive und dialogische Formen gesetzt werden, die die leibliche Präsenz zwar nie ganz ersetzen können, das Defizit aber idealerweise geringhalten. Wird diesen vielfältigen Herausforderungen gezielt begegnet, kann der Mehrwert des Religionsunterrichts im digitalen Kontext in den Fokus rücken. Eine dem Digitalunterricht genuine Chance besteht in der Ausbildung von Medienkompetenzen48. Religionslehrkräfte sollten die Möglichkeiten des digitalen Kontextes für diesen Kompetenzaufbau nutzen und gleichzeitig Lernchancen für Diskurs- und Argumentationskompetenzen eröffnen sowie den Erfahrens- und Erlebensraum Religion im Sinne ganzheitlichen Lernens auch digital anbieten. 42 Ebd. 43 Schlag, Thomas, Religiös, digital, distanziert kommunizieren?, 29. 44 Gemeinsame Synode der Bistümer, Der Religionsunterricht, 136. 45 Vgl. Gärtner, Claudia, Auf der Suche nach Fachlichkeit und Relevanz, 215. 46 Vgl. Schambeck, Mirjam, »Wir kennen das aus Zombifilmen oder so«, 79. 47 Schambeck, Mirjam, Was Relilehrer/-innen können müssen, 139. 48 Vgl. Gärtner, Claudia/Tacke, Lena/Hans, Anna u. a., Nur Mut!, 24.

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Darüber hinaus bietet das Setting des Fernlernens nicht nur Nachteile. Dass die Schüler:innen die Vorteile eines digitalen Unterrichts zu schätzen wissen – v. a. die flexible Einteilung der eigenen Lernzeit, ein ungestörtes Lernumfeld im Vergleich zum Klassenzimmer, erweiterte technische und digitale Möglichkeiten – zeigt der Wunsch einiger Schüler:innen (47,1 %) nach (eher) weiterem digitalen Unterricht. Nichtsdestotrotz konnte die Erhebung zeigen, dass bestimmte Aspekte religiösen Lernens – v. a. die Umsetzung diskursiver Elemente, aber auch die Thematisierung existentiell-theologischer Problematiken – im digitalen Kontext eine beachtliche Herausforderung darstellen. Zudem wird der digitale Religionsunterricht tendenziell als weniger interessant bewertet. Daran anknüpfend könnten die digitalen Möglichkeiten jedoch produktiv genutzt werden, um das Interesse der Schüler:innen zu wecken und positive Emotionen im Lernkontext Religion zu erzeugen. Angesichts der vielfältigen Belastungen zeigt sich die Dringlichkeit der Thematisierung existentiell-theologischer Themen wie der eigenen Verletzlichkeit, Sterblichkeit und Endlichkeit, um auf persönlicher Ebene Strategien zum Umgang mit solchen Grundverunsicherungen zu entwickeln. Der Religionsunterricht eignet sich genuin zur Reflexion und Krisenbewältigung, wodurch er nicht nur systemrelevantes, sondern gar existenzrelevantes »Resilienz-­Potenzial«49 bieten kann. Krisenbewältigung kann nur geschehen, wenn Aussicht auf Hoffnung besteht, so dass der Religionsunterricht dringend Visionen für ein Leben nach der Krise thematisieren sollte50. Aufgrund der hohen religiösen Ansprechbarkeit von Kindern und Jugendlichen müssen Wege eröffnet werden, dieses Potenzial zu nutzen, verschiedenste Zugänge anzubieten und zusätzlich zu den traditionellen auch neue Formen von Religiosität und Spiritualität aufzuzeigen. Der digitale Kontext kann selbst zum locus theologicus werden, wo Religion sichtbar wird und ausgelebt werden kann. Die Grundverunsicherungen der Schüler:innen, die sich v. a. auf die Sorge um die Gesundheit und die soziale Isolation beziehen, erfordern eine Thema­tisierung im Rahmen des digitalen Religionsunterrichts. Zwar zeigt die Befragung der Lehrkräfte, dass diese die Auseinandersetzung mit in der Krise aufgeworfenen Fragen ernst nehmen, größtenteils die Sorgen und Ängste der Schüler:innen ansprechen wollen und zu diesem Zweck den Religionsunterricht teilweise inhaltlich anders gestaltet haben. Allerdings sind die Thematiken des digitalen Religionsunterrichts nur von etwa einem Drittel der Schüler:innen (38,2 %) 49 dkv Fachverband für religiöse Bildung und Erziehung, Zur Systemrelevanz des Religionsunterrichts. 50 Vgl. Käbisch, David/Koerrenz, Ralf/Kumlehn, Martina u. a., Gerade jetzt!, 399.

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als (eher) persönlich relevant empfunden worden. Anschließend an die Relevanz einer guten Lehrenden-Lernenden-Beziehung zeigt sich, dass erst mit zunehmendem Wissen über die Belastungen der Schüler:innen Lehr-Lern-­ Settings entworfen werden können, die als lebensrelevant und sinnstiftend wahrgenommen werden. Nur 11,8 Prozent der befragten Schüler:innen konnten aus dem Religionsunterricht eher Kraft und Hoffnung für das Überstehen der Krise ziehen. An dieser Stelle sind also v. a. die Lehrkräfte gefragt, ihren eigenen Unterricht noch tiefgreifender zu hinterfragen, Meinungen der Schüler:innen als Subjekte einzuholen und trotz – oder gerade – in diesem neuen, digitalen Lernkontext vielfältigere Angebote zu eröffnen, so dass sich das volle Potenzial des Religionsunterrichts zur Krisenbewältigung entfalten kann. Konnte der digitale Religionsunterricht also bereits einen Mehrwert für die Schüler:innen bieten? Die Chance, einen Ort zu bieten, wo existentielle Fragen und Erfahrungen der Krisenzeit lebensrelevant aufgearbeitet werden, wurde noch nicht umfassend genutzt und das Potenzial des Religionsunterrichts als Angebot zur Krisendeutung und -bewältigung unterschätzt, obwohl es für einige Schüler:innen doch eine gewisse Relevanz zu besitzen scheint. Wenngleich ihr persönlicher Glaube nur für 11,8 Prozent in der Krisenzeit eher an Relevanz gewonnen hat, so ist dies für den Religionsunterricht zumindest für 17,6 Prozent eher der Fall. Dem Religionsunterricht nicht die Relevanz beizumessen, die ihm qua seines Weltzugangs gerade angesichts der aufkommenden Grundverunsicherungen zukommt, wäre eine verpasste Gelegenheit. Lehrkräfte sollten diese Chance nutzen, die existentiell-theologischen Fragen nach dem Sinn des Lebens und der menschlichen Verantwortung in der Welt lebensrelevant aufzuarbeiten, aber auch die seelsorgerische Funktion ihres Unterrichts nicht zu vernachlässigen, um ihren Schüler:innen die volle Bedeutung von Glaube, Religion und Religiosität für das Überstehen der Krisenzeit darzulegen. Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.), Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, 15. Kinder- und Jugendbericht, Berlin 2017. Calmbach, Marc/Flaig, Bodo/Edwards, James u. a. (Hg.), Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, SINUS-Jugendstudie 2020, Bonn 2020. Dietzsch, Andrea, Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden im Religionsunterricht – Bedeutung für das Lernen und Impulse für den digitalen Religionsunterricht, in: Theo-Web 19 (2020) H. 2, 34–49. –/Pfister, Stefanie, Digitaler Religionsunterricht – fachdidaktische Perspektiven und Impulse, Göttingen 2022.

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dkv Fachverband für religiöse Bildung und Erziehung, Zur Systemrelevanz des Religionsunterrichts, Ein Statement des dkv-Vorstandes, in: https://www.katecheten-verein.de/de/wp-content/uploads/2020/07/Zur-Systemrelevanz-des-Religionsunterrichts_Stellungnahme_dkvVorstand.pdf, 2020. Gärtner, Claudia, Auf der Suche nach Fachlichkeit und Relevanz. Religionsdidaktik zwischen Theologizität und lebensweltlicher Kontextorientierung, in: Theo-Web 17 (2018) H. 2, 215–229. –/Tacke, Lena/Hans, Anna u. a., Nur Mut! Religiöses Lernen auf Distanz in Universität und Schule, in: zeitsprung 21 (2021) 23–24. Gemeinsame Synode der Bistümer, Der Religionsunterricht, in: http://www.dbk.de/fileadmin/ redaktion/Synoden/gemeinsame_Synode/band1/04_Religionsunterricht.pdf. Hattie, John, Lernen sichtbar machen, Überarbeitete deutsche Ausgabe von »Visible Learning« besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer, Baltmannsweiler ²2013. Huber, Stephan Gerhard/Günther, Paula Sophie/Schneider Nadine u. a (Hg.), COVID-19– aktuelle Herausforderungen in Schule und Bildung, Erste Befunde des Schul-Barometers in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Münster/New York 2020. Huber, Stephan/Helm, Christoph, Lernen in Zeiten der Corona-Pandemie, Die Rolle familiärer Merkmale für das Lernen von Schüler*innen: Befunde vom Schul-Barometer in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in: Die Deutsche Schule, Beiheft 16, 2020, 37–60. Käbisch, David/Koerrenz, Ralf/Kumlehn, Martina u. a., Gerade jetzt! – 10 Thesen, warum der Religionsunterricht in der Corona-Zeit unverzichtbar ist, in: ZPT 72 (2020) 395–399. Nusser, Lena/Wolter, Ilka/Attig, Manja u. a., Die Schulschließungen aus Sicht der Eltern. Ergebnisse des längsschnittlichen Nationalen Bildungspanels und seiner Covid-19-Zusatzbefragung, in: Die Deutsche Schule, Beiheft 17, 2021, 33–50. Schambeck, Mirjam, »Wir kennen das aus Zombifilmen oder so«. Eine unterrichtspraktisch inspirierte Kriteriologie gelingender Korrelationsprozesse, in: Büttner, Gerhard/Mendl, Hans/ Reis, Oliver u. a. (Hg.), Religionsunterricht planen, Donauwörth 2014, 71–84. –, Was Relilehrer/-innen können müssen: Religionsbezogene Korrelationskompetenz als Profilmerkmal professioneller (Handlungs-)Kompetenz von Religionslehrkräften – eine Konzeptualisierung in den Spuren der COACTIV-Studie, in: Theo-Web 17 (2018) H. 1, 129–145. –, Grundverunsicherungen – und was Religion anzubieten hat, in: https://www.feinschwarz.net/ grundverunsicherungen-und-was-religion-dazu-anzubieten-hat/, 2020. –, Spoiled youth – betrogen durch Corona!, in: https://www.feinschwarz.net/spoiled-youthbetrogen-durch-corona/, 2020. Schlag, Thomas, Religiös, digital, distanziert kommunizieren? Wahrnehmungen des Religionsunterrichts in Corona-Zeiten und Folgerungen für die religionsbezogene öffentliche Deutungspraxis, in: Zeitschrift für Pädagogik 67 (2021) H. 1, 19–34. Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort, 18. Shell Jugendstudie, Weinheim 2019. Unger, Valentin/Krämer, Yoka/Wacker, Albrecht, Unterricht während der Corona-Pandemie, Ein Vergleich von Schülereinschätzungen aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen im Kontext sozialer Heterogenität, in: PFLB 2 (2020) 84–99. Verst, Ludger, Neues aus der Parallelwelt. Was ist und was will religiöse Bildung?, in: https://ludgerverst.wordpress.com/2020/09/25/was-ist-und-was-will-religiose-bildung/, 2020. Voss, Thamar/Wittwer, Jörg, Unterricht in Zeiten von Corona: Ein Blick auf die Herausforderungen aus der Sicht von Unterrichts- und Instruktionsforschung, in: Unterrichtswissenschaft 48 (2020) 601–627. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

Und das Wort ist binär geworden – Religionsunterricht im blended-learning-Format Martina Mayer

1 Im Anfang war das Wort – einleitende Gedanken und Hinweise Der vorliegende Beitrag referiert auf einen Workshop, der im Rahmen des 17. Arbeitsforums Religionspädagogik stattfand. Im Fokus dieses Programmpunkts stand die Frage, ob und inwiefern sich digitales Lehren und Lernen auch im Religionsunterricht mit seiner Eigenart verwirklichen lässt. Dieser Thematik wurde im (inter-)aktiven Austausch nachgespürt, Begrifflichkeiten geklärt und digitale Unterrichtswerkzeuge sowie methodisch-didaktische Ansätze vorgestellt. Damit ist ein erstes Momentum dieses Artikels angezeigt: Das Dargelegte entspringt nicht so sehr empirischer Forschung oder fachwissenschaftlicher Auseinandersetzung, sondern ist vielmehr eine Zusammenschau von Erkenntnissen aus der Praxis für die Praxis. In der Natur der Sache liegt somit auch, dass der Erprobungsraum einer Verortung bedarf – nämlich im Religionsunterricht an einem beruflichen Schulzentrum in Bayern, dem staatlichen beruflichen Schulzentrum Max-von-Pettenkofer Neuburg/Donau. Daraus ergibt sich zweierlei: 1. Entsprechend der bayerischen Gesetzgebung ist der konfessionelle Religionsunterricht ordentliches Lehrfach. »Der Religionsunterricht ist an den … Berufsschulen, Wirtschaftsschulen, Fachoberschulen, Berufsoberschulen, an sonstigen Schulen nach Maßgabe der Schulordnung, ordentliches Lehrfach (Pflichtfach). Er wird nach Bekenntnissen getrennt in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Kirche oder Religionsgemeinschaft erteilt« (Art. 46 BayEUG, Abs. 1). Die Diskussion im Workshop hat zum Ausdruck gebracht, dass hier ein Distinktionsmerkmal vorliegt. In vielen anderen Bundesländern gibt es konfessionell-kooperative Modelle; in Hamburg sogar den von verschiedenen Religionsgemeinschaften gemeinsam verantworteten Religionsunterricht.   Eine weitere Anmerkung: Im vorliegenden Fall fand der Unterricht an einer Fachakademie für Sozialpädagogik statt, sodass dem Religionsunter-

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richt, präzisiert dem Fach Theologie und Religionspädagogik, als Prüfungsfach ein höherer Stellenwert zukommt als gemeinhin üblich. 2. Darüber hinaus muss das berufliche Schulwesen als solches berücksichtigt werden, das überwiegend von jungen Menschen an der Schwelle des Erwachsenwerdens besucht wird und sich v. a. durch seine Vielfalt auszeichnet, welche sowohl durch die Pluralität der beruflichen Schularten als auch seitens der Schülerschaft gegeben ist. Auf diesen Umstand verweist auch der Lehrplan für Katholische Religionslehre an der Berufsschule/Berufsfachschule, wenn er ausführt: »Die Schülerinnen und Schüler an Berufsschulen und Berufsfachschulen sind hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer kulturellen Bezüge, ihrer religiösen Sozialisation, ihres Lebensalters, ihrer Entwicklungsstufen sowie ihres spezifischen Lern- und Unterstützungsbedarfs heterogen. Des Weiteren prägt die Berufstätigkeit ihr Selbstverständnis und ihren Zugang zur Wirklichkeit.«1 Aller Heterogenität zum Trotz kann aber vorausgesetzt werden, dass die überwiegende Mehrheit der Schüler:innen an einer beruflichen Schule über einen Zugang zu digitaler Infrastruktur verfügt. Das BYOD-Vorgehen (bring your own device) stellt so gut wie keine Herausforderung dar. Die Jim Studie 2021 belegt, dass nahezu alle Haushalte, in denen zwölf- bis 19-Jährige leben, mit internetfähigen Geräten ausgestattet sind.2 Außerdem ist davon auszugehen, dass das Klientel ein Mindestmaß an instrumentell-qualifikatorischer Medienkunde und sowohl rezeptiv-­ anwendender als auch interaktiver Mediennutzungskompetenz aufweist.3 Als im Frühjahr 2020 die Anfrage für diesen Beitrag unmittelbar nach dem ersten Corona-bedingten Lockdown erging, war nicht abzusehen, dass die Pandemie gleichsam zu einem Paradigmenwechsel im unterrichtlichen Handeln und schulischen Leben führen sollte. Damit hat sich auch die Schwerpunktsetzung dieses Aufsatzes verschoben. War ursprünglich geplant, die Frage zu erörtern, wie digitale Werkzeuge den Religionsunterricht bereichern können, um etwa die Motivation zu steigern oder an der Alltagswelt der Schülerschaft anzuknüpfen, greift diese Fragestellung drei von der Pandemie geprägte Schuljahre später zu kurz. Die Corona-Krise und der damit verbundene Shutdown der Schulen hat gleich einem Brandbeschleuniger das Thema Digitalisierung im Unterricht befeuert. Viele Lehrkräfte – unabhängig vom Unterrichtsfach – 1 Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) (Hg.), Lehrplan für die Berufsschule und Berufsfachschule, 10. 2 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.), JIM-Studie 2021, 5. 3 Vgl. Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) (Hg.), Medienkompetenz als pädagogisches Konzept.

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sahen sich gezwungen, von jetzt auf gleich als professionelle Lerncoaches in digitalen Lernwelten zu agieren. Dies führte gerade auch Religionslehrer:innen zu der Frage, wie das in einem Fach umzusetzen sei, dessen Gegenstand das Transzendente und die gelebte Communio ist; das vielfach keine fertigen, keine einfachen Antworten liefern kann, sondern existentielle Fragen als Denkanstöße geben möchte; ein Fach, in dem es weniger um richtig oder falsch geht, als vielmehr um das Wort.

2 Und das Wort kam in die Finsternis – Religionsunterricht in Krisenzeiten Am 13. März 2020 wurde in Bayern verkündet, dass aufgrund der Corona-Pandemie ab dem 16. März 2020 alle Kindertageseinrichtung sowie alle Schulen schließen würden. Diese Ankündigung war verbunden mit der Annahme, dass man nach den Osterferien (am 19. April) diesen Lockdown beenden und man nach diesen Wochen weitermachen könne wie bisher. Schnell sollte sich dies als trügerische Hoffnung herausstellen. Lehrkräfte aller Fachrichtungen sahen sich also in dieser Krise vor die Herausforderung gestellt, mit ihrer Schülerschaft Kontakt zu halten und über die Distanz hinweg Unterricht zu machen. Damit kam auch den digitalen Medien eine neue Rolle im Unterrichtsgeschehen zu. So besagt eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2017, dass zwar die große Mehrheit (ca. 70 %) der Schulleiter:innen und der Lehrerschaft davon überzeugt war, »dass digitale Medien die Attraktivität ihrer Schule steigern werden. Beim pädagogischen Nutzen [war] die Skepsis aber noch groß: Nicht einmal jeder vierte Lehrer glaubt[e], dass digitale Medien dazu beitragen, die Lernergebnisse seiner Schüler zu verbessern.«4 Weiterhin wird aufgezeigt, dass vor Corona etablierte Medien wie YouTube oder PowerPoint seitens der Lehrerschaft nur gelegentlich im Unterricht zum Einsatz kamen und dass nicht einmal 10 % der Lehrkräfte neuere digitale Anwendungen wie Lern-Apps zur Förderung von Lernprozessen einsetzte, obwohl die Schülerschaft ihren Lernerfolg zumindest zum Teil diesen Werkzeugen zuschrieb.5 Die Corona-Pandemie und der daraus resultierende Lockdown bilden also auch bzgl. der Digitalisierung des Unterrichtswesens eine Zäsur. Wenn das soziale Leben annähernd zum Erliegen gebracht wird, ist das für den Menschen, das Zoon politikon, eine Krise. Das chinesische Schriftzeichen für Krise 危机 4 Bertelsmann Stiftung (Hg.), Digitalisierung an Schulen. 5 Vgl. ebd.

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(weiji) setzt sich aus den Zeichen wei, das Gefahr bedeutet, und ji für Gelegenheit zusammen. Das Wort Krise verweist also sowohl auf das Bedrohliche als auch auf die Wende zum Besseren. In diesem Sinne kann mit Blick auf die Digitalisierung von Lehr- und Lernprozessen und auf die Medienkompetenz von Lehrenden wie auch von Lernenden die Corona-Krise als Wendepunkt gewertet werden: Medien, die vor der Pandemie eher vorsichtig beäugt wurden, bestenfalls zur Motivationssteigerung eingesetzt und nur von einigen wenigen »Digital-­Experten« zielgerichtet ins didaktische Handeln integriert wurden, sind während der Krise in zunehmendem Maße von immer mehr Lehrer:innen zur Unterrichtsgestaltung verwendet worden. So hat »im ersten Lockdown nicht einmal ein Drittel der befragten Lehrkräfte digitale Medien im Unterricht zur Vermittlung neuer Lerninhalte genutzt. Zu Beginn des zweiten Lockdowns waren es schon 62 Prozent. Und während 45 Prozent der befragten Lehrkräfte im April 2020 über eine digitale Lernplattform kommunizierten, waren es 73 Prozent im Dezember 2020«.6 Von dieser Entwicklung ist auch der Religionsunterricht nicht auszunehmen. Im Gegenteil, sowohl kirchliche als auch staatliche Stellen, die dieses Fach verantworten, haben ein breites Unterstützungsangebot geliefert, um die Lehrenden vor Ort im digitalen Unterricht religiös handlungs- und sprachfähig zu machen. Exemplarisch sei hier eine Initiative genannt, die sich zwar nicht ausschließlich an Religionslehrkräfte gerichtet hat, aber da sie keiner der üblichen Player in der kirchlichen/staatlichen Lehrerfortbildung ist, Erwähnung finden sollte: Bereits ab den ersten Wochen des ersten Lockdowns hat die Organisation »Jesuit Worldwide Learning« in Kooperation mit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mehrfach vierwöchige Kurse für Pädagog:innen angeboten, um diese auf die unterrichtliche Arbeit mit digitalen Werkzeugen vorzubereiten. Auch subjektive Eindrücke bestätigen, dass sich eine Vielzahl von Religionslehrkräften auf die neue Situation eingelassen und nach Weiterbildungsmaßnahmen gesucht hat, um den Kontakt zu ihrer Schülerschaft nicht zu verlieren. Andere wiederum teilten und teilen ihr Knowhow und zeigen an praktischen Beispielen auf, wie Religionsunterricht in einem digitalen Setting gelingen kann. Nennenswert ist an dieser Stelle das Engagement zweier Kolleginnen aus dem Realschulbereich, die auf ihrer Homepage »digitale-relitanten. de« großzügige Einblicke in ihre digitale Unterrichtspraxis das Fach Religionslehre betreffend geben, sowie Anregungen liefern und Material und Werkzeuge zur Verfügung stellen.7 6 Kuhn, Annette, Digitale Schule. 7 Vgl. Mahler, Stefanie/Ziegler, Sybille, Digitale Relitanten.

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Dass dieses Bemühen der Vertreter:innen des Faches Religionslehre nicht überall Beifall gefunden hat, wird deutlich an einem offenen Brief an die Bayerische Staatsregierung. Vordergründig wendet sich die Verfasserin, eine fünffache Mutter und Ärztin, gegen den Beschluss der Landesregierung, die Faschingsferien 2021 zu streichen und stattdessen Unterricht abzuhalten. Verantwortliche für Religionslehre und Religionspädagogik sollten aber spätestens beim Schlussplädoyer aufmerken, wenn formuliert wird, dass man nicht zulasse, »dass das krampfhafte Festklammern an Lehrplänen auf unseren Rücken und denen unserer Kinder ausgetragen wird. Nicht wegen Biologie und Geschichte und schon gar nicht wegen Religion«8. Zwar schwingt in diesem Statement die generelle Anfrage an den Religionsunterricht und seinem Platz im Fächerkanon der deutschen bzw. bayerischen Schullandschaft mit, dennoch leitet diese Aussage auch über zur Frage, wie digitale Formen religiösen Lehrens und Lernens aussehen sollten, um tragfähig zu sein, um nicht als Be-lastung, sondern als Ent-lastung wahrgenommen zu werden, sodass die auch über das reine Unterrichten hinausreichenden Angebote des Faches gerade auch in Krisenzeiten bei den Menschen ankommen.

3 Und das Wort ist Fleisch geworden – Grundlagen des Religionsunterrichts im beruflichen Schulwesen Um die Anforderungen, die an einen digitalen Religionsunterricht an beruflichen Schulen, allen voran an Fachakademien für Sozialpädagogik gestellt werden, zu verstehen, soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick über die didaktische Schwerpunktsetzung dargeboten werden. »Es ist das zentrale Ziel der Berufsschule und Berufsfachschule, umfassende Handlungskompetenz zu fördern.«9 Dabei impliziert dieser Begriff, dass »Schülerinnen und Schüler … Handlungen systematisch aus einer umfassenden Perspektive [verstehen, beurteilen und gestalten], die fachliche, soziale und weltanschauliche Aspekte integriert«10. Dem Lebensweltbezug kommt hierbei ein besonderer Stellenwert zu. Auch der aktuell gültige Lehrplan für die Fachakademie für Sozialpädagogik betont in seinen Ausführungen zum Ausbildungsziel für angehende Erzieher:innen die Ausbildung zu eigenverantwortlichen und selbständigen Fachkräften und verweist dabei auf die obersten Bildungs- und Erziehungsziele in Anlehnung   8 Eifert, Ulrike, Offener Brief auf Facebook. Vgl. auch: Amtmann, Katarina, Schulen zu.   9 Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) (Hg.), Lehrplan für die Berufsschule und Berufsfachschule, 7. 10 Ebd., 9.

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an Art. 131 BayVerf.11 Aus der Orientierung an der Lebenswelt der Auszubildenden und aufgrund der kompetenzorientierten Lehrpläne ergibt sich für die Gestaltung des Unterrichts die Handlungsschleife als didaktisches Unterrichtsprinzip. Es wird anhand »praxisrelevanter Aufgaben- und Problemstellungen über den überwiegend gedanklichen und modellhaften Vollzug der berufstypischen Handlungsabläufe anwendungsbereites Wissen erarbeitet«12. Auch im Religionsunterricht durchlaufen die Schüler:innen bzw. die Studierenden an Fachakademien in selbstgesteuerten Lernprozessen die Phasen der vollständigen Handlung: Orientieren – Informieren – Planen – Durchführen – Präsentieren – Bewerten – Dokumentieren.13 »Die Lernenden orientieren sich an der gegebenen Aufgaben- oder Problemstellung, beschaffen sich die notwendigen Informationen, planen die Handlungen und führen diese durch. Diese werden von ihnen überprüft und bei Bedarf korrigiert. Sie bewerten ihre Aufgaben- bzw. Problemlösung und reflektieren ihren Lern- und Bearbeitungsprozess.«14 Da das Fach Theologie und Religionspädagogik, der Religionsunterricht an der Fachakademie für Sozialpädagogik, sich in das Lernfeldkonzept einreiht, gilt die Handlungsorientierung hier in besonderer Weise. Auch an den verschiedenen Schulen des beruflichen Schulwesens ist ein Proprium des Religionsunterrichts seine Ausrichtung auf Kommunikation. In der Gemeinschaft und im Diskurs erschließen sich die Lernenden »die Frage nach Gott, nach der Deutung der Welt, nach dem Sinn und Wert des Lebens«15. Konsequenterweise formuliert der Lehrplan an der BS/BFS folgendermaßen: »Religiöse Erziehung und Bildung basieren auf der Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler. Deshalb orientiert sich der Unterricht in Katholischer Religionslehre nicht allein an messbaren Ergebnissen, sondern er ist auch als kommunikatives Handeln zu verstehen und zu gestalten.«16 Damit ist angezeigt, dass Communio und Communicatio Gabe und Aufgabe des Religionsunterrichts gleichermaßen sind, wodurch sich die Frage nach den kommunikativen Möglichkeiten im Distanzunterricht drängender stellt als in anderen Fächern.

11 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.), Lehrplan für die Fachakademie für Sozialpädagogik, 6. 12 Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) (Hg.), Umsetzungshilfen zum Lehrplan an der Fachakademie für Sozialpädagogik, 4. 13 Vgl. ebd., 5. 14 Ebd. 15 Gemeinsame Synode der Bistümer, Der Religionsunterricht in der Schule, Punkt 2.5.1. 16 Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) (Hg.), Lehrplan für die Berufsschule und Berufsfachschule, 10.

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4 Und das Wort leuchtet in der Finsternis – Religionsunterricht in Digitalen Lernwelten Um die für den Unterricht so wesentliche Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden aufrechtzuerhalten, braucht es in digitalen Lernwelten einen virtuellen Ersatz für den Klassenraum. Diesen bieten Lern-Management-Systeme (LMS), sogenannte Lernplattformen. Besonders etabliert hat sich hier die moodle-Lernplattform, die auch die Basis für mebis bildet, ein LMS des Bayerischen Kultusministeriums für den Einsatz an Schulen. In seiner ursprünglichen Ausrichtung war mebis dazu gedacht, den klassischen Präsenzunterricht zu unterstützen. Ein vollwertiger Ersatz des Präsenzunterrichts durch die Plattform war nicht vorgesehen, weshalb einerseits ein Videokonferenztool auch erst im Frühjahr 2021 nachgerüstet wurde und andererseits in den ersten Wochen des Corona-Lockdowns 2020 die Seite mehrfach abgestürzt ist, da die Anzahl der Aufrufe nicht zu bewältigen war. Dies und der Umstand, dass eine Mehrheit der Lehrerschaft zu Pandemiebeginn über keine oder nur wenige Kenntnisse in der Gestaltung von Kursen auf Lernplattformen verfügte, führte dazu, dass sich die Lehrerschaft fortbilden und sich darüber hinaus andere Kommunikationswege überlegen musste. Viele Kolleg:innen sind hierbei auf browserbasierte Tools gestoßen, die durch ihre intuitive Nutzung eine erste Abhilfe schaffen konnten. Eine etwas komfortablere Ausgangslage bot sich hier vielen beruflichen Schulen (zumindest in Bayern), die durch ihren Auftrag der Berufsvorbereitung ohnehin auf Mittel der Arbeitswelt zurückgreifen. Beispielsweise wurden am Staatlichen Beruflichen Schulzentrum Max-von-Pettenkofer Neuburg an der Donau bereits ab 2017 die digitalen Kommunikationswege dahingehend ausgebaut, dass zunächst Lehrkräften für ihr Arbeiten u. a. Microsoft-365-Abonements zur Verfügung gestellt wurden. Zu Beginn des Corona-Schuljahres 2020/21 erhielten auch die Schüler:innen einen Zugang zu dieser Suite und damit u. a. zu Teams und OneNote, was durch eine geschickte Verknüpfung viele Funktionen eines LMS erfüllen kann. Unabhängig davon, welche Werkzeuge man für die Ermöglichung der digitalen Lehrer:innen-Schüler:innen-Kommunikation gewählt hat, sind zwei Kriterien zu beachten: Erstens gilt, dass Unterricht nicht durch das alleinige zur Verfügung Stellen von Material gelingt, sondern es auch in dieser Form der Begleitung des Lernprozesses durch die Lehrkraft bedarf. Daraus resultiert zweierlei: Zum einen kann auch digitaler Unterricht nur in Blended-Learning-Formaten sinnvoll umgesetzt werden. D. h.: Es braucht einen Wechsel von digitalen und analogen Arbeitsphasen, einen Wechsel von eigenständigen, selbstgesteuerten Unter-

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richtseinheiten mit solchen, die im Plenum erfolgen und durch die Lehrkraft begleitet werden (im Distanzunterricht war dieser Wechsel nur bedingt möglich und erfolgte durch digitale Konferenzen). Dies bedeutet auch, dass die Lehrkraft die Autorität für den Unterricht bleibt. Diese Verantwortung kann nicht an die Lernenden oder deren Eltern übertragen werden. Zweitens ist zu bedenken: Ein digitales Unterrichtssetting folgt einer eigenen didaktischen Gestaltungslogik; der analoge Unterricht kann nicht eins zu eins in das virtuelle Klassenzimmer »übertragen werden«. Er bedarf einer Portio­nierung in kleine Einheiten, denen entsprechend ihrer Funktion passende (browserbasierte) Tools zugeordnet werden können. Bewährt hat sich in einer ganz überblickshaften Darstellung eine Gliederung in eine Orientierungs-, Informations-, Erarbeitungs- und Reflexions- bzw. Vertiefungsphase. Ȥ So kann auch eine digitale Lernsequenz durch eine Orientierungsphase eröffnet werden, in der Vorwissen abgefragt oder Positionierungen zu einem Thema vorgenommen werden können. Browserbasierte Anwendungsprogramme hierfür können oncoo, forms, answergarden, google etc. sein, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Ȥ Für die Aneignung von Wissen und Sachkompetenz muss Material in Form von Arbeitsblättern, Informationstexten (auch digitaler Art) oder Videos bereitgestellt werden. Browserbasierte Pinnwände z. B. Padlet ermöglichen dies. Eine deutsche Alternative zu Padlet ist Taskcards, ein Programm, das seit dem Schuljahr 2020/21 auf dem Markt ist und DSGVO-konform ist. Möchte man selbst ein Erklärvideo erstellen, gibt es Programme, die dies intuitiv möglich machen, wie mysimpleshow oder i-movie auf apple-Geräten. Ȥ Die Erarbeitungsphase zeichnet sich in einem guten Unterricht durch Kollaboration aus. Anders als bei der Kooperation sollen nicht nur verschiedene Einzelergebnisse zusammengefügt werden, sondern in einem gemeinsamen Prozess entstehen. Das bedeutet, dass Werkzeuge notwendig sind, die einerseits ein Erfassen des Arbeitsergebnisses und andererseits das gemeinsame Erarbeiten ermöglichen. Neben den LMS, Teams und dem Kursnotizbuch bieten auch viele browserbasierte Tools hier Lösungen an. So können Sways, Padlets, Taskcards etc. gemeinsam bearbeitet werden. Letzteres bietet sogar die Möglichkeit für einen Austausch über das Videokonferenztool »Visavid« an. Ȥ Zur Reflexion, zur Vertiefung oder auch zur Differenzierung hat sich ebenfalls der Einsatz von Apps bewährt. Besonders großer Beliebtheit erfreuen sich hier Quizformate wie kahoot. Dieser kursorische Überblick erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständig-

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keit; und natürlich sind die genannten Tools nicht auf eine einzige Unterrichtsphase festgelegt. Der zentrale Gedanke ist vielmehr der, dass Unterricht im E-Learning-Format nicht aus einer Aneinanderreihung von digitalen Spielen besteht, sondern der didaktisch-reflektierte Einsatz der Werkzeuge geboten ist – analog zum klassischen Präsenzunterricht. Neben diesen allgemein- und fachdidaktischen Implikationen sind auch medienpädagogische Überlegungen in die Fragestellung nach einem gelingenden digitalen Religionsunterricht einzubeziehen. Für diese Reflexion bietet sich das SMAR-Modell an, das Ruben Puentedura entwickelt hat und mit dessen Hilfe sich der Grad der Integration von technischen Hilfsmitteln (digitalen Medien) in den Unterricht beschreiben lässt.17 Das Akronym SMAR steht hierbei für folgende Begriffe: Ȥ Substitution: Die Technik, in unserem Fall das digitale Medium, stellt lediglich einen Ersatz für ein analoges Werkzeug dar, ohne dass sich dadurch eine funktionale Verbesserung ergibt. Ȥ Augmentation: Auch hier ersetzt die Technik zunächst ein herkömmliches Instrument, allerdings mit dem Ergebnis einer kleinen Verbesserung. Ȥ Modifikation: Durch technische Hilfsmittel erfährt der Unterricht eine deutliche Neugestaltung, und diese Ebene ist im Distanzunterricht wichtig und angestrebt (s. o.). Ȥ Redefinition: Technik ermöglicht das Erstellen von ganz neuartigen Aufgabenformaten, die vorher nicht denkbar waren.18 Stefanie Mahler und Sybille Ziegler (digitale-relitanten.de) wenden in einer Rückschau auf ein Jahr Distanzunterricht dieses Modell an, um ihre Erfahrungen mit der Digitalisierung des Religionsunterrichts einsichtig zu machen sowie Verbesserungspotenziale bzw. Gelingens Faktoren auszumachen.19 Unter Verweis auf Axel Kromer20 identifizieren sie hierzu folgende Kriterien: Kontrolle vs. Freiheit; synchron vs. asynchron; Einzelarbeit vs. offene, kooperative Projektarbeit.21 So zeichnet sich die dritte Stufe im SAMR-Modell, die Modifikation, folgendermaßen aus: »Schüler arbeiten selbstständiger, freier, kooperativer an Projekten, aber brauchen schon viel digitale Kompetenz.«22 Mit der Verschiebung hin zu 17 18 19 20 21

Vgl. mebis-Redaktion, SAMR. Vgl. Mahler, Stefanie/Ziegler, Sybille, Fortbildung – Rückblick auf 1 Jahr Distanzunterricht, 2. Vgl. ebd. Vgl. Kormer, Axel, Didaktischer Schieberegler. Vgl. Mahler, Stefanie/Ziegler, Sybille, Fortbildung – Rückblick auf 1 Jahr Distanzunterricht, 5, 9, 11 und 13. 22 Ebd., 11.

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mehr oder weniger ausgeprägter Projektarbeit im digitalen Setting, muss auch ein Umdenken mit Blick auf die Schüler:innenarbeiten stattfinden. Anzudenken sind hier digitale Produkte wie die Erstellung von kleinen Erklärvideos, E-Books oder digitalen Portfolios etc. Was bedeutet dies nun für den Religionsunterricht an der Fachakademie für Sozialpädagogik? Ausgehend vom biographischen Hintergrund der Studierenden muss konstatiert werden, dass sowohl hinsichtlich des Alters und dem damit unterstellten Reifegrad als auch mit Blick auf den angestrebten Berufsabschluss, der im DQR der Stufe sechs zugeordnet ist, nicht nur ein gewisses Maß an Selbstorganisation vorausgesetzt werden kann, sondern im Laufe der verschiedenen Schul- und Lebensjahre Kompetenzen im Umgang mit verschiedenen Medien erworben wurden. Außerdem weist die oben beschriebene Sequenzierung des Onlineunterrichts Bezüge zur beruflichen Handlungsorientierung auf, sodass die angestrebte selbstgesteuerte Kollaboration in digitaler Projektarbeit mit Blick auf diese Rahmenbedingungen umgesetzt werden kann. An einer Lehrplaneinheit soll exemplarisch skizziert werden, wie ein digitales Lernarrangement aussehen kann. Ein wichtiger Lerninhalt des Faches ist die Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes, mit der Bibel als »Ur-Kunde des jüdisch-christlichen Glaubens, als Sammlung von Glaubenserfahrungen« und mit der Frage nach Konzepten für die Bibelarbeit mit Kindern und Jugendlichen.23 Der Unterricht zielt also auf die Vermittlung von Sach- und Methodenkompetenz gleichermaßen ab. Hieraus ergeben sich folgende thematische Schwerpunkte zu dieser Lehrplaneinheit: Grundinformationen zum Buch der Bücher, Grundlagen zur Bibelarbeit mit Kindern gemäß Bayerischem Erziehungs- und Bildungsplan (BEP), (religions-)pädagogische/entwicklungspsychologische Argumente für die Bibelarbeit, Kriterien einer guten Kinder-/Jugendbibel sowie Methoden zur praktischen Umsetzung. Bereits an dieser Aufzählung wird deutlich, dass sich nicht jedes Thema gleichermaßen digital umsetzen lässt. In Abhängigkeit von der Medienkompetenz der Unterrichtenden ist es aber möglich, diese Einheit auch in einer digitalen Lernumgebung so umzusetzen, dass die Grundintention vermittelt wird: Ȥ In Kombination (Blended-Learning) von Videokonferenzen und dem Zurverfügungstellen von Informationstexten oder Erklärvideos via LMS kann eine Informationsweitergabe erfolgen. Ȥ Ein kleineres Handlungsprodukt entsteht bereits zu Beginn der Lerneinheit, wenn die Informationen zu Welt und Umwelt der Bibel nicht auf einem 23 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.), Lehrplan für die Fachakademie für Sozialpädagogik, 40.

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Arbeitsblatt gesammelt, sondern in Kleingruppen kollaborativ Erklärvideos produziert werden. Ȥ Auch wenn es sich auf der digitalen Ebene deutlich schwieriger gestaltet, den Studierenden haptische Erfahrungen mit den auf den Adressatenkreis abgestimmte Bibeln zu ermöglichen, kann aber im digitalen Unterrichts­setting eine Vielzahl an biblischen Texten dargeboten werden (Linksammlung auf einer digitalen Pinnwand oder im Kursnotizbuch), welche die Studierenden auf ihre Eignung hinsichtlich eines religionspädagogischen Einsatzes überprüfen. Ȥ Nach dem Durchlaufen der verschiedenen thematischen Einheiten gestalten die Studierenden in Gruppen dann ihren eigenen, didaktisch-reduzierten bzw. elementarisierten Bibeltext mit Hilfe des BookCreators. Damit dies überhaupt umgesetzt werden kann, benötigen sie die zuvor erworbene Sachkompetenz (Zugang zum biblischen Text, Informationen über das religionspädagogische Modell der Elementarisierung, …), aber auch Anwendungskompetenzen. Allein an den beiden genannten Produkten wird erkennbar, dass der sehr stark gekürzte und skizzenhaft dargestellte Umsetzungsvorschlag zu einer digitalen Lerneinheit mehr als eine Ersetzung bzw. Erweiterung des Präsenzunterrichts darstellt, sondern gemäß dem SMAR-Modell der Ebene der Modifikation zuzurechnen ist. Sowohl das Erklärvideo als auch der Buchbeitrag werden über die Distanz kollaborativ erstellt und können einem erweiterten Kreis zugänglich gemacht werden. Durch die mehrdimensionale Anknüpfung an der Lebenswelt der Studierenden, die sich zum einen aus dem Einsatz digitaler Technik als auch aus dem Ausbildungsziel der Lernenden ergibt, wird der Inhalt plausibilisiert. In dieser Form stellt der Religionsunterricht im pandemiebedingten Distanzformat dann auch keine Belastung dar, wie der eingangs erwähnte offene Brief suggeriert – im Gegenteil: Er kommt seinem Bildungs- und Erziehungsauftrag nach, im vorliegenden Beispiel angehende Erzieher:innen religionspädagogisch handlungsfähig zu machen.

5 Und das Wort … Was Bleibt? Wie kann es weitergehen? Während der Tagung wurde in verschiedenen Beiträgen die Frage nach der Systemrelevanz und Tragfähigkeit von Religion, Kirche und Religionsunterricht in Krisenzeiten auf der wissenschaftstheoretischen Ebene gestellt; im eingangs zitierten offenen Brief beantwortet eine Mutter diese Frage auf der praktischen

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Ebene deutlich mit Nein. Damit dieses Nein nicht das letzte Wort hat, soll im Folgenden ein Gegenbeispiel gegeben werden, das ebenfalls in der schulischen Alltagswelt angesiedelt ist: Zwei Tage vor Beginn der Weihnachtsferien im laufenden Schuljahr wurde eine Klasse am BSZ Neuburg pandemiebedingt in den Distanzunterricht beordert. Um dennoch am Tag vor Weihnachten eine kleine adventliche Feier mit den Studierenden abzuhalten, wurde diesen ein Video vorgespielt, das eine Kollegin aus der Fachschaft Religionslehre zu einer Weihnachtsgeschichte gestaltet hat (Schulpastoral). Im Anschluss an diese Stunde hat ein Schüler dieser Lehrkraft eine Chat-Nachricht zukommen lassen, in der er sich für dieses Video und die darin zum Ausdruck gebrachte Zuwendung der Religionslehrkraft in dieser subjektiv als Krise erlebten Situation durch folgende Aussage bedankt: »Mein persönlicher Weihnachtswunsch wäre, dass wir eines Tages vielleicht Lehrerkollegen werden.« An diesem Beispiel wird Folgendes deutlich: Vielleicht haben Religion, Kirche, Religionsunterricht keine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz mehr, aber die Menschen in Religion, Kirche und Religionsunterricht sind Mittler einer Botschaft. Nicht immer, aber von Fall zu Fall eröffnen hierbei digitale Werkzeuge Chancen, das Wort Gottes in den virtuellen wie auch analogen Klassenraum zu transportieren und verständlich(er) zu machen. Nicht immer, aber von Fall zu Fall eröffnen sie Chancen, Lernende religiös sprach- und handlungsfähig zu machen. Nicht immer, aber von Fall zu Fall eröffnen sie die Chance, dass der Religionsunterricht anschlussfähig bleibt. Literatur Amtmann, Katarina, Schulen zu. Mutter veröffentlicht Brandbrief an Söder-Minister: »Den Bezug zur Realität völlig verloren«, in: https://www.merkur.de/bayern/corona-soeder-facebook-bayern-homeschooling-schulen-brandbrief-mutter-piazolo-zr-90191770.html. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.), Lehrplan für die Fachakademie für Sozialpädagogik auf Grundlage des länderübergreifenden Lehrplans, landesspezifisch angepasst, München 2017. Bertelsmann Stiftung (Hg.), Digitalisierung an Schulen. Der Geist ist willig, das WLAN ist schwach, in: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2017/september/ digitalisierung-an-schulen-der-geist-ist-willig-das-wlan-ist-schwach/. Eifert, Ulrike, Offener Brief auf Facebook, in: https://www.facebook.com/1421955038/ posts/sehr-geehrter-herr-prof-piazoloich-teile-ihnen-mit-dass-ich-zu-meinem-eigenen-ge/10224907965712700/. Gemeinsame Synode der Bistümer: Der Religionsunterricht in der Schule, in: http://www.dbk. de/fileadmin/redaktion/Synoden/gemeinsame_Synode/band1/04_Religionsunterricht.pdf. Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) (Hg.), Medienkompetenz als pädagogisches Konzept, in: https://dieter-baacke-preis.de/ueber-den-preis/was-ist-medienkompetenz/. Kormer, Axel, Didaktischer Schieberegler, in: https://unterrichten.digital/wp-content/uploads/ 2021/02/Abb3_Didaktischer-Schieberegler-2048x651.png.

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Kuhn, Annette, Digitale Schule. Wie digitale Medien den Unterricht voranbringen können, in: https://deutsches-schulportal.de/unterricht/wie-digitale-medien-den-unterricht-in-zukunftvoranbringen/?msclkid=f1e0da6cbd7511ec9bcaa1aef7e938a8. Mahler, Stefanie/Ziegler, Sybille, Digitales Lernen im Religionsunterricht, in: https://digitale-relitanten.de/. –, Eine Reise durch ein Jahr Distanzlernen im Religionsunterricht – Praxisbeispiele, um beGEISTert weiterzumachen, in: https://digitale-relitanten.de/wp-content/uploads/2021/06/Fobi_ RueckblickDistanz_Jun2021-HP.pdf. mebis-Redaktion, SAMR – ein Modell zur Digitalisierung des Lernens, in: https://www.mebis. bayern.de/p/54154. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.), JIM-Studie 2021. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart 2021. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) (Hg.), Lehrplan für die Berufsschule und Berufsfachschule. Katholische Religionslehre. Jahrgangsstufen 10 bis 12/13, München 2013. –, Umsetzungshilfen zum Lehrplan an der Fachakademie für Sozialpädagogik. Empfehlungen zur Organisation und Umsetzung im Unterricht, München 2019. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

Denn sie tun nicht, was sie wissen – religiöse Bildung und die Motivation zur Transformation in der Klimakrise Katrin Bederna

»Denn sie tun nicht, was sie wissen«, so lautet in freier Variation von Lk 23,34 die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen. Sie findet breite Zustimmung unter Umweltpsycholog:innen: Wissen um die dramatischen ökologischen Folgen der eigenen Lebens- und Wirtschaftsweise scheint kein hinreichender Grund für eine Verhaltensänderung zu sein.1 Insbesondere angesichts des Klimawandels und des Artensterbens öffnet sich eine Kluft zwischen dem detaillierten konsensualen Wissen und den gegenwärtigen und prognostizierten Schäden auf der einen Seite und dem ökologischen Handeln auf der anderen Seite. Um nur zwei globale und miteinander verwobene Facetten dieses fortlaufenden Schädigens anzureißen: Dem Living Planet Report 2020 des World Wildlife Fund zufolge ist die Zahl der wildlebenden Tiere zwischen 1970 und 2016 um 68 % zurückgegangen, in Europa und Nordamerika von einem ohnehin schon stark reduzierten Niveau aus.2 Der energiebedingte CO2-Ausstoß ist laut IEA im Jahr 2021 so stark angestiegen, dass er den Corona-Rückgang von 2020 kompensiert hat und wieder fast beim Allzeithoch von 2019 angelangt ist.3 Der zweite Teil des Titels stellt die Frage, auf die der vorliegende Aufsatz zielt: Kann religiöse Bildung zur gesellschaftlichen Transformation gegen die Klimakrise motivieren? Kann also religiöse Bildung einen Beitrag dazu leisten, die diesbezügliche Kluft zwischen Wissen und Handeln zu überwinden? Diese Frage wurde in zwei themengleichen Workshops auf dem 17. Arbeitsforum für Religionspädagogik von Koleischa, AKRK und dkv am 05.05.2022 diskutiert. Die folgenden Überlegungen nehmen auch die Anfragen und Anregungen der insgesamt 15 Workshop-Teilnehmer:innen auf. Vorangestellt sind knappe religionspädagogische, moralphilosophische, umweltpsychologische und systematisch-theologische Klärungen: Gehört die Motivation für eine ökologische 1 Vgl. Peeters, Wouter/Diependaele, Lisa/Sterckx, Sigrid, Moral Disengagement, 425–447. 2 Vgl. WWF, Living Planet Report 2020. 3 Vgl. International Energy Agency, Global Energy Review 2021.

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Transformation zu den Zielen religiöser Bildung für nachhaltige Entwicklung, wie die Frage insinuiert? Was ist Motivation, wie verhält sie sich zu moralischem Urteil? Welche motivationspsychologisch problematischen Charakteristika zeigt die Klimakrise? Und: Was hat Religion mit all dem zu tun?

1 Gehört die Motivation zum Einsatz gegen den Klimawandel zu den Zielen religiöser Bildung für nachhaltige Entwicklung? Zielt religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung (rBNE) auf die Motivation zu nicht-klimaschädlichem Handeln? Die meisten Workshop-Teilnehmer:innen bejahten dies spontan und begründeten: Dass klimaschädliches Handeln sittlich falsch sei, sei so offensichtlich, dass die Motivation zu anderem Handeln geradezu zum staatlichen Erziehungsauftrag gehöre. Aus christlich-theologischer Perspektive spitze sich dies noch einmal zu, denn am stärksten betreffe die Krise die Ärmsten – wie zum Zeitpunkt der Tagung die Inder:innen, die im Freien arbeiten müssen, keinen Zugang zu (gekühltem) Trinkwasser haben und sich keine (kohlestromfressenden) Klimaanlagen leisten können. Die Unterlassung klimaschädlichen Handelns sei folglich ein Gebot der Nächstenliebe und der Option für die Armen. Letztlich ist sie ein Gebot der Gerechtigkeit: Die Nutznießer:innen des kohlestoffbasierten Wohlstands und die historisch wie aktuell höchsten pro Kopf CO2-Emittent:innen sind aufgrund ihrer Adaptionsmöglichkeiten und der klimatisch günstigeren Lage ihrer Länder insgesamt geringer betroffen. Allerdings stehe dieses Motivierungsinteresse unter dem Vorzeichen des Überwältigungsverbots: Schüler:innen dürften »nicht im eigenen Urteil formatiert werden«4. Bildung ist Freiheitsgeschehen. Auch Erziehung zielt auf die Befähigung zu gemeinsamer Freiheit und muss diese deshalb wahren. Aus diesem Grund ist das in der Bundesrepublik breit rezipierte Konzept der Gestaltungskompetenz hinsichtlich der Motivation zurückhaltender. Es überbrückt die Kluft zwischen Wissen und Handeln mit der Ausbildung der Kompetenz »sich selbst und andere motivieren«: »Die Schülerinnen und Schüler … können ihren persönlichen wie gemeinsamen Umgang mit Dilemmata, Ungewissheiten und Ambivalenzen erörtern und bewerten«, »beschreiben und beurteilen Formen des eigenen wie gemeinsamen Engagements«, »wenden Verfahren der Selbst- und Fremdmotivation zum Engagement für nachhaltige 4

Protokollierte Zitate aus den Workshop-Diskussion werden hier anonym wiedergegeben, weil für die Namensnennung die Zustimmung aller eingeholt werden müsste.

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Wirtschafts- und Lebensformen an«5. Das Konzept der Gestaltungskompetenz verweist damit auf drei wichtige Faktoren: Erstens ist intrinsische Motivation (und eine andere kann in Bildungskontexten wohl kaum angezielt sein) immer Selbstmotivation. Zweitens kann es handlungsfördernd sein, die eigenen Handlungshemmnisse zu reflektieren. Und drittens ist davon auszugehen, dass der Erwerb der Kompetenz zur Selbst- und Fremdmotivation bzw. die Aufgabe, andere zu nachhaltigem Handeln zu motivieren, mehr zu nachhaltigem Handeln motiviert als jeder direkte Einflussversuch. Versteht man rBNE als Transformationsbildung6, so gehört das Motivieren zu nachhaltigem Handeln nicht zu ihren zentralen Zielen. Diese sind in erster Linie ideologiekritisch-emanzipatorisch und analytisch-aufklärerisch: Kinder und Jugendliche sollen lernen, Probleme, Argumentationsmuster und Narrative des Weiter so (bspw. des Greenwashings) und der Transformation zu analysieren und zu beurteilen. Sie sollen lernen, die christliche Tradition und sich selbst aus Nachhaltigkeitsperspektive zu kritisieren und neu auszurichten. Sie erwerben die Fähigkeit, die Welt neu zu imaginieren und ggf. entsprechend zu verändern und dazu Widerstände zu überwinden. All dies wirkt potenziell aufrüttelnd, inspirierend und damit auch motivierend. Motivation zu nachhaltigem Handeln gehört jedoch im engeren Sinne zum zweiten Zielkomplex von rBNE, dem konsensorientierten, gemeinschaftsförderlichen.7 Dieser umfasst u. a. die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme und Solidarität. Die zwei Typen von Zielen ergänzen einander, können jedoch auch konfligieren, wenn z. B. solidarisches Handeln mit Klimaopfern nichtnachhaltige Strukturen stabilisiert. Diese Differenzierung in Typen von Zielen ermöglicht eine Antwort auf die Frage einer Workshop-Teilnehmerin, ob sich Motivation der Kinder und Jugendlichen überhaupt noch lohne. Man könnte sagen: »Nein«, denn wer heute zu nachhaltigen Weichenstellungen und nachhaltigem Handeln motiviert werden müsste, sind die jetzigen gesellschaftlichen Entscheider:innen. Wenn die Kinder und Jugendlichen in diesen Positionen sein werden, wird es mit der Transformation zwar nicht vorbei, aber für eine Begrenzung der globalen Temperaturerhöhung auf unter 2 ° C und damit für die Bewahrung der klimatischen Situation, an die die heutigen Lebewesen angepasst sind, zu spät sein. Befähigt werden müssen sie hingegen, der kritische Stachel zu sein und ihre eigene Zukunft zu gestalten. Wenn die Frage allerdings darauf zielt, ob sich 5 De Haan, Gerhard/Kamp, Georg/Lerch, Achim u. a., Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit, 241. 6 Vgl. Bederna, Katrin, Every Day for Future, 235–273. 7 Diese Unterscheidung stammt von Herbst, Jan-Hendrik, Politische Dimension; vgl. auch: Bederna, Katrin/Gärtner, Claudia, Religiöse Bildung, i. E.

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die Motivation zum Einsatz überhaupt noch lohnt, wäre sie fatalistisch oder zynisch. Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.

2 Moralische Motivation und ihr Zusammenhang zum sittlichen Urteil »Die Entschlossenheit, ökologische Einsichten wirklich zur Kenntnis zu nehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen, ist nicht sehr weit verbreitet. Dagegen gibt es eine tiefe und schwer angehbare Lethargie. Man nimmt offenbar lieber 15.000 Verkehrstote in jedem Jahr und einen ständig wachsenden Energieverbrauch in Kauf, als dass man der Autoindustrie entschiedene Auflagen macht … und das Privatauto als alltägliches Verkehrsmittel in Frage zu stellen wagt.«8 Gefragt, von wann dieser Satz stammt, rieten die Workshop-Teilnehmenden richtig: Publiziert wurde er Anfang der 80er Jahre. Das lässt nicht nur die Zahl der Verkehrsopfer9 vermuten, sondern auch die Formulierung der Klage über »einen ständig wachsenden Energieverbrauch«. Auch damals hätte schon klar sein können, dass der Verbrauch und damit die Abnahme der fossilen Energieressourcen nicht das eigentliche Problem ist: Die Ressource, die als erste zur Neige geht, ist die Kapazität von Ozeanen und Meeren, Wäldern, Mooren und Erde zur Kohlendioxidaufnahme. Es hätte also besser heißen müssen, man nehme »einen ständig wachsenden CO2-Ausstoß in Kauf«. Das ist seither nicht anders geworden: Der energie- und industriebedingte CO2-Ausstoß hat seit der Klimarahmenkonvention von 1992 um ca. 60 % zugenommen.10 Ebenfalls angewachsen sind die Treibhausgasausstöße aus Landwirtschaft, Tierhaltung und Landnutzungswandel. Wenn die fossilen Ressourcen ein Problem darstellen, dann nicht, weil sie irgendwann erschöpft sein werden, sondern weil sie es noch nicht sind und weiter ausgebeutet werden – und weil stattdessen der Klimawandel durch Eisschmelze die Erschließung neuer Quellen ermöglicht. Ansonsten scheint das Zitat aber so aktuell wie vor 40 Jahren: Auer diagnostiziert, die meisten Menschen wüssten zwar von den ökologischen Einsichten, aber wüssten nicht »wirklich«. Das von der Kenntnis zum Handeln Führende, also Motivierende, sei eine Zur-Kenntnis-Nahme, die angehe, die ergreife, die zu Konsequenzen dränge. Dies nennt er »Motivationserfahrung«, die Erfahrung:   8 Auer, Alfons, Umweltethik, 45 f.   9 Ihre seitherige Abnahme ist bspw. der 1984 eingeführten Bußgeldpflicht für Gurtverweigerer, Geschwindigkeitsbegrenzungen und Promillegrenzen zu verdanken. 10 Vgl. zu den Schritten in die Gegenrichtung: International Energy Agency, Net Zero by 2050.

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»Es geht mich an«.11 Stattdessen herrsche »Lethargie« vor: das große Egal. Heute kommt zur Lethargie die Reaktanz, also die Ablehnung der Erkenntnis selbst bspw. aus Überforderung oder Ängsten vor Verlust des Status quo. Motivation lässt sich beschreiben als Brücke aus dem Irgendwo zum (freien, intentionalen) Handeln. »The study of motivation has to do with analysis of the various factors which incite and direct an individual’s actions.«12 Zur Motivation zählen alle Faktoren, die das Handeln anregen und lenken. Philosophisch wird intensiv diskutiert, welche Rolle das sittliche Urteil im Rahmen moralischer Motivation spielt: Bringt das sittliche Urteil den Willen zum Handeln mit sich, wenn die entsprechenden Fähigkeiten und Möglichkeiten dazu vorhanden sind, oder braucht es zusätzliche, äußere Faktoren? Moralische Internalisten gehen von ersterem aus, also dass die motivationalen Gründe in den rechtfertigenden enthalten sind, dass also, wer etwas für geboten hält, auch motiviert sei, dies zu tun. Menschen, die bspw. weiter klimaschädlich handelten, hätten in dieser Perspektive noch nicht wirklich geurteilt bzw. keine wirkliche ethische Erkenntnis erlangt (weil sie unwissend oder träge oder dumm oder böse seien). Moralische Externalisten vertreten hingegen letzteres: Die motivierenden Gründe seien den rechtfertigenden extern. Es brauche notwendig andere Motivationen (wie beispielsweise soziale Anerkennung oder religiöse Überzeugungen) neben dem sittlichen Urteil. Aus dieser Perspektive wäre es völlig verständlich, dass Menschen klar wüssten, dass klimaschädliches Handeln sittlich verwerflich sei, und sich trotzdem weiter so verhielten. Diese Frage ist für rBNE insofern relevant, als von ihr abhängt, welche motivationale Relevanz das Kerngeschäft des ethischen Lernens in höheren Klassenstufen hat: die Ausbildung ethischer Analyse- und Urteilsfähigkeit. »Sofern eine Person im praktischen Sinne vernünftig ist, besteht diese interne Verbindung zwischen Gründen und Motiven.«13 Für diese internalistische Position Rainer Forsts spreche u. a. das kantische Argument, Handeln sei nur moralisch, wenn es auch aus moralischen Gründen und nicht aus Neigung erfolge. Diese Einschätzung ist aus religiöser Perspektive heikel, wenn sie dazu führt, andere, nicht universalisierbare Handlungsgründe und Motive zu diskreditieren. Religiöse Gründe für sittliches Handeln gehören nicht zu den universal rechtfertigenden Gründen, sondern sind immer nur zusätzlich (motivierende und gruppenintern rechtfertigende) Gründe. Habermas vertritt hingegen so etwas wie einen weichen Internalismus, wenn er festhält, sittliche Urteile 11 Auer, Alfons, Umweltethik, 44. 12 John W. Atkinson nach: Brandstätter, Veronika/Schüler, Julia/Puca, Rosa Maria u. a., Motivation, 4. 13 Forst, Rainer, Recht auf Rechtfertigung, 42.

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motivierten zwar, diese Motivation sei aber meist nicht hinreichend: »Einsicht schließt Willensschwäche nicht aus. Ohne Rückendeckung durch entgegenkommende Sozialisationsprozesse und Identitäten, ohne den Hintergrund entgegenkommender Institutionen und normativer Kontexte kann ein moralisches Urteil, das als gültig akzeptiert wird, nur eines sicherstellen: der einsichtige Adressat weiß dann, dass er keine guten Gründe hat, anders zu handeln.«14 Er oder sie wüsste, dass es zwar keine guten Gründe, sondern nur gute Ausreden für das Handeln gegen das sittliche Urteil gibt, täte es aber u. U. trotzdem. Für diese Einschätzung sprechen auch entwicklungspsychologische Forschungen: Der Münchener Logik-Studie zufolge entwickele sich zuerst die Fähigkeit, in komplexen Situationen ein angemessenes Urteil zu fällen. Erst später (und manchmal nie) bauen Kinder und Jugendliche auch moralische Motivation auf, verstanden als »Bereitschaft des Handelnden, das, was er als richtig erkannt hat, auch unter persönlichen Kosten zu tun«15. Dieser Zusammenhang sei hier kurz für die Praxis ethischen Lernens mit dem didaktischen und unterrichtsanalytischen Konzept der »DNA des Philosophierens« des Philosophiedidaktikers Frank Brosow erhellt: In der Herangehensweise an Probleme des Verstehens, Urteilens und Handelns seien drei Formen zu unterscheiden: Das Denken (also die intuitive Deutung, Bewertung, Handlung), das Nachdenken (das subjektive Gründe, also »Gründe für mich« findet), das Argumentieren (das intersubjektive, parteiische, soziale Gründe heranzieht) und das Philosophieren (dem es um Theorien und universale Gründe geht).16 So könnte jemand in einem schulischen Diskurs über Mobilität auf der Ebene D denken, »ein Mofa wäre toll«. Aufgefordert, Gründe für seine oder ihre Haltung zur Frage »Mofa oder Fahrrad?« zu finden, also auf die Ebene N zu wechseln, würde er oder sie vielleicht anführen, es sei cool, es sei praktisch, weil schneller, es mache unabhängig und Spaß. In der Diskussion in der Gruppe (Ebene A) würde vielleicht der CO2-Ausstoß argumentativ eingebracht und erwidert, der einzelne Verzicht würde doch nichts ändern oder es noch schlimmer machen, da die Mutter ihren Sohn ohne Mofa weitere Strecken weiterhin mit dem Auto bringen würde. Vielleicht würden alle – gleich ob bspw. kantisch oder utilitaristisch argumentiert – zum Schluss kommen, der Mofakauf sei trotz aller individuellen Gründe für ihn nicht nachhaltig und es sei deshalb sittlich gefordert, auf fossilbasierte Mobilität zu verzichten (Ebene P). Damit wüssten sie (mit Habermas gesagt), dass sie, wenn sie doch ein Mofa 14 Habermas, Jürgen, Diskursethik, 135. 15 Schneider, Wolfgang, Logik Studie, 103 f. Zum ganzen vgl. ebd., 103–123. 16 Vgl. Brosow, Frank, Die DNA des Philosophierens, 64–81; ders., TRAP-Mind-Theory, 14–33; zur Relevanz des Konzepts für rBNE siehe: Bederna, Katrin, Didaktisches Modell, 61–71.

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kauften, dafür keine wirklich guten (intersubjektiv gültigen, universalisierbaren) Gründe hätten. Mehr aber nicht. Diese Einsicht kann zwar die Intuitionen (D) und die eigenen Gründe (N) verändern. Die »Gründe für alle« können also zu »Gründen für mich« werden und als solche motivieren, müssen es aber nicht. Als reine »Gründe für alle« binden sie den Willen nicht hinreichend. Die Frage nach der Motivation zu nachhaltigem Handeln lässt sich in diesem Modell und aus der Position eines weichen Internalismus also übersetzen als Frage danach, inwiefern der Religionsunterricht die Intuitionen, den Raum der »Gründe für mich« im Sinne der Nachhaltigkeit verändern soll und kann. Ist es nur das Ziel von rBNE, dass Schüler:innen sich im Raum der Gründe auskennen (wie es laut Brosow für den Philosophieunterricht gilt), oder geht es auch um die Aneignung zusätzlicher Gründe?

3 Motivationspsychologisch problematische Charakteristika der Klimakrise Es gibt zahlreiche psychologische Strategien, um das sich aufdrängende eigene sittliche Urteil abzuwenden und sich dem inneren Zwang der sittlichen Einsicht zu entziehen bzw. sich selbst moralisch Dispens zu erteilen. Dazu gehört der Versuch, die naturwissenschaftliche Evidenz in Misskredit zu bringen, bspw. indem das, was klimawissenschaftlich unsicher und umstritten ist, auf den anthropogenen Klimawandel als ganzen oder die Drastik der prognostizierten Folgen ausgeweitet wird. Noch verbreiteter ist in klimaethischen Fragen die Strategie der Verschiebung und Diffusion der Verantwortung.17 Diese prägt insbesondere die Diskussion, ob die Individuen oder die Wirtschaft oder die Politik aktiv werden müssten. Auch individuell findet jede:r immer jemanden, der oder die noch mehr Treibhausgase emittiert, was ein beliebtes, wenn auch nicht überzeugendes Argument ist, sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen. Zudem ist die Klimakrise geprägt von zahlreichen Charakteristika, die die moralische Motivation schwächen und somit die Flucht vor dem sittlichen Urteil wahrscheinlicher machen. Positiv gesagt: Moralische Motivation wird begünstigt durch zahlreiche Faktoren: durch eine (zumindest historische) Vertrautheit mit der Situation, die das Handeln fordert, durch die Klarheit, darüber, was in dieser Situation hilfreich und nötig wäre, durch die räumliche und zeitliche Nähe des Problems, durch den Notfallcharakter der Situation, dass sie 17 Zu diesen und anderen Strategien vgl. Peeters, Wouter/Diependaele, Lisa/Sterckx, Sigrid, Moral Disengagement, 425–447.

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also dringend, aber zeitlich begrenzt Einsatz erfordert, durch die begründete Hoffnung, dass der eigene Einsatz hilft, und dadurch, dass man nicht allein ist, sondern dass viele andere auch schon das Gebotene tun. Klimakrise und Artensterben teilen diese Charakteristika nicht. So sind sie in der Schnelligkeit neu und äußerst komplex. Hilfreiche Strategien wie Suffizienz, also Maßhalten und Bescheidenheit, sind zwar bekannt. Unbekannt ist aber, wie der Lebensstandard einerseits und der Handel andererseits auch nur annähernd so bleiben können, wie sie sind, ohne weiterhin die ökologischen Lebensgrundlagen zu torpedieren. Sie sind geprägt durch räumliche und zeitliche Distanz: Die Krise ist zwar da. Die schlimmsten Folgen entstehen aber für die meisten Menschen noch woanders und jedenfalls noch nicht jetzt. Auch der Notfallcharakter ist ein anderer: Die Situation ist zwar eine große Not. Aber es ist eine Notlage, in der kein Einsatz kurzfristig helfen wird und alles Hilfreiche auf Dauer gestellt werden muss. Dies ist gepaart mit der Unsichtbarkeit der Erfolge: Gleich, was wie viel getan wird, aufgrund der Selbstverstärkung der klimatischen Prozesse steht zu befürchten, dass die Situation zu den Lebzeiten der heute Erwachsenen nur noch schlimmer werden wird. Auch scheint es auf das Verhalten Einzelner kaum anzukommen: Hier tragen viele zugleich Verantwortung, da der CO2-Ausstoß eines Einzelnen erst fatale Folgen hat, weil viele andere auch so handeln. Im Umkehrschluss heißt es, dass die einzelne Handlung erst dann wirksam ist, wenn ihr viele folgen bzw. wenn sie Strukturen ändert. Nicht zuletzt lässt sich bisher nur in gewissen gesellschaftlichen Teilbereichen die Erfahrung machen, dass viele mitmachen beim Kampf gegen die ökologische Krise. Die Normalität, also das, was man macht und was soziale Anerkennung verschafft (das Auto, die Fernreise, das Haus, die Internetpräsenz …), ist in vielen Bereichen nicht das Nachhaltige. Klimaethische Motivation in rBNE müsste diese Probleme von Neuheit, Komplexität, zeitlicher und räumlicher Distanz, Langfristigkeit, Hoffnungslosigkeit, Verantwortungsteilung und nicht-nachhaltiger Normalität bearbeiten.

4 Religiöse Bildung und die Klimakrise In den Workshop-Gesprächen über die Frage, was religiöse Bildung mit der Klimakrise zu tun habe, gab es auf der sozialethischen und schöpfungstheologischen Ebene zügig einen Konsens. Die Klimakrise berühre diesbezüglich einen Kern des Christentums und müsse schon allein von daher in religiöser Bildung eine Rolle spielen – ganz unabhängig von der funktionalen Frage, ob dies irgendwen zu irgendetwas motiviere. Die Beschäftigung damit sei in sich

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religiös bildend, ohne dass dies einem anderen Zweck dienen müsse, auch nicht einem so wichtigen wie der Senkung der CO2-Emissionen. Auch wenn man von den Schüler:innen ausgeht, ist der Zusammenhang von religiöser Bildung und Klimakrise selbstverständlich und nicht-funktional. Kinder und Jugendliche stellen in der Krise Fragen nach Sinn, Hoffnung und Verantwortung. Diese sind letztlich religiöse Fragen: Was ist mein Platz im Gesamt der Welt? Welche moralische und politische Verantwortung habe ich für die jetzige und zukünftige Welt? Welche Hoffnung gibt es noch angesichts der drohenden Katastrophen? Religiöse Bildungskontexte bieten Raum, in dem solche Fragen philosophierend und theologisierend analysiert und durchdacht werden können. Antworten und Traditionen der Religionen auf solche ökologischen Fragen können – einerseits informierend, andererseits als kritischer Stachel – in das Theologisieren eingespeist werden. Die möglichen Antworten sind nicht fertig und zeitenthoben. Es sind vielmehr historische Deutungen des Verhältnisses von Gott und Welt, ausgehend von Gottes Offenbarung – die selbst je neu gedeutet werden muss. Besonders deutlich zeigt sich die Notwendigkeit solcher Neudeutung aktuell in der theologischen Anthropologie. So konnte Alfons Auer im eingangs zitierten Buch noch ganz selbstverständlich davon reden, dass der Mensch das zentrale Geschöpf sei. »Die Natur kommt zu sich selbst nur im Menschen, nur in ihm erfüllt sich ihr Sinn.«18 Diese Sicht wird durch die ökologische Krise grundlegend angefragt. Es geht also in dieser Situation um urreligiöse Fragen: Was dürfen wir hoffen? Auf wen können wir vertrauen? Und es geht um die ethische Frage: Was müssen wir tun? Das ethische Ziel der Eindämmung des Klimawandels ist nicht fraglich, sondern nur zu offensichtlich. Für die Detailfragen (Was muss ich tun, um das zu erreichen?) und den politischen Interessenausgleich auf diesem Weg braucht es keine Religion. Das Spezifikum theologischer Ethik ist hingegen der Indikativ, die Zusage: Du bist nicht allein! Es ist die Stützung durch eine bestimmte Weltsicht: Und siehe, es war sehr gut. (Gen 1,31) Es ist das Versprechen, die gute Ordnung Gottes werde kommen. Das bedeutet nicht nur in der Resilienzperspektive: »Du wirst das überstehen, du bist stark!« Es heißt: »Du kannst!« Du kannst Wichtiges verändern. Du kannst transformieren. Aus dieser Zusage entspringt christlich ein neuer Imperativ, der politisch ist: Die Option für die Armen, zu denen neuerdings auch Tiere und Pflanzen gehören. Nach all dem, was auf der Tagung und in diesem Buch religionssoziologisch vorgetragen wurde, wäre es naiv zu glauben, dass der Glaube Christ:innen statistisch relevant zur ökologischen Transformation bewegen würde. Diesbezüglich 18 Auer, Alfons, Umweltethik, 55.

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ist Bescheidenheit geboten, gleich welche der von Michael N. Ebertz referierten Diagnoseperspektiven man wählt: die der Singularitäten (die keine faktisch wirksamen universalen Wahrheiten kennt), die der Dienstleistungsgesellschaft (in der Kirche weder Ansprüche zu stellen noch – ehemals eschatologische – Sanktionsgewalt zu üben hat) oder die der funktionalen Differenzierung (in der die Systeme von Ökologie und Religion entkoppelt sind und kirchliche Moralvorstellungen kaum auf andere Systeme übergreifen können). Einige Diskutant:innen des Workshops sahen diese Deutungen auch positiv: Sie entlasten von übergroßen Erwartungen. Sie öffnen den Raum einfacher Möglichkeiten: des Reflektierens der Krisen-Fragen der Kinder und Jugendlichen, der gemeinsamen Antwortsuche, des Kennenlernens hier hilfreicher christlicher Erzählungen, Traditionen, Visionen und Hoffnungen, der neuen Erfahrungen.

5 Kann religiöse Bildung zu nachhaltigem Handeln in der Krise motivieren? Aus den obigen Überlegungen folgt, dass diese Frage nur eine Randfrage religiöser BNE ist – vielleicht sogar eine irreführende, weil sie den Eindruck erwecken könnte, rBNE solle zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen verzweckt werden oder würde Gebrauchsanweisungen für richtiges und gutes Leben bieten. Das ist nicht der Fall. Andererseits gehören die Abschwächung des Klimawandels und des Artensterbens zu den Minimalbedingungen der Möglichkeit zukünftiger Freiheit. Nur mit ihnen haben heutige Kinder und Jugendliche eine Chance darauf, ihr Leben frei zu gestalten und gemeinsam auch zukünftig nach eigenen Formen guten Lebens zu suchen. Insofern ist die Frage, ob religiöse Bildung zu nachhaltigem Handeln in der Krise motivieren kann, ob sie also nicht nur Selbstzweck ist (was sie ist), sondern auch handlungsförderlich sein könnte, doch nicht so abwegig. Das Ausloten des Raums klimaethischer Gründe und das Finden und Anerkennen guter, im Sinne universal rechtfertigender Gründe für Fragen klimarelevanten Handelns gehört zu dem, auf das Religionsunterricht täglich hinarbeitet. Trifft der weiche Internalismus zu, so ist es ein erster, wenn auch nicht hinreichender motivationaler Faktor. Darüber hinaus betonten die Workshop-Teilnehmer:innen die Potenziale des Christentums und mit ihm des Religionsunterrichts, die motivationalen Hindernisse in der Klimakrise zu überwinden: Stark ist das Christentum insbesondere in Fragen der Durchbrechung der Hoffnungslosigkeit und der Unterbrechung der vermeintlichen Normalität: »Das Christentum kann einen Beitrag

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leisten, zu lernen, wie man radikal kämpft, ohne zu verbittern und dem anderen das Menschsein abzusprechen. Dies ist ein Beitrag für die konkrete politische Praxis.«19 Es kann mit Vorbildern und Geschichten konfrontieren, wie Menschen in der Geschichte Gottes gegen den Mainstream handeln, »so wie Tamar, im Blick auf die Sache, über den Horizont normativer Grenzen hinaus«. Es kann sich »wie die Kunst erlauben, grundsätzliche, radikale Position zu beziehen, ohne immer schon das politisch Machbare zu denken«. Das mag, wie aktuell in den friedensethischen Debatten, manchen naiv oder mindestens verantwortungsethisch unterbelichtet scheinen, ist aber ein nötiger, inspirierender Einspruch gegen das als normal Geltende. Die Bibel ist zudem voller Hoffnungsbilder, Bilder einer guten Zukunft, die dazu inspirieren können, eigene Zukunftsvisionen auszumalen und im Kleinen zu beginnen. Dabei bringt das Christentum die Idee ein, es gebe »da noch jemanden, der größer ist als ich und dem ich klagen darf und der mir Mut machen kann zum Handeln, auch wenn es nicht gut aussieht, und der mich schützt vor Selbstüberforderung: Ich muss die Welt nicht retten, aber ich sollte etwas dazu beitragen.« Einerseits steigert das Christentum also den Anspruch zu handeln, da jeder und jede Gläubige auch verantwortlich sei »gegenüber etwas Größerem«. Andererseits löst der Rechtfertigungsgedanke vom »Zwang zur Produktivität«: Der Sinn und Wert des eigenen Lebens hängen nicht am Gelingen des Einsatzes. Die räumliche Distanz könne der Religionsunterricht durch Kontakt zu betroffenen Christ:innen in anderen Ländern überwinden. Die zeitliche Distanz zu den Opfern kann durch die Idee des geschöpflichen Wir im Angesicht Gottes überwunden werden. Es gehe nicht nur um das Ich und das Du und deren wechselseitige Abhängigkeit im Netz des Lebendigen, sondern um das Wir aller Geschöpfe aus der zeitumspannenden Perspektive des Glaubens. In Projekten im Kontext der gesamten Schule (beispielsweise solchen, die andere motivieren, weniger klimaschädlich zu handeln) könnten Schüler:innen »aus der Vereinzelung geholt werden« und sich »gemeinschaftlich als handlungsfähig erfahren«. Diese Überlegungen betreffen, so eine Teilnehmerin, »viele Dinge. Ich kann sie also vielfältig ansprechen. Und dann Verweise starten. D. h. ich muss nicht ständig mit dem Klimawandel nerven! (Erfahrungen in der Berufsschule bei Automechatronikern)«. Speziell klimaethisch aber war die Frage, auf die ein Workshop zulief und die hier, weil sie paradigmatisch ist, abschließend skizziert werden soll: Ein Workshop-Teilnehmer erzählte, er habe lange überlegt, ob er eine Photovoltaikanlage auf sein Haus bauen sollte und gezögert auf19 Schriftliche Äußerung im Workshop-Pad (so auch die folgenden Zitate ohne Fußnoten).

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grund des Energie- und Ressourcenverbrauchs bei deren Herstellung, der dem Nicht-CO2-Ausstoß in der Nutzungsphase entgegenstehe. Dies habe ihn zur Erkenntnis gebracht, das Ganze sei doch weniger ein ethisches und religiös relevantes Problem. Es sei das Problem eines »Berechnungskalküls«, also der Klugheit und Informiertheit. Einerseits ist dem so. Anderseits zeigt das Beispiel neben der Komplexität klimaethischer Detailfragen zweierlei: Erstens gelingt es klimaethisch kaum, nicht schuldig zu werden. Es gelingt hoffentlich, den Schaden für möglichst viele zu minimieren (was schon sehr viel wäre), nicht aber, niemandem zu schaden. Christlich wurde dieser Zusammenhang lange mit dem Wort Erbsünde bezeichnet: Aus der Verstrickung in den Zwang zum Schädigen kommt kaum eine:r heraus. Zweitens ist im Beispiel eines konstant: Das Haus. Mindestens aus jesuanischer und franziskanischer Perspektive lässt sich auch dies in Frage stellen: Warum so viel Wohnfläche pro Person? Ist es nach dem Auszug der Kinder zu groß geworden, während die jungen Familien klimaintensiv neue Naturflächen versiegeln? Was ist wirklich notwendig? Mit dem Mitdiskutanten Karl-Heinz Wächter gefragt: »Was ist mit dem Pferd?« St. Martin ist die Freude aller Laterne-laufenden Kinder und steht vielen auch Nicht-Christ:innen als Musterbeispiel der Nächstenliebe vor Augen. Aber in der Geschichte, für die er berühmt ist, teilt er vorerst nur den Mantel – ohne die Strukturen zu ändern, die den Armen arm machen, ohne in Frage zu stellen, dass er ein Pferd reiten darf, der andere nicht, ohne überhaupt das Reiten und den Besitz in Frage zu stellen. »Was ist mit dem Pferd?« Das wäre die jesuanisch-franziskanische Frage. Sie wurde später auch Martins Frage, nur wird das gerne vergessen. In der Nachhaltigkeitsdebatte wird sie diskutiert als Frage der Suffizienz, des Maßhaltens, des Weniger. Die Frage nach dem Pferd ist hingegen radikaler. Christlich müssen wir sie stellen und uns gefallen lassen.20 »Von der Eschatologie zur Erbsünde«, so fasste eine Teilnehmerin die Diskussion zusammen. All diese religionsunterrichtlichen Aspekte erweitern den Raum der »Gründe für mich« und der »Gründe für uns«. Sie bieten »Rückendeckung durch entgegenkommende Sozialisationsprozesse und Identitäten«, einen »Hintergrund entgegenkommender Institutionen und normativer Kontexte«21, die die klimaethische Motivation stärken, also das Tun des als sittlich richtig und notwendig Erkannten auch gegen Widerstände wahrscheinlicher machen können.

20 Zum Weiterlesen dazu: Bederna, Katrin, Alles wird gut? 21 Habermas, Jürgen, Diskursethik, 135.

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Literatur Auer, Alfons, Umweltethik. Ein theologischer Beitrag zur ökologischen Diskussion, Düsseldorf ³1989. Bederna, Katrin, Alles wird gut? Franziskanische Inspirationen zur Klimakrise, Würzburg 2021. –, Every Day for Future. Theologie und religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, Ostfildern 2 2020. –, Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung. Ein didaktisches Modell, in: RpB 44/2021, 61–71. –/Gärtner, Claudia, Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, in: Grümme, Bernhard/Pirner Manfred L. (Hg.), Religionsunterricht neu denken 2.0. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, Stuttgart 2023 i. E. Brandstätter, Veronika/Schüler, Julia/Puca, Rosa Maria u. a., Motivation und Emotion. Allgemeine Psychologie für Bachelor, Berlin/Heidelberg 22018. Brosow, Frank, Die DNA des Philosophierens. Philosophieren über Heimatverlust nach der TRAPMind-Theory, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2/2020, 64–81. –, TRAP-Mind-Theory. Philosophizing as an Educational Process, in: Journal of Didactics of Philosophy 4 (2020), 14–33. De Haan, Gerhard/Kamp, Georg/Lerch, Achim u. a., Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Grundlagen und schulpraktische Konsequenzen, Berlin/Heidelberg 2008. Forst, Rainer, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2007. Habermas, Jürgen, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991. Herbst, Jan-Hendrik, Die politische Dimension des Religionsunterrichts. Aktuelle Auseinandersetzungen, historische Hintergründe, interdisziplinäre Impulse und praktische Perspektiven, Bochum 2022 i. E. International Energy Agency, Global Energy Review 2021. Assessing the effects of economic recoveries on global energy demand and CO2 emissions in 2021, in: https://iea.blob.core.windows. net/assets/d0031107-401d-4a2f-a48b-9eed19457335/GlobalEnergyReview2021.pdf. –, Net Zero by 2050, in: https://www.iea.org/reports/net-zero-by-2050. Peeters, Wouter/Diependaele, Lisa/Sterckx, Sigrid, Moral Disengagement and the Motivational Gap in Climate Change, in: Ethical theory and moral practice 22 (2019), 425–447. Schneider, Wolfgang, Entwicklung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Befunde der Münchner Längsschnittstudie LOGIK, Weinheim 2008. WWF, Living Planet Report 2020. Bending the curve of biodiversity loss, Gland 2020. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

DRITTES KAPITEL Religionsunterricht in Krisenzeiten – Konkretionen und Anregungen

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1 Utopien digitaler Körperlichkeit Influencer:innen fungieren als die neuen Held:innen der gegenwärtigen Jugendzimmer.1 Instagram stellt dabei ein wesentliches Leitmedium dar. Auf der ab 13 Jahren erlaubten Plattform schaffen Heranwachsende sich »Relevanz- und Resonanzräume«2, mit denen sie sich identifizieren. Gestählte und perfekte Körper, lässige Outfits, durchgestylte Wohnungen, aufregende Fernreisen: Das schöne Leben auf Instagram, eine zunächst positiv konnotierte, neue, perfekt kuratierte Welt, die ausschließlich aus vermeintlich perfekten Momenten besteht.3 Jugendliche, die sich durch die inszenierten Fotos von Influencer:in1 Unter den Top Ten in Deutschland sind u. a. die Zwillinge Lisa und Lena auf Instagram mit 17,4 Millionen Follower:innen. Die Schwestern teilen unter dem Account @lisaandlena ihren gesamten Tagesablauf, der sich um Fashion, Food und Lifestyle dreht. Die Beautybloggerinnen Pia Wurtzbach und Bibi alias Bianca Claßen sind ebenfalls reichweitenstark. So zählt @piawurtzbach 13,6 Millionen Follower:innen und @bibisbeautypalace 8,2 Millionen Follower:innen. Auf ihren Accounts teilen sie alles rund um das Thema Beauty und Lifestyle. Neben den Beautybloggerinnen sind aktuell auch sieben Fußballer Influencer:innenstark. Toni Kroos belegt mit 33,3 Millionen Follower:innen den ersten Platz. Die erfolgreichste Influencerin auf YouTube ist aktuell Pamela Reif. Sie ist Influencerin für Fitness, Health und Fashion und mit ihren WorkoutTutorials, Rezeptideen und Modeinspirationen scheint sie den Zeitgeist zu treffen. 8,75 Millionen Menschen haben ihren YouTube-Kanal abonniert (Abruf der Zahlen 29.05.2022). 2 Pirker, Viera, Fragilitätssensible Pastoralanthropologie, 46. 3 Instagram gilt als »happy place« und die Kommunikation findet vorrangig positiv statt. Es werden nur Fotos ausgewählt, die »das eigene Leben als schön, spannend und erfüllt« erscheinen lassen und demzufolge dem Bild entsprechen, »dass man selbst von sich haben möchte und von dem man will, dass es so kommuniziert wird«. Reuter, Ingo, You’ll never talk alone, 265. Es lassen sich in Ansätzen auch Gegenstimmen aufzeigen und nicht nur im Bereich der #bodypositivity. So postet bspw. die Beautybloggerin Miriam Jacks mit 60 Tausend Follower:innen ihren Krankenhausaufenthalt. Saskia Frietsch ist selbst von einer chronischen Darmerkrankung betroffen und lebt mit einem künstlichen Darmausgang. 2016 startet sie gemeinsam mit ihrem Freund das Projekt »Grenzenlos« (@projekt.grenzenlos). Ein Fotoprojekt von Betroffenen für Betroffene. Saskia sensibilisiert Menschen mit körperlichen Auffälligkeiten ihre Narben, Verletzungen und Wunden zu zeigen. Sie lädt Menschen zu profes-

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nen klicken, werden ihr eigenes Leben sehr schnell als unperfekt titulieren und der scheinbaren Norm nicht genügen.4 Influencer:innnen treten in gewisser Weise als Freund:innen auf, kokettieren mit Intimität, lassen die Follower:innen an ihrem Alltag antizipieren und vermitteln die Botschaft: Du kannst auch so sein wie ich. Fokussiert wird ein gemeinsamer Werteabgleich auf der Basis eines enormen Anpassungsdrucks. Bereits junge Mädchen ahmen Influencer:innen nach und testen Identitätsfacetten. Es geht um Vorstellungen des perfekten Körpers und den Umgang mit zeitgenössischen Schönheitsidealen, um Diäten, um Fitness sowie um die Verbreitung entsprechender Praktiken in den sozialen Netzwerken. Dies alles führt dazu, dass Kinder und Jugendliche in der Wahrnehmung ihres Körpers zunehmend verunsichert sind. Die Frage »Wer bin ich?« oder »Wer möchte ich sein?« stellt die grundlegende Lebensfrage nach der eigenen Identität, dem Körper und dem Geschlecht dar. Heranwachsende sind einem erheblichen Außendruck ausgesetzt. Orientierung an Stereotypen und Klischees, Rollenvorhaben und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen betreffen maßgeblich die Konstruktion. Im stetig wachsenden Gesundheitsbewusstsein, wie es sich etwa bei der Fitness und im Lifestyle zeigt, wird deutlich, dass der Körper zum zentralen Bezugspunkt bei der Suche nach Sinn und Identität wird. Einerseits leben Kinder und Jugendliche als »Digital Natives« in virtuellen und damit in körperlosen Welten, andererseits stehen sie als »Selfie-Generation« unter dem ständigen Druck einer körperlichen Selbstoptimierung und -inszenierung. Der Wunsch nach Selbstoptimierung besetzt dabei das Selbstwertgefühl mit dem Ideal der Perfektion, dem der disponierte, begrenzte und vergängliche Körper nicht genügen kann. Der Körper wird zur instrumentalisierten Baustelle unterschiedlicher Körperinszenierungen und bestimmt vor allem die Lebensphase Jugend in hohem Maße, da gerade der Körper für Jugendliche eine identitätsrelevante Baustelle bezeichnet. Er reift sexuell, verändert sich stetig, eilt dem Selbstbild beständig voraus und wird in gestaltbarer Plastizität zum Spiegel sich entwickelnder Persönlichkeit. In wachsender Autonomie und kritischer Selbstreflexivität lernen Heranwachsende, ihren »Körper zu bewohnen«5. sionellen Fotoshootings ein und inszeniert diese mit ihren Besonderheiten. Dabei bleibt die schöne Instagram-Oberfläche gewahrt und dennoch wird Fragilität sichtbar sowie für einen Perspektivwechsel sensibilisiert. 4 Vgl. auch Gunkel, Katja, Der Instagram-Effekt, 308. Instagram funktioniert hoch personalisiert: Den individuellen Feed bestimmen Algorithmen, die sich am Nutzer:innenverhalten und Werbeinteresse orientieren. Das mag zwar in vielen Fällen den Insta-Glanz abbilden, kann theoretisch aber auch ein Feed voll von Gegendarstellungen sein. 5 Fend, Helmut, Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 222.

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Heranwachsende erstellen und posten unentwegt Selfies, jeden Scoop wahrnehmend und die Öffentlichkeit an jeglichen privaten Gefühlsregungen teilhaben lassend. Selfies sind Körperextensionen, welche die Wahrnehmungsmuster des Menschen verändern und sich auch auf den Körper auswirken. Der Körper ist dabei nicht nur Kommunikationsmittel, Ausdrucks- und Erkenntnismedium, er ist vielmehr auch Artefakt und Projektion. Die gegenwärtig omnipräsente Thematisierung, Visualisierung und Technologisierung des Körpers erfolgt in und über unterschiedliche Medien. Sichtbar werden Formen des ­Empowerments, indem Jugendliche die Kontrolle darüber haben, welches Foto sie veröffentlichen wollen und welches nicht. Dabei scheinen Jugendliche einem gewissen »impression management« zu folgen, wobei sie in ständiger Interaktion mit ihren Peers an ihren Fotos arbeiten und auf viele Likes hoffen. In Zeiten der Pandemie ist der Alltag nicht nur berührungs-, sondern auch körperlos. Schüler:innen fehlt das körperliche Dasein im Raum, das Interagieren miteinander. Aufgrund der stark digitalisierten Lebenswelt fällt auf, was wirklich fehlt. Denn immer mehr drängt sich die Erkenntnis auf, dass sich das leib-körperliche Dasein des Menschen aus mehr zusammensetzt als aus bloßen Fakten. In der Distanz der virtuellen Welt sind die physischen Konturen des menschlichen Daseins buchstäblich ungreifbar. Im Diskurs der spätmodernen Gesellschaft erfährt der Körper zunehmend Aufmerksamkeit. Zum einen geht es dabei um ein intensives Körpererleben angesichts vielfältiger Identitätsverunsicherungen und zum anderen um eine stetige Modifizierung des Körpers. Denn der Körper ist dem Menschen als unausweichliche Materialität gegeben. Was immer der Mensch ist, er ist immer auch Körper und hat einen Körper. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird nach langer Zeit der Leibfeindlichkeit in der christlichen Tradition verstärkt der ganze Mensch in den Blick genommen. Im Hinblick auf die Analyse der hochdifferenzierten Anforderungen an das menschliche Leben in der vormodernen Welt wird schnell deutlich, dass sich humane Körperlichkeit nicht von selbst versteht. Es kann nicht normiert von dem Körper gesprochen werden, sondern Körper existieren in Vielfalt und werden immer wieder neugestaltet. Körper werden vielfältigen Modifizierungen unterzogen: Körper werden bekleidet, mit Accessoires geschmückt, gepierct, tätowiert, durch sportliche Aktivitäten gestählt. Jedoch werden Körper nicht nur gestaltet, vielmehr gestalten und reproduzieren sie auch das Soziale in Interaktionen. Körper haben eine Geschichte, eine Sprache, drücken Gefühle aus, sie sind symbolisch und haben immer eine gesellschaftliche Dimension.6 Doch 6 Vgl. Niekrenz, Yvonne/Witte, Matthias D., Zur Bedeutung des Körpers in der Lebensphase Jugend, 7.

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inwiefern kann auch von Körperlichkeit in virtuellen Welten gesprochen werden und welche Rolle spielt dabei der gegenwärtige Religionsunterricht? Geht ihm durch die stark mediatisierte Lebenswelt der Schüler:innen die Körperlichkeit verloren? Der Erfahrungsraum von Schüler:innen hat sich durch die Mediatisierung und Digitalität insgesamt verändert.7 Anthropologische Dimensionen im Zusammenhang mit Social-Media-Praktiken erhalten Einzug in den Religionsunterricht und werden somit auch für die Entwicklung der Religionspädagogik relevant. In diesem Kontext lassen sie sich als Zeichen menschlicher Selbst- und Fremdwahrnehmung der Gegenwart analysieren.

2 Erkundungen: Körperlichkeit in der Religionspädagogik Im religionspädagogischen Diskurs spielt das Körperthema sowie die körperliche Disposition von Religionslehrer:innen und Schüler:innen nur eine marginale Rolle.8 Was durchaus erstaunt, denn bei der Planung von Unterricht werden körperliche Bedingungsfaktoren (Alter, körperliche und/oder geistige Beeinträchtigungen, Geschlecht u. ä.) didaktisch wie methodisch immer mitbedacht, um einen subjektorientierten und entwicklungspsychologisch verantworteten Religionsunterricht zu gewährleisten. Dabei bestimmt die Lernumgebung als Faktor körperlicher Disposition maßgeblich das Unterrichtsgeschehen.9 Im Folgenden wird der Körper hinsichtlich seiner Relevanz für die Religionspädagogik skizziert. Im religionspädagogischen Diskurs wird er nur marginal betrachtet, obgleich der Körper wie auch die Körpererfahrung seit den 1990er Jahren als Zugang zum theologischen Denken Beachtung findet.10 In religionsdidaktischen Ansätzen ist der Zusammenhang zu körperbezogenen Themen inhärent, indem Dimensionen von Körperlichkeit im Rahmen des ganzheitlichen Lernens betrachtet werden. Reflektiert werden diese im Kontext religiöser Erfahrungen bzw. in symboldidaktischen Ansätzen.11 Die Ansätze des

  7 Vgl. ausführlich Pirker, Viera, Das Geheimnis im Digitalen, 133–141.   8 Trotz einzelner Studien kann nur eine »verhältnismäßig geringe explizite Rezeption des Körperthemas … mit Blick auf die schulischen Lernorte« aufgezeigt werden. Könemann, Judith/Wendel, Saskia, Leib und Körper, 8.   9 Vgl. Naurath, Elisabeth, Körper und Bewegung, 413. 10 Vgl. Zilleßen, Dietrich/Gerber, Uwe, Und der König stieg herab von seinem Thron. 11 Vgl. z. B. Biehl, Peter, Symbole geben zu lernen; Halbfas, Hubertus, Das dritte Auge; MeyerBlanck, Michael, Vom Symbol zum Zeichen.

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biographischen Lernens12, des Bibliodramas13 und des Bibliologs14 berücksichtigen neben der sinnlichen Erfahrung auch die affektive Dimension körperlicher Bildung. Eine ganzheitliche Erfahrung durch den Körper findet sich auch im Ansatz der Kirchraumpädagogik15, der Liturgiedidaktik16, des ästhetischen Lernens17 sowie in der Methodik des Tanzes18 im Kontext der performativen Religionsdidaktik.19 Des Weiteren kann auf die Bedeutung der Körpersymbolik für die Bibeldidaktik20 sowie auf das Konzept des »Bewegten Religionsunterrichts«21 aufmerksam gemacht werden. Mit dem Ansatz der performativen Religionsdidaktik22 wird die Möglichkeit eröffnet, »Religion (körperbezogen) zu erleben«. Eine explizite Reflexion erfolgt auch im Kontext einer geschlechtersensiblen Religionspädagogik23. Der Religionsunterricht bietet eine Vielzahl an methodischen und didaktischen Varianten, körperbezogene Elemente24 einzubringen.25 Gemein ist allen körperbezogenen Zugängen die Fokussierung der Leiblichkeit im Sinne einer ganzheitlichen Bildung bzw. des ganzheitlichen Lernens. Leibliches Lernen ist kein neuer Begriff innerhalb der religionsdidaktischen Diskussion.26 Körperlichkeit und Leiblichkeit schwingen unbewusst immer mit. Erste Ansätze sind in der Religionspädagogik dahingehend zu erkennen, dass der Körper im Religionsunterricht selbst zum Thema gemacht wird, dezidiert von einem Leib-Körper-Verhältnis ausgegangen wird und ein Lernen somit 12 Vgl. z. B. Witten, Ulrike, Diakonisches Lernen an Biographien; Mendl, Hans, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. 13 Vgl. z. B Naurath, Elisabeth/Pohl-Patalong, Uta (Hg.), Bibliodrama. 14 Vgl. z. B. Pohl-Patalong, Uta, Bibliolog. 15 Vgl. z. B. Rupp, Hartmut, Handbuch der Kirchenpädagogik; Klie, Thomas, Pädagogik des Kirchenraums/heiliger Räume. 16 Vgl. z. B. Klie, Thomas, Gottesdienst lehren und lernen. 17 Vgl. z. B. Gärtner, Claudia, Ästhetisches Lernen; Altmeyer, Stefan, Von der Wahrnehmung zum Ausdruck. 18 Vgl. z. B. Hilpert, Anne, Tanz im Dazwischen; Schnütgen, Tatjana K., Tanz zwischen Ästhetik und Spiritualität. 19 Vgl. z. B. Könemann, Judith/Wendel, Saskia, Leib und Körper, 9. 20 Vgl. Schroer, Silvia/Staubli, Thomas, Die Körpersymbolik der Bibel. 21 Vgl. Buck, Elisabeth, Bewegter Religionsunterricht. 22 Vgl. z. B. Klie, Thomas/Leonhard, Silke (Hg.): Performative Religionsdidaktik; Englert, Rudolf, Performativer Religionsunterricht. 23 Vgl. z. B. Pithan, Annebelle u. a. (Hg.), Geschlechter bilden; Becker, Sybille, Leib – Bildung – Geschlecht. 24 Z. B. Stille- und Entspannungsübungen, Tanz, erlebnispädagogische Inszenierungen, liturgische Elemente, theaterpädagogische Übungen, kreative bibeldidaktische Umsetzungen. 25 Vgl. Naurath, Elisabeth, Körper und Bewegung, 413. 26 Vgl. z. B. Leonhard, Silke, Leiblich lehren und lernen; Fricke, Michael/Riegel, Ulrich, Als wir barfuß über den Boden Gottes laufen konnten.

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auf der Basis von Körperwahrnehmungen im Sinne einer körpersensiblen Bildung geschieht.27 Religion wird am und mit dem Körper wahrgenommen und erlebt. Denn Religion zu praktizieren heißt auch, körperlich zu agieren (z. B. performative Bewegungen wie Askese, Gebetshaltungen, Tanz, Meditation). Übungen der Körperhaltung, Körperwahrnehmung und die Begegnung mit liturgischen Elementen und biblischen Texten tragen damit theologische und anthropologische Bedeutung in sich und können für den Religionsunterricht zugänglich gemacht werden. Es kann also konstatiert werden, dass das Thema »Körperlichkeit« explizit sowie implizit einen Gegenstand des Religionsunterrichts bezeichnet und ein hohes Potenzial der Bearbeitung in sich birgt, weil Bildung kein Abstraktum darstellt, sondern am Subjekt orientiert ist. Ein Subjekt existiert aber nur in und als Leib und Körper. Daher ist Bildung per se kein rein intellektuelles, sondern stets auch ein körperliches Geschehen. Eine solche am Subjekt als leiblich-körperliches Wesen ausgerichtete Bildung trägt zur Selbst-Bildung als Prozess des Gestaltens und Wachsens bei, indem vor allem religiöse Bildungswege ethische und ästhetische Signaturen aufweisen. In Kontakt mit der Welt und in Auseinandersetzung mit anderen wird das Subjekt geformt und formt sich selbst. Ein körperorientiertes Bildungsverständnis erfordert einen bewussten Umgang mit dem Körper in ständiger Reflexion und Modifikation, so dass die Balance zwischen Leib-Sein und Körper-Haben gegeben ist. Denn infolge der Fokussierung auf die leibgebundenen Vollzüge des Menschen kann ein neues Bewusstsein für die Körperlichkeit entstehen.28 In der Zusage von Körper-Haben und Leib-Sein kann eine ansprechende Ebene der Bearbeitung gefunden werden. Hinzukommend kann der Religionsunterricht dazu beitragen, Körper in ihrer Vielfalt wahrzunehmen und Optionen von körperlicher Vielfalt durchzuspielen, so dass ein verantworteter und reflektierter Umgang mit dem Körper erfolgt. Ansätze zur Gestaltung einer körperorientierten Religionspädagogik sind in einer Bandbreite vorhanden.

27 Vgl. ausführlich Teschmer, Caroline, Perspektiven einer körpersensiblen Religionspädagogik des Jugendalters. 28 Vgl. Hilpert, Anne, Tanz im Dazwischen,120.

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2.1 Körper-Sein und Leib-Haben In theologischer Hinsicht wird weniger vom Körper als vielmehr vom Leib gesprochen, wobei der Leib als »beseelter Körper«29 gesehen wird. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird der Mensch »als ein unteilbares psychosomatisches Ganzes betrachtet«30. Es existiert zu keinem Zeitpunkt eine Vorstellung einer vom Leib getrennten Seele, so dass diese konstante Verknüpfung mit dem Leib auch im Tod nicht als ein Abstraktum einer unsterblichen Seele von der Person getrennt wird.31 Theologisch wird weniger von Körperlichkeit als vielmehr von Leiblichkeit gesprochen, da von einer leibseelischen Einheit im Sinne einer unauflösbaren Spannung von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit ausgegangen wird. Konkret kann dieser Zusammenhang wie folgt beschrieben werden: Der Körper kann geformt, gepflegt und gestaltet werden und ist zugleich in unverfügbare körperliche Prozesse eingebunden wie geboren werden, leben, erkranken und sterben. Es zeigt sich also eine Differenzierung zwischen Leib und Körper: die Möglichkeit der Objektivierung und Instrumentalisierung des Körpers auf der einen Seite sowie die Grenze der Unverfügbarkeit des Leibes auf der anderen Seite. Der Körper (außen) bezeichnet folglich den materiellen Gegenstand und demgegenüber der Leib (innen) das Gelebte und Gespürte32. Jugendliche sprechen häufig über ihren Körper als ein vom eigenen Ich zu trennendes Objekt und scheinen dabei die Subjekthaftigkeit des eigenen Leib-Seins zu vergessen. Dies zeigt sich deutlich, wenn »… sich der Körper in Unbehagen bzw. Schmerzen zum Ausdruck bringt, um das wahrnehmende, fühlende und reflektierende Ich zum Körper-Selbst in gewisser Weise in Beziehung zu setzen – und sei es auch in negierender, ignorierender oder marginaler Hinsicht«33. Die Verbalisierung von Schmerzen oder Unbehagen erfolgt in einer Fremdheit zum fühlenden Ich. In der Formulierung »es schmerzt« zeigt sich die Distanzierung zum Körper-Selbst. Der schmerzende Körper wird zum aktiven Subjekt, bringt den leidenden Menschen in eine passive Rolle und verobjektiviert ihn. Das heißt, dass sich die Verhältnisbestimmung des fühlenden Ich zum gefühlten Ich in einem fortwährenden Wechsel von Subjekt und Objekt vollzieht, wobei der Körper den Menschen dazu anstiftet, mit ihm zu arbeiten – insbesondere bei unangenehmen Empfindungen. Anders sieht es bei 29 30 31 32

Vgl. Borsche, Thomas, Leib, Körper, 173 f. Naurath, Elisabeth, Seelsorge als Leibsorge, 20. Vgl. Flüglister, Notker, Seele, 498 ff. Erlebbar und spürbar wird der Leib als Ort des allgemeinen Behagens (z. B. Vitalität) und Unbehagens (z. B. Müdigkeit). 33 Lewandowski, Sven, Sexualität in Zeiten der funktionalen Differenzierung, 119.

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angenehmen Körpergefühlen (wie bspw. beim Sport oder der sexuellen Lust) aus. Diese werden stärker identifikatorisch artikuliert und nicht bezweifelt.34 Mit diesen Ausführungen ist festzustellen, dass das Körper-Haben niemals vom Leib-Sein zu trennen ist und doch gerade im Jugendalter eine Tendenz zur einseitigen Verkörperung des Subjekts vorliegt. Körperliche Funktionen sind von leiblichen Erfahrungen zwar unterscheidbar, jedoch nie zu trennen. Der Leib als Wahrnehmender kann von außen nie vom Körper unterschieden werden. Eine andere Person kann meine Leiblichkeit nie ganz erfassen – meinen Körper schon. Leib und Körper gehören deshalb zur menschlichen Subjektivität. Das Innere lässt sich verobjektivieren und wird am Körper sichtbar. Der gelebte Leib wird so zum gegenständlichen Körper, der sich unter dem Blick der anderen behaupten muss. Denn erst unter dem Erblicktwerden wandelt er sich zum Körper für andere. Dabei zerfällt der Körper gleichsam in viele plurale Körperdimensionen, die unterschiedlichen Kommunikations- und Funktionsbereichen zu genügen haben (z. B. der arbeitende Körper, der kranke Körper, der sexuelle Körper, der trainierte Körper, der beeinträchtigte Körper). Der Leib ist im Gegensatz zum Körper das stillschweigende Medium der menschlichen Beziehung zur Welt. Hingegen tritt der Körper als dingliches Objekt in den Vordergrund. Der Mensch handhabt die Spannung zwischen Körper-Haben und Leib-Sein und lebt als Körper in und mit seiner Leiblichkeit.35 2.2 Körper-Bildung im Religionsunterricht Dem Körper wird ein Projektcharakter übertragen, der auf ein Körperdesign zielt und sich zwischen Körper-Sein und Körper-Haben bewegt. Zu einer Körper-Bildung kommt es erst, wenn im Religionsunterricht die Körperlichkeit der Schüler:innen anerkannt wird. Der Körper muss also ins Bewusstsein des Religionsunterrichts eindringen. Dies kann nicht versteckt hinter fachdidaktischen Ansätzen oder Methoden, nicht als Element theoretischer Reflexion, sondern allein als praktisches Element des religionspädagogischen Handelns erfolgen.36 Der Körper wird selbst zum eigentlichen Inhalt, zum Unterrichtsgegenstand und fungiert nicht lediglich als Projektionsfläche, als methodischer Zugang oder als Wahrnehmungsorgan. Eine gegenwärtig an Subjekten orientierte Religionspädagogik kommt nicht daran vorbei, Körperlichkeit zu thematisieren. Gerade Schüler:innen in der Adoleszenz leben von der Prä34 Vgl. ebd., 120; Karle, Isolde, Tiefe Adressierung, 182. 35 Vgl. Teschmer, Caroline, Körperlichkeit als Herausforderung für eine zeitgemäße Religionspädagogik, 39. 36 Vgl. Herzog, Walter, Der Körper als Thema der Pädagogik, 295 ff.

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sentation und Repräsentation von Körperlichkeit. Zur körpersensiblen Bildung gehört auch der Einbezug soziokultureller Einflüsse. Dabei geht es nicht nur um Schönheitsideale, Fashion, Lifestyle oder Social Media, sondern darüber hinaus um eine Vielfalt, wie Körper wahrgenommen und bewertet werden oder wie über Körper gesprochen wird. Körperbildungsprozesse fungieren als Teil der Individuation zwischen individueller Entwicklung und einem am Ideal ausgerichteten Wunschbild. Die Körperlichkeit des Menschen bildet einen dynamischen, prozesshaften subjektiven Charakter und wird von seiner Plastizität und Unvollkommenheit her verstanden.37 In diesem Zusammenhang wird der Rechtfertigungstopos sichtbar, der den Menschen in seiner Fehlbarkeit und Fragilität betrachtet. Die Vollendung erfolgt allein durch Gott und nicht durch den menschlichen Perfektionismus. Was sich zeigt, ist das Streben nach Anerkennung und somit ein anthropologisch-existenzielles Grundthema der Rechtfertigungslehre. In Anlehnung an die Überlegungen von Manfred L. Pirner38 lässt sich der Rechtfertigungstopos als eine Form der Theologie der Anerkennung anhand von drei Dimensionen skizzieren: 1. Anerkennung als Beachtung: Im Vordergrund steht das Wahrgenommen- und Beachtet-Werden des Menschen in seiner Fragmentarität. 2. Anerkennung als Achtung: Von Gott wird jeder Mensch in seiner Einmaligkeit angenommen, so dass er eine vorbehaltlose Achtung und Anerkennung erfährt. 3. Erkennende Anerkennung: Gott erkennt jeden Menschen mit seinen Stärken und Schwächen an. Im Fokus steht folglich der fragmentarische Mensch. Schüler:innen können durch die gezielte Thematisierung dazu sensibilisiert werden, nicht unrealistischen Idealen nachzueifern, sondern Mut zur Abweichung und Individualität zu entwickeln, sich in ihrer äußerlichen Geschöpflichkeit anzunehmen und sich vom stetigen Optimierungsstreben freizusprechen.39 Körper-Bildung braucht also Raum: Erst dann kommt das zum Ausdruck, was sonst nicht sichtbar oder spürbar ist. Jede Bildung ist an Situationen gebunden und findet in leib-körperlicher Situierung statt, welche zur Selbst-Bildung und Selbst-Gestaltung führt. Körper-Bildung bezeichnet folglich stringent einen stetigen Veränderungsvorgang. Denn Bildung vollzieht sich prozesshaft als Gestaltwerdung.40 Körper-Bildung entsteht in Spiegel- und Resonanzräumen und ist auf eine Reflexion angewiesen. Bei einer Körper-Bildung im Religions37 38 39 40

Vgl. Leonhard, Silke, Leiblich lernen und lehren, 121–124. Vgl. Pirner, Manfred L., Rechtfertigung/Gnade, 337 Vgl. Teschmer, Caroline, Unters Messer für die Schönheit?, 42 f. Joachim Kunstmann erhebt Bildung zum »Sinn, als waches Aufgeschlossensein, als Staunenkönnen, als Sehenkönnen mit den Augen des anderen, als ein Selbst stärkendes und entfaltendes Bewusstseinsmoment.« Kunstmann, Joachim, Religion und Bildung, 289.

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unterricht geht es anders als im privaten Kontext der Schüler:innen um eine leib-körperliche Spiegelung im Angesicht eines realen Gegenübers. Im Gegensatz dazu symbolisieren gepostete Selfies durch die Rückmeldung in Form von Likes oder Kommentaren die Spiegelung eines fiktiven Gegenübers.41 Anders als bei einem realen Gegenüber findet die digitale Spiegelung nicht leib-körperlich und zudem zeitverzögert statt. Körperliche Reaktionen und der Blick des Gegenübers fehlen vollständig und werden im digitalen Raum durch Emojis ersetzt. Infolge einer gezielten Erarbeitung im Religionsunterricht können Schüler:innen darin gestärkt werden, mit ihrer individuellen Körperlichkeit auch abseits der vermeintlichen Norm offen und selbstbewusst umzugehen und sich so in ihrer Geschöpflichkeit anzunehmen, so dass eine theologische Anthropologie der Anerkennung sichtbar wird. Vernetzte Körper in digitalen Welten

Die Verbindung zur Welt wird zunächst körperlich vollzogen.42 Die Welt lässt sich folglich nicht ohne den Körper erfahren. André Jansson spricht im Zusammenhang eines Sehens und Gesehen-Werdens von dem Prinzip der »interveillance«. Dabei handelt es sich um die kulturelle Transformation von Medien als Kennzeichen individualisierter Gesellschaften.43 Damit beschreibt Jansson den Zusammenhang einer permanenten gegenseitigen Beobachtung durch das Teilen des Alltäglichen und die Forcierung sozialer Medien, so dass es durch die soziale Präsenz zu einer Generierung und expressiven Konstruktion der Identität kommt. Ausschlaggebend ist das Bedürfnis nach Mitteilung bei gleichzeitiger Anerkennung, so dass eine Praxis der Rezeption und Teilhabe intimisierter öffentlicher Informationen deutlich wird. Exemplarisch kann das Medium Instagram herangezogen werden, das durch eine enge Bildästhetik und Körperpräsentation die Wahrnehmung nahezu ausschließlich auf ein positives Lebensgefühl lenkt.44 Dafür gibt das Medium eine Normierung des Contents vor, »indem beispielsweise bunte Farben, Glitzeranimationen, lustige Emoticons und komisch-verzerrte Gesichtsdarstellungen als Gestaltungsmöglichkeiten angeboten und intensiv genutzt werden. Obwohl also das Medium prinzipiell für alle möglichen Nutzungsformen offen wäre, ist die gängige Nutzungspraxis der Rahmenbedingungen zur ›Selbstdarstellung‹, die das Medium selbst schafft, bereits in einen engen Korridor gefasst. Influencer:innen im Beauty-, Gesund41 42 43 44

Vgl. Kürzinger, Kathrin S., »So bin ich – bin ich so?«, 127 f. Vgl. Kast, Verena, Trotz allem ICH, 25. Vgl. Jansson, André, Interveillance, 81–90. Vgl. Haußmann, Annette/Teschmer, Caroline/Wiesinger, Christoph u. a., Seelsorge und digitale Kommunikation, 8.

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heits- und Lifestyle-Bereich tun ihr Übriges, diese Norm zu festigen.«45 Folglich werden die Inhalte auch durch die technischen Möglichkeiten des Mediums geprägt. Diese Entwicklung stellt somit auch die Religionspädagogik und insbesondere den Religionsunterricht vor neue Herausforderungen – etwa durch die Möglichkeit der kreativen und jederzeit veränderbaren Selbstkonstruktion. Dabei kommt es zu Rekonstruktionen und Konstruktionen von Lebens- und Körpergeschichten. Viera Pirker hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass innerhalb digitaler Settings eine Erweiterung der Konstruktionen durch eine bildliche und emotionale Selbstdarstellung erfolgt. Neben der individuellen Identität sind ebenso Formen pluraler Identitäten zu finden. Soziale Rezeptionsprozesse werden in diesem Zusammenhang durch Likes und Kommentare ermöglicht.46 Dabei haben Likes und Kommentare nicht nur eine anerkennende Dynamik, sondern können auch belastend und zerstörend47 sein. Eine Selbstund Fremdbeobachtung ist somit als explorative Selbstexpression flexibel möglich.48 Bei psychisch gesunden Nutzer:innen kann die aktive Social-Media-Nutzung zum Wohlbefinden beitragen, indem das soziale Kapital erhöht wird und es zu einem Gefühl der Einbindung kommt. Demgegenüber ruft eine passive Nutzung Neid oder soziale Vergleiche hervor und zieht somit eher negative Effekte nach sich. So lassen sich besonders Mädchen durch idealisierte Körperbilder zu einer stereotypen Selbstinszenierung anregen.49 Die Interaktion und Identifikation mit unerreichbaren Vorbildern kann somit das psychische Wohlbefinden und Selbstwertgefühl der Heranwachsenden beeinträchtigen und psychische Dispositionen (z. B. Depressionen, Essstörungen, Angst) nicht nur induzieren, sondern auch bereits vorhandene verstärken.50 Durch die gegenseitige Beobachtung und das Vergleichen entstehen neue Normen der Selbstdarstellung, die im Blick auf die Selbstwahrnehmung belastend sein können. Die Grenze zwischen kreativen Gestaltungsmöglichkeiten und Potenzialen der Selbstzerstörung liegen scheinbar eng beieinander. Das Teilen von Fotos stellt eine Bindung an den Augenblick in der Gegenwart dar und dient der Selbstmitteilung. In diesem Zusammenhang spielen Emotionen in ihrer situativen 45 Ebd. 46 Vgl. Pirker, Viera, Fragilitätssensible Pastoralanthropologie, 43–58. 47 Durch die Anonymität kann es verstärkt zu Shitstorms, Bodyshaming oder persönlichen Angriffen kommen. Diese negativen Erfahrungen können vor allem bei Heranwachsenden zu psychischen Problemen führen. Vgl. weiterführend Marx, Konstanze, Von Schafen im Wolfspelz – Shitstorms als Symptome einer medialen Emotionskultur, 135–154. 48 Vgl. Haußmann, Annette/Teschmer, Caroline/Wiesinger, Christoph u. a., Seelsorge und digitale Kommunikation, 8. 49 Vgl. Götz, Maya, (K)eine Form des Empowerment?, 349–355. 50 Vgl. Pirker, Viera, Social Media und psychische Gesundheit, 467–480.

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Aktualität eine Rolle. Instagram basiert vor allem auf visueller Kommunikation, so dass die geschriebene Sprache beinahe in den Hintergrund tritt. Emotionen werden vor allem durch die Fotos51 und der damit verbundenen künstlich geschaffenen Bildästhetik hervorgerufen und verstärkt. Durch Emojis und Körperlichkeit werden Emotionen transportiert, so dass der Körper nicht nur als Gegenstand von Projektion fungiert, sondern zugleich zum Kommunikationsmittel, Ausdrucks- und Erkenntnismedium wird.52 Digitale Selbstinszenierung durch Selfies

Gegenwärtig sind Selfies im Trend und gehören zur Alltagskultur von Jugendlichen, bilden eine medial-mittelbare Form der Selbstbegegnung und schließen eine individuelle Identitätssicherung mit ein. Selfies bezeichnen meistens »vorteilhafte« Selbstdarstellungen, werden ritualisiert ausgeführt und sind an eine Verkörperung gebunden, wenn ein bestimmter Habitus, eine stereotype Pose, ein Happy-Life-Konzept oder ein kollektiver Lifestyle sichtbar werden. Das Smartphone fungiert als Spiegel und das Foto wird nur verbreitet, wenn sich eine temporäre Zufriedenheit einstellt. Dabei stellen Selfies idealisierte Selbstbilder dar und bieten Anlass, »darüber nachzudenken, welche Differenzen es zwischen dem eigenen Körper und dem ›Ich‹ gibt, wie man sich selbst sieht und wie andere einen sehen.«53 Die Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (VDÄPC) warnt vor dem aktuellen Trendthema »Selfie«: Heranwachsende (zwischen 18 und 25 Jahren) möchten verstärkt so aussehen wie ihr mit Software bearbeitetes Selfie54. Dabei verschieben diese bearbeiteten Bilder die Wahrnehmung des eigenen Aussehens, was zu unrealistischen Vorstellungen führt und dazu, dass die virtuelle Schönheit nicht mehr mit der (biologischen) Realität übereinstimmt. In der Folge kann von einer realen Ich-Bild-Verdrängung ausgegangen werden.55

51 Die aktuelle Entwicklung scheint vom Foto zum Video zu gehen. Bei den jüngeren Nutzer:innen ist bereits TikTok beliebter als Instagram. Instagram steuert dem Videotrend dahingehend nach, dass auch auf dieser Plattform, durch den Algorithmus gesteuert, zunehmend VideoInhalte besser platziert werden. Perspektivisch wird sich auch Instagram von einer Foto- zu einer Videoplattform entwickeln. 52 Vgl. Haußmann, Annette/Teschmer, Caroline/Wiesinger, Christoph u. a., Seelsorge und digitale Kommunikation, 11 ff. 53 Gojny, Tanja, Mir gegenüber – vor aller Augen, 29. 54 Aktuell sei bei Jugendlichen vor allem der Trend zur kleinen und somit perfekten Selfie-Nase zu beobachten. Insbesondere Mädchen äußerten den Wunsch, sich ihre Nase verkleinern zu lassen, was im Zusammenhang der typischen Selfie-Perspektive steht. 55 Vgl. DGÄPC-Statistik 2018–2019, 14.

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Selfies als Ritual dienen zur Stabilisierung sozialer Vernetzung einer gemeinsamen Lebenswelt, wahrgenommener Ereignisse und inkorporierter Handlungsmuster. Die kollektiven Gesten und Mimiken schaffen ein Gemeinschaftsgefühl. Selfies bezeichnen folglich performative Praktiken, die ein WirErlebnis erzeugen und eine bestimmte Ästhetik verfolgen. Das Styling bleibt immer im Rahmen des Kollektivgeschmacks, die Individualität wird scheinbar unterdrückt. Auch lässt sich eine Normierung des Ausdrucks erkennen, indem sich Selfies stark an den gängigen Emojis orientieren, so dass eine funktionale Ähnlichkeit sichtbar wird und sich dementsprechend die Mimik und Körpersprache der Jugendlichen verändert. Denn je häufiger sich Jugendliche in eine Selfie-Pose begeben, desto schneller prägen sich bestimmte – unnatürlich wirkende – Gestiken und Mimiken ein.56 Alltagspraktische Mimik und Körperhaltungen werden trainiert und Formen des jugendlichen Alltagsstresses werden, vor allem unter engen Freund:innen, an minimalen mimischen Veränderungen erkannt. Klaas Huizing spricht in diesem Zusammenhang von Fragmenten einer privaten Sprache des Gesichts.57 Selfies bezeichnen »vorteilhafte« Selbstdarstellungen. Im Gegensatz dazu zeigt das Nolfie das Unvorteilhafte: dicke Körper, Alterssignaturen und dem gegenwärtigen Schönheitsideal Widersprechendes. Filter-Apps schaffen Abhilfe und befreien beispielsweise das Gesicht von Unreinheiten oder harten Konturen. Als unvorteilhaft sind auch jene Fotos anzuführen, die kein positives Bild vom Leben darstellen und etwas sozial Unerwünschtes abbilden. Es geht allein um eine idealisierte und inszenierte Präsentation.58 Jugendliche erstellen und posten Selfies in einer Vielzahl. In den Fokus rückt im Gegensatz zur Alltagswahrnehmung des ganzen Körpers der zerstückelte Körper.59 Einzelne Körperteile werden nicht selten erotisch inszeniert. Dabei changiert die Darstellung zwischen einer Fetischisierung von Körperteilen (Busen, Po, Füße oder Hände) und Nacktheit. Die Fragmente, wie Füße oder Hände, entzerren den »ganzheitlichen« Schönheitswahn. Im Mittelpunkt stehen Fragmente einer unverhüllten

56 Vgl. Konz, Britta, Selfies als Ausgangspunkt des Theologisierens mit Kunst, 158 f.; Huizing, Klaas, Scham und Ehre, 224 f. 57 Vgl. ebd., 222. 58 Vgl. Schwarz, Susanne, Selfie oder Nolfie?, 198 f. 59 Dabei gibt die Aufspaltung des Körpers in kleine Teile Aufschluss über körperliche Prozesse und leistet einen deutlichen Erkenntnisgewinn für die anthropologische Frage, was der Mensch ist. Mit dem Topos der Zerstückelung korrespondiert der ganze Körper. Demzufolge ist die ursprüngliche Körpererfahrung die eines zerstückelten Körpers, der nur durch Erfahrung der Bildhaftigkeit (Spiegelbild) zu einem ganzen Körper wird. Vgl. Wenner, Stefanie, Ganzer oder zerstückelter Körper, 361–364.

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Nacktheit. Das exzessive Posen zeigt dabei einen Mentalitätswandel jenseits der alten erotischen Dialektik von Entbergen und Verbergen auf.60 Am Phänomen der Selfies werden die adoleszente Identitätsentwicklung und die Selbstinszenierung aufgrund der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper deutlich. Dabei findet die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und den Bildern des eigenen Körpers nicht losgelöst von einer sozialen Interaktion statt. Das Feedback durch »Likes« und die Bestätigung des Schönen und des Attraktiven ist für Jugendliche bedeutsam. Die Selbstdarstellung zeigt sich im Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis, sich zum einen möglichst authentisch im Sinne von »So bin ich« und zum anderen möglichst idealisiert im Sinne von »So sehe ich gut aus« darzustellen.61 Mittels des Selfies erfolgt eine »Spiegelung des Selbst«, indem das Smartphone als Spiegel fungiert. Diese Spiegelung zeigt sich nicht nur auf dem Bildschirm, sondern gleichsam in den Reaktionen, die durch die sozialen Medien sichtbar werden. Selfies sind die Abbildung gängiger Selbstbilder. Als solche bleibt die Spiegelung immanent und verweist auf die selbstreflektierte Dimension des »Ich bin mir ebenbildlich«, womit eine körperorientierte Fokussierung einhergeht.62 Es ist die Lust am Spiel, wenn sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem eigenen Selbst angenähert wird. Das Spiel zeichnet sich neben der Zweckfreiheit durch den Charakter der beständigen Wiederholbarkeit aus und ist zugleich Darstellung und Wettkampf, weil es bindet und löst. Diese Grundelemente des Spiels sind auf die Selfie-Kultur übertragbar. In den Mittelpunkt rückt das Kleinritual der Selbst- und Gemeinschaftsdarstellung, dass auch den Wettkampf um die Anzahl der produzierten Selfies und deren Likes beinhaltet. Eine vollständige Zweckfreiheit muss zwar infrage gestellt werden, doch die Selfie-Performance birgt in ihrer Künstlichkeit auch eine bewusste Inszenierung eines vom verzweckten Alltag abgetrennten Gegenbilds. Online haben Jugendliche verstärkter die Möglichkeit, mit ihrem Selbst zu experimentieren, da sie anonym bleiben und ihre Identität offener und facettenreicher gestalten können. Identitätsfacetten und digitale Welten

Identitätsprozesse werden immer in Bezug auf ein Gegenüber entworfen und im Kontext eines interaktionalen Moments. Instagram fördert die Konstruktion von Identität(en). Obwohl alle wissen, dass die Fotos mit Filtern bearbeitet 60 Vgl. Huizing, Klaas, Scham und Ehre, 227. 61 Vgl. Autenrieth, Ulla P., MySelf, 138. 62 Vgl. Fuchs, Monika, Sehen und gesehen werden, 142.

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sind und Nähe nur imaginiert wird, wird den Influencer:innen durchaus ein hoher Glaubwürdigkeits- und Wahrheitsfaktor zugestanden.63 Es ist eine scheinbar »›hautnahe‹ Begegnung und Interaktion mit unerreichbaren Vorbildern, die im intimen Raum des eigenen Smartphones ein oberflächlich schönes, erfolgreiches und strahlendes Leben in einem perfekten Körper präsentieren.«64 Heranwachsende gestalten ihre Identität, indem sie sich immer wieder neu inszenieren und verschiedene Formen von Subjektivität in Interaktion mit anderen zeigen. Im Zuge des Komplexitätszuwachses stellt Identität nicht mehr ausschließlich die Herausbildung des inneren Kerns dar, sie bezeichnet vielmehr einen prozessualen »Projektentwurf des Lebens«.65 Die Suche nach Identität bzw. die Erarbeitung von Identitätskonstruktionen ist nicht als das statische Eine zu denken, sondern vielmehr als dynamisch-dialogische ­Instanz, die einerseits von Ambivalenz und Negation, andererseits von Dialogizität und Alterität, aber auch von Reflexivität und Narrativität lebt.66 Identitätskonstruktionen gleichen einer Patchwork-Identität, die chancenreiche sowie herausfordernde Konstruktionsleistungen des Subjekts vereint. Im Rahmen der alltäglichen Identitätsarbeit erleben Heranwachsende Momente der Kohärenz, Handlungsfähigkeit, Anerkennung und Authentizität. Dabei orientiert sich das Identitätskonzept allerdings eher an den fluiden Momenten der zustande kommenden Kohärenz mit dem Ziel einer aktiven Passungsleistung. Das Subjekt ist herausgefordert, je nach Situation stimmige Passungen zwischen inneren sowie äußeren Wahrnehmungen und Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten miteinander zu verknüpfen. Dabei bedienen sich Jugendliche eines Inventars kopierbarer Identitätsmuster via Instagram, wobei sie sich stetig um eine Identitätsbalance beim Umgang mit Vielfalt und Individualität bemühen. Identitätsprozesse sind sowohl mit sinnleitenden und handlungsorientierten Selbstbestimmungen sowie Selbstdeutungen als auch mit einer Intersubjektivität verwoben. Identität steht deshalb immer in einem Verhältnis der Anerkennung von außen.67 Identitätsbildung bleibt in seiner Komplexität ein lebenslanger, unabschließbarer und immer bruchstückhafter Prozess. Entgegen eines auf Vollständigkeit und ungebrochene Reflexivität abhebenden Ansatzes subjektiver Identität zielt eine körperorientierte Suche nach Identität auf eine »fragmentarische Ich-Identität«68. Diese grundlegende Gebrochenheit 63 64 65 66 67 68

Vgl. Pirker, Viera, Zur Macht der Bilder, 165. Ebd., 162. Vgl. Leonhard, Silke, Religionspädagogische Professionalität, 378. Vgl. Laubach, Thomas, Subjekt und Ethik, 96. Vgl. Grümme, Bernhard, Menschen bilden?, 238–245. Luther, Hennig, Religion und Alltag, 170.

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des Menschen zeigt eine Aporie, die der Mensch nicht überwinden kann.69 In medial gespielten Interaktionen wird dies sogar noch verschärft. Notwendig sind eine Begleitung und Reflexion des eigenen Handelns. (Digitale) Körper-Welten im Religionsunterricht

Der Körper ist in seiner Ästhetisierung und seiner scheinbaren Oberflächlichkeit zum zentralen Austragungsort von Individualität auf Social Media geworden. Instagram fungiert als Plattform für Körper-Transformationen aller Art. Dabei handelt es sich um einen Trend, der gepflegt wird und mit dem Versprechen von Anerkennung, Aufmerksamkeit und Unterstützung einhergeht. Denn nicht zuletzt ist die starke Rückbesinnung auf den Körper mit dem Phänomen verbunden, dass Menschen sich gerade in Zeiten großer Unsicherheit auf den eigenen Körper besinnen. Wenn keine Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden sind, mögliche Zukunftsoptionen nur schwer zu greifen sind, die Gesellschaft bedingungslose Teilhabe erschwert, dann wird das gestaltet, was man hat: Der Körper wird zur Darstellungs- und Projektionsfläche. Das Innere wird somit nach außen getragen und der Körper zu einem verkörperten Identitätsziel. Folglich kommt es zu einer Körpertransformierung, die nur real und nicht digital vollzogen werden kann.70 Heranwachsende setzen ihren Körper bewusst als Instrument der Inszenierung im digitalen Raum ein. Dabei fungieren die Fotos, die nach außen gespiegelt werden, als eine Art visuelle Erinnerung an einen individuell bedeutsamen Moment im kommunikativen Raum. Kaleidoskopartig werden Bilder inszeniert, in denen sich die Jugendlichen selbst und somit ihren Körper thematisieren. Dies geschieht immer vor dem Hintergrund plattformspezifischer Regeln und Ästhetiken.71 Die virtuelle Welt verschränkt sich mit der Realität, so dass eine scharfe Trennung von »real« und »virtuell« nicht mehr postuliert werden kann. Denn alles, was emotional tangierend in digitalen Welten geschieht, ist immer gebunden an reale Implikationen. Die nahezu genormte Ästhetik des »Instagram-Looks« präsentiert sich ikonisch und oberflächlich.72 Mit der grundlegenden Orientierung an der Lebenswelt junger Menschen ist der Religionsunterricht dazu aufgefordert, sich den Entwicklungen des digitalen Zeitalters nicht zu verschließen, sondern die damit einhergehende Kultur der Selfies, der Selbstmitteilung und der digital inszenierten Körperlichkeit konstruktiv aufzunehmen, in einen realen Kontext zu betten und theologisch 69 In seinem Konzept der Selbstwahl hat Kierkegaard dies eindringlich analysiert. Vgl. ausführlich Kierkegaard, Søren, Die Krankheit zum Tode, 131–177. 70 Vgl. Pirker, Viera, Fragilitätssensible Pastoralanthropologie, 52. 71 Vgl. Pirker, Viera, Zur Macht der Bilder, 178 f. 72 Vgl. Gunkel, Katja, Der Instagram-Effekt, 308.

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begründete Anfragen bereitzuhalten. Der Religionsunterricht kann dazu beitragen, dass Heranwachsenden die Vielfalt von Körpern aufgezeigt wird, es zu einer Sensibilisierung der eigenen Körperlichkeit und Leiblichkeit kommt und der stetige Perfektionsdruck verringert wird. Die Ausgangsfrage ist daher mit einem eindeutigen »Nein« zu beantworten. Dem Religionsunterricht geht die Körperlichkeit nicht verloren. Vielmehr kann der Religionsunterricht Körperlichkeit ausweiten und so die Lebenswelt der Schüler:innen fokussieren. Der Religionsunterricht schafft, wie sich gezeigt hat, auf unterschiedlichen Ebenen Erfahrungsräume, ermöglicht neue Perspektiven und befähigt zur Selbstannahme, nicht zuletzt durch die Bezogenheit auf Gott. Die Bezogenheit des Menschen auf Gott konkretisiert sich in der Beschreibung des Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen sowie die Rechtfertigungslehre sichern dem Menschen ein autonomes Handeln und somit eine Gestaltungsfreiheit im analogen wie im digitalen Raum zu. Literatur Altmeyer, Stefan, Von der Wahrnehmung zum Ausdruck. Zur ästhetischen Dimension von Glauben und Lernen, Stuttgart 2006. Autenrieth, Ulla P., MySelf. MyFriends. MyLife. MyWorld. Fotoalben auf Social Network Sites und ihre kommunikativen Funktionen für Jugendliche und junge Erwachsene, in: Neumann, Klaus/Autenrieth, Ulla P. (Hg.), Freundschaft und Gemeinschaft im Social Web. Bildbezogenes Handeln und Peergroup-Kommunikation auf Facebook und Co, Baden-Baden 2011, 123–162. Becker, Sybille, Leib – Bildung – Geschlecht. Perspektiven für die Religionspädagogik, Münster 2005. Biehl, Peter, Symbole geben zu lernen, Neukirchen-Vluyn 1989. Borsche, Thomas, Leib, Körper, in: HWP 5 (1980) 173–178. Buck, Elisabeth, Bewegter Religionsunterricht, Göttingen 52010. Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie, DGÄPC-Statistik 2018–2019, in: https:// www.dgaepc.de/wp-content/uploads/2019/11/dgaepc_statistik-2019.pdf. Englert, Rudolf, Performativer Religionsunterricht – eine Zwischenbilanz, ZPT 60 (2008) 3–16. Fend, Helmut, Entwicklungspsychologie des Jugendalters, Wiesbaden ³2003. Flüglister, Notker, Seele, in: Bauer, Johannes B. (Hg.), Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz/Wien/ Köln 1994, 498–500. Fricke, Michael/Riegel, Ulrich, Als wir barfuß über den Boden Gottes laufen konnten. Eine empirische Pilotstudie, Göttingen 2011. Fuchs, Monika, Sehen und gesehen werden – religionspädagogische Impulse zum Spannungsfeld von Selbstbild, Abbild und Ebenbild, in: Tanja Gojny/Kathrin S. Kürzinger/Susanne Schwarz, Selfie – I like it. Anthropologische und ethische Implikationen digitaler Selbstinszenierung, Stuttgart 2016, 37–150. Gärtner, Claudia, Ästhetisches Lernen. Eine Religionsdidaktik zur Christologie in der gymnasialen Oberstufe, Freiburg i. Br. 2011. Gojny, Tanja, Mir gegenüber – vor aller Augen. Selfies als Zugang zu anthropologischen und ethischen Fragestellungen, in: Gojny, Tanja/Kürzinger, Kathrin S./Schwarz, Susanne (Hg.),

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Rituale als Hilfe in Krisenzeiten? Herausforderungen und Möglichkeiten christlicher Liturgie Benedikt Kranemann

Christliche Gottesdienste, verstanden als religiöse Rituale, sind durchaus Lebensmittel in Krisenzeiten. Dafür lassen sich sowohl historisch wie gegenwartsbezogen zahllose Beispiele nennen. Gerade unter der Corona-Pandemie ist wieder daran erinnert worden, dass in Zeiten mittelalterlicher Pestkatastrophen die Kirche mit ihren Liturgiefeiern Menschen Trost spendete, Gott und die Heiligen um Beistand und Hilfe bat und bei den notwendigen Verrichtungen im Umgang mit Sterben und Tod half: Kranke aufsuchte, Sterbende begleitete, vor allem die Toten beerdigte. Diese Liturgiefeiern sind als historische Zeugnisse mehrfach hilfreich: Sie sprechen vom Gott, den die Kirche zu glauben verpflichtete; sie lassen erkennen, was die Menschen wirklich glaubten; sie zeigen vor allem eine Kirche, die im Alltag von Menschen engagiert und ritendiakonisch tätig war. Die historischen Implikationen und ihre Details können hier nicht ausgebreitet werden. Aber eine sehr vielfältige Geschichte liturgisch-rituellen Handelns in Krisenzeiten muss für Kirche und Kirchen heute als Impuls wahrgenommen werden, sich in vergleichbarer Weise zu engagieren. Unentbehrlich sind eine Kirche und eine Glaubenspraxis, die mitten im Leben für Menschen vor Gott selbstlos engagiert sind. Rituale als Hilfe in Krisenzeiten sind notwendig und gefragt, gerade Rituale aus den Kirchen.1

1 Die folgenden Überlegungen kommen aus liturgiewissenschaftlicher, nicht aus religionspädagogischer Perspektive. Viele der erwähnten Trauergottesdienste, die für diese und vergleichbare Publikationen ausgewertet worden sind, wurden aber mit Schüler:innen begangen.

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1 Vielfalt der Situationen, Vielfalt der Rituale – Liturgie in Krisenzeiten Schaut man auf die gegenwärtige Praxis, lassen sich verschiedene Felder unterscheiden: die kirchenamtlich geregelte Liturgie nach den liturgischen Büchern einerseits und das situative liturgische Handeln Engagierter andererseits. Beides hat seinen Ort, ist nicht gegeneinander auszuspielen und muss sich in einer gesellschaftlichen Situation bewähren, die durch eine starke Pluralität der Bekenntnisse und Weltanschauungen geprägt ist. Mit Krankensalbung und Begräbnisliturgie sind zwei Liturgiefeiern genannt, die als rituelle Interventionen in menschlichen Krisen etabliert sind. Mit Blick auf Rituale in Krisenzeiten sind folgende Details hervorzuheben: Es geht nicht nur um ein Sprachhandeln, sondern maßgeblich um nonverbales Handeln. Bei einer Krankensalbung sind die Handauflegung in der Stille und die Salbung entscheidend,2 beim Begräbnis zum Beispiel das Absenken des Sarges und der Erdwurf. Zudem sind beide Gottesdienste der jeweiligen Situation angepasst. Es ist eben nicht einfach ein Ritus, der vollzogen wird, sondern der für die und mit den betreffenden Personen begangen wird. Es sind gemeinschaftliche Rituale mit einer deutlich personalen Dimension, in denen das einzelne Subjekt berücksichtigt wird. Traditionselemente wie Psalmen, damit seit langem auf Grund ihrer Lebensnähe geschätzte Texte, werden verwendet. Vielfältige Deutungen, die in die Gesamtbedeutung der Feier einfließen, sind auszumachen. Insgesamt handelt es sich um hinsichtlich der Feiergestalt kirchenamtlich normierte Liturgien, was Abläufe und insbesondere die Leitungsvollmacht betrifft.3 Generell lässt sich für Krankensalbung und Bestattung allerdings eine deutlich sinkende Teilnahme oder Nachfrage feststellen. Wenn man liturgisches Handeln in den Blick nimmt, könnte man fragen, ob es dabei nicht häufiger um ein Handeln in Umbruchs- und damit Krisensituationen geht. In dieser Sicht könnte man die Taufe beispielsweise als eine Liturgie begreifen, die hilft, die Berufung des Menschen durch Gott, die Gefährdung menschlichen Lebens durch das Böse in seinen vielfältigen Gestalten, den immer drohenden Tod – alles Krisenphänomene –, im Fall der Säuglingstaufe auch beginnendes Leben rituell zu thematisieren und bei der Bewältigung der jeweiligen Situation zu helfen und Perspektiven auf Leben zu eröffnen. 2 Vgl. zur Körperlichkeit der Liturgie Kranemann, Benedikt, Liturgie; Jeggle-Merz, Birgit, Liturgie. 3 Das konfliktive Moment dieser Rollenzuweisung kann (!) sich gerade in den Gottesdiensten, um die es hier geht, als Problem erweisen; vgl. zur Problemlage Hahn, Judith, Ordnung.

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Neben dem, was die liturgischen Bücher regeln und vorgeben, gibt es gerade in Krisensituationen weitere örtlich und situativ4 gefeierte Gottesdienste.5 Sie besitzen besonderes Gewicht. Das gilt etwa für religiöse Rituale nach großen Katastrophen. In solchen Fällen geht es nicht um die Eucharistiefeier, denn gerade angesichts einer sehr heterogenen Gruppe von Teilnehmer:innen liefe diese Liturgiefeier an den Möglichkeiten und Erwartungen von Menschen vorbei. Es wird aber erwartet, dass an kirchlich verantworteten Feiern in einer solchen Situation eine breite Öffentlichkeit teilnehmen kann.6 Diese Erwartung besteht übrigens ebenso bei staatlichen Stellen, die die Großkirchen um die Vorbereitung entsprechender Feiern bitten.7 Solche Krisenrituale, zumeist in Gestalt eines ökumenischen Wortgottesdienstes und in den letzten Jahren sukzessive um Gebetselemente anderer monotheistischer Religionen ergänzt, sind situativ gestaltet und nicht einer engen liturgierechtlichen Normierung unterworfen wie beispielsweise die eben genannte Eucharistiefeier. Ablauf und Gestaltung im Detail werden durch die Situation, den Kontext und die Teilnehmenden bestimmt.8 Dann wird nach dem Amoklauf in einer Schule ebenso getrauert wie nach dem Absturz eines Flugzeugs oder nach einer Naturkatastrophe oder im Falle eines Krieges, aber Ausdrucksformen, Riten, Beteiligung der Trauernden etc. variieren deutlich.9 Diese offeneren Formate können sich frei traditioneller wie neuer Elemente bedienen und sprechen dadurch deutlich in der jeweiligen Situation. Ähnliches lässt sich bei religiösen Ritualen im Krankenhaus beobachten, das ja – beispielsweise neben der Schule – wie ein gesellschaftliches Laboratorium für religiöse Praktiken wahrgenommen werden kann. Neben Christ:innen begegnet man hier Muslim:innen und Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen. Allein die Krankensalbung als Krisenritual wäre völlig unangemessen. In der Praxis der Krankenhausseelsorge begegnen deshalb sehr unterschiedliche Rituale, die von einfachen Zeichen (Spruchkarte, Kerze, Engel4 Zur Situativität solcher Feiern ist einschlägig Winter, Stephan, Oder bleibt nichts, 90–97. 5 Vgl. den Untertitel von Sander, Hans-Joachim, Gesetz: »Dem Heil dienen jenseits von Normalliturgie und Normalglaube«, der das Provokative solcher Liturgiefeiern verdeutlicht. 6 Das ist das Ziel u. a. der kirchlichen Arbeitshilfe, vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Trauerfeiern und Gottesdienste nach Katastrophen. 7 Kritische Anfragen an die durch die Religionsgemeinschaften verantworteten Trauerfeiern vgl. bei Thumfart, Alexander, Trauerfeiern. 8 Das belegt auch die Arbeitshilfe; vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Trauerfeiern und Gottesdienste nach Katastrophen. 9 Mittlerweile liegen zahlreiche wissenschaftliche Studien vor; vgl. Benz, Brigitte/Kranemann, Benedikt, Deutschland trauert (Hg.); Fechtner, Kristian/Klie, Thomas (Hg.), Riskante Liturgien; Hoondert, Martin/Post, Paul/Klomp, Mirella u. a. (Hg.), Handbook; Kranemann, Benedikt/Benz, Brigitte (Hg.), Trauerfeiern.

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figur), Gebeten und Gesprächen bis hin zu komplexeren, aber adaptierbaren Ritualen wie Sterbesegen reichen. Lisa Kühn hat diese »frei gestaltete[n] Feierformen und Rituale«10 klassifiziert. Für den Kontext der Krisen-Rituale sind hier insbesondere »Feiern und Rituale zur Gestaltung von Abschiedssituationen«11 und »›Ad-hoc-Feiern‹ in unvorhersehbaren Situationen«12 zu nennen. Für die Gestaltung solcher Rituale, die möglicherweise sogar nur einmalig gefeiert werden, nennt Kühn »die Wahrnehmung der konkreten Situation der Patienten respektive seiner Angehörigen, das Aufgreifen der religiösen Orientierung und Vorstellungen von Sinndeutungen aller Mitfeiernden und das christliche Profil der Krankenhausseelsorge.«13 Sie weist zudem auf das theologische und liturgische Grundverständnis der Leitung der Liturgie hin. Für Rituale in Krisen ist also einerseits das zu berücksichtigen, was die Menschen an Leid und an Überzeugung mitbringen, und spielt andererseits das Profil des seelsorglichen Umfeldes eine Rolle. In diesem Zueinander, das ja eigentlich für christliche Liturgie in der Gesellschaft insgesamt selbstverständlich sein sollte, entstehe dann, so Kühn, eine Feiergestalt, »die vom Seelsorger wie von den Mitfeiernden als stimmig empfunden wird.«14 Zu solchen Krisenritualen zählen Segnungen in ganz unterschiedlichen Krisenszenarien, sicherlich nicht nur in Situationen von Krankheit und Tod.15 Das kann auch die Geburt eines Kindes sein, angesichts derer »die grundsätzlichen Fragen des Lebens nach dem Woher und Wohin, nach Tod und Ewigkeit, nach Schuld und Vergebung, nach dem Guten und dem Bösen, nach Sinn und Glück«16 rituell artikuliert werden. Hier sind einige ausgewählte, theologisch wie ästhetisch wichtige Details zu nennen, die in ganz unterschiedlichen Feierkontexten eine Rolle spielen. 1. Es gibt eine Bereitschaft, Rituale in Krisensituationen möglicherweise nur einmalig, also auf einzelne Situationen und betroffene Menschen bezogen durchzuführen. Man kann zwar bei solchen Ritualen wiederkehrende Momente entdecken, also etwa die Leiblichkeit oder die Verwendung bestimmter Zeichen wie Kerzen, Blumen, Bilder etc., aber mit dem Ritual verbindet sich zumindest der Anspruch, dass es für diese Situation und diese

10 Kühn, Lisa, Liturgie, 240. 11 Ebd., 241. 12 Ebd., 242. 13 Ebd., 243. 14 Ebd. 15 Vgl. z. B. zum Sterbesegen ebd., 228–234. 16 Wahle, Stephan, Segensfeiern, 74.

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Menschen begangen wird. Tradition ist hier nicht der entscheidende Aspekt, eher die Kompetenz derer, die in dieser Situation rituell-begleitend handeln. 2. Eine freiere Form des Rituals begegnet, die zwischen Seelsorge und Betroffenen in dem Sinne »ausgehandelt« wird,17 dass auf die Bedürfnisse der Menschen von der Glaubensbotschaft her eingegangen wird. Für viele gesellschaftliche Kontexte wird das der einzig gangbare Weg sein, um Ritendiakonie zu betreiben. 3. Die Leitung der Feiern ist nicht kirchenamtlich festgelegt, wie es beispielsweise bei der Krankensalbung oder anderen Sakramenten der Fall ist. In der Situation der Krise wird der- oder diejenige damit betraut, der/die theologische Kompetenz, das ästhetische Können und das spirituelle Vermögen für die Verantwortung und Leitung der Feier besitzt. Das ermöglicht eine größere Nähe zu den Betroffenen, eine Nutzung von entsprechenden Begabungen, eine Vertrautheit mit der Situation, der Gruppe usw. Im Mittelpunkt aller Liturgie steht die Begegnung des nahen und fernen Gottes mit dem Menschen, wie sie das Alte Testament u. a. in der Erzählung vom brennenden Dornbusch überliefert und die nach christlicher Überzeugung zentral im Christusereignis zur Erfahrung kommt. Das wird als Großerzählung und Hoffnungsreservoir in diesen Feiern thematisiert und angeboten, ohne andere Großerzählungen und Hoffnungsreservoirs auszuschließen. Es soll ja um ein Gedenken gehen, das möglichst offen ist und breit Menschen beteiligt. In diesem Zusammenhang ist der – mittlerweile in der theologischen Diskussion arg verbrauchte – Begriff »Pascha-Mysterium« aussagekräftig,18 mit dem sich ein ganzes theologisches Programm und eine lebensnahe wie hoffnungsstiftende Perspektive verbinden. Er weist auf den Transitus Israels – Sklaverei in Ägypten, Rettung am Schilfmeer, lebensbedrohlicher Wüstenweg – wie den Transitus von Menschen in der Begegnung mit Jesus von Nazareth – Durchbrechung von Ausgrenzung, Heilungen, Totenerweckungen – und dessen eigenen Transitus – den Durchgang durch den Tod zum Leben – hin. All dies wird als Handeln Gottes in jeder Liturgiefeier vergegenwärtigt.19 Das ist mit Blick auf jedwede Krise ein ganz wichtiges Moment: Wer sensibel Liturgie mitfeiert, weiß um die Kontingenz und das fortwährend Krisenhafte und Gefährdete menschlicher Existenz. Ihm/ihr wird dieses in der Liturgie wie zugleich die Hoffnung auf eine Rettung aus Krisen von Gott her immer neu zu Anschauung gebracht. An dem, was hier 17 Hier entwickelt sich ein paralleles Vorgehen zur Arbeit freier Ritenanbieter; vgl. Wagner-Rau, Ulrike/Handke, Emilia, Kasualpraxis. 18 Vgl. Schrott, Simon A., Pascha-Mysterium. 19 Immer noch eindrucksvoll durch Pahl, Irmgard, Paschamysterium, belegt.

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Menschen zugesprochen wird, partizipieren sie bereits zugleich. Dieses Fundament jeder Liturgie scheint immer wieder durch, auf ihm baut jeder Gottesdienst auf. In allen Facetten wird durchgespielt, wie Leben durch Krisen gefährdet ist bis zum Tod, der Krise schlechthin, wie aber in diesen Krisen durch das Handeln Gottes Hoffnung auf Leben zugesprochen wird. Ob das in der Liturgiepraxis wirklich spürbar wird, ist eine berechtigte Frage an die Art und Weise, wie Gottesdienst heute in der katholischen Kirche gefeiert wird. Ob das Menschen ein- oder ausschließt, muss ebenfalls immer wieder neu gefragt werden.

2 Liturgie in der Krise – noch gefragt? Während der Corona-Pandemie ist im Rahmen der sog. COSMO-Umfrage nach Erwartungen von kirchlich Gebundenen wie Konfessionsfreien nach gottesdienstlicher Praxis und nach Erwartungen an die Kirchen gefragt worden. 1010 Menschen antworteten in einer Befragungswelle am 30. November/1. Dezember 2021, die Hälfte davon ohne Konfession, das Durchschnittsalter bei 45 Jahren. 190 Katholik:innen waren beteiligt.20 Das Ergebnis überrascht nicht: Legt man die Zahlen aus der repräsentativen Umfrage zugrunde, muss man auf der einen Seite davon ausgehen, dass die Teilnahme an Gottesdiensten weiter zurückgehen wird. Das niedrige Niveau vor der Pandemie wird nach dem stärkeren Einbruch, der durch die Lockdowns verursacht war, so muss man die Daten lesen, nicht wieder erreicht werden. Auf der anderen Seite äußern zwei Drittel der Befragten, dass sie insbesondere Trauerfeiern unter Beteiligung der Kirchen für hilfreich halten, wobei die Konfessionsfreien etwas zurückhaltender sind. Einerseits ist Liturgie selbst in der Krise, andererseits gibt es Erwartungen in einer Krise an die Liturgie. Das gilt selbst dann, und das belegt die genannte Umfrage ebenfalls, wenn an entsprechenden Angeboten in der Vergangenheit nur ein Bruchteil der Befragten teilgenommen hat. Sowohl den ökumenischen Gottesdienst wie die durch den Bundespräsidenten ausgerichtete Trauerfeier für die Toten der Corona-­ Pandemie im April 2021, die beide via TV übertragen wurden, verfolgten bzw. feierten ca. 4 Prozent der Befragten mit. 14 Prozent gaben an, von dieser Feier nichts gewusst zu haben. Wenn man davon überzeugt ist, dass solche rituellen Angebote für Menschen hilfreich sind, müssen sie entsprechend kommuniziert werden. Der Terminus »Angebot«, der im Zusammenhang von Gottesdiensten 20 Vgl. Kranemann, Benedikt/Lorek, Magdalena, Bestandsaufnahme, 31; dazu auch Abel, Dominik/Kranemann, Benedikt, Gipfel.

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von manchen in Frage gestellt wird, trifft hier die Sache: Die Ritendiakonie, die mit solchen Ritualen verbunden wird, kann nur ein Angebot sein, muss sich dann in der Öffentlichkeit bewähren und entsprechend publik gemacht werden. Eine weitere Beobachtung zur Liturgie in der Krise, die allerdings nicht mit empirischen Daten untersetzt werden kann: Die Feier des Bundespräsidenten war mindestens so sprechend wie der ökumenische Gottesdienst. Wie hier Schicksale von Verstorbenen und ihren Angehörigen und Freunden zur Sprache gebracht worden seien, wie gesprochen worden sei, man mit Bildern gehandelt habe, welche Musik gespielt worden sei, habe man als besonders bewegend erlebt, so viele Äußerungen, die man nach der Übertragung hören konnte. Es gibt andere Formen, um Trauer und Empathie zum Ausdruck zu bringen, die Menschen besonders ansprechen und in denen sie sich nachdrücklicher artikulieren können, als sie in der rituellen Performance christlicher Gottesdienste verschiedener Kirchen zur Verwendung kommen.21

3 Was leisten Rituale in Krisen? Was ist ein Ritual? Paul Post hat kürzlich im Handbook of Disaster Ritual folgende, wie er sagt, offene Beschreibung angeboten: »Ritual is a more or less repeatable sequence of action units which take on a symbolic dimension through formalization, stylization, and their situation in place and time. On the one hand, individuals and groups express their ideas and ideals, their mentalities and identities through these rituals: on the other hand, the ritual actions shape, foster, and transform these ideas, mentalities, and identities.«22 Das ist eine im Zusammenhang sehr hilfreiche Beschreibung. Rituale angesichts einer großen Krise umfassen sowohl das Handeln Einzelner als auch einer Gemeinschaft, können aus dem rituellen Tun Einzelner ein Ritual einer Gemeinschaft werden lassen.23 Sie bilden ein »ritual repertoire«.24 Rituale sind demnach ein soziales, aber nicht zwangsläufig ein kollektives Phänomen. Sie ermöglichen ein gemeinsames Thematisieren der Krise, gemeinschaftliches rituelles Handeln einschließlich 21 Vgl. Kranemann, Benedikt/Menzel, Kerstin, Paradigmenwechsel. 22 Post, Paul, Introduction, 3. Das Folgende zum Teil in Anlehnung an Post. 23 In ähnlicher Richtung optieren auch Stifoss-Hanssen, Hans/Danbolt, Lars Johan, Function, 46: »Participation in public ritual implies that resilience processes of each participant not just depends on the capacities of the individual, but also draws on the available opportunities of interaction.« 24 Post, Paul, Introduction, 4, der in ebd., 4 f. sehr überzeugend einzelne Funktionen solcher Rituale beschreibt.

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Beten. Deshalb muss man ihnen eine klar soziale Funktion zusprechen. In der Ritualforschung wird davon gesprochen, dass solche Rituale Werte und Überzeugungen kommunizieren. Post spricht offener von Ideen und Idealen, die in einem solchen Ritual Ausdruck gewinnen und geteilt werden, aber zugleich von Identität, die durch das Ritual erzeugt wird.25 Wenn wir an einen besonders schweren Fall von Krise denken, etwa einen Amoklauf, begegnet beides: Einzelne, die Kerzen aufstellen, eine Gemeinschaft, die einen Trauergottesdienst begeht. Ein solches Ritual ist mehr oder weniger wiederholbar. Auf bestimmte Sprachhandlungen trifft man in einem Totengedenken immer wieder, aber sie variieren, möglicherweise sogar sehr deutlich. Es hat Gottesdienste anlässlich gesellschaftlicher Krisen gegeben, die repetitive Elemente und Aktionen enthielten, aber nicht einfach eine Wiederholung dem Wortsinne nach waren. Das hängt von Menschen ab, von Situationen, Orten, Zeiten usw. Zugleich sind Rituale ein Geschehen, in dem Gefühle ausgedrückt wie kanalisiert werden können. Niemand muss seine Betroffenheit, Angst, Trauer zurückstellen, jeder und jede kann angesichts der Krise seine/ihre Ohnmacht und Demut eingestehen. Nicht nur, aber auch darin ist dieser rituelle Raum ein Andersort,26 an dem andere Gesetze gelten als im Alltag. Er unterscheidet sich vom alltäglichen Leben, ohne gänzlich davon getrennt zu sein, und besitzt unterbrechende Funktion, dies wiederum für Individuen wie für Gemeinschaften oder ganze Gesellschaften. Post spricht treffend von einem »moratorium«27, das mit solchen Ritualen verbunden ist. Diese Unterbrechung und damit das, was Menschen in dieser Krise bewegt, wird im Ritual äußerlich sichtbar gemacht. Rituale besitzen symbolischen Gehalt, womit gemeint ist, dass sie an einer anderen Wirklichkeit partizipieren. Dadurch tragen sie zur Deutung von Krisensituationen bei. Post erläutert nicht, wohin dieses Symbolische verweist oder woran es Anteil gibt. Rituale in Krisen können das möglicherweise offenlassen, indem sie Zeichenhandlungen verwenden, die eine Gruppe verbinden können, aber zugleich in ihrer Deutbarkeit offen sind. Das gilt in Trauerritualen u. a. für den Umgang mit Licht, Raum, Musik. Für die »freien« Krisenrituale kann offensichtlich auf eine Erklärung verzichtet werden, sie müssen selbsterklärend ablaufen.28

25 26 27 28

Vgl. ebd., 5. Vgl. Sander, Hans-Joachim, Gesetz, 83–86. Post, Paul, Introduction, 5. Vgl. Schweighofer, Teresa, Freie RitualbegleiterInnen, 129 f.: »Wieviel Verstehen braucht/verträgt das Ritual?«.

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Man darf die diakonisch-ethische Dimension solcher Rituale nicht vergessen. Für Liturgiefeiern gilt sie als gesetzt,29 wobei zu diskutieren wäre, wo sie dort wie realisiert wird. Aber sie kann generell für Rituale in Krisensituationen in Rechnung gestellt werden, und zwar explizit wie implizit. Dass eine Krise von Menschen gemeinschaftlich im Ritual begangen und bearbeitet wird, ist Ausdruck einer Grundhaltung. Eine Krise wie beispielsweise ein Krieg lässt Menschen nicht gleichgültig, es gibt eine Welterfahrung, die man teilt, die Ablehnung der Gräuel des Krieges, und die Anlass für das Ritual ist. Zugleich kann mit solchen Ritualen – wie es ja von Liturgiefeiern erwartet wird – ein bestimmtes Verhalten und Handeln, also entsprechendes Engagement verbunden werden. Insgesamt darf man nicht übersehen, dass solche Rituale eine Wirkmächtigkeit besitzen und als Handlung performativ wirken. Post spricht von einer apotropäischen Funktion, vom Heilen, Bannen des Bösen, von Schutz und Bewältigen. Sie stiften außerdem im Erinnern und Trauern Gemeinschaft. Sie bringen das Miteinander und das Zusammenstehen zum Ausdruck und überwinden dadurch die Vereinzelung. Sie thematisieren das Überwinden der Krise, indem sie von Zusammenstehen, Bewältigen der Krise, Hoffnungen sprechen. Vergleicht man die liturgische mit der allgemeinen religiösen rituellen Praxis, wird immer wieder auf den Ereignischarakter von Ritualen verwiesen, der als Kontrast zur kirchlichen Sakramentsverwaltung empfunden wird.30

4 Rituale als Hilfe in Krisenzeiten: Ökumenischer Gedenk­ gottesdienst an die Opfer der Flutkatastrophe 2021 4.1 Der Ablauf des Gottesdienstes Es gibt derzeit viele Katastrophen und Krisen, in denen Rituale in der Gesellschaft sinnvoll sind, um das Geschehene zu verarbeiten, der Leidtragenden und vor allem der Toten zu gedenken und sich Trost zusprechen zu lassen. An die Toten der Corona-Pandemie und der Kriege, insbesondere in der Ukraine, ist zu denken, an Terroranschläge und Umweltkatastrophen. Im Folgenden wird ein Ereignis herausgegriffen, das bis heute Menschen umtreibt: die Flutkatastrophe des Jahres 2021 im Ahrtal. Am 28. August 2021 fand im Aachener Dom ein ökumenischer Gedenkgottesdienst statt.31 Anwesend waren die Staatsspitze, 29 Vgl. Stuflesser, Martin/Winter, Stephan (Hg.), Ahme nach. 30 Vgl. Schweighofer, Teresa, Freie RitualbegleiterInnen, 127 f. 31 Vgl. WDR aktuell, Hochwasser 2021.

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Landespolitiker, Angehörige von Rettungsdiensten, Kirchenvertreter, natürlich Betroffene der Katastrophe. Die Leitung des Gottesdienstes lag beim Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, beim Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, und dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, Erzpriester Radu Constantin Miron. Das Gedenken wurde mit einem Kreuzzeichen liturgisch eröffnet. Ein besonderer Akzent lag in der Feier auf der Klage vor Gott. Mit einem Klagelied wurde begonnen, dann nach einleitenden Worten der Kirchenvertreter der Ahr-Psalm von Stephan Wahl sehr expressiv rezitiert: »Wo warst Du, Gott, Ewiger?«32 Der Text drückte das Ringen mit Gott und die Hoffnung auf seine Nähe aus, verdeutlichte die Anfechtungen des Glaubens angesichts solcher Katastrophen. Die eindrücklichen sprachlichen Bilder wurden – zumindest in der Fernsehübertragung – durch Fotoaufnahmen der Katastrophe verstärkt. Im Wechsel mit klagenden und fragenden Gesängen von Solisten und Chor kamen verschiedene Betroffene – Menschen, die Hab und Gut verloren hatten, Notfallseelsorger – zu Wort und berichteten von ihren Erlebnissen, Ängsten, Hoffnungen. Vom Zusammenhalt, von gegenseitiger Hilfe und Aussöhnung war die Rede. Solche Elemente des Gedenkens gewinnen in vergleichbaren Feiern in letzter Zeit an Raum: kurze Berichte, Gedanken, Erinnerungen von Betroffenen. Ein Jude las auf Deutsch Ps 6, ein Imam rezitierte aus dem Koran die Verse 2:155, 3:91 und 21:35; Lk 24,33–43 wurde von einer Lektorin vorgetragen, dabei standen die Anwesenden. In seiner Ansprache rief Bischof Bätzing die Zerstörungen in Erinnerung und hob hervor, wie wichtig das gemeinsame Erinnern und Gedenken sei. Bätzing machte deutlich, wie er sich in solchen Situationen persönlich dem Vaterunser, dem Rosenkranz, den Psalmen anvertraue, also auf traditionelle Sprachhandlungen zurückgreife. Bätzing legte den Psalm von Wahl aus, den er als Anfrage an das Leben und an Gott las. Dorothee Sölle habe vom Essen und Trinken der Psalmen gesprochen, sie seien wie Brot. Ein langer Prozess der Trauer und der Heilung stehe bevor. Bätzing unterstrich die Bedeutung des Engagements vieler und dankte ihnen. Trotziger Glaube sei das, was in dieser Situation Hilfe geben könne. Landesbischof Bedford-Strohm begann mit der Frage »Wo war Gott?« Seine Antwort entnahm er der Schriftlesung. Hier begegne der verletzliche Jesus. »Gott war da, in den Fluten«, aber nicht als Verursacher, sondern als der, der mit den Opfern gelitten habe und sie bei sich aufnehme. Diesen Gott könne man 32 Vgl. den Text insgesamt in Wahl, Stephan, Ahr-Psalm.

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erfahren, indem man mit ihm spreche, in der Gemeinschaft der Helfenden, die das Leid mit ausgehalten hätten, in Menschen, die ihren Nächsten ein Christus geworden seien (Martin Luther). Er sprach von der Hoffnung auf Heilung, die Gott schenken möge, und von der Hoffnung, dass die Erfahrung dieses Leids Menschen verändere und für die Klimakatastrophe und für die aus der Balance gebrachte Natur sensibilisiere. Neuanfang gelinge nur mit den Wunden, nicht an ihnen vorbei. Bedford-Strohm sprach Hoffnung auf die Zukunft zu. Der Chor sang anschließend »Ubi caritas et amor«, dann führte der orthodoxe Geistliche Miron in das Fürbittgebet ein. Die Fürbitten um Vertrauen und Hilfe für Menschen in weltweit unterschiedlichen Katastrophen, für die Toten usw. wurden von Menschen gesprochen, die mitten in der Kirche saßen. Dann leitete Miron zum Vaterunser über. Das durch den Chor gesungene Lied »Bewahre uns Gott, behüte uns Gott« (GL 453) und der Segen durch die drei Kirchenvertreter beendeten den Gottesdienst. Instrumentalmusik setzte ein Zeichen für das Ende der Liturgie. Dann sprach der Bundespräsident. 4.2 Liturgiewissenschaftliche Auswertung Es ist eine besondere Weise des Trauerns, die insbesondere medial zugänglich gemacht wird. Wenn man hier grundsätzlich nach geeigneten Ritualen fragt, fällt zunächst einmal das Moment der Gemeinschaft auf. Solche Rituale sind eine soziale Größe und entsprechend zu gestalten und zu vollziehen. Die Gesellschaft steht in einer solchen Tragödie zusammen. Das kann man auf einzelne Bereiche, etwa eine Schule, herunterbrechen. Ein solches Ritual ermöglicht, Nähe und Miteinander zu erleben. Deshalb ist es nicht zweitrangig, wie man sich hier versammelt, dass beispielsweise die Vertreter:innen des Staates mit denen, die Betroffene sind, und denen, die für die Notfallseelsorge und Rettung arbeiten, zusammensitzen. In letzter Zeit wird in solchen Trauerfeiern persönlichen Zeugnissen viel Raum gegeben. Das war beim Trauern für die Toten der Corona-Pandemie der Fall,33 jetzt wieder in Aachen. Das Erinnern erhält dadurch eine neue Dringlichkeit und ist situationsbezogen. Solche Rituale sollten situativ ausgerichtet sein. Die Katastrophe wird mit Gesichtern verbunden, das wiederum erhöht die Identifikation mit den Opfern, die Solidarität mit den Angehörigen und die Möglichkeit zur Empathie. Dieses Zeugnisgeben wird zum Ritual, das aber situ-

33 Vgl. Kranemann, Benedikt/Menzel, Kerstin, Paradigmenwechsel.

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ativ dynamisch ist und vor allem dem berechtigten Anspruch der Betroffenen gerecht wird, dass sie wirklich in ihrer Klage und Angst gehört werden. Die Trauerfeier in Aachen war insbesondere durch Momente der Klage geprägt, die gerade in Ritualen der Krise eine Rolle spielen. Dabei kam ein Aspekt zum Tragen, auf den in der Exegese von Klage- und Feindpsalmen immer wieder hingewiesen wird: Das Klagen, Hadern, Ringen mit Gott steht im Horizont der Hoffnung, dass Gott für den Leidenden handeln und einstehen wird.34 Der Ahr-Psalm von Stephan Wahl, der durchaus drastisch formuliert, endet mit den Worten »Würdest du doch nur endlich dein Schweigen beenden, / doch ich halte es aus und halte dich aus, oh Gott. / Halte du mich aus! / Und halte mich, Ewiger! Halte mich!« Er ist von einem grundsätzlichen Vertrauen auf Gott getragen, aber bringt auch Gott als das rätselhafte Geheimnis, um das und den immer wieder gerungen werden muss, zur Sprache. Es ist ein sehr reflektiertes, dem Menschen wie Gott zugewandtes Erinnern und Bitten, das die Zweifel und das Fragen der Gläubigen nicht ausblendet. Einfacher formuliert: Es ist ein sehr reifer Glaube, der sich in solchen Feiern äußert, der in solchen Katastrophen verantwortbar ist und Bestand hat, der letztlich Hilfe sein kann für die Betroffenen. Die Sprache insbesondere des Ahr-Psalms ist einerseits sehr handgreiflich und direkt, andererseits sehr bildreich und assoziativ. Mal hört man »Wie sich Schlamm und Schutt meterhoch türmen, / in den zerstörten Straßen und Gassen / und deren Schönheit sich nicht mehr erkennen lässt, / so sehr vermisst meine Seele dein Licht.« Dann heißt es wiederum: »So werfe ich meine Tränen in den Himmel / meine Wut schleudere ich dir vor die Füße.« Er ermöglicht vielfältige Assoziationen und Anknüpfungsmöglichkeiten jenseits von Konfessions-, Religions- und Weltanschauungsgrenzen. Auch wer nicht an einen personalen Gott und ein Gegenüber glaubt, wird mit den Schilderungen der Situation, mit Tränen, die in den Himmel geworfen werden usw., etwas anfangen können. Die sehr lebensnahe Sprache vieler Psalmen – bei all ihrer Fremdheit, die unumstritten ist – kann ein Beispiel sein, wie sich in einer solchen Situation sprechen lässt. Diese über Jahrhunderte genutzten Sprachformen können als Qualitätskriterium für heutige Sprache verwendet werden. Sie können vor allem zeigen, wie notwendig es ist, sensibel mit Sprache und Sprechen im Moment der Katastrophe umzugehen. Mancher theologische und pastorale Jargon verbietet sich hier gerade zu. In Aachen fehlte eine Zeichenhandlung, man setzte ganz auf das Verbale. Dabei haben sich in der Vergangenheit gerade Rituale, in denen Kerzen für die 34 Vgl. Jeggle-Merz, Birgit, Fluchpsalmen.

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Toten entzündet werden konnten, bewährt, auch im schulischen und jugendbezogenen Kontext. Erinnert sei nur an Erfurt, Winnenden und Duisburg. Rituale, wie beispielsweise das Aufstellen brennender Kerzen,35 erweisen darin ihre Stärke, dass sie vielfältig deutbar sind. Wenn man über geeignete Rituale des Trauerns spricht, sind solche Rituale zu erwähnen, die wesentlich zur Ausdruckskraft der Gedenkfeiern beitragen. In Aachen waren, wie erwähnt, andere Religionen in die Trauerfeier einbezogen. Das ist im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes eine Herausforderung.36 Über die Form der Trauerfeiern muss deshalb weiter nachgedacht werden. Wenn diese Feiern Ort gemeinschaftlichen Trauerns sein sollen, muss die Gesellschaft in ganzer Vielfalt hier gehört und zur Sprache gebracht werden. Das gilt ebenso für religiöse Äußerungen. Hier in Aachen waren ein Jude und ein Muslim in die Gedenkfeier integriert, was in der Sitzordnung im Raum deutlich wurde. Für solche Rituale in Krisenzeiten ist die Beteiligung anderer Religionen unverzichtbar. Die Rituale sind daraufhin zu reflektieren: Wie geht man in einer solchen Situation mit dem Kreuzzeichen um? Müssen alle jedes Zeichen mitvollziehen (können)? Wann schließt man damit Menschen aus? Wie können Rituale aussehen, in denen Menschen aus verschiedenen Religionen zu ihrem Recht kommen? In den vergangenen Jahren lassen sich hierzu weitreichende Schritte beobachten, doch sind immer neue Versuche notwendig.37

5 Hoffnungsbotschaft in Krisenzeiten – drei theologische Hinweise Ob Kirche und Liturgie in den Katastrophen der Gegenwart »systemrelevant« sind, ist eine müßige Frage. Viel entscheidender ist, ob sie für Menschen, und das bedeutet sicherlich nicht mehr für alle Menschen, lebensdienlich sind, Trost spenden, Orientierung ermöglichen, Trauerorte bereitstellen, Perspektiven 35 Vgl. Wagner-Rau, Ulrike, Glaube. 36 Vgl. die unterschiedlichen Positionen bei Haunerland, Winfried, Feiern; Arnold, Jochen M., Praxis; Winter, Stephan, Geheimnis. 37 Negativ fiel in der Trauerfeier im Aachener Dom auf, dass wieder sowohl der evangelische als auch der katholische Bischof kurz predigten. Diese Doppelung in ökumenischen Gottesdiensten wird in solchen Trauerfeiern zum Problem, weil hier eine ökumenische Diplomatie in den Vordergrund rückt, wo es doch primär um Trauer und Gedenken gehen muss. Die Dramatik der Situation erfordert, über geeignete Ausdrucksformen und Bescheidenheit in der kirchlichen Selbstdarstellung nachzudenken. Hier ist das diakonisch-helfende Handeln der Kirchen in Situationen der Not gefordert. Entsprechend müssen Vertreter:innen der Kirchenleitung hier auf- oder auch zurücktreten.

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eröffnen. Die genannten Umfrageergebnisse zeigen, dass dafür Bedarf besteht. Das, was in diesen Feiern zum Ausdruck gebracht wird, hören diejenigen, die es hören wollen. Die Entscheidung darüber liegt nicht bei der Kirche oder ihrem Personal. Die Hoffnung spendende Botschaft des christlichen Glaubens ist gerade in Krisensituationen weiterhin gefragt. Aber ihre Kommunikation ist kein Selbstläufer. Gefragt ist sie dort, wo der Brückenschlag zu Lebenssituationen gelingt und sie als Angebot begegnet, über das der und die Einzelne frei entscheiden kann. So wird man die Diskrepanz zwischen der deutlich rückläufigen Teilnahme am Sonntagsgottesdienst und dem Wunsch nach öffentlichen Trauerfeiern deuten können. Das Phänomen, dass Letztere nicht festgelegt sind, sondern – ritualtheoretisch gesprochen – dynamisch bleiben, zeigt, dass mit den Ressourcen religiöser Traditionen fallbezogen umgegangen wird. Die christliche Hoffnungsbotschaft kommuniziert sich nicht selbst, sondern es sind in Krisensituationen immer wieder neue Kommunikationsprozesse notwendig. Das stellt Kirche und Liturgie vor erhebliche Herausforderungen. Drei Aspekte sind wichtig, damit diese Rituale angenommen werden können: 1. Der erste ist das Gottesbild. In der Beschreibung der Liturgie im Aachener Dom ist deutlich geworden, dass hier kein glattes, letztlich kindliches Bild eines »lieben« Gottes vor Augen gestellt wird, sondern ganz im Sinne von Bibel und Liturgie Gott als derjenige bekannt wird, den der Mensch suchen und um den er ringen muss, indem er seine Nähe und Zuwendung erbittet. Man kann es noch einmal mit Blick auf das »Pascha-Mysterium« beschreiben, das den Auferstandenen und damit das Osterereignis meint, das aber auch Leiden und Tod, den Karfreitag umfasst. Das entspricht menschlicher Lebensrealität. Einen Gott zu verkündigen, der sich in diese Lebensrealitäten inkarniert hat, der dem Menschen nahe ist, aber in dieser Nähe immer wieder neu erfragt und gesucht werden muss, hat in solchen Krisen einen Platz. 2. Der zweite Aspekt ist das Bild vom Menschen. Gerade in der Krise, aber nicht nur hier verbietet sich ein kirchliches Gebaren, das belehrend und mit Letztdeutungen dem Menschen begegnet. Menschen mit ihren Fragen und Nöten, ihren Klagen und Tränen müssen hier zu Wort kommen können. Im April 2021 gab es in Berlin neben einem ökumenischen Gottesdienst eine überzeugende Trauerfeier des Bundespräsidenten für die Toten der Corona-Pandemie. Eindrucksvoll waren vor allem persönlich gehaltene Berichte von Menschen, die mit ihren Worten das Leid schilderten, das die Pandemie über sie gebracht hatte. Diese Berichte blieben als in sich bewegend stehen und wurden nicht weiter kommentiert. Man hörte den Men-

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schen zu, gab ihren Lebensgeschichten Raum. Das könnte man sich ebenfalls für ein kirchliches Ritual in Krisen vorstellen. Der Gottesdienst würde dann das Framing38 bewirken und die Perspektive der Hoffnung auf Gott eröffnen, aber den Anwesenden alle Möglichkeiten lassen, sich zu artikulieren, zu hören, zu deuten. 3. Schließlich, und das ist der dritte Aspekt, bleibt die Frage, welches Bild von Kirche vermittelt wird. Ritendiakonie braucht eine Kirche bei den Menschen und unter den Menschen, nicht als ein Gegenüber oder eine fremde und enthobene Welt. Gerade in Liturgiefeiern in der Krise großer Katastrophen hat sich eine solch demütige Kirche in den letzten Jahren gezeigt. Sie allein kann Hilfe und Perspektive in Krisenzeiten vermitteln. Literatur Abel, Dominik/Kranemann, Benedikt, Gipfel und Höhepunkt? Liturgie in Corona-Zeiten, in: Gottesdienst 56 (2022) 82 f. Arnold, Jochen M., Zur Praxis und Theologie öffentlicher Rituale und multireligiöser Feiern –eine evangelische Perspektive, in: Benz, Brigitte/Kranemann, Benedikt (Hg.), Deutschland trauert. Trauerfeiern nach Großkatastrophen als gesellschaftliche Herausforderung (= EThS 51), Würzburg 2019, 141–163. Benz, Brigitte/Kranemann, Benedikt (Hg.), Deutschland trauert. Trauerfeiern nach Großkatastrophen als gesellschaftliche Herausforderung (= EThS 51), Würzburg 2019. Ebenbauer, Peter, Rituelles Framing im christlichen Gottesdienst. Ein Schlüssel zur Erforschung des Verhältnisses zwischen Liturgie und Lebenswelt, in: Bärsch, Jürgen/Kopp, Stefan/Rentsch, Christian (Hg.), Ecclesia de Liturgia. Zur Bedeutung des Gottesdienstes für Kirche und Gesellschaft. Festschrift für Winfried Haunerland, Regensburg 2021, 427–440. Fechtner, Kristian/Klie, Thomas (Hg.), Riskante Liturgien – Gottesdienste in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, Stuttgart 2011. Hahn, Judith, Die Ordnung der Liturgie, die Liturgie der Ordnung: Rollenbildung und -konflikt in kirchlichen Ritualen, in: ThG 65 (2022) 59–72. Haunerland, Winfried, Multireligiöse Feiern als Herausforderung für die Kirchen, in: Benz, Brigitte/Kranemann, Benedikt (Hg.), Deutschland trauert. Trauerfeiern nach Großkatastrophen als gesellschaftliche Herausforderung (= EThS 51), Würzburg 2019, 125–140. Hoondert, Martin/Post, Paul/Klomp, Mirella u. a. (Hg.), Handbook of Disaster Ritual. Multidisciplinary Perspectives, Cases and Themes (= Liturgia condenda 32), Leuven 2021. Jeggle-Merz, Birgit, Die sogenannten Fluchpsalmen im Gottesdienst der Kirche, in: Jeggle-Merz, Birgit/Durst, Michael (Hg.), Gewalt – Herrschaft – Religion. Beiträge zur Hermeneutik von Gewalttexten, Einsiedeln 2018 (= Theologische Berichte 38) 124–150. –, Liturgie und Körper. Auf den Spuren der Leiblichkeit in der Begegnung mit Gott, in: transformatio; 1 (2022) 16–31. Kranemann, Benedikt, Liturgie, Körper, kulturelles Gedächtnis. Nonverbale Erinnerungsformen im Gottesdienst, in: BiLi 90 (2017) 23–31.

38 Vgl. dazu Ebenbauer, Peter, Framing.

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Theodizee und aktuelle Krisen im Religionsunterricht – inhalts-, subjekt- und beziehungsorientiert Julia Münch-Wirtz

1 Warum lässt Gott Leid zu? – Annäherung an die Theodizeefrage Nachdem der russische Präsident Wladimir Putin tags zuvor der Ukraine den Krieg erklärt hat, begannen am 24. Februar 2022 flächendeckende Angriffe auf das Nachbarland. Ein Krieg in Europa, bei dem Menschen getötet werden, vor Angriffen fliehen und Städte dem Erdboden gleichgemacht werden. So mancher bringt angesichts dieser Gräueltaten Gott ins Spiel und fragt fassungslos: Und wo ist Gott? Wenn es einen Gott gibt, warum das ganze Leid? In der Tat stellt sich diese theologisch zentrale Frage in diesem Kontext in seiner ganzen Schärfe – je stärker der Glaube an Gott ist, »desto mehr schmerzt es, überhaupt nur diese Frage stellen zu müssen, geschweige denn mit dem Umstand zu leben, dass es keine befriedigende Antwort geben kann, solange Unschuldige leiden.«1 Die Theodizeefrage, die die Existenz von Leid mit der Existenz eines allmächtigen und gütigen Gottes zu vereinbaren versucht, stellen sich Menschen seit jeher in unterschiedlichen Facetten, mit verschiedenen Schwerpunkten und Antwortversuchen. Gottfried Wilhelm Leibniz, der den Begriff der »Theodizee« prägte, entwickelte seine Thesen und Argumentationsstränge aus den Briefwechseln mit Königin Sophie Charlotte und Pierre Bayle und veröffentlichte 1710 den »Essais de théodicée«. Nicht selten werden Leibniz Ausführungen als der berühmteste und philosophiegeschichtlich wirkmächtigste Versuch beschrieben. Bei Leibniz Theodizee schlägt – wie Regina Ammicht-Quinn es beschreibt – »die Stunde der Vernunft«2 bzw. mit Leibniz Worten: Die Theodizee spiele sich als Gerichtsprozess vor dem Richterstuhl der Vernunft3 ab.

1 Söding, Thomas, Der Krieg fordert Opfer, 3. 2 Ammicht-Quinn, Regina, Lissabon bis Auschwitz, 55. 3 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Hauptschriften, 11.

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Unter diesen Vorzeichen lässt sich nun fragen, wie sich religiöses Lernen ereignen kann und welche Ansätze im Religionsunterricht tragen. Die Annahme, dass religiöses Lernen im Schnittfeld von drei Wegen des Verstehens von Lebens- und Glaubenszusammenhängen liegt, soll im Folgenden anhand der Theodizeefrage durchbuchstabiert werden: Der Erfahrungs- und Subjektorientierung, der Inhalts- und Traditionsorientierung und der Kommunikations- und Beziehungsorientierung.

2 »Durch krankheitsbedingte Schicksalsschläge verlor ich mein Vertrauen in Gott …« – Erfahrungsund Subjektorientierung »… und somit auch meinen Glauben an ihn.« Diese Aussage einer Schülerin, die aus der Tübinger Studie »Jugend – Glaube – Religion. Was Jugendliche und junge Erwachsene dazu sagen« aus dem Jahr 2018 entnommen ist, bietet Einblicke in das Denken von Jugendlichen: Die Leiderfahrung in Form von Krankheit wird in diesem Fall als Grund für den Verlust des Gottesglaubens genannt. Hier könnte man Karl Ernst Nipkows »ehernes« Gesetz, die Theodizee als »Einbruchstelle für den Verlust des Gottesglaubens«4, bestätigt sehen. Lange Zeit galt die Frage, wie die Existenz von Leid in der Welt mit der Existenz eines allmächtigen und gütigen Gottes unter dem Maßstab der Vernunft zu vereinbaren sei, als »erste und wahrscheinlich größte Schwierigkeit in der Gottesbeziehung«5. An Leiderfahrungen bzw. der Frage nach dem Grund des Leides entschied sich früher, ob die religiös-weltanschauliche Ausrichtung »trotzig-gläubig oder enttäuscht-atheistisch«6 ist. So die langjährige Annahme. Allerdings kann in der jüngeren Forschung ein regelrechter Paradigmenwechsel beobachtet werden: Kinder und Jugendliche leben meist ohne die Voraussetzung für die Theodizee-Problematik, denn diese kann nur aufbrechen, »wenn das biblische – oder zumindest ein theistisches Gottesverständnis bis zu einem gewissen Grad internalisiert ist.«7 So falle Gott »immer stärker als Adressat in der Leidfrage«8 weg und die Theodizee sei »kein Stein des Anstoßes

4 5 6 7 8

Nipkow, Karl Ernst, Erwachsenwerden ohne Gott, 49. Ebd., 56. Langenhorst, Georg, Theodizee, 5. Gramzow, Christoph/Hanisch, Helmut/Nestler, Erich u. a., Leid und Gott, 160 f. Gebler, Julia/Riegel, Ulrich, Studien zu Theodizee-Konzepten von Kindern, 154.

Theodizee und aktuelle Krisen im Religionsunterricht

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oder Anlass für eine Einbruchsstelle des Verlustes des Gottesglaubens«9. Die viel beachtete empirische Studie von Werner Ritter, Helmut Hanisch u. a. zur Bearbeitung des Themas »Leid und Gott« durch Heranwachsende aus dem Jahr 2006 hat die lange Zeit etablierte Sichtweise grundlegend in Frage gestellt: Während nur für einige wenige Schüler:innen die Theodizee eine zentrale Bedeutung einnimmt, stellen die meisten Schüler:innen keine Verbindung zwischen Gott und Leid her. Diese Ergebnisse ergänzt Eva-Maria Stögbauer mit ihrer Untersuchung nochmals: Die Theodizeefrage sei vom »religiösen bzw. nicht-religiösen Relevanzsystem des Einzelnen«10 abhängig und stelle eher ein intellektuelles als ein existentielles Problem dar.11 Der Religionspädagoge Ulrich Riegel führt diesen Gedanken weiter: Dies läge daran, dass Jugendliche zunehmend das Leid gar nicht mit Gott in Verbindung brächten, sondern als Ursache natürlicher Gesetzmäßigkeiten oder Schicksal begreifen. Folgt man diesen Beobachtungen, kommt es nicht automatisch bei Jugendlichen zu einer Irritation des eigenen Gotteskonzeptes. So bleibt die Theodizee zwar ein wichtiges und brisantes Thema, aber nicht das zentrale Thema des Religionsunterrichts. Das zeigt u. a. die Tübinger Studie zu Glauben und Religion von Jugendlichen: Das Bild bezüglich der Theodiezeefrage ist vielfältig, so dass insgesamt von einer »Heterogenität jugendlicher Leidverarbeitung«12 ausgegangen werden kann. Nichtsdestotrotz hat die Theodizeefrage für Kinder und Jugendliche vor allem immer dann Relevanz, wenn Leidenserfahrungen den eigenen Glauben und das Vertrauen auf einen guten und fürsorglichen Gott erschüttern13. Bezüglich des Ukraine-Krieges handeln Schüler:innen solidarisch durch Spendenläufe, Sammel-Aktionen etc. und bringen in Friedensgebeten ihre Ängste, Sorgen und Bitten zum Ausdruck. Auch in diesem aktuellen Fallbeispiel ist davon auszugehen, dass manche Schüler:innen die Frage nach Gott in all dem Leid in ihrer Schärfe stellen und zugleich auch die Frage nach der Erhörung ihrer Gebete aufwerfen.

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Schambeck, Mirjam, Jugendliche fragen nach dem Leid, 270. Stögbauer, Eva-Maria, Konkret reden, 59. Vgl. auch Bederna, Katrin, Kriterien einer Theodizeedidaktik, 122. Simojoki, Henrik, Verlust des Gottesglaubens, 72. Vgl. Sajak, Clauß Peter, Der Gott von Juden, Christen und Muslimen, 7.

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3 Theologische Antwortversuche auf die Theodizeefrage vor dem Hintergrund aktueller Krisen – Inhalts- und Traditionsorientierung Im Folgenden stehen bei der Inhalts- und Traditionsorientierung die Reflexion der Glaubenstraditionen, religiösen Überlieferungen und theologischen Antwortversuche im Mittelpunkt. Dabei ist entscheidend im Blick zu behalten, dass die theologischen Inhalte auf ihre Lebensrelevanz gedeutet werden und nicht im luftleeren Raum verhallen. Als absurd und mit Entschiedenheit zurückzuweisen, ist die Ausfassung, Krieg oder Corona sei eine Strafe Gottes. Besonders von evangelikaler Seite war zu hören, »man könne Gottes Allwirksamkeit nicht abkoppeln von negativen und leidbehafteten Zeiterscheinungen«.14 Ein strafender Gott erscheint allerdings in Kriegssituationen, Pandemien und in allen anderen Krisen als wenig tragfähig für Menschen, die Trost, Kraft und Antworten suchen. 3.1 »Dies ist nicht ein allmächtiger Gott!« – Hans Jonas Während der Pandemie wurde auf den Erklärungsansatz von Hans Jonas rekurriert: Jonas, der 1933 emigrierte, erfuhr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dass seine Mutter in Auschwitz ermordet worden war. Sie hatte ihren Ausreiseantrag auf den Namen ihres jüngsten Sohnes Georg umschreiben lassen und diesen vor dem Tod gerettet. Vor dem Hintergrund der Gräueltaten des Nationalsozialismus hat Jonas Gott anders denken müssen, da in der jüdischen Auffassung Gott als Herr der Geschichte gesehen wird und das Diesseits der Ort der göttlichen Schöpfung, Gerechtigkeit und Erlösung ist. Diese Vorstellung konnte mit der Shoa nicht verbunden werden. Trotz des Leids wollte Jonas die Eigenschaften der Güte und Verstehbarkeit Gottes nicht aufgeben.15 Daher musste in seinem Denken die Allmacht Gottes weichen: »Und damit kommen wir zu dem, was vielleicht der kritischste Punkt in unserem … theologischen Wagnis ist: Dies ist nicht ein allmächtiger Gott! In der Tat behaupten wir, um unseres Gottesbildes willen und um unseres ganzen Verhältnisses zum Göttlichen willen, daß wir die … Doktrin absoluter, unbegrenzter göttlicher Macht nicht aufrechterhalten können.«16 Gott hielt nach Hans Jonas in Auschwitz seine Macht zurück und schwieg, nicht weil er nicht eingreifen wollte, sondern 14 Irlenborn, Bernd, Die Corona-Pandemie als Strafe Gottes?, 246. 15 Vgl. Rommel, Herbert, Mensch – Leid – Gott. 16 Jonas, Hans, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, 33.

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weil er nicht eingreifen konnte. Hintergrund dieses Agierens ist, dass Gott nach Jonas Auffassung die menschliche Freiheit zulassen möchte und dafür auf seine göttliche Allmacht verzichtet: »Im bloßen Zulassen menschlicher Freiheit liegt ein Verzicht der göttlichen Macht.«17 Diese free-will-defence-Theorie wurde zahlreich diskutiert und kritisiert, da sie Fragen aufwirft: Ist diese Denkweise geeignet, um die Schrecken der Shoa theologisch auffangen zu können? Wird aus der Ohnmacht Gottes eine Entgöttlichung Gottes? Auch während des Krieges wird auf die These, Gott habe mit dem Leid nichts zu tun, zurückgegriffen und die Ohnmacht Gottes hervorgehoben. Zugleich wird betont, Gott leide mit den Menschen mit. Dieses Bild wirft generell die Frage auf, wie die Vorstellung des Schöpfers und Erhalters der Welt mit der eines ohnmächtigen und mitleidenden Gottes zusammengedacht werden kann. Ferner entsteht das Problem »eines abstrakten und lebensfernen Gottesbildes.«18 Gott greift in die Welt nicht mehr ein – entweder weil er nicht will oder nicht kann. Schon Karl Rahner brachte das Dilemma auf den Punkt: »Um – einmal primitiv gesagt – aus meinem Dreck und Schlamassel und meiner Verzweiflung herauszukommen, nützt es mir doch nichts, wenn es Gott – um es einmal grob zu sagen – genauso dreckig geht.«19 Diese Rahner-Worte werden von denen gerne zitiert, die die Rede vom (Mit-)Leiden Gottes ablehnen. Und in der Tat: Ein leidender Gott, wenn er nur passiv leiden würde, hülfe gar nichts. Dann käme es lediglich zur »Verdoppelung menschlichen Leidens«20. Alles würde nur noch schlimmer. Trotz einiger Anfragen an Hans Jonas Ansatz, kann die Vorstellung von Gott, der aus freier Entscheidung seine Macht eingeschränkt hat, um dem Menschen in seiner Freiheit Platz zu machen, stark gemacht werden. Zwar bleiben bei Jonas Versuch Fragen offen und kritische Anfragen können hervorgebracht werden, aber sein Antwortversuch kann doch ein Mosaiksteinchen sein, um die Theodizeefrage als Frage aufrecht zu erhalten. Mit Elie Wiesel gesprochen: »Ist dies eine Antwort? Nein. Es ist eine Frage. Eine Frage mehr.«21 Die Theodizeefrage bleibt sperrig und provozierend.

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Ebd., 43. Irlenborn, Bernd, Die Corona-Pandemie als Strafe Gottes?, 249. Imhof, Paul/Biallowons, Hubert, Im Gespräch, 245. Metz, Johann Baptist, Memoria passionis, 20. Wiesel, Elie, Alle Flüsse, 143.

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3.2 »Die Theodizee ist die Krise der Theologie, der uns vertrauten Rede von Gott« – Johann Baptist Metz Die Gedanken des 2019 verstorbenen Theologen Johann Baptist Metz sollen im Folgenden genauer betrachtet werden. Um dem Kontext seines theologischen Denkens – und seiner Theodizee im Besonderen – Rechnung tragen zu können, ist es hilfreich, zunächst einen Blick auf seine Biographie zu werfen. In seinem Werk »Memoria passionis« beschreibt er eindrücklich seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg: »Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde ich, 16jährig, aus der Schule herausgerissen und zum Militär gepresst. Nach flüchtiger Ausbildung in Würzburger Kasernen kam ich an die Front … Die Kompanie bestand aus lauter jungen Leuten, weit über hundert. Eines Abends schickte mich der Kompanieführer mit einer Meldung zum Bataillonsgefechtsstand. Ich irrte die Nacht über durch zerschossene,//brennende Dörfer und Gehöfte, und als ich am Morgen darauf zu meiner Kompanie zurückkam, fand ich nur noch Tote, lauter Tote, überrollt von einem kombinierten Jagdbomber- und Panzerangriff. Ich konnte ihnen allen, mit denen ich noch tags zuvor Kinderängste und Jungenlachen geteilt hatte, nur noch ins erloschene tote Antlitz sehen. Ich erinnere nichts als einen lautlosen Schrei. So sehe ich mich heute noch, und hinter dieser Erinnerung sind meine Kindheitsträume zerfallen.«22   »Meine Gebete sind bis heute durchdrungen von diesem lautlosen Schrei. Und meine theologische Arbeit ist – je älter ich werde umso eindringlicher – geprägt von einer besonderen Empfindlichkeit für die sogenannte Theodizeefrage, für die Frage nach Gott angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt, die doch »seine« Welt sein soll.«23 Diese Erfahrungen und der lautlose Schrei bilden für Metz eine Denkverpflichtung, das Leid von Menschen und die ihnen widerfahrene Ungerechtigkeit theologisch nie zu verharmlosen. Und so muss für Metz Theologie nach Auschwitz eine andere sein als die Theologie vor Auschwitz. Auschwitz veranlasst den Theologen Metz also dazu, sein eigenes Nachdenken über Gott zu unterbrechen. Dabei steht bei ihm im Vordergrund die »Gottesrede als Schrei nach der Rettung der anderen, der ungerecht Leidenden, der Opfer und Besiegten in unserer Geschichte. Wie auch könnte man, so 22 Metz, Johann Baptist, Memoria passionis, 93. 23 Ebd., 94.

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wurde mir deutlich, ›nach Auschwitz‹ – unirritiert – nach der eigenen Rettung fragen!«24. Die Gottesfrage wird somit für Metz nach Auschwitz zur Theodizeefrage. Dabei weiß Metz aber auch, dass die Theodizeefrage nicht gelöst werden kann. »Sie ist die eschatologische Frage, die Frage, auf die die Theologie keine alles versöhnende Antwort, sondern für die sie immer neu eine Sprache suchen muss, um sie unvergesslich zu machen.«25 Wenn Gott überhaupt von jemandem verteidigt werden könne – so Metz –, dann am Ende von sich selbst: Die Aufgabe der Theologie sei es darum, die Fragen angesichts des Leidens »als Rückfrage an Gott zu formulieren und den Begriff einer zeitlich gespannten Erwartung auszuarbeiten, dass, wenn überhaupt, Gott selbst sich an seinem Tag angesichts dieser Leidensgeschichte ›rechtfertige‹.«26 An diese Gedankengänge anknüpfend, äußert sich Metz kritisch gegenüber der häufig angeführten Vorstellung vom leidenden Gott. In der gegenwärtigen Theologie sei es nach Metz »geradezu üblich geworden, vom leidenden, vom mitleidenden Gott, vom Leiden zwischen Gott und Gott, vom Leiden in Gott zu sprechen.«27 Die Theodizeefrage werde häufig – so Metz – mit trinitätstheologischen Motiven beantwortet, indem betont werde, »dass nicht nur Jesus gekreuzigt worden sei, sondern indem der Sohn gelitten habe, habe auch der Vater gelitten. So ist das Leiden nicht nur eine Sache des Menschen allein. Auch Gott selbst hat sich in das Leiden hineinbegeben. Er erweist sich mit den leidenden Menschen dadurch als solidarisch, dass er mir ihnen leidet, dass ihr Leid in ihm ›aufgehoben‹ ist.«28 Dieser empathische Gott weiß um die Leidensgeschichte der Menschen, weil er aus Sympathie mit ihnen leidet. Bei diesem Antwortversuch liege jedoch der Schluss nahe, dass ein »Leiden in Gott«29 dem menschlichen Leiden seinen negativen Stachel ziehe und tröstende Hoffnung erwachse: »Leiden, das uns schreien oder schließlich kläglich verstummen lässt, kennt keine Hoheit; es ist nichts Großes, nichts Erhabenes; es ist … weit mehr erschreckendes Anzeichen dafür, nicht mehr lieben zu können.«30 Metz betont, dass das Leiden jedoch etwas Negatives bleibe und Menschen in eine Selbstlüge verfielen, würden sie dem Leiden etwas Großes abgewinnen wollen. Gleichzeitig macht Metz die Auffassung stark, dass es keine allzu schnelle und vorschnelle Versöhnung mit dem Leiden geben dürfe – trotz 24 Ebd., 4. 25 Ebd., 5. 26 Ebd., 7. 27 Ebd., 17. 28 Metz, Johann Baptist, Die Rede von Gott, 116. 29 Ebd. 30 Metz, Johann Baptist, Theodizee-empfindliche Gottesrede, 95 f.

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aller Hoffnungspotenziale. Die Hoffnung ist eine gebrochene und die Hoffnungsrede bleibt nicht ohne kritische Rückfrage an Gott: »Warum das Leid in dieser Welt?«. Auch schöpfungstheologisch meldet Metz Zweifel an dem mitleidenden Gott an: »Steht nicht bei Johannes lapidar: ›Gott ist Liebe‹? Wie wäre diesem biblischen Satz anders Rechnung zu tragen als mit der Rede von einem leidenden, von einem ›mit‹ seiner vom Leid durchkreuzten Schöpfung leidenden Gott? Entsprechend lässt man die Rede vom allmächtigen Schöpfergott fallen.«31 Für Metz bedeutet dann der Satz »Gott ist Liebe«, dass wir darauf vertrauen, dass Gott sich noch als Liebe für alle erweisen wird – gewiss deswegen, weil er Liebe ist, aber eben dies muss sich bewahrheiten32. Gegen die Vorstellung des mitleidenden Gottes, des Leidens in Gott, merkt Metz zusammenfassend kritisch an: »Ist hier nicht zu viel … Versöhnung mit Gott hinter dem Rücken der menschlichen Leidensgeschichte am Werk? … Oder ist vielleicht bei dieser Rede vom leidenden Gott … zu viel ›Aufhebung‹ der Negativität des Leidens … zu viel Herabdeutung des Leidens?«33 Wie ist nun Metz Antwortversuch? Er spricht vom Leiden an Gott und verweist darauf, dass die »Gottesprädikate in den biblischen Traditionen … einen Verheißungsvermerk tragen, … der die Theologie legitimiert und nötigt, von der Schöpfung und der Schöpfungsmacht Gottes in der Gestalt negativer Theologie zu sprechen … Sie (gemeint ist die Theodizee-empfindliche Theologie; Anmerkung J. M.-W.) geht nur davon aus, dass alle biblischen Seinsaussagen einen Zeitvermerk haben.«34 Zusammenfassend stellt Metz fest: »Während die Rede vom leidenden Gott immer eine beruhigende Antwort zu viel sucht, hat die Sprache des Leidens an Gott immer eine beunruhigende Frage zu viel.«35 Wie kann nun die Gottesrede gestaltet sein, die sich nicht gegen die Theodizee-Frage isoliert? – so fragt Metz und fügt an: »Die Theodizee ist die Krise der Theologie, der uns vertrauten Rede von Gott.«36 Die Rede zu Gott, also das Gebet, ist für Metz elementar, da diese der Aufschrei angesichts des Leidens und ein Protest gegen die Leidverdrängung sei: »Haben sich die Christen vielleicht zu sehr an der kirchlichen und liturgisch gezähmten Gebetssprache orientiert? … Die Sprache … ist sehr oft die Sprache der Nichtakzeptanz der Lebenslagen, der Klage, des Protests und des Schreis. … Die Sprache der Gebete ist die Sprache ohne Sprachverbote und zugleich die Sprache voll schmerzlicher Diskretion. 31 32 33 34 35 36

Metz, Johann Baptist, Memoria passionis, 21 f. Vgl. ebd. Ebd., 19 f. Metz, Johann Baptist, Theodizee-empfindliche Gottesrede, 96 f. Metz, Johann Baptist, Memoria passionis, 18. Metz, Johann Baptist, Theodizee-empfindliche Gottesrede, 98 f.

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Sie verurteilt den unaussprechlich Angesprochenen nicht zur Antwort, nicht zum vertraulichen Ich-Du. … Sie bleibt … sehr oft nichts anderes als ein lautloser Seufzer der Kreatur.«37 Beten kann mit Johann Baptist Metz als Unterbrechung in Form von Klage und Protest verstanden werden, gegen den »Tod« Gottes: »Was geschieht, wenn die Kindheitsträume zerfallen, die einen bislang mit der Welt vertrauensvoll versöhnt hatten? Was geschieht, wenn die fugendichte Normalität des Lebens einen Riss bekommt?«38 Es bleibe eine Unversöhntheit bestehen, so lange wie die frohe Botschaft Gottes mit dem Leid der Welt konfrontiert werde. Dennoch sei es von einem Ringen um Gott und mit Gott geprägt: »Gebete sind für sie vor allem Gebete des Vermissens, des Gott-Vermissens … Meine Gebete sind bis heute durchdrungen von diesem lautlosen Schrei.«39 Eine Ausdrucksform und authentische Rede von und mit Gott sei die Klage, in der der Mensch sich an etwas richten könne, das Hoffnung gebe. Die Antwort auf die Anklage sei das aktive Mit-Leiden bzw. die Tat. Diese von Metz stark gemachte Form des Gebets nimmt bereits im Alten Testament einen wichtigen Stellenwert ein. 3.3 Einschub: Eine eigene Antwort finden Ziel ist es – insbesondere bei existentiellen Fragen – Schüler:innen im Religionsunterricht dazu anzuregen, eigene Gedanken zur Theodizee zu formulieren, zu reflektieren und eine eigene Antwort, oder zumindest einen eigenen Weg zu finden, mit der Frage nach dem Leid umzugehen, wenn man Gott nicht aufgeben will. Dabei kann das Theologisieren eine gewinnbringende Form sein, um bei der gemeinsamen Suche zu tragfähigen Antwortmöglichkeiten zu kommen. Der Dialog, der offen und respektvoll theologischen Fragen40 nachgeht, bietet Schüler:innen die Möglichkeit, »kognitive Klarheit und emotionale Sicherheit«41 zu erlangen. Bei dem Ringen um Antworten auf theologische Fragestellungen besteht für die Lehrperson die Herausforderung, eine Haltung einzunehmen, die Raum für die Gedanken der Schüler:innen lässt und Deutungsangebote zum Weiterdenken bietet. Bezüglich der Theodizee scheinen biblische und systematisch-theologische Deutungsangebote und die damit verbundenen biographischen Erfahrungen (u. a. Hans Jonas, Johann Baptist Metz) besonders geeignet, damit Jugendliche ihre Haltungen zum Thema differenzieren und 37 Ebd. 38 Metz, Johann Baptist, Memoria passionis, 94. 39 Ebd. 40 Vgl. Freudenberger-Lötz, Petra, Theologische Gespräche mit Jugendlichen. 41 Roggenkamp, Antje/Hartung Verena M., Theologisieren mit eigenen Gottesbildern, 8.

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vertiefen können. Den Balanceakt beim Theologisieren, als Lehrperson den Dialog ergebnisoffen zu gestalten und zugleich auch die eigene Expertise einzubringen, stellt eine bleibende Herausforderung dar.

4 Beziehung: Kommunikations- und Beziehungsorientierung Nimmt man die Beziehungsorientierung in der Religionspädagogik ernst, so ist sie – das gilt in besonderer Weise auch für die Gottesbeziehung – nicht immer unkompliziert, harmonisch und friedlich. Vielmehr wird in der Gottesbeziehung gerungen und geklagt, damit auch in Zeiten äußerster Bedrohung an der Beziehung festgehalten und diese durchgehalten wird. In diesem Zusammenhang scheint es lohnend, die in der Religionspädagogik vertretene Beziehungsorientierung42 mit der Theodizeefrage in Verbindung zu bringen. Gerade bei Krisen- und Leiderfahrungen muss – trotz aller hoffnungsvollen Perspektiven – Raum für »Angst und Verletzlichkeit«43, Zorn und Verzweiflung bleiben. Vorschnelle Vertröstungen und Kleinreden des Leids werden den Erfahrungen nicht gerecht. Daraus leitet sich mit Georg Langenhorst das Einbeziehen von mitmenschlichen Trostmöglichkeiten44 ab, die nur über Beziehung gelingen: »Nachdem mein Papa gestorben ist, habe ich gezweifelt, doch Gott, Freunde und Familie haben mir durch die Zeit geholfen und mich gestärkt.« (w, 17 Jahre, ev., Religionsunterricht, berufliches Gymnasium).45 Religionsunterricht kann Anregungen für den Umgang mit Leiderfahrungen – vor einem entschieden christlich-theologischen Horizont – aufzeigen. Neben das kognitive Verstehen treten somit praktische Perspektiven des Bestehens. Besonders beziehungsorientierte Aspekte können für die Behandlung der Theodizeefrage von Interesse sein, denn gerade Kinder und Jugendliche können Herausforderungen in ihrem Leben mit stabilen und verlässlichen Beziehungen besser bewältigen. In dem Beziehungsgeflecht (zur Welt – zu sich selbst – zu anderen – …), in dem sich jedes Subjekt befindet, kann die Beziehung zu Gott auch ein Teil sein. Und genau da setzt die Klage an, die ein Ausdruck einer dramatischen Beziehung des Menschen zu Gott ist, die – wie jede menschliche Beziehung – durch Höhen und Tiefen geht. Denn Beziehungen »folgen nicht einem Harmoniekonzept«, vielmehr gehören »Konflikte und Auseinander42 Vgl. Boschki, Reinhold, »Beziehung« als Leitbegriff der Religionspädagogik; Brügge, Christina, Beziehungsorientierte Religionsdidaktik; Liegle, Ludwig, Beziehungspädagogik. 43 Wagner-Rau, Ulrike, Schwierige Ohnmacht. 44 Vgl. Langenhorst, Georg, Theodizee. 45 Schweitzer, Friedrich, Jugend – Glaube – Religion, 85.

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setzungen notwendigerweise dazu«46. Entscheidend ist, wie mit diesen Spannungen umgegangen wird. So hält die Klage als Gebetsform an der Gottesbeziehung fest. Allerdings fragt Ulrich Berges, ob das Verstummen der Klage aus dem lebendigen Gebet damit zu tun habe, »dass man die Gottesbeziehung nicht dramatisch zugespitzt sehen möchte«47. Es geht bei der Klage als Bestandteil des religiösen Lernens nicht darum, alttestamentliche Texte, in denen geklagt wird, uneingeschränkt auf die Lebenswirklichkeit der Schüler:innen zu übertragen. Vielmehr können die alttestamentlichen Texte als Blaupause dienen, um Schüler:innen zu ermutigen und einen möglichen Umgang mit Leiderfahrungen zu finden, da sie eine berechtigte, hilfreiche und biblisch breit belegte menschliche Form der Reaktion auf Leid ist; und das auf kognitive, emotionale, soziale, kreative und handlungsorientierte Weise. Der Alttestamentler Bernd Janowski spricht in diesem Zusammenhang von einer »spannenden Gottesbeziehung« der Psalmen, in denen der »Selbstbezug, der Gottesbezug und der Bezug zum Anderen«48 den Gebeten ihre anthropologische Tiefe gibt. Im Vordergrund steht bei der Klage nicht, die Anfrage vorschnell zum Verstummen zu bringen, vielmehr nimmt diese Gebetsform den Menschen und Gott ernst, beschönigt nicht, gibt Raum für die Gefühle und hält die drängenden Fragen offen. Die Klage nimmt den Menschen ernst: »An die Stelle der Suche nach einer Antwort tritt die Suche nach den Haltungen, welche die Größe und Komplexität der Frage zulassen, aufnehmen und dieses Offenhalten praktizieren.«49 Gerade für Kinder und Jugendliche scheint die Sprachform der Klage, die dem eigenen Entsetzen, der Überforderung und Verzweiflung Ausdruck verleihen kann, geeignet, um der Sprachlosigkeit entgegenzutreten. Zugleich hält die Klage auch in schwierigen Zeiten äußerster Bedrohung an der Gottesbeziehung fest und nimmt gleichzeitig Gott in die Verantwortung: »Das unschuldige Leiden ist nicht theoretisch zu verstehen, wohl aber praktisch zu bestehen. Und eine Form des praktischen Bestehens ist die Klage und Anklage.«50 Somit kann die Klage auch im schulischen Kontext die Beziehungsaufnahme mit Gott bzw. das Halten der Beziehung auch in schwierigen Zeiten sein. Die Klage ist dabei keine destruktive Form, vielmehr ist sie Ausdruck von einem tiefen Vertrauen in die »gerechtigkeitsschaffende Beziehung Gottes zu den Menschen«51. 46 47 48 49 50 51

Boschki, Reinhold, Professionalität, 21. Berges, Ulrich, Schweigen ist Silber, 4. Janowski, Bernd, Anthropologie des Alten Testaments, 67. Ammicht-Quinn, Regina, Von Lissabon bis Auschwitz, 20. Kuschel, Karl-Josef, Ist Gott verantwortlich für das Übel?, 246. Boschki, Reinhold, »Beziehung« als Leitbegriff der Religionspädagogik, 424.

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Im Alten Testament werden vielfältige Erfahrungen von Menschen geschildert, die Schmerz und Trauer, Leid und Tod, Not und Verfolgung und Hunger und Ungerechtigkeiten erfahren. Derartige Erfahrungen verschweigen die alttestamentlichen Texte nicht, vielmehr werden »diese Grenz- und Ohnmachtserfahrungen Einzelner, Gruppen und ganzer Völker« in »ihre Rede von und zu Gott«52 integriert; zumal der Mensch im biblischen Horizont stets in Beziehung zu Gott gedacht wird. Daher erhoffen sich die Betenden in ihrer Klage, die in die Zukunft gerichtet ist, Abhilfe und Rettung. Als individuelle oder kollektive Klage macht diese Gebetsform deutlich, dass die Wirklichkeit anders erfahren wird als in Schöpfung und Bund verheißen. Hubertus Schönemann spricht in diesem Kontext von der Klage als »Konfliktfall von Glauben und Erfahrung«53, da eine Störung der Beziehung zwischen Gott und Mensch(en) vorliegt. Häufig treten die Klagen in den alttestamentlichen poetischen Texten auf.54 Nach Claus Westermann55 kann folgende Unterteilung der Klage erfolgen: Kurzklage (z. B. Gen 25,22), poetische (z. B. Psalmen) und prosaische Texte. Des Weiteren werden meist mehrere Elemente genannt – auch wenn diese nicht in allen Klagen auftreten:56 1. Durch das Anrufen des Gottesnamens (z. B. Ps 88,2: Herr, du Gott meines Heils.) wird das Vertrauen an den helfenden und rettenden Gott aus der Vergangenheit artikuliert. Die Klage ist damit kein Ausdruck des Abwendens von Gott. 2. Die Klage in Form einer Notschilderung (z. B. Warum, o Herr, verwirfst du mich,/warum verbirgst du dein Gesicht vor mir?) kann in Form einer Gottklage (vgl. Ps 88), einer Ich- oder Feind-Klage auftreten. 3. Bekenntnis des Vertrauens und der Zuversicht 4. Die Bitte um Errettung stellt die Kehrseite der Klage dar. In manchen biblischen Texten fehlt diese allerdings: z. B. Ps 88; hier ist von einer Bitte nur am Rande die Rede, und die Bitte um Errettung fehlt vollkommen. 5. Die Klage wird meist mit Lobpreis- bzw. Lobversprechen beendet und verharrt nur in Ausnahmefällen in der Not bzw. Klage. Die Klage steht somit meist unter dem Vorzeichen der Hoffnung auf den errettenden Gott.

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Berges, Ulrich, Schweigen ist Silber, Klagen ist Gold, 9. Schönemann, Hubertus, Klage (AT), 1. Genannt seien hier u. a.: Ps 22; Ps 73; Hiob; Kohelet; Weisheit. Vgl. Westermann, Claus, Die Rolle der Klage. An dieser Stelle sei betont, dass sich formgeschichtlich nicht alle Klagen in dieses Schema zwängen lassen.

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Neuere rezeptionsästhetische Ansätze haben dazu geführt, dass die Klage als »Konfliktgespräch mit Gott«57 bezeichnet wird und aufgrund ihres Aufbaus und ihrer Gestalt Anknüpfungspunkte für die Gegenwart aufweist. Dennoch kommt die Klage im religiösen Leben unserer Zeit kaum oder gar nicht mehr vor.58 Gerade die Schonungslosigkeit der alttestamentlichen Klage, die »eine Domestizierung der Gebetssprache« vermeidet und »biblisch legitimierten Protest gegenüber Gott als integrativen Bestandteil der Lebens- und Glaubenserfahrungen«59 darstellt, ist die Stärke dieser Gebetsform. Und die Klage geht noch einen Schritt weiter: Sie ist nach Hubertus Schönemann die »einzige Möglichkeit, an Gott festzuhalten, in der Gottesbeziehung zu verbleiben, sie gar zu intensivieren.«60

5 Bündelung Dass religiöses Lehren und Lernen als Schnittstelle der Komponenten Vermittlung, Aneignung und Beziehung wertvoll für eine multiperspektivische Herangehensweise sind, zeigt sich an der Theodizeefrage bestens. Die drei hermeneutischen Ebenen führen vor Augen, dass die Theodizeefrage zwar nicht mehr die Relevanz wie vor einigen Jahrzehnten hat, zugleich aber Krisen – wie z. B. der Ukraine-Krieg – die Verletzlichkeit der eigenen Lebensführung, die menschliche Begrenztheit und die Ambivalenz des Lebens zu Tage treten lassen und existenzielle Grundfragen von Jugendlichen widerspiegeln. Ausgehend von diesen existenziellen Fragen können Schüler:innen im Religionsunterricht dazu angeregt werden, über ihr Gottesverständnis nachzudenken, eigene Antworten zu formulieren, von theologischen Konzepten inspiriert zu werden und Orientierung in diesem Lebensbereich zu bekommen. Entscheidend ist, die Gottesfrage in vielen Facetten wachzuhalten und die Schüler:innen bezüglich der Theodizeefrage »als religiös und theologisch produktive Subjekte wahr- und ernstzunehmen«61.

57 Janowski, Bernd, Konfliktgespräche mit Gott. 58 Vgl. Westermann, Claus, Die Rolle der Klage. 59 Schönemann, Hubertus, Klage (AT), 4. 60 Ebd. 61 Gramzow, Christoph/Hanisch, Helmut/Nestler, Erich u. a., Leid und Gott, 8.

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Literatur Ammicht-Quinn, Regina, Von Lissabon bis Auschwitz, zum Paradigmenwechsel in der Theodizeefrage, Freiburg i. Br. 1992. Bederna, Katrin, »für mich gibt’s ihn halt, weil er kann nichts dafür« – Kriterien einer Theodizeedidaktik, in: Pemsel-Maier, Sabine/Schambeck, Mirjam (Hg.), Keine Angst vor Inhalten! Systematisch-theologische Themen religionsdidaktisch erschließen, Freiburg i. Br. 2015, 111– 129. Berges, Ulrich, Schweigen ist Silber, Klagen ist Gold. Das Drama der Gottesbeziehung aus alttestamentlicher Sicht mit einer Auslegung zu Ps 88, Münster 2003. Boschki, Reinhold, »Beziehung« als Leitbegriff der Religionspädagogik: Grundlegung einer dialogisch-kreativen Religionsdidaktik, Ostfildern 32016. Boschki, Reinhold, Beziehung ist mehr als nett sein: Zur Professionalität der Religionslehrerinnen und -lehrer, in: IRP-Impulse, Freiburg i. Br., 2015, 20–26. Brügge, Christina, Beziehungsorientierte Religionsdidaktik, Von interdisziplinären Einsichten zu Entwürfen eines dialogischen Religionsunterrichts, Ostfildern 2022. Freudenberger, Petra, Theologische Gespräche mit Jugendlichen: Erfahrungen  – Beispiele  – Anleitungen. Ein Werkstattbuch für die Sekundarstufe, Stuttgart 2012. Gebler, Julia/Riegel, Ulrich, »Ich wende mich an Eltern, Freunde, Opas, Omas, … und Gott«. Eine explorativ-qualitative Studie zu den Theodizee-Konzepten von Kindern in der vierten Jahrgangsstufe, in: Freudenberger-Lötz, Petra/Riegel, Ulrich (Hg.), »Mir würde das auch gefallen, wenn er mir helfen würde«. Baustelle Gottesbild im Kinder- und Jugendalter (= Jahrbuch für Kindertheologie), Stuttgart 2011, 140–156. Gramzow, Christoph/Hanisch, Helmut/Nestler, Erich u. a., Leid und Gott. Aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2006. Imhof, Paul/Biallowons, Hubert, Karl Rahner, Im Gespräch, Bd. 1: 1964–1977, München 1982. Irlenborn, Bernd, Die Corona-Pandemie als Strafe Gottes? Die mediale Rezeption des Theodiezee-Problems, in: Werz, Joachim (Hg.), Gottesrede in Epidemien. Theologie und Kirche in der Krise, Münster 2021, 241–255. Janowski, Bernd, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019. –, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003. Jonas, Hans, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, Eine jüdische Stimme, Tübingen 152016. Kuschel, Karl-Josef, Ist Gott verantwortlich für das Übel? Überlegungen zu einer Theologie der Anklage, in: Fuchs, Gotthard (Hg.), Angesichts des Leids an Gott glauben? Zur Theologie der Klage, Frankfurt a. M. 1996, 227–261. Langenhorst, Georg, Theodizee  – eine überholte Fragestellung? Religionspädagogische Beobachtungen zu einer signifikanten Problemverschiebung, in: ThPQ 168 (2020) 4–13. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band 1, Hamburg, 81996. Liegle, Ludwig, Beziehungspädagogik. Erziehung, Lehren und Lernen als Beziehungspraxis, Stuttgart 2017. Metz, Johann Baptist, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg i. Br. 32006. –, Theodizee-empfindliche Gottesrede, in: Ders., »Landschaft aus Schreien«. Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz 1995, 81–102. –, Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt, in: Stimmen der Zeit 117 (1992) 311–320. Nipkow, Karl Ernst, Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, Gütersloh 1987.

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Roggenkamp, Antje/Hartung Verena M., Theologisieren mit eigenen Gottesbildern, Münster 2020. Rommel, Herbert, Mensch – Leid – Gott: Eine Einführung in die Theodizee-Frage und ihre Didaktik, Paderborn 2011. Sajak, Clauß Peter, Der Gott von Juden, Christen und Muslimen. Fundamentale Anfragen zu einem elementaren Thema im Religionsunterricht, in: Loccumer Pelikan 1/2015, 3–8. Schambeck, Mirjam, Jugendliche fragen nach dem Leid – und Gott bleibt außen vor, in: Bieberstein, Klaus/Schmitt, Hanspeter (Hg.), Prekär. Gottes Gerechtigkeit und die Moral der Menschen, Im Gespräch mit Volker Eid, Luzern 2008, 261–272. Schönemann, Hubertus, Klage (AT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet [https:// www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/klageat/ch/18066d6e545eafa89703024497e744c3/] 2012. Schweitzer, Friedrich/Wissner, Golde/Bohner, Annette/Nowack, Rebecca/Gronover, Matthias/ Boschki, Reinhold, Jugend – Glaube – Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht, Münster 2018. Simojoki, Henrik, Ist die Theodizeefrage heute noch eine »Einbruchstelle« für den Verlust des Gottesglaubens im Jugendalter?, in: Englert, Rudolf/Kohler, Spiegel/Mette, Norbert/Rickers, Folkert u. a. (Hg.), Gott im Religionsunterricht (= Jahrbuch der Religionspädagogik 25), Göttingen 2009, 63–72. Söding, Thomas, Der Krieg fordert Opfer. Werden sie es bleiben?, in: CiG 74 (2022) H. 11, 3. Stögbauer, Eva-Maria, Konkret reden: Theologien und Theodizeen Jugendlicher, in: Freudenberger-Lötz, Petra/Kraft, Friedhelm/Schlag, Thomas (Hg.), »Wenn man daran noch so glauben kann, ist das gut«, Grundlagen und Impulse für eine Jugendtheologie, Jahrbuch für Jugendtheologie, Bd. 1, Stuttgart 2013, 50–59. Wagner-Rau, Ulrike, Schwierige Ohnmacht, in: Feinschwarz, https://www.feinschwarz.net/ schwierige-ohnmacht/, 26.3.2020. Westermann, Claus, Die Rolle der Klage in der Theologie des Alten Testaments, in: Ders., Forschungen am Alten Testament, Gesammelte Studien Band II, München 1974, 250–268. Wiesel, Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer. Autobiographie, Hamburg 1995. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft

»… in der Cloud/Geheiligt werde Dein Markenname …« Kognitive Aktivierung zur Krisenreflexion mit Gedichten von Markus Pohlmeyer Norbert Brieden

Der Titel zitiert den Anfang eines Gedichts von Markus Pohlmeyer und lässt dabei das erste Wort aus. In Workshops bat ich die Teilnehmer:innen, die Lücke zu füllen. Der zweite Vers ist eindeutig angelehnt an das bekannte Gebet Jesu, für das nach der Anrede Gottes als Vater sowohl das Matthäus- als auch das Lukasevangelium die erste Bitte bezeugen: »geheiligt werde dein Name« (Mt 6,9; Lk 11,2). Matthäus verortet den Vater »im Himmel«; sowohl das Pronomen »unser« als auch der Ort mit der Bitte, dass Gottes Wille dort im Himmel und auf der Erde geschehe (Mt 6,10), fehlen bei Lukas. Im Gedicht von Pohlmeyer steht an der Stelle des Himmels die »Cloud«: eine »Wolke«, die digitale Informationen, die über den Äther kabellos »heruntergeladen« werden können, speichert – vorausgesetzt, ein »Netz« ist vorhanden. Statt des Namens soll der »Markenname« geheiligt werden: Eine gute Marke verspricht »Reichtum«, womit das Reich Gottes in der Vaterunser-Bitte auf materielle Werte reduziert erscheint. Inwiefern dieses Gedicht im Besonderen und weitere Gedichte von Pohlmeyer geeignet sind, um mit Schüler:innen nicht nur über die Corona-Krise ins Gespräch zu kommen, ist Thema dieses Beitrags. Dazu gebe ich in einem ersten Schritt einen Überblick über die insgesamt 272 Gedichte, die Pohlmeyer während der Corona-Pandemie verfasst hat (1), bevor ich im zweiten Schritt die Lücke im Titel auflöse und die kognitive Aktivierung durch sie und weitere Aspekte zum Gedicht religionsdidaktisch reflektiere (2). Abschließend gehe ich kurz auf ein weiteres Gedicht ein, das in den Workshops von den Teilnehmer:innen diskutiert wurde, und ziehe ein Fazit, das die besonderen Chancen der Arbeit mit Gedichten herausstreicht (3).

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»… in der Cloud/Geheiligt werde Dein Markenname …«

1 Dichterische Krisenreflexion in sechzehn Gedichtzyklen: Überblick über ein beeindruckendes Werk Der Flensburger Theologe und Altphilologe Markus Pohlmeyer hat während der Corona-Krise zwölf Gedichtzyklen mit 200 Gedichten in der Internet-Zeitung culturmag.de veröffentlicht1, vom 1. Mai 2020 bis zum 1. Juni 2021. Im November und Dezember 2021 sowie im März 2022 folgten drei Zyklen unter dem Titel »Rückkehr nach Corona« mit weiteren 60 Gedichten, am 1. April 2022 ein Zyklus mit zehn Gedichten zum Krieg der russischen Föderation gegen die Ukraine, unter dem Titel »Tristia ex mari Baltico«: Klagelieder von der Ostsee, die intertextuell an die »Tristia« Ovids aus seiner Verbannung anschließen.2 Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über die genauen Titel der Zyklen mit dem Datum ihrer Veröffentlichung sowie Zahl und Art ihrer Nummerierung (römische und arabische Ziffern werden nicht einheitlich benutzt). Im Folgenden zitiere ich aus dem Werk entsprechend der Abkürzung und der arabischen Gedichtnummer. Datum der Veröffentlichung

Titel

Nummerierung (Zahl der Gedichte)

Abkürzung

1. Mai 2020

Corona-Zyklus – Gedichte #covid-19

I–XII (12)

CZ 1

1. Juli 2020

Corona-Zyklus (II) – #Covid-19-Gedichte

1–27 (27)

CZ 2

1. August 2020

Corona-Zyklus (III) – #Covid-19-Gedichte

I–VIII (8)

CZ 3

1. September 2020

Corona-Zyklus (IV) – #Covid-19-Gedichte

1–11 (11)

CZ 4

1. Oktober 2020

Corona-Zyklus (V) – #Covid-19-Gedichte

1–16 (16)

CZ 5

1 Vgl. Pohlmeyer, Markus, Gedichte. 2 Der römische Dichter Publius Ovidius Naso, geb. 43 v. Chr., starb 17 n. Chr. am Ort seiner Verbannung, in Tomis am Schwarzen Meer, wo er seit 8 n. Chr. gezwungen war zu leben.

248

Norbert Brieden

Datum der Veröffentlichung

Titel

Nummerierung (Zahl der Gedichte)

Abkürzung

1. November 2020

Corona-Zyklus VI

Erster Teil: Variation, Fuge Suite (ein Langgedicht) Zweiter Teil: Satyrspiel 1–15 (16)

CZ 6

1. Dezember 2020

Corona-Zyklus VII

1–22 (22)

CZ 7

1. Februar 2021

Corona VIII

1–1ß (19)

CZ 8

1. März 2021

Corona-Zyklus IX

1–26 (26)

CZ 9

1. April 2021

Corona X

1–10 (10)

CZ 10

1. Mai 2021

Corona 11

1–20 (20)

CZ 11

1. Juni 2021

Corona 12

1–13 (13)

CZ 12

1. Juni 2021

Poetischer Werkstattbericht zu den »Corona«-Zyklen

Kurze Bemerkungen zur Entstehung der 12 Zyklen mit insgesamt 200 Gedichten

Bericht

1. November 2021

Rückkehr nach Corona

1–24 (24)

RnC 1

1. Dezember 2021

Rückkehr nach ­Corona 2

1–21 (21)

RnC 2

1. März 2022

Rückkehr nach ­Corona III

1–14 u. Epilog (15)

RnC 3

1. April 2022

Gedichte: Tristia ­ex mari Baltico

I–IX u. Epilog (10)

TemB

Im Epilog des poetologischen Berichts nach Abschluss der zwölf Corona-Zyklen schreibt Pohlmeyer am 01.06.2021: »Was waren diese Gedichte? Eine poetische Auto(r)-Biographie in Zeiten von Corona? (Diese Zeiten sind noch nicht vorbei …) Natürlich wäre das lyrische Ich nicht identisch mit dem realen Autor. Hm. Wenn ich nur wüsste, was das sei, dies lyrische Ich? Und naiv-dekonstruktiv: Wer hat denn die Gedichte geschrieben, wenn nicht ich? Gut, wenn sie veröffentlicht worden sind, dann werden sie ihr Eigenleben führen. Das ist auch gut so. Adieu … Mittlerweile sind 200 Gedichte entstanden, einige mit nur wenigen Zeilen, andere seitenlang. Aber im Grunde handelt es sich nur um ein Gedicht. Aber das Schwierigste an Variationen, sich wiederholen zu dürfen, ja, zu müssen, ohne sich zu wiederholen. Ach!« Aus diesem einen Gesamtgedicht Bruchstücke auszuwählen, hat etwas Gewaltsames. Deshalb wollen die Überlegungen zu einzelnen Gedichten dazu motivieren, sich auch mit weiteren »Variationen« zu befassen. Für die Online-

»… in der Cloud/Geheiligt werde Dein Markenname …«

249

Workshops wählte ich aus dem Korpus 32 Gedichte aus, die ich in Padlets unter vier Überschriften zur Kommentierung im Blick auf Chancen kognitiver Aktivierung bereitstellte: Sieben Gedichte unter dem Titel »Zeit und Ort«,3 elf Gedichte »Aphorismen und Wortspiele«,4 vier Gedichte »Angst und Wut in der Krise«5 und neun Gedichte »Biblische Spuren und Gott«, darunter auch die Vaterunser-Adaption CZ 9,18.6 Zwei längere Gedichte – aus dem ersten (CZ 1,5) und dem letzten Zyklus (TemB 7) – las ich einleitend vor: Beide Gedichte verbinden mehrere gesellschaftliche Krisenerfahrungen. Im Gedicht CZ 1,5 stehen die Corona-Krise und der Klimawandel angesichts einer kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung im Zentrum, während im Gedicht TemB 7 angesichts des Kriegs die Corona-Krise in den Hintergrund rückt – auch wenn das lyrische Ich in der ersten Strophe davon berichtet, dass »Heute, Sonntag, morgens: / In den Nachrichten / Zuerst Corona, dann / Der Kriegsverbrecher, / Und kurz / Vor der Bundesliga: / Ein neuer Hitzerekord / In der Antarktis.« besprochen wurden. Beide Gedichte thematisieren Lüge und Schuldverdrängung, Flucht vor Verantwortung und Adressat:innen unseres Vertrauens. Fragen nach der Bedeutung von Gott, Kirche und Religion werden eingespielt, aber nicht beantwortet. Sie sind Leerstellen, die der Rezeption überlassen bleiben: Kann ich mich der leisen Bitte um das Erbarmen Gottes in der einzeiligen dritten Strophe am Ende von CZ 1,5 anschließen: »(Kyrie, eleison)«? Welches Vertrauen bringe ich der Metapher Gott bzw. seiner katholischen (im Sinne von allgemeinen, für alle offenen) Kirche noch entgegen? So fragt das lyrische Ich in der dritten Strophe von TemB 7: »Wem noch vertrauen? / Der Metapher namens Gott? / Seiner Katholischen Kirche?« Stimme ich in das schuldvergessene Beten ein, das in der elften und letzten zwölften Strophe dieses Gedichts die Vaterunser-Bitte pervertiert? »Und vergib uns unsere / Schulden, mit denen wir spätere / Generationen fliehen, // Ertränken und verdursten / Lassen. Und gib uns / Unser’ täglich’ Party!« Inwiefern entsprechen diese Bitten auf paradoxe Weise unserem widersprüchlichen Verhalten? Beide Gedichte sind politisch engagiert und fordern zu Stellungnahmen heraus. Schüler:innen der Oberstufe können sie miteinander vergleichen, sie rhetorisch analysieren und begründen, welches ihnen ggf. besser gefällt.7

3 4 5 6 7

CZ 3,7; CZ 12,2; CZ 4,11; RnC 2,15; CZ 5,6; CZ 3,1; CZ 9,21. CZ 6,10.14; CZ 11,2.6.12; CZ 12,6; RnC 3,13; CZ 5,14.15; CZ 8,18; CZ 9,1. CZ 8,6.9; CZ 12,5; RnC 2,17. CZ 9,18; CZ 10,6; CZ 11,16; CZ 1,6; CZ 8,1; CZ 2,10; CZ 5,12; RnC 3,8; CZ 12,3. Die beiden Gedicht-Texte habe ich mit Arbeitsaufträgen als Kopiervorlage (KV 2) für den reli-­ethik-blog des Klett-Verlages vorbereitet; dort auch eine rhetorische Analyse der Ge-

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Norbert Brieden

2 Die Vaterunser-Adaption im neunten Corona-Zyklus Die Arbeit im Workshop begannen wir mit der Suche nach dem ersten Wort des Gedichts (1), seiner Elementarisierung (2) und den Fragen, die sich daraus für die kognitive Aktivierung ergaben, orientiert an den R-A-D-E-V-Postulaten von Rudolf Englert und Sebastian Eck. Das Akronym steht für die Stichworte Relevanz, Anspruch, Dramaturgie, Expertise und Vernetzung (3). 2.1 Kognitive Aktivierung durch Füllen der Lücke beim Gedichtanfang Das achtzeilige Gedicht CZ 9,18 endet mit den folgenden sechs Versen: »Dein Reichtum komme/Dein Influencing geschehe/Im Virtuellen wie im Analogen/ Unsere täglichen Streamings/Gib uns heute und vergib/Uns unsere Schulden.« Statt des göttlichen Willens im Himmel und auf Erden soll »Influencing« geschehen – virtuell (himmlisch?) und analog (irdisch?). Die Bitte um das tägliche Brot wird ersetzt durch die »täglichen Streamings«, die es erlauben, die Daten aus der Cloud für den einzelnen verfügbar zu machen. Die Vergebungsbitte erscheint, analog zur Bitte um den Reichtum, auf den Erlass materieller »Schulden« reduziert; an das Verzeihen persönlicher Schuld im Sinne eines schädigenden Fehlverhaltens, die ein analoges Handeln an »unseren Schuldigern« provozieren würde, ist ebenso wenig gedacht wie an die anthropologischen Konstanten, zum Bösen versucht zu sein und daher der Erlösung vom Bösen zu bedürfen. Die in den Workshops erprobten Lückenfüller verbanden die gegenwärtige Lebenswelt mit dem Wissen um das Vaterunser-Gebet: »Biontec« steht als Markenname für die Impfung gegen Corona-Viren, mit der wir die Pandemie zu überwinden hoffen; »Drosten unser« greift die Popularität eines Virenforschers auf, der mit seinen zu streamenden Podcasts für viele Menschen zur wichtigsten Informationsquelle bezüglich des Pandemiegeschehens wurde. »Netflix« steht für ein beliebtes Streaming-Portal, das Unterhaltung und damit Ablenkung von der Krise verspricht; »Facebook unser« für ein verbreitetes soziales Medium, in dem sich viele Menschen darstellen und miteinander kommunizieren. »Cathy Hummels« ist eine bekannte Influencerin auf Instagram, die mit ihrem Programm zu Depression im Jugendalter unter dem Dach der Stiftung Deutsche Depressionshilfe Jugendliche über ein immer noch tabuisiertes Thema aufklärt. dichte (KV 3) und Links zu Gedichten für die Sekundarstufe 1 mit Arbeitsaufgaben (KV 1): Vgl. Brieden, Norbert, Corona.

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Einen passenden Ausdruck für die Lücke zu finden setzt voraus, sich kognitiv mit der Umgebung der Lücke, hier also der Vaterunser-Adaption, zu befassen. Gleichzeitig steigert der Austausch über verschiedene Lösungsmöglichkeiten die Spannung auf eine Auflösung. Dabei geht es nicht darum, die »richtige« Lösung zu erraten – was in den drei Lerngruppen, mit denen ich diese Methode an dem vorliegenden Gedicht erprobte, auch nicht erfolgte. Denn erstens bietet der Diskurs darüber, welches Wort aus welchen Gründen gut oder weniger gut passt, spielerische Gelegenheiten, das Gedicht zu analysieren. Und zweitens weisen Lösungen wie »Facebook unser« oder »Cathy Hummels« auf gegenwärtige Erfahrungen hin, die über die originale Füllung eher nicht thematisiert worden wären. »Handyunser in der Cloud« – so lautet der erste Vers in Pohlmeyers Fassung. Und so kann im Vergleich mit dem Gebetsbeginn »Vaterunser im Himmel« darüber nachgedacht werden, welche Funktion das »Handyunser« hat. Viele fühlen sich verloren, wenn ihr Smartphone verloren geht oder nicht mehr funktioniert. Schließlich ist es die Schnittstelle zur Welt, die uns überall und jederzeit verbindet mit allen Informationen, die abrufbar sind, und die uns für andere und andere für uns erreichbar sein lässt, sofern die anderen ebenfalls ein Handy besitzen und unseren Anruf entgegennehmen. Ein wesentliches Merkmal des ausgewählten Gedichts ist der intertextuelle Bezug zum Vaterunser-Gebet. Inwiefern setzt eine adäquate Rezeption des Gedichts die Kenntnis des Vaterunsers voraus? Eine Elementarisierung des Gedichts entsprechend der fünf Dimensionen des Elementarisierungsmodells versucht diese Frage zu beantworten, indem sie die Gedichtanalyse vertieft. 2.2 Elementarisierung der Vaterunser-Adaption Stellt man sich die fünf Dimensionen der Elementarisierung als die fünf Flächen einer Pyramide vor,8 dann sind die beiden Flächen im Vordergrund die elementaren Strukturen (auf der linken Seite) und die elementaren Erfahrungen (auf der rechten Seite). Diese beiden Dimensionen sind schnell wahrzunehmen: Die elementaren Strukturen betreffen den elementaren Kern des Mediums, der in einfacher Sprache resümiert werden kann. Die Bezugswissenschaft dafür ist in erster Linie die Theologie, wobei es nicht darum geht, wissenschaftliche Erkenntnisse darzustellen, sondern sie von vornherein im Lichte der »Interessen und Orientierungsbedürfnisse« von Schüler:innen zu bedenken.9 Auf unser 8 Vgl. Göllner, Reinhard/Brieden, Norbert/Kalloch, Christina, Emmaus, 174–180. 9 Vgl. Schweitzer, Friedrich, Elementarisierung, 355.

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Norbert Brieden

Medium bezogen ist der intertextuelle Bezug zum Vaterunser in der matthäischen Version zentral, reduziert auf die ersten fünf Bitten (vgl. Mt 6,9–12a): Das »Handy« übernimmt die Rolle Gottes, sein »Markenname« wird »geheiligt«, es verspricht »Reichtum« und universalen Einfluss. Das tägliche Brot ist ersetzt durch die tägliche Kommunikation via »Streamings«, und die Vergebungsbitte wird analog zum Reichtum auf die materiellen »Schulden« begrenzt.10 Die Dimension der elementaren Erfahrungen bedeutet, dass für gelingendes Lernen eine Verbindung zur Lebenswelt der Schüler:innen unverzichtbar ist. »Darauf verweist heute auch das aus der pädagogischen Psychologie stammende Kriterium der kognitiven Aktivierung. Ein in diesem Sinne erfahrungs-, schüleroder lebensweltorientierter Unterricht muss deshalb genau prüfen, wo bei einem Thema bestimmte Erfahrungen der Schüler:innen angesprochen werden oder angesprochen sein könnten.«11 Wichtige Quellen dafür sind neben unmittelbaren Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen die Religionspädagogik und die empirische Sozialisationsforschung.12 Bezogen auf unser Gedicht: Die Hälfte der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren, fast alle Jugendlichen zwischen 12 und 19 besitzen heute ein Smartphone,13 das für sie als Schnittstelle zur Welt von unschätzbarer Bedeutung ist. Während der Lockdowns in der Corona-­ Pandemie sind aufgrund der Kontaktbeschränkungen die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation noch wichtiger geworden; so betrug etwa bei den Jugendlichen die tägliche Internet-Nutzung im Corona-Jahr 2020 gemäß Selbsteinschätzung 258 Minuten und lag damit um 43 Minuten höher als 2019; 2010 lag die tägliche Nutzungszeit noch bei 138 Minuten.14 Der Clou des Elementarisierungsmodells besteht darin, elementare Strukturen und elementare Erfahrungen von Anfang an miteinander zu verbinden. Um diese Verbindung besser zu verstehen, geht es nun um die beiden Flächen im Hintergrund der Pyramide: die elementaren Wahrheiten und die elementaren Zugänge, zu deren Erhellung es eines größeren Aufwandes bedarf. 10 Vgl. TemB 7 (s. o. 1.) fasst die Schulden-Vergebungs-Bitte weiter, insofern es die Schulden auf die Folgen des Klimawandels bezieht: »Und vergib uns unsere/Schulden, mit denen wir spätere/Generationen fliehen,//Ertränken und verdursten/Lassen.« Der strophenübergreifende Zeilensprung deutet an, dass wir in der Produktion von Fluchtursachen zugleich auch vor der Verantwortung für spätere Generationen »fliehen«. 11 Schweitzer, Friedrich, Elementarisierung, 356. 12 Vgl. ebd., 358. 13 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.), KIM 2020, 35: »Die Hälfte der Kinder besitzt selbst ein eigenes Handy/Smartphone. … Im Durchschnitt bekommen die Kinder mit neun Jahren ihr erstes eigenes Handy bzw. Smartphone.«; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.), JIM 2020, 8: »94 Prozent der Jugendlichen haben ein eigenes Smartphone«. 14 Vgl. ebd., 33.

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Die Zugänge wurden von Karl Ernst Nipkow zunächst als elementare Anfänge bezeichnet, um die zeitliche Angemessenheit zu betonen.15 Weil der Begriff der Anfänge »Gefahr läuft, stark mit (früher) Kindheit assoziiert zu werden«, setzte sich der Begriff der elementaren Zugänge durch, um das Interesse an einem lebenslangen Lernen zu betonen und »in den unterschiedlichsten Lebensphasen nach den entwicklungspsychologischen Voraussetzungen zu fragen«.16 Sie stehen hinter den elementaren Erfahrungen (auf der rechten Person-Seite der Pyramide), denn die Zugänge sind durch Erfahrungen insofern geprägt, als sie sich bereits im Habitus der einzelnen Persönlichkeit niedergeschlagen haben. Dazu zählen etwa der Stand der Denkentwicklung (Piaget) und die Form des moralischen (Kohlberg) oder religiösen Urteils (Oser/Gmünder). Bezogen auf unser Gedicht: Inwieweit kennen die Schüler:innen das Vaterunser? Wie stehen sie zu der religiösen Praktik des Betens? Welchen Grad von Sicherheit haben sie im Umgang mit Gedichten erworben? etc. Nur wenn die Schüler:innen einen Zugang zum Gedicht haben, es für sie auf irgendeine Weise verständlich wird, können sie mit dem Gedicht auch für sie tragfähige, elementare Wahrheiten verbinden (im Hintergrund der elementaren Struktur auf der linken Sach-Seite der Pyramide angesiedelt). Für Schweitzer sind die elementaren Wahrheiten ein zentrales Merkmal des konfessionellen Religionsunterrichts, »weil hier existentielle Fragen aufgenommen werden können und … die Lehrkraft dabei auch selbst Position beziehen darf«.17 Auf das Gedicht bezogen könnten die Bedeutungszuschreibungen in Bezug auf Handys diskutiert werden: Welche Möglichkeiten von Einfluss, Macht und Kommunikation sind mit dem »Handyunser« verbunden? Inwiefern hat es gar eine religiöse Bedeutung, die an Gottes Stelle tritt und im Sinne des ersten Gebots kritisch zu beleuchten wäre? Inwieweit steht Virtuelles und Analoges für die Gesamtheit der Welt im Himmel und auf Erden? Alle diese Fragen zeigen zweierlei: Erstens liegen die elementaren Wahrheiten nicht als zu hebender Schatz im Gedicht verborgen, sondern sie entwickeln sich im Prozess der (gemeinsamen) Auseinandersetzung. Und zweitens wird die existenzielle Bedeutung der im Gedicht aufgeworfenen Fragen erst durch die Differenz mit seiner religiösen Vorlage sichtbar. Das Gedicht setzt zu seinem Verständnis ein religiöses Grundwissen über die Sprachform des Gebets im Allgemeinen und des Vaterunsers im Besonderen voraus. Bestimmte kulturelle Artefakte – wie

15 Vgl. Schnitzler, Manfred, Elementarisierung, 149–176. 16 Ebd., 207. 17 Schweitzer, Friedrich, Elementarisierung, 356.

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diese Vaterunser-Variante Pohlmeyers – können nur von religiös zumindest rudimentär gebildeten Menschen adäquat verstanden werden. Die fünfte Dimension der elementaren Lernformen bildet die Basisfläche der Pyramide: Ohne eine wie auch immer geartete methodische Heranführung an das Medium geht es nicht, sei es durch Vorlesen, durch ein Arbeitsblatt, durch das Füllen der Leerstelle etc. Die fünfte Dimension wurde ab 1995 durch Friedrich Schweitzer dem Elementarisierungsmodell hinzugefügt, »um die Elemen­ tarisierung bis in die konkreten Unterrichtsschritte hinein zu durchdenken und mit viel didaktischer Kreativität möglichst interessante Wege der Aneignung zu eröffnen«.18 Hier geht es darum, Methoden zu wählen, die den Inhalten und Zielen des Unterrichts entsprechen. »Poetische Texte beispielsweise lassen sich im Unterricht nur so angemessen behandeln, dass auch Raum für eigene poetische Formen der Rezeption und Expression bestehen.«19 Das Füllen der Lücke im Gedicht kann hier nur ein Anfang sein, weitere Lernwege wären neben einem Experimentieren mit dem Gedichtvortrag oder dem Vergleichen mit dem originalen Vaterunser auch die Aufgabe, eine eigene Verfremdung des Vaterunsers zu verfassen. Deutlich wird, dass die geeignete Aufgabenstellung ein zentrales Mittel zur kognitiven Aktivierung ist. Dementsprechend versteht man bildungstheoretisch »unter kognitiver Aktivierung ein bestimmtes Lernarrangement, das den Schüler:innen erlaubt, in eine produktive Auseinandersetzung mit den Inhalten und Prinzipien eines Unterrichtsfachs zu gelangen und sich auf diese Weise die verhandelten Sachverhalte individuell anzueignen«.20 Wichtig ist es, die fünf Dimensionen der Elementarisierung immer in ihrem Zusammenhang zu betrachten; z. B. ergibt sich eine elementare Wahrheit für den:die Einzelne:n immer nur aus dem Zusammenspiel aller Dimensionen: Die Verfremdung des Vaterunsers führt zu einer Gewissheit (Sachseite) nur dann, wenn sie an die je eigene Erfahrung anknüpft und angesichts ihrer entwicklungspsychologischen Passung einen Zugang zu dem:der Einzelnen findet (Personseite) – über Lernwege, die dem konkreten Inhalt und den jeweiligen Zielen des Religionsunterrichts entsprechen. Ordnet man mit Schweitzer den Elementarisierungsdimensionen in ihnen zu erwerbende Kompetenzen zu, zeigt sich unmittelbar die Vernetzung jener Dimensionen, die in der Pyramide einander gegenüberliegen: Strukturen (Sachkompetenz) und Zugänge (Urteilskompetenz) sowie Erfahrungen (Sprach- und Selbstkompetenz) und Wahrheiten (Orientie-

18 Schnitzler, Manfred, Elementarisierung, 236; vgl. ebd., 231–249. 19 Schweitzer, Friedrich, Elementarisierung, 357. 20 Riegel, Ulrich/Leven, Eva, Kognitive Aktivierung, 183.

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rungs- und Dialogkompetenz) – keine Urteils- ohne Sachkompetenz und keine dialogische Orientierungs- ohne Sprach- und Selbstkompetenz. Dass alle diese Kompetenzen eine Methodenkompetenz (Lernformen) voraussetzen und ausbilden mit dem Ziel, Schüler:innen auch zu methodischer Mündigkeit zu führen, mag selbstverständlich erscheinen, ist aber doch zu betonen.21 Diese wechselseitige Durchdringung der Elementarisierungsdimensionen wird im Folgenden noch deutlicher, indem sie auf die RADEVPostulate bezogen wird. 2.3 Analyse der Vaterunser-Adaption entsprechend der RADEV-Postulate Rudolf Englert eruierte mit seiner religionspädagogischen Forschungsgruppe Essen (rpfe) durch eine Analyse von 100 transkribierten Religionsunterrichtsstunden, dass der Religionsunterricht kognitiv zu wenig herausfordere. Eine zentrale Stellschraube sieht er in der theologischen Expertise der Lehrkräfte: »Eine wichtige Voraussetzung für eine hohe kognitive Aktivierungsstärke des Religionsunterrichts ist die theologische Expertise der Lehrer/innen. Nur fachlich wirklich gut beschlagene Religionslehrer/innen sind imstande, das Potenzial von Schülerfragen zu erkennen, in einem Unterrichtsgespräch sich ergebende Vertiefungschancen spontan zu nutzen oder auf weiterführende Perspektiven aufmerksam zu machen usw. All dies geschieht in dem von uns analysierten Religionsunterricht insgesamt zu wenig. Auch deshalb kommen Schüler/innen zu selten in Situationen, in denen sie mit den Schwachpunkten ihrer Argumentation oder mit den möglichen Konsequenzen ihrer Einstellungen konfrontiert werden.«22 Mit seiner Forschungsgruppe hat Englert ausgehend von diesem empirischen Befund seine Lehrstückdidaktik, die der kognitiven Aktivierung dient,23 einem Praxistest unterworfen: Fünf Lehrstücke wurden ausgearbeitet, durchgeführt, aufgezeichnet, transkribiert und anhand von fünf Postulaten analysiert, für die das Akronym R-A-D-E-V steht,24 das ich im Folgenden direkt mit den fünf Dimensionen des Elementarisierungsmodells und dem Gedichtbeispiel verbinde: R steht für Relevanz, weil die Schüler:innen oft nicht wissen, welche Bedeutung die religionsunterrichtlichen Themen für ihr Leben haben. Um 21 22 23 24

Vgl. ebd., 359. Englert, Rudolf/Hennecke, Elisabeth/Kämmerling, Markus, Innenansichten, 232. Vgl. Englert, Rudolf, Religion. Vgl. Englert, Rudolf/Eck, Sebastian, R-A-D-E-V, 14–23.

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eine solche Relevanz, die Englert und Eck mit den Stichworten Anschlussfähigkeit, Klärungsbedürftigkeit und Authentizität der Fragen von Schüler:innen verbinden, geht es bei der Dimension der elementaren Erfahrung. Bezüglich des Gedichts kann seine Relevanz für Jugendliche darin liegen, ihre Medienbildung zu fördern, wenn es sie dazu anregt, den eigenen Medienkonsum bzw. die Bedeutung digitaler Medien in der Gesellschaft kritisch zu reflektieren. A steht für Anspruchsniveau, das den elementaren Zugängen der Schüler:innen entsprechen sollte, im beobachteten Religionsunterricht aber eher zu gering als zu hoch ausfiel: Die Schüler:innen wurden also häufiger unter- als überfordert. Englert und Eck verbinden dieses Anspruchsniveau mit den Stichworten Mehrperspektivität, Dialogizität und der verwendeten Aufgabenkomplexität. Der Anspruch des Gedichts besteht darin, die vom Vaterunser übernommene Gebetsstruktur auf das Thema der Smartphone-Nutzung zu übertragen, was bei den Schüler:innen ein gewisses Vertraut-Sein mit dem Vaterunser und der mit ihm verbundenen Gebetspraktik voraussetzt, also Mehrperspektivität und Dialogizität herausfordert. D steht für Dramaturgie, insofern häufig ein fehlender Spannungsbogen beobachtet wurde, das Lernarrangement im Sinne elementarer Lernformen also nicht günstig war, um eine kognitive Aktivierung herbeizuführen. Englert und Eck verbinden sie mit den Stichworten Platzierung, Fokus und Steuerung. Um diesen Faktor für den Einsatz unseres Mediums zu beurteilen, wäre seine Einbettung in den thematischen Zusammenhang zu beachten. Wenn es beispielsweise um die Erfahrungen mit der Corona-Krise geht, könnte ein Einstieg über den Titel und die ersten drei Strophen eines Pohlmeyer-Gedichts erfolgen: »Corona // Zwingt / Uns / Hinter Masken // Reißt sie zugleich / Der gesamten / Gesellschaft // Vom / Gesicht …« (CZ 9,1). Hier wird die Paradoxie auf den Punkt gebracht, wie die Maskenpflicht bisher verborgene Charakteristika unserer Gesellschaft zum Vorschein brachte: im Negativen der Pflegenotstand sowie die ungerechte Lohnpolitik gerade im Blick auf »systemrelevante Berufe«, die egoistische Mentalität einiger Politiker, sich durch »Maskendeals« an einer Notlage zu bereichern, sowie die durch Hamsterkäufe erzeugten leeren Regale bezüglich Artikel des täglichen Bedarfs etc.; aber auch im Positiven eine wiederentdeckte Solidarität untereinander, ein größeres Spendenaufkommen etc. Nach der Arbeit an der Vaterunser-Adaption könnte noch auf das »P.S.« des Corona-Gedichts CZ 9,1 eingegangen werden: »PS: Vielleicht könnte ich ja mein / Gehirn in eine Cloud hochladen? / Dann wäre ich für immer und ewig / Unsterblich. Dann können mich / Diese Viren mal! / (Oh, war das eben böse.) / Dann und nur dann. / Bis jemand den Stecker zieht. / Oder die Sonne sich ausdehnt.« Mit diesen Versen können Schüler:innen digitale Unsterblichkeits-Verheißungen kritisch reflektieren.

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E steht für die Expertise der Lehrkräfte, die fruchtbare Momente im Unterricht häufig nicht nutzen konnten, weil ihnen hilfreiche Impulse bzw. Differenzierungen, die der elementaren Struktur der gewählten Inhalte in Bezug auf die Fragen der Schüler:innen entsprachen, nicht zur Verfügung standen. Englert und Eck verbinden diese Expertise mit den Stichworten Materialpassung, Strukturierung und inhaltliche Substantiierung. Bezogen auf unser Gedicht könnte beispielsweise durch den Vergleich mit dem Original die Frage entstehen, wie die in der Adaption ausgelassene Bitte »Und führe uns nicht in Versuchung« zu verstehen ist. Inwiefern spricht daraus ein Gottesbild, das Gott als Ursache der Verführung zum Bösen begreift? Und wie steht diese sechste Bitte zur siebten Bitte um Erlösung vom Bösen? Empirische Beobachtungen aus Unterrichtsvideos weisen darauf hin, dass kognitiv aktivierende Momente häufig nicht durch das geplante Lernarrangement entstehen, sondern eher durch spontane Fragen, die Lehrkräfte überfordern können. In einer Unterrichtssequenz, die Wissen zum historischen Jesus festigen sollte, kommt es beispielsweise zu unvorhergesehenen Fragen bezüglich der Jungfrauengeburt und der jüdischen Perspektive, die Jesus nicht als Messias anerkennt. Die Lehrkraft verweist hier auf spätere Stunden: »Für die Thematik der kognitiven Aktivierung sind zwei Beobachtungen aus dieser Sequenz wesentlich. Erstens ändert sich die Atmosphäre im Klassenzimmer, sobald die Lernenden die avisierte Unterrichtsroutine durchbrechen. … Offensichtlich haben beide Fragen, die hier dokumentiert sind, die Lerngruppe kognitiv aktiviert. In beiden Fällen war es aber keine vom Lernarrangement beabsichtigte Aktivierung, wie es das bildungswissenschaftliche Konzept vorsieht. Zweitens sinkt das Niveau kognitiver Aktivierung in der Lerngruppe abrupt, sobald die Lehrperson die Fragen der/des Lernenden nicht zulässt, sondern zum vorherigen Unterrichtsgang zurückführt.«25 V steht für die Vernetzung, die erforderlich gewesen wäre, um einen entscheidenden Lernfortschritt bei den Schüler:innen zu erreichen; dementsprechend verbinden Englert und Eck diesen Faktor mit den Stichworten Lernprogression und Ergebnisbilanzierung. Meines Erachtens steht dieser Faktor in enger Verbindung zur Dimension der elementaren Wahrheit, insofern in ihr die 25 Riegel, Ulrich/Leven, Eva, Kognitive Aktivierung, 191; zur didaktischen Bewertung stellen Riegel und Leven später einschränkend fest: »Allerdings gibt es auch gute didaktische Gründe für die oben gezeigte Reaktion unserer Lehrperson, die zum gegebenen Anlass ein solches Gespräch verweigert, weil sie zu einem späteren Zeitpunkt in der Unterrichtsreihe auf diese Thematik zu sprechen kommen will. Wie stark man einen angemessenen Umgang mit von Lernenden induzierter kognitiver Aktivierung macht, ist somit keine empirische Frage mehr, sondern hängt vom eigenen Unterrichtsideal ab« (ebd., 193 f.).

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vier anderen Dimensionen kulminieren. In der Bearbeitung des Gedichts könnte eine Vernetzung mit anderen Vaterunser-Adaptionen erfolgen, etwa mit derjenigen von Rose Ausländer, die angesichts der Erfahrungen unaussprechlichen Leids durch die Shoah Gott seinen Vaternamen zurückgibt (entstanden 1981) oder dem »Gegengebet« von Robert Schneider,26 der in der Anrede auf Augenhöhe »Mein Bruder« und mit der Bitte »Leiser gehe dein Name« anbetet »gegen die vollmundige Verzweckung des göttlichen Namens«.27 Georg Langenhorst schlägt vor, zwei Adaptionen ineinanderzuflechten und sie von Schüler:innen wieder entflechten zu lassen.28 Sie könnten auch aus Textfragmenten der drei Adaptionen und dem Original eine neue Variante gestalten und im wechselseitigen Vortrag ihrer individuellen Gestaltungen Ergebnisse der Arbeit am Vaterunser-Gebet bilanzieren. Eine weitere Vernetzung bietet sich an mit dem Gedicht »Das Handy« von Ernesto Cardenal. Der nicaraguanische Autor weist in diesem Gedicht auf den Rohstoff »Coltan« hin, das im Kongo durch ausbeuterische Kinderarbeit gewonnen wird.29 Er stellt das Sprechen und Lachen bei der Handynutzung unserem Unwissen über die Produktionsbedingungen von Handys gegenüber und schafft dadurch eine Leerstelle, die zum sozialethischen Nachdenken anregt.30 Englert und Eck haben ihre RADEV-Postulate mit den sie konkretisierenden Stichworten in einem Fragenkatalog gebündelt, der als Hilfsmittel zur Reflexion durchgeführter Unterrichtseinheiten im Blick auf deren (un)genutzte Chancen zur kognitiven Aktivierung taugt.31

3 Schlussbemerkungen Ein weiteres Gedicht Pohlmeyers beschreibt die für viele befreiende Erfahrung, sich nach längerer Zeit einmal wieder die Haare schneiden zu lassen (CZ 3,1): »Gestern zum Friseur. / Beim Warten saß mein Körper / So, dass die vielen Spiegel vor / Und hinter mir meinen / Rücken mich sehen ließen und wie ich / Eine Maske trage. Und das wiederum / Zahllos gespiegelt. Und sah / Mich gleich26 27 28 29 30

Vgl. Langenhorst, Georg, Gedichte, 142–149. Ebd., 146. Vgl. ebd., 149. Vgl. Cardenal, Ernesto, Himmel, 7–9. Vgl. Langenhorst, Annegret, Ernesto Cardenal. Der Stil Pohlmeyers ist in mancher Hinsicht dem dokumentarischen Stil Cardenals ähnlich, den dieser als »exteriorismo« bezeichnet (ebd., 162). Eine genauere Stilanalyse würde den Rahmen des Beitrags sprengen. 31 Vgl. Englert, Rudolf/Eck, Sebastian, R-A-D-E-V, 32.

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zeitig, wie ich mich / Alltäglich nie sehen kann. / Und vervielfältigt durch Optik / ­­ Bilder auf Bilder / In Bildern: / Machen das nicht auch meine / Gedichte mit meiner Seele?« Im Workshop wurde die Meinung vertreten, dieses Gedicht sei schon für das Grundschulalter interessant.32 Ein Vorschlag für eine elementare Lernform war, die Schüler:innen das Gedicht nach der Hälfte (7. Vers »Und sah«) weiterschreiben zu lassen. Was sehen sie in den vielen Spiegeln beim Friseur? Was bedeutet es, sich nach längerer Zeit in den zahllosen Spiegelungen zu spiegeln? Gedichte verdichten Erfahrungen. Wie sich die Seele des Dichters im lyrischen Ich seiner Gedichte spiegelt, so provozieren geeignete Lernarrangements ggf. ästhetische Erfahrungen mit den Gedichten Pohlmeyers und aktivieren auf diese Weise die Schüler:innen kognitiv dazu, ihre Krisenerfahrungen zu reflektieren: Sei es durch die Textspiegelung der Vaterunser-Adaption, der Sprachsensibilisierung bei der paradoxen Demaskierung durch Maskenzwang, der Wirklichkeitserschließung im Bedenken der je eigenen Friseurerfahrung, der Erfahrungserweiterung hinsichtlich der möglichen Bezugnahmen auf Gott im leisen bzw. prekären Bittgebet oder der Möglichkeitsandeutung im Ausloten einer Kontaktaufnahme mit Gott jenseits aller Kontaktbeschränkungen (vgl. z. B. CZ 5,12 »An Gott mailen«).33 Die transzendierende Kraft der poetischen Sprache zeigt sich in vielen Gedichten Pohlmeyers. Sich mit dessen Werk zur Bearbeitung nicht nur der Corona-Krise zu befassen, kann die religiöse Bildsamkeit auch junger Menschen verschiedener Altersstufen weiterentwickeln. Zugleich setzen viele seiner Gedichte Grundkenntnisse des christlichen Glaubens voraus. Ob und wie mit ihnen im Sinne der RADEV-Postulate gearbeitet werden kann, wäre empirisch in der religionsunterrichtlichen Praxis genauer zu erforschen. Schließen möchte ich mit den Hinweisen Pohlmeyers zu seinem zwölften Corona-Zyklus in seinem poetologischen »poetischen Werkstattbericht«. Diese Überlegungen markieren für mich eindrucksvoll den Prozess des Lebens mit und durch Poesie: »Ich dachte in letzter Zeit viel über nur drei Wörter aus einer Elegie von Tibull (I, 5) nach: mihi … vitam … fingebam: Wie das übersetzen? Mit dem iterativen Aspekt des lateinischen Imperfekts? Ich stellte mir vor, erdichtete mir, fingierte für mich immer wieder ein Leben? War das nicht ein Leitmotiv der Corona-Zeit? Das Leben davor, ein Leben danach und dies Leben mittendrin, welches uns aus Notwendigkeit so vieler Begegnungen und Möglichkeiten beraubte, dass manchmal nur – ja, was? Nur Träumen blieb? 32 Vgl. Cramer, Gabriele, Wörter. 33 Vgl. Langenhorst, Georg, Literarische Texte, 57–64.

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Norbert Brieden

Fiktionen, Imaginationen, Gedichte: als Möglichkeitsräume von nicht stattfindenden Begegnungen, versäumten Gelegenheiten, eines Lebens, das hätte anders gelebt werden können oder anders gelebt werden würde usw.« Literatur Brieden, Norbert, Corona und der Krieg – eine poetische Krisenreflexion, in: reli-ethik-blog.de, Religion, Ethik und Philosophie bei Klett, https://reli-ethik-blog.de/corona-und-der-kriegeine-poetische-krisenreflexion/, veröffentlicht am 19. Mai 2022. Cardenal, Ernesto, Etwas, das im Himmel wohnt. Neue Gedichte, aus dem Spanischen von Lutz Kliche, Wuppertal 2014. Cramer, Gabriele, Ich dreh die Wörter einfach um. Gedichte im Religionsunterricht, Ein Leseund Methodenbuch für Kinder von 7 bis 12, München 2012. Englert, Rudolf, Religion gibt zu denken. Eine Religionsdidaktik in 19 Lehrstücken, München 2013. –/Eck, Sebastian, R-A-D-E-V. Religionsunterrichtliche Lehrstücke im Praxistest (= Religionspädagogische Bildungsforschung 7), Bad Heilbrunn 2021. Englert, Rudolf/Hennecke, Elisabeth/Kämmerling, Markus, Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele, Analysen, Konsequenzen, München 20143 Göllner, Reinhard/Brieden, Norbert/Kalloch, Christina, Emmaus. Auferstehung heute eröffnen. Elementarisierung – Kompetenzorientierung – Kindertheologie (= Bibel – Schule – Leben 8), Berlin 2010. Langenhorst, Annegret, Ernesto Cardenal, Der alte Dichter und die Gegenwart. Von unbequemen Wahrheiten und liebevollen Visionen, in: Langenhorst, Georg/Willebrand, Eva (Hg.), Literatur auf Gottes Spuren. Religiöses Lernen mit literarischen Texten des 21. Jahrhunderts, Ostfildern 2017, 159–169. Langenhorst, Georg, Gedichte zur Gottesfrage. Texte – Interpretationen – Methoden. Ein Werkbuch für Schule und Gemeinden, München 2003. –, Literarische Texte im Religionsunterricht. Ein Handbuch für die Praxis, Freiburg i. Br. 2011. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.), JIM-Studie 2020. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart, https://www. mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2020/JIM-Studie-2020_Web_final.pdf, Mai 2021. –, KIM-Studie 2020. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6bis 13-Jähriger, Stuttgart, https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2020/KIM-Studie2020_WEB_final.pdf, Mai 2021. Pohlmeyer, Markus, Gedichte, in: http://culturmag.de/?s=markus+pohlmeyer. Riegel, Ulrich/Leven, Eva, Videobasierte Unterrichtsanalyse am Beispiel kognitiver Aktivierung, in: Ders./Schambeck, Mirjam (Hg.), Was im Religionsunterricht so läuft. Wege und Ergebnisse religionspädagogischer Unterrichtsforschung, Freiburg i. Br. 2020, 179–195. Schnitzler, Manfred, Elementarisierung – Bedeutung eines Unterrichtsprinzips, NeukirchenVluyn 2008. Schweitzer, Friedrich, VIII.2 Elementarisierung, in: Kropač, Ulrich/Riegel, Ulrich (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 353–360. Alle Internetquellen wurden zuletzt im Juli 2022 überprüft.

AUSBLICK

Warum der Religionsunterricht gerade in Krisenzeiten unverzichtbar ist Mirjam Schambeck sf

Dass Krisen religionsproduktive Orte sein können, liegt in ihrer Natur. Krisen bringen bisherige Selbstverständlichkeiten ins Wanken und verstellen den Zugriff auf vertraute Sicherheiten. Damit rufen sie Fragen wach nach dem, was auch in ausweglosen Situationen hält und trägt, nach Sinn, nach Zukunft und nach Wegen, die aus den erfahrenen Ohnmachtssituationen heraus helfen. Dass im gegenwärtigen Dauermodus Krise religiöse Deutungen trotzdem kaum öffentlich zum Tragen kommen, Religionsvertreter:innen nicht als selbstverständliche Expert:innen in Krisengesprächen zu Rate gezogen werden, zeigt, wie sehr Theologie und Kirchen in die Belanglosigkeit abzurutschen drohen. Nun ist der Religionsunterricht nicht die Lösung all dieser Probleme. Als nach wie vor wichtiger Lernort kann er aber gerade in Krisenzeiten zum gesuchten und in der Schule unverzichtbaren Fach werden, Schüler:innen zu stärken und ihnen Möglichkeiten an die Hand zu geben, mit Krisen umgehen zu lernen. M. E. kann der Religionsunterricht sein Potenzial dann besonders gut zur Geltung bringen und sich als unverzichtbar in Krisenzeiten erweisen, … 1. …, wenn er sich als Ort des Denkens erweist. Krisen haben immer auch etwas Überwältigendes an sich. Die normalen Handlungs- und Denkmuster reichen nicht mehr aus, um die neue, als kritisch empfundene Situation zu meistern. Hier tut Nachdenken not. Wo der Religionsunterricht zu einem solchen Nachdenkort in der Schule wird, kann er Schüler:innen Wichtiges an die Hand geben. Er kann durch den Verweis auf Analyseinstrumente aus der philosophischen und theologischen Tradition Denkangebote machen, kritische Situationen zu erfassen, ihre desaströsen Momente zu entlarven und sie allein dadurch besser auf Distanz zu rücken. Eine solche Distanz aber ist ein erster Schritt, um aus der erfahrenen Ohmachtssituation wieder in die Position des aktiv Handelnden zu kommen.

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2. …, wenn er sich als Ort erweist, miteinander in Kontakt zu kommen und voneinander zu wissen. Kinder und Jugendliche erlebten gerade die Vereinzelung, die bestimmte CoronaMaßnahmen verursachten, als außerordentlich herausfordernd, ja in nicht wenigen Fällen als krankmachend. Wo es dem Religionsunterricht zusammen mit anderen Fächer gelingt, Unterrichtszeit als Raum zu gestalten, in dem sich die Schüler:innen begegnen können und miteinander in Kontakt kommen, trägt er dazu bei, das so wichtige Grundbedürfnis der Verbundenheit (connectedness) zu stärken und Kinder und Jugendliche wieder sicherer zu machen. 3. …, wenn er sich als Ort erweist, den großen Fragen nachzugehen. Insofern Krisen charakterisiert, dass Bisheriges und Selbstverständliches nicht mehr wie üblich zur Verfügung stehen, begleiten sie fast automatisch die großen Fragen: Warum ist das so? Was bedeutet das? Kommen wir hier ungeschoren raus? Der Religionsunterricht kann zum stärkenden Ort werden, wenn Schüler:innen erfahren, dass es wichtig ist, sich diesen großen Fragen zu stellen, wenn sie erleben, dass ihre eigenen Sorgen und Fragen ernst genommen werden, Erwachsene diese Unentscheidbarkeit der großen Fragen mit ihnen aushalten und Schüler:innen so erfahren, dass sie trotz der krisenhaften Situationen nicht alleine gelassen werden. 4. …, wenn der Religionsunterricht religiöse Deutungen zur Verfügung stellt, die Schüler:innen ahnen lassen, dass das Eigentliche und Wichtige des Lebens geschenkt wird. Hochmoderne Gesellschaften wie die unsere zeichnet es aus, durch effektive wirtschaftliche, politische und technische Strategien, Probleme schnell in den Griff zu bekommen und Krisen effektiv zu meistern. Die Corona-Krise hat dieses Verständnis des homo faber auf eine für alle sichtbare und spürbare Weise angekratzt. Nicht als Vertröstung, sondern als nachdenkenswerter Impuls können religiöse Deutungen eine Ahnung davon geben, dass Leben nicht in Machbarkeiten aufgeht, sondern vieles, ja Eigentliches und Wichtiges etwas Verdanktes ist. Wo es im Religionsunterrich gelingt, religiöse Deutungen so ins Spiel zu bringen, dass Schüler:innen deren Relevanz für ihre eigenen Überlegungen erkennen und in ihnen ein Angebot entdecken, bei ihren Fragen weiter zu kommen, hat der Religionsunterricht etwas vom Tiefsten seines Faches und damit der Gottesfrage gezeigt. In den unterschiedlichen Beiträgen dieses Bandes wurden sowohl Analysen angeboten, die momentanen Krisen zu deuten und einzuordnen, als auch kon-

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Mirjam Schambeck

krete Überlegungen getätigt, den Religionsunterricht als Lernort zu modellieren, der seinen Beitrag dazu leistet, Kinder und Jugendliche zu stärken, um Krisen nicht nur ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Dass damit keine Garantien formuliert sind, mit Krisen zukünftig besser umzugehen, ist klar. Zugleich haben die Erfahrungen gerade der letzten beiden Jahre gezeigt, dass allein in dieser kurzen Zeit bei (Religions-)Lehrer:innen und Schüler:innen ein großes Maß an Bewusstsein dafür gewachsen ist, was es in Krisen braucht, welche Grenzen es zu achten gilt, was geht und was auch nicht möglich ist. Hierzu Stärkendes und Ermutigendes wie auch sehr konkret Unterrichtspraktisches und Religionsdidaktisches zu bedenken zu geben, war ein Ziel dieses Buches. Es wäre schön, wenn es in diesem Sinne seine Leser:innen erreichte und weitere Diskussionen eröffnete.

VERZEICHNIS DER HERAUSGEBER:INNEN UND DER AUTOR:INNEN Herausgeber:innen Mirjam Schambeck sf, geb. 1966, Prof. Dr. theol. habil., Professorin für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts bis Sommer 2012 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., seit Herbst 2022 an der LMU München; Forschungsschwerpunkte: Interreligiöses Lernen, die Gottesfrage in der Postmoderne kommunizieren, Biblisches Lernen, das Verhältnis von Religion und Bildung, Zukunftsfragen des Religionsunterrichts, Konfessionslosigkeit und Religionsunterricht, antisemitismuskritische Bildung. Winfried Verburg, geb. 1958, Dr. theol., Leiter der Abteilung Schulen & Hochschulen im Bischöflichen Generalvikariat des Bistums Osnabrück. Arbeitsschwerpunkte: Weiterentwicklung des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts zum christlichen Religionsunterricht, Schulpastoral angesichts weltanschaulicher Pluralität in Schulen, (inter)religiöses Lernen an kirchlichen Schulen, Inklusion religiöser Differenz in Schulen, Antisemitismusprävention und -intervention.

Autor:innen Katrin Bederna, geb. 1968, Prof. Dr. theol., Professorin für Katholische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Forschungsschwerpunkte: Systematische Theologie in der ökologischen Krise (Anthropologie, Tiertheologie, Schöpfungstheologie, Nachhaltigkeit), Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, Mystische Theologie. Norbert Brieden, geb. 1968, Dr. theol. Dr. phil., Professor für Katechetik/Religionspädagogik und Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts an der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungsschwerpunkte: Konstruktivistische Religionspädagogik, Wissenschaftstheorie, Hochschuldidaktik, Bibeldidaktik, Literatur im Religionsunterricht, Schulbuchentwicklung. Andrea Dietzsch, geb. 1980, Prof. Dr. phil., Professorin für Religionspädagogik an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, Oberstudienrätin für Evangelische

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VERZEICHNIS DER HERAUSGEBER:INNEN UND DER AUTOR:INNEN

Religion und Geschichte an Gymnasien. Forschungsschwerpunkte: Qualitätskriterien im Religionsunterricht, Didaktik eines digitalen Religionsunterrichts, Zukunft des Religionsunterrichts. Matthias Drobinski, geb. 1964, Studium der Geschichte, katholischen Theologie und Germanistik in Gießen und Mainz, Journalistenschule Hamburg, Redakteur bei »Publik-Forum« und ab 1997 bei der Süddeutschen Zeitung, dort überwiegend zuständig für Kirchen und Religionsgemeinschaften. Seit Mai 2021 Reporter, seit September 2022 Chefredakteur bei Publik-Forum. Michael N. Ebertz, geb. 1953, Prof. Dr.rer.soc. habil., Dr. theol., Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Soziologie des Christentums, Pastoralsoziologie, Kultursoziologie, Eschatologie. Claudia Gärtner, geb. 1971, Prof. Dr. theol. habil., Professorin für Praktische Theologie an der TU Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Politische religiöse Bildung für Nachhaltige Entwicklung, Bilddidaktik, Fachdidaktische Unterrichts- und Entwicklungsforschung, religiöse Bildung in der Ganztagsschule. Hildegund Keul, geb. 1961, Prof. Dr. theol. habil., M. A., Leitung des DFGForschungsprojekts »Verwundbarkeiten« an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkt: Vulnerabilität, Vulneranz und Resilienz in Kirche und Gesellschaft. Benedikt Kranemann, geb. 1959, Prof. Dr. theol. habil., Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Fragestellungen und Methoden der Liturgiewissenschaft in Geschichte und Gegenwart, Liturgiegeschichte seit der Frühen Neuzeit, Liturgie und religiöser Pluralismus in heutiger Gesellschaft. Martina Mayer, geb. 1980, Dipl. Theol., OStRin am Staatlichen Beruflichen Schulzentrum Max-von-Pettenkofer Neuburg an der Donau. Lehrkraft für Deutsch, Katholische Religionslehre, Literatur- und Medienpädagogik sowie Theologie und Religionspädagogik. Julia Münch-Wirtz, geb. 1978, Dr. theol., Schuldekanin für Gymnasien, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik der Universität Tübingen und Gymnasiallehrerin. Forschungsschwerpunkte: Fachdidaktik des Religionsunterrichts in Theorie und Praxis (insbesondere Bibeldidaktik),

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Theodizee und aktuelle Krisen im religionspädagogischen Kontext, Religionsunterricht in konfessionell-kooperativer, ökumenischer und interreligiöser Perspektive, Beziehungsorientierte Religionspädagogik, Digitalisierung und religiöses Lernen. Karlheinz Ruhstorfer, geb. 1963, Prof. Dr. theol. habil, Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Forschungsschwerpunkte: Gotteslehre, Christologie, Gnadenlehre, Theologie der Philosophiegeschichte, theologische Zeitdiagnostik. Georg Steins, geb. 1959, Prof. Dr. theol., Professor für Biblische Theologie/Exegese des Alten Testaments am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Kanonhermeneutik und Kanonische Bibellektüre, zentrale Themen Biblischer Theologie wie Schöpfung, Wunder, Gewalt, Prophetie, Auslegung der Bücher Amos, Chronik, Daniel. Annika Sturm, geb. 1996, Absolventin des Master of Education und Doktorandin am Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Forschungsschwerpunkt: Lehr-LernBedingungen des digitalen Religionsunterrichts in Zeiten der Coronapandemie. Caroline Teschmer, geb. 1984, PD Dr. phil. habil., Vertretungsprofessorin für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Universität DuisburgEssen. Forschungsschwerpunkte: Körperlichkeit, Gender, Sexual- und Familienethische Fragestellungen, Werte-Bildung und ethisches Lernen, Konfessionellkooperatives Lernen im Religionsunterricht, Fachdidaktik des evangelischen Religionsunterrichts, (Jugend-)Seelsorge und Digitalisierung. Thamar Voss, geb. 1979, Prof. Dr., Professorin für Empirische Schul- und Unterrichtsentwicklungsforschung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Forschungsschwerpunkte: Erfassung und Bedeutung der professionellen Kompetenz von Lehrkräften, Erfolgreicher Berufseinstieg von Lehrkräften, Förderung der professionellen Kompetenz von Lehrkräften, Empirische Unterrichtsforschung. Jörg Wittwer, geb. 1975, Prof. Dr., Professor für Empirische Lehr-Lern-Forschung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Forschungsschwerpunkte: Lernen aus Beispielen, Metakognition und Textverstehen, Lernen und Autismus, Diagnostische Kompetenz von Lehrkräften.