Wie kommuniziert man Legitimation?: Herrschen, Regieren und Repräsentieren in Umbruchsituationen 9783737004282, 9783847104285, 9783847004288

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Wie kommuniziert man Legitimation?: Herrschen, Regieren und Repräsentieren in Umbruchsituationen
 9783737004282, 9783847104285, 9783847004288

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Schriften zur politischen Kommunikation

Band 21

Herausgegeben von Angela De Benedictis, Gustavo Corni, Brigitte Mazohl, Daniela Rando und Luise Schorn-Schütte

Astrid von Schlachta / Ellinor Forster / Kordula Schnegg (Hg.)

Wie kommuniziert man Legitimation? Herrschen, Regieren und Repräsentieren in Umbruchsituationen

Mit 3 Abbildungen

V& R unipress

Reihe des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert«

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0428-5 ISBN 978-3-8470-0428-8 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ausruf des neuen Churfürsten zu Würzburg am 1.ten Februar 1806. Abgedruckt in: Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 29. Mai 1806, S. [4]. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigen Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Maria Stopfner Wie kommuniziert man Legitimation? Sprachliche und außersprachliche Strategien der Politik im historischen Vergleich – eine linguistische Deutung historischen Arbeitens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Claudia Tiersch Der Freiheitsbegriff als Kategorie politischer Legitimation zwischen später Republik und früher Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Kordula Schnegg Hitzige Debatten nach Caesars Ermordung. Herrschaftslegitimation in fiktiven Reden bei Appian und Cassius Dio . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Volker Seresse »m¦riter et conserver le titre glorieux de TrÀs-Chr¦tien«. Politische Sprache und Herrschaftslegitimation zur Zeit der Hugenottenkriege . . .

73

Jörg Ludolph Die politische Sprache auf den Landtagen in Schleswig-Holstein (16. und 17. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Daniel Schläppi Legitimation in Zeiten der Revolution. Symbolnutzung und politische Konzepte im helvetischen Einheitsstaat (Schweiz 1798 – 1803) . . . . . . . 121

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Inhalt

Ellinor Forster »Legitimationsbedingungen« für den neuen Herrscher. Der Empfang Ferdinands III. von Toskana durch seine neuen Untertanen – Salzburg 1803 und Würzburg 1806 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Astrid von Schlachta Von unten nach oben – Das Regionale für das Ganze? Aspekte der regionalen politischen Kultur in Dithmarschen im 19. Jahrhundert . . . . 167 Frank Engehausen Herrschaftsjubiläen und Herrschergeburtstage im deutschen Kaiserreich

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Anke John Das Reich als »Organismus« oder »Mechanismus« – Bundesstaat und Einheitsstaat in der Imagination der Weimarer Zeitgenossen . . . . . . . 205 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Vorwort

Wie wird Macht legitimiert? Welcher Semantiken und Kommunikationsstrategien bedienten sich am politischen Diskurs teilnehmende Akteure und Akteurinnen? Wie veränderten sich Regulierungs- und Disziplinierungsprozesse im Zusammenhang mit Herrschaft in verschiedenen historischen Epochen und Kontexten und wie lassen sich diese erfassen? Diese und ähnliche Fragestellungen diskutierte eine internationale Gruppe von Forscherinnen und Forschern bei der Tagung »Wie kommuniziert man Legitimation? Herrschen, Regieren und Repräsentieren in Umbruchsituationen«, die vom 11. bis 13. Juni 2008 an der Universität Innsbruck stattfand. Die vorliegende Publikation greift die Leitlinien dieser Tagung auf. In den einzelnen Beiträgen wird das Augenmerk auf die politische Kommunikation in einem jeweils spezifischen historischen Kontext gelenkt (von der Antike bis ins 20. Jahrhundert). Dabei liegen dem »Politischen« unterschiedliche Definitionen zu Grunde, die einführend wissenschaftstheoretisch – in einer Zusammenführung sprachwissenschaftlicher und historischer Perspektiven – diskutiert werden. Mit diesem epochenübergreifenden und interdisziplinären Ansatz steht der Band im Kontext des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert«, das 2004 an den Universitäten Frankfurt, Innsbruck, Trient, Bologna und später auch Pavia eingerichtet wurde. Eng in Verbindung mit dem Graduiertenkolleg entstand 2006 in Innsbruck der Cluster »Politische Kommunikation« im Forschungsschwerpunkt »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte«, der den engeren Hintergrund der Tagung bildete. Wir danken dem Internationalen Graduiertenkolleg für die Aufnahme des Bandes in die Reihe »Schriften zur politischen Kommunikation«. Die Drucklegung wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung der Frauenbeauftragten der Fakultät Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften an der Universität Regensburg sowie des Landes Vorarlberg und des Landes Tirol. Kordula Schnegg, Ellinor Forster, Astrid von Schlachta

Maria Stopfner

Wie kommuniziert man Legitimation? Sprachliche und außersprachliche Strategien der Politik im historischen Vergleich – eine linguistische Deutung historischen Arbeitens1

Sprache in der Politik Auch wenn sich die politischen Voraussetzungen über die Jahrtausende verändert haben, so ist Politik doch damals wie heute vor allem die Kunst, in der Öffentlichkeit Zustimmungsbereitschaft zu erzeugen,2 indem bestimmte Wahrnehmungen bei verschiedenen Zielgruppen verstärkt oder verhindert werden.3 Die Geschichte, jedes Jahrhundert und jede Epoche, bringt eigene Diskussionen über die Legitimität von Herrschaft, über die Rechtmäßigkeit von Herrschaft, hervor.4 Es sollen hier lediglich einige Aspekte dieser Diskussionen herausgegriffen werden, um das Szenario schlaglichtartig zu beleuchten, in dem die folgenden Beiträge stehen. Legitimation, die übergeordnete Rechtfertigung von Herrschaft, kann auf verschiedenen Wegen hergestellt werden: Geschichte, göttliche Texte und Offenbarungen, Mythen, Verwaltung oder Verfassung sind nur einige Mittel. Viel zitiert ist die Aussage Max Webers, derzufolge die Legitimität von Herrschaft durch Tradition, Legalität und Charisma durchgesetzt 1 Für die Ergänzungen zur Diskussion von Legitimation und Legitimität in der geschichtswissenschaftlichen Forschung danke ich Astrid von Schlachta. 2 Hermann Lübbe, zit. in: Frank Liedtke: Stereotypensemantik, Metapherntheorie und Illokutionsstruktur – Die Analyse politischer Leitvokabeln in linguistischer Perspektive, in: Karin Böke/Ders./Martin Wengeler (Hg.), Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära (Sprache, Politik, Öffentlichkeit 8), Berlin/New York 1996, S. 1 – 17, hier S. 3. 3 Wolfgang Bergsdorf: Politik und Sprache (Geschichte und Staat 213), München 1978, S. 48. 4 Karin Glaser : Über legitime Herrschaft. Grundlagen der Legitimitätstheorie, Wiesbaden 2013; Utz Schliesky : Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt. Die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehrebenensystem (Ius Publicum 112), Tübingen 2004; Heide Wunder : Einleitung. Dynastie und Herrschaftssicherung: Geschlechter und Geschlecht, in: Dies. (Hg.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 28), Berlin 2002, S. 9 – 27; Mikael Alm: Royalty, Legitimacy and Imagery, in: Scandinavian Journal of History 28 (2003), S. 19 – 36; Luise Schorn-Schütte/ Sven Tode (Hg.): Debatten über die Legitimation von Herrschaft. Politische Sprachen in der Frühen Neuzeit (Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel 19), Berlin 2006.

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werden kann.5 In seinem sehr ausführlichen und grundlegenden Artikel zur »Legitimität, Legalität« weist Thomas Würtenberger in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« auf die Verortung des Begriffs zunächst in der frühneuzeitlichen Staatstheorie und den Wandel zum Kampfbegriff im frühen 19. Jahrhundert hin.6 Die Frage der Legitimation berührt die Souveränität in einem Gemeinwesen; die Akteure entwickeln ihre Strategien zur Legitimation ihrer Herrschaft oder ihrer Herrschaftsansprüche. In der theoretisch gedachten absoluten Monarchie bot das Gottesgnadentum die unverrückbare Basis für königliche Herrschaft. Für Jean Bodin war der Monarch in der »monarchie royale« der oberste Souverän, nicht gebunden an die Befehle der Untertanen, sondern alleiniger Gesetzgeber. Die umwälzenden Veränderungen des späten 18. Jahrhunderts stellten die Legitimität monarchischer Herrschaft dann umfassend infrage. Legitimität an sich wurde zum Kampfbegriff, der von monarchischer wie demokratischliberaler Seite besetzt wurde. Das Gottesgnadentum, die Konstitution und der Wille des Volkes wurden Legitimationsmöglichkeiten von Herrschaft, konkurrierende Modelle kämpften um Anerkennung und Legitimität. Gerade in Zeiten einschneidender Veränderungen und traditionale Herrschaft infrage stellender Umwälzungen war der Kampf um die Legitimität von Herrschaft besonders mächtig und Strategien zur Legitimation besonders nötig. Frankreich machte es 1789 vor: Der aus der Revolution hervorgegangene Gesetzgeber begründete nun die Legitimität der Monarchie. Johannes Paulmann hat gezeigt, welche Strategien die Monarchen im 19. Jahrhundert entwickelten, um ihre Legitimität zu festigen.7 Politische Legitimation muss kommuniziert werden, sei es um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen oder geplante bzw. bereits umgesetzte Programme und Maßnahmen zu rechtfertigen.8 Und daher mag es nicht verwundern, dass die kommunikativen Muster, die sich in den einzelnen Beiträgen des vorliegenden Bandes finden lassen, eine Brücke schlagen von der römischen Republik über die Hugenottenkriege in Frankreich bis zur Weimarer Republik. Aufgabe dieses einleitenden Beitrags soll es sein, jene sprachlichen Bausteine

5 Max Weber : Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1922. 6 Thomas Würtenberger: Legitimität, Legalität, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 677 – 740. Vgl. auch Ders.: Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte, Stuttgart 21973. 7 Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien R¦gime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u. a. 2000; auch: Volker Sellin: Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011. 8 Walther Dieckmann: Politische Sprache, politische Kommunikation: Vorträge, Aufsätze, Entwürfe, Heidelberg 1981, S. 138.

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freizulegen, mit denen – aus sprachwissenschaftlicher Sicht – diese Brücke gespannt werden kann. Seitens der Linguistik wurde die Beschäftigung mit Sprache in der Politik vor allem durch die Erfahrung der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie angestoßen, indem die kritische Revision des Sprachgebrauchs im Dritten Reich zur gesellschaftspolitischen Notwendigkeit wurde.9 In den folgenden Jahrzehnten wurde der Gegenstandsbereich der Politolinguistik10 jedoch stark ausgeweitet: Dieser reicht mittlerweile von der semantischen Analyse des politischen Wortschatzes, der pragmatischen Untersuchung typischer Sprechhandlungen politischer Akteurinnen und Akteure bis hin zur Beschäftigung mit Diskursstrategien im Zusammenspiel von Politik und Medien.11 Doch obwohl das sprachwissenschaftliche Interesse immer wieder durch zeitgeschichtliche Ereignisse neu entfacht wurde – wie die zahlreichen Arbeiten zum Diskurs der 68er-Generation, zur Rüstungsdiskussion, zur Sprache der deutschen Wende und des wiedervereinigten Deutschland beweisen12 –, sind Arbeiten zur Sprache in der Politik, die über die letzten hundert Jahre hinausreichen, spärlich gesät, jedoch in den letzten Jahren vor allem durch interdisziplinäre und epochenübergreifende Forschungskollegs verstärkt in das Interesse der historischen Forschung geraten. Joachim Herrgen zweifelte im Jahr 2000 noch die Machbarkeit historiolinguistischen Arbeitens an, da die theoretische Bedingung, dass jeder nur denkbare Einfluss mit in die Analyse aufgenommen werden müsse, praktisch nicht erfüllbar sei.13 Derart allumfassende Forschungsvorhaben könnten daher seiner Meinung nach nur interdisziplinär gelöst werden.14 Historische Arbeiten beispielsweise zu den »Sprachen des Republikanismus« waren bahnbrechend für Forschungsverbünde wie jenen des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis ins

9 Armin Burkhardt: Vom Schlagwort über die Tropen zum Sprechakt, in: Der Deutschunterricht 55/2 (2003), S. 10 – 22, hier S. 10. 10 Armin Burkhardt: Politolinguistik – Versuch einer Ortsbestimmung, in: Josef Klein/Hajo Diekmannshenke (Hg.), Sprachstrategien und Dialogblockaden – Linguistische und politikwissenschaftliche Studien zur politischen Kommunikation (Sprache, Politik, Öffentlichkeit 7), Berlin/New York 1996, S. 75 – 100. 11 Hajo Diekmannshenke: Politische Kommunikation im historischen Wandel – Ein Forschungsüberblick, in: Ders./Iris Meißner (Hg.), Politische Kommunikation im historischen Wandel (Stauffenburg-Linguistik 19), Tübingen 2001, S. 1 – 27. 12 Burkhardt, Schlagwort (wie Anm. 9), S. 10 f. 13 Joachim Herrgen: Die Sprache der Mainzer Republik (1792/93) – Historisch-semantische Untersuchungen zur politischen Kommunikation (Germanistische Linguistik 216), Tübingen 2000, S. 37. 14 Ebd., S. 36.

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20. Jahrhundert«. Mittlerweile ist ein breites Spektrum an Formen politischer Kommunikation zum Thema der historischen Forschung geworden.15 Der vorliegende Beitrag mag aus linguistischer Sicht einen überblicksartigen Versuch in diese Richtung darstellen, indem aus der Fülle an möglichen Untersuchungsfeldern auf den folgenden Seiten Wortschatz, Argumentation und Visualisierung herausgegriffen und näher betrachtet werden: Diese drei grundlegenden Elemente politischer Kommunikation sollen als roter Faden dienen, der den Weg durch die in diesem Band versammelten Jahrtausende weist.

Die Wahl des richtigen Wortes Sprache in der Politik fußt zunächst zu einem beträchtlichen Teil auf der Wirkung einzelner Wörter, die an prominenter Stelle die Programme und Positionen schlaglichtartig verdichten und die durch wiederholte Verwendung sprachlich wie auch gesellschaftspolitisch verankert werden.16 Der Wortschatz einer Gesellschaft lässt sich dabei als eine Sammlung konventionalisierter Konzepte begreifen, mit denen bestimmte Ausdrücke verbunden sind, aus denen der jeweilige Sprecher bzw. die jeweilige Sprecherin auswählen kann.17 Die mit den Begriffen verbundenen Urteile fließen in die Konzepte ein und werden automatisch mit den Wörtern abgerufen,18 sodass sie »die sozialen Entscheidungen des Sprachbenutzers u. U. [unter Umständen] stärker als rationale und voll bewusste Denkvorgänge«19 bestimmen. Die Annahme in Zusammenhang mit politisch motivierter Wortverwendung ist, dass die politischen Akteurinnen und Akteure sich dieser Wirkung durchaus bewusst sind und sie für ihre Zwecke nutzen, indem einerseits gekonnt mit dem breiten Spektrum an möglichen Ausdrücken gespielt wird und andererseits aktiv in die Bedeutung der verwendeten Wörter eingegriffen wird.20 Den politischen Akteurinnen und Akteuren geht es dabei in erster Linie darum, die eigene Position aufzuwerten und den Standpunkt der politischen Gegnerin bzw. des politischen Gegners abzu15 Vgl. z. B. die verschiedenen Bände der Reihe »Schriften zur politischen Kommunikation« sowie der Reihe »Historische Politikforschung«. 16 Liedtke (wie Anm. 2), S. 3 f. 17 Rolf Bachem: Einführung in die Analyse politischer Texte – Analysen zur deutschen Sprache und Literatur, München 1979, S. 43. 18 Ebd., S. 44. 19 Ebd. 20 Johannes Volmert: Politikerrede als kommunikatives Handlungsspiel – Ein integriertes Modell zur semantisch-pragmatischen Beschreibung öffentlicher Rede, München 1989, S. 78.

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werten.21 Eine wichtige Rolle bei der Aufwertung der eigenen und Abwertung der gegnerischen Position spielen spezifische Kontextualisierungen:22 Hierbei wird eine für die politische Bewegung wichtige Leitvokabel, ein Sachverhalt oder eine Person wiederholt mit bestimmten positiv oder negativ gewerteten Ausdrücken in Verbindung gebracht, um so den politischen Zielen entsprechende Assoziationen aufzubauen und einzuschleifen.23 Einzelne Wörter bzw. Wortverbindungen werden auf diese Weise für bestimmte politische Gruppen gezielt aufgebaut und gewinnen damit auch besonderes Gewicht, »weil sich in ihnen universale sozial-politische Bestrebungen der Menschen zu spiegeln scheinen oder auch weil sie eine geschichtliche Selbstidentifikation ermöglichen.«24 Ein Beispiel hierfür ist der Titel des allerchristlichsten Königs, des roi trÀs-chr¦tien, wie ihn Volker Seresse in diesem Band zur Zeit der Hugenottenkriege findet: Als die Legitimation des jeweiligen Königs fraglich wurde, entwickelte sich der roi trÀs-chr¦tien zum Schlüsselbegriff und zum Fahnenwort des französischen Königs, d. h. er wurde zu einer politischen Bezeichnung, deren Funktion es war, als »parteisprachlich« erkannt zu werden.25 Denn Fahnenwörter sind »dazu da, dass an ihnen Freund und Feind den Parteistandpunkt, für den sie stehen, erkennen sollen. […] Solche Wörter können in der Tat, wenn man sie ostentativ verwendet, wie eine Fahne wirken, die man hoch hält und ins Feld führt – oder auch wie ein rotes Tuch.«26

Ein Großteil der in der Politik verwendeten Wörter ist laut Klein jedoch den Hochwertwörtern zuzurechnen:27 Hochwertwörter besitzen eine Sonderstellung, berufen sie sich doch als »traditionell hochaggregierte Symbole«28 auf die Glaubenssätze einer Gesellschaft. Sie wirken zugleich mobilisierend und stabilisierend,29 indem sie als die »durch Geschichten und Geschichte gewachsenen, aus keiner Gesellschaft wegzudenkenden Orientierungspunkte und Erinne21 Vgl. dazu Hans Dieter Zimmermann: Die politische Rede – Der Sprachgebrauch Bonner Politiker (Sprache und Literatur 59), Stuttgart 1969. 22 Karin Böke: Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära – Zu Theorie und Methodik, in: Dies./Liedtke/Wengeler (wie Anm. 2), S. 19 – 50, hier S. 38. 23 Ebd. 24 Bachem (wie Anm. 17), S. 62. 25 Volker Seresse: »meriter et conserver le titre glorieux de TrÀs-Chr¦tien«. Politische Sprache und Herrschaftslegitimation zur Zeit der Hugenottenkriege, S. 73 – 92 in diesem Band. 26 Fritz Hermanns: Brisante Wörter – Zur lexikographischen Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache, in: Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Germanistische Linguistik – Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie, Hildesheim/New York 1982, S. 91. 27 Josef Klein: Demokratischer Wortschatz und Wortgebrauch, in: Jörg Kilian (Hg.), Sprache und Politik – Deutsch im demokratischen Staat (Thema Deutsch 6), Mannheim 2005, S. 128 – 140. 28 Georg Klaus, Sprache der Politik, Berlin 1971, S. 139. 29 Bachem (wie Anm. 17), S. 65.

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rungsstützen«30 dienen. Es liegt in der Natur der Hochwertwörter, dass sie stets positiv konnotiert sind,31 wobei jedoch ihr »Stichwort- und Heilsbotschaftscharakter erst voll zu erkennen ist im Zusammenhang mit den aktuellen Nöten und schwebenden Fragen der augenblicklichen Gesellschaft und der Rolle des Sprechers in ihr.«32 Sicherheit ist ein Beispiel für ein modernes Hochwertwort, das seit 9/11 die globale Politik entscheidend mitbestimmt. Doch auch der von Jörg Ludolph in diesem Band beschriebene Rekurs auf die Wohlfahrt seitens der Schleswig-Holsteinischen Landesherren im 16. und 17. Jahrhundert fällt in die Kategorie der Hochwertwörter, galt die Wohlfahrt doch, so Jörg Ludolph, »als hohes politisches Gut«, das »unbedingt geschützt werden musste«33 – meist mit militärischen Mitteln, deren Kosten unter Berufung auf eben diese Wohlfahrt legitimiert wurden. Da Hochwertwörter einerseits einen breit akzeptierten emotiven Gehalt besitzen und andererseits ein großes Spektrum an Bedeutungen in sich vereinen, versucht jede politische Gruppe, sie für sich zu vereinnahmen und den eigenen Zielen zuzuordnen.34 So ist Freiheit ein Hochwertwort, das zu verschiedenen Zeiten von gänzlich gegensätzlichen politischen Gruppierungen für sich vereinnahmt wurde: Claudia Tiersch zeigt zum Beispiel in ihrem Beitrag, wie der Begriff der libertas sowohl von der römischen Republik als auch vom römischen Kaiser für sich beansprucht wurde;35 ähnliches findet Daniel Schläppi in diesem Band in Zusammenhang mit der Freiheitssymbolik der Schweizer Helvetik um 1800.36 Möglich wird diese widersprüchliche Verwendung des Freiheitsbegriffs durch die »ideologische Polysemie«37 des politischen Wortschatzes. Die Mehrdeutigkeit politischer Begriffe ist ein Spezifikum der Sprache in der Politik, indem die verschiedenen Gruppierungen umstrittene Wörter der eigenen Ideologie entsprechend auslegen.38 Im Unterschied zur Mehrsinnigkeit, die durch die lexikalische Bedeutung des Wortes begründet ist und durch den 30 Bachem (wie Anm. 17), S. 65. 31 Gerhard Strauß: Der politische Wortschatz – Zur Kommunikations- und Textsortenspezifik (Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache Mannheim 60), Tübingen 1986, S. 103. 32 Bachem (wie Anm. 17), S. 63. 33 Jörg Ludolph: Die politische Sprache auf den Landtagen in Schleswig–Holstein (16. und 17. Jahrhundert), S. 93 – 119 in diesem Band. 34 Johannes Schwitalla: Konnotationen in gebrauchstexten – Möglichkeiten der analyse im unterricht, in: Wirkendes Wort 27 (1977), S. 171 – 181, hier S. 177 f. 35 Claudia Tiersch: Der Freiheitsbegriff als Kategorie politischer Legitimation zwischen später Republik und früher Kaiserzeit, S. 27 – 49 in diesem Band. 36 Daniel Schläppi: Legitimation in Zeiten der Revolution. Symbolnutzung und politische Konzepte im helvetischen Einheitsstaat (Schweiz 1798 – 1803), S. 121 – 144 in diesem Band. 37 Walther Dieckmann: Deutsch: politisch – Politische Sprache im Gefüge des Deutschen, in: Kilian (wie Anm. 27), S. 11 – 30. 38 Liedtke (wie Anm. 2), S. 2.

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Kontext geklärt wird, kann Mehrdeutigkeit die Verständigung auf schwammigen Untergrund bringen, da die Wörter plötzlich in mehreren, vollkommen verschiedenen Weltanschauungen einen wichtigen Platz einnehmen.39 Laut Claudia Tiersch verweist das erwähnte libertas-Konzept der römischen Antike etwa auf drei unterschiedliche Interpretationsschemata, je nachdem, ob es sich um den Freiheitsbegriff des Senats, den Freiheitsbegriff der Popularen oder den Freiheitsbegriff des Prinzipats handelt: Der Senat fürchtete vor allem das Aufstreben eines einzelnen Politikers, der der unbeschränkten Senatsherrschaft ein Ende setzen könnte; die popularen Gegner gründeten ihren Freiheitsbegriff auf bereits bestehende Missstände und suchten nach physischer wie auch finanzieller Sicherheit; da die Schirmherrschaft des Prinzipats vor der adligen Willkür und vor materieller Not schützte, bedeutete die monarchische Kontrolle somit durchaus einen Zugewinn für die Freiheit der Bevölkerung. Politische Gruppierungen müssen jedoch nicht nur eigene Formulierungen prägen, sie müssen vor allem auch eine Antwort auf den gegnerischen Sprachgebrauch finden: Gegnerische Begriffe können in einem ersten Schritt einfach vermieden oder negiert werden; ein geschickter Propagandist bzw. eine geschickte Propagandistin wird jedoch die gegnerischen Wörter aufnehmen und den eigenen Intentionen entsprechend umdeuten bzw. umwerten.40 Um in den Bedeutungsaufbau eines Begriffes einzugreifen, bedient man sich wiederum des unmittelbaren sprachlichen Kontextes, in dem der Ausdruck verwendet und geprägt wird.41 Johannes Volmert beschreibt das Vorgehen politischer Akteurinnen und Akteure in diesem Zusammenhang wie folgt: »Das Etikettierungshandeln in öffentlicher Rede überformt die semantische Struktur der adaptierten Bezeichnungen, indem es ganz bestimmte Merkmale unterdrückt, andere besonders akzentuiert oder auch neue hinzufügt – je nach der intendierten Zuordnung zu einem neuen Funktionszusammenhang.«42

So zeigt Daniel Schläppi in seinem Beitrag zu den politischen Konzepten in der Zeit des ersten Schweizer Einheitsstaats, wie die damalige Obrigkeit versuchte, an alte Begriffe und Symbole mit veränderter Bedeutung anzuschließen. Da aber inhaltliche Veränderungen nur dann übernommen werden, wenn sie der gesellschaftspolitischen Realität entsprechen,43 waren die Legitimierungsversuche 39 Walther Dieckmann: Sprache in der Politik, in: Martin Greiffenhagen (Hg.), Kampf um Wörter? Politische Begriffe im Meinungsstreit, München/Wien 1980, S. 47 – 64, hier S. 53 f. 40 Walther Dieckmann: Information oder Überredung – Zum Wortgebrauch der politischen Werbung in Deutschland seit der Französischen Revolution (Marburger Beiträge zur Germanistik 8), Marburg 1964, S. 127. 41 Böke (wie Anm. 22), S. 38. 42 Volmert (wie Anm. 20), S. 78. 43 Fritz Kuhn: »Begriffe besetzen« – Anmerkungen zu einer Metapher aus der Welt der Machbarkeit, in: Liedtke/Wengeler/Böke (wie Anm. 2), S. 90 – 110, hier S. 99.

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des Schweizer Directoriums von vornherein zum Scheitern verurteilt; dazu Daniel Schläppi: »Die Nutzung der Symbole alter Prägung und der in kollektiver Erinnerung verankerten historischen Narrative provozierte Widerspruch, denn sie forderte die Zeitgenossen erst recht heraus, das alte und das neue System zu vergleichen und deren Vorbzw. Nachteile gegeneinander abzuwägen.«44

In der Politik entbrennt daher oft ein Streit um und mit Wörtern, bei dem jede Gruppierung die wahre Bedeutung des Begriffs für sich beansprucht.45 Andererseits kann die Mehrdeutigkeit politischer Ausdrücke auch dazu führen, dass das Fahnenwort der einen Partei von der gegnerischen Partei mit anderer semantischer Füllung als negatives Wort verwendet wird.46 Als Beispiel hierfür kann wieder die helvetische Republik herangezogen werden, die sich, so Daniel Schläppi, auf die Gleichheit aller berief, die jedoch ihre Grenzen in den althergebrachten Privilegien fand, die es auch in Hinblick auf das Erbe der Vorfahren zu schützen galt. Es geht folglich nicht nur darum, die eigene Position zu stärken, der politische Gegner bzw. die politische Gegnerin muss gleichzeitig auch geschwächt werden. Parallel zu den stets positiven Hochwertwörtern kommen hier Stigmawörter zum Einsatz, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeinhin etwas Schlechtes bedeuten.47 Anke John verweist in ihren Ausführungen zur Reichsreformdebatte in der Weimarer Republik auf das Stigmawort Fehlrationalisierung, das als Ursache für die krisenhaften Entwicklungen und den wirtschaftlichen Niedergang vorgeschoben wurde und damit eines der wichtigsten Leitbilder des Einheitsstaates ins Negative verkehrte.48 Eine weitere Möglichkeit das politische Gegenüber abzuwerten, besteht darin, ihm/ihr gerade jene Hochwertwörter abzusprechen, die man für die eigene Position beansprucht. Volker Seresse weist in seinem Beitrag darauf hin, dass etwa den Hugenotten und Ligisten stets vorgeworfen wurde, sich der Religion – an deren Spitze der französische König als roi trÀs-chr¦tien stand – nur als Vorwand für ihre politischen Ziele zu bedienen. Gesäumt wurden diese Anschuldigungen durch weitere negativ aufgeladene Ausdrücke wie d¦sob¦issance, f¦lonie und r¦bellion, die gemeinsam mit d¦loyaut¦ zu Stigmawörtern für die Guise avancierten. Eine weitere wichtige Waffe im Arsenal des politischen Begriffsstreits ist das Schlagwort. Nach Walther Dieckmann steht es »im politisch-emotionellen

44 45 46 47 48

Schläppi (wie Anm. 36), S. 143. Hermanns (wie Anm. 26), S. 95. Ebd. Dieckmann, Information (wie Anm. 40), S. 145. Anke John: Das Reich als »Organismus« oder »Mechanismus« – Bundesstaat und Einheitsstaat in der Imagination der Weimarer Zeitgenossen, S. 205 – 228 in diesem Band.

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Kräftefeld des Meinungsstreites«49 und wird »durch angelagerte Begleitgefühle charakterisiert«50. Ein Wort ist jedoch nicht von sich aus ein Schlagwort, sondern wird zu einem Schlagwort gemacht, indem es entsprechend verwendet und kontextualisiert wird.51 Gelingt es einer politischen Gruppierung ein politisch oder sozial relevantes Schlagwort zu prägen, dann kann, so Martin Greiffenhagen, Zustimmungsbereitschaft gebunden werden,52 wie etwa zur Zeit der Hugenottenkriege, als die königliche autorit¦, so wiederum Volker Seresse, zum zentralen Schlagwort wurde. Das Schlagwort ist dabei oft nur der Auslöser, der innerhalb der Argumentation dazu dient, die mit dem Wort verankerten Gefühle abzurufen.53 Oberstes Handlungsziel ist immer die Erzeugung von Zustimmungsbereitschaft bei den Adressatinnen und Adressaten, um diesen »bestimmte Auffassungen nahezubringen, sie zu bestimmten Überzeugungen zu bringen, bestimmte Einstellungen zu induzieren etc.«54 Während der Hugenottenkriege wurde zum Beispiel nur selten auf den konfessionellen Konflikt eingegangen; statt dessen wurde als Ursache für die Wirren, so Volker Seresse, auf die malice du temps und auf das jugement de Dieu verwiesen – beides Schlagwörter, die die Konfessionskriege als gerechte Strafe für die Sündhaftigkeit der Menschen interpretieren. Gleichzeitig ist das Schlagwort jedoch so allgemein und vieldeutig, dass es, wenn es die Situation erfordert, auch in anderer Bedeutung verwendet werden kann:55 Für Volker Seresse ist Heinrich IV. als roi trÀs-chr¦tien im Gegensatz zu seinen Vorgängern nämlich nicht mehr der erfolgreiche Kämpfer gegen die Ketzer, sondern der Friedensstifter, der für Ruhe und Ordnung gesorgt hat. Besonders im Kontext der Politik ist Sprechen bzw. Sprache also nicht nur kontext- und situationsgebunden sondern vor allem auch partnerbezogen. Je größer die Gruppe der Adressatinnen und Adressaten aber ist, an die sich der politische Akteur bzw. die politische Akteurin richtet, umso vorsichtiger muss formuliert und argumentiert werden. Werden die Unterschiede innerhalb der Gruppe zu groß, schrumpft die Wahrscheinlichkeit, mit konkreten Wortinhalten die speziellen Bedürfnisse der Hörerschaft zu treffen.56 Die politischen Akteurinnen und Akteure müssen daher um die Wortzusammenhänge, Konnotationen und emotionalen Elemente der benutzten Ausdrücke wissen, wenn alle 49 50 51 52 53 54 55 56

Dieckmann (wie Anm. 40), S. 79. Ebd. Dieckmann (wie Anm. 39), S. 61. Martin Greiffenhagen: Die Rolle der Sprache in der Politik, in: Ders. (wie Anm. 39), S. 9 – 37, hier S. 13. Dieckmann (wie Anm. 40), S. 79. Liedtke (wie Anm. 2), S. 6. Zimmermann (wie Anm. 21), S. 164. Bergsdorf (wie Anm. 3), S. 65 f.

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Zuhörerinnen und Zuhörer bzw. Leserinnen und Leser erreicht werden sollen.57 So weist Volker Seresse in seinem Beitrag weiters darauf hin, dass der Schlüsselbegriff des französischen Königs roi trÀs-chr¦tien in den Toleranzedikten fehlt: »Weder gegenüber Hugenotten noch vor Katholiken taugte er bei solchen Gelegenheiten zur Legitimation. Für erstere klang er bedrohlich, letzteren musste er unglaubwürdig erscheinen angesichts der offenkundigen Kluft zwischen dem damit verbundenen Anspruch und der Gewährung von Toleranz für Ketzer.«58

Es wundert daher nicht, dass Politikerinnen und Politiker versuchen, bei kritischen Fragen sich so vage wie möglich auszudrücken, um nicht auf einen bestimmten Punkt festgenagelt zu werden. Frank Engehausen beschreibt zum Beispiel in diesem Band, wie die Festredner zu Ehren des 25. Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. sich um die Wahrung des Anscheins bemühten, indem sie es bei positiven, wenn auch vagen Aussagen beließen. Doch auch der Kaiser selbst formulierte betont vorsichtig und fasste sich, laut Frank Engehausen, in allgemeine und unpersönliche Formulierungen.59 Mit anderen Worten geht es in der Politik nicht immer darum, genau zu sagen, was man meint; ganz im Gegenteil wird der Sinn einer Aussage bisweilen bewusst in der Schwebe gehalten, um so, falls nötig, zwischen den Bedeutungen zu wechseln.60 Im Dienst dieser Offenheit steht wiederum das Schlagwort, da es in seiner Bedeutung so weitreichend ist, dass es verschiedene Inhalte in sich vereinen kann.61 So wurde während der Hugenottenkriege in Frankreich als Gegenkonzept zu den troubles, wie die inneren Wirren beinahe euphemistisch bezeichnet wurden, die Phrase union et concorde geprägt, womit, so Volker Seresse, die Einigkeit aller Untertanen gemeint war, indem als ausdrückliches Ziel notfalls die gewaltsame Rückführung aller Untertanen in die Einheit der Kirche genannt wurde. Damit soll eines klar gemacht werden: »Die Sprache spiegelt nicht eine objektive ›Realität‹, sondern schafft sie, indem sie von einer komplizierten und verwirrenden Welt bestimmte Wahrnehmungen abstrahiert und sie zu einer Sinnstruktur organisiert.«62

57 Bergsdorf (wie Anm. 3), S. 65 f. 58 Seresse (wie Anm. 25), S. 84. 59 Frank Engehausen: Herrschaftsjubiläen und Herrschergeburtstage im deutschen Kaiserreich, S. 191 – 203 in diesem Band. 60 Dieckmann (wie Anm. 40), S. 154. 61 Zimmermann (wie Anm. 21), S. 165. 62 Murray Edelman: Politische Sprache und politische Realität, in: Greiffenhagen (wie in Anm. 39), S. 39 – 45, hier S. 39.

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Das Arsenal politischer Argumentation Argumentieren besteht aus einer Folge von Sprechhandlungen, die ein bestimmtes Ziel verfolgen, nämlich dem Adressaten oder der Adressatin die »Gültigkeit einer These zu begründen oder plausibel zu machen.«63 Indem davon ausgegangen wird, dass das Gegenüber nicht ohne weiteres der eigenen Position folgt, bedarf es einer Erläuterung, bei der mögliche Vorbehalte ausgeräumt werden.64 D. h. damit eine Behauptung bzw. Konklusion stichhaltig ist, muss diese begründet werden, indem Argumente bzw. Daten geliefert werden, die über eine Schlussregel (die selbst wiederum gerechtfertigt bzw. durch Ausnahmen eingeschränkt werden muss) zur getroffenen Konklusion führen.65 Um überzeugen zu können, müssen die getroffenen Aussagen den Adressatinnen und Adressaten glaubwürdig und nachvollziehbar erscheinen. Welche Äußerungen bei der Zielgruppe den gewünschten Effekt erzielen, ist jedoch von Fall zu Fall verschieden. Erfolgreiches Argumentieren ist daher, so Frank Liedtke, »das Resultat von hypothetischen Erwägungen über die möglichen Effekte bestimmter Äußerungstypen beim Adressaten.«66 Die relevante Hörerschaft definiert sich dabei als »die Gesamtheit derer, auf die der Redner durch seine Argumentation einwirken will.«67 Jörg Ludolph weist etwa in Zusammenhang mit den Landtagen in Schleswig-Holstein nach, dass die Argumentation dort auf unterschiedliche Zielgruppen hin zugeschnitten war : Man berief sich nicht allein auf die Wohlfahrt der Allgemeinheit, um derentwillen gehandelt werden müsse; die Landesherren achteten in besonderem Maße darauf, auch die ständische Wohlfahrt explizit zu nennen, da sie sich dadurch, so Jörg Ludolph in diesem Band, »eine zusätzliche Legitimationswirkung, die über die gemeinnutzbasierte Legitimation hinausging«68 versprachen. Letztendlich ist das Ziel politischer Argumentation nicht, ausgehend von den Prämissen durch logische Schlüsse die Folgen abzuleiten, sondern es geht vorrangig darum, dass der Adressat bzw. die Adressatin die vorgeschlagenen Annahmen, Werturteile etc. akzeptiert und ihnen zustimmt.69 63 Heinz-Helmut Lüger : Phraseologismen als Argumentationsersatz? Zur Funktion vorgeprägten Sprachgebrauchs im politischen Diskurs, in: Barbara Sandig/Ulrich Püschel (Hg.), Germanistische Linguistik – Stilistik – Argumentationsstile, Hildesheim 1993, S. 255 – 284, hier S. 256. 64 Ebd. 65 Manfred Kienpointner: Argumentationsanalyse, Innsbruck 1983, S. 78; s. a. Ders.: Alltagslogik – Struktur und Funktion von Argumentationsmustern, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992. 66 Liedtke (wie Anm. 2), S. 6. 67 Chaim Perelman: Das Reich der Rhetorik – Rhetorik und Argumentation, München 1980, S. 23. 68 Ludolph (wie Anm. 33), S. 102. 69 Perelman (wie Anm. 67), S. 18.

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Eine effektive Methode, um argumentative Texte für die Hörerschaft leichter zugänglich und damit überzeugender zu gestalten, sind Metaphern.70 Metaphern sind »Katalysatoren«,71 die die »selektive Wahrnehmung«72 verstärken, auch wenn sie selbst »keine vollständigen Argumentationshandlungen«73 darstellen. Metaphern können bestimmte Argumente unterstreichen, indem sie einzelne Aspekte bildlich hervorheben und gleichzeitig unwillkommene Begleitumstände unter den Teppich kehren.74 Umgelegt auf den politischen Kontext heißt dies, dass mit ihnen die Aufmerksamkeit auf die erwünschten Konsequenzen der favorisierten Politik gelenkt werden, während mögliche »unerwünschte und jeweils irrelevante Voraussetzungen und Nachwirkungen« ausgeblendet werden.75 Ein Beispiel hierfür ist die Darstellung des Monarchen bzw. der Monarchin als Landesvater bzw. Landesmutter und der Untertanen als große Familie, an die vor allem die Kleinstaaten in Deutschland anknüpften, um so, wie Anke John es in ihrem Beitrag zur Weimarer Republik ausdrückt, das liebliche Bild einer glücklichen und freundlich geleiteten Familie zu zeichnen. Ein ähnliches Bild findet sich in Volker Seresses Beitrag zur Wortwahl des französischen Königs während der Hugenottenkriege, wo sich dieser einerseits als pÀre bezeichnet, dessen Motive in der soin paternel liegen, und andererseits in Anlehnung an die christliche Metaphorik als Guten Hirten, als berger, darstellt, der seine Herde mit Sanftmut und nicht mit Grausamkeit unter sich versammeln will. Spannend ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Ellinor Forster, da hier ausgehend von Huldigungsreden aus der Zeit um 1800 die Familienmetaphorik aus der Perspektive der Bevölkerung interpretiert wird, indem die Untertanen basierend auf dem Bild des Regenten als Familienoberhaupt ihrerseits Ansprüche an die Vaterfigur stellen.76 Durch Metaphern können aber vor allem auch abstrakte Begriffe versinnbildlicht werden und dadurch plastischer und plausibler wirken77 – was vor allem für die Darstellung komplexer politischer Verhältnisse von Nutzen sein kann. Mittels Metaphern können komplizierte Zusammenhänge scheinkonkretisiert und entlang der eigenen Sichtweise affektiv kommentiert werden, sodass die abstrakten Ereignislagen und Schlüsselwörter bewertet werden können, selbst wenn 70 George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern – Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 2003. 71 Lüger (wie Anm. 63), S. 269. 72 Edelman (wie Anm. 62), S. 40. 73 Lüger (wie Anm. 63), S. 269. 74 Lakoff/Johnson, (wie Anm. 70), S. 18 f. 75 Edelman (wie Anm. 62), S. 40. 76 Ellinor Forster : »Legitimationsbedingungen« für den neuen Herrscher. Der Empfang Ferdinands III. von Toskana durch seine neuen Untertanen – Salzburg 1803 und Würzburg 1806, S. 145 – 165 in diesem Band. 77 Böke (wie Anm. 22), S. 41.

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sie nicht vollständig verstanden werden.78 Die Notwendigkeit, komplexe Sachverhalte einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen, sah man vor allem auch in Zusammenhang mit der deutschen Verfassungsdiskussion 1918/1919, als, so Anke John in diesem Band, die zahlreichen Strukturprobleme eine Modernisierung des Staates in Form einer Reichsreform unumgänglich machten und sich Unitarier und Föderalisten um Zustimmung für die von ihnen angestrebte politische Ordnung bemühten. Bundesstaat und Einheitsstaat waren dabei die zentralen Abstrakta der Staatstheorie, die durch entsprechende Metaphern den jeweiligen politischen Zielen gemäß, schlagwortartig vereinfacht, interpretiert und gewertet wurden.79 Hier ist generell jene Gruppierung im Vorteil, die als erste eine Metapher prägt, da diese, sofern sie angenommen wird, im Gedächtnis haften bleibt.80 Die Metapher wird so zum »Kristallisationspunkt«,81 an den in der Folge passende Informationen angelagert werden:82 »Auf diese Weise wird eine bestimmte Auffassung verstärkt und scheint sich für diejenigen, deren Einstellungen sie formuliert, immer wieder neu zu bewahrheiten. Sie beginnt, sich selbst zu perpetuieren.«83 Als zentrales Bild in Zusammenhang mit der Reichsreform der Weimarer Republik sieht Anke John zunächst den Haustopos, bei dem ausgehend von der Vorstellung des Reichs als (baufälligen) architektonischem Gebäude die verschiedenen Ideen zur Staatsgestaltung als Baupläne unterschiedlicher Handschrift dargestellt wurden. Ein weiterer wichtiger Topos, auf den seit der Antike immer wieder gerne zurückgegriffen wird, ist das Bild des Staates als etwas organisch Gewachsenem.84 Die Vorstellung eines Wachstumsprozesses, der durch dieses Bild in die Argumentation einfließt, lässt die dargestellten politischen Konzepte als zwangsläufige Entwicklung erscheinen, die damit eine fraglose Berechtigung erfahren.85 Mit anderen Worten sind Metaphern ein sprachliches Mittel, das Angreifbare so zu formulieren, dass es unangreifbar wird und vom Adressaten bzw. von der Adressatin beinahe zwangsläufig akzeptiert wird, da die so dargestellten komplexen Zusammenhänge auf eine einfache, alltägliche Formel gebracht werden, ohne diese jedoch argumentativ zu durchdringen.86 Generell ist in Zusammenhang mit politischer Argumentation der Zugang auf emotionaler Ebene oft wichtiger als eine rationale Durchdringung.87 Aus diesem Grund werden 78 79 80 81 82 83 84

Bachem (wie Anm. 17), S. 53. Ebd., S. 54. Greiffenhagen (wie Anm. 52), S. 13. Ebd. Ebd. Ebd. Raimund H. Drommel/Gerhart Wolff: Metaphern in der politischen Rede, in: Der Deutschunterricht 30/1 (1978), S. 71 – 86, hier S. 77. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Perelman (wie Anm. 67), S. 21.

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damals wie heute Bedrohungen von außen gerne als Flutwellen versinnbildlicht, wie dies etwa auch Ellinor Forster in diesem Band kurz umreißt. An diesem Punkt wird zudem deutlich, dass Metaphern vor allem dann für die Argumentation bedeutsam werden, wenn die implizierten Schlussregeln durch den Kontext aktiviert werden,88 »zum Beispiel, wenn es heißt, dass Berlin in einer infektiösen Flut von Flüchtlingen ertrinkt oder dass der Flüchtlingsstrom eingedämmt werden muss«;89 oder wenn im Falle der Metaphorik der Weimarer Republik vom kranken Volkskörper die Rede ist, an dem Krankheitsherde wie Eiterbeulen und Krebsschäden unbedingt aufgestochen werden müssen, damit sie den Lebensfaden nicht verkürzen, um nur einige der von Anke John angeführten Beispiele zu nennen. In Zusammenhang mit den persuasiven Bemühungen politischer Argumentation stellen Narrative – so die linguistische Bezeichnung für die generelle Struktur von Erzählungen – eine weitere wertvolle Ressource dar, um die eigene Sicht in Hinblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffentlich durchzusetzen.90 In Erzählungen werden nicht nur Helden und Bösewichte konstruiert, viel wichtiger noch ermöglichen sie es dem Erzähler bzw. der Erzählerin, bestimmte Ereignisse als entscheidende Wendepunkte der Geschichte auszuwählen. Indem diese Einzelereignisse im Rahmen der Erzählung in eine lineare Abfolge gebracht werden, wird ein kausaler Zusammenhang hergestellt, der Ursachen und Konsequenzen höchst plausibel, ja als schicksalhaften Lauf der Dinge beinahe natürlich erscheinen lässt.91 Anders ausgedrückt können mithilfe von Narrativen komplexe Situationen vereinfacht und bestimmte Kausalitäten und Konklusionen implizit vermittelt werden.92 Narrative sind somit ein ideales Instrument für politische Gruppierungen, um die eigene Version der Geschichte oder eine Vision für die Zukunft als einzig legitime Auslegung durchzusetzen und im kollektiven Gedächtnis zu verankern.93 Im vorliegenden Band wird dies besonders im Beitrag von Kordula Schnegg deutlich, in dem die unterschiedlichen Darstellungen zweier antiker Geschichtsschreiber in Hinblick auf Ursachen und Folgen der Ermordung von C. Julius Caesar miteinander verglichen werden.94 Analysen, wie die von 88 Böke (wie Anm. 22), S. 42. 89 Ebd. 90 Deborah Schiffrin: Language and Public Memorial: »America’s Concentration Camps«, in: Discourse Society 12/4 (2001), S. 505 – 534, hier S. 508 – 510. 91 Ruth Wodak/Rudolf de Cillia: Commemorating the Past: the Discursive Construction of Official Narratives about the »Rebirth of the Second Austrian Republic«, in: Discourse & Communication 1/3 (2007), S. 337 – 363; siehe ebenso Teun A. van Dijk: Story Comprehension: An Introduction, in: Poetics 9 (1980), S. 1 – 21. 92 Shaul R. Shenav : Political Narratives and Political Reality, in: International Political Science Review 27/3 (2006), S. 245 – 262, hier S. 245 – 247. 93 Wodak/de Cillia (wie Anm. 91), S. 338. 94 Kordula Schnegg: Hitzige Debatten nach Caesars Ermordung. Herrschaftslegitimation in fiktiven Reden bei Appian und Cassius Dio, S. 51 – 72 in diesem Band.

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Kordula Schnegg vorgelegte, zeigen, wie in historischen Narrativen Geschichte den eigenen politischen Einstellungen und Interessen entsprechend (re-)konstruiert werden kann.95 Die eigene Vergangenheit wirkt dabei nicht nur identitätsstiftend, sondern ist, so Astrid von Schlachta in ihrem Beitrag zur regionalen politischen Kultur im frühen 19. Jahrhundert, auch ein »wichtiger Legitimationsfaktor« in der Politik, mit dem »einerseits neue Ideen gestützt, andererseits das alte Herkommen weiterhin hochgehalten werden konnte«.96 (Historische) Narrative sind jedoch nicht auf die Sphäre offizieller politischer Anlässe und großer Reden beschränkt; sie sind Teil unseres Alltags, indem aktuelle wie historische Ereignisse immer wieder neu »erzählt« und in einen ideologisch gefärbten Zusammenhang gebracht werden. Für die breite Masse wird die Rolle des Erzählers bzw. der Erzählerin jedoch mittlerweile weniger von Geschichtsschreiberinnen und Geschichtsschreibern, als vielmehr von Journalistinnen und Journalisten übernommen. Heutzutage sind die Medien als öffentliche Plattform für die Darstellung und Verbreitung politischer Standpunkte unumgänglich.97 Die Berichterstattung ist damit als massenmedial wirksames Narrativ ein entscheidender Faktor bei der Interpretation und Konstruktion gesellschaftspolitischer Zusammenhänge. Um die Rolle von Politik und Medien bei der Bedeutungszuschreibung und um das darin sich zeigende Ungleichgewicht im öffentlichen Diskurs hat sich von sprachwissenschaftlicher Seite vor allem die kritische Diskursanalyse bemüht.98 Aber auch im vorliegenden Band zeigt Astrid von Schlachta, wie im frühen 19. Jahrhundert politische Kultur durch die Presse einen weiteren, breitenwirksamen Verhandlungsort bekam. Dazu Ruth Wodak und Rudolf de Cillia: »Hence, there is not one single past, nor one unique narrative; quite the contrary, many narratives which are informed by different interests are in conflict with each other for hegemonic status. They are produced in many public spheres, interact and are recontextualized through the media and in every day interactions.«99

95 Wodak/de Cillia (wie Anm. 91), S. 339. 96 Astrid von Schlachta: Von unten nach oben – Das Regionale für das Ganze? Aspekte der regionalen politischen Kultur in Dithmarschen im 19. Jahrhundert, S. 167 – 189 in diesem Band, hier S. 188. 97 Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller: Grundzüge des politischen Systems Österreichs (Materialien und Texte zur politischen Bildung 4), Wien 1988, S. 102. 98 Siehe dazu etwa Wodak/de Cillia (wie Anm. 91). 99 Ebd., S. 339.

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Visualisierung in der Politik Abgesehen von Metaphern und idiomatischen Wendungen, wie sie im vorigen Abschnitt beschrieben wurden, kommt generell allen Spielarten der Visualisierung politischer Zusammenhänge – vom Wahlkampfplakat bis zum rituellen Festakt – in der Politik eine gewichtige Rolle zu. Eine notwendige Voraussetzung ist dabei jedoch immer ein passender Bildträger, mit anderen Worten: »Bilder sind angewiesen auf ein Medium der materiellen Realisation.«100 In den Beiträgen des vorliegenden Bandes findet sich eine große Palette an Bildträgern, von denen manche über die Jahrhunderte hinweg immer wieder seitens der jeweiligen Herrschaft genutzt wurden. So dienten Münzen und die entsprechenden Prägungen immer wieder als Vehikel für politische Botschaften, sei es zur römischen Kaiserzeit oder im frühneuzeitlichen Baden. Dabei ist der antiken und der frühneuzeitlichen Münze gemein, dass sie als reales Zahlungsmittel durch vielerlei Hände ging und so die jeweilige politische Botschaft im Land selbst festigte und über die Grenzen hinaus propagierte. Bilder besitzen generell einen hohen Identifikationswert101 und waren in Zeiten, als die Mehrheit der Bevölkerung des Lesens und Schreibens noch nicht mächtig war, eine Möglichkeit, um politische Botschaften trotzdem zu verbreiten. Bilder können unterhalten und erbauen, aber auch belehren und beraten.102 Die politisch motivierten Abbildungen auf Votivtafeln hatten zudem die Aufgabe, eine bestimmte Sicht der Dinge durchzusetzen, indem sie sich, so Susan Richter zu Legitimationsstrategien bei Erbfolgestreitigkeiten um 1500, auf eine bereits erlangte göttliche Legitimation beriefen.103 Generell hängt dem Bild der Nimbus der belegten Realität und Tatsache an, da sie sich an der wahrnehmbaren Wirklichkeit orientieren.104 Bilder müssen sich jedoch nicht auf die wahrnehmbare Realität beschränken, sondern können Dinge darstellen, die so nicht vorhanden sind,105 um damit zusätzliche Aussagen zu treffen oder um

100 Erich Straßner: Text-Bild-Kommunikation – Bild-Text-Kommunikation (Grundlagen der Medienkommunikation 13), Tübingen 2002, S. 14. 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Susan Richter: Abgesetzt wegen »blodigkeit« – Geisteskrankheit als Legitimationsstrategie für erzwungene Herrschaftswechsel am Beispiel Christophs I. von Baden, Vortrag bei der Tagung »Wie kommuniziert man Legimation? Herrschen, Regieren und Repräsentieren in Umbruchsituationen«, Innsbruck, 11.–13. Juni 2008. Der Beitrag wurde aufgrund der Verzögerung des vorliegenden Tagungsbandes andernorts publiziert. Susan Richter: Abgesetzt wegen blodigkeit – Geisteskrankheit als Legitimationsstrategie für erzwungene Herrscherwechsel am Beispiel Markgraf Christophs I. von Baden, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 122 (2013), S. 85 – 111. 104 Straßner (wie Anm. 100), S. 13. 105 Ebd.

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Gegensätze sichtbar zu machen.106 Für Susan Richter gibt etwa die Darstellung Christophs I. mit seinen Söhnen, die gemäß der von ihm geplanten Erbfolge gereiht hinter ihm knien, vor, das dynastische Vorhaben bereits erfolgreich umgesetzt zu haben. Bilder haben neben ihrer Darstellungs- und Ausdrucksfunktion demnach vor allem auch Appellfunktion,107 die die emotionale Ebene meist mehr anspricht, als die intellektuelle.108 Daher verwundert es nicht, dass der helvetische Einheitsstaat versuchte, die Attribute der Schweizer Freiheitsikone Wilhelm Tell, der das Staatssiegel zierte, entsprechend der eigenen politischen Intentionen zu verändern: Dargestellt wurde, so Daniel Schläppi, nicht mehr der mit gespannter Armbrust bewehrte Tyrannenmörder, sondern der liebevolle Vater, der die Waffen nunmehr abgelegt hat; gleichzeitig versuchte das oppositionelle Bildprogramm die Insignien der französischen Revolution ins Gegenteil zu verkehren, indem die Revolution selbst zum feuerspeienden Drachen gemacht und das Sinnbild der Libert¦ zur Staffage degradiert wurde. Eine andere Form der Visualisierung sind repräsentative Staatsakte, die in einem Zusammenspiel aus sprachlichen Formeln und rituellen Handlungen »Repräsentativdeklarationen«109 darstellen. Bei deklarativen Sprechakten wird eine bestimmte institutionelle Tatsache dadurch herbeigeführt, dass ein Vertreter bzw. eine Vertreterin der Institution diese öffentlich erklärt.110 Die so transportierten institutionellen Tatsachen betreffen meist Rolle und Status von Personen innerhalb der jeweiligen Institution.111 Öffentliche Huldigungen, wie sie von alters her bekannt sind und in einer Vielzahl der hier versammelten Beiträge als Mittel politischer Legitimierung zu finden sind, institutionalisieren die Rolle und den Status der Person als legitimer Herrscher bzw. legitime Herrscherin. Die Bedeutung von Ritualen ergibt sich dabei weniger aus einer rationalen Einsicht oder aus der Situation selbst, sondern aus der symbolischen Qualität des Rituals.112 Rituale werden, mit anderen Worten, vor allem emotional und weniger kognitiv erlebt113 und so dienten auch die Herrschaftsjubiläen und Straßner (wie Anm. 100), S. 13. Ebd., S. 15. Ebd., S. 13. John R. Searle: Sprechakte – Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. 1973. Götz Hindelang, Einführung in die Sprechakttheorie – Sprechakte, Äußerungsformen, Sprechaktsequenzen, Berlin/New York 2010, S. 46. 111 Ebd. 112 Ingwer Paul: Rituelle Kommunikation – Sprachliche Verfahren zur Konstitution ritueller Bedeutung und zur Organisation des Rituals (Kommunikation und Institution 18), Tübingen 1990, S. 21. 113 Wilma Kauke: Jugendweihe in Ostdeutschland – Ein Ritual im Umbruch, in: Peter Auer/ Heiko Hausendorf (Hg.), Kommunikation in gesellschaftlichen Umbruchsituationen – Mikroanalytische Aspekte des sprachlichen und gesellschaftlichen Wandels in den Neuen Bundesländern (Reihe Germanistische Linguistik 219), Tübingen 2000, S. 271 – 303, hier S. 273.

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Herrschergeburtstage im deutschen Kaiserreich, wie sie Frank Engehausen in diesem Band beschreibt, vor allem auch der emotionalen Einigung des Volks. Zusammen mit der wertebestätigenden und sozialverbindlichen Funktion werden Rituale damit zu einem wertvollen Stützpfeiler zur Stabilisierung politischer Systeme.114

Abschließende Worte Im Laufe der Geschichte, so wie sie sich in Ausschnitten in den hier vorgestellten Beiträgen zeigt, scheinen sich die zugrundeliegenden kommunikativen Strategien der politischen Akteurinnen und Akteure kaum zu verändern: Sei es nun im Gebrauch von Hochwertwörtern, Stigmawörtern und Schlagwörtern, sei es in der Verwendung bestimmter argumentativer Muster oder im Rückgriff auf sprachliche und außersprachliche Bilder, die Politik scheint immer wieder auf Altbewährtes zurückzugreifen. Doch während die grundlegenden Muster und Strategien politischer Kommunikation weitgehend gleichbleiben, ist die inhaltliche Befüllung der Strukturen mit Bedeutung stark kontextabhängig und muss für all jene unbestimmt bleiben, die den spezifischen Situationsrahmen im Sinne der politischen Hintergründe, Ort und Zeit nicht kennen.115 Sprache als Lebensform116 muss stets in ihrem soziokulturellen Zusammenhang betrachtet werden:117 Die »Sozialität und Kommunikativität des Sprechens«118 wird dabei zur Richtlinie, an der sich nicht nur politische Akteurinnen und Akteure sondern auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu orientieren haben. Interdisziplinäre Ansätze, wie jener in diesem Band, können zumindest als Versuch angesehen werden, dieser Forderung auch für vergangene Jahrhunderte und Jahrtausende gerecht zu werden.

114 Kauke (wie Anm. 113), S. 273. 115 Dieckmann, Sprache in der Politik (wie in Anm. 39), S. 55. 116 Siehe dazu etwa Eike von Savigny: Spachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung?, in: Ders. (Hg.), Ludwig Wittgenstein – Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998, S. 7 – 39. 117 Siegfried J. Schmidt: Sprache und Politik – Zum Postulat rationalen politischen Handelns, in: Annamaria Rucktäschel (Hg.), Sprache und Gesellschaft, München 1972, S. 81 – 101, hier S. 86 f. 118 Ebd., S. 87.

Claudia Tiersch

Der Freiheitsbegriff als Kategorie politischer Legitimation zwischen später Republik und früher Kaiserzeit

Der Freiheitsbegriff als analytische Kategorie Der französische Philosoph Benjamin Constant konstatierte in einem 1819 gehaltenen Vortrag einen fundamentalen Unterschied zwischen antikem und modernem Freiheitsverständnis.1 Während die Antike, so Constant, die Freiheit vor allem als gemeinsame politische Teilhabe begriffen habe, verstünde die Gegenwart darunter v. a. den starken Staat, da nur er es sei, der allen Individuen ihre Freiheitsrechte garantiere. Mit dieser Äußerung hat Constant zweifellos einen wichtigen kategorialen Unterschied der verschiedenen Nuancen von Freiheit benannt. Zugleich lässt dies deutlich werden, dass die politische Organisationsform eines Gemeinwesens und die individuelle Freiheit seiner Bürger nicht zwingend korrelieren.2 Allerdings irrte Constant in einem entscheidenden Punkt.3 So bietet die von ihm benannte Dichotomie weder für die Antike noch für die Moderne eine zutreffende Beschreibung. Kennzeichnend für moderne Staaten ist vielmehr die Verbindung aus allgemeiner politischer Teilhabe, vermittelt durch ein Repräsentativsystem, und den garantierten individuellen Freiheitsrechten ihrer Bürger. Dass aber auch die Annahme, innerhalb der Antike habe man die Freiheit vor allem als gleiche politische Teilhabe und nicht im Sinne individueller Freiheitsrechte verstanden, unzulässig vereinfacht, soll anhand eines signifikanten Beispielfalls gezeigt werden.4 Er betrifft Kontinuitäten und Wandlungen des 1 Benjamin Constant: De la libert¦ des anciens compar¦e — celle des modernes. Vgl. hierzu Wilfried Nippel: Antike und moderne Freiheit, in: Walter Jens/Bernd Seidensticker (Hg.): Ferne und Nähe der Antike. Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne, Berlin/New York 2003, S. 48 – 68, hier S. 48, 57 – 59. 2 Wilfried Nippel: Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Frankfurt a. M. 2008. 3 Dies konstatiert bereits Peter A. Brunt: Libertas in the Republic, in: Ders., The Fall of the Roman Republic and Related Essays, Oxford 1999, S. 281 – 350. 4 Für Athen hat die Vereinbarkeit von Partizipationsrechten und individuellen bürgerlichen

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Freiheitsbegriffs in einem der spektakulärsten Transformationsprozesse der römischen Geschichte: dem Übergang von der römischen Republik zur Kaiserzeit, dem Prinzipat. Auf den ersten Blick erscheint es naheliegend, die römische Kaiserzeit vor allem als Verlust an politischer Freiheit zu qualifizieren. Angesichts einer Entwicklung, innerhalb derer eine monarchische Herrschaft eine politische Ordnung ablöste, die sich selbst als res publica, als öffentliche Angelegenheit verstand, scheint eine solche Deutung unausweichlich. Der römische Historiker Tacitus hat diese Sicht auch in seiner Schilderung der Situation nach dem Tod des ersten Kaisers Augustus höchst farbig auf den Punkt gebracht: »Aber in Rom warf sich alles der Knechtschaft in die Arme, Konsuln, Senatoren, Ritter. Je angesehener einer war, desto größer war seine Heuchelei und Eilfertigkeit, und mit wohleinstudierter Miene, um nicht froh zu erscheinen über den Tod des Herrschers noch allzu traurig über den neuen Anfang, mischten sie Tränen und Freude, Klagen und Schmeichelei.«5

Seine Schilderung wird auch durch den realen Befund unterstützt, dass bereits unter den ersten Kaisern alle Institutionen politischer Freiheit, wie Comitien oder Wahlen sukzessive an Bedeutung verloren. Die alleinige Macht lag damit deutlich sichtbar beim Kaiser. Einen Verlust an politischer Freiheit brachte der Prinzipat also tatsächlich mit sich.6 Allerdings ergeben die öffentlichen Diskurse wie auch die Propaganda der frühen Kaiserzeit einen überraschenden, weil dazu konträren Befund. Hier findet sich, etwa im Bereich der Münzprägung der Begriff der libertas keineswegs selten.7 Unverkennbar nutzten also gerade auch die römischen Kaiser ihn Freiheitsrechten überzeugend Peter P. Liddel: Civic obligation and individual liberty, Oxford 2007, gezeigt. 5 Tac. ann. 1,7,1 (zit. n.: P. Cornelius Tacitus, Annalen, Lateinisch-Deutsch, hg. von Erich Heller, München/Zürich 1982. Im Folgenden abgekürzt mit Tac. ann.). 6 Die Zenturiatskomitien traten zwar noch zusammen, waren aber zu Organen obligatorischer Zustimmung geworden, denn Augustus schlug seit 7. n. Chr. die Kandidaten für alle Magistraturen vor. Zumindest zu Ende der Herrschaft des Tiberius waren Nominierungszenturien und Zenturiatskomitien bedeutungslos geworden, denn die Kandidaten wurden von Kaiser und Senat aufgestellt, der Volksversammlung blieb nur noch, die vorgeschlagene Auswahl zu akklamieren; Cass. Dio 58,20,3 – 5 (zit. n.: Dio’s Roman History, in nine volumes, with an English translation by Earnest Cary, Cambridge, Mass. u. a. 1995. Im Folgenden abgekürzt mit Cass. Dio); Inscriptiones Lantinae Selectae (ILS) 944; Regula Frei Stolba: Untersuchungen zu den Wahlen in der frühen Kaiserzeit, Zürich 1967, S. 116 – 120; S¦golÀne Demougin: L’ordre ¦quÞstre sous les Julio-Claudiens, Rom 1988, S. 431 – 436; FranÅois Jacques/John Scheid (Hg.): Rom und das Reich in der hohen Kaiserzeit 44 v. Chr. – 260 n. Chr., Bd. I: Die Struktur des Reiches, Stuttgart/Leipzig 1998, S. 54 – 58. 7 Das erste Beispiel hierfür ist eine Kistophorenprägung des Augustus vom Jahre 28 v. Chr. aus Ephesus mit der Vorderseitenlegende: LIBERTATIS P R VINDEX, Edward Allen Sydenham: Roman Imperial Coinage, Bd. 1, London 21984, S. 79, Nr. 476; Armin U. Stylow: Li-

Der Freiheitsbegriff als Kategorie politischer Legitimation

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für ihre Legitimation. Es stellt sich die Frage nach der Motivation, aber auch nach der Berechtigung eines solchen Begriffsgebrauchs. Handelte es sich hierbei nur um Schönfärberei, um den Gebrauch traditioneller Leerformeln, die aus der res publica überkommen waren und zum gemeinsamen Traditionsbestand gehörten? Hiergegen spricht, dass das frühe Kaisertum institutionell kaum gefestigt war und einen dementsprechend hohen Legitimationsbedarf hatte. Eine Propaganda, die an allen Adressaten völlig vorbeigelaufen wäre, eventuell sogar auf eklatante Systemschwächen des Prinzipats verwiesen hätte, wäre für diese Zwecke kontraproduktiv gewesen. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Kaiser möglicherweise eine Konzeptionalisierung des Freiheitsbegriffs gewählt hatten, für die durchaus Akzeptanzchancen bei der römischen Bevölkerung bestanden. Diese Überlegungen führen zum besonderen heuristischen Wert des Freiheitsbegriffs. Dieser ist innerhalb verschiedener historischer Gesellschaften kulturell höchst verschieden. Was man unter Freiheit versteht, hängt zutiefst davon ab, wovon man sich jeweils bedrückt sieht. Dies kann der Verlust kultureller Autonomie ebenso sein wie wirtschaftliche Bevormundung oder aber der Verlust traditioneller Privilegien. Aussagekräftig ist das jeweilige gesellschaftliche Freiheitsverständnis aber auch im Hinblick darauf, wodurch man sich selbst definiert und worauf man seine Ansprüche auf Freiheit gründet, durch welches normative Grundgerüst man also der Bedrückungssituation begegnet. Gerade diese inhaltliche Unschärfe eines ubiquitären Begriffs, der durch verschiedenste Inhalte gefüllt werden kann, ermöglicht im Epochenvergleich interessante Rückschlüsse auf kulturelle Selbstwahrnehmungen und politische Schichtungen. Dies haben Untersuchungen zu Freiheitsdiskursen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit gezeigt.8 Wodurch ist nun das römische Freiheitsverständnis gekennzeichnet? Diesem Problem ist anhand von drei Punkten nachzugehen: Hierbei ist erstens die Geschichte, gleichsam die kulturelle Tiefenstruktur des römischen Freiheitsbegriffs zu erörtern. Zweitens geht es um die Frage, inwiefern dieses tradierte Freiheitsverständnis innerhalb der späten Republik in eine Krise geriet und damit zum Problem wurde. Dies führt drittens dann zu der Überlegung, welche

bertas und Liberalitas. Untersuchungen zur innenpolitischen Propaganda der Römer, München 1972, S. 29; Chaim Wirszubski: Libertas als politische Idee im Rom der späten Republik und des frühen Prinzipats, Darmstadt 1967, S. 124 – 129. Zahlreiche Münzbelege z. B. für Claudius, Galba, Vespasian, Nerva, Trajan, Hadrian, Commodus, Pertinax etc. bietet Lothar Wickert: Art. Princeps (civitatis), in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaften (RE), XXII, 2 (1954), Sp. 1998 – 2296, 2082 – 2090 sowie Stylow (wie Anm. 7), S. 209 – 237. 8 Peter Blickle: Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 2003; Jörg Schlumbohm: Freiheitsbegriff und Emanzipationsprozeß, Göttingen 1973.

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gesellschaftlichen Konsenspotentiale und Erwartungshaltungen die römischen Kaiser für ihre Eigenlegitimation anhand des libertas–Begriffs nutzen konnten.

Die Geschichte des römischen Freiheitsbegriffs Einen ersten Hinweis darauf gibt der berühmte römische Redner und Politiker M. Tullius Cicero in seinem Werk »Über den Staat« (De re publica), das er 55 v. Chr. verfasste. Hier definiert er Freiheit als die gemeinsame Teilhabe aller, d. h. des gesamten populus, an den politischen Angelegenheiten der Gesamtgemeinde. Sobald es jedoch an die nähere Beschreibung dieser gemeinsamen politischen Teilhabe geht, wird Cicero seltsam schwammig. So deklariert er völlig selbstverständlich, dass der Vorrang der boni im Staat gewahrt bleiben müsse. Insbesondere die geheime Abstimmung, knapp einhundert Jahre vor der Abfassung seiner Schrift in Rom eingeführt, erregt seinen Verdruss.9 Zwar gesteht er widerwillig ein, dass dies die Freiheit der Bürger fördere, doch werde hierdurch zugleich der Einfluss der Patrone auf das Stimmverhalten ihrer Klienten beseitigt. Deshalb schlägt der Politiker einen höchst bezeichnenden Kompromiss vor : Die Bürger sollten weiterhin geheim abstimmen dürfen, doch vor dem Abstimmungsgang sollten sie ihr Stimmtäfelchen einem Angehörigen der Senatsaristokratie zeigen.10 Es verwundert nicht, dass Ciceros Vorschlag nicht aufgegriffen wurde. Immerhin zeigt seine Äußerung aber, dass es innerhalb der römischen Republik durchaus unterschiedliche Vorstellungen über die Freiheit der allgemeinen politischen Teilhabe gab und man eher von einer nach Status, genauer gesagt nach Würde (dignitas) abgestuften Freiheit ausging. Dies unterstreicht auch die Äußerung des Scipio Aemilianus, einem der bekanntesten römischen Politiker des 2. Jahrhunderts v. Chr., wonach die libertas eines Mannes mit dessen imperium, also dessen Befehlsgewalt korreliere. Demnach war also derjenige besonders frei, der die Möglichkeit besaß, auf politisch legalisiertem Weg seinen Willen durchzusetzen.11 In der Tat ist der Freiheitsbegriff im republikanischen Rom als äußerst he9 Cic. leg. 3,35 f. (zit. n.: M. Tullius Cicero, Über die Gesetze/De legibus, Lateinisch-Deutsch, hg. von Rainer Nickel, München u. a. 22001. Im Folgenden abgekürzt mit Cic. leg.). 10 Zur Widersprüchlichkeit von Ciceros libertas–Begriff vgl. Cic. rep. 1,41 (zit. n.: M. Tullius Cicero, Der Staat/De re publica, Lateinisch-Deutsch, hg. von Karl Büchner, München 31973. Im Folgenden abgekürzt mit Cic. rep.) mit Leugnung jeder Abstufung an Freiheit, libertas sei entweder aequa oder gar nicht; in Cic. rep. 2,39 hält er aber dagegen, dass das bevorzugte Stimmrecht immer in der Hand der Vermögenden, nicht in der der Menge sein solle und dass man immer im Staat darauf zu achten habe, dass nicht die Menge das meiste vermöge; Hans P. Kohns: Libertas populi und libertas civium, in: Bonner Festgabe Johannes Straub, Bonn 1977, S. 201 – 211, hier S. 206. 11 Oratorum Romanorum Fragmenta2 (ORF2), fr. 32; Brunt (wie Anm. 3), S. 312.

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terogen zu charakterisieren, wobei lediglich zwei Ausnahmen bestanden. Die erste davon betraf den Bereich der außenpolitisch fokussierten Freiheit.12 Definierte man Freiheit als Freisein von der Bedrückung durch äußere Mächte, konnte man sich des Beifalls aller Bürger sicher sein. Nach diesem Verständnis war Rom als Weltmacht sogar die freieste aller Städte, eben weil es seine Bürger effektiv vor äußerer Gefahr zu schützen vermochte und gleichzeitig selbst über viele Städte und Völker herrschte.13 Schichtenübergreifende Verbindungen lassen sich auch im libertas–Begriff konstatieren, der Freiheit als Gegensatz zum Zustand der Sklaverei fasste.14 Darüber hinaus jedoch kann man von einer Dichotomie des Freiheitsverständnisses in Rom sprechen, welches nicht nur die hierarchische Spaltung der Gesellschaft in den Senat und das römische Volk widerspiegelte, sondern auch die Geschichte der römischen Republik. Als formend erwiesen sich hier vor allem zwei Ereignisse: Die Vertreibung der etruskischen Könige durch römische Adelsgeschlechter Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. sowie die harten Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Plebejern in den ersten beiden Jahrhunderten der Republik. Diese werden unter dem Begriff der Ständekämpfe gefasst. Es bleibt zu klären, inwiefern sich diese beiden Umbrüche auf das Freiheitsverständnis der Römer auswirkten. Die Phase des etruskischen Königtums führte zu einer ersten Blüte der Stadt Rom und sie war durchaus auch von Nutzen für mittlere und untere Gesellschaftsschichten, auf deren Unterstützung die etruskischen Könige in ihrer Amtsführung zurückgriffen. Gleichzeitig aber bedeutete diese Phase monarchischer Dominanz eine eklatante Einschränkung für die Machtansprüche römischer Adelsgeschlechter. Offenbar kam auch aus ihren Kreisen deshalb die Initiative für den Sturz des letzten etruskischen Königs

12 Kurt Raaflaub: Zwischen Adel und Volk. Freiheit als Sinnkonzept in Griechenland und Rom, in: Karl-Joachim Hölkeskamp/Jörn Rüsen/Elke Stein–Hölkeskamp/Hans Th. Grütter (Hg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, S. 55 – 80; Ders.: Freiheit in Athen und Rom. Ein Beispiel divergierender politischer Begriffsentwicklungen, in: Historische Zeitschrift 238 (1984), S. 529 – 567; Brunt (wie Anm. 3), S. 281 – 350. 13 So explizit Cicero de leg. agr. 2,29: in hac civitate, quae longe iure libertatis ceteris civitatibus antecellit; ebenso auch Cic. de leg. agr. 2,29; Rab. Post. 22; Phil. 6,19; 2 Verr. 5,164 (zit. n.: M. Tullius Cicero, Sämtliche Reden, hg. von Manfred Fuhrmann, Zürich u. a. 1970); Cic. Cato 4,24 (zit. n.: M. Tullius Cicero, Cato der Ältere über das Alter/Cato maior de senectute, Lateinisch-Deutsch, hg. und übersetzt von Max Faltner, München 21980. Im Folgenden abgekürzt mit Cic. Cato); Brunt (wie Anm. 3), S. 293; vgl. auch Dieter Nestle: Art. Freiheit, in: Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) 8 (1972), S. 269 – 306, 376 f. 14 Dies signalisieren die Bestimmungen des Zwölftafelrechts: 2,1a; 5,8; 7,12; 8,3; 14; 12,2a; Brunt (wie Anm. 3), S. 283. Zur Bedeutung von liber als »legitim geboren« vgl. auch Stylow (wie Anm. 7), S. 4.

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Tarquinius Superbus.15 Insofern überrascht es nicht, dass der Beginn der römischen Republik zu Ende des 6. Jahrhunderts für diese aristokratischen Kreise den Anfang einer Freiheitsphase markierte. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass nun die Herrschaft über das römische Gemeinwesen unbestritten und unbeschränkt von monarchischer Gewalt in den Händen dieser Geschlechterhäupter lag. Auch wenn die Anfangsjahre der Republik noch durch heftige Rivalitäten innerhalb dieser Gruppierung geprägt waren und sich erst allmählich ein formalisiertes Rangsystem herausbildete, welches das kollektive Regiment des Senats ermöglichte, war die gemeinsame unbeschränkte Verfügung über den römischen Staat doch immer ein wichtiges Bindeglied des Adels.16 Diese libertas als Gegensatz zur Königsherrschaft, zum regnum, wurde auch innerhalb des römischen Geschichtsverständnisses geradezu zum identitätskonstituierenden Merkmal der gesamten res publica. Mehrere exempla aus der Frühzeit der römischen Republik kündeten von erfolglosen Versuchen, die Königsherrschaft wiederzuerrichten.17 Allerdings ist diese memoriale Selbstvergewisserung eher als erfolgreiche gesamtgesellschaftliche Ausweitung adliger Sichtweisen zu bewerten. Denn für die nichtaristokratischen Schichten der römischen Bevölkerung bedeutete der Sturz der Könige keineswegs einen Gewinn an Freiheit, sondern vielmehr einen massiven Statusverlust. Immerhin 15 Die etruskischen Könige vermochten sich nur auf eine relativ kleine Gefolgschaft zu stützen, waren also auf Akzeptanz ihrer Herrschaft bei der römischen Bevölkerung angewiesen. In diesem Kontext ist die Ausdehnung Roms und der Ausbau des Stadtgebiets im 6. Jh. v. Chr. zu sehen, so überzeugend Bernhard Linke: Von der Verwandtschaft zum Staat. Die Entstehung politischer Organisationsformen in der frührömischen Geschichte, Stuttgart 1995, S. 112 – 117. Zur Bautätigkeit der etruskischen Könige (die auch archäologisch bezeugt ist) Liv. 1,35,10; 386 f. (zit. n.: Titus Livius, Römische Geschichte/Ab urbe condita, LateinischDeutsch, hg. von Hans Jürgen Hillen/Josef Feix, Darmstadt 1991. Im Folgenden abgekürzt mit Liv.); Dion. Hal. 3,67,4; 68,1 – 4; 69,1 (zit. n.: Dionysii Halicarnasensis Antiquitatum Romanorum quae supersunt, in sechs Bänden, ediert von Karl Jacoby Leipzig 1885 – 1929. Im Folgenden abgekürzt mit Dion. Hal.); Linke (wie Anm. 15), S. 114 f. Zum Bemühen des Servius Tullius zur Integration breiterer Bevölkerungsteile in die soziale Ordnung vgl. Liv. 1,43,1 – 13; Dion. Hal. 4,16,1 – 18,3 sowie Linke (wie Anm. 15), S. 120, 124 mit ausführlicher Diskussion. Zum Sturz des letzten etruskischen Königs Tarquinius Superbus, wahrscheinlich durch ein Bündnis zwischen den römischen gentes und Porsenna, einem auswärtigen etruskischen Rivalen, Liv. 1,59,3 – 60,4; 2,15,7; Dion. Hal. 4,84,1 – 85,4; Linke (wie Anm. 15), S. 132. 16 Das Interesse der patrizischen gentes lag gerade in einer weitgehenden Autonomie, sichtbar z. B. daran, dass der Beginn der Republik durch das Fehlen einer einheitlichen Zentralgewalt gekennzeichnet war, die sowohl juristische als auch militärische Kompetenzen in sich vereinigt hätte, Linke (wie Anm. 15), S. 143 – 149. Alfred Heuss: Zur Entwicklung des Imperiums des römischen Oberbeamten, in: Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte 64 (1944), S. 57 – 133, hier S. 84 – 104, zeigt, dass das römische Rechtswesen dieser Phase v. a. durch den Gedanken der Selbsthilfe geprägt war. 17 Sp. Cassius, Dion. Hal. 8,69,4; 71,5; Sp. Maelius, Liv. 4,12 – 14; Dion. Hal. 12,1 – 4; Zon. 7; M. Manlius Capitolinus, Liv. 6,11; 14 – 20.

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hatten sich die Monarchen nicht nur als wirksamer Schutz gegen adlige Willkür erwiesen, sondern auch den Zugang zu wichtigen Ressourcen, z. B. Land, ermöglicht. Insbesondere die Plebejer, die nicht als Klienten zu den mächtigen Geschlechterverbänden gehörten, sahen sich deshalb von nun an schrankenloser aristokratischer Willkür ausgesetzt. Die zugegebenermaßen fragmentarische Quellenlage verweist für diese Epoche nicht nur auf Land- und Verschuldungskrisen, sondern vor allem auf die völlige Rechtlosigkeit der Plebejer ohne wirksame soziale Schutzmacht.18 Als Folge kam es den antiken Quellen nach am Beginn des 5. Jahrhunderts zu bürgerkriegsartigen Spaltungen der Bürgerschaft und zu mehrfachen Auszügen der Plebejer aus Rom. Diese griffen zielgerichtet zum einzig wirksamen Drohpotential gegenüber adliger Unterdrückung, zur Verweigerung der Heeresfolge.19 Außerdem konstituierten sie sich zeitweise als plebejische Sondergemeinde mit eigenen Kulten und Magistraten, um durch diese Vernetzung und die Bündelung ihres quantitativen Potentials eine Stärkung ihrer Durchsetzungskraft zu erreichen.20 Dies führte zu einem ebenso langwierigen wie zähen Ringen zwischen Patriziern und Plebejern, wobei sich erstere aufgrund der oft prekären außenpolitischen Situation Roms zumindest zu einigen Kompromissen gezwungen sahen. Letztendlich kam es in zwei Bereichen zu erheblichen Verbesserungen. So gelang den sozial Führenden unter ihnen der politische Aufstieg in den Adel, der fortan als Verbindung aus Plebejern und Patriziern zum Amtsadel, zur Nobilität, wurde.21 Für alle anderen Plebejer erweiterten sich die politischen Rechte insofern, als sie die Beamten wählen und über alle politischen Angelegenheiten der Gesamtgemeinde abstimmen konnten. Seit 287 v. Chr. besaßen Beschlüsse der plebejischen Versammlung unmittelbare Gesetzeskraft.22 Erst mit dieser Entwicklung gewann der Begriff der res publica seine politische Verbindlichkeit für die gesamte Bürgerschaft. Dennoch implizierte das keineswegs gleiche politische Rechte. So wurden z. B. die wichtigsten Beamten in den sogenannten 18 Liv. 2,23,1 – 27,13; Dion. Hal. 5,63 – 70 u. 6,22,1 – 3, Linke (wie Anm. 15), S. 158 f. 19 Liv. 2,23 – 33; Dion. Hal. 6,23 – 90. Die Tradition gibt das Jahr 494 v. Chr. 20 Liv. 2,33,3; Dion. Hal. 6,89,4. Die Quellenangaben über die Zahl der Volkstribune ist für diese Zeit widersprüchlich und letztlich nicht zu entscheiden; Linke (wie Anm. 15), S. 160. 21 Tim J. Cornell: The Beginnings of Rome. Italy and Rome from the Bronze age to the Punic Wars (ca. 1000 – 264 v. Chr.), London 1995, S. 242 – 271. 22 Zur lex Hortensia vgl. Liv. per. 11 (zit. n.: Titus Livius, Periochae, Lateinisch, hg. von John Briscoe, Stuttgart 1973. Im Folgenden abgekürzt mit Liv. per.). Gell. 15,27,4 (zit. n.: Aulus Gellius, Attische Nächte, hg. von Heinz Berthold, Leipzig 1987. Im Folgenden abgekürzt mit Gell.). Plin. NH 1,3 (zit. n.: Plinius der Ältere, Naturkunde/Naturalis historia, LateinischDeutsch, hg. von Roderich König, München u. a. 1995). Im Folgenden abgekürzt mit Plin. NH); Gai. inst. 1,3 (zit. n.: Gaius Institutiones/Die Institutionen des Gaius hg. von Ulrich Manthe, Darmstadt 22010. Im Folgenden abgekürzt mit Gai. inst.).

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Zenturiatskomitien gewählt, einer Körperschaft, die streng nach Vermögen gegliedert war. Zudem blieb der Senat immer das politische Kraftzentrum des Staates, wo allein politische Diskussionen stattfanden.23 Dass die politische Freiheit des Einzelnen abgestuft nach dessen sozialem Status war, es sich somit um eine ständische Freiheit handelte, galt während der ganzen republikanischen Epoche als selbstverständlich. Mindestens ebenso wichtig war deshalb der zweite Teil der plebejischen Statusverbesserungen, die den Bereich der individuellen Rechte betrafen. So kam es im Laufe der Ständekämpfe nicht nur zu Rechtskodifikationen, wie dem Zwölftafelrecht oder der Veröffentlichung der Rechtsformeln durch App. Claudius Caecus, was die Zugänglichkeit zum Recht erheblich verbesserte.24 Mindestens ebenso bedeutsam waren die Erringung individueller Schutzrechte wie das Verbot der Schuldknechtschaft sowie die Möglichkeit, gegen ungerechtfertigte Urteile vor dem Volksgericht in Form der provocatio zu protestieren.25 Allerdings existierten auch hier weiterhin Möglichkeiten, zahlungsunwillige oder -unfähige Schuldner in der juristischen Form der addictio in Beugehaft zu nehmen, bis sie ihre Schulden abgearbeitet hatten.26 Noch kaiserzeitliche Quellen wie Quintilian oder Columella berichten von den entwürdigenden Bedingungen, in die Schuldner zuweilen gerieten.27 Die wohl entscheidendste Er23 Cic. rep. 1,43; 53; 2,39 f.; 4,2; leg. 3,44; Brunt (wie Anm. 3), S. 325. 24 Liv. 9,46; Gell. 7,9,2 – 4. Vgl. zu den erbitterten Streitigkeiten um die Kodifizierung des sogenannten Zwölftafelrechts Mitte d. 5. Jahrhunderts Liv. 3,9,5; Dion. Hal. 10,1,1 – 4,4; Liv. 3,31,1 – 55,5; Dion. Hal. 10,54 – 11,46; Cic. rep. 2,36,61 – 37,63; Linke (wie Anm. 15), S. 164 f.; Walter Eder: The Political Significance of the Codification of Law in Archaic Societies: An Unconventional Hypothesis, in: Kurt Raaflaub (Hg.): Social Struggles in Archaic Rome, Berkeley u. a. 1986, S. 262 – 300. 25 Der Beginn des Provocationsrechts ist nicht sicher datierbar. Möglicherweise sind zumindest die ersten beiden von der Annalistik angeführten Gesetze (lex Valeria von 509; Liv. 2,8; lex Valeria Horatia von 449; Liv. 3,55) fiktiv, erst die lex Valeria von 300 v. Chr. (Liv. 10,9) wird in der Forschung überwiegend als authentisch anerkannt. Allerdings werden häufig auch leges Porciae als juristische Basis des Provocationsrechts angeführt; so z. B. Cic. rep. 2,54; Rab. perd. 13 (zit. n.: Cicero, Sämtliche Reden, wie Anm. 13); Cato 4,10. Andere Stellen sprechen nur von einer lex Porcia; Cic. Rab. perd. 8; 2; Verr. 5,163; Sall. Catil. 39; 51 (zit. n.: C. Sallustius Crispus, Werke/Opera, Lateinisch-Deutsch, hg. von Werner Eisenhut, München u. a. 1994. Im Folgenden abgekürzt mit Sall. Catil.). Möglicherweise war die provocatio anfänglich eine Beistandsbitte an die plebs um physische Hilfe bzw. an die Tributcomitien. Zur provocatio vgl. Brunt (wie Anm. 3), S. 286. 26 Liv. 23,14,3; Cic. 2 Verr. 2,63; Flacc. 45;48 (zit. n.: Cicero, Sämtliche Reden, wie Anm. 13); Quint. inst. 5,10,60; 7,3,26 (zit. n.: M. Fabius Quintilianus, Institutio Oratoria, with an English translation by Harold E. Butler, Cambridge, Mass. u. a. 1968); Brunt (wie Anm. 3), S. 285 f. 27 (Ps.) Quint. decl. 311 (zit. n.: M. Fabius Quintilianus, Declamationes Minores, with an English translation by Michael Winterbottom, Berlin u. a. 1984), spricht davon, dass diese Schuldner quasi in Sklaverei gehalten wurden, bis sie ihre Schulden abgearbeitet hatten. Colum. 1,3,12 erwähnt gefängnisähnliche Einrichtungen, in denen Schuldner gehalten

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rungenschaft war deshalb die Einführung einer römischen Magistratur, deren Aufgabe fortan der Schutz plebejischer Interessen war, nämlich das Volkstribunat. Volkstribune interzedierten bei unberechtigten aristokratischen Übergriffen auf Plebejer, doch sie brachten auch wiederholt Gesetze zur Linderung plebejischer Notlagen ein.28 Entscheidend war ihre Funktion als Schutzmagistrate.29 Innerhalb der Forschung ist umstritten, inwieweit diese Entwicklungen bereits als Kampf um Freiheitsrechte stattfanden bzw. die Debatten in dieser Form artikuliert wurden. Die Ursache dieses Problems ist die spezifische Quellensituation der römischen Republik, die erst für das 2. Jahrhundert v. Chr. zeitgenössische Quellenangaben bietet.30 Insofern lag die Vermutung nahe, dass es sich bei entsprechenden Hinweisen zu früheren Zeiten ausschließlich um Rückprojektionen späterer Entwicklungen handle und für frühere Zeiten belastbare Angaben eigentlich nicht möglich seien. Gegen eine völlige Neuentstehung der libertas–Debatte in der späten Republik spricht aber, dass einige Zeugnisse nachweislich in das 3. Jahrhundert v. Chr. datierbar sind.31 Zudem findet sich bereits für das Jahr 246 v. Chr. eine Notiz, wonach Ti. Sempronius

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wurden (zit. n.: L. Iunius Moderatus Columella, Zwölf Bücher über Landwirtschaft/De re rustica libri duodecim, Lateinisch-Deutsch, hg. von Will Richter, München 1982). Tribunizische Hilfe und Provokationsrecht wurden deshalb auch als enge Einheit empfunden, so z. B. Liv. 3,48: tribuniciam auxilium et provocationem […] duas arces libertatis tuendae; ähnlich auch Liv. 10,9,3 – 67; Cic. de orat. 2,199 (zit. n.: M. Tullius Cicero, De oratore, Lateinisch-Deutsch, hg. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007. Im Folgenden abgekürzt mit Cic. de orat.); Cic. rep. 2,55; 3,44; Brunt (wie Anm. 3), S. 523, Anm. 8. Zur tribunizischen Gesetzgebungstätigkeit siehe Andreas Goltz: Die Delegierung des Wandels – Überlegungen zur tribunicischen Gesetzgebung in der mittleren römischen Republik, in: Stephan Müller/Gary W. Schaal/Claudia Tiersch (Hg.), Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und Transformation, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 91 – 105; Kaj Sandberg: Tribunician and Non-Tribunician Legislation in Mid–Republican Rome, in: Christer Bruun (Hg.), The Roman Middle Republic. Politics, Religion and Historiography. 400 – 133 B.C., Rom 2000, S. 121 – 140, hier S. 137 konstatiert eine Zunahme der tribunizischen Gesetzgebung parallel zur abnehmenden Gesetzgebungstätigkeit der Konsuln, die sich verstärkt auf die Kriegführung konzentrierten. Diod. 12,24 (zit. n.: Diodorus Siculus, Griechische Weltgeschichte, hg. von Thomas Nothers und Gerhard Wirth, Stuttgart 1992. Im Folgenden abgekürzt mit Diod.); Dion. Hal. 6,84; 89; Liv. 4,6,7; Liv. 3,55,10, 2,33,3; Val. Max. 6,3,4 (zit. n.: Valerius Maximus, facta et dicta memorabilia, Lateinisch-Englisch, hg. von D. R. Shackleton Bailey, Cambridge, Mass. u. a. 2000. Im Folgenden abgekürzt mit Val. Max.); Liv. Per. 14 (hier hatte ein junger Mann allerdings vergeblich gegen die Konfiskation seiner Güter plädiert, nachdem er nicht zur Aushebung erschienen war). Vgl. zur Herausbildung und Ausübung dieser Funktionen Jochen Bleicken: Das Volkstribunat der klassischen Republik, München 1968, v. a. S. 5 – 9 sowie 78 – 83. So z. B. Jochen Bleicken: Staatliche Ordnung und Freiheit in der römischen Republik (Frankfurter Althistorische Studien 6), Kallmünz 1972, S. 38 f. So zu Recht Raaflaub (wie Anm. 12), S. 533; vgl. etwa Ennius fr. 317 Vahlen; Accius Brutus fr. 4 (O. Ribbeck, Trag. Rom. Fragm. Praet. 40, p. 330); Appius Claudius Caecus, fr. 11 Malc.3 ; Cato Maior, fr. 162; 164; 252 Malc.3.

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Gracchus, der sich bereits als Vorkämpfer gegen aristokratischen Hochmut profiliert hatte, dem Iuppiter Libertas auf dem Aventin einen Tempel weihte, möglicherweise als Gegengründung zum kapitolinischen Iuppiter, der der Überlieferung nach am Beginn der freien Republik geweiht worden war.32 Wahrscheinlich ist bereits diese frühe Initiative als Instrument des politischen Propagandakampfs gegen die superbia einiger Adelsgeschlechter zu bewerten und besaß insofern besondere Aktualität, als auch das Volkstribunat in dieser Zeit erstmals wieder Ansätze zu revolutionärer Tätigkeit zeigte.33 Da zudem die antike Begriffsbildung generell an der Erfahrung und damit auch an der Vergangenheit orientiert war, ist es eher unwahrscheinlich, dass nach dem Ende der Ständekämpfe ein zuvor nicht aktueller Terminus dieser Größenordnung neu aufgebracht worden wäre.34 Das römische Freiheitsverständnis erweist sich somit als vielschichtig. Es besaß durchaus politische Implikationen. Allerdings war die Ausübung politischer Freiheitsrechte gestuft nach sozialem Status, also keineswegs allen Bürgern in gleicher Weise gemeinsam. Es gab ebenso wie innerhalb der Außenpolitik auch im innenpolitischen Bereich unterschiedliche Grade der Freiheit.35 Deshalb war die Gewährleistung individueller Grundrechte auf Schutz, physische Unverletzlichkeit und Ressourcenteilhabe und Rechtszugang mindestens ebenso wichtig für die Auffassung, Bürger einer res publica libera zu sein. Möglicherweise resultiert aus dieser anfänglichen Grunderfahrung der Schutz- und Rechtlosigkeit der Umstand, dass im Vergleich mit dem griechischen Freiheitsbegriff in Rom das negative Freiheitsverständnis, d. h. Freiheit von etwas, stärkere Bedeutung besaß.36 Allerdings war auch dieser Anspruch keineswegs nur juristisch abgesichert, sondern in seiner Wirksamkeit auch auf die Tätigkeit eines Schutzmagistraten, des Volkstribuns, angewiesen.37 Kennzeichnend für die römische Republik ist also, wie z. B. auch für die deutsche Gesellschaft im 32 Liv. 24,16,19; vgl. hierzu Jürgen von Ungern–Sternberg: Das Ende des Ständekampfs, in: Werner Eck (Hg.), Studien zur antiken Sozialgeschichte. Festschrift für Friedrich Vittinghoff, Köln/Wien 1980, S. 101 – 119, hier S. 111. 33 Diese Vermutung von Stylow (wie Anm. 7), S. 5 f. speist sich u. a. daraus, dass Ti. Sempronius Gracchus als plebejischer Ädil einen Multprozess gegen eine hochmütige Patrizierin namens Claudia führte, da sie durch verba incivilia die maiestas des Volkes verletzt habe, und letztendlich ihre Verurteilung zu 25.000 As durchsetzte; Liv. Per. 19; Val. Max. 8,1 damn. 4; Suet. Tib. 2,3 (zit. n.: C. Suetonius Tranquillus, Kaiserviten/De vita Caesarum, LateinischDeutsch, hg. von Hans Martinet, München 1997; hier: Vita des Tiberius). Ateius Capito bei Gell. 10,6. Auch der Tempel selbst wurde aus Strafgeldern errichtet; Liv. 24,16,19. 34 So zu Recht Raaflaub (wie Anm. 12), S. 534. 35 So Brunt (wie Anm. 3), S. 287. 36 Hierauf verweist Brunt (wie Anm. 3), S. 313. 37 Insofern ist Brunt (wie Anm. 3), S. 296 – 298 darin beizustimmen, dass libertas für die Römer dieser Zeit weniger ein abstrakter Begriff als vielmehr ein Bündel aus konkreten, allmählich erworbenen Rechten darstellte.

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Mittelalter, eine ständische Freiheitsauffassung mit patronalen Zügen. Unter Freiheit verstand man ein Bündel hart erkämpfter Privilegien. Immerhin aber erwies sich diese Summierung an Rechten und Privilegien allen Hierarchien zum Trotz als höchst integrativ und bildete eine entscheidende Grundlage für die militärische Einsatzbereitschaft der römischen Bürger in den zahlreichen Kriegen.

Ursachen für die Krise des Freiheitsbegriffs in der Epoche der späten Republik Seit der Mitte des 2. Jahrhunderts kam es zu verschärften sozialen Spannungen in der römischen Gesellschaft, um deren Bewältigung gerade auch in einem Diskurs über Freiheitsrechte gerungen wurde. Der Beginn dieses Prozesses ist in den insgesamt fragmentarischen Quellen nur in einigen Spuren fassbar. So kam es um 150 und 138 v. Chr. zu Konflikten in Rekrutierungsfragen.38 Der Grund dafür war, dass die Spanienkriege jener Jahre langwierig, verlustreich und arm an Beute waren. Daraufhin verweigerten zahlreiche Plebejer die Aushebung und damit die Heeresgefolgschaft, weil sie sich nicht sinnlos für militärische Prestigeinteressen der Nobilität opfern lassen wollten. Als die Konsuln dennoch von ihren Zugriffsmöglichkeiten Gebrauch machten, wurden sie von den Volkstribunen inhaftiert, ein bis dahin unvorstellbarer Vorgang.39 Die darauf folgenden Ereignisse zeugen vom erwachenden Wunsch der Bürger, sich von der erdrückenden aristokratischen Dominanz in politischen Fragen ein Stück weit zu lösen. Mit der Verabschiedung von sogenannten Tabellargesetzen seit 140 v.Chr. wurde erstmals in der römischen Geschichte die Einführung der geheimen Abstimmung und damit eine Entscheidung unabhängig von den Interessen des jeweiligen Patrons möglich. Entsprechend groß war der Widerstand der vom Einflussverlust Betroffenen.40

38 Lily R. Taylor: Forerunners of the Gracchi, in: Journal of Roman Studies 52 (1962), S. 9 – 27. 39 Liv. Per. 48; Pol. 35,3 – 4 (zit. n.: Polybios, Geschichte, hg. von Hans Drexler, Zürich u. a. 1978. Im Folgenden abgekürzt mit Pol.); App. Ib. 49 (zit. n.: Appian von Alexandria, Römische Geschichte, Band I: Die römische Reichsbildung, hg. von Kai Brodersen, übersetzt von Otto Veh, Stuttgart 1987). 40 Nicht umsonst sind die Tabellargesetze mehrfach Gegenstand von Münzbildern, so z. B. die Anspielung auf die lex Cassia auf dem Denar eines C. Cassius (Michael Crawford: Roman Republican Coinage (RRC), Cambridge 1974, 266/1) oder auf einer in das Jahr 125 v. Chr. zu datierenden Münze eines M. Porcius Laeca, der ebenfalls aus einer gens stammte, die sich eines die provocatio begünstigenden Gesetzes rühmen konnte (Crawford, RRC 270/1), vgl. Ernst Weiss: Tabellariae leges, in: RE 8 (1932), Sp. 1844; Hans-Werner Ritter: Zu libertas und den Tabellargesetzen in der römischen Münzprägung, in: Peter Kneissl/Volker Lose-

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Auch hier sprechen gegen Forschungsthesen, wonach die Gesetze damals noch nicht im Namen der libertas propagiert worden seien, zwei nahezu zeitgenössische Münzen.41 So präsentiert der Denar eines C. Cassius, der um 126 v. Chr. datiert wird, auf der Münzrückseite eine Gottheit, die mit einem in der rechten Hand gehaltenen pilleus, einer Freigelassenenkappe, als Libertas zu identifizieren ist.42 Der Verweis auf das Gesetz seines Vorfahren über die geheime Abstimmung erscheint naheliegend. Wahrscheinlich bereits im Folgejahr nahm wiederum ein Münzmeister Bezug auf das Tabellargesetz eines Verwandten. Hier triumphiert die Göttin Libertas, thronend auf einem vierspännigen Wagen, bekränzt von einer geflügelten Victoria.43 Dies sind die ersten zeitgenössischen Zeugnisse, die die Kategorie der libertas als Teil des öffentlichen Diskurses nicht nur belegen, sondern auch andeuten, dass Teile der Bevölkerung diesbezüglich Defizite wahrnahmen, welche die Gesetze zu mindern versprachen. Zur endgültigen Eskalation führte dann aber ein andersgearteter Konflikt. Bereits seit längerem hatte sich auf Grund der wachsenden Konzentration des Landbesitzes in den Händen von Großgrundbesitzern eine Krise des italischen Kleinbauerntums abgezeichnet. 133 v. Chr. versuchte ein Volkstribun namens Ti. Sempronius Gracchus, diesem Problem durch eine Neuverteilung von Staatsland an bedürftige Kleinbauern abzuhelfen.44 Die Senatsaristokratie beschränkte sich jedoch keineswegs nur darauf, das Projekt schrittweise abzuwürgen und so die Abstimmungsfreiheit der Volksversammlung zu verhindern. Man griff sogar zum Mittel der Gewalt: Ti. Sempronius Gracchus und mehrere hundert seiner Anhänger wurden von Senatoren mit dem Argument erschlagen, hier sei ein einzelner Politiker auf dem Wege gewesen, die Freiheit des Staates (d. h. die Autonomie des Senats) durch die Errichtung einer monarchischen Macht zu zerstören.45 Zehn Jahre später ereilte den jüngeren Bruder des Ti.

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mann (Hg.), Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption. Festschrift für Karl Christ, Frankfurt a. M. 1998, S. 608 – 614. So zu Recht Ritter (wie Anm. 40), S. 608 f. gegen Jochen Martin: Die Popularen in der Geschichte der römischen Republik, Freiburg 1965, S. 125 – 128, 176 – 178, 211, 43; Stylow (wie Anm. 7), S. 12, 16. Die Datierung stammt von Crawford (wie Anm. 40), 266/1. Bei allen Datierungsunsicherheiten ist zumindest eine Datierung in die Zeit der Tabellargesetze zu halten, so auch Ritter (wie Anm. 40), S. 609. Crawford (wie Anm. 40), 270/1; Ritter (wie Anm. 40), S. 609. App. civ. 1,11,5 (zit. n.: Appian von Alexandria, Römische Geschichte, wie Anm. 39); Liv. Per 58; vgl. David L. Stockton: The Gracchi, Oxford 1979, S. 40 – 60. App. civ. 1,14 – 16 (zit. n.: Römische Geschichte, Bd. II: Die Bürgerkriege, hg. von Kai Brodersen, übersetzt von Wolfgang Will, Stuttgart 1989); Plut. Ti. Gracchus 16 – 19 (zit. n.: Plutarch’s lives, in eleven volumes, with an English translation by Bernadotte Perrin, Cambridge u. a. 1984 u. a.); Stockton (wie Anm. 44), S. 74 – 77.

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Sempronius Gracchus das gleiche Schicksal.46 Zudem wurden nun nicht nur mehrere Tausend Anhänger getötet, sondern auch Angriffe auf die Unverletzlichkeit eines jeden römischen Bürgers lanciert. Der Senat rechtfertigte dies auch noch juristisch mit dem senatus consultum ultimum, d. h. mit dem Argument, der Staatsnotstand habe eine solche Vorgehensweise erfordert.47 In den Folgejahren kam es schrittweise zu einem Desintegrationsprozess des römischen Staates. Tatsächlich verliefen die Bruchlinien zwischen der konservativen Senatsmehrheit, den sogenannten Optimaten, sowie den einfachen römischen Bürgern und den für sie eintretenden Politikern, welche als Popularen bezeichnet werden. Interessanterweise bezogen sich beide Seiten in ihren Auseinandersetzungen auf den Begriff der libertas, ein Indiz für die hohe Wertigkeit dieser Norm im römischen Denken. Die gemeinsame Bezugsgröße hat in der Forschung verschiedentlich zu der Annahme geführt, die Konflikte seien nur um persönliche Machtrivalitäten gegangen, nicht aber um programmatische Unterschiede.48 In Wirklichkeit aber vermag eine Analyse der inhaltlichen Füllung des libertasBegriffs zu zeigen, wie weit beide Seiten in ihren politischen Vorstellungen davon tatsächlich auseinander lagen.49 So artikulierte die optimatische Senatsmehrheit durch den libertas-Begriff vor allem ihre Furcht, ein machtvoll aufstrebender Einzelpolitiker würde die unbeschränkte Senatsherrschaft beseitigen, d. h. die bestehende Ordnung stürzen.50 Infolgedessen sah sich jeder Politiker, der Initiativen zur Behebung der immer drückender werdenden Probleme der römischen Bevölkerung lancierte, mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe damit nur die Gewinnung von Anhängern und die Steigerung seiner eigenen Macht im Blick. Das implizierte die Anklage, er dränge nach der Königsherrschaft und gefährde die res publica libera.51 Angesichts des fragilen Machtgleichgewichts innerhalb der Nobilität 46 App. civ. 1,23 – 26; Plut. C. Gracchus, 8 – 12 (zit. n.: Plutarch’s lives, wie Anm. 45); Stockton (wie Anm. 44), S. 76 – 205. 47 Plut. C. Gracchus 14 – 17; Cic. dom. 38; 102 (zit. n.: Cicero Sämtliche Reden, wie Anm. 13); Cic. de orat. 2,30; 132; Caes. civ. 1,7,5 (zit. n.: C. Iulius Caesar, Über den Bürgerkrieg/De bello civili, Lateinisch-Deutsch, hg. von Otto Schönberger, Darmstadt 21990. Im Folgenden abgekürzt mit Caes. civ.); Liv. Per. 61; Jürgen von Ungern–Sternberg: Untersuchungen zum spätrepublikanischen Notstandsrecht. Senatus consultum ultimum und hostis-Erklärung, München 1970, S. 55 – 67. 48 So z. B. noch Robert Morstein Marx: Mass oratory and political power in the late Roman Republic, Cambridge 2004, S. 230 – 240, 280. 49 So zu Recht Ritter (wie Anm. 40), S. 614; Brunt (wie Anm. 3), S. 283: »Both conceptually and in practical application libertas meant different things to different people.« 50 Guy Achard: Pratique rh¦torique et id¦ologie politique dans les discours »optimates« de Cic¦ron, Leiden 1981, S. 316 – 323, 455 – 462; Hans Kloesel: Libertas, Dissertation Breslau 1939, S. 36; Nestle (wie Anm. 13), S. 277. 51 Plut. Ti. Gracchus 14,9.

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besaß diese Befürchtung eine gewisse Folgerichtigkeit. Die Konsequenz dieser Furcht war aber nicht nur, dass der Senat damit die Umsetzung dringend notwendiger Reformen behinderte. Weit schlimmer war, dass er in seinen Bemühungen, jegliche Formen konkurrierender Machtballungen zu zerschlagen, zu Methoden griff, welche die elementaren persönlichen Freiheitsrechte der anderen Bevölkerungsgruppen eklatant schädigten. So ermordete man keineswegs nur populäre Volkstribune wie Ti. und C. Sempronius Gracchus und etliche ihrer Nachfolger, sondern auch zahlreiche Anhänger. Angesichts von 2.000 erschlagenen Römern musste es im Jahre 121 v. Chr. wie Hohn klingen, dass der Senat seine Vorgehensweise mit einem angeblichen Staatsnotstand (senatus consultum ultimum) rechtfertigte und anschließend als Symbol der wiedergewonnenen Eintracht einen Concordia-Tempel errichten ließ.52 Wesentlich differenzierter war der Freiheitsbegriff ihrer popularen Gegner, d. h. der Politiker, die mit ihren Initiativen v. a. auf die Entscheidungsmöglichkeiten der Volksversammlung setzten. Auch in deren Propaganda spielte die politische Nuance der Freiheit eine herausragende Rolle. Allerdings warnten sie nicht vor der Gefahr einer möglichen monarchischen Machtkumulation, sondern versuchten bereits bestehenden Missstände zu steuern. Hier waren es eher die nobiles insgesamt bzw. die Führenden unter ihnen, welche als bedrückend angeprangert wurden, weshalb man die libertas gegenüber der dominatio paucorum proklamierte.53 Die von popularen Politikern eingebrachten Gesetze zeigen deshalb sehr klar, dass es ihnen sowohl um eine Begrenzung des überbordenden politischen Einflusses des Senats ging als auch um eine Erweiterung der politischen Freiheitsrechte des Volkes. Bereits die Tabellargesetze hatten das als Ziel.54 In die gleiche Richtung weisen z. B. auch Gesetze, die es dem Volk ermöglichten, verdiente Volkstribune eine zweites Mal zu wählen oder Volkstribune, die ihre Amtspflichten verletzt hatten, abzusetzen. Beamten, die vom 52 Plut. C. Gracchus 17 – 8; Aug. civ. 3,24 (zit. n.: Aurelius Augustinus, City of God/De civitate dei, with an English translation by Patrick G. Walsh, Oxford 2005. Im Folgenden abgekürzt mit Aug. civ.); Oros. 5,12,18 (zit. n.: Paulus Orosius, Die antike Weltgeschichte in christlicher Sicht, hg. von Adolf Lippold, Zürich u. a. 1985. Im Folgenden abgekürzt mit Oros). 53 Sall. Iug. 31,11; 20; 22; hist. 1,55,1; 3,48,1; 9; 11; 13 (zit. n.: C. Sallustius Crispus, Werke, wie Anm. 25); Caes. civ. 1,22,5; Cic. leg. 3,48. Als Verweis auf die angesichts seiner numerischen Unterlegenheit übersteigerten Machtansprüche des Senats sind die Parolen von der factio paucorum zu bewerten, so Rhet. Her. 1,8 (zit. n.: Rhetorica ad C. Herennium, LateinischDeutsch, hg. von Friedhelm L Müller, Aachen 1994); Sall. Catil. 38,3; hist. 1,12; 1,55,2; 3,48,6 f.; 11; 23; 28; Iug. 31,1; 4; 20; ep. ad Caes. 2,2,4; 3,1 – 7 (zit. n.: C. Sallustius Crispus, Werke, wie Anm. 25); Caes. civ. 1,22,5; Cic. Mil. 12 (zit. n.: Cicero, Sämtliche Reden, wie Anm. 13); leg. agr. 2,7; vgl. Christian Meier: Art. Populares, in: RE Suppl. 10 (1965), Sp. 549 – 615, hier Sp. 594. 54 Tabellargesetze: Cic. leg. 3,34; 39; Sest. 103; Planc. 16 (zit. n.: Cicero, Sämtliche Reden, wie Anm. 13); zur Wiederherstellung der Grundrechte des Volkes: Sall. Iug. 31,5; 16 f.; 22; 41,5; 42,1; hist. 1,55,6; 27; 348,2; 28; Caes. civ. 1,22,5; Meier (wie Anm. 53), S. 598.

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Volk verurteilt worden waren, sollte die Aufnahme in den Senat verwehrt werden und diejenigen, die sich gegen die maiestas des römischen Volkes vergangen hatten, sollten der Anklage verfallen. Ebenso entscheidend waren Gesetze, die die Möglichkeit zur Beobachtung religiöser Vorzeichen einschränkten, und damit ein probates Mittel der römischen Nobilität entschärften, unerwünschte politische Beschlüsse durch den Hinweis auf deren sakrale Fragwürdigkeit zu kippen.55 Andere Maßnahmen bemühten sich um eine genauere gesetzliche Regelung und Normierung staatlicher Vorgänge. Dies klingt für den modernen Zuhörer nach Selbstverständlichkeit, doch implizierte es in Rom, dass man damit den v. a. auf informellen Mechanismen bzw. auf dem Gewohnheitsrecht basierenden Steuerungsmöglichkeiten der Nobilität Einhalt gebot. Hierzu gehörte z. B. das Gesetz, wonach sich der Gerichtsmagistrat, der Prätor, in seiner Rechtsprechung auch an das von ihm erlassene Edikt halten solle. Der Zensor bekam die Richtlinie, dass er künftig nur noch diejenigen durch Rüge bestrafen dürfe, die bereits angeklagt und ordnungsgemäß verurteilt worden seien.56 Allerdings umfasste dieser Kampf für die politische libertas nur einen Aspekt popularen Wirkens. Ganz wesentlich war auch der Kampf für die Befreiung der Plebejer von materieller Not. Hierzu zählte die Einbringung von Ackergesetzen sowie Koloniegründungen, um die schlimmsten Folgen der Landnot in Italien zu beheben. Getreidegesetze sorgten wiederum für die staatliche Regelung der Getreideversorgung gerade der ärmeren Bürger Roms zu niedrigen Preisen. Weitere Erlasse regelten die Formen des Militärdienstes (z. B. Altersuntergrenzen für die Rekrutierung) und verhinderten damit zumindest die schlimmsten Begleiterscheinungen in diesem Bereich.57 55 Zentrale Materien in Verbindung mit dem libertas-Begriff waren v. a. die Forderungen nach Wiederherstellung des Volkstribunats nach der Diktatur Sullas bzw. die Forderungen nach Reetablierung des Provokationsrechts; vgl. z. B. Sall. hist. 3,48; Plut. Crassus 7,8 (zit. n.: Plutarch’s lives, wie Anm. 45); Cic. Brut. 217 (zit. n.: M. Tullius Cicero, Brutus, LateinischDeutsch, hg. von Bernhard Kytzler, München u. a. 1990); Cic. Verr. 2,1,155; Cic. Rab. perd. 12 – 17; vgl. Martin (wie Anm. 41), S. 10 – 19, 52 – 59; Meier (wie Anm. 53), v. a. S. 598 – 610. Erneute Bewerbungsmöglichkeit um das Volkstribunat: Cic. Lael. 96 (zit. n.: M. Tullius Cicero, Laelius über die Freundschaft/Laelius de amicitia, Lateinisch-Deutsch, hg. von Max Faltner, München 21966); Einschränkung der religiösen Obstruktionsmöglichkeiten: Ascon. 16 St. (zit. n.: Q. Asconius Pedianus, Commentaries on speeches by Cicero, ed. by R. G. Lewis and Jill Harries, Oxford u. a. 2006; Stangl, Bd. 2, 1912. Im Folgenden abgekürzt mit Ascon); Verbot der erneuten Bewerbung nach Abwahl durch das Volk: Plut. Gracchus 25,1; Diod. 35,25; Absetzungsmöglichkeiten für Volkstribune: Plut. Ti. Gracchus 15. 56 Einschränkung zensorischer Rügemöglichkeiten: Cass. Dio 13,2; Ediktbindung der Prätoren: Ascon. 48 St. 57 Ackergesetze: Cic. leg. agr. 2,63; off. 2,78 (zit. n.: M. Tullius Cicero, Vom pflichtgemäßen Handeln/De officiis, Lateinisch-Deutsch, hg. von Rainer Nickel, Düsseldorf 2008. Im Folgenden abgekürzt mit Cic. off.); Cic. Brut. 160; Getreidegesetze: Flor. Epit. 2 (zit. n.: L. Annaeus Florus, Epitoma de Tito Livio, Lateinisch-Englisch, hg. von Edward Seymour

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Der entscheidende Aspekt im Einsatz der Popularen für die libertas war aber ihr Kampf für die Wiederherstellung der bedrohten individuellen Grundrechte der Bürger. Dieser manifestierte sich z. B. in der Forderung nach Bewahrung und Einhaltung der geltenden Gesetze, die durch aristokratische Willkür immer wieder ausgehöhlt wurden. Insbesondere die Möglichkeit, gegen ungerechtfertigte Urteile vor dem Volksgericht mittels des Provokationsrechts protestieren zu können, stand im Zentrum der Debatte. Aber auch der Gesetzesantrag des C. Sempronius Gracchus, wonach römische Bürger nur nach ordentlichen Gerichtsbeschlüssen getötet werden dürften, zeigt, wie gefährlich die Lage eingeschätzt wurde.58 Die zuweilen geradezu schizophren anmutende Denkweise der Senatsaristokratie verdeutlicht plastisch das Beispiel eines seiner führenden Vertreter, des Redners und Politikers Cicero. Dieser trat wiederholt als Vorkämpfer für die Freiheit der res publica libera auf. Sein Freiheitsverständnis war jedoch zutiefst optimatisch, d. h. von der Furcht vor einer Bedrohung der Senatsherrschaft durch übermächtige Aristokraten, geprägt. Dies zeigt sein Argument gegen ein Ackergesetz des Volkstribuns Rullus, welches zahlreichen Römern Land und damit Lebensunterhalt ermöglicht hätte. Cicero plädierte vehement dagegen, weil es seinem Urheber und dessen Mitarbeitern, d. h. der Kommission zur Ackerverteilung, zu viel Machtgewinn ermögliche.59 Insofern erscheint es konsequent, dass er individuelle Rechtsfreiheiten gering einschätzte, wenn es darum ging, die Senatsherrschaft zu schützen. So trug er keine Bedenken, L. Sergius Catilina, in dessen Verschwörung er eine Gefahr für den römischen Staat vermutete, ohne Gerichtsbeschluss, allein auf Grund eines weiteren senatus consultum ultimum im Jahre 63 v. Chr. bekämpfen und dessen Anhänger töten zu lassen.60 Allerdings erwies sich dieser Coup in den Folgejahren als verheerend für Ciceros Reputation und als wirksames propagandistisches Mittel in den Händen seiner Gegner. So vermochte sein Intimfeind, der populare Volkstribun P. Clodius Pulcher, nicht nur die Verbannung Ciceros durchzusetzen, sondern auch die Zerstörung von dessen Haus. An dieser Stelle ließ P. Clodius Pulcher der libertas einen Altar errichten, als Symbol des Sieges über einen Mann, der römische Bürger ohne Gerichtsurteil hatte hinrichten lassen.61

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Forster, Cambridge, Mass. u. a. 1984); Cic. Sest. 103; Erleichterung des Militärdienstes: Plut. C. Gracchus. 5,1; vgl. Lukas Thommen: Das Volkstribunat in der späten römischen Republik, Stuttgart 1989, v. a. S. 41 – 71; Meier (wie Anm. 53), S. 608 – 610 mit weiteren Belegen. Provokationsrecht: Cic. de orat. 2,199; rep. 2,54; 3,44; Verr. 2,5,163. C. Gracchus: Gell. 1,7,7; 11,13,1 – 10; Cic. Verr. 5,163; Rab. perd. 12 f.; Cato 4,10. Cic. leg. agr. 2,15; Ritter (wie Anm. 40), S. 613. Cic. Cato 4,7; 11 – 13; Cass. Dio 37,35,4; Sall. Catil. 55,1. Cic. dom. 51; 116; Geoffrey Tatum: The Patrician Tribune, Chapel Hill/London 1999, S. 156 – 166.

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Selbstverständlich war die gesetzlose Hinrichtung der Catilinarier auch in den Wirren der späten Republik ein Ausnahmefall. Deutlich mehr Menschen kamen während der geradezu endemischen innenpolitischen Auseinandersetzungen ums Leben, anlässlich der Proskriptionen Sullas oder bei Kämpfen auf dem Forum.62 Insgesamt führte dies aber dazu, dass die Herrschaft des Senats in zunehmendem Maße als bedrückende Herrschaft einer kleinen völlig selbstbezogenen Interessengruppe wahrgenommen wurde, welche die Freiheitsrechte aller anderen essentiell verletzte. Als Beispiele mag die Rede eines Teilnehmers der sogenannten Catilinarischen Verschwörung von 63 v. Chr. dienen, des C. Manlius. Dieser motivierte seine Bitte um Verhandlungen an den römischen Senatsgesandten Marcius Rex mit Worten, die klar zeigen, wie gründlich die Unbarmherzigkeit von Praetor und Gläubigern die libertas verschuldeter Bauern beseitigt hatte: »Götter und Menschen rufen wir zu Zeugen an, Feldherr, dass wir die Waffen weder gegen unser Vaterland erhoben haben, noch um andere in Gefahr zu bringen, sondern um uns selbst gegen Unrecht zu sichern. Denn wir sind verelendet und verarmt und haben durch den rohen Zugriff von Wucherern größtenteils unsere Heimat, alle aber unseren guten Namen und unsere Habe verloren. Auch war es keinem von uns vergönnt, nach Art unserer Vorfahren den Schutz des Gesetzes zu genießen oder nach dem Verlust des ererbten Vermögens die persönliche Freiheit zu behalten. So groß war die Unerbittlichkeit der Wucherer und des Gerichtsvorstands. Oft haben eure Vorfahren aus Mitgefühl mit dem einfachen Volk von Rom durch ihre Beschlüsse seiner Verarmung abgeholfen und noch jüngst in unserer Zeit brauchte man wegen der Höhe der Verschuldung anstatt Silber bloß Kupfer zurückzuzahlen, womit alle rechtlich Denkenden einverstanden waren. Oft hat auch das Volk selbst entweder aus dem Streben nach Unabhängigkeit oder wegen der Überheblichkeit der Behörden die Waffen ergriffen und sich von den Patriziern losgesagt. Wir dagegen streben gar nicht nach Herrschaft und Reichtum […] wir wollen nur unsere Freiheit, die ein rechter Mann erst mit dem letzten Atemzuge aufgibt. Wir beschwören dich und den Senat: Nehmt euch eurer unglücklichen Mitbürger an, stellt den Rechtsschutz wieder her, den uns ein parteiischer Gerichtsvorstand entrissen hat, und versetzt uns nicht in die Zwangslage, uns fragen zu müssen, wie wir uns für unser Blut am besten rächen können, um dann unterzugehen.«63 62 Andrew Lintott: Violence in Republican Rome, Oxford 1999, S. 175 – 203. 63 Sall. Catil. 33: »Deos hominesque testamur, imperator, nos arma neque contra patriam cepisse neque quo periculum aliis faceremus, sed uti corpora nostra ab iniuria tuta forent, qui miseri, egentes violentia atque crudelitate faeneratorum plerique patriae, sed omnes fama atque fortunis expertes sumus. neque quoiquam nostrum licuit more maiorum lege uti neque amisso patrimonio liberum corpus habere: tanta saevitia faeneratorum atque praetoris fuit. saepe maiores vostrum, miserti plebis Romanae, decretis suis inopiae eius opitulati sunt, ac novissume memoria nostra propter magnitudinem aeris alieni volentibus omnibus bonis argentum aere solutum est. saepe ipsa plebs, aut dominandi studio permota, aut superbia magistratuum, armata a patribus secessit. at nos non imperium neque divitias petimus […] sed libertatem, quam nemo bonus nisi cum anima simul amittit. te atque senatum obtesta-

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Angesichts der hohen Wertigkeit, welche die libertas im Bewusstsein der Römer besaß, als ein spezifischer Wert der römischen Bürgerschaft, ist der Unmut der solcherart Degradierten plausibel.64 Das eigentlich Bemerkenswerte sind jedoch die Konsequenzen dieser Entwicklung. Gegen die von vielen empfundene Bedrückung von Freiheiten (sowohl in politischer, sozialer wie rechtlicher Hinsicht) kam es keineswegs zu einer Revolution der Betroffenen oder zu einer Gründung von Interessenverbänden. Vielmehr reaktivierte sich ein vertikaler Mechanismus, der seit langem die römischen Sozialbeziehungen strukturiert hatte: die Suche nach einem starken Magistrat, dessen Macht und Autorität den Schutz gewährten, der die Gewährung von Freiheitsrechten garantieren könne.65 Ein ähnliches Freiheitsverständnis durch personelle Schutzgewährung lässt sich durchaus auch im Heiligen Römischen Reich des Mittelalters beobachten. Im spätrepublikanischen Rom stieg das Bedürfnis nach dem Schutz des starken Einzelnen aber offenbar in dem Maße an, in dem die wirksame Durchsetzung von Freiheitsrechten durch politische Institutionen und den Senat als deren machtvollste Körperschaft nachließ. Im Zuge dieser Entwicklungen verlor dann offenbar auch die res publica libera als gemeinsamer politischer Rahmen an Bindungskraft. Wie konträr sich die Freiheitsvorstellungen der Senatsaristokratie und der übrigen Bevölkerung entwickelt hatten, zeigt schlaglichtartig eine Episode nach der Ermordung Caesars. Hier trat M. Iunius Brutus, einer der Caesarmörder, vor das Volk, um seine Tat als Befreiung der res publica vom Tyrannen, als Dienst an der Gemeinschaft zu legitimieren.66 Doch trotz ausgewiesener rhetorischer Brillanz des Redners versagte ihm das Publikum die Akzeptanz und damit das Forum, welches nach dem Tenor aller öffentlichen Reden vor dem Volk die legitimatorische Letztinstanz nobilitären Handelns im Dienste der res publica darstellen sollte. Für zahlreiche Römer war mit Caesar zugleich auch ihr Bollwerk gegen Hunger und aristokratische Bedrückung gestorben. Die von den Caesarmördern verkündete libertas als ungestörte politische Bewegungsfreiheit mur, consulatis miseris civibus, legis praesidium quod iniquitas praetoris eripuit restituatis, neve nobis eam necessitudinem inponatis, ut quaeramus, quonam modo maxume ulti sanguinem nostrum pereamus.« Brunt (wie Anm. 3), S. 286, begründet das gesteigerte Interesse von Gläubigern an der Inhaftnahme von Schuldnern plausibel damit, dass der Wegfall tausender Sklaven nach dem Spartakusaufstand das Bedürfnis nach alternativer Arbeitskraft erhöht habe. 64 Cicero selbst spricht von dieser hohen Wertigkeit: »O nomen dulce libertatis! O ius eximium nostrae civitatis.«; 2 Verr. 5,163; Brunt (wie Anm. 3), S. 296. 65 Paul Vanderbroeck: Popular Leadership and Collective Behavior in the Late Roman Republic (ca. 80 – 50 B.C.), Amsterdam 1987, S. 81 – 86, spricht zu Recht von der Entstehung einer »public clientele«. 66 App. civ. 2, 121 – 122; Cass. Dio XLIV 21; vgl. Francisco Pina Polo: Contra arma verbis. Der Redner vor dem Volk in der späten römischen Republik (Heidelberger Beiträge und althistorische Studien 22), Stuttgart 1996, S. 159 – 162.

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war nur noch die libertas des Brutus und seiner Standesgenossen. Männer wie M. Porcius Cato Uticensis waren sogar bereit gewesen, für sie zu sterben.67 Dennoch wurde sie durch die nichtaristokratischen Zuhörer des Brutus nicht mehr als die ihre empfunden.68 Dieser Eindruck mochte sich in den folgenden fünfzehn Jahren noch verstärken. In dieser Zeit wurde das Römische Reich durch den Kampf mächtiger Bürgerkriegsgeneräle wie Marcus Antonius und Octavianus Augustus um ihre Macht, ihre politische Bewegungsfreiheit und ihre Würde nahezu paralysiert. Zehntausende Römer erlitten wirtschaftliche Verelendung und Tod.69

Anknüpfungsmöglichkeiten des Prinzipats für eine Legitimation anhand des Freiheitsbegriffs Angesichts dieser gesellschaftlich tief gespaltenen Einstellungen zur römischen Republik war es nur folgerichtig, dass auch die Errichtung der Monarchie ab 27 v. Chr. durch Augustus auf unterschiedliche Resonanz stieß. Genau das spiegelt sich auch im gesellschaftlich fragmentierten Freiheitsbegriff. Augustus selbst motivierte seine Taten explizit damit, dass er den römischen Staat »a dominatione factionis« befreit habe.70 Für den Senat markierte der Anbruch des Prinzipats aber die Realisierung genau der Horrorvision, die man in der Spätphase der Republik beschworen hatte: Den Verlust von politischer Handlungsund Gestaltungsfreiheit zugunsten der Dominanz eines machtvollen Einzelpolitikers. Im Zuge dieses politischen Transformationsprozesses büßte selbstverständlich auch die römische Bevölkerung an politischen Befugnissen ein. So wurden Konsulwahlen und Volksversammlungen abgeschafft. Der offenbar völlig ausbleibende Widerstand gegen diese Form an institutioneller Entmün-

67 Plut. Cato minor 67 – 73 (zit. n.: Plutarch’s lives, wie Anm. 45). 68 In diesem Sinne auch Jochen Bleicken: Der Begriff der Freiheit in der letzten Phase der römischen Republik, in: Historische Zeitschrift 195 (1962), S. 1 – 20, hier S. 13. Nicht zufällig vermochte Kaiser Augustus später mit einer Deutung des libertas-Begriffs großen Anklang zu finden, die diese als persönliche Sicherheit der römischen Bürger konzeptionalisierte, nicht mehr als politische Bewegungsfreiheit, wie die römische Nobilität sie auffasste; vgl. hierzu jetzt Thomas Petersen: PR-Arbeit in der Antike. Wie Augustus zum vielleicht erfolgreichsten Politiker aller Zeiten wurde, München 2005, S. 126 – 130. 69 Vgl. hierzu eindrucksvoll Ronald Syme: The Roman Revolution, Oxford 2002, z. B. S. 173 – 186, 190 f., 195 – 197. 70 R. Gest. div. Aug. 1,1 f. (zit. n.: Augustus, Tatenbericht, Lateinisch-Griechisch-Deutsch, hg. von Ekkehard Weber, München/Zürich 1985. Im Folgenden abgekürzt mit R. Gest. div. Aug.): […] exercitum […] comparavi, per quem rem publicam a dominatione factionis in libertatem vindicavi.

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digung lässt sich nur damit erklären, dass die Bürger schon zuvor ihren politischen Gestaltungsspielraum als irrelevant eingeschätzt hatten.71 In anderer Hinsicht bedeutete der Prinzipat aber durchaus einen Zugewinn für die Freiheitsrechte der Bevölkerungsmehrheit. So gelang Augustus nicht nur die Beendigung des Bürgerkriegszustandes, was zu einem Zugewinn an innerer Sicherheit führte. Vor allem die monarchische Kontrolle der Verwaltung sorgte für ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit und unterband aristokratische Willkür. Hinzu kamen Maßnahmen, die auch die materielle Ressourcenteilhabe der Bürger verbesserten, seien es Landzuteilungen für Soldaten sowie die geregelte Wasser- und Getreideversorgung der stadtrömischen Bevölkerung. Diese Befreiung von materieller Not und aristokratischer Willkür konnte bei den Bürgern außerhalb der senatorischen Oberschicht durchaus als erhöhte Freiheit verstanden werden. Insofern gewinnt der eingangs geschilderte Befund, wonach die römischen Kaiser den Begriff der libertas wiederholt zu Repräsentationszwecken auf Münzen verwendeten, seine Plausibilität. Sie vermochten mit ihren Leistungen an uralte Freiheitsvorstellungen der römischen Bürger anzuknüpfen, oder anders gesagt, die Freiheitskonzeptionen des Prinzipats näherten sich an plebejische Freiheitsvorstellungen an. Diese Beobachtung kann sogar noch erweitert werden. Interessanterweise findet sich der libertas-Begriff in der Münzprägung zahlreicher Kaiser des Prinzipats insbesondere zur Eigenlegitimation nach Herrscherwechseln.72 Innerhalb der Forschung ist dieser Sachverhalt verstärkt mit Erweisen materieller Großzügigkeit verbunden (libertas-liberalitas, z. B. bei Steuerreduzierungen), zuweilen jedoch auch in seiner Berechtigung abgestritten worden.73 Beide Erwägungen greifen jedoch zu kurz. Die wiederholte Verwendung der libertasKategorie verweist vielmehr auf eine Besonderheit des Herrschaftssystems des römischen Prinzipats. Wie Egon Flaig eindrucksvoll gezeigt hat, ist das römische Prinzipat wesenhaft als Akzeptanzsystem zu fassen. Zugleich wird hier eine frappierende Diskrepanz erkennbar : So besaß der römische Kaiser einerseits 71 So vermerkt Nestle (wie Anm. 13), S. 277, für die römische Republik zu Recht »Die Vorstellung aber, daß diese libertas rei publicae mit der Freiheit jedes einzelnen Bürgers identisch sei, steht auf ziemlich schwachen Füßen, weil die regierende Oligarchie nicht bereit ist, jedem Bürger ein wirkliches politisches Mitbestimmungsrecht einzuräumen.« 72 So z. B. für Claudius: Sydenham (wie Anm. 7), S. 128, Nr. 97; S. 130, Nr. 113, für Galba: S. 233, Nr. 7, 8, 22, Vitellius: S. 268, Nr. 9, S. 270, Nr. 43 etc.; vgl. hierzu die Liste von Stylow (wie Anm. 7), S. 209 – 237; Lothar Wickert: Der Prinzipat und die Freiheit, in: Richard Klein (Hg.), Prinzipat und Freiheit. Ausgewählte Aufsätze zum Staatsdenken der Römer in der Kaiserzeit (Wege der Forschung 135), Darmstadt 1969, S. 94 – 135, hier S. 96 – 109. 73 So z. B. Wirszubski (wie Anm. 7), S. 124 – 132: »Libertatis vindex«; eine sinnentleerte Redensart. Allerdings widmet er sich der Thematik von Prinzipat und libertas auf den Seiten 153 – 171 sehr nuanciert. Zur Verbindung von libertas und liberalitas vgl. Stylow (wie Anm. 7), S. 58 – 73.

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infolge seines Oberkommandos über die römischen Truppen eine riesige Machtfülle. Andererseits aber war er für seine Herrschaftsausübung zwingend auf die Akzeptanz bestimmter Gruppen, wie z. B. der stadtrömischen Bevölkerung, des Senats und der Armee angewiesen. Institutionell war und blieb das Prinzipat erstaunlich wenig gefestigt. Eine Grenze fand kaiserliches Verhalten dort, wo die jeweiligen Ansprüche der verschiedenen Gruppen auf Wahrung ihrer dignitas betroffen waren. Die Quellen bieten eine Fülle von Beispielen, in denen unangemessenes Verhalten der Kaiser entrüstete Reaktionen der Betroffenen zur Folge hatte, was bis hin zu ihrem Sturz führen konnte. Usurpationen stellten in diesem System keine Anomalie dar.74 Der jeweilige Nachfolger vermochte sich dann glaubhaft als vindex libertatis zu legitimieren, der den tyrannischen Vorgänger, welcher die Rechte der Bürger mit Füßen trat, erfolgreich vertrieben habe. Während also das politische System des Prinzipats allmählich unumstößlich war, war es die Person des einzelnen Prinzeps niemals. Dieser hatte sich vielmehr immer anhand eines höchst traditionellen Normenkonzepts zu bewähren, welches den Respekt vor den Freiheitsrechten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen einschloss. Hierzu gehörten die Prinzipien der Bürgerlichkeit (civilitas), des Maßhaltens (moderatio) und des Gerechtigkeitsstrebens (iustitia).75 C. Plinius Caecilius Secundus pries im Jahre 100 n. Chr. in seiner Dankrede an Kaiser Trajan diesen als positives Beispiel kaiserlichen Herrschaftsgebarens, weil der Kaiser die Rechtsaufsicht übe, Delatoren keine Chance mehr lasse und damit auch Senatoren freimütig ihre Meinung äußern konnten.76 Dies ist keineswegs nur als senatorische Resignation zu interpretieren, die ihren Freiheitsbegriff jetzt auf das adäquate kaiserliche Verhalten verengt habe, da ein Mehr an Freiheit nicht mehr zu haben gewesen sei. Plinius formulierte vielmehr klare Verhaltenserwartungen, die erst die Grundlage senatorischer Akzeptanz bildete.77 74 Wie nachhaltig ein offen transgressorischer Akt, wie z. B. der Muttermord Neros, die öffentliche Wahrnehmung eines Kaisers sowie dessen Akzeptanz negativ beeinflusste und somit tatsächlich für verschlechterte Handlungsoptionen sorgte, zeigt Egon Flaig: Wie Kaiser Nero die Akzeptanz bei der Plebs urbana verlor. Eine Fallstudie zum politischen Gerücht im Prinzipat, in: Historia 52 (2003), S. 251 – 273. 75 Wolfgang Kunkel: Zum Freiheitsbegriff der späten Republik und des Prinzipats, in: Klein (wie Anm. 72), S. 68 – 93, hier S. 93. 76 Plin. paneg. 34 f. (zit. n.: C. Plinius Caecilius Secundus, Panegyrikus: Lobrede auf den Kaiser Traian, Lateinisch-Deutsch, hg. von Werner Kühn, Darmstadt 22008. Im Folgenden abgekürzt mit Plin. paneg.). Plinius betont z. B. auch das Zögern des Prinzeps, das ihm offerierte dritte Konsulat zu übernehmen. Hierbei solle der Kaiser als Vorbild agieren und dadurch ein Verhältnis zu den Senatoren schaffen, welches der dignitas aller Beteiligten Rechnung trage; Plin. paneg. 62,4 f. Weitere Evozierungen der libertas finden sich in Plin. paneg. 58,3; 66,2; 78,3; 87,1 u. a.; Wickert (wie Anm. 7), S. 2084 f. 77 So zu Recht Christian Ronning: Herrscherpanegyrik unter Trajan und Konstantin: Studien

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Dass diese Wandlungen des libertas–Begriffs durchaus auch im Senat der römischen Kaiserzeit keineswegs nur negativ reflektiert wurden, belegt ausgerechnet die durchaus differenzierte Sicht von Tacitus, von dem immerhin das eingangs zitierte düstere Stimmungsbild einer versklavten Senatorenschaft stammte.78 So räumte er ein, dass das frühere libertas-Verständnis ein uneingeschränkter Kampf um die Macht, schrankenlose licentia, gewesen sei,79 die nicht in einen Weltstaat passe, der eine Rechtsordnung verwirklichen wolle.80 Als Ersatz dafür müsse man sich, auch wenn man der früheren libertas nachtrauere, mit der Meinungs- und Redefreiheit zufrieden geben, der Auswahl des sittlich Besten zum Regenten anstelle dynastischer Erbfolge und den Möglichkeiten der Entfaltung von Tüchtigkeit zum Besten des Staates.81 Wenngleich also der Freiheitsbegriff im Verlauf der Kaiserzeit immer stärker in die Nähe der Begriffe securitas und pax trat, bleibt der Begriff der libertas ein zentraler Leitbegriff der kaiserlichen Legitimation. Konsequenterweise ließ sich nahezu jeder römische Kaiser in Münzprägungen und der offiziellen Panegyrik als restitutor libertatis feiern. Sogar noch die Inschrift auf der Phokassäule, die im Jahre 608 n. Chr. auf Geheiß des oströmischen Exarchen von Ravenna zu Ehren des Kaisers errichtet wurde und damit zugleich das letzte Bauwerk war, welches auf dem Forum Romanum errichtet wurde, preist den Herrscher mit folgenden Worten: »Dem höchsten, mildesten und frömmsten princeps, unserem Herren Phokas, dem ständigen, von Gott gekrönten Kaiser, dem Triumphator und immerwährenden Augustus hat Smaragdus, ehemaliger Vorsteher des kaiserlichen Palastes, Patricius und Exarch von Italien, ergeben Seiner Milde, als Dank für die unzähligen Wohltaten Seiner Frömmigkeit und für die Ruhe und Freiheit, die Italien erhalten wurden, diese Statue Seiner Majestät, blitzend vom Glanz des Goldes, hier auf die höchste Säule gestellt zu Seinem ewigen Ruhm und sie Ihm geweiht am ersten Tag des Monats August, in der elften Indiktion im fünften Jahr nach dem Consulat Seiner Frömmigkeit.«82

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zur symbolischen Kommunikation in der römischen Kaiserzeit, Tübingen 2007, S. 88 – 106, hier S. 89. Walter Jens, Libertas bei Tacitus, in: Hermes 84 (1956), S. 331 – 352. Tac. dial. 40 (zit. n.: P. Cornelius Tacitus, Dialogus de oratoribus, Lateinisch-Deutsch, hg. von Dieter Flach, Stuttgart 2005). Tac. hist. 1,16 (zit. n.: P. Cornelius Tacitus, Historien, Lateinisch-Deutsch, hg. von Joseph Borst, München/Zürich 1984. Im Folgenden abgekürzt mit Tac. hist.). Tac. ann. 4,32; hist. 1,1; 16; Tac. Agr. 1 (zit. n.: P. Cornelius Tacitus, Das Leben des Iulius Agrigola/De vita et moribus Iulii Agricolae, Lateinisch-Deutsch, hg. von Alfons Städele, München/Zürich 1991); Nestle (wie Anm. 13), S. 279. »Optimo clementiss(imo piissi)moque / principi domino n(ostro) / F(ocae imperat)ori / perpetuo a d(e)o coronato, (t)riumphatori / semper Augusto / Smaragdus ex praepos(ito) sacri palatii / ac patricius et exarchus Italiae / devotus eius clementiae / pro innumerabilibus pietatis eius beneficiis et pro quiete / procurata Ital(iae) ac conservata libertate / hanc sta(tuam maiesta)tis eius / auri splend(ore fulge)ntem huic / sublimi colu(m)na(e ad) perennem /

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Zusammenfassung Es wurde gezeigt, dass die libertas-Propaganda der Kaiser im frühen Prinzipat sowohl auf traditionelle Freiheitsvorstellungen v. a. der Plebejer als auch auf entsprechende Defizite rekurrieren konnte, die der Umgang des römischen Senats mit den Freiheitsrechten römischer Bürger in der späten römischen Republik gezeigt hatte. Hierdurch gelang den ersten principes eine höchst wirksame Herrschaftslegitimation, die allerdings im Falle des eigenen Versagens auch gegen ihn benutzt werden konnte. Dieses Phänomen gibt nicht nur aufschlussreiche Rückschlüsse auf die Organisationsform des Prinzipats. Es zeigt vor allem, wie wesentlich die Einhaltung und Förderung der Freiheitsrechte unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen für die Akzeptanz der jeweiligen principes waren. Unterschiede zur Moderne werden dabei vor allem im starken Interesse erkennbar, welches sich auf die Person des Monarchen als Garanten dieser Freiheiten richtete. Dennoch zeigt sich sehr klar, dass die eingangs von Constant zitierte Unterscheidung zwischen antikem und modernem Freiheitsbegriff so nicht zutreffend ist.

ipsius gloriam imposuit ac dedicavit / die prima mensis Augusti, indict(ione) und(icesima) / p(ost) c(onsulatum) pietatis eius anno quinto« (Corpus Insciptionum Latinarum 6,1200).

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Hitzige Debatten nach Caesars Ermordung. Herrschaftslegitimation in fiktiven Reden bei Appian und Cassius Dio1

Der Tod des C. Iulius Caesar (im Folgenden abgekürzt mit »Caesar«), der seit dem Sieg über Cn. Pompeius Magnus im Jahre 48 v. Chr. eine exponierte Stellung in der Republik (res publica) innehatte,2 führte für einen kurzen Zeitraum zu wechselnden politischen Allianzen in Rom, bis schließlich drei Männer aus dem engeren Umfeld Caesars sich zu einem Dreimännerkollegium (tresviri) zusammenschlossen.3 Es waren dies C. Octavius (der spätere Kaiser Augustus; im Folgenden abgekürzt mit »Oktavian«), Großneffe, Adoptivsohn und Erbe von Caesar ; M. Antonius, Konsul des Jahres 44 v. Chr. und langjähriger Weggefährte Caesars, sowie M. Aemilius Lepidus, Reiteroberst (magister equitum) Caesars. Als diese drei Männer ihr Bündnis und damit ihre Vorherrschaft in der res publica durch ein Plebiszit legitimieren ließen,4 begannen sie ihre politischen Ziele systematisch umzusetzen. Dabei schreckten sie auch vor einem Blutbad unter den römischen Bürgern nicht zurück.5 Die Legitimation ihrer politischen 1 Ich danke Christoph Ulf und den TeilnehmerInnen des »Offenen Forschungskolloquiums zur Römischen Geschichte« für den wissenschaftlichen Austausch über die späte römische Republik. 2 Vgl. z. B. Hartmut Galsterer : Gaius Iulius Caesar – der Aristokrat als Alleinherrscher, in: Karl-Joachim Hölkeskamp/Elke Stein-Hölkeskamp (Hg.), Von Romulus zu Augustus. Große Gestalten der römischen Republik, München 2000, S. 307 – 327; Martin Jehne: Caesar, München 42008, speziell S. 101 – 114. An dieser Stelle sei festgehalten, dass die Forschungen zur ausgehenden römischen Republik kaum zu überblicken sind. Im vorliegenden Beitrag kann daher nur auf ausgewählte Literatur hingewiesen werden. 3 Das Triumvirat wurde mit der »Ordnung des Gemeinwesens« betraut und ging mit der Bezeichnung triumviri rei publicae constituendae in die Geschichte ein, siehe z. B. Jochen Bleicken: Zwischen Republik und Prinzipat. Zum Charakter des Zweiten Triumvirats (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse: 3. Folge/185), Göttingen 1990, S. 11. 4 Mit der sogenannten lex Titia (43 v. Chr.) wurde das Triumvirat mit der Dauer für fünf Jahre gesetzlich eingerichtet, siehe Walter Eder : Triumvirat, in: Der Neue Pauly, Bd.12/1, Stuttgart/ Weimar 2002, S. 848. 5 Bei diesen als Proskriptionen bezeichneten Verfolgungen wurden die Betroffenen enteignet und viele von ihnen auch ermordet. Zu den bekannten Opfern der Proskriptionen zählt M. Tullius Cicero.

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Taten bezogen die Triumvirn eben aus diesem Bündnis, von dem Helmut Halfmann in seiner 2011 erschienenen Monographie über M. Antonius festhält, dass es »seinerseits alle Macht an sich riss und die Republik zu Grabe trug.«6 Folgt man den kaiserzeitlichen Erzählungen von Appian (2. Jh. n. Chr.) und Cassius Dio (2./3. Jh. n. Chr.), so führte die Ermordung Caesars an den Iden des März im Jahre 44 v. Chr. zu chaotischen Zuständen in der römischen Republik (res publica).7 Es wird in diesem Zusammenhang von Unsicherheit und einer gewissen Orientierungslosigkeit bei den machtpolitisch bedeutenden Institutionen (z. B. Senat) und Personen berichtet. Die Republik scheint nur mehr bedingt zu funktionieren. Die Situation wird als Endphase eines Umbruchs gedeutet, der letztlich in eine Monarchie mündet.8 Wie Appian und Cassius Dio diese konfliktträchtige Zeit im Detail zeichnen, soll im vorliegenden Beitrag anhand der Reden einzelner Protagonisten näher beleuchtet werden. Diese haben in der Forschung schon einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sowohl was ihre Stellung im Gesamtwerk als auch die darin enthaltenen politischen Reflexionen betrifft.9 Ebenso haben die Fragen nach den

6 Helmut Halfmann: Marcus Antonius (Gestalten der Antike), Darmstadt 2011, S. 94. 7 Folgende Übersetzungen der antiken Quellen werden benützt: Appian von Alexandria, Römische Geschichte, zweiter Teil: Die Bürgerkriege (Bibliothek der griechischen Literatur 27), übersetzt von Otto Veh, durchgesehen, eingeleitet und erläutert von Wolfgang Will, Stuttgart 1989; Cassius Dio, Römische Geschichte, Bd. 3: Bücher 44 – 50, übersetzt von Otto Veh, Düsseldorf 2007. Auf die Wiedergabe des griechischen Textes bei Zitaten wird in diesem Beitrag verzichtet. Hinweise auf den griechischen Text erfolgen nach: Appian’s Roman History, with an English translation by Horace White, in four volumes, volume III, London u. a. 1972 (4th reprint, first printed 1913). Appian’s Roman History, with an English translation by Horace White, in four volumes, volume IV, London u. a. 1968 (4th reprint, first printed 1913). Dio’s Roman History, with an English translation by Earnest Cary, on the basis of the version of Herbert Baldwin Foster, in nine volumes, volume V, London u. a. 1961 (2nd reprint, first printed 1917). Im Folgenden werden die Werke abgekürzt mit App. civ. und Cass. Dio (Abkürzung erfolgt für diese und alle weiteren antiken Quellen nach: Der Neue Pauly, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1997, S. XXXVI – XLIV). Für die hier analysierten Quellen finden sich direkte und indirekte Belege für die chaotischen Zustände in der Stadt am Tiber in App. civ. 2,117 – 2,148 (bes. App. civ. 2,118,494 – 498; 2,120,504 – 2,121,508; 2,126,525 – 528; 2,135,569); App. civ. 4,14,53 – 4,51,224; App. civ. 5,14,58; 5,17,68; 5,18,73 und Cass. Dio 44,33,4; 50,1 – 4. 8 Bei Appian nimmt dieser Prozess bereits mit L. Cornelius Sulla seinen Beginn, den er – ebenso wie Caesar – mit dem griechischen Wort »ty´ rannos« bezeichnet, z. B. in App. civ. 1,99,461 (bezogen auf L. Cornelius Sulla); App. civ. 2,108,453 und 2,119,501 (auf Caesar bezogen). Zur monarchischen Stellung Caesars bei Appian und Cassius Dio siehe auch Alain Gowing: The Triumviral Narratives of Appian and Cassius Dio (Michigan Monographs in Classical Antiquity), Ann Arbor 1992, S. 163 – 178, speziell S. 164. 9 Hier zu erwähnen sind v. a. Eleanor Huzar : The Literary Efforts of Mark Antony, in: Principat. 30. Band/1. Teilband, Sprache und Literatur (Literatur der augusteischen Zeit: Allgemeines; einzelne Autoren) (Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung II) Berlin u. a. 1982, S. 693 – 657; Gowing (wie

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Quellenvorlagen für die Reden und deren Ausgestaltung in den kaiserzeitlichen Geschichtsschreibungen Berücksichtigung gefunden.10 Im Fokus des vorliegenden Beitrages stehen die Reden als spezielle Erzählstrategie des Autors, als ein Mittel Geschichte zu produzieren. Neben dem Inhalt der Reden ist also die jeweilige Erzähltechnik, insbesondere das Verhältnis zwischen den literarischen Figuren und dem Erzähler, von besonderem Interesse.11 Es wird speziell der Frage nachgegangen, welche Motivationen und Ziele für ihre Handlungen die einzelnen Rednerfiguren von sich geben und wie die dem Geschehen übergeordnete Erzählinstanz (= Erzähler) damit umgeht.

Zwei Geschichten über die Legitimation von Herrschaft nach den Iden des März Sowohl Appian als auch Cassius Dio schreiben in griechischer Sprache eine römische Geschichte von der mythischen Gründung der Stadt Rom (ab urbe condita) bis in ihre Zeit. Die Darstellung der Ereignisse, die sich von der Ermordung Caesars bis zu den Aktionen der Triumvirn zugetragen haben, nimmt nur einen Teil der umfassenden Geschichtswerke ein. Beide Autoren gehörten der aristokratischen Schicht an, waren in öffentlichen Ämtern tätig und mit den monarchischen Herrschaftsstrukturen Roms vertraut.12 Sie schrieben ihre Geschichte ca. 200 Jahre (Appian) bzw. 250 Jahre (Cassius Dio) nach dem Mord an Caesar, mit dem Wissen um den Ausgang der Tat und vor dem sozio-politischen Hintergrund der eigenen Zeit. Appian und Cassius Dio bieten unterschiedliche Deutungen der politischen Verhältnisse und Motivationen einzelner Personen und Kollektive im Zusammenhang mit dem Attentat. Die Art, wie die zwei Historiographen die Umbruchphase beschreiben und wie sie die Herrschaftsansprüche der einzelnen Protagonisten kommunizieren, macht auf ihren speziellen Umgang mit der Vergangenheit aufmerksam, wie die folgenden Ausführungen verdeutlichen. Anm. 8), bes. S. 225 – 245; Fergus Millar : A Study of Cassius Dio, New York 1999, bes. S. 55 – 60, 78 – 83. 10 Vgl. dazu ebenso Huzar (wie Anm. 9), Gowing (wie Anm. 8), Millar (wie Anm. 9). 11 Auf dieser textanalytischen Ebene wird zwischen Autor als realhistorischer Person, die Geschichte schreibt, und dem zumeist anonymen Erzähler (= Erzählerfigur) unterschieden. Die Meinung des Erzählers wird nicht automatisch mit der Meinung des Autors gleichgesetzt. 12 Siehe dazu Barbara Kuhn-Chen: Geschichtskonzeptionen griechischer Historiker im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. Untersuchungen zu den Werken von Appian, Cassius Dio und Herodian (Europäische Hochschulschriften, Reihe 15: Klassische Sprachen und Literaturen 84), Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 80 – 85, 187 – 201.

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Das Drama bei Appian Für die Schilderung der Herrschaftsverhältnisse nach dem Tod Caesars lässt Appian seine Hauptfiguren direkt zu Wort kommen. Istv‚n Hahn und Alain Gowing haben in ihren Spezialuntersuchungen bereits auf die zahlreichen Reden in diesem Kontext aufmerksam gemacht.13 Drei wesentliche Merkmale lassen sich durch diese Erzählstrategie für die hier untersuchten Quellenstellen festhalten: (1) Die Reden treiben den Erzählverlauf voran. Durch sie werden politische Positionen deutlich gemacht.14 (2) Darüber hinaus versetzt diese dramatische Erzählform die Rezipientinnen und Rezipienten in die Zeit der Republik, in der öffentliche Reden im Senat oder in der Volksversammlung von größter politischer Bedeutung waren.15 (3) Schließlich ermöglichen direkte Reden dem Autor, Sachverhalte speziell – mitunter der Darlegung durch die übergeordnete Erzählinstanz auch entgegengesetzt – zu erläutern. Durch die inhaltliche Diskrepanz, die so zwischen der Rede einer literarischen Figur (Textebene 1) und dem über den Geschehnissen stehenden Erzähler (Textebene 2) entsteht,16 wird eine besondere Spannung für das Lesepublikum erzeugt, das ja um den Ausgang der historischen Ereignisse weiß, nicht jedoch um die Details und Verknüpfungen der speziellen Geschichte. Die Reden, die in unserem Zusammenhang von Interesse sind, erstrecken sich über die Bürgerkriegsbücher zwei bis vier. Die dargestellte Zeit reicht von der Ermordung des Diktators (15. März 44 v. Chr.) bis zum Sieg der Triumvirn in der Schlacht von Philippi (42 v. Chr.). Mit besonders eindrucksvollen Reden lässt Appian folgende Protagonisten auftreten: C. Cassius Longinus und M. Iunius Brutus – die zwei prominenten Caesarmörder ;17 ebenso M. Tullius Cicero (im 13 Istv‚n Hahn: Appian und seine Quellen, in: Gerhard Wirth (Hg.), Romanitas – Christianitas. Untersuchungen zur Geschichte und Literatur der römischen Kaiserzeit. Johannes Straub zum 70. Geburtstag am 18. Oktober 1982 gewidmet, unter Mitwirkung von KarlHeinz Schwarte und Johannes Heinrichs, Berlin 1982, S. 251 – 276; Gowing (wie Anm. 8), S. 225 – 245. 14 Hahn (wie Anm. 13), S. 252, schreibt auf das Gesamtwerk bezogen: »Appian liebt es […] die gegebene historische Situation und die Motive der führenden Persönlichkeiten mit Hilfe vereinzelter an geeigneten Stellen des Werkes eingefügten Reden darzustellen.« 15 Zu dieser Form des politischen Kommunikationsraums siehe Frank Bücher : Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik (Hermes Einzelschriften 96), Stuttgart 1996. 16 Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 62005, S. 64, sprechen in diesem Zusammenhang von einer Nullfokalisierung des Erzählers, wenn dieser mehr weiß als die Figuren. Zur Funktion von Reden in der antiken Historiographie siehe auch den Sammelband von Dennis Pausch (Hg.): Stimmen der Geschichte. Funktionen von Reden in der antiken Historiographie (Beiträge zur Altertumskunde 284), Göttingen 2010. 17 Tatsächlich umfasste der Kreis der Verschwörer ca. 60 Mann, vgl. z. B. Jochen Bleicken: Die Iden des März, in: Ernst Baltrusch (Hg.), Caesar (Neue Wege der Forschung), unter Mitarbeit

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Folgenden abgekürzt mit »Cicero«), der nicht direkt zu den Mördern zählt, aber als Sympathisant ihrer Tat anzuführen und daher in die Gruppe der Verschwörer gegen Caesar zu ordnen ist. Mit ihnen treten die Caesarianer,18 allen voran M. Antonius und Oktavian, in den Wettstreit um die Macht im Staat. M. Aemilius Lepidus hingegen, der so bedeutend für die realpolitischen Ereignisse ist, erhält bei Appian nur eine Nebenrolle in dieser konkreten Szene, ebenso wie der Senat, die Bürgerschaft und die Soldaten.19

Die Perspektive der Attentäter: Caesar war ein Gesetzesbrecher! Die historischen Personen C. Cassius Longinus und M. Iunius Brutus gehörten der Senatsaristokratie an. Diese Tatsache macht Appian auch in seiner Erzählung deutlich. Beide Figuren begehen das Attentat nicht als Privatpersonen, sondern in ihrer Funktion als Senatoren.20 Sie versuchen im Sinne des Senats zu agieren, dessen Unterstützung sie schon bald nach der Tat erhalten.21 Schwierig gestaltet es sich für die Attentäter, die Gunst der Menschenmenge zu gewinnen, die sich

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von Christian Wendt, Darmstadt 2007, S. 91 – 106, bes. S. 94 – 98. Die antike Überlieferung der Ereignisse nach der Ermordung Caesars lassen jedoch C. Cassius Longinus und M. Iunius Brutus als die zentralen Figuren in diesem Komplott erscheinen. Hier verstanden als Personen, die in den Erzählungen für Caesar nach dessen Ermordung Partei ergreifen. Wie schwierig es ist, realpolitisch von »Caesarianern« i. S. einer homogenen Gruppe zu sprechen, wurde in der Forschung schon deutlich gemacht, vgl. z. B. Ursula Ortmann: Cicero, Brutus und Octavian – Republikaner und Caesarianer. Ihr gegenseitiges Verhältnis im Krisenjahr 44/43 v. Chr. (Habelts Dissertationsdrucke, Reihe Alte Geschichte 25), Bonn 1988 sowie Ulrich Gotter : Der Diktator ist tot! Politik in Rom zwischen den Iden des März und der Begründung des Zweiten Triumvirats (Historia Einzelschriften 110), Stuttgart 1996, S. 30 – 41. Ortmann und Gotter machen ebenso darauf aufmerksam, dass auch die Politik (Motive, Taten etc.) der Attentäter und ihrer Sympathisanten nicht einheitlich beschrieben werden kann; Unterschiede sind auch in der »Selbstpräsentation als erinnerungswürdige Figur der römischen Geschichte« auszumachen, siehe Christoph Ulf: Der (imaginierte) Römer als Streitpunkt. Gedanken zur Debatte zwischen Cicero und Marcus Iunius Brutus über das richtige Handeln, in: Rupert Breitwieser u. a. (Hg.), Calamus. Festschrift für Herbert Graßl zum 65. Geburtstag (Philippika: Marburger altertumskundliche Abhandlung 57), Wiesbaden 2013, S. 581 – 591, bes. S. 583. Die drei Kollektive sind für die Geschichtsdarstellung Appians insgesamt von unterschiedlicher Bedeutung. Verfügt der Senat über politische Macht, so erscheint die Bürgerschaft oft als wankelmütige und manipulierbare Masse. Die Soldaten zeichnet Appian für die Bürgerkriegszeit als Kollektiv, das in bestimmten Situationen eigenmächtig zu agieren beginnt. Für die Charakterisierung der drei Kollektive in der Gesamtdarstellung Appians siehe KuhnChen (wie Anm. 12), S. 114 – 124 und Kordula Schnegg: Geschlechtervorstellungen und soziale Differenzierung bei Appian aus Alexandrien (Philippika: Marburger altertumskundliche Abhandlungen 33), Wiesbaden 2010. App. civ. 2,119,501. In App. civ. 2,119,501, weist die Erzählerfigur wie folgt darauf hin: »[…] er [der Senat] bestand ja aus ihren Verwandten und Freunden, die gleichermaßen wie sie unter dem Druck der Tyrannen gelitten hatten.« Ebenso App. civ. 3,2,4.

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nach dem Anschlag auf dem Forum sammelt.22 Denn Caesar war beim Volk äußerst beliebt. Darüber hinaus wissen M. Iunius Brutus und C. Cassius Longinus um den Wankelmut und die Bestechlichkeit der Masse, was sie zu einem unkontrollierbaren Partner macht,23 folglich ein strategisches Vorgehen zur Sympathiegewinnung erschwert. Auch der direkte Kontakt mit der Menschenmenge, den beide Protagonisten mehrmals suchen, um die Handlungsmotive und politischen Perspektiven öffentlich darzulegen, kann keine Bindung herstellen. In der Rede des M. Iunius Brutus an die Menschenmenge ist ein zentrales Motiv der Attentäter für die Ermordung auszumachen:24 Es liegt in der Vorstellung, die res publica von einem Tyrannen befreien zu müssen.25 M. Iunius Brutus hebt hervor : Caesar habe sich selbst über Recht und Ordnung hinweggesetzt.26 Kein Schwur könne die Römer an einen Gesetzesbrecher binden;27 schon gar nicht, wenn dieser die politische Entscheidungsmacht des Volkes eliminiere28 und dieses damit in die Sklaverei führe.29 Die »Liebe zur Freiheit und Sehnsucht nach der republikanischen Staatsordnung« treibe die Attentäter in ihrem Handeln voran.30 Das sind die zentralen Aussagen des M. Iunius Brutus. Die Motivation für die Ermordung ist eine absolute und wird in der Rede des M. Iunius Brutus auf den Punkt gebracht: »Ich werde die Sache des Vaterlandes bis in den Tod verteidigen.«31 M. Iunius Brutus führt sogar Beispiele aus der römischen Vergangenheit (exempla) an, um die brisante Situation deutlich zu machen.32 Diese Argumentationsstrategie bleibt jedoch für die Menschenmenge 22 App. civ. 2,120, 503 – 2,123,517. 23 App. civ. 2,120,503 – 507; vgl. allgemein dazu Kuhn-Chen (wie Anm. 12), S. 114 – 120. 24 Unmittelbar nach der Ermordung lässt Appian die Attentäter nur mit einer knappen, indirekten Rede auftreten (App. civ. 2,122,513). In dieser Rede bleibt ihr politisches Programm vage. Es werden nur zwei konkrete Forderungen gestellt, nämlich die Rückberufungen des Sex. Pompeius und zweier Volkstribune, die von Caesar verbannt wurden. 25 Vgl. App. civ. 2,119,499; 2,137,573; 4,91,382. Die gesamte Rede findet sich in App. civ. 2,137,571 – 2,141,591. Dieses Motiv findet sich auch in der Rede des C. Cassius Longinus an sein Heer vor der Schlacht von Philippi: App. civ. 4,90,377 – 4,100,422. 26 App. civ. 2,137,575 und App. civ. 4,91,383 mit dem Vorwurf an Caesar, »er sollte Gesetz sein anstelle der Gesetze, Herr anstelle des souveränen Volkes, Selbstherrscher anstelle des Senates, und zwar in allem und jedem.« 27 App. civ. 2,138,575 – 577: M. Iunius Brutus zählt in diesem Zusammenhang u. a. auf: die Verbannung von Volkstribunen ohne Gerichtsverfahren; Öffnung des Staatsschatzes auf eigene Faust. 28 App. civ. 2,138,575. Die Motive werden in der Rede des C. Cassius Longinus vor der Schlacht bei Philippi noch einmal aufgelistet, siehe dazu App. civ. 4,93, 388 – 390. 29 App. civ. 2,137,573. 30 App. civ. 2,120,504; vgl. auch App. civ. 2,119, 499; 2,120,503; 2,121,508. 31 App. civ. 2,113,47. 32 App. civ. 2,138,575 und 2,140,585 (die Vorfahren allgemein); vgl. auch App. civ. 2,120,504 (Erinnerung an L. Iunius Brutus).

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zu abstrakt und berührt in Anbetracht des Trumpfes, den M. Antonius ihr bieten kann – nämlich den toten Körper Caesars und dessen Testament – nicht im gleichen Ausmaß die Emotionen des Auditoriums. Denn beim Anblick des toten Diktators »stimmte, gleich dem Chor in der Tragödie, das Volk zusammen mit Antonius schmerzlichste Klagerufe an und steigerte sich aus der Trauer wieder in zornige Erregung hinein.«33 Im Verlauf der Erzählung kommen noch zwei weitere Motive für die politischen Handlungen der Attentäter hinzu: (1) Weil sie um ihr Leben bangen müssen, fordern sie Straffreiheit für sich vor dem Gesetz und werben um Verständnis für ihre Tat vor der Menschenmenge und vor den Soldaten.34 (2) Außerdem reagieren sie seit 43 v. Chr. auch auf die Aktionen der Triumvirn (z. B. auf die Proskriptionen oder Enteignungen).35 Von den Motiven der Attentäter berichtet auch der Erzähler, der außerhalb des Geschehens steht. Von ihm erfahren die Rezipienten und Rezipientinnen – noch bevor die Ermordung Caesars geschildert wird – verschiedene Gründe für die Tat, nämlich Neid dem Diktator gegenüber (diese Motivation wird aber in der Erzählung nicht weiter verfolgt), Bedenken aufgrund seiner Machtstellung sowie das Verlangen die »Verfassung der Väter wieder herstellen (zu) wollen.«36 Die Angst der Attentäter, dass in Rom – wie in der mythischen Vorzeit – ein König herrschen könnte, wird als Motivation für die Handlung thematisiert. Steht der Erzähler dieser Angst auch sensibel gegenüber und hebt er das Ansehen und die Würde beider Attentäter deutlich hervor,37 so wird die Tat selbst als »frevelhaft« charakterisiert.38 Eine außerordentliche Stellung im Umfeld der Attentäter nimmt Cicero ein. Bei Appian ist der alternde Senator nicht in die Verschwörung eingeweiht. Er ergreift jedoch sofort Partei für C. Cassius Longinus und M. Iunius Brutus; zum einen weil er die Ermordung Caesars gutheißt, zum anderen wegen seiner schwierigen Beziehung zu M. Antonius.39 Nicht immer lässt Appian Cicero auf dem politischen Parkett gesetzeskonform handeln. So bedient sich die Figur 33 App. civ. 2,146,610. 34 Vgl. z. B. die Rede des M. Iunius Brutus in App. civ. 2,137,570 – 590; vgl. ebenso App. civ. 3,6,18 – 21. 35 Z. B. App. civ. 4,95,399; 4,96,403. 36 App. civ. 2,111,462. Letzteres Argument für die Ermordung wird auch in der Briefkorrespondenz zwischen Cicero und M. Iunius Brutus (datiert in die Jahre 44 und 43 v. Chr.) angeführt; vgl. dazu Ortmann (wie Anm. 18). 37 Die Würdigung der beiden Protagonisten wird besonders im Nachruf auf sie deutlich (App. civ. 4,132,553 – 134,568); vgl. auch App. civ. 4,138,581. 38 Das Ansehen (auctoritas) und die Machtstellung des Getöteten sowie der Ort des Anschlages, nämlich der Tagungsort des Senats (curia), machen die Tat nach Appian so verwerflich, vgl. z. B. App. civ. 2,118,494; 4,134,562. 39 Vgl. z. B. App. civ. 3,61,252; 3,74,302.

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Cicero heimtückischer Aktionen, um gegen M. Antonius zu agieren.40 Der Erzähler begründet dies u. a. damit, dass ein ›böser Geist‹ den Senator zu diesen Taten verführt habe, womit die Verantwortung für die illegalen Handlungen nicht mehr bei der Person selbst zu suchen ist,41 da Cicero zur Marionette einer außerweltlichen Macht wird.

Die Rächer für Caesar: Caesar agierte rechtmäßig! Zwei Figuren gewinnen nach der Ermordung des Diktators stetig an Präsenz in der Erzählung Appians: M. Antonius und Oktavian.42 Ihre Ziele und Motivationen werden erst nach denen der Attentäter umfassend beschrieben. Dabei betritt M. Antonius als erster die Szene. Es wird sofort deutlich, dass er – und nicht die Attentäter – den politischen Kommunikationsraum beherrscht.43 M. Antonius spricht im Senat klug und strategisch. Im Gegensatz zu M. Iunius Brutus verharrt er in seiner Rede nicht auf dem Tatbestand der Ermordung und den Gründen, die dazu führten. Vielmehr konzentriert er sich auf die Frage, ob Caesars Handeln legitimiert oder usurpatorisch war, was ihn zur Schlussfolgerung führt: Wenn Caesar als Gesetzesbrecher deklariert wird, müssen alle seine Taten für ungültig erklärt werden, sodass auch viele gegenwärtige Amtsinhaber ihre Positionen zurückzulegen haben.44 Damit erweitert M. Antonius geschickt den Kreis der Betroffenen. Es geht jetzt nicht mehr allein um die Attentäter oder um die treuen Gefolgsleute von Caesar. Nun geht es um alle von Caesar Protegierten, und deren gibt es viele – auch unter seinen politischen Gegnern und sogar unter seinen Mördern. Nach diesem radikalen Fazit, das im Senat sofort für Unruhe sorgt, wechselt M. Antonius den Gesprächsraum. Er verlässt die Kurie und tritt vor die Menschenmenge. Ihr versichert er »Frieden für das 40 App. civ. 3,50,205 (Cicero will M. Antonius in dessen Abwesenheit zum Staatsfeind erklären lassen); App. civ. 3,51,207 (Nötigung eines Volkstribuns, der die Interessen des M. Antonius vertritt); App. civ. 3,52,213 (Cicero diffamiert diesen Volkstribun im Senat); App. civ. 3,61,253 (Anträge werden nicht korrekt behandelt). 41 App. civ. 3,61,253: »So faßte Cicero in aufreizender und lügenhafter Weise die Aufträge ab, nicht so sehr aus einer heftigen, zugrundeliegenden Feindschaft heraus, vielmehr, wie es scheint, auf Antrieb eines bösen Geistes, der den Staat zum Umsturz hindrängte und Cicero selbst ein übles Schicksal zudachte.« Der Hinweis auf eine außerweltliche Macht, die einzelne Figuren zu irrationalen Handlungen verleitet, kommt in Appians Werk durchgängig vor, vgl. Kuhn-Chen (wie Anm. 12), S. 100 – 103. 42 M. Aemilius Lepidus tritt in sehr kurzen direkten Reden dem Volk gegenüber. Sein Auftreten wird von der Präsenz des M. Antonius in den Schatten gestellt, was M. Antonius sofort realisiert. In der Folge tritt M. Aemilius Lepidus in den Hintergrund des Geschehens. 43 Die Rede des M. Antonius vor dem Senat ist zweigeteilt (App. civ. 2,128,534 – 2,128,537 und App. civ. 2,133,555 – 2,134,562) und wird von seiner Rede vor der Menschenmenge (App. civ. 2,130,544) unterbrochen. 44 App. civ. 2,128,534 – 2,128,537.

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Gemeinwesen«,45 auch wenn dies die Schonung der Attentäter bedeute; ein Kompromiss, den der Konsul zu diesem Zeitpunkt eingehen muss, wie die Rezipientinnen und Rezipienten im weiteren Erzählverlauf erfahren.46 Als M. Antonius auch die Konfrontation mit der Menschenmenge zufriedenstellend gemeistert hat, betritt er noch einmal den Tagungsort des Senats, um seine Position deutlich zu machen.47 Dabei zwingt er die Senatoren nicht nur die aktuelle Situation zu reflektieren, sondern ebenso über die Zukunft des Reiches nachzudenken. Er fordert sie auf, über die Grenzen der Stadt Rom zu schauen und konfrontiert sie mit der Frage: Was würde man wohl in den Provinzen sagen, erklärte man in Rom Caesar zum Gesetzesbrecher?48 Die Rede zeigt ihre Wirkung: M. Antonius und der Senat können sich auf einen Kompromiss einigen, demzufolge Caesars politische Taten und Entscheidungen als legitimiert erklärt und die Attentäter nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Die Menschenmenge wird von M. Antonius einige Tage später noch einmal in den Bann gezogen, als er nämlich die Leichenrede auf Caesar hält.49 Die Rede gestaltet sich in Appians Erzählung als eine durch die Erzählerfigur kommentierte Rede. Immer wieder unterbricht der Erzähler die direkte Rede, indem er auf die Mimik und Gestik des Konsuls während seiner Ansprache hinweist.50 Der Auftritt des M. Antonius gestaltet sich als eine dramatische Inszenierung, in der er als berechnender Protagonist dem Lesepublikum entgegentritt. Blickt man auf die Handlungsmotive des M. Antonius, die in seinen Reden oder auch durch die Erzählerfigur vermittelt werden, lässt sich festhalten, dass sie von unterschiedlicher Art sind: Als Konsul versucht er gemäß seiner politischen Verpflichtung das Wohl der Republik zu verfolgen, bedeutet dies zunächst auch Kompromisse mit den Gegnern einzugehen. Als langjähriger Weggefährte Caesars sind auch persönliche Rachegefühle Antriebsmotor für seine Handlungen. Angst um die eigene Person lässt M. Antonius unmittelbar nach der Ermordung fliehen – aus gutem Grund, ist man sich doch unter den

45 App. civ. 2,130,543. 46 Im Verlauf der Erzählung wird jedoch klar, dass M. Antonius diesen Kompromiss nur zum Schein schließt. Appian lässt den Konsul diese Scheinhandlung in einer direkten Rede reflektieren (App. civ. 3,35,138 – 140) und weist durch den Erzähler explizit darauf hin (App. civ. 3,51,208). 47 App. civ. 2,133,555 – 134,562. 48 App. civ. 2,133,555 – 2,134,562; bes. App. civ. 2,134,599 – 561. 49 App. civ. 2,143,599 – 145,606. 50 Siehe z. B. App. civ. 2,143,599 (»Wie Antonius die Menschen in solcher Verfassung sah, ließ er sein Ziel nicht mehr aus den Augen, sondern begann […] erneut sein geschicktes Spiel […]«), siehe ebenso App. civ. 2,144,601 – 602; 2,145,604; 2,146,607; 2,146,609. App. civ. 2,146,610: »Und indem er sich in leichtem Übergang zu leidenschaftlicher Erregung forttragen ließ, entblößte er Caesars Leichnam, hob an einem Speer sein Gewand empor und ließ es flattern, von Dolchstößen durchbohrt und vom Blut des Diktators getränkt.«

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Attentätern nicht einig, ob man den Konsul auch töten soll.51 Der Erzähler hingegen macht deutlich, dass M. Antonius sehr berechnend in seinem politischen Handeln ist und eine Art monarchische Gewalt um sich aufbauen will.52 Seine Handlungen gegen Oktavian sind – neben seiner persönlichen Abneigung gegen den jungen Erben – wohl auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Die Handlungsmotive des Konsuls, die der Erzähler vermittelt, widersprechen somit den Motivationen, welche die Figur M. Antonius in ihren Reden selbst äußert (z. B. Sorge um das Gemeinwesen, Trauer um einen bedeutenden Politiker und Freund). Appian erschafft damit eine Irritation in der Erzählung. Der Hauptgrund für das Handeln des Oktavian ist klar auszumachen: Ihn treibt stets die Rache für Caesar an. Er agiert zunächst als Privatperson, die um den Großonkel, einem bedeutenden Staatsmann, trauert. Um sein Ziel, die Verurteilung der Attentäter, zu erreichen, versucht er verschiedene politische Allianzen einzugehen. Naheliegend wendet er sich zuerst an M. Antonius. Die erste Begegnung zwischen Oktavian und M. Antonius verläuft jedoch wenig harmonisch und ist als Streitgespräch konzipiert, indem Oktavian die politischen Handlungen seines Gegenübers kritisch erörtert.53 Der so entstehende Konflikt kann durchaus als Folge eines Missverständnisses zwischen den Kommunikationspartnern gedeutet werden.54 Während Oktavian die Rede an »einen der intimsten Freunde Caesars« richtet und seine »vielleicht gegen die Regeln des Anstandes« gewählten Worte emotional begründet – »(t)iefer Schmerz zwang mich zu solchen Äußerungen«55– nimmt M. Antonius die Rede als Konsul, als erfolgreicher Politiker und Militär wahr. In diesem Sinne sieht er Oktavian als Privatperson, die politische Rechenschaft von einem Konsul fordert, und er sieht den jungen Mann als politisch Unerfahrenen, der einen erfolgreichen Militär und Politiker zu Rechtfertigung nötigen will. M. Antonius deutet die Rede ausschließlich als Beleidigung, dies wird durch die Kommentare über die Gefühlslage des Konsuls durch den Erzähler noch verdeutlicht.56 Persönliche Spannungen treiben also die beiden Caesarianer zunächst auseinander. Der Kampf um die Macht im Staat, der sich nun auch zwischen M. Antonius und Oktavian abzuzeichnen beginnt, führt selbst anfängliche Kontrahenten zusammen. Und so lässt sich Oktavian vom Senat, der offiziell immer noch die 51 App. civ. 2,118,496. 52 App. civ. 3,7,22; 3,27,103. 53 Rede des Oktavian: App. civ. 3,50,51 – 3,17,64; Gegenrede des M. Antonius: App. civ. 3,18,66 – 3,20,76. 54 Ich will an dieser Stelle die emotionale Bewegung des Oktavian hervorheben, denn viel zu schnell wird der Blick der Leserinnen und Leser durch die Komposition des Rededuells und durch die Erzählerfigur auf M. Antonius’ Groll über die Ansprache gelenkt. 55 App. civ. 3,16,60. 56 App. civ. 3,18,65.

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Attentäter unterstützt, in Spitzenpositionen hieven, um gegen M. Antonius agieren zu können.57

Der Streit im Senat: Cicero und L. Calpurnius Piso Caesoninus Ein Jahr nach der Ermordung Caesars sind es nicht allein die Kämpfe zwischen den Caesarmördern und den Caesarianern, sondern auch die Konfrontationen zwischen Oktavian und M. Antonius, die Rom erschüttern. Legalisierte Entscheidungen werden kontinuierlich hinterfragt, an einmal getroffenen Beschlüssen wird nicht festgehalten.58 In Appians Erzählung werden diese Verhältnisse auch als ein Kampf um die politische Macht zwischen dem Volk (plebs) und dem Senat dargestellt. Die Lage spitzt sich in einer Senatssitzung zu (beschriebene Zeit: Beginn des Jahres 43 v. Chr.), in der zwei bedeutende Römer in ein Rededuell treten. Es sind dies Cicero und L. Calpurnius Piso Caesoninus (im Folgenden abgekürzt mit »Caesoninus«).59 Zum Kontrahenten Ciceros macht Appian in dieser Szene eine bedeutende Person. Caesoninus war ein einflussreicher Politiker (Konsul des Jahres 58 v. Chr.), Schwiegervater Caesars und langjähriger Gegner Ciceros.60 Die politische Situation anhand eines Wortgefechts zwischen diesen beiden Römern zu skizzieren, erzeugt Spannung beim Lesepublikum. Appians Erzählung bietet nun folgenden Verlauf der Geschichte: Cicero will M. Antonius zum Staatsfeind erklären lassen, weil dessen politisches Vorgehen den amnestierten Attentätern und dem Senat gegenüber nicht mehr tragbar erscheint.61 Dass M. Antonius militärisch-politische Aktionen nicht durch den Senat, sondern durch die Volksversammlung legitimieren lässt, wertet Cicero als gefährlich und ungesetzlich. Mit vielen Argumenten versucht er daher die Senatoren auf seine Seite zu ziehen. Dabei greift er zunächst einen Volkstribun namens Salvius an, der durch sein Veto die Erklärung zum Staatsfeind am Vorabend verzögerte. Cicero, enttäuscht über dieses Vorgehen, bezeichnet Salvius in der Senatsrede als unwissend und den Senatoren gegenüber als unterlegen. Denn die Senatoren seien »so hoch in Würden, so groß an Zahl, wie an 57 Appian führt in diesem Zusammenhang aus, dass M. Antonius in seinem eigenwilligen Auftreten diszipliniert werden musste, vgl. z. B. App. civ. 3,76,308: A. Hirtius (Konsul des Jahres 43 v. Chr.) und C. Vibius Pansa (Konsul des Jahres 43 v. Chr.) sahen sich gezwungen M. Antonius in seiner Selbstherrlichkeit zu zügeln. 58 Ein ambivalentes Verhalten hinsichtlich der politischen Unterstützung wird nicht nur dem Senat als Kollektiv, sondern auch einzelnen Personen attestiert. Dies wird in der Rede des Caesoninus deutlich gemacht (App. civ. 3,54,222 – 3,60,248). 59 Rede des Cicero (App. civ. 3,52,213 – 3,53,221) und des Caesoninus (App. civ. 3,54,222 – 3,60,248). 60 Karl-Ludwig Elvers: [I 19] C. Piso Caesoninus, L., in: Der Neue Pauly, Bd. 2, Stuttgart/ Weimar 1997, S. 944. 61 App. civ. 3,50,203; 3,53,220.

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Alter und Erfahrung Salvius weit überlegen«.62 Indirekt macht Cicero damit die Hoheit des Senats über das Volkstribunat (personifiziert in Salvius) deutlich. In der Folge wird das scheinbar widerrechtliche Verhalten des M. Antonius dargelegt.63 Cicero will damit deutlich machen, dass die Sache wohl für jeden Wissenden – so wie eben er einer ist – klar sei. Wer aber eine andere Meinung vertrete, verstehe die Situation nicht und solle lieber den »Weitsichtigen«, gemeint ist hier vor allem der Senat,64 und deren Entscheidungen Vertrauen schenken.65 Die Spannung in dieser Erzählsequenz ist in zwei Punkten auszumachen: (1) Salvius kann aufgrund der dargelegten Ereignisse kein widerrechtliches Verhalten zur Last gelegt werden, er schöpft das Potential des Volkstribunats aus (in diesem Fall: Er schützt offiziell M. Antonius in seiner Abwesenheit). Wohingegen Cicero die Rechtmäßigkeit der Handlung durch den Vorwurf der Inkompetenz (aufgrund von Unkenntnis, weil anderer Meinung als Cicero) des Salvius in seiner Amtsführung in Frage stellen will. (2) Die Situation gewinnt noch an Brisanz, bezieht man die Beschreibung der Senatssitzung am Vorabend mit ein, in der der Erzähler darauf hinweist, dass Cicero selbst eine Verurteilung des M. Antonius in dessen Abwesenheit anstrebte – was weniger der »Vätersitte« entsprach.66 Ciceros Image als idealer Römer wird dadurch fragwürdig. Der Rede Ciceros folgt die Gegenrede Caesoninus, der gleich zu Beginn das hehre Selbstbildnis, das Cicero von sich entwirft, in Frage stellt und ihn als Feigling beschimpft.67 Denn immerhin habe dieser die unbegründeten Vorwürfe erst in Abwesenheit des M. Antonius im Senat vorgebracht. Um »die Unrichtigkeit seiner [Ciceros] Beschuldigungen darzutun«, greift Caesoninus jede einzelne Anschuldigung auf und macht deutlich, dass der Senat oder (!) die Volksversammlung jedes Vorgehen des M. Antonius legitimiert habe.68 Die Rede 62 App. civ. 3,52,214. 63 Folgende Argumente führt er dabei an: M. Antonius habe sich widerrechtlich die Gelder des verstorbenen Caesar angeeignet. Er habe militärisch-politisch eigenmächtig gehandelt, weil der Senat bestimmten Forderungen nicht nachkam. M. Antonius habe eine »königliche Kohorte« zum persönlichen Schutz bestellt. Er wolle sogar ein Heer in die Stadt führen. Selbst als Feldherr habe er seine Pflichten verletzt, indem er Soldaten ohne offensichtlichen Grund, bloß zum Zwecke der Einschüchterung durch Los dezimieren ließ (App. civ. 3,53,218). 64 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Senat hier nicht einheitlich agiert. Er ist in dieser Situation »beinahe gleichheitlich geteilt«, was das Vorgehen gegen M. Antonius betrifft, vgl. App. civ. 3,50,206. 65 App. civ. 3,52,214. 66 Appian lässt dieses Vorgehen Ciceros von Caesoninus in diesem Sinne deuten (App. civ. 3,50,205). Die gesamte Szene, also Senatssitzung mit dem Bestreben der »Ciceronianer« möglichst rasch und in Abwesenheit des M. Antonius eine Erklärung zum Staatsfeind zu erwirken, ist nachzulesen in App. civ. 3,50,202 – 209. 67 App. civ. 3,56,232. 68 App. civ. 3,54,224; 3,55,225.228; 3,56,232.

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gipfelt in der zentralen Feststellung des Caesoninus, dass der Senat nicht das allein entscheidende Gremium in der res publica ist – so wie Cicero dies für seine Argumentation voraussetzt – sondern dass auch das Volk via Volksversammlung und Volkstribunat entscheidende politische Kompetenzen hat.69 Der besonders spannende Akzent in der Erzählung liegt wohl darin, dass Appian einen Senator für die politische Macht des Volkes eintreten lässt. Es ist nicht der Volkstribun Salvius, der dies tut. Es ist ein Senator, der auf die politischen Kompetenzen des Volkes achtet. Ähnlich agieren auch die Attentäter, wie in der Rede des C. Cassius Longinus vor der Schlacht von Philippi deutlich gemacht wird: Sie, die Senatoren, seien es, die für die politische Bedeutung des Volkes eintreten, welches zunächst von Caesar, dann aber auch von den Triumvirn schrittweise entmachtet werde.70

Die Geschichte vom »rechtmäßigen Handeln« bei Cassius Dio Cassius Dio stellt die hier untersuchten Ereignisse in einen speziellen Erzählrahmen, der mit der Ermordung Caesars beginnt und mit dem Sieg der Triumvirn in der Schlacht von Philippi endet. Diese Erzähleinheit umfasst die Bücher 44 bis 47 seiner Römischen Geschichte.71 In seiner Schilderung sind deutlich weniger Reden als bei Appian eingebaut. Die Narration wird hauptsächlich von der übergeordneten Erzählerfigur getragen. Das Augenmerk bei Cassius Dio liegt nicht so sehr auf den Auseinandersetzungen zwischen Caesarmördern und Caesarianern oder deren Motive für die Handlungen. Im Mittelpunkt seiner Erzählung stehen die Politik des Konsuls M. Antonius, dessen militärisch-politisches Verhalten – dem Erzähler zufolge – die res publica gefährdet, und die Reaktionen auf das Handeln des Konsuls. Die Konfrontation zwischen M. Antonius und Cicero wird zentral für den Erzählverlauf. Dabei werden die Kontrahenten vom jeweiligen Gegner pointiert skizziert, sodass man vom Kampf zwischen dem »Tyrannen« M. Antonius (Vorwurf des Cicero) und dem »Betrüger« Cicero (Vorwurf des Q. Fufius Calenus) liest.72 Die Opposition zwischen Caesarianern und Caesarmördern lässt sich in der Erzählung von 69 App. civ. 3,55,229. 70 App. civ. 4,90,377 – 412, bes. App. civ. 4,92,383 – 395. 71 Gowing (wie Anm. 8), S. 165 und S. 176, macht auf die bewusste Konzeption der Erzähleinheit aufmerksam, die Cassius Dio erzeugt, indem er am Beginn (Cass. Dio 44,2,1 – 5) und am Ende (Cass. Dio 47,39,1 – 5) der Erzähleinheit dieselben politischen Reflexionen über Demokratie und Alleinherrschaft sowie über das unausweichliche Ende der Republik bietet. 72 Cass. Dio 45,33,2: »Oder meint ihr, dass es ihm nicht nach der Tyrannenmacht gelüstet […]«. Im Griechischen lesen wir von »tyrann†s« in diesem Zusammenhang. Zur Charakterisierung Ciceros siehe Cass. Dio 46,46,41.

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Cassius Dio nicht derart greifen wie bei Appian. Die Auseinandersetzungen mit C. Cassius Longinus und M. Iunius Brutus, die ja für die Ereignisgeschichte bedeutend sind, tauchen in der Erzählung von Cassius Dio erst wieder zu dem Zeitpunkt auf, als die Triumvirn ihr politisches Vorgehen festlegen.73 Die Ermordung Caesars, die Motive der Attentäter, die Rache für Caesar, die Handlungsmöglichkeiten aller Involvierten werden nicht vordergründig thematisiert. Die Darstellung des Cassius Dio konzentriert sich weitgehend auf die Fragen: Kann der Senat M. Antonius zum Staatsfeind erklären, obwohl er politische Macht besitzt? Und wie wäre eine solche Verurteilung dann zu legitimieren?

Die Perspektive der Attentäter: Rom von Caesar zu befreien! Die Ermordung Caesars verurteilt Cassius Dio als »rechtswidrig«.74 Ähnlich wie Appian führt er als Motive für die Ermordung »Neid und Haß«, aber auch die exponierte Stellung Caesars in der res publica an.75 Das Attentat wird in der Erzählung verurteilt, vor allem deshalb, weil es von Menschen begangen wurde, denen Caesar wohlgesonnen war.76 Im Verlauf der Geschichte hält der Erzähler noch fest, dass die Attentäter gute Gründe »gegen Caesar, viel auch zugunsten der Demokratie« vorbringen konnten: »Sie hätten ja Caesar, wie sie sagten, nicht deshalb getötet, um Macht oder sonst einen Vorteil zu gewinnen, sondern damit alle frei und unabhängig seien und nach Recht und Gesetz regiert würden.«77

Die Menschenmenge jedoch, der sie Freiheit und Rechtssicherheit bringen wollen, goutiert die Tat nicht, wenn auch ein Teil von ihr zunächst zur Ermordung gedrängt hat.78 Festzuhalten ist, dass die politische Motivation der Attentäter zwar angeführt wird, aber im Verlauf der Geschichte nicht diese Bedeutung wie bei Appian erhält. Die Situation nach dem Attentat wird bei Cassius Dio sehr verkürzt dargestellt: Es folgt eine indirekte Rede der Mörder an die Volksversammlung,79 in der 73 74 75 76

Cass. Dio 46,56,1. Cass. Dio 44,1,1 – 44,2,5. Cass Dio 44,1,1 – 44,2,5; 44,21,1. Cass Dio 44,2,5. Festgehalten bereits bei Detlef Fechner : Untersuchungen zu Cassius Dio Sicht der Römischen Republik (Altertumswissenschaftliche Texte und Studien 14), Hildesheim u. a. 1986, S. 111 – 128, bes. S. 113. 77 Cass. Dio 44,21,1; vgl auch Cass. Dio 44,1,2. 78 Cass. Dio 44,20,4; 44,21,4; Cass. Dio 44,12,1 – 44,16,2. Aufhetzung des M. Iunius Brutus durch das Volk: Cass. Dio 44,13,1 (das Volk glaubt an eine verwandtschaftliche Verbindung zur mythischen Figur L. Iunius Brutus, der der Legende zufolge einst Rom vom Königtum befreit haben soll). 79 Cass. Dio 44,21,1.

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die Absichten der Caesarmörder deutlich gemacht werden, sowie eine indirekte Rede des M. Aemilius Lepidus,80 die am Tag darauf stattfindet und gegen die Mörder gerichtet ist. Beide indirekten Reden werden von der Erzählerfigur dargebracht. Im weiteren Verlauf der Erzählung baut Cassius Dio das Spannungsverhältnis zwischen Cicero und M. Antonius auf. Unterbrochen wird die Darstellung dieses Machtkampfes allein durch Hinweise auf den politischen Aufstieg des »klugen« und bei großen Teilen der Bevölkerung beliebten Oktavian.81

Die eigentlichen Kontrahenten: Cicero und M. Antonius Die erste Rede des Cicero im Senat findet unmittelbar nach dem Attentat statt.82 Er will eine Amnestie für die Caesarmörder erwirken. Dieses Ziel verpackt der Redner geschickt in allgemeine Ausführungen über die politischen Maximen, die es in der res publica zu befolgen gilt. Demzufolge sollten die höchsten Beamten im Staat »nach richtiger Überlegung handeln«.83 Sie seien verpflichtet, Rechenschaft über ihr politisches Tun abzulegen.84 In jedem Fall stehe das »allgemeine Wohl« über den »persönlichen Interessen«.85 Diese politische Leitlinie meint Cicero stets zu erfüllen: »Denn ich glaube, ihr seid alle fest davon überzeugt, daß ich niemals einen Menschen gegenüber eine freundliche oder feindliche Haltung aus rein persönlichen Gründen einnahm […]«.86 Cicero entwirft von sich selbst das Bild eines idealen Politikers, der aufgrund seiner Erhabenheit über persönliche Befindlichkeiten stets die richtigen politischen Entscheidungen trifft. Dieses Selbstbildnis des Cicero konterkariert der Erzähler jedoch, indem er an anderer Stelle darauf hinweist: »während er selbst leidenschaftlich und maßlos in seinen Worten stets allen gleichermaßen entgegentrat, konnte er es nicht über sich bringen, den anderen die gleiche Freiheit einzuräumen. Und so nahm er auch bei dieser Gelegenheit keine Rücksicht auf das allgemeine Wohl, sondern ließ sich zu Beschimpfungen seines Gegners hinreißen […]«.87 80 Cass. Dio 44,22,2. 81 Cass. Dio 45,1,1 – 45,9,4. Zur Klugheit des Oktavian, die sich bei Cassius Dio vor allem in seinem berechnenden Vorgehen zeigt, um politische Macht zu erhalten vgl. Bernd Manuwald: Cassius Dio und Augustus. Philologische Untersuchungen zu den Büchern 45 – 56 des Dionischen Geschichtswerkes (Palingenesia: Monographien und Texte zur klassischen Altertumswissenschaft 14), Wiesbaden 1979, bes. S. 32 – 38. 82 Die Rede ist nachzulesen in Cass. Dio 44,23,1 – 44,33,5. 83 Cass. Dio 44,23,1. 84 Cass. Dio 44,23,2. 85 Cass. Dio 44,23,2; 44, 33,1. 86 Cass. Dio 44,33,2. 87 Cass. Dio 46,29,1.

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Aber zu Beginn der Erzählung über die Senatssitzung bleibt dieser ironische Bruch in der Charakterisierung der Figur noch verborgen. Denn Cassius Dio lässt Cicero über die aktuelle Lage philosophieren, die zu einem weiteren Bürgerkrieg führen könnte; viel wichtiger sei es aber nach Eintracht und Frieden zu streben.88 Gerade das Wissen um die Schrecken der vergangenen Zeiten (gemeint sind damit die Bürgerkriege unter C. Marius und L. Cornelius Sulla sowie unter Cn. Pompeius Magnus und Caesar) sollte die Senatoren dazu führen, keine genauen Untersuchungen über die Ereignisse anzustellen; weder hinsichtlich des Attentats noch hinsichtlich der Handlungen Caesars.89 Vielmehr müsse man die aktuelle Lage lösen: »uns selbst retten als auch alle anderen am Leben erhalten.«90 Die Verhältnisse erfordern ein »überlegtes Handeln« von den Senatoren, die in dieser Situation so mächtig seien wie noch nie in der Geschichte Roms.91 Die Geschehnisse an den Iden des März sollten vergessen werden.92 Cicero kann mit seinen Argumenten den Senat davon überzeugen, den Caesarmördern Straffreiheit zu gewähren. Dieser Rede des Cicero im Senat steht die Rede des M. Antonius bei der öffentlichen Leichenfeier für Caesar gegenüber.93 M. Antonius richtet seine Ansprache an die versammelte Menschenmenge. Der Erzähler macht noch vor dem Beginn der direkten Rede auf die Unbesonnenheit des Konsuls aufmerksam, der mit seinem Auftreten die Versammelten aufhetzen will (Lenkung der Leser und Leserinnen durch den Erzähler). In der Rede selbst macht die Figur M. Antonius dann deutlich, dass er nicht als Privatmann für einen Privatmann sprechen wird, sondern als Politiker mit der »zweit höchsten Stellung im Staate« hält er nun eine Leichenrede auf den »höchst gestellten Staatsmann« Caesar.94 Ausführlich schildert M. Antonius hierauf die Herkunft, die Erziehung, die politische Karriere und die Charaktereigenschaften des Toten. Es wird auf die exponierte Stellung Caesars im Staat aufmerksam gemacht – eine Position, die aufgrund seiner außerordentlichen Fähigkeiten und auf legitime Art und Weise 88 Die in Ciceros Rede hervorgehobene Bedeutung von Eintracht, Friede und Freiheit als Basis für die res publica lässt starke Bezüge zu Ciceros politischem Programm, wie es aus seinen Schriften überliefert ist, erkennen, vgl. dazu Fechner (wie Anm. 76), bes. S. 60. 89 Cass. Dio 44,32,1: »Ihr sitzt ja derzeit nicht über irgend jemand zu Gericht, so daß ihr mit aller Genauigkeit herausbringen müßt, was recht ist, sondern beratet über die eingetretene Lage, damit sie auf sicherste Art und Weise in Ordnung kommt.« 90 Cass. Dio 44,23,3. 91 Cass. Dio 44, 24,1 – 5. 92 Cass. Dio 44,32,5. 93 Die Leichenrede des M. Antonius ist nachzulesen in Cass. Dio 44,36,1 – 44,49,4. 94 Cass. Dio 44,36,1. Dieser Rede als Leichenrede (laudatio funebris) zwischen Kunst und Historizität widmet sich Wilhelm Kierdorf: Laudatio Funebris: Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der römischen Leichenrede (Beiträge zur Klassischen Philologie 106), Meisenheim am Glan 1980, S. 150 – 158. Dabei verweist Kierdorf, S. 150 und 158, auf die spezielle Gestaltung der Rede bei Cassius Dio.

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erlangt wurde. M. Antonius kann die Menschenmenge für sich gewinnen. Nicht allein aufgrund seiner überzeugenden Rede, sondern auch weil die geschundene Leiche des Diktators für alle sichtbar aufgebahrt ist. Wut ergreift daher die Versammelten und sie wollen die Mörder zur Rechenschaft ziehen. Es entsteht ein Tumult in der Stadt.95 Das Rededuell im Senat zwischen Cicero und Q. Fufius Calenus Die zweite direkte Rede des Cicero im Senat lässt Cassius Dio zu Beginn des Jahres 43 v. Chr. stattfinden.96 Aus der Erzählung erfahren wir, dass sich die Machtverhältnisse in der Republik nicht nach den Vorstellungen des Senats entwickeln. M. Antonius agiert unabhängiger vom Senat als Cicero lieb ist. Darüber hinaus hat mit Oktavian ein weiterer Caesarianer die politische Bühne betreten. Cicero wittert im Auftreten dieses Protagonisten eine Chance M. Antonius zu entmachten. Als ihm die Möglichkeit im Senat günstig erscheint (M. Antonius ist nicht anwesend) hält er sogleich eine Rede gegen M. Antonius, »dem ungeheuerlichen Tyrannen«.97 Dabei wird das gesamte Leben des M. Antonius öffentlich kommentiert: die Herkunft, die Charaktereigenschaften, persönliche Vorlieben, das politische Verhalten. M. Antonius wird als inkompetent und »böse« gezeichnet;98 als Politiker, der »weder gesetzlich noch verfassungstreu« handle.99 Selbst Aufgaben oder Machtbereiche, die er legitim durch den Senat oder durch die Volksversammlung erhalten habe, seien nun als illegal zu betrachten, da M. Antonius alle und jeden zu den Beschlüssen genötigt habe.100 Die Diskussion über die Legitimation der Herrschaftsausübung des M. Antonius spitzt sich in der Behauptung des Cicero zu: »Niemand soll daher den Einwand erheben, daß doch gesetzlich und rechtmäßig zustande gekommen sei, was wir offensichtlich auf Befehl und unter Zwang und Wehklagen ihm eingeräumt haben!«101 Die persönlichen Anfeindungen sind eingebettet in Erläuterungen über den Vorzug der republikanischen Freiheit gegenüber einer Alleinherrschaft. Diese Dimension der Rede wurde in der Forschung bereits ausführlich behandelt.102 Als Gegenrede konzipiert lässt nun Cassius Dio den Q. Fufius Calenus (im 95 Cass. Dio 44,50,1 – 3. 96 Als Quellenvorlage für diese »frei komponierte Rede« führt Manuwald (wie Anm. 81), S. 74, u. a. Ciceros 2. Philippische Rede an. 97 Die Rede erstreckt sich von 45,18,1 bis 45,47,5. Vorwurf M. Antonius sei ein Tyrann (»ty´rannos«): Cass. Dio 45,35,1. 98 Cass. Dio 45,21,1. 99 Cass. Dio 45,20,3. 100 Cass. Dio 45,22,1. 101 Cass. Dio 45,22,6. 102 Siehe z. B. Fechner (wie Anm. 76), S. 63 – 68; Manuwald (wie Anm. 81), S. 47 – 48.

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Folgenden abgekürzt mit »Calenus«) im Senat die Stimme erheben. Mit Calenus bringt der Historiograph eine Figur ins Spiel, die realpolitisch auf Seiten des M. Antonius stand.103 In der Erzählung nun widerspricht Calenus nicht nur Cicero, sondern feindet diesen persönlich an und verteidigt damit M. Antonius.104 Es folgt die Charakterisierung des Cicero als Zwietracht säender Bürger, der allein aus persönlicher Feindschaft gegen M. Antonius vorgehe.105 Calenus erhebt den Vorwurf, dass Cicero opportunistisch agiere.106 Das Selbstbildnis, das Cicero von sich als Senator in seiner ersten Rede im Senat entworfen hat, wird hier gebrochen. In seinen weiteren Ausführungen geht Calenus auf den fragwürdigen Charakter seines Kontrahenten ein, den er einen »Betrüger und Schwindler« nennt, der neidisch auf die politisch Erfolgreichen sei.107 Das eigene politische Handeln reflektiere er zu wenig, denn: »(n)och niemals hast du eine Tat würdig eines ausgezeichneten Mannes vollbracht, weder im Krieg noch im Frieden. […] In der Öffentlichkeit dagegen läßt du lauthals nur inhaltslose Phrasen ertönen und schreist jene ekelhaften Erklärungen hinaus: ›Ich bin der einzige, der euch liebt!‹«108

Selbst die Rechenschaft über das eigene politische Handeln, die Cicero von den Magistraten und Senatoren fordert, würde er selbst nicht ablegen, da er aus schwierigen Situationen immer zu entkommen suche.109 Nach dieser Schmährede reagiert Calenus auch noch auf die einzelnen Vorwürfe, die gegen M. Antonius vorgebracht wurden.110 Mit dem Rat an Cicero, er möge sich mit M. Antonius versöhnen, beendet Calenus seine Rede, die einen wütenden und aufgebrachten Cicero zurücklässt.111 Calenus vertritt die Ansicht, sich sowohl mit Oktavian als auch mit M. Antonius zu verständigen, um ja keine chaotische Situation im Staat heraufzubeschwören. Eben diesen kompromissbereiten Mittelweg hat Cicero in seiner ersten Rede im Senat aus demselben Grund 103 Wolfgang Will: [1 14], F. Calenus, Q., in: Der Neue Pauly, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 1998, S. 696 – 697. 104 Die direkte Rede wird dargelegt in Cass. Dio 46,1,1 – 46,28,6. Zur kunstvollen Gestaltung der Rede als Invektive siehe Severin Koster : Die Invektive in der griechischen und römischen Literatur (Beiträge zur Klassischen Philologie 99), Meisenheim am Glan 1980, S. 200 – 210. 105 Cass. Dio 46,1,2. 2,1. 106 Cass. Dio 46,3,4: »Cicero ist ja von Natur aus ein treuloser, auf Wirren bedachter Mensch, der keine innere Festigkeit besitzt, sondern stets die Dinge aufrührt und durcheinander bringt. Dabei ändert er seine Richtung häufiger, als das Wasser jenes Meeresarmes, zu dem er sich flüchtete […].« 107 Cass. Dio 46,4,1; 46,4,8,3. 108 Cass. Dio 46,9,1. 109 Cass. Dio, 46,9,3. 110 Cass. Dio 46,11,1 – 46,19,8; 46,25,1 – 46,26,7. Dabei stellt der Redner immer wieder Bezüge zum politisch ›unfähigen‹ Cicero her, vgl. z. B. Cass. Dio 46, 20,1 – 46,23,5. 111 Cass. Dio 46, 29,1 – 7.

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vorgeschlagen (weder die Handlungen der Caesarmörder noch die von Caesar sollten überprüft werden). Die Attentäter, die bei Appians Darstellung sehr präsent sind, werden in diesen zwei Reden vernachlässigt. Lediglich Calenus weist auf ihre Tat hin, und zwar um die Mittäterschaft des Cicero an der Ermordung des Diktators deutlich zu machen.112 Wie geht die Geschichte bei Cassius Dio weiter? Im Folgenden zeichnet der Historiograph einen zögernden Senat, der nach einiger Zeit feststellte, »daß Revolution im Staate herrsche«113 und gegen M. Antonius Krieg zu führen sei.

Die literarischen Figuren im historischen Drama Wie die Ausführungen zeigen, halten Appian und Cassius Dio die Ereignisse unmittelbar nach Caesars Ermordung mit unterschiedlichen Intentionen und Wertungen fest. Appian bietet ein Drama mit sehr vielen direkten und indirekten Reden. Die wichtigsten Protagonisten kommen zu Wort, sowohl Caesarianer als auch Caesarmörder. Das Lesepublikum erhält Einblicke in die politischen Positionen beider Lager. Und wird die Ermordung Caesars auch als schreckliche Tat bezeichnet, bietet Appian die Möglichkeit, Verständnis für die Attentäter aufzubringen, lässt er sie doch immer wieder als Tyrannenmörder auftreten.114 Appian bringt nicht nur die Reden, sondern lässt auch Raum für die Wirkung der Reden; es wird auf die emotionalen Befindlichkeiten eingegangen, die beim Redner selbst und bei den Adressaten auftreten (vgl. das Streitgespräch zwischen M. Antonius und Oktavian oder auch die Leichenrede des M. Antonius auf Caesar). Mit dieser Erzählstrategie gelingt es dem antiken Historiographen die Protagonisten näher zu charakterisieren.115 Das Hauptaugenmerk von Cassius Dio liegt auf den politischen Aktionen des M. Antonius und den Reaktionen darauf. Seine Erzählung konzentriert sich auf den Konflikt zwischen M. Antonius und Cicero. Die wenigen Reden, die er in diesem Rahmen einbaut, sind

112 Cass. Dio 46,22,3 – 5. Es wird hier der Vorwurf erhoben, dass der ›feige‹ Cicero Menschen für den Mord an seinem Wohltäter Caesar beauftragt habe. Cassius Dio bringt die Attentäter erst wieder ins Spiel, als sich das Triumvirat etabliert hat, siehe hierzu auch Millar (wie Anm. 9), S. 56. 113 Cass. Dio 46,29,5. 114 Gowing (wie Anm. 8), S. 164, macht zu Recht darauf aufmerksam, dass das Motiv der »Tyrannenmörder« eine starke Vorlage für die Charakterisierung des M. Iunius Brutus und C. Cassius Longinus ist. 115 Die Charakterisierung der Protagonisten ist bei Appian insgesamt von Bedeutung, Gowing (wie Anm. 8), S. 180.

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umfangreich und »elaboriert« gestaltet.116 Sie enthalten politische Reflexionen ebenso wie die Beschreibung zwischenmenschlichen Konfliktpotentials. Aber nicht allein die jeweiligen Perspektiven der Historiographen machen die Erzählungen vielschichtig, die historische Situation an sich gestaltet sich komplex und eben das spiegelt sich auch in den Narrationen wider.117 Die erzählerische Freiheit (z. B. Einbau fiktiver Reden, Motivwahl, Ordnung des Geschehens) ist in einem gewissen Ausmaß an die Quellenvorlagen gebunden, die den kaiserzeitlichen Historiographen zur Verfügung standen, sowie an das Genre Historiographie. Die besondere Herausforderung für die antiken Geschichtsschreiber liegt darin, eine Erzählung zu gestalten, die trotz vielschichtiger Quellenlage und eigener programmatischer Darstellungsprinzipien den literarischen Anforderungen und der communis opinio über die Vergangenheit gerecht wird.118 Die Verpflichtung der Autoren authentisch zu berichten, was das im Konkreten auch immer bedeuten mag,119 lässt uns die antike Historiographie folglich nicht bloß als fiktionale Literatur begreifen. Wie feinmaschig sich die Vernetzung zwischen freier Komposition der Erzählung, den Quellenvorlagen und den historischen Gegebenheiten gestaltet, kann in den hier untersuchten Textpassagen anhand der Figur des Gegenredners von Cicero im Senat verdeutlicht werden. Sowohl Appian als auch Cassius Dio greifen für diese Figur auf bedeutende historische Persönlichkeiten zurück, die politisch schon vor dem Attentat gegen Cicero agierten.120 Caesoninus und Calenus waren Caesarianer. Ersterer stand sogar in verwandtschaftlicher Beziehung zu Caesar. Nach der Ermordung Caesars versuchten beide auf ihre Art Politik für die res publica zu betreiben, wobei Calenus eindeutiger die Politik des M. Antonius unterstützt zu haben scheint.121 Eine weitere Gemeinsamkeit teilen sich diese zwei Protagonisten darin, dass Cicero sie in seinen Schriften als politische Gegner anführt.122 Appian entscheidet sich mit Caesoninus als Gegenredner Ciceros für eine Person, die nach der Ermordung Caesars realpolitisch eine gemäßigte Haltung an 116 Für die kunstvollen Kompositionen der Reden siehe Kierdorf (wie Anm. 94), Fechner (wie Anm. 76), S. 48 – 88, Manuwald (wie Anm. 81), S. 46 – 48, Gowing (wie Anm. 8), S. 230, Millar (wie Anm. 9), S. 78 – 83. 117 Hinsichtlich der Darstellung der Ereignisse nach Caesars Ermordung weist bereits Millar (wie Anm. 9), S. 55, auf die Herausforderung für Historiographen hin, die komplexe politische Situation, die gleichzeitig so viele Schauplätze hat, in eine Erzählung zu bringen. 118 Leitlinien für die Geschichtsschreibung finden sich z. B. in App. civ. 4,16,63 – 64 (in Bezug auf die Darlegung der Bürgerkriege), App. Pr.11,43; 13,49 – 50 (in Bezug auf die Gesamtdarstellung) und Cass. Dio, 1,1,2 – 3; 47,9,1 – 10,1. 119 In der antiken Literatur finden sich Reflexionen über die »historische Wahrheit«, »historische Glaubwürdigkeit« und » historische Quellenkritik«, vgl. z. B.: Cic. de orat. 2,51 – 54; Cass. Dio 53,19,3 – 6; Tac. ann. 4,34,1 – 5; Amm. 15,1,1; 15,12,70. 120 Gotter (wie Anm. 18), S. 159 – 161. 121 Ebd. 122 Z. B. in den Reden »In Lucium Calpurnium Pisonem« und in den »Philippicae«.

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den Tag legte, die nicht uneingeschränkt die Interessen des M. Antonius vertrat, sondern einen Ausgleich zwischen den verschiedenen politischen Lagern suchte.123 Appian greift also in seiner Geschichte auf einen moderaten Politiker zurück, der sich offensichtlich weniger einzelnen Personen als vielmehr einem politischen Programm verpflichtet fühlte. In den einzelnen Auftritten, die Caesoninus in Appians Drama erhält, geht es zunächst um die rechtmäßige Abwicklung der Beerdigung Caesars und um die Vollstreckung seines Testaments. Darüber hinaus tritt er für ein rechtmäßiges Vorgehen in der res publica ein, welches er durch Cicero gefährdet sieht. Weder Caesoninus noch Cicero dominieren das Geschehen insgesamt bei Appian, das sich in erster Linie auf den Konflikt zwischen Caesarianern (v. a. M. Antonius und Oktavian) und Caesarmördern (v. a. in den Figuren M. Iunius Brutus und C. Cassius Longinus) und im weiteren Erzählverlauf auch auf die Unstimmigkeiten zwischen M. Antonius und Oktavian konzentriert. Cassius Dio hingegen bringt mit Calenus eine Person ins Spiel, die Cicero in seinen Schriften selbst als gefährlichen politischen Gegner im Senat dieser Zeit darstellt.124 Cassius Dio greift die Spannungen zwischen diesen zwei politischen Rivalen aber nicht nur auf, sondern bietet mit seiner CalenusRede eine starke Gegenposition zur ciceronianischen Überlieferung der Ereignisse dieser Zeit. Wie Severin Koster in seiner Studie über Invektiven in der antiken Historiographie deutlich macht, erfüllt die Calenus-Rede nicht nur eine textimmanente Funktion, sondern bietet zugleich eine Antwort auf die Schmähungen, die Cicero in seinen »Philippicae« gegen M. Antonius und Calenus vorbringt.125 Genauso wie Calenus den Anschuldigungen Ciceros in der Erzählung entgegentritt,126 bringt Cassius Dio mit seiner Geschichte (incl. fiktiver Rede) eine Gegenposition zu Ciceros Überlieferung der Ereignisse. Sind auch die Gegenredner Ciceros bei Appian und Cassius Dio nicht ident, so ist das zentrale Thema in beiden Rededuellen dasselbe, nämlich die Frage nach dem legitimen Handeln in einer politisch schwierigen Situation. Womit die fiktiven Reden auf den allgemeinen Rahmen der Erzählungen Bezug nehmen. Denn in den hier untersuchten Textpassagen bei Appian und Cassius Dio geht es wesentlich um die Frage nach dem legalen Handeln, was im »richtigen« Verhalten, in einer »richtigen« Gesinnung und in »guten« Handlungsmotiven der einzelnen Protagonisten reflektiert wird. Die Vorstellungen vom »Richtigen« 123 Zunächst zwischen Caesarmördern und Caesarianern, dann zu Beginn des Jahres 43 v. Chr. auch zwischen M. Antonius und dem Senat, vgl. dazu Gotter (wie Anm. 18), S. 161 f. und Iris Hofmann-Löbl: Die Calpurnii. Politisches Wirken und familiäre Kontinuität (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 705), Frankfurt a. M. u. a. 1996, S.157 – 186, bes. S. 184 f. 124 Vgl. z. B. Cic. Phil. 8, 11 – 19; 12,14. Cic. Att. 15,4,1. 125 Koster (wie Anm. 104), S. 200 f. 126 Ebd., S. 201.

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und »Guten« werden in den Erzählungen jedoch unterschiedlich definiert und nicht jede Definition deckt sich mit den Vorstellungen von Legalität (das zeigt sich besonders in der Figur Ciceros). Das daraus resultierende Spannungsverhältnis wird vor allem in den einzelnen Reden deutlich. Beide Autoren verstehen es auf jeweils eigentümliche Weise diese unvereinbaren Positionen in Beziehung zu bringen. Mit expliziten Wertungen (z. B. Charakterisierung, Kommentar durch den Erzähler) und impliziten Wertungen (z. B. gescheiterten Aktionen) lenken sie das Augenmerk der Leserinnen und Leser in die eine und in die andere Richtung – sie sympathisieren in einem gewissen Ausmaß mit den politischen Motiven der Attentäter (Appian mehr als Cassius Dio), aber verurteilen ihre Tat; sie lassen sowohl Attentäter als auch Caesarianer zwielichtig erscheinen und bieten doch Erklärungen für deren politisches Vorgehen –, sodass sich auch noch 2000 Jahre später die Fragen aufdrängen: Wer hat in dieser Situation tatsächlich noch für das Wohl der Republik agiert? Welche Handlungen waren unbedingt legitim? Und mit dem Interesse an den »wirklichen« Verhältnissen in Rom verwandeln sich die literarischen Figuren in den Erzählungen zu den historischen Personen, welche die Forschung schon lange Zeit in ihren Bann ziehen und Anlass zu kontroversen Diskussionen geben.

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»mériter et conserver le titre glorieux de Très-Chrétien«. Politische Sprache und Herrschaftslegitimation zur Zeit der Hugenottenkriege

Die Hugenottenkriege bedeuteten für das französische Königtum die schwerste Legitimationskrise zwischen dem Hundertjährigen Krieg und der Revolution von 1789. Von 1562 bis 1598 wurde Frankreich von Konfessionskonflikten und ihren verheerenden Folgen – Kleinkrieg und Bauernaufstände, lokale Massaker, Teuerung, allgemeine Unsicherheit, Niedergang der Wirtschaft – heimgesucht. Mehrere Befriedungsedikte entfalteten nicht mehr als vorübergehende Wirkung. Etliche Prinzen von Geblüt und weitere Angehörige des französischen Hochadels erweiterten ihre Macht auf Kosten des Königs oder gingen gar zu offenem Ungehorsam über. Ihre Opposition gewann an Brisanz durch die Hilfe auswärtiger Mächte: Philipp II. von Spanien einerseits, calvinistische Fürsten andererseits unterstützten zeitweise die französischen Großen ihrer Konfession. Damit sind bereits zwei wesentliche Ursachen der Hugenottenkriege angedeutet: der Konfessionskonflikt in seiner französischen wie europäischen Dimension sowie die Spannungen zwischen Königtum und Hochadel. Letztere waren sehr eng verknüpft mit der dynastischen Krise im Hause Valois: Nach dem Tod Heinrichs II. im Jahr 1559 folgten nacheinander drei seiner Söhne auf dem Thron, die allesamt jung und kinderlos starben. In den 1560er Jahren, während der Minderjährigkeit Franz’ II. und Karls IX., äußerte sich die Krise der Monarchie konkret darin, dass die Königinmutter Katharina von Medici mit den verschiedenen Adelsfaktionen um die Herrschaft rang. Hinzu kam: Karl IX. in den wenigen Jahren seiner Volljährigkeit und nach ihm Heinrich III. (reg. 1574 – 1589) waren nicht in der Lage, die schwierigen Verhältnisse zu meistern. Es gelang ihnen nicht, den Frieden wiederherzustellen, weder durch die Edikte, in denen den Hugenotten Gewissens- und Kultusfreiheit zugestanden wurde, noch durch Verordnungen, in denen allein der katholische Glaube anerkannt wurde. Die Situation spitzte sich für Heinrich III. ab dem Jahr 1584 zu, weil seitdem Heinrich von Navarra, der Anführer der Hugenotten, als nächster erbberechtigter Anwärter auf den Thron feststand. Gegen eine mögliche calvinistische Thronfolge wandte sich ein machtvolles Bündnis, die Liga. Der König wurde nun gleichsam zwischen der dezidiert katholischen und der hugenottischen Rich-

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tung zerrieben. Die Protagonisten der Liga, die Brüder Guise, setzten den König derartig unter Druck, dass er sie Ende 1588 ermorden ließ. Was als Befreiungsschlag gedacht war, bedeutete den endgültigen Bruch zwischen Heinrich III. und den ligistischen Städten, allen voran Paris. Die Sorbonne erklärte den Treueid gegenüber dem König für hinfällig, in Amiens wurden königliche Briefe ungelesen verbrannt, Marseille unterstellte sich, da der irdische König Gott untreu geworden sei, demonstrativ der Herrschaft Jesu Christi, des himmlischen Königs.1 Wenige Monate später, am 1. August 1589 fiel Heinrich III. selbst einem Attentat zum Opfer. Um die Legitimation seines Nachfolgers Heinrich IV., des ersten Bourbonen auf dem Thron, stand es anfangs schlecht.2 Nicht nur für die Liga, sondern für weite Teile der katholischen Eliten war ein Hugenotte als König nicht akzeptabel. Mit Glück und Geschick verbesserte Heinrich IV. seine politisch-militärische Lage; entscheidend für seine Anerkennung wurde indes seine Konversion im Juli 1593, die er schon bei Herrschaftsantritt in Aussicht gestellt hatte. Das Edikt von Nantes, mit dem Heinrich fünf Jahre später die Hugenottenkriege vorerst beendete,3 und der Friede von Vervins mit Spanien, ebenfalls 1598 abgeschlossen, waren Folge und Ausdruck neu gewonnener königlicher Stärke. Bekanntlich waren die Hugenottenkriege Anlass und Hintergrund einer intensivierten herrschaftstheoretischen Debatte zwischen Vertretern einer fürstenkritischen Strömung – hier sind vor allem die sog. Monarchomachen zu nennen – und einer die Rechte des Monarchen betonenden Richtung. Auch Jean Bodins »Six Livres de la R¦publique« von 1576 – um die wohl bekannteste Schrift jener Jahre zu nennen – entstanden unter dem Eindruck des rasanten Verfalls königlicher Legitimation. Hier soll es jedoch nur am Rande um die Herrschaftstheorie gehen, die sich offenbar eher selten unmittelbar auf die Praxis der politischen Sprache auswirkte.4 Im Zentrum des Interesses steht vielmehr die politische Sprache in der Praxis, als ein Medium politischer Kommunikation:5 Welcher Schlüsselbegriffe be1 Olivia Carpi: Êlites citadines et s¦dition en France — l’¦poque des troubles de religion, in: Philippe Depreux (Hg.), Revolte und Sozialstruktur von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit, München 2008, S. 255 – 271, hier S. 263. 2 Als Indiz sei erwähnt, dass auch Heinrich IV. seit seinem Regierungsantritt das Ziel von rund 20 Attentatsversuchen war und, wie bekannt, schließlich 1610 einem solchen Anschlag zum Opfer fiel, Pierre Chevalier : Les r¦gicides. Cl¦ment, Ravaillac, Damiens, Paris 1989, S. 233. 3 Die Fortsetzung der Hugenottenkriege in den Jahren 1620 bis 1629 bleibt hier außer Acht. 4 Bereits Quentin Skinner wies in Zusammenhang mit seinen Studien zur Entstehung des Begriffes Staat darauf hin, dass das neue Vokabular – etwa der Begriff »estat« – nur von den »most secular-minded and sophisticated political theorists« verwendet worden sei, Quentin Skinner: The foundations of modern political thought, Bd. 2: The age of reformation, Cambridge 1978, S. 358. Studien über das genaue Verhältnis von Herrschaftstheorie und politischer Argumentation in der Praxis fehlen. 5 Andere mögliche Formen, Legitimation zu kommunizieren, werden hier nicht behandelt.

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diente man sich, um die Legitimation einer krisengeschüttelten Monarchie zu erhalten oder neu zu begründen? Mit welchen Argumenten wurde das königliche Handeln gerechtfertigt, damit es möglichst viel Anerkennung fand? Warum wählte man bestimmte Begriffe und ließ andere beiseite? Welche Kontinuitäten und Veränderungen der Argumentation sind im Lauf der rund vier Jahrzehnte währenden Krise erkennbar? Als Quellenbasis der Untersuchung dienen zum einen die Edikte, die jeweils einen der acht Hugenottenkriege beendeten, dazu königliche Verordnungen, in denen sich vergleichbare Regelungen mit dem Ziel einer Beendigung der Wirren finden. Diese Edikte enthalten teils längere, teils kürzere Präambeln, die für unsere Frage meist interessanter sind als die sich daran anschließenden Einzelbestimmungen. Weiter wurden Quellen vergleichbarer Bedeutung analysiert, etwa Briefe, mit denen die Generalstände einberufen wurden, Reden des Königs vor den Generalständen; schließlich einzelne, in inhaltlicher Hinsicht einschlägige Dokumente wie eine königliche Erklärung unmittelbar nach der Bartholomäusnacht, oder der Eid, den Heinrich IV. bei Regierungsantritt im August 1589 schwor. Ergänzend werden Erklärungen der Ligaführer sowie einschlägige Äußerungen aus den Briefen und Schriften des Philippe Du PlessisMornay einbezogen, eines Vertrauten Heinrichs IV.6 Um die Entwicklung der Argumentation und Begriffe während der Hugenottenkriege besser einordnen zu können, werden schließlich etwa ein Dutzend Religionsedikte Franz’ I. (reg. 1515 – 1547) und Heinrichs II. (reg. 1547 – 1559) vergleichend berücksichtigt.7 Die genannten Dokumente waren durchweg an eine breite politische Öffentlichkeit gerichtet, zum einen an die Eliten, also Stände und königliche Amtsträger, und zum anderen grundsätzlich an alle Untertanen. Bei der Einberufung der Generalstände liegt das auf der Hand – sie wurden im Übrigen öffentlich und unter Trompetenschall ausgerufen.8 Aber auch für Edikte und ähnliche Rechtsakte galt diese breite Öffentlichkeit: Um in Kraft zu treten, mussten sie zuvor durch die verschiedenen französischen »parlements« regis6 Armand-D¦sir¦ de La Fontenelle/Pierre-Ren¦ Auguis (Hg.): Du Plessis-Mornay. M¦moires et Correspondance. Êdition complÀte, 12 Bde, Paris 1824 – 1825, ND Genf 1969. 7 Folgende Editionen wurden vor allem genutzt: Antoine Fontanon (Hg.): Les Edicts et ordonnances des rois de France, traittans de la police sacr¦e et discipline eccl¦siastique, ensemble de ce qui en d¦pend, Paris 1611; Antoine Jacques Louis Jourdan et al. (Hg.): Recueil g¦n¦ral des anciennes lois franÅaises, depuis l’an 420 jusqu’— la r¦volution de 1789, Paris 1822 – 1833; Andr¦ Stegmann (Hg.): Êdits des guerres de religion, Paris 1979. In der letztgenannten Edition ist die Orthographie vollständig modernisiert, bei Jourdan teilweise. Für das Edikt von Nantes wurde genutzt: Ernst Walder (Hg.): Religionsvergleiche des 16. Jahrhunderts, Bd. II, 2. neu bearb. Aufl., Bern 1961. 8 Vgl. etwa das in Paris am 17. Juni 1588 publizierte Mandat zur Einberufung der Generalstände, Chartres, 31. Mai 1588, s. Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 14, S. 613 – 616.

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triert werden; diese »parlements« aber waren zum Teil Brutstätten der Opposition. Hatte ein Befriedungsedikt das zuständige »parlement« passiert, so war die Veröffentlichung allerorten notwendig – etwa durch öffentliche Verlesung in den Städten –, sollte es denn seinen Zweck erreichen. Mit anderen Worten: Die hier ausgewerteten Dokumente dienten der Werbung für die königliche Politik. Die Sprache, die in ihnen verwendet wurde, sollte Könige legitimieren, die minderjährig waren, die als schwach galten, die aus Sicht eines größeren resp. kleineren Teils der Eliten und Untertanen dem falschen Glauben anhingen. Natürlich bediente man sich solcher Schlüsselbegriffe, von denen man sich in der politischen Öffentlichkeit möglichst große Wirkung erhoffte. Die Bedeutung der Beredsamkeit in politischen Dingen wurde jedenfalls in den gelehrten Kreisen am französischen Hof sehr hoch veranschlagt,9 vielleicht sogar etwas zu hoch. In jedem Fall wurde über die Verwendung bestimmter Begriffe reflektiert, nicht zuletzt in den Streitschriften der Zeit selber.10 Eine Bemerkung noch zum Forschungsstand. Ernst Hinrichs hat in seiner 1969 veröffentlichten Dissertation die politische Sprache unter Heinrich IV. untersucht.11 Was er zusammentrug zu den »politischen Denk- und Handlungsformen im Späthumanismus« – so der Untertitel der Arbeit –, ist i. W. bis heute gültig, fand aber in der deutschen Forschung kaum ein Echo. Wichtige Beobachtungen zur politischen Sprache enthält jedoch die Untersuchung Lothar Schillings zum Gesetzgebungsverständnis zur Zeit der Hugenottenkriege.12 Vor allem aber haben in den letzten 20 Jahren französische Forscher wie Denis Crouzet,13 Bernard Cottret,14 Marie-Madeleine Fragonard15 und Arlette Jouanna16 die politische Sprache zur Zeit der Hugenottenkriege und Heinrichs IV. in 9 Vgl. dazu die Äußerungen Henri Estiennes und Jacques Davy Du Perrons, zit. bei Mark Greengrass: Governing passions. Peace and reform in the French kingdom 1576 – 1585, Oxford 2007, S. 60. 10 S. etwa die Ausführungen Du Plessis-Mornays in Fontenelle/Auguis (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 337. 11 Ernst Hinrichs: Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. Untersuchungen über die politischen Denk- und Handlungsformen im Späthumanismus, Göttingen 1969. 12 Lothar Schilling: Normsetzung in der Krise. Zum Gesetzgebungsverständnis im Frankreich der Religionskriege, Frankfurt a. M. 2005. 13 Denis Crouzet: Langages de l’absoluit¦ royale (1560 – 1576), in: Lothar Schilling (Hg.), Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch-französische Bilanz. L’absolutisme, un concept irremplaÅable? Une mise au point franco-allemande, München 2008, S. 107 – 139. 14 Bernard Cottret: 1598. L’¦dit de Nantes. Pour en finir avec les guerres de religion, Paris 1997. 15 Marie-Madeleine Fragonard: Donner toute priorit¦ — la paix du Royaume: un argument des Politiques?, in: Thierry Wanegffelen (Hg.), De Michel de l’Hospital — l’Êdit de Nantes. Politique et religion face aux Êglises, Clermont-Ferrand 2002, S. 419 – 438. 16 Arlette Jouanna: Die Debatte über die absolute Gewalt im Frankreich der Religionskriege,

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unterschiedlichen Zusammenhängen thematisiert. Es handelt sich dabei in der Regel um Aufsätze, in denen ein einzelner Begriff untersucht wird, oder aber die Sprache einer wichtigen Figur wie z. B. von Michel de l’Hospital, dem französischen Kanzler der 1560er Jahre. Ferner hat die Kirchenhistorikerin Marianne Carbonnier-Burkard 1998 in einem kurzen Aufsatz die Präambeln der Befriedungsedikte sowie der Edikte Franz’ I. und Heinrichs II. analysiert, ohne allerdings weitere Quellen einzubeziehen.17 So ist, wie vor einigen Jahren zu Recht festgestellt wurde, heute bekannt, dass die politische Sprache während der Hugenottenkriege in Bewegung geriet, Begriffe mehrdeutig wurden oder ihre bisherige Bedeutung einbüßten.18 Was bislang fehlt, ist eine systematische Zusammenschau, in der die Praxis der politischen Sprache als Gesamtheit und in ihrer zeitlichen Entwicklung erfasst wird. Zur Schließung dieser Lücke möchte ich beitragen und dabei so vorgehen: Es wird zunächst der Quellenbefund in geraffter Form präsentiert; darauf folgt eine Bündelung und Deutung der Beobachtungen; am Ende geht es darum, die Ergebnisse in den größeren Zusammenhang der Krise der Hugenottenkriege und der Entwicklung des französischen Königtums im 16. und 17. Jahrhundert zu stellen.

Beobachtungen – die Sprache der Religionsedikte19 »Charles par la gr–ce de Dieu Roi de France. […] On sait assez quels troubles et s¦ditions se font despieÅa et de jour en jour suscit¦es, accrues et augment¦es en ce Royaume, par la malice du temps, et de la diversit¦ des opinions qui rÀgnent en la religion.«20 So beginnt das Edikt von Saint-Germain vom 17. Januar 1562. In

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in: Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt (Hg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550 – 1700), Köln/Weimar/Wien 1996, S. 57 – 78. Marianne Carbonnier-Burkard: Les pr¦ambules des ¦dits de pacification (1562 – 1598), in: Michel Grandjean/Bernard Roussel (Hg.), Coexister dans l’intol¦rance. L’¦dit de Nantes (1598), Genf 1998, S. 75 – 92. Jan Miernowski: ›Politique‹ comme injure dans les pamphlets au temps des guerres de Religion, in: Thierry Wanegffelen (Hg.), De Michel de l’Hospital — l’Êdit de Nantes. Politique et religion face aux Êglises, Clermont-Ferrand 2002, S. 337 – 356, hier S. 338. Es werden im Folgenden in der Regel die französischen Quellenbegriffe verwendet. Am Ende dieses Aufsatzes findet sich eine alphabetische Liste der Begriffe mit deutscher Übersetzung; die Übersetzung entfällt bei Begriffen wie »r¦bellion«, sofern gegenüber dem heutigen deutschen Sprachgebrauch kein wesentlicher Bedeutungsunterschied existiert. Längere Quellenzitate sind mit meiner Übersetzung in einer Fußnote versehen. Stegmann (wie Anm. 7), S. 8. Übersetzung: »Karl, von Gottes Gnaden König von Frankreich. […] Man weiß zur Genüge, wie durch die Bosheit der Zeit und wegen der Verschiedenheit der Meinungen, die in Bezug auf die Religion herrschen, seit langer Zeit von Tag zu

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der Folge wird ausgeführt, wie die Vorgänger des Königs mit »rigueur« wie auch mit der ihrer »naturelle b¦nignit¦ et cl¦mence« entsprechenden »douceur« versucht hätten, die Wirren beizulegen; ohne Erfolg. Nun wolle der König aber alle Untertanen in »union et concorde« zusammenführen und die »troubles et s¦ditions« beenden. Um die Untertanen in Friede und Einigkeit zu erhalten, möge Gott ihm die Gnade gewähren, sie »en une mÞme bergerie« (in ein und demselben Schafstall) zu vereinen: das sei sein, des Königs, dringendster Wunsch.21 Gleich zwei Mal findet sich dann der Hinweis darauf, dass das vorliegende Edikt mit Rat und Zustimmung Katharinas von Medici, der Prinzen von Geblüt und anderer Fürsten, des königlichen Rates und der »parlements« ergehe. Hier sind bereits einige Elemente politischer Sprache erkennbar, die sich z. T. durchgehend in den Quellen finden. Um mit dem letztgenannten zu beginnen: Stets werden königliche Edikte einleitend so charakterisiert, dass sie auf der Mitwirkung und Zustimmung der Prinzen von Geblüt, der Großen, der hohen Amtsträger des Landes beruhen; auch findet die Königinmutter bis zu ihrem Tod entsprechende Erwähnung. Der Grund dafür war nicht, dass Karl IX. zum Zeitpunkt des Edikts von Saint-Germain erst elf Jahre alt war.22 Wir finden die entsprechenden Formulierungen ebenso, wenn der König volljährig ist. Ganz offensichtlich diente es zur Zeit der Hugenottenkriege der Legitimation königlichen Handelns, wenn die Mitwirkung und Zustimmung der Eliten betont wurde.23 Die inneren Konflikte, unter denen Frankreich litt, werden durchgehend als »troubles« beschrieben; üblich sind auch Begriffe wie »calamit¦s«, »maux«, und in den 1560er Jahren auch oft »s¦ditions«, was sowohl allgemein Unruhen wie auch Aufstand bedeuten kann. Ab der zweiten Hälfte der 1570er Jahre ist häufiger von »d¦sordres« die Rede; Ende der 1580er Jahre wird dann der Begriff »r¦bellion« wichtig. Worauf werden die »troubles« zurückgeführt? 1562 und auch in anderen Quellen zu Beginn der hier betrachteten Zeit wird der Religionsstreit genannt; konkrete Schuldige werden aber in der Regel nicht erwähnt. Ferner ist, wie 1562, allgemein von der »malice du temps« die Rede, ebenso vom »jugement de Dieu« (auch: »punition de Dieu«, »main de Dieu«). Die »troubles« erscheinen als wegen der Sündhaftigkeit der Menschen verhängte Strafe. Nur Gott ist es folgTag die Wirren und Unruhen in diesem Königreich entstanden sind, zunahmen und sich vermehrten.« 21 Stegmann (wie Anm. 7), S. 8 – 10. 22 Er wurde im Juni 1550 geboren. 23 Das entspricht dem Grundsatz des »gouvernement par grand conseil«, den Schilling (wie Anm. 12), S. 447, als eines der drei wesentlichen Gesetzgebungsprinzipien in Frankreich im Spätmittelalter und bis in die Zeit Heinrichs IV. benennt.

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lich, der Frieden geben kann: Das wird mehrfach betont, besonders unter Heinrich III. und Heinrich IV. Darüber hinaus wird, wie 1562, von der üblen Absicht nicht näher bezeichneter Menschen gesprochen; ausnahmsweise wird auch ausdrücklich der »tol¦rance« mehrerer religiöser Meinungen die Schuld für die Wirren gegeben, so im Edikt von Nemours 1585, in dem die vorherigen, pazifizierenden Edikte aufgehoben wurden.24 Natürlich konnte aus naheliegenden Gründen in einem Befriedungsedikt nicht eine der Konfessionen zum Sündenbock gemacht werden! Gleichwohl fällt auf, dass der konfessionelle Dissens als Ursache der Wirren in der politischen Sprache eher diskret behandelt wird. Wir kommen darauf zurück. Dagegen erscheint 1588/1589, nachdem Heinrich III. die Guise hatte ermorden lassen, sowie danach unter Heinrich IV. öfter der Vorwurf an die jeweiligen Gegner, Hugenotten oder Ligisten, dass die Religion ihnen nur als »pr¦texte« politischer Ziele diene. Die Frömmigkeit der Guise, so Heinrich III., sei nur falscher Anstrich und Vorwand gewesen, ihr angeblicher Eifer für die Ehre Gottes und gegen die Ketzer nur Deckmäntelchen ihrer »d¦loyaut¦«.25 Das hatte man 1568 in den Ordonnanzen von Saint–Maur schon den hugenottischen Großen vorgeworfen: Ihre »ambition« sei es, die Herrschaft im Königreich an sich zu reißen, um den Glauben gehe es ihnen keineswegs!26 Den »troubles« entgegengestellt wird als guter, anzustrebender Zustand nicht selten die Minderung der Kriegslasten; immer wieder ist vom »soulagement du peuple« die Rede. Vor allem aber erscheint durchgehend »repos«, »paix«, »tranquillit¦«; ferner von zentraler Bedeutung ist die auch 1562 erwähnte »union et concorde«, sowie, damit eng verwandt auch »amiti¦«, »r¦conciliation«. Der größte Wunsch des Königs sei es stets gewesen, die Untertanen in Frieden, Einigkeit und Ruhe leben zu lassen: Diese Facette des Königsbildes fehlt niemals.27 Was ist unter »union« und »concorde« zu verstehen? Gemeint ist die

24 Der gegenwärtige Krieg wurzle, so heißt es, in der »diuersit¦ de ladite religion toleree en iceluy [sc. le royaume]«, Fontanon (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 343 f. 25 Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 14, S. 637. 26 Stegmann (wie Anm. 7), S. 59, 63. »ambition« ist einer der stärksten Negativbegriffe der Zeit; gemeint ist das eigensüchtige und daher gemeinwohlwidrige Streben nach partikularen Zielen, womöglich unter dem Deckmantel des Glaubens. Vgl. etwa La Fontenelle/Auguis (wie Anm. 6), Bd. 5, S. 536 (»l’ambition de peu de gens, aulx despens du public«) sowie die Äußerung Heinrichs IV. in einem Brief von 1596, in denen er den Forderungen der Hugenotten nach Sicherheiten attestiert, ihre Wünsche seien nicht von »ambition« bestimmt, die Religion sei Ursache »et non pretexte«, zit. nach Hugues Daussy : Au cœur des n¦gociations pour l’¦dit de Nantes: le rúle de Philippe Duplessis-Mornay, in: Michel Grandjean/Bernard Roussel (Hg.), Coexister dans l’intol¦rance. L’¦dit de Nantes (1598), Genf 1998, S. 207 – 224, hier S. 213. 27 Fragonard (wie Anm. 15), S. 427 hat darauf hingewiesen, dass die Parteien z. T. darüber stritten, was unter »paix« konkret zu verstehen sei. Als legitimatorischer Begriff war er daher

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Einigkeit der Untertanen untereinander sowie mit dem König. In den Fällen, in denen es nicht um eine Duldung der Hugenotten geht, sondern die Ausübung ihres Glaubens verboten wird, erfolgt eine konfessionelle Bestimmung und Festlegung von »union«: so nennt Heinrich III. im Oktober 1588 ausdrücklich als Ziel, dass alle Untertanen in die Einheit der heiligen Kirche zurückgeführt werden sollen (»r¦unis — l’union de son ¦glise sainte«).28 Wie kann der König seiner ureigenen Pflicht, Einheit und Frieden herzustellen, nachkommen? Er kann mit »douceur«, »cl¦mence«, »bont¦«, »mis¦ricorde« oder aber mit »rigueur« vorgehen. Wir finden beide Modi königlichen Handelns, »rigueur« und »douceur«, im 1562er Edikt und sehr oft auch sonst, meist so dargestellt, dass der König die »douceur« vorzieht, und nur dann, wenn sie nichts nützt, eben auch mit Härte einschreitet. Im Übrigen werden keine konkreten Handlungsweisen des Königs beschrieben, sondern es wird ein Bild des Königs aufgebaut. Welche Züge trägt dieses Herrscherbild, wenn wir über »douceur« und »rigueur« hinausgehen? Manchmal beruft sich der König auf seine »pr¦d¦cesseurs« als Vorbilder, womit die unmittelbaren Vorgänger ab Franz I. gemeint sein können oder die Gesamtheit der französischen Könige. In der Regel werden die »pr¦d¦cesseurs« angeführt, wenn es ausdrücklich um die Erhaltung des katholischen Glaubens und das Verbot des hugenottischen Kultus’ geht. Oft tritt dann zu den »pr¦d¦cesseurs« der Begriff des »prince chr¦tien« bzw. des »roi trÀs-chr¦tien« hinzu; ihm ist der Schutz der Kirche anvertraut, ebenso, wie es allerdings selten ausdrücklich heißt, das Seelenheil der Untertanen.29 Der Titel des Allerchristlichsten Königs (rex christianissimus) für die französischen Herrscher geht bis ins Frühmittelalter zurück. Die päpstliche Kanzlei schmückte manche fränkische und später französische Könige mit dieser Ehre, jedoch auch andere Herrscher ; seit Ende des 14. Jahrhunderts wurde der Titel exklusiv von den französischen Königen beansprucht und propagandistisch genutzt.30 Doch was bedeutete dieser überkommene politische Schlüsselbegriff des rex christianissimus im Zeitalter verfeindeter christlicher Konfessionen? Taugte er noch zur Legitimation? Wir kommen auf diese Frage zurück. Ebenfalls eine betont christliche Konnotation evoziert der Schafstall (»bergerie«) im 1562er Edikt: Der König wird in die Nähe Christi, des Guten Hirten, weniger gut geeignet als »concorde« und »union«. Deren Stärke war es gerade, dass sie mehr im Ungefähren blieben. 28 Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 14, S. 629 f. 29 So im Edikt von Nemours, 15. Juli 1585, wo es heißt: »vn Roy tres-Chrestien, qui a son salut & celuy de ses subiects en singuliere recommandation«, Fontanon (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 344. 30 Ausführlich hierzu Jacques Krynen: Id¦al du prince et pouvoir royal en France — la fin du Moyen ffge (1380 – 1440). Êtude de la litt¦rature politique du temps, Paris 1981, S. 207 – 239.

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gerückt. Diese Wortwahl ist selten – doch Heinrich IV. formuliert 1599 vor dem »parlement« von Paris ebenfalls: »Je ressemble le berger qui veut ramener les brebis en la bergerie avec douceur, et non avec cruaut¦.«31 Etwas häufiger als die Parallelisierung mit Christus, dem Guten Hirten, erscheint seit den 1570er Jahren die »affection« des Königs gegenüber den Untertanen; erweitert wird auch von »affection paternelle« gesprochen, der König bezeichnet sich als »pÀre« oder nennt als Motiv seines Handelns den »soin paternel«. In der Treueerklärung der Großen und hohen Amtsträger für Heinrich IV. am 4. Aug. 1589 wird die Erwartung ausgesprochen, dass er der Vater für alle seine Untertanen sein solle. Auch vom »bon roy«, dem wiederum gute und treue Untertanen entsprechen, ist am Ende der 1580er Jahre die Rede. Dieser Zeitpunkt ist kein Zufall: Mit der sich zuspitzenden Lage werden die Legitimationsbemühungen Heinrichs III. immer wortreicher und zudem verändert sich die Wortwahl etwas. Zentral wichtig wird jetzt der Begriff der königlichen »autorit¦«, der z. T. ausdrücklich als Grundlage des Gemeinwesens bezeichnet wird. Ohne die »authorit¦ royalle«, heißt es bei der Einberufung der Generalstände im Jahr 1588, könnten die Menschen nicht bestehen und die Stände nicht in ihren pflichtgemäßen Bindungen erhalten werden.32 Die Erhaltung der königlichen »autorit¦« wird in den Mittelpunkt gestellt; umgekehrt stellt die Beschuldigung, der »autorit¦« des Königs zu schaden und sich der »r¦bellion« schuldig zu machen, den Hauptvorwurf dar, welchen Heinrich III. den Brüdern Guise macht, als er Anfang 1589 in einer öffentlichen Erklärung mit den von ihm Ermordeten abrechnet.33 Eng verbunden damit werden die Begriffe »fid¦lit¦« und »ob¦issance« als Pflichten der Untertanen gegenüber dem König betont, wobei »ob¦issance« gelegentlich schon in den 1560er Jahren verwendet wird. Es häufen sich also in den letzten Jahren Heinrichs III. die Begriffe und Gegenbegriffe, in denen es grundsätzlich um die Erhaltung der politischen Ordnung geht: »autorit¦«, »ob¦issance«, »fid¦lit¦« (manchmal gesteigert zur »ancienne fid¦lit¦ des FranÅais«) stehen gegen »ambition«, »f¦lonie«, »lÀzemajest¦«, »r¦bellion«, (auch »d¦sob¦issance«, »infid¦lit¦«).34 »r¦bellion«/»re31 Rede Heinrichs am 16. Febr. 1599, zit. nach dem Abdruck in Cottret (wie Anm. 14), S. 385 – 388, hier S. 385. Übersetzung: »Ich gleiche dem Hirten, der seine Schafe sanftmütig in den Schafstall zurückbringen will, und nicht gewaltsam.« 32 Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 14, S. 616. 33 Ebd., Bd. 14, S. 635 – 643. 34 Modellhaft gegenübergestellt wird die königliche, von Gott wiederhergestellte »auctorit¦« den Begriffen »felonie«, »trahison«, »deloyaut¦«, »infidelit¦«, »confusion« in dem Schreiben, das Heinrich III. unmittelbar nach dem Attentat, in dessen Folge er kurz darauf versterben sollte, an Philippe Du Plessis-Mornay richtete, La Fontenelle/Auguis (wie Anm. 6), Bd. 4, S. 379.

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belles« erscheint auch häufig als Feindbezeichnung in den ersten Jahren Heinrichs IV.; der erste Bourbone betont vor allem vor seiner Konversion 1593 aus naheliegenden Gründen immer wieder, dass er der legitime, von Gott gegebene König sei, dem folglich der Gehorsam der Untertanen zustehe. Wie lassen sich die Beobachtungen bündeln und deuten?

Die Sprache der Tradition Da in den Hugenottenkriegen gerade die Legitimation des Königs als eines christlichen Monarchen fraglich wurde, kann es nicht überraschen, dass Begriffe eine wichtige Rolle spielen, in denen es direkt oder indirekt um den christlichen Charakter der königlichen Herrschaft geht. Der Schlüsselbegriff schlechthin ist der des »roi trÀs-chr¦tien«. Um ihn herum gruppiert sich eine Reihe anderer Begriffe, die das Bild des guten und legitimen Königs ausmachen: Der »roi trÀschr¦tien« ist derjenige, der wie seine »pr¦d¦cesseurs« die Kirche mit »douceur«, notfalls aber auch mit »rigueur«, gegen »h¦r¦sies« schützt, wie er es bei seiner Weihe in Reims geschworen hat; und indem er so die zugleich politische wie religiöse »union«/»concorde« des Königreiches bewahrt, sichert er den Angehörigen seines Reiches »repos« und »paix«. Hinzu tritt der Begriff der »justice«; er findet sich zwar in den hier genutzten Quellen fast nicht; schaut man aber in königliche Edikte, die über den Konfessionskonflikt in materieller Hinsicht hinausgehen, so erscheint die Wiederherstellung gerechter Zustände als eine wesentliche Aufgabe des Monarchen.35 Kurz: Es geht um den christlichen Fürsten, der für Frieden, Recht und Einheit sorgt. Der Einfachheit halber sei diese Begrifflichkeit trotz Bedenken unter der Bezeichnung »Sprache der Tradition« zusammengefasst. Die Bezeichnung bietet sich insofern an, als Schlüsselbegriffe legitimer Herrschaft wie iustitia, pax, concordia und clementia sich bereits in der Antike finden und im 16. Jahrhundert nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Teilen Europas als etablierte Elemente politischer Sprache gelten können: Der Herrscher als Wahrer von Frieden und Recht ist in der alltäglichen politischen Kommunikation wie in der Herrschaftstheorie ein gemeineuropäisches Phänomen. Zu den Bedenken: Wenn hier die antike politische Semantik anklingt, heißt das selbstverständlich nicht, dass ohne weiteres eine inhaltliche Kontinuität etwa eines Begriffs wie »concordia« von der römischen Republik bis ins 16. Jahrhundert angenommen werden könnte. Es ist im Gegenteil eine wesentliche Voraussetzung der Untersuchung politischer Sprache, unter Berücksichtigung 35 Schilling (wie Anm. 12) S. 107, 450.

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der jeweiligen geschichtlichen Situation zu fragen, wie ein und derselbe Begriff im Lauf der Geschichte unterschiedlich gefüllt wird. In der mit dem Tod Heinrichs II. im Jahr 1559 einsetzenden Krise blieb diese Sprache der Tradition erhalten. Wir dürfen das als Hinweis auf ihre Stärke und potentielle Legitimationskraft verstehen. Zugleich fanden aber Veränderungen in dieser Sprache statt – Reaktionen auf die neuartigen Herausforderungen und ein verändertes und vermehrtes Legitimationsbedürfnis. Ließ sich von einem »roi trÀs-chr¦tien« sprechen, wenn er Ketzern Toleranz gewährte? Was bedeutete »union« angesichts der Existenz zweier Konfessionen? Beginnen wir mit »union«. In denjenigen Edikten, in denen keine Toleranz gewährt wurde, ließen sich diese Begriffe bruchlos weiterführen. Weil die Glaubenseinheit Grundlage des Gemeinwesens war, musste Ketzerei als politisches Verbrechen durch den König bekämpft werden,36 war es doch seine Pflicht, die »concorde« des Gemeinwesens zu wahren. Klipp und klar hieß es auch von Seiten der Liga bei der Konferenz von SurÀne im Mai 1593: »(La) concorde des sujets […] ne pouvoit exister s’il y avoit diversit¦ de religion« und folglich wolle man keinen Ketzer als König.37 Hier wird im Übrigen erkennbar, dass sich nicht nur das Königtum der Sprache der Tradition bediente, sondern auch seine Widersacher. Die Liga führte das herkömmliche Verständnis von »union« weiter, das wir in den Religionsedikten Franz’ I. und Heinrichs II. finden, darüber hinaus in denjenigen Edikten, in denen ausdrücklich eine Duldung der Hugenotten verworfen wurde. In den Edikten jedoch, in denen seit den 1560er Jahren Toleranz verkündet wurde, erscheint »union« nicht mehr wie zuvor als religiös-politische Einheit. Sowohl bei den nicht näher beschriebenen »troubles« wie bei »union«/»concorde« wird die religöse Dimension gleichsam ausgeblendet, es geht nicht mehr explizit um die Einheit der Kirche und es fehlt der Begriff der »h¦r¦sie«. Der König, so wird hingegen unermüdlich betont, wolle und werde die »troubles« und »s¦ditions« überwinden, Frieden und Einheit wiederherstellen. Carbonnier-Burkard interpretiert diesen veränderten Sprachgebrauch als »d¦sacralisation« der Probleme, die das Königreich erschütterten.38 Auf den ersten Blick leuchtet dies ein.39 Ich meine jedoch, dass insgesamt nicht oder allenfalls von 36 So z. B. im Edikt vom 25. Juli 1543, s. Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 12, S. 825. Hier erscheint die »unit¦ […] de la foy catholique« als »le principal fondement de nostredit royaume.« 37 Ebd., Bd. 15, S. 60. 38 Carbonnier-Burkard (wie Anm. 17), S. 82, vgl. ebd., S. 84, wo die Trennung von Frieden und Glaubenseinheit als Auftreten von »valeurs politiques autonomes« gedeutet wird. 39 Allerdings nicht für die Ordonnanzen von Saint-Maur, die Carbonnier-Burkard gleich im Anschluss daran als Beispiel anführt. Die Gewissensfreiheit wurde zugestanden, jedoch ausdrücklich keine Kultusfreiheit und zudem wurden die calvinistischen Geistlichen des Landes verwiesen, Stegmann (wie Anm. 7), S. 64. Es war überhaupt nicht zu erwarten, dass eine solche in sich widersprüchliche oder bestenfalls wirklichkeitsfremde Regelung befrie-

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einer vorübergehenden Desakralisierung der traditionellen politischen Sprache gesprochen werden kann. Dies wird deutlicher, wenn wir uns den mit »concorde«/»union« eng verbundenen, noch wichtigeren Begriffen »roy trÀs-chr¦tien« und »pr¦d¦cesseurs« zuwenden. Im Schlüsselbegriff des »roi trÀs-chr¦tien« verdichtete sich gleichsam, wie gezeigt, die sakrale Legitimation der französischen Könige. Was wurde daraus in der Krise der Hugenottenkriege? Halten wir zunächst fest, dass in fast allen Edikten der 1560er/1570er Jahre, in denen den Calvinisten Kultusfreiheit gewährt wurde, der Titel des Allerchristlichsten Königs fehlt.40 Weder gegenüber Hugenotten noch vor Katholiken taugte er bei solchen Gelegenheiten zur Legitimation. Für erstere klang er bedrohlich, letzteren musste er unglaubwürdig erscheinen angesichts der offenkundigen Kluft zwischen dem damit verbundenen Anspruch und der Gewährung von Toleranz für Ketzer. Bezeichnenderweise erscheint der Titel des »roi trÀs-chr¦tien« aber in den Ordonnanzen von Saint–Maur von 1568, in denen der hugenottische Kultus verboten wurde: »Chacun sait assez que les feus Rois de trÀs louable m¦moire, nos pÀre et aeul […] se montrant trÀs-Chr¦tiens et protecteurs de la Sainte Eglise, se sont ¦vertu¦s par Edits et voie de justice, en conserver l’union, et r¦primer la division de Religion en leurs temps entr¦e en ce royaume.«41 Hier wird eine Begrifflichkeit verwendet, wie sie sich ebenso in den Religionsedikten Franz’ I. und Heinrichs II. findet, in welchen der Schlüsselbegriff »trÀs-chr¦tien« kontinuierlich herausgestellt worden war.42 Aber wie passte das Verbot von 1568 zu den zuvor erlassenen Toleranzedikten? Nun, heißt es weiter, das Edikt von Saint–Germain von 1562 sei vorläufiger Natur gewesen (»provisional«), und gegen den eigentlichen Willen der dende Wirkung haben würde. Die Ordonnanzen von Saint–Maur können keinesfalls in einer »perspective d¦sacralisante« gesehen werden, wie Carbonnier-Burkard (wie Anm. 17), S. 82, formuliert, sondern müssen in die Reihe der Verbotsedikte eingeordnet werden. 40 Einmal ist immerhin 1563 vom »Prince TrÀs-Chr¦tien« die Rede und zwar im Edikt von Amboise, das den ersten Hugenottenkrieg abschloss. In diesem Zusammenhang wird betont, dass der König als allerchristlichster Fürst seine Zuflucht zu Gott nehme, damit die Befriedung des Landes gelinge, Stegmann (wie Anm. 7), S. 33. 41 Stegmann (wie Anm. 7), S. 59. Übersetzung: »Jeder weiß zur Genüge, dass die verstorbenen Könige hochlöblichen Angedenkens, unser Vater und Großvater […], sich als allerchristlichste (Könige) und Schutzherren der Heiligen Kirche erwiesen. […] Sie haben alle Kräfte angestrengt, um durch Edikte und den Weg der Gerechtigkeit die Kirche in Einheit zu erhalten und die Religionsspaltung zu unterdrücken, die zu ihren Zeiten in diesem Königreich Einzug hielt.« 42 So z. B. in einer Ordonnanz Heinrichs II. vom 19. Nov. 1549: »Comme le feu roy nostre trÀshonor¦ seigneur et pÀre (que Dieu absolve) durant son rÀgne, en imitant ses pr¦d¦cesseurs de trÀs-heureuse et recommandable m¦moire, ¦s actes dignes du nom et tiltre de trÀs-chrestien, eust essay¦ tous moyens possibles pour extirper de ce royaume les fausses et r¦prouv¦es doctrines, erreurs, et h¦r¦sies qu y ont est¦ sem¦es par aucuns malins esprits, contre nostre saincte foy et religion chrestienne […]«, Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 13, S. 134.

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Königinmutter verkündet worden; Katharina von Medici sei stets »trÀs-chr¦tienne« gewesen und habe ihre Kinder – also auch den nunmehr volljährigen Karl IX. – im katholischen Glauben erzogen. Karl habe die wahre Religion stets in sein Herz eingeschlossen, »comme Rois trÀs-chr¦tiens doivent«.43 Nun verbiete er die Ausübung jeder anderen Religion als der römisch-katholischen, »laquelle nous tenons, et les Rois nos pr¦d¦cesseurs ont tenue«.44 Es fand also 1568 eine ausdrückliche Rückkehr zum Schlüsselbegriff des »roi trÀs-chr¦tien« statt – ein Versuch, Legitimation zurückzugewinnen! In gleicher Weise schloss sich Heinrich III. in den Jahren ab 1585 dem herkömmlichen Sprachgebrauch an. Beispielhaft ist das erkennbar in der zwischen Liga und König vereinbarten »Sainte Union« vom Juli 1588, die im Oktober desselben Jahres bestätigt wurde. Im Juliedikt war festgelegt worden: Kein Häretiker darf als König anerkannt werden. Das ließ Heinrich III. nun als unwiderrufliches Grundgesetz durch die Generalstände bestätigen. Schon immer habe er nichts mehr gewünscht, als das Königreich von Ketzerei zu säubern und alle Untertanen in der »union« der heiligen Kirche zu einen. Nun trage er den Titel des allerchristlichsten Königs, den seine Vorgänger mit »pi¦t¦ et valeur« erwarben. Gemäß der Verantwortung, die Gott dem König für sein christliches Volk gegeben habe und entsprechend seinem Krönungseid habe er zunächst »les voies les plus douces« beschritten, um die Ketzerei auszurotten und alle Untertanen im katholischen Glauben zu einen (»r¦unir«). Das aber habe ihre Widerspenstigkeit nur vermehrt. So habe er erkannt, dass Zwang nötig sei, um die Untertanen zum Gehorsam zu bringen. Dafür seien die Heilige Union und das Juliedikt nötig. Als der König das Edikt in der Ständeversammlung beeidete, ertönte großer Beifall, heißt es im Bericht, und alle riefen »vive le roi!«45 Heinrich IV. hat den Titel des »roi trÀs-chr¦tien«, soweit ich sehe, zunächst nicht oder kaum in konfessionspolitischen Verordnungen genutzt. Dieser Begriff war offensichtlich um 1590 als Bestandteil der Sprache der Tradition in einem katholischen Sinne festgelegt.46 Gewiss, Heinrichs Vertreter auf der Konferenz von SurÀne im Mai 1593 konnten darauf hinweisen, der König sei doch kein Anhänger Mohammeds, »mais un prince qui ¦toit par la gr–ce de Dieu chr¦tien, croyant un mÞme Dieu, une mÞme foi, un mÞme symbole.«47 Nur durch einige Irrtümer bezüglich der Sakramente sei er von den Katholiken getrennt, 43 »wie es Allerchristlichsten Königen gebührt«, Stegmann (wie Anm. 7), S. 63 f. 44 »welcher wir anhängen und der die Könige, unsere Vorgänger, anhingen«, Stegmann (wie Anm. 7), S. 64. 45 Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 14, S. 629 – 631. 46 Davon zeugen indirekt auch die Äußerungen Du Plessis-Mornays in einer Streitschrift des Jahres 1586, La Fontenelle/Auguis (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 373. 47 »sondern ein Fürst, der durch die Gnade Gottes Christ sei, an denselben Gott glaube, denselben Glauben habe, dasselbe Glaubensbekenntnis«, Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 15, S. 60.

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hieß es.48 Der Vertreter der Liga ging nicht auf den Versuch ein, die theologischen Gegensätze herunterzuspielen. Der König müsse, um anerkannt zu werden, ein »roi trÀs chr¦tien de nom et d’effet« sein, »digne de la pi¦t¦ de ses ancÞtres.«49 Es sei gegen das göttliche Recht, einen Ketzer als Herrscher dieses allerchristlichsten Königreichs anzuerkennen.50 An diesem Punkt kam man nicht weiter : Bezeichnenderweise kam der Durchbruch bei dieser Konferenz erst zustande, als Heinrichs bevorstehende Konversion angekündigt wurde. Im Edikt von Nantes griff der inzwischen zum katholischen Bekenntnis zurückgekehrte51 Heinrich IV. den Schlüsselbegriff des »roi trÀs-chr¦tien« und den Einheitsgedanken auf, jedoch mit bemerkenswerten Veränderungen. Zunächst wurden die unendlichen Gnaden Gottes (»gr–ces infinies«) betont, die ihm offenkundig zuteil geworden seien, indem sich Gott seiner bediente, um die »troubles« zu beenden.52 Darauf aufbauend heißt es weiter : »Mais maintenant qu’il pla„t — dieu commencer — nous faire jouir de quelque meilleur repos, nous avons estim¦ ne le pouvoir mieux employer qu’— […] pourvoir qu’il puisse Þtre ador¦ et pri¦ par tous nos sujets; et s’il ne lui a plu permettre que ce soit pour encore en une mÞme forme et religion, que ce soit au moins d’une mÞme intention et avec telle rÀgle qu’il n’y ait point pour cela de trouble et tumulte entre eux, et que nous et ce royaume puissions toujours m¦riter et conserver le titre glorieux de TrÀs-Chr¦tien, qui y a ¦t¦ par tant de m¦rites et de si longtemps acquis.«53 An die Sprache der Tradition wird also bewusst angeknüpft – im Titel, im Bezug auf die Vergangenheit –, doch mit neuen Akzenten. Nachdem zuvor betont worden war, wie offensichtlich die Gnade Gottes auf dem König als Beauftragtem Gottes ruhe, konnte nun überzeugend davon gesprochen werden, dass Heinrich sich den Titel des »roi trÀs-chr¦tien« neu verdient habe – wobei 48 So der Erzbischof von Bourges als Vertreter Heinrichs am 5. Mai 1593, ebd. 49 So der Erzbischof von Lyon, 5. Mai 1593, ebd., Bd. 15, S. 61. Übersetzung: »ein dem Namen und der Sache nach allerchristlichster König, würdig der Frömmigkeit seiner Vorfahren.« 50 Ebd., Bd. 15, S. 61. 51 Zum Aspekt von Öffentlichkeitswirkung der Konversion und ihrer Bedeutung für Heinrichs Legitimation s. Mark Greengrass: The public context of the abjuration of Henri IV, in: Keith Cameron (Hg.), From Valois to Bourbon. Dynasty, state and society in early modern France, Exeter 1989, S. 107 – 126. 52 Walder (wie Anm. 7), S. 14. 53 Ebd., S. 15. Übersetzung: »Jetzt aber, da es Gott gefällt, uns etwas mehr Ruhe genießen zu lassen, haben wir gemeint, diese Ruhe nicht besser nutzen zu können als so, dass wir dafür sorgen, dass er von allen unseren Untertanen verehrt und angebetet werde; und wenn es ihm noch nicht gefallen hat zu erlauben, dass dies in derselben Weise und Religion geschieht, so soll es zumindest in derselben Absicht geschehen und mit einer solchen Ordnung, dass es keineswegs deswegen Wirren und Tumult unter ihnen gebe, so dass wir [sc. Heinrich] und dieses Königreich stets den glorreichen Titel des Allerchristlichsten verdienen und erhalten mögen, der hier durch so viele Verdienste und seit so langer Zeit erworben wurde.«

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die Formulierung an sich nicht neu ist, sondern in entsprechenden Wendungen schon unter Franz I. und Heinrich II. vorkam. Doch ist es nicht mehr der erfolgreiche Kampf gegen die Ketzer, sondern die Wiederherstellung von »repos« und »paix«, die ihn zum »roi trÀs-chr¦tien« machen! Auf dieser Grundlage ist es ebenso ein Kennzeichen seiner Christlichkeit, dass alle seine Untertanen Gott verehren können. Über die Kluft der Glaubensspaltung hinweg wird beiden Konfessionen dieselbe Absicht unterstellt und also eine nicht existente Einheit, genauer : eine noch nicht wieder existente Einheit angenommen und gleichsam vorweggenommen. Entscheidend und neuartig ist also: Der traditionelle Schlüsselbegriff des »roi trÀs-chr¦tien« wird ganz auf die Person Heinrichs IV. zugeschnitten; dieser König erklärt die Glaubenseinheit für im Grunde genommen bereits wiederhergestellt.

Die Sprache der Ordnung Die teilweise neuartige Verwendung der traditionellen politischen Sprache wird flankiert durch den Gebrauch einer Sprache, die ich die »Sprache der Ordnung« nennen möchte. Die in den hier verwendeten Quellen vorfindlichen Vokabeln dieser Sprache lauten: »pr¦texte« – also Religion als Vorwand für politische Ziele, für Rebellion; überhaupt »r¦bellion« und »f¦lonie« und als Gegensatz »ob¦issance«, »fid¦lit¦«. Es handelt sich also z. T. um alte Begriffe, die aus dem Lehnswesen vertraut sind, die jedoch teilweise verstärkt seit den 1570er Jahren verwendet werden (»ob¦issance«, »r¦bellion«), hier wäre auch »d¦sordres« zu nennen. Neu ist der Begriff der »autorit¦« – hier haben wir es mit dem Schlüsselbegriff dieser Sprache der Ordnung zu tun. Das Wort »autorit¦« ist selbstverständlich älter54 und erscheint etwa in den Edikten Franz’ I. und Heinrichs II. sowie in den 1560er und 1570er Jahren gelegentlich in einem die jeweilige Anordnung beglaubigenden, aber doch eher beiläufigen Sinne. Prominenz in der politischen Sprache erlangte »autorit¦« erst durch eine neuartige Verwendung am Ende der 1580er Jahre. Vor allem Heinrich III. nutzte »autorit¦« als zentralen Kampfbe54 Der Begriff erscheint bereits im Altfranzösischen, Adolf Tobler/Erhard Lommatzsch: Altfranzösisches Wörterbuch, Bd. 1, ND Wiesbaden 1956, S. 688 f. Im Mittelfranzösischen, also im 14./15. Jh., ist er im Sinne von Macht, überlegenem Ansehen, Befehlsrecht bezeugt, Dictionnaire du Moyen FranÅais, http://www.atilf.fr/gouvay/scripts/dmf; Zugriff 3. 12. 2010. In Estiennes Wörterbuch von 1549 wird »authorit¦« u. a. mit potestas übersetzt und in den beigefügten Beispielen mit der königlichen Befehlsgewalt verknüpft, s. Robert Estienne: Dictionnaire franÅois-latin (1549), ND Genf 1972, S. 60.

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griff gegen die Guise und die Liga, die seine Legitimation bestritten.55 Die Durchschlagskraft der »autorit¦« dürfte sich nicht zuletzt daraus erklären, dass zuvor ein positiver Begriff fehlte, den man den relativ zahlreichen Vokabeln zur Beschreibung erschreckender Unordnung und Widersetzlichkeit (»troubles««, »r¦bellion«, »d¦sob¦issance«, »f¦lonie«, »d¦loyaut¦«, »h¦r¦sie« u. a. m.) entgegenstellen konnte. Überhaupt fehlte ein positiv füllbarer und platzierbarer Begriff, um die Stellung des Fürsten gegen alle diese Negativbegriffe offensiv zu vertreten. »Autorit¦« (und in ihrem Gefolge »ob¦issance«) scheint genau diese Funktion erfüllt zu haben. Wahrscheinlich wurde »autorit¦« bewusst aus den damals aktuellen, gelehrten Herrschaftsentwürfen in die alltägliche politische Sprache übernommen. »Autorit¦« war ein Begriff, den Michel de l’Hospital dem König zuordnete56 und in den 1570er und 1580er Jahren erscheint die au(c)toritas in prominenten herrschaftstheoretischen Werken, etwa bei Jean Bodin und Justus Lipsius.57 Wegen der Verbindungen zwischen Gelehrten aus dem Umkreis Heinrichs III. und Lipsius58 liegt es nahe, hier einen Zusammenhang zu vermuten. In jedem Fall existierte ein gelehrtes Milieu am französischen Hof, in dem über die Art und Weise der rhetorischen Vermittlung herrscherlichen Handelns intensiv nachgedacht wurde.59 Es muss offen bleiben, ob bereits Heinrich III., der zuerst »autorit¦« als Kampfbegriff einsetzte, damit Erfolg gehabt hätte. Sein Nachfolger Heinrich IV. verwendete ihn weiter und füllte ihn bei der Einberufung der Generalstände im November 1589 folgendermaßen: »la manutention de notre autorit¦ qui consiste en l’unit¦ de la monarchie.«60 Genau wie unter Heinrich III. lautete der Hauptvorwurf gegen die Liga, sie habe einen Teil der königlichen »authorit¦« ursurpiert – so 1594 bei der Übergabe von Paris; die positive Potenz der »autorit¦« wurde hingegen herausgestellt, wenn es gleichzeitig hieß, die Verfehlungen der Stadt Paris seien nun vergeben und vergessen »de nostre gr–ce sp¦ciale, et au-

55 Schon 1572 warf Karl IX. nach der Bartholomäusnacht dem ermordeten Admiral Coligny vor, dieser habe »grande auctorit¦« vom König usurpiert und mehr Macht als Karl gehabt, da ihm die Hugenotten mehr gehorcht hätten als dem König, hier zit. nach Crouzet (wie Anm. 13), S. 108. Die Passage findet sich in einem Brief des Königs an Gaspard de Schomberg, der Vorwurf usurpierter »autorit¦«, die eng mit ob¦issance verknüpft ist, wurde also in diesem Fall nicht öffentlich erhoben. 56 Ebd., S. 111 f. 57 Vgl. Horst Rabe: Autorität – Elemente einer Begriffsgeschichte, Konstanz 1972, S. 18 f. sowie Volker Seresse: Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts. Argumentationsgeschichtliche und herrschaftstheoretische Zugänge zur politischen Kultur der frühen Neuzeit, Epfendorf/Neckar 2005, S. 339 – 341, 372 – 374. 58 Marc Fumaroli: Aulae arcana. Rh¦torique et politique — la cour de France sous Henri III et Henri IV, in: Journal des Savants (1981), S. 137 – 189, hier S. 155. 59 Greengrass (wie Anm. 9), S. 59 – 63. 60 Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 15, S. 12.

Politische Sprache und Herrschaftslegitimation zur Zeit der Hugenottenkriege

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thorit¦ royale.«61 In den hier verwendeten Quellen ist »autorit¦« zwar nicht kontinuierlich nachweisbar, aber in der Regierungszeit Heinrichs IV. erscheint sie laut Hinrichs doch so häufig, dass er urteilt: »Die Hinweise auf seine [sc. Heinrichs IV.] auctorit¦ […] sind kaum zu zählen.«62 Zur Sprache der Ordnung gehören weitere Vokabeln, die aber in den hier verwendeten Quellen nicht oder nur am Rande erscheinen: Vor allem die »n¦cessit¦« gehört dazu, die als Argument gebraucht wurde, um königliche Rechtsänderungen unter Umgehung der üblichen Wege der Gesetzgebung zu begründen.63

Bilanz und Ausblick Die Sprache der Tradition mit ihrem Schlüsselbegriff des »roi trÀs-chr¦tien« war unverzichtbar bei den Legitimationsbemühungen der französischen Könige während der Hugenottenkriege. Der Verzicht auf den Titel des rex christianissimus war auf Dauer nicht möglich, ebenso wenig aber angesichts der faktischen Konfessionsspaltung die schlichte Fortführung der bisherigen Verwendung. Die geschmeidige und offensive Verwendung des Begriffs durch Heinrich IV. stellt eine erfolgreiche Anpassung politischer Sprachtradition an veränderte Verhältnisse dar. Die Sprache der Ordnung mit dem neuen Zentralbegriff der »autorit¦« flankierte diese legitimatorischen Bemühungen. In der Summe ergänzten die Sprache der Tradition und die Sprache der Ordnung einander, je nach Gegenstand und je nach Zielgruppe. Kontinuität und Veränderung der politischen Sprache(n) im Frankreich der Hugenottenkriege greifen also ineinander ; Tradition und Neuerung der Sprache und des politischen Denkens erscheinen, wenn man sie im Ensemble betrachtet, eng miteinander verflochten. Vom Ergebnis dieser Untersuchung her sei noch ein Ausblick auf die Bedeutung der Hugenottenkriege und des Edikts von Nantes für das Verhältnis von Religion und Politik im frühneuzeitlichen Frankreich erlaubt. Vielfach wurde und wird als Ergebnis der französischen Religionskriege angesehen, dass religiöse Einheit und politische Einheit auseinandergetreten seien, eine Autonomie des Politischen sich zu entfalten begonnen habe.64 Das Königtum habe sich als 61 Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 15, S. 78, 80. 62 Hinrichs (wie Anm. 11), S. 173. 63 Schilling (wie Anm. 12), S. 86 – 97. Bemerkenswert ist auch, dass von ständischer Seite gerade diese »n¦cessit¦« als Teil der Probleme angesehen wurde, ebd. S. 95. 452. Vgl. zur necessitas in Herrscherlehren und der politischen Praxis eines deutschen Territoriums des 17. Jahrhunderts: Seresse (wie Anm. 57), S. 242 – 259, 374 – 398. 64 So hat vor einigen Jahren Olivier Christin eine Studie zu den Religionsfrieden der frühen

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überkonfessionelle Kraft über den streitenden Konfessionen etabliert und auf diese Weise an Macht gewonnen. Diese einem Geschichtsmodell unaufhaltsamer neuzeitlicher Säkularisierung verpflichtete Interpretation hat jedoch auch Widerspruch geerntet. Bernard Cottret, der die widerstreitenden Deutungen um das Edikt von Nantes zusammenfassend referiert, stellt fest: »L’¦dit est, pour le moins, un texte ambigu.«65 M. E. kann man noch weitergehen. Auf Grundlage der hier untersuchten Quellen kann angesichts der fortwährenden Verwendung der Sprache der Tradition und der geschilderten Nutzung des Schlüsselbegriffs »roi trÀs-chr¦tien« keine Rede davon sein, dass im Gefolge der Hugenottenkriege Religion und Politik auseinandertraten – und dies nicht nur, weil die Religion im Edikt von Nantes en passant als die wichtigste aller Angelegenheiten bezeichnet wird.66 Denn erstens wird im Edikt von Nantes die Einheit der Religion innerhalb des als allerchristlich bezeichneten Königreichs67 als Norm ausdrücklich vorausgesetzt; lediglich ihre völlige Wiederherstellung steht noch aus. Die aus heutiger Sicht zukunftsweisenden, einzelnen Toleranzregelungen, von denen hier nicht näher zu sprechen war, galten als Provisorium, nötig bis zur tatsächlichen Wiederherstellung der religiösen Einheit.68 Der Kampf gegen die Ketzer war in der Praxis ebenso wie in der politischen Sprache suspendiert worden; aber er konnte zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden und wurde es bekanntlich auch. Ludwig XIII. und Ludwig XIV. formulierten später das Ziel

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Neuzeit vorgelegt. Er verzichtet ausdrücklich auf Begriffe wie Säkularisierung und Modernisierung bei der Interpretation des Edikts von Nantes. Gleichwohl stellt er fest, dass sich hier eine »autonomisation« der Politik vollzogen habe, also etwa: gesteigerte Autonomie. Nicht mehr in der Kategorie Religion werde das Gemeinwohl herausgebildet, sondern im Feld von Politik und Recht, Olivier Christin: La paix de religion. L’autonomisation de la raison politique au XVIe siÀcle, Paris 1997, S. 205. Bernard Cottret: Pourquoi l’¦dit de Nantes a-t-il r¦ussi?, in: Michel Grandjean/Bernard Roussel (Hg.), Coexister dans l’intol¦rance. L’¦dit de Nantes (1598), Genf 1998, S. 447 – 461, hier S. 449. Eine knappe Zusammenfassung der Forschung seit dem 19. Jahrhundert findet sich ebd., S. 447 – 455. So ist »[…] le fait de la religion, qui est toujours le plus glissant et p¦n¦trant de tous les autres« wohl zu verstehen, Walder (wie Anm. 7), S. 15. Die Bezeichnung des gesamten Königreichs als allerchristlich war nicht neu, sie findet sich etwa in einem Edikt Franz’ I. von 1543, Jourdan (wie Anm. 7), Bd. 12, S. 819. Vgl. Krynen (wie Anm. 30), S. 212 f. Es kann hier nicht diskutiert werden, für wie realistisch man die Wiederherstellung der religiösen Einheit am Ende des 16. Jahrhunderts hielt. (Die Tatsache, dass diese Einheit bis heute nicht zustandekam, ist für uns ein Hindernis dabei, das damalige Denken zu verstehen). Immerhin äußerte sich Heinrich IV. kurz nach seiner Konversion gegenüber seinem Vertrauten Philippe Du Plessis-Mornay dahingehend, »que le differend des relligions n’estoit grant que par l’animosit¦ des prescheurs, et qu’vng jour, par son auctorit¦ [sic!], il le pouuoit composer.«, La Fontenelle/Auguis (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 261. In jedem Fall sah man um 1600 in der politischen Theorie wie in der Praxis die religiös-politische Einheit eines Gemeinwesens als unbedingt notwendig an.

Politische Sprache und Herrschaftslegitimation zur Zeit der Hugenottenkriege

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religiöser Einheit des Königs mit allen Untertanen in ihren Religionsedikten wieder ganz deutlich! Ihrem eigenen Selbstverständnis nach knüpften die beiden übrigens dabei an Heinrich IV. an. Zweitens stellte sich der Herrscher im Edikt von Nantes betont als Diener Gottes dar, als Herrscher von Gottes Gnaden über ein »royaume trÀs-chr¦tien«. Nicht nur im für die Frage der Legitimation zentralen Edikt von Nantes, sondern auch sonst ist feststellbar : Die Christlichkeit des französischen Königs wurde nicht weniger, sondern im Gegenteil mehr denn je betont. Heinrich IV. suchte sich bewusst als »lieutenant de Dieu« und »image de Dieu« zu stilisieren,69 bezeichnete sich als neuen David.70 Der Bezug auf den alttestamentlichen König, der in der christlichen Tradition Christus präfiguriert, war nicht originell. Gleichwohl akzentuierte die Verwendung dieser Vokabel die Christlichkeit des Herrschers.71 Kurz: Die Krise der Hugenottenkriege führte nach Ausweis der auf Legitimation zielenden politischen Sprache keineswegs zu einem Auseinandertreten von Religion und Politik oder zu einer gesteigerten Autonomie der Politik im Sinne einer Konfessionsneutralität. Heinrich IV. stellte sich betont als christlicher Herrscher dar, jedoch nicht in einem über den Konfessionen stehenden Sinne, sondern vielmehr so, dass er an der Einheit des Glaubens festhielt und die Konfessionsspaltung für vorübergehend erklärte. Damit schuf er die Möglichkeit, dass in der Zukunft eine konfessionelle Festlegung im katholischen Sinne getroffen werden konnte. Zugleich legte er mit seinen erfolgreichen Bemühungen um Legitimierung seiner Politik die Grundlage für eine langfristige Stärkung des französischen Königtums. Ob dabei der Sprache der Tradition mit dem neu akzentuierten Schlüsselbegriff des »roy trÀs-chr¦tien« oder der Sprache der Ordnung mit den neuen Vokabeln der »autorit¦« und »n¦cessit¦« größere Bedeutung zukam, ist eine offene Frage.

69 Hinrichs (wie Anm. 11), S. 170 – 173. Der Einfluss französischer Humanisten, die zu jener Zeit exakt diese Begriffe verwendeten, um Amt und Aufgabe des Herrschers zu beschreiben (ebd., 39 – 42), dürfte dabei eine wichtige Rolle gespielt haben. 70 Auch in den Predigten anlässlich der Beisetzung Heinrichs IV. wird der König als neuer David und Salomon bezeichnet, s. Jacques Hennequin: Henri IV dans ses oraisons funÀbres ou la naissance d’une l¦gende, Paris 1977, S. 199 f. 71 Das war nicht zuletzt wichtig, um den eschatologischen Ängsten zu begegnen, die sich auf Seiten der Liga angesichts der Thronbesteigung eines Ketzers verstärkt hatten, s. hierzu Denis Crouzet: Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion (vers 1525–vers 1610), Bd. 2, Seyssel 1990, S. 389 – 407.

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Liste der Schlüsselbegriffe72 affection (paternelle) ambition amiti¦ autorit¦ bont¦ calamit¦ cl¦mence concorde d¦loyaut¦ d¦sob¦issance d¦sordre douceur f¦lonie fid¦lit¦ image de Dieu infid¦lit¦ jugement de Dieu justice lÀze-majest¦ lieutenant de Dieu main de Dieu malice du temps (mal), pl. maux mis¦ricorde paix ob¦issance pÀre pr¦d¦cesseurs pr¦texte punition de Dieu r¦conciliation repos rigueur roi trÀs-chr¦tien royaume trÀs-chr¦tien s¦ditions soin paternel soulagement du peuple tranquillit¦ troubles union

(väterliche) Liebe (gemeinwohlschädlicher) Ehrgeiz Einvernehmen, Freundschaft Macht(anspruch), Befehlsgewalt Güte Unglück Milde, Güte Einigkeit Illoyalität, Untreue Ungehorsam Unordnung Milde, Sanftmut Untreue Treue Abbild Gottes Untreue (Straf)gericht Gottes Gerechtigkeit Majestätsverbrechen, Hochverrat Stellvertreter Gottes (strafende) Hand Gottes Bosheit der Zeit Übel Barmherzigkeit Friede Gehorsam Vater Vorgänger Vorwand Strafe Gottes Versöhnung Ruhe Strenge Allerchristlichster König Allerchristlichstes Königreich Aufstände, Unruhen väterliche Fürsorge, Sorgfalt Entlastung des Volkes (von Krieglasten) Ruhe, Frieden Wirren Einheit

72 Hier in modernisierter Orthographie; die Orthographie in den Quellenzitaten weicht zum Teil davon ab.

Jörg Ludolph

Die politische Sprache auf den Landtagen in Schleswig-Holstein (16. und 17. Jahrhundert)

Im Zentrum dieses Beitrages steht eine Zeit des Umbruchs, des Wandels im Herrschafts- und Politikverständnis. Zugleich soll aber auch die Frage nach den Konstanten im Wandel gestellt werden. Es ist unbestritten, dass das 17. Jahrhundert eine Zeit der Veränderungen war, in der »Grundpositionen von Landesherren und Landständen im Reich neu überdacht und politisch ausgehandelt wurden.«1 So formuliert es Raingard Eßer in ihrem Beitrag zu »Herrschaft und Sprache auf frühneuzeitlichen Landtagen«. Dieser Beitrag ist Teil einer jüngeren Tendenz zur Untersuchung der politischen Sprache der Frühen Neuzeit, wie sie auch in den Arbeiten beispielsweise Robert von Friedeburgs,2 Arno Strohmeyers3 oder Volker Seresses4 hervortritt. Seit der Veröffentlichung der Geschichtlichen Grundbegriffe5 geraten dabei immer wieder auch einzelne Schlüsselbegriffe in den Fokus der Betrachtung, wie etwa bei Herwig Münkler und Harald Bluhm in ihrem Sammelband »Gemeinwohl und Gemeinsinn«.6 Bei der Unter1 Raingard Eßer : »Weil ein jeder nach seinem habenden Verstande … seine Meinung nach aller Völker Rechten ungehindert außzusprechen hat«: Herrschaft und Sprache auf frühneuzeitlichen Landtagen, in: Markus Neumann/Ralf Pröve (Hg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses, Münster 2004, S. 80. 2 Z. B. Robert von Friedeburg (Hg.): »Patria« und »Patrioten« vor dem Patriotismus. Pflichten, Rechte, Glauben und die Rekonfigurierung europäischer Gemeinwesen im 17. Jahrhundert (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 41), Wiesbaden 2005. 3 Z. B. Arno Strohmeyer : Die Disziplinierung der Vergangenheit: »Das alte Herkommen« im politischen Denken der niederösterreichischen Stände im Zeitalter der Konfessionskonflikte (ca. 1570 bis 1630), in: Joachim Bahlcke/Arno Strohmeyer (Hg.), Die Konstruktion der Vergangenheit. Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 29), Berlin 2002, S. 99 – 127. 4 Z. B. Volker Seresse: Zur Praxis der Erforschung politischer Sprachen, in: Angela de Benedictis u. a. (Hg.), Die Sprache des Politischen in actu. Zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Sprache von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Schriften zur politischen Kommunikation 1), Göttingen 2009, S. 163 – 184. 5 Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972 – 1997. 6 Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische

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suchung von Sprache und Begriffen richtet sich der Blick der Forschung nicht nur auf die Sprache der Theorie, sondern ebenso – und zwar zunehmend7 – auf diejenige der politischen Praxis. Die Praxis steht auch im Fokus der nun folgenden Betrachtung der Kommunikation zwischen Herrschaft und Ständen auf den Landtagen im SchleswigHolstein der Frühen Neuzeit. Im Mittelpunkt wird die Sprache der Landesherren stehen, welche auf den Landtagen die Legitimität ihrer Forderungen und ihre Vorstellung von Herrschaft gegenüber ihren Ständen kommunizieren mussten. Die schleswig-holsteinischen Landtage bieten dabei ein gutes Beispiel für Politik, verstanden als einen Handlungsraum, in welchem verbindliche Entscheidungen durch Kommunikation hergestellt werden.8 Kommunikation als Prozess und die politische Sprache als ein herausragender Träger von Kommunikation9 sind wesentlich für die Konstitution der politischen Kultur in Schleswig–Holstein sowie deren Wandel im 17. Jahrhundert. Politische Kultur wird hier aus kulturgeschichtlicher Perspektive10 und in Anlehnung an die Politikwissenschaft11 sowie an die Definition Wolfgang Reinhards verstanden. Letzterer formulierte treffend: »Politische Kultur (ist) […] das Ensemble der meist nicht mehr hinterfragten und daher selbstverständlich maßgebenden

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Semantiken politischer Leitbegriffe (Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe »Gemeinwohl und Gemeinsinn« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 1), Berlin 2001. Als ein neueres Beispiel sei folgender Tagungsband angeführt, der zudem der bisher selten beachteten Mündlichkeit politischer Sprache in den »Parlamenten« Alteuropas gewidmet ist: Jörg Feuchter/Johannes Helmrath (Hg.): Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich 9), Frankfurt a. M. 2008. Thomas Mergel: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574 – 606, hier S. 587; Barbara Stollberg-Rilinger : Was heißt Kulturgeschichte des Politschen? Einleitung, in: Dies. (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 35), Berlin 2005, S. 9 – 24, hier S. 14; Werner J. Patzelt: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung, Passau 2007, S. 22, 26 f. Die nichtsprachlichen Aspekte von Kommunikation werden aus Gründen der Praktikabilität und geringeren Überlieferungsdichte zunächst überwiegend ausgeklammert. Zu diesen siehe auch: Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Themen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489 – 527. Mergel (wie Anm. 8), S. 584; Ute Frevert: Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: Dies./Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung (Historische Politikforschung 1), Frankfurt a. M./New York 2005, S. 7 – 26, hier S. 20 f.; Stollberg-Rilinger (wie Anm. 8), S. 11. Patzelt (wie Anm. 8), S. 24 f.

Die politische Sprache auf den Landtagen in Schleswig-Holstein

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politischen Denk-, Rede- und Verhaltensmuster.«12 Diese Muster werden im Folgenden als Prinzipien der politischen Kultur bezeichnet. Von entscheidender Bedeutung ist der prozessual-dialektische Charakter der politischen Kultur. Sie darf in keinem Fall als starres System verstanden werden. Die Bestätigung der geltenden Prinzipien sowie zugleich deren Wandel geschieht im politischen Alltag auf den Landtagen immer wieder aufs Neue. Dort erhält die Praxis der politischen Kommunikation durch die Prinzipien der politischen Kultur Form wie Rahmen und gibt zugleich durch Ausübung und Wiederholung diesen Prinzipien Konstanz oder aber verändert sie durch Abweichung und Neuerung. In der konkreten Situation auf den schleswig-holsteinischen Landtagen der Frühen Neuzeit wollten die Landesherren gegenüber ihren Ständen Steuerbewilligungen durchsetzen. Sie verwendeten bestimmte Argumentationsstrategien und zentrale Begriffe zur Legitimation ihrer Forderungen sowie zur Abwehr der ständischen Einsprüche. Begriffe und Argumente der politischen Sprache von Landesherren und Ständen bewegten sich dabei im Rahmen der Prinzipien der politischen Kultur, z. B. des Wohlfahrts-Prinzips. Manche Prinzipien der politischen Kultur waren recht konstant und blieben vom Spätmittelalter – die älteste Quelle stammt aus dem Jahre 142213 – bis zum letzten von allen Ständen besuchten Landtag der Frühen Neuzeit im Jahre 1675 fast unverändert. Zugleich kam es zu Neuerungen im Bereich der Argumentation und der Begrifflichkeiten. Diesen widersprüchlichen Tendenzen von Wandel und Konstanz in der politischen Sprache und Kultur soll hier anhand einiger Beispiele nachgegangen werden. Wie bereits angedeutet erstreckt sich der Untersuchungszeitraum vom Spätmittelalter bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Quellenbasis bilden i. W. die Protokolle der Landtage, d. h. die schriftlich eingebrachten Forderungen der Landesherren und die ebenfalls schriftlich erteilten Antworten der Stände.14 Im Mittelpunkt wird die Sprache der Landesherren stehen, da diese als fordernder, nämlich Steuern fordernder, Part den größeren Veränderungs-

12 Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 22000, S. 19. 13 Es handelt sich um das sogenannte »Bedeprivileg« der Herzöge Heinrich, Adolph und Gerhard, vgl. Friedrich Christoph Jensen/Dietrich Hermann Hegewisch: Privilegien der Schleswig-Holsteinischen Ritterschaft. Von den in der Privilegienlade befindlichen Originalen genau abgeschrieben und mit denselben verglichen, Kiel 1797, Nr. 1. 14 Im Landesarchiv Schleswig die Abteilungen 7 (Herzöge von Schleswig-Holstein-Gottorf 1544 – 1713), 65.1 (Deutsche Kanzlei zu Kopenhagen) und 400.5 (Von der Universitätsbibliothek Kiel übernommene Handschriften). Bei letzteren handelt es sich um Archivalien unterschiedlicher Herkunft und Inhalte. Für diese Arbeit von Interesse ist eine darunter befindliche handschriftliche Kopie der Landtagsakten.

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druck ausübten. Die Einbeziehung der ständischen Sprache würde zudem den Rahmen dieses Beitrages sprengen.

Akteure und sachgeschichtliche Entwicklung Vor der Betrachtung der politischen Sprache sollen die Akteure auf den Landtagen und die sachgeschichtlichen Hintergründe vorgestellt werden. Auf Grund der »außerordentlich schwierigen staats- und verfassungsrechtlichen Verhältnisse in den Herzogtümern Schleswig und Holstein«15 muss dies in äußerst knapper Form geschehen. Dabei fallen notgedrungen einige, für die hiesige Fragestellung weniger bedeutende Umstände der politischen Verfasstheit des Landes unter den Tisch.16 Schleswig und Holstein bildeten vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert ein gemeinsam regiertes Territorium, innerhalb dessen Schleswig stets Teil des dänischen und Holstein des Heiligen Römischen Reichs blieb. Seit dem 15. Jahrhundert war der dänische König zugleich Herzog von Schleswig und Holstein. Im 16. Jahrhundert erfolgte eine Teilung in einen gottorfischen und einen königlichen Herrschaftsbereich. Diese beiden Entwicklungen führten v. a. im 17. Jahrhundert zur Einbeziehung der Fürstentümer in die dänisch-schwedischen Kriege und wegen der Annäherung des Gottorfer Herzogs an Schweden schließlich zum Zerwürfnis der beiden Landesherren. An diesem Konflikt scheiterte der letzte von allen drei Ständen besuchte Landtag von 1675, auf welchen erst 1711 ein nur vom Adel besuchter, endgültig letzter Landtag der Frühen Neuzeit folgte. Neben den beiden Gebieten direkter Landesherrschaft gab es noch die ungeteilten adeligen Gutsbezirke, die der gemeinschaftlichen Regierung der Landesherren unterstanden. Der in der schleswig-holsteinischen Ritterschaft organisierte Landesadel kontrollierte etwa ein Viertel17 des Bodens und damit auch 15 Joachim Buck: Jürgen Falkenhagen, Absolutes Staatswesen und Autonomie der Territorialverbände und Genossenschaften. Eine Studie zur Entwicklung des modernen Staates in Schleswig-Holstein an Hand der landesherrlichen Gesetzgebung des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 93 (1968), S. 229 – 231, hier S. 230. 16 Bei weitergehendem Interesse bietet eine gute Übersicht: Ulrich Lange (Hg.): Geschichte Schleswig-Holsteins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Neumünster 22003. 17 Von Ulrich Lange berechnet auf Grundlage der renovierten Landesmatrikel von 1652 und der Berechnungen Ipsens, Ulrich Lange: Die politischen Privilegien der schleswig-holsteinischen Stände 1588 – 1675. Veränderung von Normen politischen Handelns (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 75), Neumünster 1980, S. 27, Anm. 85; Adolf Ipsen: Die alten Landtage der Herzogthümer Schleswig-Holstein von 1588 – 1675, Kiel 1852.

Die politische Sprache auf den Landtagen in Schleswig-Holstein

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ein Viertel der Ressourcen des agrarisch geprägten Landes. Unter den drei Landständen war er der bedeutendste. Der erste Stand, die Prälaten, hatte während der Reformation seine Bedeutung eingebüßt und schrumpfte auf vier ritterschaftlich verwaltete Jungfrauenklöster zusammen. Die Städte als dritter Stand waren bei der Landesteilung aufgeteilt worden und unterstanden der Regierung ihres jeweiligen Herrn. Sie behielten zwar zugleich ihre Landstandschaft, waren jedoch vergleichsweise unbedeutend18 und wurden in eine zunehmende Abhängigkeit von den Landesherren gedrängt.19 Mitglieder der Ritterschaft hingegen partizipierten als Amtmänner, also als Leiter der fürstlichen Lokalverwaltung, Landräte und Statthalter an der Herrschaft des Landes. Im 15. und 16. Jahrhundert befand sich über weite Zeiträume die Mehrheit der landesherrlichen Ämter als Nutzpfänder unter ritterschaftlicher Kontrolle. Im 17. Jahrhundert wurde dies zwar zurückgedrängt, jedoch blieben Mitglieder der Ritterschaft als Landräte und Amtmänner sowie als Kreditgeber und Bürgen eng mit der landesherrlichen Verwaltung und den landesherrlichen Finanzen verwoben.20 Die alten Rechte und Freiheiten bzw. Privilegien der Stände musste Christian I. von Dänemark und Schleswig-Holstein 1460 in einer Wahlkapitulation schriftlich bestätigen. Dort war u. a. festgehalten, dass die Stände keiner Steuerpflicht unterlagen.21 Das zwang die Landesherren, ihre Steuerforderungen gegenüber den Ständen ausreichend zu legitimieren, um für jede Steuerzahlung deren Bewilligung zu erlangen.22 Als im 16. Jahrhundert die Türkensteuern23 zur Finanzierung des Abwehr18 Was seine Ursache in einer ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung sowie der andauernden Einquartierung von Söldnern im 17. Jahrhundert hatte, Jürgen Falkenhagen: Absolutes Staatswesen und Autonomie der Territorialverbände und Genossenschaften. Eine Studie zur Entwicklung des modernen Staates in Schleswig-Holstein an Hand der landesherrlichen Gesetzgebung des 17. und 18. Jahrhunderts, Kiel 1967, S. 84 f. 19 Beispielsweise wurde im Peräquationsrezess vom 5. Mai 1663 darauf verwiesen, dass die Städte an der gemeinschaftlichen Landeskasse vorbei neuerdings direkt an die Landesherren steuerten, Nikolaus Falck: Sammlung der wichtigsten Urkunden welche auf das Staatsrecht der Herzogthümer Schleswig und Holstein Bezug haben, Kiel 1847, S. 183 – 186. Bereits im 16. Jahrhundert beschwerten sich die Städte über eine Separierung von den übrigen Ständen bei der Steuererhebung und erinnerten daran, dass Steuern den Privilegien gemäß auf einem gemeinsamen Landtag bewilligt werden müssten, vgl. Beschwerden der Städte auf dem Landtag 1545, Landesarchiv Schleswig, Abt. 7, Nr. 1571, Unternummer 27, fol. 1v. 20 Malte Bischoff: Die Amtleute Herzog Friedrichs III. von Schleswig-Holstein-Gottorf (1616 – 1659). Adelskarrieren und Absolutismus (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 105), Neumünster 1996, S. 30 – 37, 40, 197 f. 21 Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 9. 22 Steuern wurden in Schleswig-Holstein bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nur zu einem bestimmten Anlass und nur für befristete Zeit bewilligt. 23 Näheres zur Reichstürkenhilfe im 16. Jahrhundert bei: Wolfgang Steglich: Die Reichstürkenhilfe in der Zeit Karls V., in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 11 (1972), S. 7 – 55;

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kampfes in Ungarn aufkamen und die vielen Kriege des 17. Jahrhunderts hohe Summen für den Truppenunterhalt erforderten, entstand eine neue Situation. Immer häufiger forderten die Landesherren Steuern. Auf den Landtagen mussten sie ihre Forderungen gegenüber den Ständen legitimieren und bewegten sich hierbei innerhalb der vorhandenen Prinzipien der politischen Kultur und der verfügbaren Argumentationsstrategien sowie Begrifflichkeiten. Die Politische Sprache und Kultur war allerdings nicht starr, sondern veränderte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts.

Die Prinzipien der politischen Kultur: Wandel und Konstanz Die Entwicklungen der politischen Sprache und Kultur werden am Beispiel dreier Prinzipien der politischen Kultur betrachtet, nämlich schwerpunktmäßig anhand des Wohlfahrts- und des necessitas-Prinzips sowie in einer kürzeren Betrachtung anhand des Gegenseitigkeits-Prinzips. Dabei werden die Argumente und Begriffe vorgestellt, welche sich im Rahmen dieser Prinzipien der politischen Kultur bewegten. Die darüber hinausgehend von den Landesherren verwendeten Argumente und Begriffe müssen aus Platzgründen zunächst ausgeklammert werden. Sie sollen an anderer Stelle ausführlicher behandelt werden. Dies betrifft etwa die Argumentation mit dem Herkommen, dem Reichsrecht und der fürstlichen Reputation sowie insbesondere noch weitere Begriffe und Argumente mit Bezug zum Gegenseitigkeits-Prinzip.

Das Wohlfahrts-Prinzip Das Wohlfahrts-Prinzip steht nicht ohne Grund am Anfang der Betrachtung. Sowohl für die schleswig-holsteinischen Landesherren als auch für die Stände war das Streben nach Wohlfahrt zentrales Ziel politischen Handelns und konnte daher herrschaftliche Maßnahmen wie z. B. Steuerforderungen legitimieren. Diese zunächst für Schleswig-Holstein anhand der argumentativen Praxis vorgenommene Einschätzung deckt sich mit Erkenntnissen bisheriger, teils eher an der politischen Theorie orientierter Untersuchungen. Beispielsweise erkannte Luise Schorn-Schütte 2002 in einem Vergleich dreier deutscher Herrschaftslehren des 16. u. 17. Jahrhunderts den »Begriff des gemeinen Nutzens (als) […] zentrale Norm politischen Handelns in Spätmittelalter und Früher Winfried Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978.

Die politische Sprache auf den Landtagen in Schleswig-Holstein

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Neuzeit«.24 Herfried Münkler und Harald Bluhm sprechen in ihrer Einleitung zum Sammelband »Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe« aus dem Jahre 2001 gar von einem Leitbegriff des Übergangs zur Moderne.25 Begriffe wie Gemeinwohl und Gemeiner Nutzen, die sich so oder ähnlich auch in Schleswig-Holstein finden, müssen stets im örtlichen Kontext betrachtet werden. Demnach ist eingangs zu klären, was in der politischen Praxis in Schleswig-Holstein unter Wohlfahrt verstanden wurde und wessen Wohlfahrt gemeint war. Anschließend wird eine Analyse der zeitlichen Entwicklung von Wohlfahrtsverständnis und argumentativer Verwendung vorgenommen. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Betrachtung der Begriffe in ihrem argumentativen Kontext.

Was ist Wohlfahrt? Es sei zunächst ein Überblick über die verwendeten Begriffe gegeben. Es handelt sich im Wesentlichen um Wohlfahrt, Nutzen, Besten, Wohlstand. Dabei ist zu beachten, dass die Landesherren Wohlfahrt auf drei sich teilweise überschneidende Zielgruppen bezogen, nämlich Landesherren, Stände und die Allgemeinheit. Vorherrschend und bis auf seltene Fälle immer in irgendeiner Form in der landessherrlichen Argumentation vorhanden war der Bezug auf die Allgemeinheit. Dieser erfolgte mittels der Adjektive gemein und allgemein, z. T. ergänzt durch Land und Leute, der Lande, der Fürstentümer Untertanen/Eingesessenen, dieser Fürstentümer sowie Vaterland. Die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten waren im 17. Jahrhundert26 weitgehend durchgängig in Verwendung. Seltener als die deutschen Varianten kamen lateinische Entsprechungen wie bonum publicum oder publicum commodum vor. Was aber steckt an sachlicher Bedeutung hinter dem Begriff Wohlfahrt? Das wird in der Argumentation der Landesherren nicht breit expliziert. Aus der argumentativen Verwendung geht jedoch deutlich hervor, dass Wohlfahrt als hohes politisches Gut galt und unbedingt geschützt werden musste. Letzteres

24 Luise Schorn–Schütte: »Den eygen nutz hindan setzen und der Gemeyn wolfart suchen.« Überlegungen zum Wandel politischer Normen im 16./17. Jahrhundert, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres (Historische Forschungen 73), Berlin 2002, S. 167 – 184, hier S. 171. 25 Herfried Münkler/Harald Bluhm: Einleitung: Gemeinwohl und Gemeinsinn als politischsoziale Leitbegriffe, in: Dies. (wie Anm. 6), S. 9. 26 In der Zeit davor dominierten Land/e sowie Land/e und Leute.

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bezog sich so gut wie immer auf militärischen Schutz. Im Oktober 1649 formulierten König und Herzog sehr deutlich, dass »an Conservation der Vestungen die gemeine Wohlfahrth nicht allein der Herrschaften, sondern allen Ständen und Unterthanen, und also des gantzen wehrten Vaterlandes haftet […] (und dass) an Conservation der Vestungen status et securitas Principis et regentis, salus patriae et salus populi, welches von Anbegin von allen vernunftigen Völckern Heiden und Christen das Höchste und nützlichste Gesetz gewesen, auch bey einem jeden getreuen Patrioten27 verbleiben müße, dependiren.«28

Die militärische Maßnahme, zu deren Finanzierung die Stände herangezogen werden sollten, wurde hier in einen direkten Bezug zum Gemeinwohl gestellt. Darüber hinaus ergeben sich erste Andeutungen zum Verhältnis von fürstlicher und allgemeiner Wohlfahrt, auf die noch näher einzugehen sein wird. Dass die Frage der Wohlfahrt in den Steuerdebatten auf dem Landtag fast gänzlich auf den militärischen Schutz ausgerichtet war, dürfte den zahlreichen Kriegen des 16. und vor allem des 17. Jahrhunderts geschuldet sein, in die Schleswig-Holstein nicht zuletzt wegen des dänisch-schwedischen Gegensatzes verwickelt war. Nur einmal, nämlich 1610 in verhältnismäßig friedlichen Zeiten, forderten die Landesherren eine Steuer unabhängig von militärischen Umständen als Zuschuss zu den zivilen Kosten ihrer Regierung, die sie »für allen Dingen Gott zu Ehren, auch Landen und Leuten zu Nutz, Heil und Wohlfahrt zu richten, jederzeit nach besten Vermögen, geneigt und beflißen gewesen« seien.29 Konkret nannten sie die Zahlungen an das Reichskammergericht, die Bestellung der Landgerichte und Beschickung der Reichs- und Kreistage. Dies war die in Steuerfragen einzige landesherrliche Argumentation mit dem Gemeinwohl, bei der es nicht darum ging, eine Gefährdung des Wohlstandes abzuwenden, sondern vielmehr die stetige, zivile Beförderung desselben zu unterstützen.

Ständische Wohlfahrt und Gemeinwohl Nur sehr selten argumentierten die Landesherren allein mit der ständischen Wohlfahrt. Letzteres ist beispielsweise im Jahre 1638 der Fall. Die Landesherren forderten die Stände auf, die Kosten einer Gesandtschaft zu tragen, welche über die Kürzung der Reichssteuern für Holstein verhandelt hatte, da der Aufwand 27 Das Auftauchen des Begriffs Patriot – alleinstehend und in Zusammenspiel mit Vaterland – ist eine Frage für sich, die, wie eingangs erwähnt, auch Robert von Friedeburg (siehe Anm. 2) schon beschäftigte. Ihr wird an anderer Stelle nähere Aufmerksamkeit zukommen. 28 Proposition, König Friedrich III. und Herzog Friedrich III. auf dem Landtag zu Flensburg, Oktober 1649, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 187. 29 Proposition, König Christian IV. und Herzog Johann Adolf auf dem Landtag zu Flensburg, 11. September 1610, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 45, S. 820.

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»zu dero [der Stände] emolument und wohlfarth«30 gedient habe. Ähnlich hieß es auch im Juli des kriegerischen Jahres 1626,31 dass die Stände »ihre selbst eigene Wohlfahrt, Gedeyen, Wachsthum und Aufnehmen wohl considerieren«32 sollten. Ganz überwiegend jedoch geschah die Ansprache der ständischen Wohlfahrt in Verbindung mit einem Verweis auf die allgemeine Wohlfahrt: »zu ihrem und des Vaterlandes Nutz und Frommen«33 oder andersherum »gemeinen Vaterlandes und ihren selbst eigenen Nutzen«.34 Obwohl die Stände auch aus Sicht der Landesherren durchaus Teil der Allgemeinheit waren,35 wurden sie hier zusätzlich gesondert genannt. Dies ist im Übrigen keine neuere Erscheinung, sondern trat bereits im 16. Jahrhundert auf. Der erste überlieferte Fall aus dem Jahr 154036 fällt in eine für die Landesherren schwierige finanzielle Situation37 und ein kriegerisches Jahrzehnt, in welchem die Stände in der sogenannten Grafenfehde auf Seiten ihres Landesherren König Christian III. siegreich »Gut und Blut« eingesetzt hatten. Die Landesherren erklärten, dass sie »tho erredinge vnnser vnnd erer, vnnd vnser Ricke, dieser Furstendome Lannde vnd Lude«38 handelten. Die Nennung der Stände unmittelbar nach den Landesherren und noch vor der Allgemeinheit ist sicherlich auch ihrer speziellen Treuebeziehung zu den Fürsten

30 Replik, König Christian IV. und Herzog Friedrich III. auf dem Landtag zu Kiel, 23. Januar 1638, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 47, S. 153. 31 Die Steuerforderung erfolgte einen Monat vor Christians IV. Niederlage gegen den katholischen Feldherrn Johann t’Serclaes Tilly bei Lutter am Barenberge. 32 Instruktion durch König Christian IV., Anstatt der Proposition auf dem Landtag zu Rendsburg vorgetragen, 15. Juli 1626, Landesarchiv Schleswig Abt. 400.5, Nr. 46, S. 562. 33 Im Rahmen einer Steuerforderung zwecks Truppenunterhalts im Jahr 1671: zit. n.: Ipsen (wie Anm. 17), S. 368. 34 Im Schlussabsatz König Friedrichs III. und Herzog Friedrichs III. Proposition vom 12. November 1649, welche die bereits das ganze Jahr debattierte Finanzierung der Landesdefension samt der Frage der Lizenten und Zölle u. a. aufgriff, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 228. 35 Wie die bereits zitierte Formulierung aus der Proposition vom Oktober 1649 deutlich machte, wonach am Bestand der Festungen »die gemeine Wohlfahrth nicht allein der Herrschaften, sondern allen Ständen und Unterthanen, und also des gantzen wehrten Vaterlandes haftet«, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 186. 36 Hierbei wurde der Landtag von 1526 nicht berücksichtigt. Dort argumentierte der Landesherr, dass zum Nutzen der Prälaten der lutherische Glaube bekämpft worden wäre. Überliefert als Bericht des Abgeordneten des Lübecker Domkapitels, abgedruckt in: Wilhelm Leverkus: Berichte über die Schleswig-Hosteinischen Landtage von 1525, 1526, 1533, 1540, in: Archiv für Staats- und Kirchengeschichte der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg 4 (1840), S. 453 – 505. 37 Alle Ämter in Schleswig-Holstein waren verpfändet und der Landesherr war hoch verschuldet, Paul von Hedemann–Heespen: Die Herzogtümer Schleswig-Holstein und die Neuzeit, Kiel 1926, S. 929. 38 Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 26.

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und ihrer aus dem Gesamtuntertanenverband herausgehobenen Rolle geschuldet. König und Herzog anerkannten ihre besondere Fürsorgepflicht gegenüber der ständischen Wohlfahrt, die neben der allgemeinen Fürsorge für Lande und Leute bestand, und versprachen sich eine zusätzliche Legitimationswirkung, die über die gemeinnutzbasierte Legitimation hinausging, durch die gesonderte Nennung der ständischen Wohlfahrt neben dem Landes- bzw. Gemeinwohl. Daneben wurden die Stände aufgefordert, auch um ihrer selbst willen in die Steuer einzuwilligen, was eher einem Appell an das ständische Selbsterhaltungsinteresse gleichkam. Die gesonderte Nennung der ständischen Wohlfahrt als zusätzliches Argument ist noch in den 1670er Jahren als Teil der politischen Sprache der Fürsten zu finden.39 Gleichzeitig neben diesem konstanten argumentativen Nebeneinander von Schutz der gemeinen und der ständischen Wohlfahrt entstand etwas Neues. Die ständische Wohlfahrt wurde in ein Abhängigkeits- und schließlich Unterordnungsverhältnis zur allgemeinen Wohlfahrt verschoben. Erstmals deutete sich diese Entwicklung während des dänisch-niedersächsischen Krieges in den Jahren 1625 – 1627 an. Neben der reinen Ermahnung, die eigene Wohlfahrt zu bedenken,40 trat der Hinweis, um des Vaterlandes willen einen Teil der eigenen Wohlfahrt herzugeben, bevor man später allen Wohlstand an den Feind verlöre.41 Hier wird das Konzept einer Abhängigkeit der ständischen Wohlfahrt von der Aufrechterhaltung der allgemeinen Wohlfahrt in der politischen Sprache der Landesherren sichtbar. Ausformuliert wurde diese Abhängigkeit dann in den Jahren 1649 und 1650, in denen es zu intensiven landtäglichen Auseinandersetzungen um den fortgesetzten Unterhalt der Festungen und Garnisonstruppen kam. Die Stände sollten »das publicum dem privato, welches ohne das nicht bestehen kann, wenn jenes in Gefahr geräth, weit vorziehen.«42 Aus dieser Vorrangstellung des Gemeinwohls über das Ständewohl ergab sich, in Perspektive der Landesherren konsequent, dass der Schutz von Gemeinwohl und Vaterland der Stände höchstes Privileg sein müsse.43 Ständische Einwände, unter denen sich auch solche be-

39 Siehe Anm. 33. 40 Proposition, König Christian IV. und Herzog Friedrich III. auf dem Landtag zu Kiel, 30. November 1625, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 46, S. 540; Instruktion König Christian IV., Anstatt der Proposition auf dem Landtag zu Rendsburg vorgetragen, 15. Juli 1626, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 46, S. 561. 41 Proposition, Christian IV. auf dem Landtag zu Kiel, 16. März 1627, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 46, S. 585 f. 42 Replik, König Friedrich III. und Herzog Friedrich III. auf dem Landtag zu Flensburg, 16. Oktober 1649, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 211. 43 Ebd.

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züglich der geschwächten ständischen Wohlfahrt befanden,44 wurden unter Verweis auf die gemeine Wohlfahrt als erledigt betrachtet.45 Es braucht nicht viel, um zu erahnen, welche Auswirkungen solch eine Verschiebung innerhalb der politischen Kultur auf die ständischen Rechte und Einspruchsmöglichkeiten in Steuerfragen46 haben würde. Die Folgen der Entwicklung zeigten sich 1662. Die Landesherren argumentierten zunächst juristisch: »Angesehen privilegia jura privatorum concerniren, die Reichs- und Creyß-Gesetze aber sind leges fundamentales totius Imperii et jura publica«.47 Hier tritt erneut der Gegensatz privatum-publicum hervor. Auch dieses Mal soll dem öffentlichen Anliegen der Vorzug gegeben werden. Der Abschied sei von jedem Reichsstand »zur defension und rettung seiner Lande und Leute zu Guten, auch zu des gantzen Reichs Versicherung verwilliget«.48 Den Landständen, den »inferioribus«, steht es nicht zu »leges superioris, so pro securitate des ganzen Reichs publiciret, aufzuheben und abzutuen«.49 Gegen die überlegenen, rechtlich abgesicherten Ansprüche der Allgemeinheit, die nunmehr sogar die des ganzen Reichs sein konnte, verblasste das ständische Steuerbewilligungsrecht, das letztlich der Verteidigung der eigenen Wohlfahrt gegen Forderungen der Landesherren gedient hatte. Mittelfristig musste die Frage nach dem Sinn der Landtagsverhandlungen aufkommen.

Fürstliche Wohlfahrt und Gemeinwohl Bei Betrachtung der Bezugnahme auf das Fürstenwohl in der politischen Sprache der Landesherren ergibt sich ein etwas uneinheitliches Bild. Zunächst ist eine gewisse Konstanz über drei Jahrhunderte in der Verknüpfung von Fürsten und Land bzw. Allgemeinheit festzustellen. König Johann ließ im Jahre 1483 vortragen, dass »eyne Bede to vnnsem vnnses leuen broders vnnde vnnser lande beste«50 beigesteuert werden solle.51 Die Formulierung ähnelt der fast 200 Jahre 44 Erklärung der Stände auf dem Landtag zu Rendsburg, 20. Juni 1650, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 282 f. 45 Replik, König Friedrich III. und Herzog Friedrich III. auf dem Landtag zu Rendsburg, 20. Juni 1650, Landesarchiv Schleswig Abt. 400.5, Nr. 48, S. 288 f. 46 Die das hauptsächliche und oft genug einzige Thema der ständischen Mitsprache auf den Landtagen waren. 47 Replik, König Friedrich III. und Herzog Christian Albrecht, 8. Mai 1662, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 49, S. 92. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 15. 51 Bereits 1422 in einem Schadlosbrief und sogenannten Bedeprivileg hatten die damals noch schauenburgischen Herzöge festgehalten, dass bisherige außerordentliche Steuern von den

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jüngeren vom Oktober 1660: Die Steuer sei »zu Unserer und Unserer Fürstenthümer und getreuen Untersaßen gemeinen Besten […] angesehen.«52 Landeswohl und Fürstenwohl wurden zu Beginn und Ende des Untersuchungszeitraumes in der politischen Sprache der Landesherren wie selbstverständlich miteinander verknüpft und in engste Beziehung zueinander gestellt. Zwischenzeitlich, von Mitte des 16. bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts, sahen sich König und Herzog jedoch genötigt, Vorwürfen zu begegnen, dass sie nur im eigenen, privatem Interesse handelten.53 Erstmalig im Februar 1540 versicherte König Christian III. bezüglich jüngst bewilligter Steuern, dass diese »denn fernner to vnnser Rycke, Forstendome, Lannde, vnnd lude nottorfft, […], vnnd nit tho vnnsem suluest besten uthgerichtet werden schollen«.54 An gleicher Stelle und dann auch 1551 wurde daneben die »uns und den landen«-Formulierung55 verwendet, die somit als Steuern rechtfertigender Argumentationsbestandteil hier noch neben der Verneinung fürstlichen Eigennutzes stand, bevor sie in der Folgezeit entfiel. Demnach galt der Schutz der Fürstenwohlfahrt in Zusammenspiel mit dem Landeswohl ursprünglich durchaus als eine Steuer legitimierend.56 Zugleich aber wurde ein Bewusstsein für Situationen sichtbar, in denen Fürsten einen privaten Nutzen zogen,57 der als delegitimierend galt. Es existierte also das Konzept einer möglichen Differenz zwischen fürstlicher und allgemeiner Wohlfahrt in der politischen Kultur. Indem die Landesherren in den folgenden Jahrzehnten vorbeugend oder antwortend auf diesbezügliche Vorwürfe eingingen, hielten sie mittels sprachlicher Wiederholung das Konzept solch einer Differenz lebendig.

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Ständen »vme grot behuff und nod willen, vnser vnd des landes« erbracht worden waren, Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 1. Steuerausschreibung durch König Friedrich III., Glückstadt 1. September 1660, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 49, S. 1 f. In ihren schriftlichen Äußerungen waren die Stände sehr zurückhaltend, soweit es den Vorwurf des Eigennutzes an die Fürsten betraf. Da die Fürsten solche Vorwürfe dennoch aufgriffen, dürften diese vor allem in mündlicher Form kursiert sein. Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 26. Ebd. und in einem Instruktionsschreiben König Christians III., Herzog Adolfs und Herzog Johanns d. Ä. an ihre Räte bezüglich des kommenden Landtages, Kopenhagen, 22. Juli 1551, Landesarchiv Schleswig, Abt. 65.1, Nr. 265. Sicherlich hätten die Landesherren sich ansonsten 1422 sowie 1483 nicht derart prominent in eine Reihe mit Land bzw. Land und Leuten gestellt. Zudem hatten sie 1483 zusätzlich ihre eigene Wohlfahrt ohne Erwähnung der Lande vorgebracht: »dat sodan bede to vnser vnses leuen broders behoff vnde beste angesettet vorfordert vnde […] entrichtet vnde voruoget mogen werden«, Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 15. Christian IV. wurde u. a. vorgeworfen, dass er den Krieg nur aus territorialen Interessen begonnen hätte, wie er in seiner Erwiderung zunächst ausführt: »es sey nur causa privata, u: wegen J. Kgl. Mtt. eigenen Jnteresse, so Sie bey den Stiftern haben, angefangen.« Proposition, König Christian IV. auf dem Landtag zu Kiel, 16. März 1627, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 46, S. 591 f.

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Sie wiesen den Verdacht fürstlichen Eigennutzes hierbei entweder gänzlich zurück, wie etwa 1599 in der Diskussion über die Kreissteuern, welche »die Kgl. Mtt: und F. Gd. nicht zu ihren eigenen Nutz, noch privatu motu«58 forderten, oder redeten einen Anteil an fürstlichem Eigennutzen klein. Letzteres tat König Christian IV. in der zugespitzten Lage des März 1627,59 als er zunächst jeden Vorwurf zurückwies, den Krieg aus privaten Interessen begonnen zu haben,60 und betonte: »das angezogene Jnteresse kan ja J. Kgl. Mtt. gute Sache nicht bößmachen«.61 Bei diesen Fällen handelte es sich um die defensive Abwehr möglicher und tatsächlicher Vorwürfe, deren delegitimierendes Potential angesichts der Notwendigkeit, sie abzuwehren, als gegeben gelten kann. Im gleichen Zeitraum fehlen in der landesherrlichen Argumentation Formulierungen, welche die Fürsten hinsichtlich der Wohlfahrt neben die Stände und oder die Allgemeinheit stellen. In ihrer Proposition vom Oktober 1649 änderten die Landesherren dies. Zunächst gingen sie ausführlich darauf ein, dass im Krieg nur jene Landesherren bei ihren Landen und Leuten verbleiben konnten, die ihre Festungen verteidigungsbereit hielten. Andere Landesherren hätten fliehen müssen, »welches dann auch an theils Ohrten in so weit die lande mit betroffen, das sie gar in einen andern Stand wie vorhin gerathen, es wäre dann Sache, das jemand in der Meinung sich befinden wollte, das es gleich viel, ob einer von seinen angebohrnen oder einer andern Obrigkeit regiert wird, woraus dann der Schluß leichtlich zu machen, das an Conservation der Vestungen status et securitas Principis et regentis, salus patriae et salus populi […] dependiren«.62

Somit deuteten sie den Erhalt der angeborenen Obrigkeit als ein legitimes und mit der allgemeinen Wohlfahrt aufs Engste verbundenes Ziel des Festungsbaus. Der Gedanke, dass es gleichgültig sein könnte, wer regiere, wird geradezu als ein Absurdum dargestellt, was die Verbundenheit von Fürstenwohl und Gemeinwohl nur weiter unterstreicht. Erkennbar hatte ein Wandel von einer defensiven Abwehr der Anwürfe zu einer offensiven Argumentation stattgefunden. Während in der vorher defensiven politischen Sprache der fürstliche Eigennutz heruntergespielt oder be58 Der ständischen Wiedergabe der landesherrlichen Argumentation entnommen. Resolution der Stände auf dem Landtag zu Kiel, 31. Oktober 1599, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 45, S. 651. 59 Tillys Truppen standen kurz vor einer Invasion der Herzogtümer und Dänemarks. 60 Er berief sich statt dessen auf die Verteidigung der niedersächsischen Kreisstände sowie den Kampf gegen die Restitution des katholischen Glaubens, Proposition, König Christian IV. auf dem Landtag zu Kiel, 16. März 1627, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 46, S. 592 – 594. 61 Ebd. 62 Proposition, König Friedrich III. und Herzog Friedrich III. auf dem Landtag zu Flensburg, Oktober 1649, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 187.

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stritten und in seiner Bedeutung dem allgemeinen Nutzen nachgeordnet wurde, wird nun offensiv und legitimierend mit ihm argumentiert, indem er als ein wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Wohlfahrtswahrung dargestellt wurde. Ein möglicher Gegensatz zwischen fürstlichem Eigennutz und Gemeinwohl wurde nicht mehr thematisiert. Zur weiteren Verdeutlichung des Wandels sei ein Vergleich zweier Steuerausschreibungen via mandati, d. h. ohne vorherige Zustimmung der Stände, aus den Jahren 1631 und 1660 angestellt. Die Ausschreibungen wurden in ähnlichen Situationen, nämlich jeweils nach Beendigung eines Krieges63 und mit der Absicht zum fortgesetzten Truppenunterhalt vorgenommen. Im August 1631 beteuerten König und Herzog, dass »solche Anlage nicht zu Unserm eigenen, sondern dem allgemeinen Commodo, Nutzen u: Dienste dieser gesamten Fürstenthümer […] angesehen«64 sei. Dreißig Jahre später hieß es im Mandat des Königs ganz selbstverständlich: »zu Unserer und Unserer Fürstenthümer und getreuen Untersaßen gemeinen Besten«.65

Das necessitas–Prinzip Die Argumentation mit Landesnot und necessitas diente der zusätzlichen Legitimation von Steuerforderungen für Maßnahmen, deren Ziel im Schutz der Wohlfahrt bestand. Gerade bei außergewöhnlichen Formen landesherrlichen Vorgehens, etwa der Steuerausschreibung ohne vorherige Bewilligung, legten die Landesherren Gewicht auf dieses Argument. Damit gestaltete sich die Rolle von necessitas in Schleswig-Holstein durchaus ähnlich zum Befund Hans Boldts in seinem Artikel zu »Ausnahmezustand/necessitas publica« in den Geschichtlichen Grundbegriffen. Er stellte – i. W. anhand von Schriften der politischen Theorie – fest, dass im Mittelalter ein Fürst unter Berufung auf necessitas »gesteigerte Dienst- und Hilfsleistungen« – v. a. Steuern – beanspruchen konnte,66 und dass im 17. Jahrhundert mit dem Vorliegen von necessitas ein fürstlicher Eingriff in bestehende Rechtspositionen begründet wurde.67 63 Im Jahre 1629 endete mit dem Frieden von Lübeck der dänisch-niedersächsische Krieg und im Jahre 1660 endeten mit dem Frieden von Kopenhagen die dänisch-schwedischen KarlGustav-Kriege. 64 Steuerausschreibung durch König Christian IV. und Herzog Friedrich III., Gottorf, 1. August 1631, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 46, S. 737. 65 Steuerausschreibung durch König Friedrich III., Glückstadt, 1. September 1660, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 49, S. 1 f. 66 Hans Boldt: Ausnahmezustand. Necessitas publica, Belagerungszustand, Kriegszustand, Staatnotstand, Staatsnotrecht, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 343 – 376, hier S. 344. 67 Ebd., S. 349.

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Es muss für Schleswig-Holstein darauf hingewiesen werden, dass der Begriff necessitas neben Not, Notdurft, Notwendigkeit und Notfall auftrat. In vielen Fällen wurde die Situation lediglich durch den Verweis auf Krieg oder allgemein gefahrvolle Zeiten als Notzustand charakterisiert. Auch wenn begrifflich von Not oder necessitas gesprochen wurde, folgte hierauf meist noch eine beschreibende Konkretisierung. Insgesamt waren andere Begriffe und Umschreibungen häufiger anzutreffen als necessitas selbst. Es wird hier dennoch vom necessitasPrinzip gesprochen, da necessitas innerhalb der Ausdrucksvielfalt der prägnanteste Begriff ist und die Anknüpfung an ähnliche Entwicklungen in anderen Territorien zulässt.68 Die bei Boldt genannten gesteigerten Hilfsleistungen der Stände finden sich auch in Schleswig-Holstein. In spätmittelalterlichen Schadlosbriefen von 1422 und 1459 betrachteten die Landesherren eine Steuerbitte jenseits von Recht oder Gewohnheit, d. h. trotz der grundsätzlichen Steuerfreiheit der Stände, als legitim, wenn sie um der »nod willen, vnser vnd des landes«69 bzw. »jn unser witliken noeth«70 erfolgte. Auch 1540 versicherte Christian III., es könnten nur »thor vtersten noth vnnd tho erredinge vnnser suluest ock Lannde vnnd Lude«71 Steuern gefordert werden. Jeweils bekräftigten die Landesherren, dass solcherlei Steuern den ständischen Rechten und Gewohnheiten unschädlich seien.72 Vom 15. bis hinein ins 16. Jahrhundert konnte somit die Not des Landes und die Not des Landesherren Teil der fürstlichen Argumentation zur Legitimation von Steuerforderungen sein. Dies erinnert an die während des gleichen Zeitraums praktizierte Verknüpfung von fürstlicher und gemeiner Wohlfahrt als legitimierende Ziele der Steuerbitten. Das necessitas-Prinzip lautete demnach bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts: Bei Landesnot und Fürstennot ist eine außerordentliche Steuerforderung trotz der an sich gegebenen Steuerbefreiung der Stände möglich und deren Privilegien unschädlich. Die Steuer bedurfte der Bewilligung durch die Stände.73 Bis in die 1620er Jahre hinein blieb es im Wesentlichen dabei. Allerdings entfiel die 68 Z. B. in Brandenburg und Kleve-Mark, s. a.: Christoph Fürbringer : Necessitas und Libertas. Staatsbildung und Landstände im 17. Jahrhundert in Brandenburg (Erlanger historische Studien 10), Frankfurt a. M./Bern/New York 1985; Volker Seresse: Zur Bedeutung der »Necessitas« für den Wandel politischer Normen im 17. Jahrhundert. Der Fall Kleve-Mark, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte, N.F. 11/2 (2001), S. 139 – 159. 69 Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 1. 70 Ebd., Nr. 7. Hier ohne die Erwähnung von Land und Leuten. 71 Ebd., Nr. 26. 72 In einem Schadlosbrief König Johanns und Herzog Friedrichs I. von 1498 erstmals auch unter der Bezeichnung »priuilegien«, Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 16. 73 Was ausdrücklich in den grundlegenden, in der Handfeste Christians I. von 1460 zuerst bestätigten sowie von allen seinen Nachfolgern konfirmierten Privilegien der Stände festgehalten war, Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 9.

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Nennung der Fürstennot in der landesherrlichen Argumentation. Hierin kann eine Analogie zum Verschwinden des Fürstenwohls samt Auftretens der defensiven Abwehr von Vorwürfen fürstlichen Eigennutzes zur gleichen Zeit gesehen werden. Hinzu kam die Vorstellung, dass ein steuerlicher Eingriff in die gemeine Wohlfahrt erfolgen könne, wenn dieser wegen vorliegender Not und zum Schutz eben jener Wohlfahrt notwendig sei. Dies wurde erstmals 1545 von Herzog Adolf formuliert74 und u. a. 1627 von Christian IV. in seiner ausführlichen Begründung einer Steuerforderung wiederholt.75 Zu einer wesentlichen Erweiterung des necessitas-Prinzips kam es in den 1630er Jahren. Im August 1631 schrieben die Landesherren erstmals eine Steuer ohne vorherige Bewilligung aus. Sie begründeten ihr ungewöhnliches Vorgehen damit, dass »die unvermeidl. Nothdurft […] (eine Steuer) zu Unser Land und Leute besten und Beforderung allgemeiner Wohlfahrt« erfordere und keine Zeit mehr für einen Landtag bleibe.76 Im Juni 1631 hatten die Stände zuvor die Bewilligung einer Steuer zum Truppenunterhalt verweigert,77 was die Landesherren in ihrem Mandat nicht erwähnten. Sieben Jahre später erforderte 1638 »die unabwendbare Nothwendigkeit« ebenfalls die Ausschreibung einer Steuer ohne den Landtag abzuwarten.78 Dieses Mandat ist recht knapp gehalten und enthält lediglich noch die auch 1631 gegebene Versicherung, dass das ungewöhnliche Vorgehen dem bisherigen Herkommen, d. h. dem ständischen Steuerbewilligungsrecht, unschädlich sei. Bereits im April 1637 war die Erhebung von Lizenten, einer Form der indirekten Steuer, für welche laut den Privilegien die Zustimmung der Stände erforderlich war, in einer landesherrlichen Replik auf ständische Gravamina mit folgenden Worten begründet worden: »So sind wir ob hanc necessitatem et ad promovenda publica commoda dies Mittel der Licenten zu gebrauchen noth74 Herzog Adolf schrieb am 5. Oktober 1545 an die Gesamträte, dass er angesichts der Kriegszeiten (Notlage) bereit sei, entsprechend königlicher Bitten »Lannde und leute unngeacht ires verterbs« zu besteuern. Die Einnahmen dürften jedoch nur »zu gemeiner, Konnigreich, Furstenthumb Lannde und leut best nutzen und frommen (und nirgentz annders zu) gebrauchet werden«, Landesarchiv Schleswig, Abt. 7, Nr. 1572. 75 König Christian IV. argumentierte in der Proposition vom 16. März 1627 auf dem Landtag zu Kiel, dass er die lieben Untertanen gerne verschont hätte, die Sache vom Feinde jedoch so weit getrieben worden sei (Notlage), dass nun das kleinere Übel zu wählen sei, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 46, S. 585 u. 597. 76 Steuerausschreibung durch König Christian IV. und Herzog Friedrich III., Gottorf 1. August 1631, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 46, S. 736 f. 77 Erklärung der Stände auf die landesherrliche Proposition, Kiel 22. Juni 1631, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 46, S. 668. 78 Es ging um die Zahlung einer Reichssteuer in großer Höhe. Einer der Zahlungstermine war bereits verfallen und es drohte die militärische Exekution durch den kaiserlichen Generalleutnant Matthias Graf von Gallas, Steuerausschreibung durch König Christian IV. und Herzog Friedrich III., 21. April 1638, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 47, S. 159.

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dringlich veruhrsachet«.79 Die necessitas bezog sich dabei konkret auf die wegen der Kriegszeiten leeren Staatskassen und die Unmöglichkeit anderweitig Gelder zu bekommen. Im Gegensatz zu 1631 erwähnten die Landesherren nun, dass sie die Stände auf gewöhnlichem Wege und unter Anführung der Landesnot zuvor vergeblich um deren Einwilligung gebeten hatten. Anschließend erklärten König und Herzog die Erhebung der Lizenten als vom Herkommen sowie den Privilegien gedeckt80 und behaupteten zugleich, dass auf den vorliegenden ungewöhnlichen Fall, angesichts der necessitas und des Gemeinnutzes wegen, die Privilegien nicht anzuwenden seien. Vielmehr seien die Stände angesichts der vorliegenden Notsituation und bekannten necessitas verpflichtet, den Landesherren »unter die Arme zu greifen«.81 Wie alle drei angeführten Fälle aus den 1630er Jahren zeigen, ging die Bedeutung von Notdurft/Notwendigkeit/necessitas jeweils über die bisherige Sinngebung als reine Notlage hinaus. Diese weiterhin mitumfassend bedeuteten die Begriffe hier zusätzlich eine außergewöhnliche Zwangslage, welche die Landesherren legitimierte, jenseits des bisher Üblichen zu agieren. Nachdem die Handlungsmöglichkeiten im gewohnten Rahmen sich erschöpft hatten, konnte nur die Erweiterung des landesherrlichen Legitimationsraums über das bisherige hinaus Handlungsfähigkeit gewährleisten. Seit den 1630er Jahren liegt somit auch in Schleswig-Holstein der von Boldt für das 17. Jahrhundert konstatierte fürstliche Eingriff in ständische Rechtspositionen vor. Das necessitas-Prinzip aus Sicht der Landesherren legitimierte nunmehr im Fall von necessitas die Erhebung einer Steuer auch ohne ständische Bewilligung. Allerdings zeigt gerade der argumentative Umgang der Landesherren mit den ständischen Privilegien, dass die Fortentwicklung politischer Sprache und Kultur in der politischen Praxis in Anbindung an die bisherigen Handlungsprinzipien und Legitimationsmöglichkeiten geschah. Hierdurch konnte es zu – aus heutiger Perspektive – Uneindeutigkeiten und Spannungen innerhalb der politischen Kultur kommen, wenn etwa das landesherrliche Vorgehen de facto die ständischen Privilegien verletzte und die landesherrliche Argumentation 79 Resolution, König Christian IV. und Herzog Friedrich III. zu den ständischen Gravamina, 27. April 1637, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 47, S. 101. 80 Die Landesherren versuchten u. a. durch ein niederdeutsches Zitat aus der Privilegienbestätigung von 1524 zu belegen, dass die Einführung der Lizenten unter den gegebenen Umständen recht eigentlich den Privilegien »in contextu et litera« entspreche, Resolution, König Christian IV. und Herzog Friedrich III. zu den ständischen Gravamina, 27. April 1637, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 47 S. 103. Die Stände hatten zuvor verlangt, dass König und Herzog nichts entgegen der oftmals von Landesherren bestätigten Privilegien zulassen sollten, Gravamina der Stände, März 1637, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 47, S. 80. 81 Resolution, König Christian IV. und Herzog Friedrich III. zu den ständischen Gravamina, 27. April 1637, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 47, S. 102 – 104.

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diese zugleich für unbeschadet, das eigene Vorgehen stützend und im jeweiligen Falle nicht anwendbar erklärte. Darin offenbart sich jedoch in erster Linie das landesherrliche Bestreben, den Bruch zu vermeiden und das eigene Handeln irgend möglich innerhalb der herkömmlichen Legitimationsmuster politischer Kultur zu verorten. Für den weiteren Weg des necessitas-Prinzips in der politischen Sprache der Landesherren nach den 1630er Jahren ist zunächst festzustellen, dass die Landesherren sich bemühten, von den Ständen Bewilligungen zu erhalten und das Vorgehen via mandati weitgehend mieden.82 Zu einer ausführlicheren Argumentation mit necessitas im Sinne einer Zwangslage, die außergewöhnliches Handeln jenseits einer Bewilligung rechtfertigen konnte, kam es nicht mehr.83 In Weiterentwicklung der bisherigen Argumentation wurde necessitas oder Notwendigkeit zu einem Attribut, dass die Landesherren insbesondere den durch Reichs- oder Kreisabschiede84 gedeckten Verteidigungsausgaben anhefteten, um deren unabwendbaren Charakter zu betonen.85 Zu beachten ist hierbei, dass nach 1653 die Kreisrüstung in der Beratung mit der Landesrüstung zusammengefasst wurde.86 82 Mit Ausnahme der Zeit der Karl-Gustav-Kriege von 1657 bis 1660, während derer Gottorf mit Schweden gegen Dänemark stand, was die gemeinsame Ausschreibung von Landtagen und die gemeinsame Steuerbitte unmöglich machte. 83 Im bereits erwähnten königlichen Steuermandat von 1660, das nach dem Kopenhagener Frieden erging, stand das Gemeinwohl im Vordergrund, Steuerausschreibung durch König Friedrich III., Glückstadt, 1. September 1660, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 49 S. 1 f. Eine gewisse Ausnahme bilden allerdings die fortgesetzt bestehenden, unbewilligten indirekten Steuern in Form von Lizenten, Akzisen und Zöllen. Diese wurden weiterhin mit dem, allerdings recht knappen, Verweis auf ihre Notwendigkeit legitimiert, Antwort Herzog Friedrichs III. im Namen beider Landesherren auf eine Supplik der Stände, Gottorf, 24. Mai 1649, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 154. 84 Hierzu zählt insbesondere § 180 des Reichsabschiedes von 1654, der die Untertanen der Reichsstände für steuerpflichtig betreffend des Unterhalts der Festungen und Garnisonen erklärte, Quellen zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (1495 – 1806). Auf der Grundlage der von Hanns Hubert Hofmann herausgegebenen »Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1495 – 1815« für den Studiengebrauch bearbeitet von Heinz Duchhardt. Darmstadt 1983, S. 53 f. 85 Der Verweis auf einen Reichsabschied selbst ist nicht neu. So wurde beispielsweise bereits 1551 bezüglich einer ausstehenden Türkensteuer auf den Augsburger Reichsabschied verwiesen, der besagte, »das auch die untherthanen, die aufgabe thun sollen«, König Christian III., Herzöge Johann d. Ä. und Adolf an Ihre Räte, Kopenhagen 22. Juli 1551, Landesarchiv Schleswig, Abt. 65.1, Nr. 265, fol. 35r. 86 Ipsen (wie Anm. 17), S. 285. Der Kreisabschied vom Dezember 1654 ermöglichte es den Kreisständen, eigenes Militär als Kreismilitär zu deklarieren, Udo Gittel: Die Aktivitäten des Niedersächsischen Reichskreises in den Sektoren »Friedenssicherung« und »Policey« (1555 – 1682) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 35/Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit 14), Hannover 1996, S. 178 f.

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Als Beispiel sei der Juni 1653 angeführt. Die Landesherren argumentierten in Proposition und Replik, dass die »Creyß-Abschieden […] necessitatem inferiren«87 und die »Creyß-Conclusion eine unnachläßige Nothwendigkeit mit sich führet«,88 so dass der Kreisabschied nicht weiter zu beraten, sondern auszuführen sei. Zehn Jahre später erklärten die Landesherren, »daß die Reichs- und Creyß-Schlusse […] nicht voluntarium, sondern necessarium subsidium mit sich führen«.89 Necessitas oder Notwendigkeit kennzeichnete hier nun eine unabwendbare Zahlungspflicht oder einen letztlich nicht vermeidbaren Zahlungszwang. Hinsichtlich dieses Zwangscharakters knüpfte die gewandelte Sinngebung und veränderte Argumentation in gewisser Weise an die Zwangslagen der 1630er Jahre an. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass jetzt eine Forderung innerhalb des bestehenden Bewilligungsverfahrens legitimiert wurde. Allerdings war die Argumentation der Landesherren derart unabweisbar geworden, dass die Bewilligung der Stände als unumgänglich erscheinen musste. Hinzu kam, wie oben erwähnt, dass gleichzeitig die Reichsgesetze als dem Gemeinwohl dienlich deklariert wurden. Immer präsent und Teil der landesherrlichen Argumentation blieb ferner der Verweis auf eine bestehende oder drohende Notlage.90 Damit bewegte sich der Legitimationsansatz, obwohl die Umstände sich verändert und konkrete Bedeutungen sich gewandelt hatten, im Kern weiterhin in der bekannten Argumentation des Schutzes des Gemeinwohls bei Notlagen. Allerdings reichte es nun offenbar aus, in Friedenszeiten für die kommende Notlage vorsorgen zu wollen. Die Notwendigkeit militärischen Schutzes des Gemeinwohls hatte sich gewissermaßen von realer Not unabhängig verstetigt. Die argumentative Verwendung von necessitas in der politischen Praxis war im Übrigen nicht auf Schleswig-Holstein beschränkt. Auch für Kleve-Mark stellte Volker Seresse 2005 fest, dass vorliegende Landesnot von Beginn des 16. Jahrhunderts bis 1660 Steuerforderungen und Steuern legitimieren konnte. In der Mitte des 17. Jahrhunderts begründete Kurfürst Friedrich Wilhelm außerdem mit vorliegender Not bzw. necessitas ein Notrecht, das ihm Steuererhe87 Proposition, König Friedrich III. und Herzog Friedrich III. auf dem Landtag zu Kiel, 7. Juni 1653, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 543. 88 Replik, König Friedrich III. und Herzog Friedrich III. auf dem Landtag zu Kiel, 10. Juni 1653, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 560. 89 Replik, König Friedrich III. und Herzog Christian Albrecht auf dem Landtag zu Kiel, 16. Juni 1663, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 49, S. 131. 90 So hieß es etwa 1653: »wann die äußerste Noth da, ist viel zu späth mit der Werbung (der Soldaten) aufzukommen« (wie Anm. 88). Ein weiteres Beispiel: Im Oktober 1649 wird in der Proposition die augenblickliche Notlage mit altbekannten Formulierungen benannt: »bey diesen schwierigen Zeiten« und »beschwerte Läuften«, Proposition, König Friedrich III. und Herzog Friedrich III. auf dem Landtag zu Flensburg, Oktober 1649, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 48, S. 180.

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bungen unter Missachtung des ständischen Steuerbewilligungsrechts gestattete. Die Entwicklung ähnelte demnach der in Schleswig-Holstein.91 Der gleiche Kurfürst hatte auch in Brandenburg während des Dreißigjährigen Krieges Steuern unter Berufung auf den »casus necessitas« ohne Bewilligung der Stände eintreiben lassen.92

Das Gegenseitigkeits-Prinzip Das Gegenseitigkeits-Prinzip, d. h. die wechselseitige Verpflichtung von Herrschaft und Ständen, ist ein gesamteuropäisches Prinzip politischer Kultur. Es für die landesherrliche Sprache in Schleswig-Holstein ausführlicher betrachten zu wollen, hieße, ein weites Feld zu betreten, das um ein vielfaches größer ist, als dieser Beitrag es sein kann. Daher werden dieses Prinzip und seine Entwicklung nur knapp skizziert, was im Wesentlichen anhand außersprachlicher Formalia im Rahmen der Huldigungen geschehen soll. Der zeitgenössische Begriff lautete mutua obligatio und umfasste auf Seiten der Stände Treue, Gehorsam, Affektion und Devotion sowie auf Seiten der Landesherren Gunst, Huld und Gnade. Die innere Verbundenheit zum jeweils anderen sollte im Handeln sichtbar werden. Dabei betrachteten die schleswigholsteinischen Landesherren auch die Zahlung von Steuern als Ausweis ständischer Affektion sowie Devotion.93 Die Landesherren selbst anerkannten ihre Verpflichtung zu Schutz und Schirm ständischer Wohlfahrt und Rechte, was bis zum Ende der Landtage auch die Behandlung der Gravamina, das waren die ständischen Beschwerden, und Anhörung der Stände ebendort umfasste. Die Verbundenheit der beiden Seiten wurde nach jedem Herrschaftswechsel in der Huldigung neu bestätigt. Wesentlicher Teil der Huldigung war die Konfirmation der ständischen Privilegien durch die Landesherren. Anhand der Entwicklung des Konfirmationsverfahrens bei den Huldigungen vom Ende des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts lässt sich die zunehmende Schwächung der ständischen Position innerhalb der Gegenseitigkeitsbeziehung kurz auf91 Volker Seresse: Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts. Argumentationsgeschichtliche und herrschaftstheoretische Zugänge zur politischen Kultur der frühen Neuzeit. (Frühneuzeit-Forschungen 12), Epfendorf/Neckar 2005, S. 256. 92 Fürbringer (wie. Anm. 68), S. 85. 93 Die Stände wurden teilweise mit dem Hinweis, hierdurch ihre Affektion zu zeigen, zur Steuerzahlung aufgefordert, wie z. B. 1613: »mit Bewilligung einer ergiebigen Land-Bede also bezeigen werden damit Ihro Kgl. Mtt. u: F. Gd. dero getreu-gehorsamen Landschaft unterthste und unterthänige Affection im Wercke zu verspüren«, Resolution, König Christian IV. und Herzog Johan Adolf zu den Gravamina der Stände, Itzehoe, 15. April 1613, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 45, S. 980, sowie 1671 »ihre Devotion durch Bewilligung des geforderten Betrages constatiren«, nach Ipsen (wie Anm. 17), S. 368.

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zeigen:94 1590 leistete Herzog Philipp den Eid auf die Privilegien mündlich, aber ohne Hebung der Schwurfinger, 1648 erfolgte der Eid auf die Privilegien durch König Friedrich III. nur noch schriftlich. Er ließ allerdings durch seinen Vertreter eine mündliche Versicherung bei deren Überreichung abgeben. 1661 entfiel bei der Huldigung Herzog Christian Albrechts die mündliche Versicherung durch den Vertreter und 1671 erschien König Christian V. nicht persönlich zur Huldigung, sondern schickte seinen Statthalter. Die Abschwächung ihres persönlichen Bekenntnisses zu den sie bindenden Privilegien und schließlich das Fernbleiben der Person zeigt die zunehmende Lösung der Landesherren von den Ständen bzw. einen Zugewinn an Souveränität gegenüber diesen.95 Neben diesem Wandel darf jedoch das Element der Konstanz nicht unterschätzt werden. Denn zum einen zogen sich die Veränderungen in kleinen Schritten über einen langen Zeitraum hin und zum anderen blieb das Gegenseitigkeits-Prinzip an sich bis zum Ende der Landtage lebendig. Die Konfirmation wurde zwar formal abgeschwächt, zeigte jedoch etwa hinsichtlich der Privilegienbestätigung im Text selbst ein hohes Maß an Kontinuität. So versicherten die Landesherren von 148296 bis 167197 den Ständen, dass sie die Privilegien unverbrüchlich halten sowie stets im »natürlichen« Sinne interpretieren würden. Kontinuität stiftete zudem das fortgesetzte Erbitten der Steuern auf dem Landtag, an dem die Fürsten bis in die letzten Jahre der Landtage, als sie die Bewilligung der ihrer Ansicht nach notwendigen Steuern wie eine Selbstverständlichkeit erwarteten, festhielten. Trotz der hinzugewonnenen Legitimations- und Handlungsspielräume im Rahmen des erweiterten necessitas-Prinzips sowie des den Privilegien übergeordneten Gemeinwohls legten König und Herzog seit 1630 fast jährlich stets aufs Neue eine Steuerbitte vor. Erst nachdem 1675 der letzte Landtag auf Grund des teils militärischen Konfliktes zwischen den Landesherren abgebrochen worden war, unterließen sie es, weitere Landtage einzuberufen. Die bis dahin zwar de facto regelmäßige, nominell aber weiterhin außerordentliche Steuer wurde Ende der 1680er Jahre zu einer ordentlichen.98 94 Die Angaben sind den Zusammenfassungen bei Ipsen (wie Anm. 17) entnommen: Für 1590 – 1648, S. 355 f., für 1661, S. 308 – 310 und für 1671, S. 356 – 361. 95 Dies entsprach einer Tendenz der Landesherren, zunehmend die »Pflichten der Untertanen« und »Rechte der Herrschaft« zu betonen, Lange (wie Anm. 17), S. 154. 96 Konfirmation durch König Johann und Herzog Friederich: Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 14. 97 Konfirmation durch König Christian V.: Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), 2, Nr. 3. 98 Hedemann-Heespen (wie Anm. 37), S. 940. Falkenhagen (wie Anm. 18), S. 47, Anm. 3 schreibt unter Berufung auf eine königliche Verordnung, dass die Kontribution 1688/90 ordinär geworden sei. Damit wurde wohl letztlich nur in Rechtsform gegossen, was tatsächlich bereits der Fall war, da davon auszugehen ist, dass die bis dahin bereits jährlichen Steuern auch nach 1675 weitererhoben wurden.

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Ein kurzes Aufflackern des alten Vorgehens gab es im Winter 1711. In einer Zeit erhöhter Kriegsgefahr, nämlich des Großen Nordischen Krieges, war den Landesherren daran gelegen, besonders hohe außerordentliche99 Steuern auf einem Landtag100 durch Prälaten und Ritterschaft bewilligen zu lassen. Damit wiederholten sie frühere Verfahren und hielten hierdurch das GegenseitigkeitsPrinzip lebendig und zeigten, dass auch 36 Jahre nach dem letzten Landtag dieser Teil der gegenseitigen Verbundenheit, nämlich die formalkommunikative Legitimation außerordentlichen herrschaftlichen Handelns samt Eingriffs in die ständische Wohlfahrt, nach wie vor einen gewissen, wenn auch schwachen Bestand hatte. Der Adel forderte dann auch, dass »bey KriegsZeiten, wann die Nohtwendigkeit erfordern wird, extraordinaire Aufflagen auszuschreiben, solche vorhero Löblichen Praelaten und Ritterschaft auf einer Landtags-Versamlung dargethan werden solle.«101

Ein weiterer Landtag nach 1711 ist jedoch nicht bekannt. Allerdings kam es nach 1711 vor der Einführung neuer Steuern zu informellen Unterhandlungen mit der Ritterschaft.102 Somit setzte sich in gewisser Weise noch im 18. Jahrhundert die vorherige Entwicklung fort, nach welcher das Gegenseitigkeits-Prinzip hinsichtlich der Rücksprache von Ständen und Herrschaft grundsätzlich erhalten blieb oder zumindest nicht gänzlich verschwand, sich allerdings gleichzeitig zu Ungunsten der Stände wandelte.

Ergebnisse Es wurde deutlich, dass die politische Sprache und Kultur der schleswig-holsteinischen Landesherren in der Frühen Neuzeit und insbesondere im 17. Jahrhundert einen deutlichen Wandel durchlief, der hier noch einmal anhand zweier markanter Beispiele aus den Quellen verdeutlicht sei. Im Jahre 1540 bedankte sich König Christian III. als Herrscher über die noch ungeteilten Herzogtümer bei den Ständen für die bewilligte Steuer und erklärte, dass diese außerordentliche Steuer »vth kener plichten« bewilligt wurde und allein »to vnnser Rycke, Forstendome, Lannde vnnd lude nottorfft […] vnnd nit tho 99 Außerordentlich bezog sich nunmehr auf solche Steuern, die zusätzlich zu den jetzt ordentlichen, vor 1675 außerordentlichen, Steuern verlangt wurden. 100 Wegen der Nichtbeteilung der Städte wird die Versammlung in der Literatur oftmals nicht als Landtag bezeichnet. Die Landesherren selbst sprachen jedoch von »Landtag«, Jensen/ Hegewisch (wie Anm. 13), 2, Nr. 16. 101 Ebd. 102 Was von König Friedrich IV. in der Ausschreibung außerordentlicher Kriegssteuern vom 30. Januar 1719 angedeutet wurde, Universitätsbibliothek Kiel, Schleswig-Holsteinische Verordnungen 4 (1622 – 1777), S. 151 f.; s. a. Falkenhagen (wie Anm. 18), S. 47.

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vnnsem suluest besten« zu verwenden sei.103 Mehr als hundert Jahre später hieß es im Jahre 1663 seitens der nun zwei Landesherren, dass es »Ihro Königl. May. und Hochfstl. Dl. frey und bevorstehet, zu dero auf den Beinen habenden Milicia den nöthigen Unterhalt von ihren Ständen zu begehren« und ferner sei die Steuer »nicht voluntarium, sondern necessarium subsidium«.104 Von der Dankbarkeit über eine freiwillige und außerordentliche Hilfsleistung der Stände hatte sich die politische Sprache der Landesherren zu einer selbstverständlichen Forderung nach der unumgänglichen Bewilligung des zustehenden Unterhalts der eigenen Truppen gewandelt. Die Kennzeichnung vor allem des 17. Jahrhunderts als eine Zeit des Umbruchs im landesherrlichen Politikverständnis trifft demnach auch für Schleswig-Holstein zu. Gleichzeitig aber dürfen die Konstanten innerhalb von Sprache und Kultur nicht vernachlässigt werden.

Sprachwandel und Ereignisgeschichte Die Entwicklung erfolgte nicht unabhängig vom ereignisgeschichtlichen Geschehen. Überwiegend sprachlich sichtbare politische Kultur und sich u. a. an Kriegshandlungen oder Friedensschlüssen manifestierende Ereignisgeschichte sollten nicht als zwei getrennte Blöcke betrachtet werden, sondern waren eng miteinander verknüpft.105 So kam etwa die Dankbarkeit Christians III. um 1540 nicht von ungefähr. Die Stände hatten in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten zunächst Friedrich I. und dann seinem Nachfolger Christian III. im Kampf um Dänemark und Schleswig-Holstein die Treue gehalten und dabei »Gut und Blut« eingesetzt.106 Diese enge Rückbindung an die ständischen Kräfte bestand bereits zur Zeit der schauenburgischen Grafen während des Spätmittel103 Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 26. 104 Replik, König Friedrich III. und Herzog Christian Albrecht auf dem Landtag zu Kiel, 16. Juni 1663, Landesarchiv Schleswig, Abt. 400.5, Nr. 49, S. 129 – 131. 105 Es sei hier auch an folgende, recht bekannte Formulierung Quentin Skinners erinnert: »Thus the problem facing an agent who wishes to legitimate what he is doing at the same time as gaining what he wants cannot simply be the instrumental problem of tailoring his normative language in order to fit his projects. It must in part be the problem of tailoring his projects in order to fit the available normative language.«, Quentin Skinner : The foundations of modern political thought, vol. 1: The renaissance, Cambridge u. a. 1978, S. XII f. 106 Im Jahre 1523 erlangte Herzog Friedrich I. mit Unterstützung u. a. der schleswig-holsteinischen Stände die dänische Krone nach Absetzung König Christians II. Zwischen 1531 und 1536 misslangen Versuche Christians II. die Krone zurückzuerobern. Der seit 1533 regierende Christian III. konnte sich auch dank der Unterstützung der schleswig-holsteinischen Stände behaupten. Ulrich Lange: Stände, Landesherr und Große Politik – vom Konsens des 16. zu den Konflikten des 17. Jahrhunderts. Lokale Herrschaft und die Entstehung frühmoderner Staatlichkeit, in: Ders. (Hg.), Geschichte Schleswig-Holsteins, Neumünster 2003, S. 153 – 190, hier S. 165 – 170.

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alters.107 Von damals bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts blieb die politische Sprache und Kultur hinsichtlich der untersuchten Prinzipien konstant. Bei aller Vorsicht hinsichtlich einer Überlieferung, die unter der noch wenig schriftlich geprägten Verhandlungskultur zu leiden hat, kann doch festgestellt werden, dass die Landesherren Steuerbitten in kurzen Schreiben mit den Argumenten Landesnot und Wohlfahrt legitimierten. Die ersten längeren, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts überlieferten Kommunikationsprozesse zur Durchsetzung von Steuerbewilligungen betrafen ganz überwiegend die neuen und als ungewöhnlich empfundenen Reichstürkensteuern. Von kleinerem Wandel im Wohlfahrts-Prinzip abgesehen, nämlich der aufgekommenen Differenz zwischen Fürsten- und Gemeinwohl sowie der gesonderten Nennung des Ständewohls, erwies sich die politische Sprache und Kultur als ausreichend flexibel, um innerhalb des bestehenden Legitimationsrahmens aus Landesnot und Wohlfahrt Steuerforderungen zu begründen. Auch für die Zeit vor und während des Dänisch-Niedersächsischen Krieges (1625 – 1629) galt dies noch weitgehend, wobei auf dem Höhepunkt des Krieges eine erste Abhängigkeit der ständischen Wohlfahrt vom Gemeinwohl angedeutet wurde. Wesentliche Wandlungsschübe erfuhr die politische Sprache und Kultur jedoch nicht während der eigentlichen Kriegszeiten, sondern in den unmittelbar nachfolgenden Friedenszeiten. Dem weiteren Bedrohungskontext während der Zeit bis 1648 entsprechend sowie dem Trend der Zeit gemäß behielten die Landesherren auch nach dem 1629er Frieden von Lübeck stehende Soldtruppen unter Waffen. Ähnlich verhielt es sich nach dem Westfälischen Frieden von 1648, wie auch nach dem Frieden von Kopenhagen von 1660, wobei diese beiden Male die fortgesetzte Bedrohung insbesondere von Schweden ausging. Es ist jeweils auffällig, dass der Wegfall akuter Kriegsführung gepaart mit fortgesetztem Militäraufwand zu einem erhöhten Legitimationsaufwand der Landesherren führte. König und Herzog griffen dabei auf die ihnen gegebenen sprachlichen Mittel zurück, denen durch die Verwendung in neuem Kontext eine gewandelte Bedeutung zuwuchs. Seit den 1630ern ermöglichte die erweiterte Argumentation 107 Die Ambitionen der holsteinischen Grafen auf Schleswig waren vom Landesadel tatkräftig unterstützt worden. So fiel auch die Bede von 1422 in den von 1416 bis 1435 andauernden, erneuten Kampf um Schleswig zwischen Dänemark und den holsteinischen Grafen, den der Schauenburger Adolf VIII. schließlich für sich entscheiden konnte, Rolf Hammel-Kiesow/ Ortwin Pelc: Landesausbau, Territorialherrschaft, Produktion und Handel im hohen und späten Mittelalter (12.–16. Jh.), in: Ulrich Lange (wie Anm. 106), S. 59 – 135, hier S. 120. Nach dem Aussterben der Schauenburger wählten die Ständevertreter 1460 den dänischen Oldenburger Christian I. zu ihrem Landesherrn und ließen sich eine ausführliche Wahlkapitulation unterschreiben, Jensen/Hegewisch (wie Anm. 13), Nr. 9 u. 10.

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innerhalb des necessitas-Prinzips die Legitimation von nichtbewilligten Steuerausschreibungen. In den Jahren 1649 und 1650 wurde der Vorrang des Gemeinwohls vor der von diesem abhängigen ständischen Wohlfahrt expliziert und 1662 die privaten Rechte und Anliegen der Stände dem öffentlichen Recht und Interesse untergeordnet. Die Kreis- und Reichsabschiede von 1653 und 1654 aufgreifend, welche die reichsweite Frage des fortgesetzten Truppenunterhalts samt zugehöriger Finanzierung betrafen, wurde den Defensionssteuern das Attribut necessitas zugeschrieben, wodurch die ehemals freiwillige Steuerbewilligung aus landesherrlicher Perspektive zu einer unumgänglichen Pflicht wurde.

Wandel und Konstanz in der politischen Kultur Ergebnis des – damit selbstverständlich nicht beendeten – Wandels der politischen Kultur war der zum Ende des 17. Jahrhunderts erweiterte Legitimationsund damit Handlungsraum der Landesherren. Die Ausdehnung des landesherrlichen Handlungsraumes bedeutete einen Zugewinn an Souveränität gegenüber den Ständen. Teil des Wandels war auch die Entwicklung zu einem neuen Herrschaftsverständnis, das sich im Rückzug der Landesherren von bisher persönlich ausgeübten Huldigungshandlungen manifestierte. Indem Christian V. 1671 der Huldigung gänzlich fern blieb, demonstrierte er den entstandenen Abstand von den Ständen und verstärkte diesen zugleich. Die neue Unabhängigkeit bedeutete letztlich, dass er für die grundlegende Legitimation seiner Herrschaft in geringerem Maße auf die Bestätigung der Stände angewiesen war als seine Vorfahren. Die Landesherren arbeiteten jedoch nicht geradlinig auf die Entwertung der beschworenen Privilegien und die Erweiterung ihrer Macht als Endziel ihres Handelns hin. Das Beispiel der Argumentation von 1637, als die Landesherren sich bemühten, das eigene Vorgehen trotz faktischer Gegensätzlichkeit möglichst im Rahmen von Herkommen und überlieferten Privilegien zu verordnen, zeigte dies. Für König und Herzog musste es darum gehen, die sachlichen Ziele ihres politischen Handelns argumentativ im Rahmen der ihnen gegebenen Potentiale der politischen Sprache und Kultur zu legitimieren. Sprache und Kultur gaben dabei zugleich die Möglichkeiten der Entwicklung vor und wandelten sich selbst prozessual entsprechend der Umstände und Anforderungen der Ereignisse, wodurch sie wiederum Legitimations- und Handlungsmöglichkeiten erweiterten. Letzteres ermöglichte den Landesherren eine zunehmende Souveränität in der Formulierung ihrer Ansprüche, wie sie etwa auch am eben gegebenen Vergleich von 1540 und 1663 sichtbar wurde. Wandel aus dem Potential der vorhandenen Sprache und Kultur bedeutete

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konkret, dass auf vorhandene Prinzipien der politischen Kultur zurückgegriffen wurde und die neuartige Anwendung der Argumente zur besagten Erweiterung des Legitimationsraums führte. So ging der Hintanstellung der ständischen Rechte und Ansprüche um 1649 und Anfang der 1660er Jahre die ausgesprochene Abhängigkeit der ständischen Wohlfahrt von der gemeinen Wohlfahrt seit den 1620ern voraus. Diese Entwicklung selbst wäre nicht möglich gewesen ohne das Vorhandensein des politischen Prinzips Wohlfahrt als höchstes Ziel politischen, fürstlichen Handelns. Dass der Wandel innerhalb der politischen Kultur keineswegs immer derart linear verlief, zeigt das Beispiel der Problematisierung des fürstlichen Eigennutzes. Dieser Aspekt der politischen Kultur, der auf einen zeitweilig verstärkten Rechtfertigungsdruck auf die Fürsten hinweist, tauchte zur Mitte des 16. Jahrhunderts in den Akten auf und verschwand nach den 1620er Jahren aus der politischen Sprache. Auch die Argumentation mit necessitas zur Legitimation außerrechtlichen Handelns war nur relativ kurze Zeit in den 1630er Jahren lebendig; obschon sie, wie gezeigt wurde, doch ihre Spuren in der politischen Sprache hinterließ. Parallel zum Wandel hielten die Landesherren vielfach an herkömmlichen Argumenten fest und gaben diesen durch Wiederholung Konstanz. So blieben etwa die Argumentation mit Landesnot und Schutz der Wohlfahrt in den Grundformen neben ihren argumentativen Erweiterungen bis zum Ende der Landtage bestehen und somit dank Wiederholung und kommunikativer Anwendung lebendig. Den Fortbestand der ständischen Privilegien an sich stellten die Landesherren zudem nicht in Frage und konfirmierten sie – trotz Abschwächung ihrer Anbindung daran – weiterhin mit Beginn ihrer jeweiligen Herrschaft. Zudem behielten sie eine Rückbindung ihrer Entscheidungen an die Stände bei, was bis 1675 mittels des Ersuchens um Legitimation auf den Landtagen geschah und hiernach in zugegebenermaßen äußerst abgeschwächter Form durch informelle Rücksprache. Trotz einer Abschwächung der Beziehung waren die Landesherren weiterhin den Ständen verbunden. Der Adel war in der lokalen Verwaltung und als Finanzgeber der Landesherren aktiv. Man stand sich nicht als isolierte, gegnerische Parteien gegenüber, sondern war gleichermaßen Teil der Beherrschung des Landes und in seiner Verfasstheit miteinander verwoben, wenn auch zunehmend die landesherrliche Seite dominierte. Von besonderem Interesse bleibt der Sonderfall des Landtages von 1711. Dass damals in einer Situation akuter Kriegsnot und Gefährdung der Wohlfahrt nach 36 Jahren ohne Landtag wieder um die Legitimation fürstlichen Handelns auf einem Landtag ersucht wurde, deutet auf eine Art ruhende Konstanz innerhalb der politischen Kultur hin. Sachlich hatte zwar eine Verschiebung statt gefunden, die darin bestand, dass die ehemals außerordentlichen Steuern nunmehr ordentliche waren. Dennoch scheint es ganz gemäß der Legitimations- und

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Handlungsrahmen der älteren und ältesten politischen Kultur, dass in einer als außergewöhnlich empfundenen Lage die Kommunikation mit den Ständen auf dem Landtag zur Legitimation fürstlichen, außergewöhnlichen Handelns gesucht wurde. Trotz aller konstanten Elemente bleibt augenscheinlich, dass nach 1675 nur noch einmal eine landtagsähnliche Versammlung einberufen wurde. Dies ist ein deutlicher Bruch zum bisherigen Verfahren und symbolisiert den grundlegenden Wandel der politischen Kultur hin zu mehr Souveränität landesherrlicher Herrschaft, die am Ende des 17. Jahrhunderts weit geringerer kommunikativer Rückbindung an eine Legitimation durch die Stände bedurfte, als es vom Mittelalter bis noch in die Mitte des 17. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein der Fall gewesen war.

Daniel Schläppi

Legitimation in Zeiten der Revolution. Symbolnutzung und politische Konzepte im helvetischen Einheitsstaat (Schweiz 1798 – 1803)

Im Frühjahr 1798 besetzten napoleonische Truppen die heutige Schweiz und etablierten den ersten schweizerischen Einheitsstaat. In den über Jahrhunderte unabhängig gewesenen Kantonen wurden die alten Aristokratien weggefegt.1 An ihre Stelle traten neu die helvetischen Zentralbehörden, allen voran das mit einer großen Machtfülle ausgestattete »Directorium«. Die Verfechter der neuen Ordnung machten sich zum Ziel, die altrechtlich-partikularistisch strukturierten Einzelorte der vormodernen Eidgenossenschaft durch ein modernes, rationales, auf einer Verfassung beruhendes Staatswesen mit einem entsprechenden, hierarchisch aufgebauten und zentral gesteuerten Verwaltungsapparat zu ersetzen. Dieses einschneidende Ereignis stellt nach herkömmlicher Auffassung der Forschung die markanteste Zäsur der gesamten schweizerischen Geschichte dar, den paradigmatischen Umbruch schlechthin, die Epochenwende an sich. Auch wenn diese Sichtweise nach heutigem Wissensstand eine differenziertere Diskussion verdient2 eignet sich die sog. »Helvetik« doch ideal, um Techniken der Legitimation und Kommunikation in Zeiten des Umbruchs nachzuspüren. 1 Der Begriff »Aristokratie« wird in diesem Beitrag in mehrfacher Bedeutung verwendet. Erstens ist er ein in sozialgeschichtlichen Darstellungen zur alten Eidgenossenschaft vielfach verwendeter technischer Begriff und bezeichnet in Verbindung mit dem ebenfalls gebräuchlichen Ausdruck »Aristokratisierung« die geltende oligarchische Herrschaftsordnung in Anlehnung an in den historischen Führungseliten geläufige Selbstbilder und -bezeichnungen, die sich als in Tradition des Alten Roms stehend verstanden. Zweitens meint er die patrizische Oberschicht als solche, die Ehrbarkeit bzw. die Honoratioren, wobei der semantische Akzent auf der kulturellen und mentalen Distinktion dieser Standeselite von gewöhnlich Stadtbürgern und Landleuten aus handwerklich-bäuerlichem Milieu liegt. Drittens taucht »Aristokratie« in Verbindung mit dem Vorwurf der »Oligarchie« als Kampfbegriff in der politischen Quellensprache der Zeit auf. Zur Thematik generell vgl. FranÅois de Capitani: Aristokratisierung, in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch/textes/ d/D16377.php, Version 17. 09. 2001); Daniel Schläppi: Oligarchie, in: ebd. (www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D9919.php, Version 02. 11. 2009); Ders: Patriziat, in: ebd. (www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D16374.php, Version 27. 09. 2010). 2 Vgl. dazu zuletzt Daniel Schläppi (Hg.): Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, Basel 2009. Auf einen ereignisgeschichtlichen Abriss wird

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Bei kritischer, kontrafaktischer Lektüre der vom Revolutionsjargon durchtränkten Verlautbarungsrhetorik des neuen Nationalstaates entpuppt sich das zentralistische Gebilde als leistungsschwach, woraus sich ein besonderer Bedarf an Selbsterklärung und Legitimation ableitet. Diesem Desiderat begegneten die Leitfiguren der Revolution primär, indem sie historisch befrachtete – und bereits in früheren Zeiten umstrittene – Symbole und Geschichtsdeutungen für ihre neuen Zwecke instrumentalisierten oder ihnen andere Sinngehalte aufpfropften. Barbara Stollberg-Rilinger ortet besonderes Erkenntnispotential darin, wenn Strategien und Sachverhalte wie die eben beschriebenen im Kontext von »Konflikten und Brüchen« hinterfragt werden. Dann nämlich lohne die Frage nach »konkurrierenden Deutungen und Geltungsansprüchen, danach, wie und von wem etwa die Rituale jeweils ausgehandelt wurden und welchen Veränderungen sie ausgesetzt waren.«3 Die besagten Friktionen zeigen sich besonders virulent im Licht der Tatsache, dass die Neuerer der Helvetik die neue Freiheit einer Bevölkerung schmackhaft machen mussten, die sich bereits zuvor als frei verstanden hatte, und deren kollektive Erinnerung von einer eigentlichen Freiheitstradition geprägt war, die revolutionäre Befreiung, Widerstandsrecht gegen Fremdherrschaft und politische Selbstbestimmung gleichermaßen einbegriff. Die allgemeine Kenntnis dieser Tradition half den konträren Kräften bei der Untergrabung jeder staatlichen Symbolnutzung. Die Opposition brauchte nur die hergebrachten Symbolgehalte in Erinnerung zu rufen und auf Widersprüche zwischen herrschaftlichem Legitimationsdiskurs und faktischen Verhältnissen hinzuweisen, um die Herrschaftsstruktur zu delegitimieren.4 hier verzichtet. Dazu ist namentlich im Kontext des Jubiläums von 1798 viel geforscht und publiziert worden. Hinweise auf aktuelle und einschlägige Literatur finden sich in der eingangs zitierten Publikation sowie bei Andreas Fankhauser : Helvetische Republik, in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9797.php, Version 04. 01. 2011) und Holger Böning: Revolution in der Schweiz. Das Ende der Alten Eidgenossenschaft, die Helvetische Republik 1798 – 1803, Frankfurt a. M./Bern/New York 1985. 3 Barbara Stollberg-Rilinger : Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 389 – 405, hier S. 399. Daran anschließend bezeichnet Barbara Stollberg-Rilinger : Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: Dies (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung, Beihefte 35), Berlin 2005, S. 9 – 24, hier S. 20, jene Fälle für »erklärungsbedürftig, aber auch für Historiker besonders aufschlussreich […], in denen konkurrierende Deutungen aufeinandertreffen, hegemoniale Zuschreibungen nicht mehr akzeptiert werden und offene Deutungskonflikte ausbrechen«, und genau diese Ausgangslage ist im Fall der Helvetik exemplarisch gegeben. 4 Nach Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte (wie Anm. 3), S. 21, kulminiert jeder Prozess der Delegitimation einer Ordnung darin, »dass das Imaginäre der Herrschaft plötzlich thematisiert und sichtbar gemacht, ihr die Aura der objektiven Faktizität, Notwendigkeit und Naturgegebenheit genommen wird, indem man die beherrschenden Rituale entweiht, die Symbole verbrennt, so dass der König auf einmal nackt erscheint. Solche Umbruchphasen

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Während es sich im vorliegenden Zusammenhang erübrigt, auf den Ereignisverlauf der helvetischen Revolution näher einzugehen, so ist die Legitimationsproblematik des später gescheiterten Einheitsstaates nur nachzuvollziehen, wenn sie vor der Folie der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der alten Eidgenossenschaft, der Schweiz im Ancien R¦gime, gesehen wird.

Die alte Eidgenossenschaft Die alte Eidgenossenschaft war ein föderales Gebilde von 13 unabhängigen Einzelstaaten. Die Politik der einzelnen Orte war geprägt von einer markanten Aristokratisierung. D. h. die Macht konzentrierte sich bei einer dünnen Schicht von Honoratiorenfamilien, die ein patrizisches Selbstverständnis und einen herrschaftlich-kulturellen Habitus pflegte.5 Trotz dieses Trends zur Oligarchisierung tendierten die ständischen Machteliten zu einem – in den Worten von Andreas Suter – »paternalistischen Regiment«,6 um ihre privilegierte Stellung abzusichern. Folgende Eigenschaften charakterisierten diese Regierungsform: 1) Die Staatswesen finanzierten sich ohne fiskalische Abschöpfung, d. h. es wurden keine direkten Steuern erhoben. 2) Als Folge davon wurde auf den Aufbau der für moderne Staaten charakteristischen Institutionen – bürokratische Verwaltung, institutionalisierte Gerichte, stehendes Heer – und großen Repräsentationsaufwand verzichtet. Die Rede ist daher von einem »wohlfeilen Staat«. 3) Über das Instrument der Supplikation standen den Untertanen kurze Wege offen, um ihre Anliegen direkt den höchsten Instanzen im Staat unterbreiten zu können.7 machen die Konstruiertheit der Ordnung auch deshalb so deutlich, weil das Neue seinerseits symbolisch-rituell durchgesetzt, verankert und auf Dauer gestellt werden muss.« Beispiele für diese Dialektik liefern die späteren Kapitel dieses Beitrags. 5 Andr¦ Holenstein: Beschleunigung und Stillstand. Spätes Ancien R¦gime und Helvetik (1712 – 1802/03), in: Georg Kreis (Hg.), Die Geschichte der Schweiz, Basel 2014, S. 310 – 361; in ihrer synthetisierenden Sicht auf die ältere Schweizer Geschichte immer noch wegweisend: Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien R¦gime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen/Zürich 1984; Hans Conrad Peyer : Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978. 6 Andreas Suter: Direkte Demokratie – historische Reflexionen zur aktuellen Debatte, in: Benjamin Adler (Hg.), Die Entstehung der direkten Demokratie. Das Beispiel der Landsgemeinde Schwyz 1780 – 1866, Zürich 2006, S. 217 – 278, hier S. 251 – 254. 7 Bemerkenswerterweise blieb nach Andreas Würgler: Kontinuität und Diskontinuität zwischen Ancien R¦gime und Helvetischer Republik am Beispiel der Bittschriften, in: Schläppi (wie Anm. 2), S. 49 – 64, hier S. 60 f., die Möglichkeit des Supplizierens erhalten, wenn auch die helvetischen Behörden das Bittschriftenwesen zahlreichen Einschränkungen unterwarfen. Vgl. dazu auch das SNF-Forschungsprojekt von Andreas Würgler an der Universität Bern

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4) Ein distributiver Apparat versorgte in Krisenzeiten die Bevölkerungsschichten, die in prekären Verhältnissen lebten.8 5) Die Gemeinden der Territorien und die Untertanengebiete verwalteten sich weitgehend selbst und nutzten zu diesem Zweck ihre Gemeingüter und anderen kollektiven Ressourcen. 6) In den sog. Landsgemeindeorten bestanden demokratische Partizipationsmöglichkeiten in Form direkter Wahlen von Standeshäuptern und Entscheiden über Sachfragen. Außerdem genossen hier die vollberechtigten Landleute teilweise erheblichen materiellen Nutzen vom Staat in Form vielfältiger Geld- und Naturalzuwendungen. Die moderaten Figurationen der Herrschaft trugen dazu bei, dass die Eidgenossen das Gefühl teilten, in Freiheit zu leben. Noch wichtiger war aber die durch historische Fakten genährte Überzeugung, die Eidgenossen verdankten ihre Sonderstellung dem Faktum, dass sie ein von Gott auserwähltes Volk seien. Nur mit dem Willen und der Unterstützung Gottes hätten die ruhmreichen Ahnen in den Anfängen des Staatenbundes ihre Schlachterfolge feiern und sich so aus den feudalen Fesseln herauswinden können, so die allgemeine Überzeugung. In dieser Weise legitimiert, entwickelte die alte Ordnung über Jahrhunderte eine bemerkenswerte herrschaftliche Konstanz und soziale Stabilität. Nach einer überaus kriegerischen Startphase blieb die Eidgenossenschaft später von Kriegen weitgehend verschont.9 Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass sich die Orte der alten Eidgenossenschaft mit grundlegenden Reformen sehr schwer taten. Es brauchte den Einfall und die Besatzung durch französische Truppen, damit die konservativen Figuren innerhalb der politischen Eliten abdankten und unter dem Titel: »Bitten im Wandel. Umbrucherfahrung und Interessenartikulation in der städtischen Gesellschaft Berns 1798 – 1803«. 8 Heidi Bossard-Borner : Im Bann der Revolution. Der Kanton Luzern 1798 – 1831/50, Luzern/Stuttgart 1998, S. 58, weist darauf hin, dass die luzernische Regierung noch im Herbst 1797 zur »Beglückung der eigenen Untertanen« den Salzpreis reduzierte. Einblicke in die staatlichen Finanzflüsse zur Unterstützung des kommunalen Armenwesens bieten Erika Flückiger : Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie. Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert, Zürich 2002 und Daniel Schläppi: Der Lauf der Geschichte der Zunftgesellschaft zu Metzgern seit der Gründung, in: Der volle Zunftbecher. Menschen, Bräuche und Geschichten aus der Zunftgesellschaft zu Metzgern, hg. von der Zunftgesellschaft zu Metzgern Bern, Bern 2006, S. 15 – 199, hier S. 102 – 108. 9 Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 252, hat die alte Eidgenossenschaft als »Inbegriff uneinheitlicher vormoderner Herrschaftsverhältnisse« charakterisiert und eine generelle Unterentwicklung der staatlichen Institutionen konstatiert. Im Widerspruch zu Reinhards Defizitbefund bekamen die eidgenössischen Republiken von ausländischen Beobachtern und Schweizreisenden hervorragende Noten, was allgemeine Wohlfahrt und Milde des Regimentes anging.

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eine neue Politikergeneration das Ruder übernehmen konnte, um eine Staatsorganisation nach reformabsolutistischem Vorbild zu verwirklichen.10 Der Preis dafür waren Krieg und Besatzung, eine schwere Hypothek für die Periode der ersten schweizerischen Einheitsregierung während der Zeit der Helvetik.

Politisches Rezept des Einheitsstaats: Demokratie als Angelegenheit der Eliten Aufgeklärte Köpfe der schweizerischen Politelite hatten im 18. Jahrhundert chronisch über die Rückständigkeit der bestehenden Ordnung lamentiert und einen enormen Reformbedarf beklagt.11 Mit der Unterstützung Frankreichs bekamen sie 1798 die Chance, die Verhältnisse in ihrem Sinn umzugestalten. Ihre Ziele lassen sich so zusammenfassen: 1) Ein nach Vernunftkriterien und Vorbild des Reformabsolutismus aufgebauter Staat. 2) Eine professionelle, effiziente und hierarchisch strukturierte Verwaltung. 3) Vereinheitlichung der Masse, Vereinfachung des Münzwesens und Abschaffung der zuvor bestehenden, vielfältigen Zollschranken. Die treibenden Persönlichkeiten des helvetischen Einheitsstaates stammten durchwegs aus einem elitären, intellektuell geschulten Milieu. Sie waren Anhänger des zeitgenössischen Rationalismus und wollten die Herrschaft der Vernunft auch in der Politik etablieren. Dem ostentativ propagierten Ideal der Gleichheit zum Trotz war ihre Einstellung gegenüber der Bevölkerung höchst herablassend. Die pejorative Einschätzung der einfachen Leute kam sogar in den Debatten der helvetischen Räte zum Ausdruck. Der Zürcher Paul Usteri (1768 – 1831), der in einer Diskussion über eine Verfassungsrevision im Jahre 1800 einen Wahlmodus vorschlug, welcher die Mitsprachemöglichkeiten der Bevölkerung auf ein Minimum reduzieren sollte, war der Überzeugung, das Volk könne die »Fähigkeiten, die Einsichten und Kenntnisse, welche zu höheren Stellen erforderlich« seien, nicht abschätzen, da es »diese Eigenschaften selbst« nicht besitze. Ein Blinder könne »die Güte der Gesichtsorgane des Sehenden« auch nicht 10 Vgl. dazu zuletzt Andr¦ Holenstein: Die Helvetik als reformabsolutistische Republik, in: Schläppi (wie Anm. 2), S. 83 – 104, hier S. 85 – 87, der die »Helvetische Generation« als Elite beschreibt, deren Angehörige in den 1740er bis 1760er Jahren geboren und noch im späten Ancien R¦gime politisch und kulturell sozialisiert worden waren. Die meisten hatten »ganz in der familiären Tradition ihrer Väter und Vorfahren eine klassische politische Karriere im Dienst ihrer Republik eingeschlagen«. Sie teilten das Interesse an der Philosophie Kants, gepaart mit rationalistisch-utilitaristischem Fortschrittsoptimismus. 11 Holenstein (wie Anm. 10), S. 88 – 91.

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beurteilen.12 Der Waadtländer Jules Muret (1759 – 1847) ließ zum gleichen Thema im Senat verlauten, er sei »weit entfernt, vom Volk in einer Weise sprechen zu wollen, die sich mit der Achtung nicht vertrüge«, die er für dieses hege. Aber er frage sich, ob »alle Teile Helvetiens aufgeklärt genug« seien, »um ihren wahren Vorteil einzusehen?« In jeder Gegend fänden sich »Localvorurteile, besondere Interessen und Leidenschaften, die ein geschmeidiger Mann zu nähren« wisse, um politische Posten zu erlangen.13 In der Tat, wie das folgende Beispiel der Ereignisse im Kanton Luzern beweist!

Revolutionsrhetorik zwischen Dichtung und Wahrheit Aufgrund von Berichten aus anderen Gegenden der Eidgenossenschaft befürchteten die Aristokraten der alten Luzerner Obrigkeit im Januar 1798, es könnten bald französische Truppen einfallen und anarchische Zustände ausbrechen.14 Solchen Horrorszenarien vorauseilend und vorbeugend erklärte die Patrizierregierung der Stadt Luzern in einer Proklamation vom 31. Januar 1798 freimütig: »Die aristocratische Regierungsform ist abgeschafft.«15 Dieser Entscheid beruhe auf der Einsicht, »dass die Menschen-Rechte, die wesentlich, unverjährbar und unveräusserlich in der Vernunft der Menschen ihre Grundlagen haben«. Es sei der Zweck jeder Regierung, die »Ausübung eben dieser Rechte« zu sichern. Deshalb müsse künftig »alle Regierung vom Volke ausgehen«. Zu diesem Zweck seien Ausschüsse von frei gewählten Repräsentanten zu bilden, die vom Volk ermächtigt seien »eine neue Regierungsform mit Uns zu berathen und festzusetzen«. Zum 12 Das Zitat von Paul Usteri stammt aus einer Rede als Präsident der Verfassungskommission vor dem helvetischen Senat, gehalten am 15. Januar 1800, zit. n.: Johannes Strickler (Bearb.): Actensammlung aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798 – 1803), Bde 1 – 5, Oktober 1797 bis August 1800, Bern 1886 – 1895, hier Bd. 5, S. 1316 – 1318, hier S. 1317 (im Folgenden zitiert als Actensammlung). Vgl. dazu auch Gottfried Guggenbühl: Bürgermeister Paul Usteri, 1768 – 1831. Ein schweizerischer Staatsmann aus der Zeit der französischen Vorherrschaft und des Frühliberalismus, 2 Bde, Aarau 1924/1931, hier Bd. 1, S. 216. Zur grundsätzlichen Skepsis der politischen Eliten gegenüber der Politikfähigkeit der breiten Bevölkerung vgl. Adolf Gasser : Der Irrweg der Helvetik, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 26 (1947), S. 425 – 455, hier S. 440 f., Anm. 29. Zu Usteri vgl. zuletzt Esther Nünlist: Helvetische Revolution und »Weiber Instinkt«. Der politische Einfluss der Patrizierin Anna Maria Rüttimann, Lizentiatsarbeit Universität Bern 2008. 13 Rede von Jules Muret in der Senatsdebatte über die neu zu errichtende Verfassung vom 3. Februar 1800, Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 5, S. 1352 – 1361, hier S. 1358 f. Zu Muret vgl. DaniÀle Tosato-Rigo: Jules Muret, in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D4801.php, Version 02. 09. 2010). 14 Zum Hergang der angesprochenen Phase im obrigkeitlich verordneten Luzerner »Staatsstreich« vgl. Bossard-Borner (wie Anm. 8), S. 59 – 63. 15 Zit. n.: Philipp Anton von Segesser : Rechtsgeschichte der Stadt und Republik Lucern, 16 Bücher in 4 Bänden (1851 – 1858), Reprint Aalen 1974, hier Bd. III/12, S. 374 f.

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Schutz von »Personen und Eigenthum« und zur Vermeidung von »Verwirrung« und »Unordnung« werde an der »vollziehenden, richterlichen und Policey-Gewalt« der bestehenden Regierung festgehalten, »bis die neue festzusetzende Constitution in ihre volle Ausübung gebracht« werde. Damit hielten sich die Aristokraten vorsorglich im Spiel, komme, was wolle. Bereits am 6. Februar 1798 richtete sich der Luzerner Stadtschreiber Alphons Pfyffer (1753 – 1822) mit seiner Schrift »Was ist eine Volksregierung?« erneut an die »Liebe(n) Bürger und Landleute!«16 Noch waren keine politischen Reformen vollzogen. Die alten Eliten saßen ja noch immer an der Macht und kontrollierten die maßgebenden Institutionen. Pfyffer stellte die rhetorische Frage: »Was gewinnt ihr, wenn ihr, wie es euch euere gütige(n) Obern in ihrem landesväterlichen Ruf versprechen, eine neue Volksregierung bekommen werdet?« und gab sich die Antwort gleich selber : »O, ihr gewinnt viele und herrliche Sachen! Freuet, freuet euch, und höret mich wohl an.« Nach fünf Absätzen mit Erklärungen, wie künftig Amtsträger und Regierungen zu wählen seien, kam Pfyffer schließlich zum Wesentlichen und stellte wahre Wunder in Aussicht: »Liebe Bürger und Landleute, wie glücklich werdet ihr sein! Wer arm ist, wird Arbeit finden; wer nicht mehr arbeiten kann, wird sein Brod haben, wird nicht mehr von Haus zu Haus betteln gehen müssen; Kinder armer Eltern werden zu tüchtigen Arbeitern erzogen werden. Denn die neue Volksregierung wird es eine ihrer ersten Sorgen sein lassen, die Armenanstalten, die sehr schlecht und unzweckmässig sind, zu verbessern. […] O wie glücklich werdet ihr sein! Ich freue mich zum voraus und innig, wenn ich euere künftige Wohlfahrt wie in einem schönen Gemäld vor mir sehe.«

Die politische Realität der Helvetik sah dann aber weniger rosig aus als im »schönen Gmäld« Pfyffers. 1) Der helvetische Staat litt unter chronischer Finanznot und war entsprechend leistungsschwach.17 Die Verwaltung versuchte zwar ein Steuersystem zu etablieren. Dieses war aber höchst ungerecht, denn es bevorzugte die vermögenden Schichten. 2) Der angestrebte Aufbau eines stehenden Heeres brachte dem einzelnen Bürger zusätzliche Lasten und keinen Nutzen, denn die Last der französischen Belagerung und immer neuer Kriegskontributionen hielt an. Dennoch 16 Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 371 f. Zu Pfyffer vgl. Markus Lischer: Alphons Pfyffer (von Heidegg), in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D13350.php, Version 05. 08. 2009). 17 Nach Andreas Fankhauser : Die »Staats=Machine« der Helvetischen Republik. Institutionelle und personelle Kontinuität innerhalb eines revolutionären Verwaltungsapparats, in: Schläppi (wie Anm. 2), S. 65 – 82, hier S. 82, wäre die Helvetische Republik ohne »Rückgriff auf die Strukturen und Institutionen des Ancien R¦gime […] vermutlich bereits vor 1802 zusammengebrochen. Die enge Verbindung von revolutionären und schweizerischen Einrichtungen machte wahrscheinlich den Umbruch für viele Zeitgenossen erträglicher.«

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war die öffentliche Sicherheit nicht garantiert, und die politischen Verhältnisse blieben instabil. Es kam zu mehreren Regierungsputschen und wiederholten Gewaltausbrüchen. Der zentralistische, dirigistische und autoritäre Verwaltungsapparat beschnitt die kommunale Autonomie und machte den Zentralstaat selbst an der Peripherie negativ spürbar. Die »reine Demokratie«, unter diesem Begriff verstand man die Landsgemeindedemokratie, wurde von Befürwortern der Helvetik massiv bekämpft. Damit stießen sie bei jenen Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung, die mit dieser politischen Organisationsform positive Erfahrungen verbanden. Entsprechend vehement war der Widerstand dieser Gruppen gegen die Abschaffung ihrer demokratischen Institutionen und Rituale. Als besonders nachteilig empfunden wurde zudem die Beschränkung der lokalen Selbstverwaltung. Das alternativ dazu propagierte Modell der repräsentativen Demokratie mit zentralistischer Steuerung enttäuschte selbst die Anhänger der Helvetik. Restriktive Wahlmodalitäten boten nur noch indirekte Partizipationsmöglichkeiten, durften doch bloß Wahlmänner nicht aber die eigentlichen Repräsentanten gewählt werden. Konkrete Reformprojekte (Vereinheitlichung des Währungssystems, der Maße, Schulwesen etc.) kamen nur schleppend voran oder scheiterten. Der herrschaftsbewusste Zentralstaat war angesichts von Armut und Kriegselend machtlos. Im Gegenteil: Auf dem Höhepunkt der Krise führte die Helvetik die alten Feudalabgaben wieder ein, um ihrer Finanzmisere Herr zu werden.18

Die Kluft zwischen den in der Startphase des Umbruchs verlautbarten Proklamationen und den im Verlauf der Umgestaltung des politischen Systems ein18 Besonders pointierte Hinweise auf die Unzulänglichkeiten der Helvetischen Republik finden sich bei Gasser (wie Anm. 12), S. 430 f. Nach Thomas Maissen: Der Freiheitshut. Ikonographische Annäherung an das republikanische Freiheitsverständnis in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: Georg Schmidt/Martin van Gelderen/Christopher Snigula (Hg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400 – 1850), Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 133 – 144, hier S. 143, trauerten selbst viele frühere Untertanen »nach 1798 dem ›laisser faire‹ des schweizerischen Ancien R¦gime nach, das keine Steuern erhoben, lokale Eigenheiten und Selbstverwaltung geduldet, keine Kriege geführt und keine fremden Soldaten in das Land gelassen hat. Gerade im Rückblick erscheint dieser schwache Staatenbund als die ungleich gemütlichere Variante, wenn man ihn dem modernen, zentralisierenden und konfrontativen Nationalstaat gegenüberstellt. Dieser verkündet zwar gleiche Bürger- und Menschenrechte für alle, ist aber immer auf der Suche nach neuen Abgaben für seine rasch wachsende Administration, unterhält die französischen Besatzer und kann die Bürger weder vor Seuchen noch vor Verelendung oder durchziehenden Truppen schützen.«

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getretenen Verhältnissen lässt die Legitimationsdefizite erahnen, welche die Helvetik während der gesamten Dauer ihres Bestehens belasteten. Bereits der erste Verfassungsentwurf von Peter Ochs (1752 – 1821) stieß in weiten Teilen der Eidgenossenschaft auf großen Unwillen.19 Die immanenten Widersprüche zwischen Theorie und Praxis ernteten Kritik und Häme wachsamer Zeitgenossen, was stellvertretend anhand eines Kommentars gezeigt werden kann, den der Rheintaler Landammann Karl Heinrich Gschwend (1736 – 1809) dem Urheber des Verfassungstextes übermittelte:20 »Die democratischen Kantone sind seit Jahrhunderten gewohnt, alle Staatsämter unter freiem Himmel, mit freier Hand zu vergeben, und diese Weise und Art der Regierung haben die neue(n) und freigelassene(n) Cantone Toggenburg, St. Gallen, alte Landschaft, Rheinthal, Sargans etc. auch schon adoptirt und Landammann und Rath gewählt. Dieser Landammann und Rath, den das Volk alle Jahre bestätet oder absetzet, je nachdem es mit ihnen zufrieden oder unzufrieden ist, ist schon eine repräsentative Republik des Volkes. Diese Wahlen dem Volk nehmen und sie von der Wahl ihrer höchsten Obrigkeiten ausschliessen wollen, muss Gährung und innerlichen Krieg, wo nicht Mord und Tod verursachen.«

Der neue Staat komme viel zu teuer, so Gschwend weiter. Einen anderen als den alten, wohlfeilen Staat könne man sich gar nicht leisten. Gschwend zufolge sei eine »so kostbare Regierung in unseren Cantonen« so undenkbar wie »die Einführung eines Alleinherrschers«. Und werde sie mit Gewalt eingeführt, so stehe »unserm Volke nichts anderes bevor als Auswanderung aus Mangel der Nahrung oder Tod«. Steuern habe es früher nie gegeben. Warum denn jetzt die »allerfeinste und allerkostbarste Aristokratie« eingeführt werde. Warum Ochs »ein Mittelding zwischen temperirtem Königthum und der allerausgesuchtesten Aristokratie« vorschlage? Freie Leute würden sich nie unter dieses Joch beugen. Und wenn »tödtende Garnisonen« die Länder belagerten, würde die Verfassung nicht angenommen und die Truppen »nach und nach massacrirt« werden, weil die Bevölkerung sie nicht unterhalten könne und ihren »Freiheitssinn nie vergessen würde«. Wenn die ganze Macht auf fünf Direktoriumsmitglieder konzentriert werde, seien »innerlicher Krieg, Mord und Tod und alles Unglück, das man sich denken« könne, unausweichlich. Die neuen Institutionen machten »aus einem biederen, edlen, patriotischen Volk ein Sklavengesindel«, und es 19 Zu Ochs vgl. Peter F. Kopp: Peter Ochs, in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D11674.php, Version 20. 08. 2009). 20 Die folgenden Zitate nach: Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 530 – 532. Nach Holenstein (wie Anm. 10), S. 100, Anm. 39, haben »aufmerksame und politisch erfahrene Leser der Helvetischen Verfassung« beispielsweise den Bruch des helvetischen Staates mit der Tradition des haushälterisch-billigen Staates erkannt und »geradezu hellseherisch« auf die »problematischen Folgen des Steuerstaates für die Legitimation und Akzeptanz der Helvetischen Republik hingewiesen«.

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werde »viel Bürgerblut« kosten, bis die Konstitution eingeführt wäre. Die Schweiz sei schon »ganz democratisirt; lasse man ihr also ihre Volksverfassung, und wenn eine Reform nöthig ist, so mache man selbe einfach und so, dass sie die Rechte des Volkes am mindesten kränket und den Volksrechten am besten angemessen ist«.

Gschwend lag mit seinen düsteren Prognosen in jeder Hinsicht richtig.21 Seine Analyse macht deutlich, dass die Helvetik im direkten Vergleich mit dem »Staat« des Ancien R¦gime schlecht abschnitt, und dies selbst in ehemaligen eidgenössischen Untertanengebieten – einem solchen stand Gschwend als Landammann selber vor. Entsprechend schleppend gestaltete sich die Verfassungsgebung. Schließlich ging die französische Besatzungsmacht dazu über, »die künftige Ordnung der Schweiz in diktatorischer Form zu bestimmen und die Einführung der in Paris konzipierten helvetischen Verfassung zu erzwingen«.22 So erging am 26. März 1798 ein Ultimatum, demzufolge die Nationalversammlung innerhalb von fünf Tagen über die neue Verfassung abstimmen musste.23 Einen Tag später waren die Delegierten zu wählen, wobei Angehörige der bisherigen Regierungen bei Drohung mit militärischer Besetzung für ein Jahr von allen öffentlichen Ämtern sowie von der Wahl ausgeschlossen waren. Wenn auch die Debatten der gesetzgebenden Räte der Helvetischen Republik (Senat und Großer Rat) den Eindruck erwecken, dass viele Politiker lange nicht erkennen wollten, wie schnell der neue Staat selbst bei seinen Anhängern erster Stunde an Zustimmung verlieren könnte, war der Legitimationsnotstand eklatant. Die prohelvetische Propaganda kam nicht darum herum, neue ideologische Felder zu besetzen. Nach Lynn Hunt stellen Legitimationsdiskurse hergebrachte »Herrschaftssymbole in Frage« und müssen »neue politische Symbole erfinden«, um den Idealen und Prinzipien der neuen Ordnung Ausdruck zu verlei-

21 Geradezu visionär prophezeite Gschwend, wie die kollektive Rückerinnerung die Führerfiguren der Helvetik dereinst sehen würde: »Herr Präsident, wenn Sie ein guter redlicher Bürger, Schweizer, Patriot sind, so helfen Sie nicht dazu, dass uns Ihre Consitution aufgebürdet werde. Adoptiren Sie ein System das simpel, den Rechten des Volkes und der Cantone nicht zuwider ist; dann werden Sie Ehre und Dank einernten; sonst aber trifft Sie, Ihre Kinder und Kindeskinder der Nationalfluch und die allgemeine Verwünschung«, Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 532. Zu Gschwend vgl. Werner Vogler : Karl Heinrich Gschwend, in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D5359.php, Version 30. 01. 2006). 22 Bossard-Borner (wie Anm. 8), S. 66, 68 f. 23 Holenstein (wie Anm. 10), S. 92 f., sieht in der helvetischen Verfassung den »Versuch«, das Land »in einem Parforceakt zu modernisieren und es auf das Entwicklungsniveau zu hieven, das moderne Staaten der Zeit bereits auszeichnete.« Insofern ist die Verfassung »als Ausdruck eines bestimmten Reform- und Modernisierungsprogramms« zu lesen. Statt direktdemokratischer Partizipation favorisierte sie das Prinzip der repräsentativen Demokratie.

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hen.24 Weil der verordnete Einheitsstaat einer Bevölkerung Freiheit bringen wollte, die sich vielerorts schon frei fühlte, die neue Ordnung als Grund für lokalen Autonomieverlust wahrnahm und unter der Last fremder Truppen und Kriegshandlungen litt, betrieben auch die Helvetiker eine aktive Symbolpolitik. Allerdings taten sie dies weniger durch die Schaffung neuer Symbole. Vielmehr griffen sie auf Hergebrachtes zurück und handelten sich damit einen Haufen neuer Probleme ein,25 wie in den nächsten Kapiteln gezeigt wird.

Legitimation über Archetypen der Schweizer Geschichte – Tell und die Alten Eidgenossen Als Inkunabel der schweizerischen Freiheitsgeschichte gilt unbestritten Wilhelm Tell.26 Obwohl historisch nicht nachweisbar, wurde er dank seines legendären Nimbus als wehrhafter Widerstandskämpfer und Tyrannenmörder neben den Alpen im 18. Jahrhundert zum Schweizer Exportschlager im Feld des Symbolischen. Die französische Revolution stilisierte Tell zum Revolutionshelden. Bei den Jakobinern genoss er neben Brutus gleichsam kultische Verehrung.27 Wollten sich die Vordenker des helvetischen Einheitsstaates aber auf diesen in Frankreich als Symbolfigur des furcht- und kompromisslosen Revolutionärs geadelten Tell beziehen, betraten sie damit gefährliches Terrain. Namentlich die gegenüber der Helvetik kritisch eingestellten Regionen der Innerschweiz reagierten sensibel auf die symbolische Neubesetzung ihrer Identifikationsfigur in Sachen Freiheit. Ein homogenes oder sogar uniformes Tellverständnis darf für antirevolutionäre Gruppen zwar nicht unterstellt werden, aber allgemeine 24 Lynn Avery Hunt: Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a. M. 1989, S. 72. 25 Für Guy P. Marchal: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006, S. 84 f., litt die Helvetik »unter einem dauernden Legitimationszwang. Gerade weil sie auf fremden Bajonetten beruhte, suchte sie diese Legitimation im Rückgriff auf die eidgenössische Geschichte.« 26 Wo sich die folgenden Ausführungen auf die helvetische Bildpropaganda beziehen, profitieren sie von einer 2007 vom Autor betreuten studentischen Arbeit. Vgl. Bettina Scharrer : Schlaglichter auf die Bildpublizisitik der Helvetik. Wahrnehmung und bildliche Verarbeitung einzelner Ereignisse sowie Selbstdarstellung der neuen Ordnung, Proseminararbeit Universität Bern 2007. Eine umfassende Sammlung an Bildquellen aus der Helvetik ist dokumentiert in: Bernisches Historisches Museum (Hg.): Zwischen Entsetzen und Frohlocken. Vom Ancien R¦gime zum Bundesstaat, 1798 – 1848. Ein Museum vermittelt Zeugen und Überreste dieser bewegten Zeit, Ausstellung und Katalog: Martin Illi u. a., Katalogredaktion Karl Zimmermann u. a., Zürich 1998. 27 Scharrer (wie Anm. 26), S. 10. Vgl. Ricco Labhardt: Willhelm Tell als Patriot und Revolutionär 1700 – 1800. Wandlungen der Telltradition im Zeitalter des Absolutismus und der Französischen Revolution, Basel 1947.

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Kenntnis der Telllegende und ein Wissen um die darin propagierte antiobrigkeitliche Einstellung ist quer durch alle Schichten vorauszusetzen. Man verstand allgemein, dass offene Rebellion zu befürchten war, wenn sich oppositionelle Kreise auf Tell bezogen.28 Auf diese problematische Ambivalenz hatte Hans Conrad Escher (1767 – 1823), ein weitsichtiger Politiker seiner Zeit, in den Ratsdebatten über die Wahl des Emblems für die neue Republik mit Recht hingewiesen. Für ihn eignete sich Tell nicht als »Symbol einer gesetzlichen, auf reine Rechtsgrundsätze gestützten Staatsverfassung«.29 Dennoch zierte der Tyrannenmörder schließlich das Staatssiegel, allerdings seiner rebellischen und systemkritischen Qualitäten und Attribute beraubt.30 Als Staatssignet wurde er nicht mehr mit gespannter Armbrust beim Apfelschuss oder beim Attentat auf Gessler dargestellt. Neu zeichnete man den Rebellen als liebevollen Vater, der nach seinem Kunstschuss gerührt den heil gebliebenen Sohn in die Arme nimmt. Als Familienvater sollte er wohl auch die patriotische, paternalistische Fürsorge des Staates verkörpern – ein sinnhafter Bezug zum positiv erinnerten paternalistischen Selbstverständnis der alten Staatsordnung? Die Armbrust, das Insignum des Widerstandes gegen die Knechtschaft fremder Vögte, wird in Zeiten direktorial verordneter Freiheit nicht mehr benötigt und steht angelehnt an ein junges Bäumchen. Tell trägt zwar noch ein Schwert, dieses steht aber nicht für die Gewalt, sondern versinnbildlicht die ehrenhafte Mannbarkeit, die im Ancien R¦gime und – zumindest im Programm der Helvetik – als Bedingung politischer Partizipation galt.31 Analoge Logos schmückten das Briefpapier der Zentralbehörden oder die Vierfranken Münze der später gescheiterten Einheitswährung.32

28 Fabian Brändle: Demokratie und Charisma. Fünf Landsgemeindekonflikte im 18. Jahrhundert, Zürich 2005, S. 84 – 86, 92, 105 f., weist nach, dass Widerstandsbewegungen in der alten Eidgenossenschaft ihre Obrigkeitskritik gerne mit Tell rechtfertigten. Zur Rezeption der Tellsymbolik durch plebejische Unterschichten vgl. Rolf Graber : Zeit des Teilens. Volksbewegungen und Volksunruhen auf der Zürcher Landschaft 1794 – 1804, Zürich 2003, S. 175 f., 182 – 184. 29 Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 1087. Zu Escher vgl. Veronika Feller-Vest: Hans Conrad Escher (von der Linth), in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch/ textes/d/D17922.php, Version 10. 02. 2010). 30 Als originaler Messingstempel mit der Inschrift »Vollziehungs Directorium Helvetien« abgebildet in: Bernisches Historisches Museum (wie Anm. 26), S. 91 (Solothurn 1798, Bernisches Historisches Museum, Inv. 1204.32). 31 Dieses Bildprogramm schloss unmittelbar an die historische Programmatik der reformerisch gesinnten »Helvetischen Gesellschaft« an, die im 18. Jahrhundert das wichtigste Sammelbecken von Vertretern der aufgeklärten Eliten der Eidgenossenschaft war. Zur Freiheitsemphase der Helvetischen Gesellschaft vgl. auch Maissen (wie Anm. 18), S. 140 und Marchal (wie Anm. 25), S. 85. 32 Vgl. auch die helvetische Trikolore, die manchmal in Verbindung mit der Parole »Freiheit, Gleichheit« vom gleichen Sujet (Tell mit Sohn und Apfel) geziert wird. Ein Beispiel ist

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Als hätte es Escher vorausgesehen, tauchten zahlreiche Illustrationen auf, die sich in die Tradition früherer Widerstandsbewegungen einordnen lassen und die ideologische Ikone des helvetischen Bildprogramms wirkungsvoll konterkarierten. So ist etwa ein Werk von Balthasar Albert Dunker (1746 – 1807) überliefert, das Tell als Kämpfer gegen die französische Fremdherrschaft darstellt.33 Die gleißende Sonne im Rücken, treten Tell und sein Sohn mutig aus einer dunklen Wolke hervor und überwältigen einzig durch die magische Kraft ihres Schildes ein gefährliches Monster. Diese Drachenkreatur – eine Mischung aus Hahn (stellvertretend für Frankreich), Hund und Esel mit Drachenschwanz und Flügel – liegt rücklings auf dem Boden. Auf Tells Schild sind die drei Eidgenossen beim Rütlischwur zu erkennen. Das Bild spielt auf die Einigkeit und Kraft der Vorfahren an. Hinter Tell und Sohn reißen die Sonnenstrahlen die dunklen Wolken auf und vermitteln so Hoffnung, Wahrheit und Erleuchtung, die durch Tell gebracht werden. Dunkers Bilder persiflierten stilistisch die Bildpublizistik der Französischen Revolution. Während die Hydra dort für Despotismus und die verhasste Aristokratie stand, steht das vielköpfige Ungeheuer bei Dunker für die Revolution.34 Problematisch an Tell war also, dass die Tellensage den aktiven Widerstand gegen despotische Herrschaft rechtfertigte. Die offizielle Revolutionsrhetorik der helvetischen Behörden trug diesem Sachverhalt insofern Rechnung, als sie abgebildet in: Schläppi (wie Anm. 2), Umschlagillustration (1798, Nidwaldner Museum Stans). 33 Abgebildet in: Walter Dettwiler : Von linken Teufeln und heuchlerischen Pfaffen. Der Weg zur modernen Schweiz im Spiegel der Karikatur (1798 – 1848). Der Schweizerische Beobachter, Zürich 1998 (1798, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Inv. 20965). Zu Dunker vgl. Philippe Kaenel: Balthasar Anton Dunker, in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D22010.php, Version 21. 07. 2004). 34 Nach Scharrer (wie Anm. 26), S. 18, litt der konservativ eingestellte Dunker aufgrund der Verhältnisse nach der Französischen Revolution unter akuter finanzieller Not, da sich seine Auftragssituation verschlechterte. Er starb schließlich verarmt. Darüber, dass sich Tell zu Legitimationszwecken nie zum stubenreinen Vorzeigebürger wird machen lassen, hat zuletzt Georg Kreisler : Letzte Lieder, Zürich, Hamburg 2009, S. 70 – 73, Zitate S. 70 f., nachgedacht. Gewohnt scharfsinnig hält Kreisler fest, dass die »heutigen Wirtschaftsdiktatoren« im Umgang mit Systemkritik klüger seien als beispielsweise der Nationalsozialismus, denn »sie verbieten nicht, sondern lassen verharmlosen. Das heißt, sie bestellen Theatermacher, die ihnen zu Diensten sind, subventionieren sie, geben ihnen ein bisschen Macht, und schon sind sie korrumpierbar. Nun nützen sie ihre Macht, um kritisches Theater, das das Missfallen ihrer Subventionsgeber verursachen könnte, zu vermeiden.« Diesen Sachverhalt belegen für ihn Aussagen von an deutschen Bühnen tätigen Schweizer Theatermachern über Schillers Tell. Die befragten Kulturschaffenden sind sich darin einig, dass Figur und Stück für das moderne Theater überhaupt keine Bedeutung mehr haben und sehen in Tell einen negativen Charaktertypus verkörpert. Kreisler hält dies für »arrogant und überheblich«, weil man sich »einem Theaterstück, das zweihundert Jahre lang Millionen von Menschen begeistert hat, nur mit Demut nähern kann«. Die Magie der Figur Tell und der systemsprengende Impetus des Stoffs sind in der Tat nicht epochengebunden.

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weniger auf Tell als vielmehr auf die Alten Eidgenossen, die idealisierten Archetypen tugend- und wehrhafter, biederer Bergbewohner, rekurrierte. In diesem Sinn erinnerte die zur Vereidigung der helvetischen Räte am 14. Juli 1798 verfasste Festrede »an den Eid, den einst Stauffacher, Melchthal und Fürst in der ernsten Bundesnacht unter freiem Himmel am Ufer des Waldstätter Sees [angespielt wird auf den bekannten Rütlischwur] dem Vaterland schwuren und dann mit kraftvollen Thaten, mit unerschütterlicher Standhaftigkeit besiegelten. Die Schweiz wurde frei, und die Burgen und Tyrannen fielen, weil ein muthvolles Volk frei sein wollte. Wir werden es auch sein, wenn wir wie unsere Väter ernst und bieder nur unsere Pflicht und des Vaterlands Glück im Herzen tragen; wenn wir, genügsam wie sie, reine Einfalt der Sitten, Ehrfurcht für die Tugend und Gehorsam gegen die Gesetze für unsre Ehre und unsre heiligste Pflicht halten.«35

Im Oktober 1798 pilgerten die in Luzern tagenden gesetzgebenden Räte eigens aufs Rütli, der »ersten Geburtsstätte der helvetischen Freiheit«, um den Altvorderen die Referenz zu erweisen. Doch der Topos des Alten Eidgenossen richtete sich nicht nur an die politischen Eliten. Vielmehr sollte auch die einfache Bevölkerung über den Appell an folgende alte Tugenden ins politische System eingebunden werden: »1. Die alte Schweizertapferkeit, 2. die Redlichkeit unserer entschlossenen Vorväter, 3. die glückliche Eintracht, 4. die schöne Tugend des wahren Patriotismus«.36 Tugenden wie Ehrfurcht vor der Religion, edle Bescheidenheit, Uneigennützigkeit und Eintracht sollten den jungen Staat vor umstürzlerischen Umtrieben bewahren. Auch verordnete das Direktorium die formelle Vereidigung aller helvetischen Bürger und nahm damit eigentlich den hergebrachten Usus der Schwörtage wieder auf. Die aus Anlass dieses Vereidigungsrituals zu haltende Festrede verbrämte aber den herrschaftlichen Impetus der Eidleistung und setzte 35 Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 545. 36 Insgesamt schreibt Pfarrer Johann Heinrich Müller den ehrenvollen Ahnen ein Dutzend Tugenden zu, die er als »Verlohrne Sachen« bezeichnet. Die zitierte Passage wurde gedruckt in: Der Thurgäuische Erinnerer, September 1799, S. 48, zit. n.: Daniel Frei: Das Schweizerische Nationalbewusstsein. Seine Förderung nach dem Zusammenbruch der Alten Eidgenossenschaft 1798, Zürich 1964, S. 64. Marchal (wie Anm. 25), S. 13, und zuletzt Andr¦ Holenstein: Heldensieg und Sündenfall. Der Sieg über Karl den Kühnen in der kollektiven Erinnerung der Eidgenossen, in: Klaus Oschema/Rainer C. Schwinges (Hg.), Karl der Kühne von Burgund. Fürst zwischen europäischem Adel und der Eidgenossenschaft, Zürich 2010, S. 327 – 342, weisen darauf hin, dass der Idealtypus des Alten Eidgenossen namentlich in Phasen starker gesellschaftlicher und politischer Transformationen unter politischen Gegnern immer wieder kontrovers diskutiert und mit passendem Bedeutungsgehalt aufgeladen und ideologisch instrumentalisiert wurde. Vgl. dazu auch Franz Bächtiger : Erörterungen zum »Alten und Jungen Eidgenossen«, in: Jahrbuch des Historischen Museums in Bern 49/50 (1969/70), S. 35 – 70; Daniel Guggisberg: Das Bild der »Alten Eidgenossen« in Flugschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts (1531 – 1712), Bern u. a. 2000.

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an seine Stelle die verklärte Vorstellung, der Schwur sei ein Akt der Ahnenverehrung, ein Bekenntnis zu einer historischen Mission: »Auch unsere Väter hatten einen langen mühsamen Kampf, als sie die Fesseln der Knechtschaft abwarfen und frei sein wollten, aber sie waren stark und geduldig und glaubten an sich selbst und vollführten wie Helden, was sie sich vorgenommen hatten. – Der Freiheitseid, den die drei Väter des Vaterlandes im Rütli schwuren, hatte grosse Folgen; der Eid, den wir heute schwören, verspricht uns grössere und wichtigere […]. Die Verfassung, die wir heute beschwören, vollendet das Werk, das unsere Väter angefangen hatten. […] Hört ihr ihn [den Schwur], ihr Berge und Thäler, wo einst die Helden, unsre Väter wohnten? Hört ihrs, ihr Denkmäler ihres Ruhms, majestätische Gebirge?«37

Freiheit und Gleichheit in Allegorie und Ritual Noch weniger verfänglich als der Rekurs auf die Alten Eidgenossen als Archetypen des kollektiven Bewusstseins waren für das vielfach angefeindete Regime allegorische Darstellungen. Zudem ließen sich über die Bildpublizistik die legitimatorischen Intentionen allen Bevölkerungsschichten, auch den weniger Gebildeten und Analphabeten, verständlich machen. Je nach Machart schürten Bilder bei den Massen unter Umständen auch negative Emotionen. Dass die Marke »Tell« vor diesem Hintergrund als Symbol für die helvetische Revolution nur teilweise taugte, wurde bereits gezeigt. Aber man würde annehmen, dass es mit der abstrakten Kategorie »Freiheit«, die sich die Revolution seit Anbeginn auf die Fahnen geschrieben hatte, einfacher gewesen sein sollte. In der Tat taucht auch die Allegorie der »Libert¦« in zahlreichen Formen auf. Auf einer anonymen allegorischen Darstellung wird die »Libert¦« von Tell begrüßt und bekommt von seinem Sohn als Willkommensgeschenk einen Apfel überreicht.38 In der linken Hand hält sie eine Stange, auf der ein Jakobinerhut, ein »bonnet rouge«, sitzt, der als Sinnbild der republikanischen Verfassung gilt und auf vielen französischen Grafiken abgebildet ist. Im Hintergrund marschiert die vielköpfige französische Armee auf, wodurch der direkte Bezug zur historischen Kriegsrealität hergestellt wird. Das Bild erklärt die untrennbare Verbindung von Krieg und Freiheit. Die Allegorie im Vordergrund veranschaulicht, dass der 37 Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 782. Auch Alphons Pfyffer beschwor die Bevölkerung in seiner eingangs zitierten Rede unter Bezugnahme auf das Ideal des biederen Schweizers: »Aber bleibet ruhig; erwartet froh die neue Volksregierung. Unterdessen wollen wir alle einig, alle biedere Schweizer sein und bleiben«. Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 372. 38 Abgebildet in: Bruno Meier/Dominik Sauerländer/Hans Rudolf Stauffacher/Andreas Stegmeier: Revolution im Aargau. Umsturz, Aufbruch, Widerstand 1798 – 1803, Aarau 1997, S. 25 (Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Inv. 39483).

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Krieg den Eidgenossen die Freiheit bringt und rechtfertigt so Gewalt als Mittel zu höherem Zweck. Indem Tell die »Libert¦« förmlich empfängt und begrüßt, bringt er sein Einverständnis mit den dargestellten Geschehnissen zum Ausdruck. Eine Louis Midart (1733 – 1800) zugeschriebene kolorierte Radierung zeigt »Le R¦veil du Suisse« (Das Erwachen des Schweizers) und geht bezüglich semiotischer Anspielungen noch weiter.39 Vor der aufgehenden Sonne positioniert – als Metapher auf Aufklärung und Vernunft – kräht der gallische Hahn und weckt einen schlafenden Schweizer. Einer dunklen Wolke – steht sie für das finstere Ancien R¦gime? – entschwebt gleich einem Engel die Freiheit in Gestalt eines weiblichen Genius und überreicht dem Schweizer zwei Geschenke: Erstens den helvetischen Freiheitshut, geschmückt mit grün-rot-gelben Federn, den neuen Farben der helvetischen Trikolore.40 Zweitens eine neue Waffe. Die alten Waffen sind nicht mehr zu gebrauchen und liegen wertlos am Boden. Eine Maus knabbert an der Sehne einer Armbrust. Die »Libert¦« kommt eindeutig aus Frankreich, was die rot-weiß-blaue Trikolore verdeutlicht, die ihr um die Hüften gebundenes Tuch säumt. Die alten Waffen sind zwar wertlos geworden. Gleichzeitig spielen jedoch die an der Eiche hinter dem Schweizer hängenden Trophäen wie auch die zu Füßen des Schweizers liegenden Fahnen auf die glorreiche, tugendhafte Vergangenheit der Vorfahren an. Doch auch die legitimatorische Nutzung harmloser bzw. schmeichelhafter Anspielungen auf die Wehrhaftigkeit und Einigkeit der alten Eidgenossen blieb nicht unwidersprochen. Einerseits verteidigten die Anhänger der »reinen Demokratie«, der Landsgemeindedemokratie, die ihr System dem Repräsentativmodell unter dem Kriterium der Gleichheit weit überlegen wähnten, ihre Vor39 Abgebildet in: Bernisches Historisches Museum (wie Anm. 26), S. 97 (Solothurn 1798, Bernisches Historisches Museum, Inv. 56346). Zu Midart vgl. Tapan Bhattacharya: Lorenz Ludwig Midart, in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D22529.php, Version 13. 01. 2011). 40 Nach Maissen (wie Anm. 18), S. 133, 140 – 142, hatte man den Freiheitshut spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Hut des Wilhelm Tell wahrzunehmen und zu verehren begonnen. »Wer unabhängig war, der konnte – wie Tell dies tat – den Hut aufbehalten.« Den Hut nicht ziehen zu müssen, galt als Zeichen der Gleichheit. Bemerkenswert ist, dass selbst ehemalige eidgenössische Untertanen in der Helvetik die schweizerische Tradition des Freiheitshutes für ihre Belange aufgriffen. So schlugen sich die italienischsprachigen Tessiner 1798 mehrheitlich nicht zur Cisalpinischen Republik, sondern verstanden den Freiheitshut als »segno di voler essere sempre svizzero«, als Zeichen dafür, immer Schweizer bleiben zu wollen. Tessiner und andere ehemalige Untertanen kämpften in den Bürgerkriegen der folgenden Jahre auf Seite ihrer früheren Beherrscher gegen die Helvetische Republik. Es liegt auf der Hand, dass es zu Friktionen kommen musste, wenn der Freiheitshut im Symbolprogramm der Helvetik »historische Kontinuität zwischen den an sich gegensätzlichen Verfassungen vor und nach 1798 vorspiegeln« sollte.

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stellung von Freiheit vehement. Gleichzeitig entstand ein oppositionelles Bildprogramm, das sich desselben Figurenarsenals bediente. Die Darstellung der Helvetischen Republik in der Drachenhöhle stammt vom bereits erwähnten Balthasar Dunker und zeigt seine Sicht der Entstehung des Einheitsstaates.41 In der mit der klassischen Inschrift »(Iliacos) intra muros peccatur et extra« (Gesündigt wird innerhalb und außerhalb der Mauern von Troja) überschriebenen Grisaille-Pinselzeichnung steht ein riesiger feuerspeiender Drache für die Revolution. Er wird von Peter Ochs geritten – zur Erinnerung: Ochs gilt als Urheber der ersten helvetischen Verfassung. Der Reiter flüstert dem Drachen eindringlich ins Ohr, scheint das Monster aber zu keiner Reaktion bewegen zu können. Dieses Detail spielt auf das Zustandekommen der Verfassung der Helvetischen Republik an. Ochs ursprünglicher Entwurf war in Paris im Sinn Frankreichs erheblich modifiziert worden. Der Drache speit Feuer auf die Verfassung, die mit Freiheitshut, Winkelmaß und Senkblei gekennzeichnet ist. Die Insignien der Gleichheit werden kontrastiert von den Bauteilen einer zerbrochenen Waage und einem Schwert – dies die traditionellen Symbole der Gerechtigkeit – zu Füßen des Drachens, was die Fragwürdigkeit der verordneten Freiheit und Gleichheit zum Ausdruck bringt. Am rechten Bildrand sind Volksvertreter abgebildet. Jämmerliche Figuren, entweder mit flehend erhobenen Händen oder dann gerade ihre Notdurft verrichtend. Auf diesem Bild wird die »Libert¦« mit Stab und Freiheitshut zur dekorativen Staffage, das höchste Prinzip der Revolution zum Gegenstand bösartiger Persiflage. Als besonders zwiespältig entpuppte sich ein Ritual, das über kollektive Praktiken idealiter politische Legitimation und Konsens etablieren sollte: das Errichten von Freiheitsbäumen.42 Freiheitsbäume wurden von Frankreich in der Startphase der Helvetik verlangt und sollten symbolisch belegen, dass »Freiheit und Gleichheit« eingeführt worden seien.43 Unter den Freiheitsbäumen musste 41 Abgebildet in: Bernisches Historisches Museum (wie Anm. 26), S. 98 f. (Bern 1798, Bernisches Historisches Museum, Inv. 50724). 42 Zur schweizerischen Tradition der Freiheitsbäume generell vgl. Wilfried Ebert: Der Frohe Tanz der Gleichheit. Der Freiheitsbaum in der Schweiz 1798 – 1802, Zürich 1996. 43 Ein Beispiel bei Bossard-Borner (wie Anm. 8), S. 67, belegt, wie das Aufstellen von Freiheitsbäumen die Revolution nach außen – sprich: für die französischen Besatzer – sichtbar machen sollte. Die »Bürger Volks-Repräsentanten der Luzernerischen National-Versammlung« sahen sich am 26. März 1798 »genöthiget, dem Luzernerischen Volk es tief ans Herz zu legen, dass ihm derley Freyheits-Bäume, als Zeichen seiner erhaltenen Freyheit und Gleichheit eben so heilig als Personen seyn müssen, und es nicht zugeben solle, dass sie weder durch Worte noch Handlungen beschimpft werden: Denn dadurch würden wir an Tage legen, dass wir im Innern uneins, dass es unter uns noch Feinde von Freyheit und Gleichheit gebe, welches uns Verachtung und Unglück vom Auslande zuziehen, und dadurch unseren Frieden im Innern, der uns allen theuer und werth seyn soll, stören könnte, welches Gott behüten und von uns gnädig abwenden wolle.« Entsprechende Anstrengungen waren

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auf die Verfassung geschworen werden, und es fanden obrigkeitlich initiierte Feste mit legitimatorischen Intentionen statt. Die erste Generation von Helvetikern propagierte den Brauch der Freiheitsbäume vehement.44 Allerdings trugen auch diese Insignien und die zugehörigen Rituale von Beginn weg eine dialektische Logik in sich. Der Maibaum war in der Volkskultur fest verankert, stand für die Befreiung von obrigkeitlichen Abgaben und somit grundsätzlich für eine regimentskritsche Haltung.45 In der Helvetik nunmehr noch mit dem Freiheitshut geschmückt, weckten die Freiheitsbäume noch subversivere Assoziationen und wurden von Gegnern der Einheitsverfassung eigenmächtig entfernt, oder umgekehrt von unzufriedenen Bürgern zum Protest gegen die helvetischen Behörden ohne Erlaubnis errichtet. Die in Reaktion auf auch durchaus notwendig, musste doch das Direktorium noch im Mai nach einigen Monaten Revolution feststellen, dass »noch allenthalben die Zeichen der ehemaligen Regierungen, des Adelsstandes und andere aufgehobene Auszeichnungen an öffentlichen Plätzen, Gebäuden u.s.w. angetroffen werden«. Es sei indes »schleunigst für die gänzliche Abschaffung aller dieser am alten System hangenden zweckwidrigen Dinge zu sorgen […], damit an höchste Behörde genugthuende Auskunft gesendet werden könne.« Man zweifle nicht daran, dass alle Mitbürger diesem Dekret Folge leisten würden, »in der Überzeugung, wie unschicklich dergleichen Überbleibsel der ehemaligen Ordnung der Dinge in Staaten seien, wo die Souveränität des Volks anerkannt ist, und eine auf die Grundsätze der vollkommensten Freiheit und Gleichheit gegründete Verfassung blüht.« Der Erlass schloss mit der Aufforderung, alle vorgenommenen Entfernungen der Obrigkeit zu melden. Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 956. Den Staatsspitzen war an symbolischer Läuterung gelegen, weshalb sie die Insignien der überkommenen alteidgenössischen Regimenter zerstört sehen wollten. Allerdings mangelte es der Bevölkerung an revolutionärem Eifer, um von sich aus die alten Symbole zu zertrümmern. Auch in den zuletzt weltweit stattgefundenen Revolutionen sind der Sturz von Herrscherstatuen und die gewaltsame Zerstörung repräsentativer Architektur als unfehlbare Zeichen einer vollendeten Revolution inszeniert worden. 44 Vgl. Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 3, S. 1353, 1395. Bemerkenswert ist auch der deutlich spürbare Impuls der Selbsthistorisierung der jungen Republik, wie ihn ein Quellenstück in der Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 3, S. 1352, dokumentiert. So sollten den Gesetzen über die Durchführung von Volksfesten zufolge jeweils besonders jene Bürger geehrt und als Vorbilder gefeiert werden, die sich in den vergangenen zehn Jahren besondere Verdienste um die Republik erworben hatten. In ihren Anfängen sah die Republik offensichtlich bereits in einem Jahrzehnt eine historische Dimension, die organisierter Erinnerungspolitik lohnte. 45 Zur Funktion des Freiheitsbaumes als Symbol der Widerständigkeit vgl. Ebert (wie Anm. 42), S. 29, 40 f., 165, 170, 205, 207. Bruno Wickli: Politische Kultur und die »reine Demokratie«. Verfassungskämpfe und ländliche Volksbewegungen im Kanton St. Gallen 1814/15 und 1830/31, St. Gallen 2006, S. 41 f., weist nach, wie in einigen der von ihm untersuchten Gegenden, bei denen es sich vorwiegend um ehemalige Untertanengebiete handelte, noch vor den Debatten über die helvetische Verfassung Freiheitsbäume aufgestellt und nach Vorbild der benachbarten Schweizer Kantone Schwyz und Glarus Landsgemeindeversammlungen abgehalten wurden. Zahlreiche Gemeinden erklärten sich als freie, unabhängige Teile der Schweiz und wählten an öffentlichen Versammlungen ihre neuen Behörden. Die besagten Kommunen verfolgten ein vollkommen anderes Konzept von Freiheit als es die Verfassung später dekretierte.

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solche widerständigen Praktiken erlassenen Verbote konnten nicht durchgesetzt werden. Zum Fällen von unbefugterweise aufgestellten Freiheitsbäumen detachierte Truppen verweigerten wiederholt den Gehorsam.46 Indem die Helvetik den »Freiheitsbaum« für sich beanspruchte, wurde das frühere Regime implizit als unfrei denunziert, was verständlicherweise virulenten Protest der Anhänger des alten Regimes weckte. So verkehrte sich die legitimatorische Intention, welche die Helvetiker die Freiheitsbäume hatte propagieren lassen, in ihr Gegenteil. Ritual und Allegorie wurden als Medien der Delegitimation umgenutzt.

No Sports! Wenig ersprießliche Diskussionen über den Volkscharakter Am 8. Februar 1799 ordneten die gesetzgebenden Räte an, der 12. April solle alljährlich als »der Tag der Wiedergeburt und der Vereinigung in eine Familie der schweizerischen Nation« und als der unstreitig »merkwürdigste Tag in den Jahrbüchern der helvetischen Nation« mit einem »Volksfest in ganz Helvetien« gefeiert werden.47 Sie taten dies »in Erwägung, dass Volksfeste den Patriotismus nähren und die Bande der Einigkeit und Bruderliebe immer stärker knüpfen«. Dies sei am »zweckmässigsten« zu erreichen, indem die Feierlichkeiten »auf Tage verlegt werden, welche sich in der vaterländischen Geschichte durch merkwürdige und wohltätige Ereignisse auszeichnen, deren Rückerinnerung den Vaterlandsfreunden theuer ist«. Die Modalitäten der Feierlichkeiten würden später gesetzlich geregelt werden. Schon am 14. März ergingen seitens des Direktoriums dann die entsprechenden Verordnungen, denen zufolge zehn Tage vor dem Fest »Greise und Municipalbeamte« bestimmen sollten, wer zuletzt besondere Verdienste um die Republik erworben habe. Danach sollten »diese Bürger im Namen der Nation, deren Zierde sie sind«, am 12. April eingeladen und auf Ehrenplätzen platziert werden, um durch ihre Gegenwart das allgemeine Interesse an den Feierlichkeit zu steigern. In den Hauptorten sei ein »Versammlungsbezirk« abzustecken, in dessen Mitte ein Freiheitsbaum aufgestellt werde. Unter dem Baum sei ein von grünem Rasen eingeschlossener Vaterlandsaltar zu errichten. Rings um den Altar sollten Fahnen und Tafeln stehen, deren Inschriften an die Grundsätze der Verfassung erinnerten, zur Tugend aufforderten oder auf die wohltätigen Folgen der Vernichtung des Föderalismus und der Vereinigung aller Helvetier hinwiesen. Die Veranstalter könnten auch ihre eigenen Ideen umsetzen, »insofern sie bequem und ohne 46 Ebert (wie Anm. 42), S. 40, 173, 180 – 182, 207. 47 Die folgenden Ausführungen und Zitate nach: Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 3, S. 1064 f., 1352 – 1354, 1394 – 1398.

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Kosten des Nationalschatzes ausgeführt werden können«. Der Festakt sollte mit einem Umzug und Reden beginnen, und »mit patriotischen Gesängen und militärischen Übungen und Evolutionen des Elitencorps« enden. Zur Belustigung sollten je nach Witterung und Terrain am Ort gebräuchliche Spiele veranstaltet werden. Vorgeschlagen wurden: »1) Der Wettlauf zu Fusse auf einer Ebene; der Wettlauf zu Fusse über einen starken Hügel auf und ab; 2) das Wettrennen zu Pferde; 3) das Schiessen nach einem Ziele mit Flinten oder Pistolen; 4) das Hochspringen hinauf oder herunter ; 5) das Ringen, das Fischerstechen auf Schiffen in den Gemeinden, die an Seen liegen.«

So wenig verfänglich sich diese Anordnungen in der historischen Rückblende lesen mögen, so harsch waren die Reaktionen, die der direktorialen Verordnung am 20. März 1799 im Großen Rat entgegenschlugen und die Rücknahme des Erlasses erzwangen. In der Diskussion wurde ins Feld geführt, »unser einfaches helvetisches Volk« werde an einer so merkwürdigen »Anordnung einer Art olympischer Spiele von Wettrennen, Wettreiten, Bergauf- und Bergablaufen und selbst von Fischstechen« kaum »Vergnügen und Geschmack« finden. Andere Votanten drückten sich weniger diplomatisch aus. So konstatierte der bereits im Zusammenhang mit dem bekannten »Stäfner Handel« (1794/95) in Erscheinung getretene Johann Caspar Billeter (1765 – 1844) zynisch, man könnte »noch blinde Kuh und Schuhschoppen« ins Programm aufnehmen, um die Feste »noch lächerlicher zu machen«.48 Überhaupt, so bemerkten andere, würden »besonders die vorgeschlagenen Spiele unserm Volk lächerlich vorkommen, z. B. das Springen hinauf und hinunter, das Wettrennen mit Pferden. Mit Pferden? Bekanntlich haben wir gute, tüchtige Ackerpferde, aber keine Wettrenner, und da unsere Regierung wohl schwerlich ein Geschenk von englischen Wettrennern […] für diesen Zweck erhalten wird, so wüsste ich, um dieses Spiel bei uns zu begehen, nichts vorzuschlagen, als gewisse Steckenpferde gewisser Minister, die sehr schnellfüssig sind und oft tüchtige (sonderbare) Sprünge machen. Das Fischstechen kann ebenso wenig statthaben, das Directorium müsste denn in unsere Seen Walfische schaffen und in unseren Waffenschmieden Harpunen verfertigen lassen.«

Sobald die Legitimationspropaganda Brauchtum und Volkscharakter für sich vereinnahmen oder gar vorschreiben wollte, verstanden die gewählten Repräsentanten offensichtlich keinen Spaß mehr. Man könne »der helvetischen Nation« unmöglich »die gleichen Feste geben«, welche die französische Nation habe, da 48 Zu Billeter vgl. Alexandra Bloch: Johann Caspar Billeter, in: Historisches Lexikon der Schweiz (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D5652.php, Version 25. 10. 2002). Zum Stäfner Handel vgl. Christoph Mörgeli (Hg.): Memorial und Stäfner Handel 1794/1795, hg. von Christoph Mörgeli unter dem Patronat von Gemeinderat und Lesegesellschaft Stäfa, Stäfa 1995.

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»unser Nationalcharakter doch so ganz verschieden ist von dem fränkischen, so ist offenbar, dass wir uns durch diese ungereimte Nachäffung lächerlich machen. Je anständiger, je einfacher, je weniger kostspielig solche Feste sein werden, desto besser werden sie für unser Volk passen«.

Wenn Volksfeste ihren Zweck erfüllen sollten, müssten »sie dem Nationalcharakter und der Nationalwürde angemessen sein«. Es gebe kaum eine Gemeinde, »welche dieses ArrÞt¦ nicht lächerlich finden würde«. Deshalb müsse der Beschluss zurückgenommen und jeder Gemeinde die Ausgestaltung ihres Festes frei überlassen werden. Trotz einiger Voten, die darauf hinwiesen, dass sportliches Brauchtum wie Ringen und Steinstoßen im Oberland, Entlebuch oder in Appenzell durchaus gepflegt werde, wurde der Rückweisungsantrag angenommen. Gewisse Legitimationsstrategien scheiterten also bereits im inneren Zirkel der Revolutionäre.49 So vielfältig sich der Einheitsstaat über systematische Symbolnutzung bemühte, seine Legitimationsdefizite zu decken, so ambivalent muss der Erfolg dieser Bestrebungen eingeschätzt werden. Dass die helvetische Republik legitimationstechnisch auf tönernen Füßen stand, wird aber besonders deutlich anhand der Auseinandersetzungen um das Bürgerrecht bzw. die Nutzung oder den Zugang zu den Besitztümern der Korporationen des Ancien R¦gime (Gemeinden, Alpkorporationen, Allmend- und Forstgenossenschaften, Bruderschaften, Nachbarschaften, Gesellschaften zum Zweck der Pflege von Kultur und Geselligkeit, kommunal geäufnete und verwaltete Kirchengüter etc.). Davon soll das letzte Kapitel handeln. Es erklärt am Beispiel einer strukturpolitischen Auseinandersetzung um materielle Vorteile, warum die helvetische Symbolpolitik gescheitert sein könnte.

49 Es kann als Ironie der Geschichte bezeichnet werden, dass ausgerechnet die reaktionären Nachfolger der helvetischen Eliten, die ab 1803 in der Eidgenossenschaft das Szepter wieder übernahmen, mit dem 1805 und 1808 erstmals durchgeführten »Unspunnenfest« eine eigentliche Sportpropaganda initiierten und den zaghaften Helvetikern vorexerzierten, wie volkstümliche Legitimation idealiter funktionieren konnte. Zur Entspannung des politischen Klimas sollten propagandistische Großanlässe unter Bezugnahme auf eine bäuerlichfolkloristische Symbolik die Verbrüderung von Regiment und Bevölkerung bewirken. Vgl. dazu FranÅois de Capitani: Die Ideen der französischen Revolution und die schweizerische Festkultur. Die Entwicklung der schweizerischen Feste im 18. und 19. Jahrhundert, in: Das Hardermannli, Sonntagsbeilage zum Oberländischen Volksblatt und Echo von Grindelwald, 8. Februar 1992, S. 1 – 3; Rudolf Gallati: Doppelbödige Absichten der Unspunnenstifter. Die Feste von 1805 und 1808 auf der Unspunnenmatte zielten auf eine Verbrüderung von Stadt und Land ab – und eine Stärkung der Aristokratie, in: Der Kleine Bund, 31. Juli 1993, S. 6; Daniel Schläppi: Die Zunftgesellschaft zu Schmieden zwischen Tradition und Moderne. Sozial-, struktur- und kulturgeschichtliche Aspekte von der Helvetik bis ins ausgehende 20. Jahrhundert (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 81), Bern 2001, S. 452, Anm. 1208.

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Daniel Schläppi

Grenzen der Gleichheit – Legitimation über politische Konzessionen In den Diskussionen über das Gemeindegesetz, das Gemeindebürgerrecht, die Staatsgüter und den Stellenwert der »Gemein(d)güter« – die Zeitgenossen verwendeten den Begriff bezeichnenderweise in der durch das eingeklammerte »d« angedeuteten doppelten Bedeutung – standen für die Zukunft von Gesellschaft und Politik entscheidende Weichenstellungen zur Debatte.50 Alles drehte sich um die Frage, wer künftig von den materiellen Ressourcen (Armengüter, natürliche Ressourcen wie Wälder und Allmenden) profitieren dürfe. Auch wurde erwogen, ob diese Güter gar verstaatlicht werden könnten. Aus Angst vor Revolten seitens verärgerter Bürgergemeinden, die unkontrollierbare Zustände zur Folge gehabt hätten, blieben die exklusiven Besitz- und Verfügungsrechte alten Herkommens, die den bürgerrechtlich privilegierten Korporationsmitgliedern vorbehalten gewesen waren, unangetastet. Die emphatisch beschworene Gleichheit hatte ihre Grenzen. Aus Gründen der Legitimation blieben die im Ancien R¦gime zurückgestellten Bevölkerungsgruppen auch weiterhin benachteiligt.51 In der Proklamation zum Erhalt der Gemeindegüter beschwor das Direktorium pathetisch jene Gemeinden, die sich bereits an die Aufteilung des kollektiven Spargroschens gemacht hatten, die Gemeindegüter seien ein »Vermächtnis eurer Väter, die Frucht einer langen Reihe von Jahren, sind diese Güter nicht allein für euch, sondern ebenso sehr für eure Enkel bestimmt«.52 Damit perpetuierte es genau jene Denkfigur, die im Ancien R¦gime eine nahezu hermetische Abriegelung der Kommunen und Korporationen verursacht hatte, denn niemand wollte Besitz und Privilegien mit mehr Menschen teilen als nötig. Von korporativen Verbänden erwirtschafteter und verwalteter Gemeinbesitz war das flächendeckende Strukturmerkmal der alten Eidgenossenschaft. Ob im Zentrum oder an der Peripherie. Kollektivgüter prägten Städte und Länderorte ebenso wie Untertanengebiete und gemeine Herrschaften. Wer in der alten Eidgenossenschaft ein Bürgerrecht besaß, stand über seine Nutzungsrechte in einem unauflöslichen Konnex mit politischen Institutionen der gesellschaft50 Einschlägiges Quellenmaterial zu diesem Kapitel findet sich in Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 718 – 726; Bd. 2, S. 91 – 95, 200 – 204, 210 – 212, 224 – 228, 340 – 350, 534 – 536, 764 f., 869, 1005 f., 1081 f., 1084 – 1089, 1140 f., 1178 f.; Bd. 3, S. 242 f., 293 – 302, 386, 536 – 562, 578 f., 657 – 659, 1133 – 1148, 1156, 1158 – 1209, 1339 – 1349, 1349 – 1352, 1429 – 1432; Bd. 4, S. 66 – 83, 379 – 388, 690 – 693, 1108 f., 1418 f. 51 Vgl. Silvia Arlettaz: Citoyens et ¦trangers sous la R¦publique helv¦tique (1798 – 1803). Pr¦face de G¦rard Noiriel, GenÀve 2005 sowie Daniel Schläppi: Grenzen der Gleichheit. Wie und warum die helvetischen Regenten vor dem Gemeinbesitz von Korporationen kapitulierten, in: Andreas Würgler (Hg.), Grenzen des Zumutbaren. Erfahrungen mit der französischen Okkupation und der Helvetischen Republik (1798 – 1803), Basel 2011, S. 46–65. 52 Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 535.

Legitimation in Zeiten der Revolution

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lichen Basis (den Gemeinden, Zünften und anderen Korporationen). Anteile an Pensionen, Auflagen, Promotionsgelder, Fürsorgebezüge, die Plätze in den Waisenhäusern und Spitälern, Altersvorsorge, Ausbildungsstipendien, Vormundschaftswesen, Kredite, Bauaufträge, Brot- und Holzspenden, Marktprivilegien, Allmendrechte, Fischrechte, Seelsorge – kurz: Alle politische und materielle Partizipation am Gemeinweisen floss aus der Teilhabe an kollektiven Ressourcensystemen. Weil davon niemand freiwillig etwas preisgeben wollte, genoss der Gemeinbesitz bei den bürgerrechtlich privilegierten und sozial besser gestellten Gruppen beinahe unendliche Legitimität. Dessen waren sich die helvetischen Revolutionäre, die doch das eidgenössische Staatswesen nach rationalen Kriterien umbauen wollten, bewusst. Revolutionstechnisch war es einfacher, einen König zu köpfen, eine Aristokratie zu verjagen oder eine »Oligarchen-Contribution«53 einzutreiben, als eine traditionelle Kaste von Besitzenden per Erlass zu enteignen. Am materiellen Erbe der Väter hing eine generationsübergreifende Verpflichtung. Sie machte den Gemeinbesitz in Verbindung mit der Verantwortung der Individuen gegenüber historisch legitimierten Gemeinschaften unantastbar. Kollektive Ressourcen standen als Strukturprinzip der langen Dauer jenseits revolutionärer Diskurse.

Dialektik der Verklärung – Zusammenfassung Gemessen an in der Revolutionsrhetorik verlautbarten Zielsetzungen war die Helvetische Republik während der ganzen Dauer ihres Bestehens ein fragiles Gebilde. Obwohl erheblich in die Symbolpolitik und Propaganda investiert wurde, erreichten die Kampagnen das eigentliche Ziel – die Stärkung der politischen Legitimation des Einheitsstaates – nicht. Die beschriebenen Bemühungen um symbolpolitische Legitimation zeichnen das Bild eines Revolutionsregimes, das von Beginn weg aus der Defensive agierte. Es gelang nicht, für die neue Ordnung eine eigenständige, originelle Symbolsprache zu erfinden. Die Nutzung der Symbole alter Prägung und der in kollektiver Erinnerung verankerten historischen Narrative provozierte Widerspruch, denn sie forderte die Zeitgenossen erst recht heraus, das alte und das neue System zu vergleichen und deren Vor- bzw. Nachteile gegeneinander abzuwägen. Die auf altes Herkommen abstellende Symbolpolitik, die in offenkundigem Gegensatz zur lebensweltlichen Realität einer im Umbruch begriffenen Ordnung stand, machte sich angreifbar, weil sie die faktischen Verhältnisse verklärte. Dies 53 Vgl. Actensammlung (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 691 – 696.

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ebnete einer unheilvollen Dialektik das Terrain, weil die Anhänger der alten Ordnung die Deutungshoheit über das Arsenal historischer Symbole nicht preisgaben, sondern vielmehr jede propagandistische Instrumentalisierung mit gleicher Münze zurückzahlten. Ohne konkrete vorzeigbare realpolitische Erfolge war auf Dauer kein Staat zu machen. Insofern oszillierten die helvetischen Leitfiguren hilflos zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Gerade revolutionäre Regimes werden aber nach ihren Leistungen beurteilt, außer sie halten sich mit totalitären Techniken über Wasser. Wie neue Forschungen zeigen, tat dies auch die Helvetik. Die politischen Eliten fürchteten sich vor virulentem Widerstand. So erklärt sich, dass sich die helvetischen Zentralbehörden von Beginn weg systematisch Informationen über die Umtriebe des politischen Gegners beschafften und nach Vorbild Österreichs unter Joseph II. den Aufbau einer politischen Polizei vorantrieben.54 Wie schwer es eine Revolutionsrhetorik, die auf das alte Herkommen nur verbal und bildlich anspielte und gleichzeitig den Tatbeweis schuldig blieb, tatsächlich hatte, wird deutlich anhand einer Passage aus der Korrespondenz von Philipp Albert Stapfer (1766 – 1840).55 Als dieser vom Plan einer neuerlichen Verfassungsreform erfuhr, warnte er seinen politischen Weggefährten Paul Usteri (vgl. oben) Ende November 1800: »Hüten Sie sich vor allem, was gar zu sehr als Nachahmung der französischen Constitution erschiene. […] Überhaupt machen Sie die Machine so wenig complicirt als möglich. Rufen Sie die alten Benennungen überall, wo es angeht, zurück und concentriren Sie die Vollziehungsgewalten in der Person eines Landammanns.«56

Nach zweieinhalb Jahren Revolution hatten deren Vordenker verstanden, dass sie mehr erreichten, wenn sie in ihren Konzepten den Nachhall einer Freiheitstradition nicht nur symbolisch sondern faktisch einbezogen. Der Zweck heiligte die Mittel, selbst wenn – um die Gegnerschaft nicht unnötig zu verärgern – unverhohlen auf Grundsätze der alten Ordnung und auf die überkommene Nomenklatur abgestellt werden musste.

54 Vgl. Fredy Schnyder : »Freiheit – Gleichheit – Sicherheit«. Politische Polizei in der Helvetik (1798 – 1800), Lizentiatsarbeit Universität Bern 2008, S. 89 – 95, 98. 55 Zu Stapfer vgl. Dominik Sauerländer : Philipp Albert Stapfer. Gestalter der Schweiz, Erfinder des Aargaus, in: Schweizer Monatshefte 87/07/08 (2007), S. 58 – 60. 56 Rudolf Luginbühl (Hg.): Philipp Albert Stapfer’s Briefwechsel, Bd. 1, Basel 1891, S. 51 f.

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»Legitimationsbedingungen« für den neuen Herrscher. Der Empfang Ferdinands III. von Toskana durch seine neuen Untertanen – Salzburg 1803 und Würzburg 18061

»Freytag der 29te April. War der wichtige Tag an welchen der neue Salzburgische Regent, der ehevorige Großherzog von Toskana, nunmehr aber des Hl R. R. Kurfürst von Salzburg, Fürst von Eichstädt, Passau und Berchtesgaden, Königlicher Prinz und Erzherzog von Österreich – Ferdinand – der erste Salzburgische Regent hier zwischen 11 und 12 Uhr Mittag eintraf,«2

schrieb Abt Dominikus Hagenauer von St. Peter in Salzburg im Jahr 1803 in sein Tagebuch. »Morgen kommt der Churfürst, il n’y a plus de remÞde«,3 formulierte hingegen Caroline Schelling drei Jahre später am 30. April 1806 in einem Brief aus Würzburg an ihren Mann. Beide Male war – in unterschiedlicher Akzentuierung – die Rede von Ferdinand III. von Toskana, der im Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 mit dem zum Kurfürstentum aufgewerteten Salzburg samt den von Hagenauer genannten hinzukommenden kleineren Territorien für die Toskana entschädigt wurde.4 Nach dem Frieden von Preßburg vom 26. Dezember 1805 1 Die Recherchen zu diesem Beitrag standen im Kontext des vom österreichischen »Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung« (FWF) finanzierten Forschungsprojekts Nr. V200 (Elise-Richter-Programm) »Veränderung der Gesellschaft durch Regieren und Verwalten. Politische Kommunikation in den Territorien Ferdinands III. – Toskana, Salzburg, Würzburg 1790 – 1824«. 2 Adolf Hahnl/Hannelore Angermüller/Rudolph Angermüller (Bearb.): Abt Dominikus Hagenauer (1746 – 1811) von St. Peter in Salzburg. Tagebücher 1786 – 1810 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 46), Teilbd. II: Tagebücher 1799 – 1810, St. Ottilien 2009, S. 907 (im Folgenden zitiert als Tagebuch Dominikus Hagenauer). 3 Brief Caroline Schelling an Friedrich Wilhelm Schelling, Nr. 405, 30. April – 1. Mai 1806, abgedruckt in: Erich Schmidt (Hg.): Caroline. Briefe aus der Frühromantik, Bd. 2, Leipzig 1913, S. 435 – 441, hier S. 436. 4 Grundlegend dazu Peter Putzer : Staatlichkeit und Recht nach der Säkularisation, in: Heinz Dopsch/Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II/2, 2. verb. u. erw. Aufl., Salzburg 1995, S. 620 – 659; Ders.: Säkularisation und Staatsmacht – 1803 und die Folgen, in: Gerhard Ammerer/Alfred Stefan Weiß (Hg.), Die Säkularisation Salzburgs 1803. Voraussetzungen – Ereignisse – Folgen. Protokoll der Salzburger Tagung vom 19.–21. Juni 2003, Frankfurt a. M. 2005, S. 142 – 156.

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bekam Ferdinand statt Salzburg das 1803 säkularisierte und an Bayern übergebene ehemalige Hochstift Würzburg.5 Diese Regentschaft währte acht Jahre, bis er nach dem Wiener Kongress wieder in die Toskana zurückkehren konnte.6 Die zahlreichen Territorial- und Herrschaftsveränderungen in der Zeit der napoleonischen Kriege wurden auf dem Reißbrett ersonnen, zur tatsächlichen Besitzergreifung und viel mehr noch zur erfolgreichen Herrschaft gehörte jedoch mehr als nur das politische Aushandeln und die entsprechenden Entscheidungen der bestimmenden Mächte.7 Auf den neuen Regenten wartete nicht nur die Bestätigung oder Neuorganisation der politischen und juridischen Verwaltungsstrukturen, sondern er musste auch in Kommunikation mit den neuen Untertanen treten und seine durch die Reichstagsbestimmungen und Friedensschlüsse erworbene Legitimität gleichsam unter Beweis stellen. Denn im Gegensatz zu einem mittels Erbprinzip nachgefolgten und durch Huldigung bestätigten oder in den Erz- und Hochstiften durch das Domkapitel gewählten neuen Fürsten fehlte es in diesem Fall an der traditionell eingeführten Legitimation. Der Fokus der folgenden Überlegungen liegt somit auf der ersten Kommunikation des Fürsten und seiner Bevollmächtigten mit der Bevölkerung – am Beispiel von Salzburg und Würzburg in den Jahren 1803 und 1806. Dieselben Fragen ließen sich jedoch auch an jeden anderen Herrschaftswechsel stellen. Die Kommunikation zwischen Fürst und Bevölkerung fand zu einem großen Teil in der Öffentlichkeit statt: Die Besitzergreifung musste der Bevölkerung kundgetan werden, Beamte legten den Huldigungseid auf den neuen Fürsten ab, dessen Ankunft wurde von der Bevölkerung begrüßt. Jürgen Habermas sah diese Form der repräsentativen Öffentlichkeit als alleinige Bühne der Regenten, die nur von deren Seite aus bespielt wurde.8 Die neuere Forschung betont jedoch die Mit-

5 Dazu vor allem Harm-Hinrich Brandt: Würzburg von der Säkularisation bis zum endgültigen Übergang an Bayern, in: Peter Kolb/Ernst-Günter Krenig (Hg.), Unterfränkische Geschichte, Bd. 4/1, Würzburg 1998, S. 477 – 530; Anton Chroust: Geschichte des Großherzogtums Würzburg (1806 – 1814). Die äußere Politik des Großherzogtums (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, IX. Reihe: Darstellungen aus der fränkischen Geschichte 1), Würzburg 1932. 6 Franz Pesendorfer : Ein Kampf um die Toskana. Großherzog Ferdinand III. 1790 – 1824 (Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 12), Wien 1984, S. 417 – 470. 7 Helga Schnabel-Schüle: Herrschaftswechsel – zum Potential einer Forschungskategorie, in: Dies./Andreas Gestrich (Hg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 1), Frankfurt a. M. 2006, S. 5 – 20. 8 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [Neudruck von 1962], Frankfurt a. M. 1990, S. 58 – 67.

»Legitimationsbedingungen« für den neuen Herrscher

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wirkung der Bevölkerung an solchen Akten und versteht diese Öffentlichkeit als Forum politischer Kommunikation, an der sich beide Seiten beteiligten.9 Im Folgenden stehen allerdings weniger die allgemeinen Formen der symbolischen Kommunikation im Mittelpunkt, sondern es soll explizit um die Reden und Gedichte gehen, die bei solchen Gelegenheiten von der Bevölkerung vorgebracht wurden. Diese beinhalteten alle einen Huldigungsaspekt, der sich auf den zukünftigen Regenten und dessen Regierung bezog. Solche Herrscherpanegyrik steht in einer langen Tradition und lässt sich unter verschiedenen Aspekten untersuchen, wie etwa unter jenem der Ästhetik und der dadurch bewirkten Aussagen.10 Hier werden jedoch konkret die vermittelten Inhalte untersucht. So lange der Blick auf den Herrscher als alleinigen Akteur dieser Kommunikation gerichtet war, ging man von der Vermutung aus, dass die Huldigungsgedichte und Reden von Schreibern und Publizisten aus dem Umfeld der Regierenden verfasst wurden. Damit würden die Inhalte im Sinne von politischer Propaganda den hohen Status des Herrschers zusätzlich unterstreichen.11 Liest man die Gedichte jedoch als Medium der Bevölkerung, mit dem Regenten in Kommunikation zu treten, dann lassen sich die Inhalte nicht mehr als einfache Lobpreisung abtun, sondern sind als Möglichkeit zu sehen, politische Botschaften zu transportieren. Basierend auf diesen Überlegungen wird also davon ausgegangen, dass diese Gelegenheit benutzt wurde, um kritische Inhalte bis hin zu Forderungen, die als Erwartungen formuliert wurden, vorzubringen. Damit stehen diese Huldigungsgedichte und Reden inhaltlich der Tradition der Fürstenspiegel nahe.12 Die Themen, die darin angesprochen werden, können im aktuellen Zeitgeschehen verankert und als Spiegel der Erwartungen, gleichsam als »Legitimationsbedingungen« für die Anerkennung des Fürsten durch die Bevölkerung interpretiert werden. Dabei ist der allgemeine Begriff der Bevölkerung zunächst einzuschränken 9 Nils Ekedahl: Celebrating Monarchy. Panegyrics as a Means of Representation and Communication, in: Mikael Alm/Britt-Inger Johansson (Hg.), Scripts of Kingship. Essays on Bernadotte and Dynastic Formation in an Age of Revolution (Opuscula Historica Upsaliensia 37), Uppsala 2008, S. 119 – 146; zu den verschiedenen Positionen Politischer Kommunikation siehe Tobias Weidner : Die Geschichte des Politischen in der Diskussion (Das Politische als Kommunikation 11), Göttingen 2012. 10 Jan Andres: »Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet.« Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert (Historische Politikforschung 4), Frankfurt a. M. 2005. 11 Vgl. z. B. Mary Whitby (Hg.): The Propaganda of Power. The Role of Panegyric in Late Antiquity, Leiden 1998. 12 Eva Sturm: Absolutismuskritik in der Tradition der Fürstenspiegel? Zum Werk Friedrich Carl von Moser : Über Regenten, Regierungen und Ministers, in: Hans-Otto Mühleisen/Theo Stammen (Hg.), Politische Tugendlehre und Regierungskunst. Studien zum Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit (Studia Augustana. Augsburger Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte 2), Tübingen 1990, S. 229 – 254.

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auf diejenigen Personen, die solche Gedichte und Reden zu verfassen wussten. Inwieweit die dahinter stehende Intention – vom Fürsten und der übrigen Bevölkerung – auch wahrgenommen wurde, müsste anhand anderer Quellen genauer untersucht werden. Ansatzweise wird diesem Anspruch hier etwas Folge geleistet, indem Tagebücher und Briefe einiger weniger Repräsentanten in die Untersuchung einfließen. Für Salzburg sind das der eingangs zitierte Abt Dominikus Hagenauer des Klosters St. Peter,13 der als geistlicher Landstand die Regentschaft eines katholischen Habsburgers tendenziell begrüßte, sowie Hofkammerrat Franz de Paula Pichler, der als weltlicher Beamter dem Regierungswechsel zunächst neutral gegenüberstand.14 Für Würzburg dient Caroline Schelling, deren Ehemann Friedrich Wilhelm Schelling unter der bayerischen Regierung an der Würzburger Universität eine Professur innehatte, als kritische Kommentatorin des Geschehens. Als sich der Regierungswechsel abzeichnete, wollten sie aus Würzburg weggehen, für das sie einen Rückschritt der Reformen befürchteten.15 Der Kreis derjeniger Personen, die von den dargebrachten Reden und Gedichten Kenntnis erhielten, war jedoch ungleich größer. Über das unmittelbar anwesende Publikum beim erstmaligen Vortragen hinaus bewirkte deren Veröffentlichung in den Zeitungen eine sehr weite Verbreitung der Inhalte.

Gelegenheiten zur Kommunikation – Festakte und Zeitungen Bekanntermaßen erfolgte vor der zivilen Besitzergreifung eines neuen Territoriums zunächst die militärische Sicherung, häufig noch vor Ende der laufenden Verhandlungen, um sicherzugehen, dass die Ansprüche gewahrt blieben. Ferdinand von Toskana verfügte über kein Militär, da er sich seit 1799 in Österreich im Exil befand. So schickte sein Bruder Kaiser Franz II. im August 1802 ein österreichisches Regiment nach Salzburg, um die in Verhandlung stehenden Territorien militärisch für Ferdinand in Besitz zu nehmen. In diesem Fall richtete sich die Vorsicht vor allem gegen Bayern, dem es zuvorzukommen galt.16

13 Hahnl/Angermüller/Angermüller (wie Anm. 2), Teilbd. I: Tagebücher 1786 – 1798, S. X – XIV. 14 Peter Putzer : Kursalzburg. Ein Beitrag zur territorialen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte gegen Ende des alten Reiches, unveröff. Habilschrift, Salzburg 1969, S. 205. 15 Franziska Meyer : Die Konkurrenz der Biographen. Der Fall Caroline Michaelis-BöhmerSchlegel-Schelling, in: Irmela von der Lühe/Anita Runge (Hg.), Querelles. Biographisches Erzählen, Stuttgart 2001, S. 85 – 102. 16 Putzer, Staatlichkeit (wie Anm. 4), S. 629 f.

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In Würzburg fielen 1806 die zivile Besitzergreifung und die militärische Sicherung zusammen.17 Der erste persönliche Kontakt zwischen Bevölkerung und neuer Herrschaft fand in beiden Territorien zunächst über die vermittelnde Person des Besitznahmskommissärs statt – und zwar meist zum Anlass der Vereidigung der Beamten. Üblicherweise wurden die höheren Beamten in der Residenzstadt sehr schnell rechtlich verbindlich an den neuen Herrscher gebunden, damit die Regierungs- und Verwaltungstätigkeit nahtlos weitergehen konnte. So kam der Besitznahmskommissär Heinrich Freiherr von Crumpipen – noch vor Verabschiedung des Reichsdeputationshauptschlusses – am 15. Februar 1803 in Salzburg an.18 Zu seiner Ankunft sollte es laut Weisung weder ein Zeremoniell geben noch war ihm eine Deputation entgegenzusenden.19 Trotzdem paradierte eine Division kaiserlichen Militärs vor der Residenz und der »Plaz war mit Volk erfüllt, dem welchen eine Neugierde, sonst aber weder Zeichen der Freide, noch der Traurigkeit entnomen werden konnte,«20 schrieb Franz de Paula Pichler in sein Tagebuch. Stärker öffentlich bekanntgemacht und zelebriert wurde hingegen die Besitzübernahme. Am folgenden Tag hob Crumpipen die erzbischöfliche Statthalterschaft auf und einen weiteren Tag später wurden die zwei Urkunden von der Abtretung des Landes durch Erzbischof Hieronymus Colleredo und die Übernahme durch Ferdinand von Toskana »in allen Vierteln der Stadt, wie auch in den Vorstädten unter Vorausreitung zweyer Trompeter, und in Begleitung 6 Bürgerlicher Kavaleristen publicirt und vernämlich abgelesen.«21

Bei dieser Gelegenheit waren auch die Beamten aus dem Dienst des Erzbischofs entlassen und die Behörden provisorisch bestätigt worden. Schließlich fand am 18. Februar die Eidesablegung der höheren Beamten statt. Als Vertreter der neuen Untertanen richtete der Bischof von Chiemsee als erster Landstand das Wort an den Besitznahmskommissär. Die Öffentlichkeit war hier jedoch beschränkt – wie üblich fand die Eidesablegung selbst in den Räumlichkeiten der Residenz statt, zugegen waren außer den betroffenen Personen nur noch einige Damen als Zuschauerinnen, es gab keine weiterreichenden Festlichkeiten außerhalb des Gebäudes.22 17 18 19 20

Chroust (wie Anm. 5), S. 51. Putzer, Staatlichkeit (wie Anm. 4), S. 630. Tagebuch Dominikus Hagenauer (wie Anm. 2), S. 891. Salzburger Landesarchiv, Nachlass Franz de Paula Pichler, Tagebuch Nr. 12, Eintrag v. 15. Febr. 1803 (im Folgenden zitiert als Tagebuch Franz de Paula Pichler). 21 Tagebuch Dominikus Hagenauer (wie Anm. 2), S. 891. 22 Ebd., S. 890 – 892.

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In Würzburg gestalteten sich die Vorgänge etwas komplexer, weil Ferdinand einen anderen Besitznahmskommissär bestimmt hatte, als dies schon zuvor Franz II. in die Wege geleitet hatte. Damit stand die Übernahme auf unsichereren Beinen als in Salzburg, als der kaiserliche Gesandte am Reichstag in Regensburg, Johann Alois Joseph Freiherr von Hügel, am 1. Februar 1806 mit Unterstützung österreichischer Truppen das Land vom bayerischen Hofkommissär übernahm. Für diplomatische Verwicklungen hatte vor allem gesorgt, dass Hügel das Territorium nicht nur im Namen Ferdinands, sondern auch des Kaisers in Besitz nahm.23 Die dadurch hervorgerufene Unsicherheit spiegelte sich noch am 12. März in einem Brief von Caroline Schelling, in dem sie schrieb: »Wer hätte sich auch so verruchtes Zeug träumen lassen! Es ist ein Spott des Zufalls, daß wir am Ende noch kaiserlich werden müßen.«24 So lag in Würzburg zwischen Besitzübernahme und Vereidigung der höheren Beamten etwa ein Monat. Erst am 6. März wurden die Vertreter der höheren politischen Verwaltungsämter des Landes und der Stadt wie auch der juridischen Behörden in die Residenz berufen, um dort den Eid auf den neuen Fürsten abzulegen.25 Hier sprach der Hofgerichtspräsident Johann Michael Seuffert als »Organ« der »Würzburgischen Staatsdiener«.26 Die Vereidigung der mittleren und unteren Beamten – im weiteren Land – erfolgte jeweils in Etappen. So war im März 1803 beispielsweise im entfernten Pfleggericht Mittersill von »sämmtlichen Bürger- und Bauer-Ausschüssen, Dritttheilern und Viertelleuten« eine Dankesrede und ein Gedicht »zierlich auf Pergament geschrieben und in rothen Sammt gebunden, […] eigenhändig unterschrieben« und durch den gewählten Sprecher, einem »gewählten Gerichtsverwandten, dem Herrn Kommissär zur weiteren Beförderung überreicht« worden.27 In Salzburg wurden auch die Landstände vorab auf Ferdinand vereidigt, da der »Größere Landtag« wie jedes Jahr im März seine Versammlung abhalten wollte. Nach erhaltener Erlaubnis zur Zusammenkunft fand die Vereidigung, die 23 Chroust (wie Anm. 5), S. 42 – 76. 24 Brief Caroline Schelling (wie Anm. 3) an Julie Gotter, 12. März 1806, Nr. 401, S. 422 f., hier S. 422. 25 Staats Begebenheiten. Umständliche Beschreibung der Verpflichtungsfeyerlichkeit am 6ten des Märzes sammt dem, dabey beobachteten, Ceremoniele, und gehaltenen Reden, in: Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 26. April, Sp. 57 – 66, hier Sp. 61. Wer sich nicht unter die neue Herrschaft begeben wollte, wich diesem Eid aus, wie etwa Friedrich Wilhelm Schelling, der schon zuvor an der Universität »daher an nichts theil genommen, weshalb man ihn als übergangen ansehn konnte, keine Kollegia angekündigt, schließlich am 6ten März den neuen Diensteid nicht geleistet« habe. Brief Caroline Schelling (wie Anm. 3) an Julie Gotter, 12. März 1806, Nr. 401, S. 422 f., hier S. 422. 26 Staats Begebenheiten (wie Anm. 25), Sp. 61. 27 Nachtrag zur Erbhuldigungsfeyer der Gemeinden des Pfleg- und Landgerichts Mittersill vom 6. März 1803, in: Intelligenzblatt von Salzburg, 26. März 1803, Sp. 192 – 195, hier Sp. 194.

»Legitimationsbedingungen« für den neuen Herrscher

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wohl die Vorbedingung des Zusammentretens darstellte, ohne umfassendere Inszenierung statt. Im Namen von Ferdinand wurde ein Vortrag an die Stände abgelesen und diese legten ihren Eid auf den neuen Regenten ab. Auf dieser Landtagsversammlung wurde nun unter anderem darüber diskutiert, wie man die Ankunft des neuen Herrschers gestalten wolle.28 In gleicher Weise berieten darüber auch die Behörden der Städte und Märkte, durch die der Weg Ferdinands führte, denn das Bestreben nach Akzeptanz war natürlich ein beidseitiges. Auch die Bevölkerung war darauf angewiesen, vom neuen Regenten alte Strukturen bestätigt oder wiederhergestellt zu bekommen, einen guten Eindruck zu machen und eine Kommunikationsbasis aufzubauen. Dabei griff man auf eingeführte Mittel der Kommunikation zurück. Im Gespräch waren meist Überlegungen, wie sich das Empfangskomitee zusammensetzen sollte, ob es durch eine Kavallerie, wie beispielsweise in Salzburg die für solche Anlässe übliche Landschaftskavallerie,29 meistens mit Musik, häufig geschmückt mit Mädchengruppen begleitet werden sollte. Dazu kamen die möglichst prachtvolle Gestaltung des Weges und eine allgemeine Beleuchtung der Stadt oder des Orts am Abend, um den Festcharakter zu unterstreichen. Jedoch war die Bevölkerung nicht ganz so frei in ihrer Planung, sie musste vom Landesfürsten genehmigt werden. Als Ferdinand am 29. April 1803 in Salzburg eintraf, hatte er auf dem Weg eine Reihe von Triumphpforten passiert und war von militärischen Ordnungen, gebildet von »Bürgern und Bauern«, begleitet worden. Salven, Böllerschüsse und Glockenläuten kündigten seine Ankunft in einem Markt oder einer Stadt an. In Salzburg war er beispielsweise beim Linzer Tor von den Magistratsmitgliedern empfangen worden. Das gab dem Bürgermeister die Gelegenheit, die Schlüssel der Stadt zu überreichen und eine kurze Ansprache zu halten. Um etwa acht Uhr abends waren »alle Fenster der Stadt mit mehr oder wenigern Lichtern beleichtet, die Leute zohen Schaarenweise unter imer anhaltenden Jubel durch Gässen und Plätze bis Mitternacht aus und ein. Es giengen nicht die geringsten Excesse vorbey, nur wurden manche Köpfe von Wein zimlich beleichtet. So schloß sich dieser für Salzburg so sehr gewunschene Tag mit Freude und Munterkeit.«30 28 Der Salzburger Landtag von 1803 war in vielerlei Hinsicht mit Neuerungen konfrontiert. Erstmals spielten die Domherren, die bisher den Landtag dominiert hatten, kaum mehr eine Rolle. Hochfürstlicher Kommissär war daher kein Domherr mehr, sondern die zwei Direktoren des Hofrats und der Hofkammer übernahmen diese Funktion. Daneben gab es durch die territorialen Veränderungen nun neue Städte, die Abgeordnete schicken sollten. Den üblichen Platz des vom Erzbischof bestimmten Domkapitulars nahm Johann Franz Thaddäus von Kleimayrn, Geheimer Rat und Hofratsdirektor, zur Rechten des Bischofs von Chiemsee ein. Tagebuch Dominikus Hagenauer (wie Anm. 2), S. 896 – 898. 29 Ebd., S. 898. 30 Ebd., S. 908.

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Ähnlich liefen die Planungen 1806 im ehemaligen Hochstift Würzburg ab. Als die Stadt Kitzingen erfuhr, dass der neue Regent auf seiner Reise durch die Stadt kommen würde, begann der Stadtrat mit den Vorbereitungen. Die entsprechenden Wappen waren am Rathaus und auf der Brücke anzubringen, der Bürgermeister, der Stadtsyndikus und das Landgericht sollten sich versammeln und sich mit dem Oberbürgermeister zum Mainbernheimer Tor begeben, wo dieser »S. König. Hoheit die Stadthor Schlüßel überreichen, wobei H. Stadt Syndicus eine zweckmäßige die Gefühle der Bürgerschaft ausdrückende Rede halten« würde. Als Umrahmung war die Schützenkompanie vorgesehen, die sich in zwei Spalieren auf der Hauptwache aufstellen und ihren Dienst versehen sollte, der Stadttürmer mit seinen Leuten und sonstigen Musikanten hatten für die musikalische Unterhaltung zu sorgen, Kanonen, die bei der Ankunft und Abreise des neuen Herrschers Schüsse abgeben mussten, wurden an die Tore verteilt. Auch waren bei »Eintritt S.r König. Hoheit in die Stadt […] alle Glocken« zu läuten. Diese Planungen wurden in der Folge noch weiter verfeinert, so dass Ferdinand in Kitzingen schließlich von jungen Mädchen, die als Schäferinnen gekleidet und mit Lorbeer- und Blumenkränzen geschmückt waren, begrüßt wurde. Eine der Schäferinnen hielt eine kurze Anrede an den Fürsten, »die Schuljugend sang ein fröhliches Lied«.31 In Würzburg hielt der Oberbürgermeister eine kurze Rede, als er Ferdinand am Neuthor die Stadtschlüssel überreichte.32 Im Vorfeld war die Stadt geschmückt worden. So berichtete Caroline Schelling am 25. April 1806 ihrem Mann, dass es »nun Ernst« werde. »Ich höre eben die präsidirende Stimme der Frau Präsidentin, die vor ihrem Hause steht und das Gerüst zur Illumination höchst ingenios anordnet. Die Narrheit ist nun völlig ausgebrochen und traut sich bey hellen Tag auf offner Gasse zu erscheinen […].« Man habe »keinen ruhigen Augenblick mehr vor Bürgeraufzügen, exerciren, paradiren, Musik die ganze Nacht hindurch.«33 Alles bereitete sich auf die Ankunft des neuen Regenten vor. »Wir laboriren hier an der Ankunft des Regenten, von der niemand etwas sichres weiß, alle aber glauben und hoffen. Unzählige Illuminationsgerüste stehen fertig, die Ampeln werden auf Wägen gefahren, es ist kein Unschlitt mehr in der Stadt aufzutreiben, Tag und Nacht exercirt das Bürgervolk, sie müssen noch bersten vor Patriotismus und Zuneigung, wenn der Herr nicht bald kommt.«34 31 Stadtarchiv Kitzingen, Stadtratsprotokoll, Eintrag v. 17. April 1806, S. 292 – 298. 32 Staats Begebenheiten. Der dritte May, Tag der Ankunft unsers Durchlauchtigsten Churfürsten, in: Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 3. Mai 1806, Sp. 81 – 88, hier Sp. 83 – 85. 33 Brief Caroline Schelling (wie Anm. 3) an Friedrich Wilhelm Schelling, 25. April 1806, Nr. 403, S. 426 – 431, hier S. 426 f. 34 Brief Caroline Schelling (wie Anm. 3) an Meta Liebeskind, 27. April 1806, Nr. 404, S. 433 f., hier S. 434.

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Caroline Schelling schrieb von einer »Menge Bauernvolk«, die in die Stadt gekommen sei, ihre Kinder an der Hand führe und »vor allen Häusern stehn« bleibe, »wo es was buntes giebt.« Als der neue Fürst am 1. Mai 1806 eintraf, war der Menschenandrang sehr groß. »Von dieser Volksmenge hast Du keinen Begriff, Kopf an Kopf ganz Würzburg in diese Gassen gedrängt.«35 Nicht nur die Öffentlichkeit der Stadt wurde als Bühne zur Inszenierung benutzt, auch das Theater selbst konnte auf das festliche Ereignis reagieren. So wurde in Würzburg die auf dem Spielplan stehende »Entführung aus dem Serail« am Tag nach Ferdinands Ankunft um einen Prolog erweitert, in dem eine Schauspielerin vor einem transparenten Garten mit dem »Altar des Vaterlandes« in der Mitte sprach, über dem der Name Ferdinand thronte. »Es lebe Ferdinand von ihr ausgesprochen, war ein elektrischer Funke für alle Anwesenden, welche mit einem frohen Vivat und Händeklatschen einfielen, und den frohen Empfindungen neuerdings Luft machten,« hieß es im Bericht der »Chronik des Churfürstenthums Würzburg«.36 Hinter diesen Beschreibungen werden vor allem von Behörden und Institutionen ausgehandelte Botschaften sichtbar. Eine breitere Streuung in der Bevölkerung bekommen die Kommunikationsinhalte, wenn man die Schilder und Aufschriften miteinbezieht, die anlässlich der Ankunft Ferdinands an den Häusern angebracht wurden. Das war häufig ein »F.« für Ferdinand,37 in manchen Fällen aber auch aussagekräftigere Zeilen.38 Neben der Eidablegung und Ankunft des Fürsten boten sich weitere Festtage, wie der Namens- und Geburtstag des neuen Herrschers, für Reden und Huldigungsgedichte an. Da Ferdinands Geburtstag auf den 6. Mai fiel, standen die Festlichkeiten zeitlich in sehr engem Zusammenhang mit seiner Ankunft. Das Pfleggericht Tittmoning im Norden Salzburgs holte etwa zum 6. Mai 1803 ein größeres Fest nach, da die »Erbhuldigung im Februar […] aufgrund der stürmischen Witterung nur in Form eines Lob- und Dankamtes möglich gewesen« sei. Eingebettet in die üblichen Böllerschüsse und in Trompetenschall fanden sich von jedem Ort des Pfleggerichts »6 Jungfrauen jede mit einem Körbchen voll Blumen im möglichst gleichen Costüme«, Schulkinder, die Bürgermiliz und 35 Brief Caroline Schelling (wie Anm. 3) an Friedrich Wilhelm Schelling, 30. April – 1. Mai 1806, Nr. 405, S. 435 – 441, hier S. 441. 36 Staats Begebenheiten. Der zweyte May, Tag der Ankunft unsers Durchlauchtigsten Churfürsten, in: Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 5. Mai 1806, Sp. 89 – 92, hier Sp. 90. 37 Caroline Schelling berichtet beispielsweise nach einem Besuch bei der Familie Seuffert davon, dass sie dort »über der Thür ein vortreffliches Medaillon mit einem ungeheuren F. anheften sah zu den übrigen Lattenwerk.« Brief Caroline Schelling (wie Anm. 3) an Friedrich Wilhelm Schelling, 30. April – 1. Mai 1806, Nr. 405, S. 435 – 441, hier S. 436. 38 Die »Chronik des Churfürstenthums Würzburg« brachte am 24. Mai, 21. Juni und 5. Juli 1806 jeweils eine mehrseitige Beilage mit den »Allegorien und Inschriften, bey der am 4ten May in der Stadt Würzburg stattgehabten Beleuchtung«.

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Musikkapellen ein. Ferdinand selbst war nicht zugegen, wurde jedoch durch ein Porträt dargestellt, das im Mittelpunkt der Feierlichkeiten stand. Der Pfarrer von Palling hielt eine Rede, in der er den Bogen von Erzbischof Colloredo zu Ferdinand schlug – indem er die Wohltaten aufzählte, die man dem vorigen Landesfürsten zu verdanken habe und daran »die großen Hoffnungen, zu welchen uns Ferdinand berechtige« knüpfte. Auch hier kommunizierte man mittels Inschriften, die »Treue und Liebe von der Bürger- und Bauerschaft und den Untertanen […] auf einem Opferaltare, der unter unsers Ferdinands Bildnis angebracht war«, vermittelten.39 Die meisten Inhalte dieser Kommunikation sind über das Medium der Zeitung erhalten. Damit erfuhr auch die breitere Bevölkerung von den kommunizierten Botschaften. So diente in Salzburg das Intelligenzblatt als Transportmittel für diese Berichte. Es war seit 1784 wöchentlich als Beilage zur »Salzburger Zeitung« erschienen und durch den Redakteur und Herausgeber Lorenz Hübner, der zu den wesentlichsten Vertretern der Aufklärung in Salzburg gehörte, nach und nach zu einem journalartigen politischen Blatt umgestaltet worden, diente also nicht nur der Bekanntmachung amtlicher Dekrete. Zunächst unbehelligt von der Zensur wurden erst 1796 und 1798 unter dem Eindruck der Französischen Revolution einige Verschärfungen eingeführt, die jedoch kaum Auswirkungen hatten. Durch den Redaktionswechsel von 1800 zu einem gemäßigten Aufklärer verlor sich der politische Charakter und geschichtliche, geographische und geologische Themen dominierten.40 Anfang März 1803 begannen die »Nachrichten von den auf dem Lande bey Gelegenheit der Landeshuldigung vorgegangen Feyerlichkeiten« zu erscheinen. »Der neue Herzog« werde »in Prosa und Versen als der Vatter Salzburgs, als der Wiederbringer ihrer goldenen Zeiten besungen«, hieß es etwa in der Wahrnehmung Franz de Paula Pichlers.41 In Würzburg begann man hingegen mit Ende März 1806 eine neue Zeitung – die »Chronik des Churfürstenthums Würzburg«, die genau auf die neue Regierungsform zugeschnitten wurde. Herausgeber war der Professor für klassische Philologie und Philosophie an der Universität Würzburg Bonaventura Andres. Folgerichtig wurde der erste Artikel der ersten Ausgabe mit »Staatsbegebenheiten vom ersten Tage des Jänners bis zum ersten Februar als dem Wiedergeburts Tage unseres Vaterlandes« übertitelt.42 Das Urteil über diese 39 Feyer des 6. May in Titmaning, in: Intelligenzblatt von Salzburg, 14. Mai 1803, Sp. 307 – 310. 40 Alfred Stefan Weiß: Welche Presse hatte Napoleon? Die frühen Salzburger Zeitungen (1797 – 1810). »Unser General hat keinen Platz mehr vor sich, der ihn aufhalten könnte«, in: Salzburg Archiv. Schriftenreihe des Vereines Freunde der Salzburger Geschichte 34 (2010), S. 293 – 316, hier S. 295 f. 41 Tagebuch Franz de Paula Pichler (wie Anm. 20), Eintrag v. 1. März 1803. 42 Staatsbegebenheiten vom ersten Tage des Jänners bis zum ersten Februar als dem Wieder-

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Zeitung fiel bei der gegenüber der neuen Herrschaft kritisch eingestellten Caroline Schelling nicht gut aus. »Etwas schlechteres« gebe es nicht »als die Chronik des Andres und ein Prolog von ihm, worin steht, daß der neue Fürst glaubige Knie beuge – staubige lieber.«43 Die dichten, detaillierten Berichte und Abdrucke der Gedichte und Reden stellen einen reichen Fundus an Material dar, der sich natürlich quellenkritisch dem Faktum stellen muss, dass auf das tatsächliche Geschehen nur mittelbar geschlossen werden kann und dass die Auswahl der Selektivität und Steuerung unterlag. Trotzdem – unter Einbezug dieser Vorbehalte – bieten solche Quellen die Möglichkeit, sich der Wahrnehmung und den Erwartungen der Bevölkerung ein Stück weit anzunähern.

»Legitimationsbedingungen« der Bevölkerung Nachdem nun die möglichen Kommunikationsebenen skizziert wurden, geht es im Folgenden um die konkreten Inhalte, die vorgebracht wurden. Die Gedichte und Reden beinhalten im Wesentlichen zwei konstitutive Elemente, die als Voraussetzung für die Akzeptanz des Herrschers gelesen werden können. Zunächst erfolgte als Grundlage eine Selbststilisierung – die Beschreibung des eigenen Territoriums und der eigenen Situation. Daran knüpften sich die Erwartungen an den neuen Fürsten – interpretierbar als Forderungskatalog, für dessen Erfüllung man bereit sei, ihm Vertrauen und Gehorsam entgegenzubringen. Damit lassen sich Huldigungsgedichte und Reden als Zustandsbeschreibung und Ausschnitt an herrschenden Vorstellungen, Erwartungen und Zukunftsängsten der Bevölkerung lesen.

Selbstbeschreibung Als topografische Bezugsgrößen in Salzburg dienten der Hauptfluss – die Salzach – und das Gebirge. So begrüßte man etwa den Besitznahmskommissär »am geburts Tage unseres Vaterlandes, in: Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 29. März 1806, Sp. 1 – 11. 43 Brief Caroline Schelling (wie Anm. 3) an Friedrich Wilhelm Schelling, 4./5. Mai 1806, Nr. 407, S. 443 – 447, hier S. 445. Sie bezieht sich auf den Prolog zur erfreulichen Ankunft Sr. Königl. Hoheit des Erzherzogs Ferdinand Churfürsten zu Würzburg, gesprochen im Theater am 2. May 1806, in: Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 5. Mai 1806, Sp. 93 – 95, hier Sp. 93 f., wo es heißt: »Ihr staunet; wenn Er in den Hallen des Ewigen Als Herrscher seine glaubigen Knie beuget.«

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neu beglückten Salza-Strande«.44 Jede Gegend hob das für sie Besondere heraus – Hallein beispielsweise das Salz, das seine »beste Habe« sei, »der Vorsicht reiche Gabe«.45 Die Hauptstadt wurde häufig als »Juvavia« – in Anspielung auf die römische Bezeichnung der Stadt Juvavum – benannt.46 Der im Süden gelegene gebirgigste Teil Salzburgs – der Pinzgau – beschrieb sich als »im Thal und auf den Höhen« befindend.47 Entsprechend verglich man die »Liebe und Treue«, die man für Ferdinand und sein Geschlecht aufbringen wolle, als »unwandelbar, wie unsre Gebirge«. Auch hier konnte man sich mit dem Verweis auf »den Kaiserstamm«, der in den »Alpen Norikum’s« blühte, auf die Römerzeit beziehen und die »ewigen Kolossen« als Zeugen für »die Dauer seines alten Ruhm’s« benennen.48 Der Rückgriff auf die römische Kaiserzeit schien offensichtlich unproblematischer als etwa ein Bezug auf die Bedeutung Salzburgs als Erzstift, dessen Landesfürst im Heiligen Römischen Reich immerhin die Position des »Primas germaniae« innegehabt hatte.49 Abgesehen davon, dass dieser Titel Salzburg im 18. Jahrhundert nicht mehr unbedingt sehr viel Prestige verschaffte,50 wäre der Hinweis auf den Charakter Salzburgs als Erzstift in der Annäherung an den neuen weltlichen Fürsten wohl auch kontraproduktiv gewesen. Auch hätte sich der Eindruck, man hänge an der vorhergehenden Herrschaft, nicht als hilfreich erwiesen. Somit stellte der Bezug auf das antike römische Reich Salzburg einerseits in die Tradition eines weltlichen Herrschers und betonte zugleich die Verbindung zu einem italienischen Fürsten, wies also zweifach auf Ferdinand hin. Das ehemalige Hochstift Würzburg beschrieb sich hingegen als »edles Franken«, in das nun der Stamm des neuen Fürsten, »(e)ntsprossen in den sanften Gefilden Hesperiens«, verpflanzt werde. Zur Römerzeit nördlich des Limes gelegen, konnte sich dieses Gebiet nicht auf die Zugehörigkeit zum alten römischen Reich berufen. Stattdessen bemühte man mithilfe von römischen Gottheiten und ihren Attributen die Ähnlichkeit. Dem neuen Fürsten bereits gehuldigt hätten die

44 Auf die Ankunft des Freyherrn von Crumpipen, Besitznehmungs-Commisssär von Salzburg, in: Intelligenzblatt von Salzburg, 12. März 1803, Sp. 172. 45 Auf Ferdinand I., in: Intelligenzblatt von Salzburg, 3. März 1803, Sp. 150 f., hier Sp. 151. 46 Auf die Ankunft des Freyherrn von Crumpipen (wie Anm. 44), Sp. 172. 47 Nachtrag zur Erbhuldigungsfeyer (wie Anm. 27), Sp. 193. 48 Ebd., Sp. 195. 49 Heinz Dopsch: Salzburg im Hochmittelalter. Die äußere Entwicklung, in: Ders./Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. I/1, 3. verb. Aufl., Salzburg 1999, S. 229 – 336. 50 Helmut Rumpler : Das Jahr 1803 als Wende der europäischen und deutschen Geschichte – das Erzstift Salzburg in der »Welt von Gestern«, in: Ammerer/Weiß (wie Anm. 4), S. 24 – 36.

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»goldne Ceres mit ihrem Aehrenkranze, Pomona mit Blüthen und Früchten geschmückt, Der Hirtenführer Pan, und der Sorgenverscheucher, Der Beherrscher deiner Hügel Der Vater des Weines.«

Ein weiterer Bezug auf römisch-italienische Tradition gelang mit dem Verweis auf den hellenisch-römischen Götterpantheon. »Schon haben Ihm gehuldigt die holden Kastallinnen; Apoll hat Ihm, dem Verehrer der Künste Seine Leyer geweihet, […].«51 Sehr konkret wurde in beiden Fällen die aktuelle politische Situation beschrieben. Im Salzburger Kontext kehrte sehr häufig die Formulierung des »halbverwaisten Landes« wieder, etwa in Hallein anlässlich der Erbhuldigungsfeier : »(F)rohlocke einmahl wieder halb verwaistes Vaterland!«52 Diese Formulierung spielte auf die Abwesenheit des letzten regierenden Erzbischofs Hieronymus Colleredo an, der sich seit 1800 in Wien befand, als Salzburg mit der Besetzung durch die französische Armee konfrontiert war.53 Auch dies findet sich in den Reden und Gedichten thematisiert. Die »feindlichen Scharen« wurden mit den »Fluthen des Waldstroms« verglichen, die »Nordgau’s friedliche Thäler« bedeckten. Man habe das »eiserne Joch« gefühlt, nur zögerlich seien sie wieder von den Ufern der Salzach gewichen. »Zwey lange Jahre verflossen, Bange und öd’! – der Hoffnung leiser Trost nur hielt uns empor. Nun ist das Loos gefallen.«54 Damit wurde die ungewisse Situation angesprochen, in der sich Salzburg spätestens seit dem Frieden von Lun¦ville befand. Zwar war das Thema Säkularisation schon seit der Jahrhundertmitte immer wieder im Raum gestanden, doch mit der Bekräftigung des geheimen Zusatzartikels des Vertrags von Campo Formio von 1797 stand fest, dass die linksrheinischen Fürsten, die ihre Länder durch die Anerkennung des Rheins als Westgrenze Frankreichs verloren hatten, im Reich entschädigt werden mussten – und das betraf in erster Linie die geistlichen Territorien.55 Mitten in dieser Unsicherheit formulierte beispielsweise Dominikus Hagenauer, dass »wir unsere uralte Verfassung verliehren werden, und dabey noch nicht wissen, was mit uns geschehen, welcher Macht man uns als eine Entschädigung hingeben wird. Die verschiedenen Gerichte die herum gehen sind äusserst niederschlagend: bald wird unser geliebtes Vaterland eine Entschädigung für den Großherzog von Toskana; bald für den Herzog von Modena; bald für das Österreich, bald für Bayern; und bey aller dieser Ungewisheit, ist nur das einzige gewiß, daß wir unseren rechtmässigen Regenten 51 Prolog zur erfreulichen Ankunft (wie Anm. 43), Sp. 94 f. 52 Auf Ferdinand I. (wie Anm. 45), Sp. 150. 53 Franz Ortner : Vom Kurfürstentum zum Wiener Kongress – Salzburg 1803 – 1816, in: Dopsch/Spatzenegger (wie Anm. 4), S. 587 – 619. 54 Nachtrag zur Erbhuldigungsfeyer (wie Anm. 27), Sp. 194. 55 Thomas Weidenholzer : Aufklärung und Säkularisierung in Salzburg um 1800 – Ambivalenzen des Fortschritts, in: Ammerer/Weiß (wie Anm. 4), S. 56 – 83.

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nicht mehr sehen, daß wir unsere bisherige Verfassung ohne alles Verschulden verliehren werden.«56

Franz de Paula Pichler als höherer Beamter hatte erst am 11. Januar 1803 erfahren, dass der Großherzog der Toskana Salzburg nun tatsächlich angenommen habe.57 Dass Salzburg selbständig blieb, um einige kleine Territorien vermehrt wurde und zusätzlich noch die Kurwürde bekam, war angesichts der Alternativen, vor allem, dass man zu Bayern oder Österreich hätte kommen können, offensichtlich eine Erleichterung. Das wurde einerseits in den Gedichten angesprochen, etwa zur Ankunft des Besitznahmskommissärs: »Es hieng die Waage zwischen Seyn und Tode; – Da kündet er zuerst gleich einem Gotte Die frohe Deutung dir, o Vaterland! […] Der schicksalsschwangre Würfel liegt. Er hat mit deinem Loose ausgestritten, Dein Genius, die Leiden sind gelitten Und deine Hoffnung hat gesiegt.«58

Andererseits war diese Deutung auch ein Argument, das von allen Seiten verwendet und betont wurde. Von allen säkularisierten Territorien habe Salzburg das beste Los getroffen, indem es keinem anderen Gebiet zugeschlagen wurde, sondern eigenständig bleiben konnte, hob beispielsweise auch der Besitznahmskommissär Crumpipen bei seiner Ansprache vor der Landtagsversammlung hervor.59 In Würzburg gab es 1806 angesichts der neuen Entwicklungen und dem Wissen, dass man wieder einen eigenen Fürsten bekommen würde, zunächst keine eindeutige Argumentationslinie. Zwar hatte das Hochstift 1803 die Eigenständigkeit verloren, doch gab es im Land eine Reihe von Befürwortern der bayerischen Reformen, die auch in Würzburg durchgesetzt worden waren. In der ersten Ausgabe der neuen Zeitung in Würzburg kamen daher zunächst durchaus unterschiedliche Meinungen zur Sprache. Die Überraschung über die neue politische Entwicklung habe sich »auch sogleich laut, aber freylich nach Verschiedenheit der Stimmungen und der dabey sich einmischenden Interessen auf die verschiedenste Weise ausgedruckt.« Der »größere und bessere Theil (denn allen zu gefallen hat noch keiner Regierung geglückt)« habe die Tätigkeit der nun zu Ende gehenden bayerischen Regierung »in Beförderung der Aufklärung, in Emporhebung der Künste und Wissenschaften, in Verbreitung des geselligen Vergnügens und Belohnung der Staatdiener dankbar«60 erkannt. Doch mündete auch dieser Bericht schließlich in das Lob, dass man nun wieder ei56 57 58 59 60

Tagebuch Dominikus Hagenauer (wie Anm. 2), Eintrag v. 1. Jan. 1803, S. 843. Tagebuch Franz de Paula Pichler (wie Anm. 20), Eintrag v. 11. Jan. 1803. Auf die Ankunft des Freyherrn von Crumpipen (wie Anm. 44), Sp. 172. Tagebuch Dominikus Hagenauer (wie Anm. 2), S. 898. Staatsbegebenheiten (wie Anm. 42), Sp. 3.

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genständig werde, ein. Das Einzige, das die Franken vermisst hätten, sei ihre »seit mehr als tausend Jahre genossene Selbständigkeit unter ihren eigenen Fürsten.« Wer könne es ihnen also verdenken, dass sie wieder auflebten und sich wiedergeboren fühlten, da sie diese Selbständigkeit wieder erreichten. Hinzu sei noch gekommen, »daß bey der nun entschiedenen Veränderung unserer politischen Lage ein österreichischer Prinz in der Person des Erzherzogs Ferdinand bisherigen Churfürsten von Salzburg Beherrscher dieses neuen Churstaates wurde.«

Man bezog sich auf die Anhänglichkeit an dieses Haus, führte Verbindungen an, etwa von Fürstbischof Franz Ludwig, der schon als Privatmann bei »der verewigten Kaiserinn Maria Theresia in großem Ansehen« gestanden habe, und »von ihrem großen Sohne Joseph zu den wichtigsten Geschäften im Reiche gebraucht« wurde. Auch Beziehungen zwischen Franz Ludwig und Leopold II. ließen sich betonen, die Anwesenheit von Leopold II. und Franz II. in Würzburg hervorheben und schließlich noch der Sieg von Erzherzog Karl 1796 »vor unseren Ringmauern« erwähnen.61 Damit würde die Geschichte des Fürstentums Würzburg enden, das als »neues und erbliches Churthum nun unter den Staaten von Deutschland erscheint, und womit eine neue Zeitrechnung unsers Vaterlandes beginnt.«62

Ausformulierte Erwartungen Nach dieser Selbstbeschreibung konnte nun das Lob Ferdinands – verknüpft mit den an ihn gerichteten Erwartungen – einsetzen. Das erste Gedicht, das im Salzburger Intelligenzblatt am 5. März 1803 abgedruckt wurde, enthielt einen Wechselgesang, der in Hallein anlässlich der Erbhuldigungsfeier gesungen worden war. Sowohl die Bürger als auch die Bauern sollten das Wohl mit den Worten »[…] auf, es lebe unser bester Ferdinand!« ausrufen. Doch dies nicht ohne Grund, sondern weil man eine gute Entwicklung erwarten könne. »Jede Arbeit, ohne Sorgen, Jeder Abend, jeder Morgen Gründe fest, und wonnevoll Unsers neuen Fürsten Wohl.« Man könne nun »getrost auf bess’re Zeiten« hoffen, auf ein »Segenvolles Jahr«. »Gram und Noth« würden hingegen verschwinden.63 Solche Erwartungen waren zunächst sehr allgemein gehaltene Voraussetzungen, für die man zu huldigen bereit war. Etwas konkreter gestal-

61 Staatsbegebenheiten (wie Anm. 42), Sp. 4 – 6. 62 Ebd., Sp. 8. 63 Auf Ferdinand I. (wie Anm. 45), Sp. 150.

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teten sich Formulierungen über das erwünschte Ende der Armut oder in Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung: »Die Furcht entflieht. In des Gebirges Kluft, Wo Wildheit der Gesetze höhnte, Dringt bald der Ordnung milde Frühlingsluft, Nach der der biedre Mann sich sehnte. […] Die Großmuth zeigt sich dem Verdienste hold, Und haßt der falben Armuth Zähren. Der Diener fleht nicht mehr umsonst nach Gold, Mit Rumfords Suppe sich zu nähren […].«64

Handel und Wandel würden gedeihen, alle Gewerbe und Künste von Neuem belebt. Am Ufer der Salzach erhebe sich nun ein neues Florenz, das besser als am Arno sei. »Dein ist der herrliche Fürst, den Arno noch lange beweinet. Denn wo er immer nur thront, ist paradiesisches Land.«65 Doch war auch vorsichtige Skepsis in Salzburg zu hören, nicht alle waren bereit, den Regierungswechsel nur positiv zu thematisieren. Im südlichen Landesteil, im Pfleggericht Mittersill, wurde in der Dankesrede, die dem Besitznahmskommissär überreicht wurde, darüber nachgedacht, was ein Regierungswechsel mit sich bringen könnte und würde. Zwar sei man nun »in die glücklichste Epoche unseres Vaterlandes übergegangen.« Die »Leiden des Krieges« seien vorüber, ebenso wie auch die »Zeit der Erwartung«. Dann allerdings griff man weiter in die Geschichte zurück und verglich die vorherige Herrschaft mit der nun kommenden. Nur Sklaven würden gerne ihre Beherrscher tauschen – sie hingegen »fühlten kein Joch, keinen Druck, als den des unvermeidlichen Schicksals von einem kleinen Gebiethe – kannten keine Abgaben, als die zum Beßten des Vaterlandes, und die Erinnerung an den Verlust eines weisen Fürsten vereint sich mit dem wärmsten Dankgefühl für ihn.«

Die Situation sei also nicht schlecht gewesen und man machte deutlich, dass man unter dieses Niveau nicht bereit sei zu gehen. »Nur die glänzenden Tugenden eines Ferdinand, um den uns Millionen beneiden, konnten es bewirken, daß wir diese feyerliche Stunde der Huldigung geweiht, mit dem frohesten Herzen segnen.«66

Diese besseren Zeiten brachte man offensichtlich auch mit der familiären Stellung Ferdinands in Verbindung, die auch schon oben im Würzburger Kontext thematisiert wurde. Sie schien auf Prestige und Einfluss im Reich hoffen zu lassen. Dies klang in Formulierungen, wie »(E)r kommt, o goldne Zeiten Und 64 Juvavia auf ihren Ferdinand, in: Intelligenzblatt von Salzburg, 26. März 1803, Sp. 195 f., hier Sp. 196. 65 Poetische Ergießungen bey der Ankunft unsers durchlauchtigsten Landesfürsten, in: Intelligenzblatt von Salzburg, 30. April 1803, Sp. 275 – 278, hier Sp. 276. 66 Nachtrag zur Erbhuldigungsfeyer (wie Anm. 27), Sp. 193 f.

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Fried und Glück begleiten, Des Kaisers Bruder, Ferdinand!«67 oder im Gedicht »An Ihn« deutlich an: »Ha! Dein ist er, der Gütige, der Große, Des hohen Habsburg edler Helden-Sprosse! Frohlock’ beglücktes Vaterland!« Der Königsadler würde nun über den Auen schweben.68 Zugleich war mit dieser Betonung der Zugehörigkeit zum katholischen Haus Habsburg vielleicht auch die Erwartung verbunden, dass sich im bisher geistlich dominierten Land wenig ändere. Allerdings hätten mit Blick auf die Toskana durchaus Überlegungen aufkommen können, ob nicht eine Reihe von Reformen durchgeführt würden. Denn die Toskana galt auch zeitgenössisch als Land, in dem viele Gedanken und Ideen der Aufklärung umgesetzt worden waren – hin bis zur Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses.69 Zwar wurde auf die Toskana in den Gedichten und Reden immer wieder Bezug genommen, der Vergleich also hergestellt, aber offensichtlich nicht in verfassungspolitischen und kirchenrechtlichen Belangen, sondern nur in sehr allgemeiner Weise oder in Bereichen, die man in Salzburg verbessert haben wollte. »Auf! Juvavia, […] Um welchen jetzt weinet Tuscia, das ihn verlor, Jubel! […] Heilen wird Er die Wunden, die schlug der zerstörende Kriegsgott, schenken die Güter, die dir feindlich das Schicksal geraubt. […] Wohl will er allen der gütige Fürst, will alle beglücken, Welche die Vorsicht ihm gab, wie er nur immer vermag. Schöner wird blühen der Acker, es werden sich Städte erneurn. Wo jetzt Moor ist und Sumpf, heben sich Saaten empor.«70

Dieser Hinweis auf Moor und Sumpflandschaft, die nun fruchtbar gemacht werden sollten, kam auch in weiteren Gedichten vor, etwa, dass »Aecker und Fluren entsteh’n (würden), wo sonst die Frösche gequacket, Und wo es ehedem stank, duftet balsamische Luft.«71 Nicht zufällig richtete sich diese Erwartung an den ehemaligen Großherzog der Toskana. Dort waren in den Jahrzehnten davor einige Meliorisierungsprojekte durchgeführt worden, unter anderem die Fruchtbarmachung der Maremma. Auf diese wirtschaftlichen Reformen im Kontext der physiokratischen Überlegungen nahm man Bezug, da man im eigenen Land mit einer ähnlichen Situation konfrontiert war. Auf weiten Flächen im Süden des Landes hatte die Versumpfung mit allen Begleiterscheinungen, wie etwa der Ausbreitung von Malaria, immer mehr zugenommen. Folglich wurde 67 Nachtrag zur Erbhuldigungsfeyer (wie Anm. 27), Sp. 194. 68 H.: An Ihn, in: Intelligenzblatt von Salzburg, 14. Mai 1803, Sp. 310 – 312. 69 Gerda Graf: Der Verfassungsentwurf aus dem Jahr 1787 des Granduca Pietro Leopoldo di Toscana. Edition & Übersetzung – Das Verfassungsprojekt (Schriften zur Verfassungsgeschichte 54), Berlin 1998; Adam Wandruszka: Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser, 2 Bde, Wien 1965. 70 Das wieder auflebende Salzburg, in: Intelligenzblatt von Salzburg, 23. April 1803, Sp. 253 f. 71 Poetische Ergießungen (wie Anm. 65), Sp. 276.

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auch genau dort, bei der Erbhuldigung in Mittersill, das inmitten dieses sumpfigen Gebietes lag, dieses Anliegen am deutlichsten angesprochen. Man begann mit der Huldigung seiner Person. »Pinzgaus Kraft und Blut sind nur für Ferdinand, sein Wink ist uns Geboth, sein Wille unsre Stärke«. Der Schwur würde alle binden, »wie Kinder an sein Vaterherz«. Dann jedoch folgten die Bedingungen, die man dafür stellen wollte. »Auch auf Pinzgau wird sein allumfassender Blick weilen, auch hier wird Er manche Uebel sehen, die Er zu heben vermag. […] O daß Er unser Gau, einst so edel und blühend, seiner Verheerung entreiße, die kaum übersehbaren Sümpfe zu Fluren umschaffe, und unsre Wohnsitze so froh mache, als es unsre Herzen sind; ein Unternehmen, eines Ferdinands würdig, wofür Ihm der Dank Tausender, der Segen von Jahrhunderten werden wird.«

Damit schloss die Rede folgerichtig mit den Worten »Wir haben nun keinen Wunsch mehr, als den allgeliebten Fürsten bald in unsrer Mitte zu sehen. Sagen Sie Ihm das, Herr Kommissär.«72 Dieses Thema war offensichtlich ein grundlegendes Problem, das nicht nur in der betroffenen Region als solches wahrgenommen, sondern schon seit Beginn des Jahres 1803 im Intelligenzblatt in fortgesetzten Artikeln besprochen wurde.73 Die Erwartung an eine Verbesserung der Situation durch den neuen Herrscher zeigte sich am deutlichsten in Form eines geschilderten Traumes, der am 9. April 1803 veröffentlicht wurde. Ein Ich-Erzähler beschreibt, wie er auf der Reise durch den Pinzgau müde geworden und schließlich wohl eingeschlafen sei. Im Traum habe er den Wagen verlassen und »gieng auf der ganzen Gegend umher, wo ehemahls die tiefe, und große Uettendorfer Lache gestanden ist. Welches Erstaunen ergriff mich, als ich keinen Sumpf mehr bemerkte und nur festes Land sah.«

Nach einer ausgiebigen Wanderung durch die verwandelte Gegend sah er schließlich eine große Pyramide aus weißem Marmor. Auf der Spitze der Pyramide »zeigte sich ein herrlicher Mann, sein ganzes Wesen war edel, und voll Majestät […] Aus dem Auge strahlte beglückendes Lächeln, und Wohl für die Menschheit.« Wenig überraschend stellte sich heraus, dass er das Bild »des göttlichen Fürsten« gesehen hatte. Dass damit Ferdinand gemeint war, ergibt sich aus der Nachbetrachtung, als er wieder aufgewacht war und sich fragte, ob das alles wahr werden könne. »Kann uns die Vorsehung keinen Fürsten

72 Nachtrag zur Erbhuldigungsfeyer (wie Anm. 27), Sp. 193 f. 73 Anblick des Landes Pinzgau, in: Intelligenzblatt von Salzburg, 8. Jan. 1803, Sp. 15 – 23, fortgesetzt am 15. Jan. 1803, Sp. 36 – 39 und am 2. April 1803, Sp. 205 – 208.

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schenken«, der dies in die Wege leiten würde. »Ich hoffe es – ich behaupte es mit Zuversicht; denn Er ist uns schon So Nahe!!«74 Die Pyramide als Symbol für den neuen Herrscher fand sich auch an einer Reihe von Würzburger Häusern, die man zur Begrüßung Ferdinands 1806 angebracht hatte.75 In Würzburg war, wie erwähnt, die politische Situation deutlich anders. Während in Salzburg im Vorfeld von Ferdinands Herrschaftsübernahme die Befürchtungen im Raum gestanden hatten, dass das Territorium einem anderen Land zugeschlagen werden würde, so war dies im Hochstift Würzburg 1803 tatsächlich erfolgt. Drei Jahre, bis zum Frieden von Preßburg, bildete Würzburg einen Teil des Kurfürstentums Bayern. Mit der Regierungsübernahme Ferdinands verband sich nun, wie erwähnt, die neuerliche Eigenständigkeit. Auch wenn dies nicht von allen begrüßt wurde, wie die Briefausschnitte von Caroline Schelling und die ersten vorsichtigen Reden zeigen, so war doch die wiedergewonnene Eigenständigkeit ein wiederkehrendes Thema in den Gedichten und Reden. Professor und Zeitungsherausgeber Andres interpretierte die vielen Feierlichkeiten, die auch auf dem Land stattfanden, als Wertschätzung für die zurückgegebene Selbständigkeit.76 »Fühlt es, dass im Kreis der Nationen, Die des Krieges Jammerfolge schlug, Euch die Vorsicht, deutschen Sinn zu lohnen, Wieder einem Fürsten übertrug,«77 hieß es in einer Hymne am 1. Mai und der Zimmermeister Michael Herz brachte auf seinem Haus die Inschrift an, dass Kurfürst Ferdinand leben solle, die Stadt und das Land heute juble, »Und stimmet einer nicht mit ein, So wird er wohl kein Franke seyn.«78 Auch 1806 in Würzburg erwartete man sich bessere Zeiten. »Auch für uns wird Ferdinand mit Freuden Seiner Weisheit gold’ne Früchte weih’n; Wird uns Rath im Zweifel, Hülf im Leiden, Und zu Thaten Seinen Beystand leih’n.« Doch dann konkretisierten sich die Erwartungen: Er werde »(j)edem Zweig des Staates […] Leben, Schwung dem Geiste, dem Verdienste Lohn, Und dem Ganzen Kraft und Wohlstand geben, Schützen Tugend und Religion.«79 Hinter dem Bezug auf die Religion, der so in Salzburg nicht formuliert worden war, verbarg sich die Erfahrung mit der bayerischen Regierung, die viele Ämter der protestantischen 74 Traum und Wahrheit, in: Intelligenzblatt von Salzburg, 9. April 1803, Sp. 225 f. 75 So hatte beispielsweise der Maler Fischer an einem seiner Fenster »3 nebeneinander stehende Pyramiden mit Blumenwerk geziert (angebracht). An der mittleren und größeren Pyramide standen die Worte: Vivat Ferdinandus Princeps noster Optimus. Es lebe Ferdinand unser bester Fürst […].« Fortsetzung und Beschluß der Allegorien und Inschriften, bey der am 4ten May in der Stadt Würzburg stattgehabten Beleuchtung, in: Beilage zur Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 5. Juli 1806, Sp. 41 – 44, hier Sp. 41. 76 Feyerlichkeiten bey der Besitzergreifung auf dem platten Lande, in: Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 5. Mai 1806, Sp. 91 f. 77 Hymne, in: Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 1. Mai 1806, Sp. 75 – 79, hier Sp. 75 f. 78 Fortsetzung und Beschluß der Allegorien und Inschriften (wie Anm. 75), Sp. 43. 79 Hymne (wie Anm. 77), Sp. 77 f.

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Konfession geöffnet, eine Reihe von evangelischen Professoren an die Universität berufen und Klöster aufgehoben hatte.80 Damit richtete sich die Hoffnung ganz insbesondere auf den katholischen Hintergrund Ferdinands. Über dem Tor des aufgehobenen Klosters St. Afra befanden sich etwa bezeichnenderweise neben der Inschrift »Vivat Ferdinand! […] 2 Kugeln das Chaos vorstellend. Man erblickte in denselben, wie das Licht sich mehr und mehr zu vergrößern, und die Finsterniß zu verscheuchen suchte. In der Mitte stand eine Pyramide, ober derselben der Churhut.«81

Im Vergleich zu Salzburg lässt sich in den Gedichten und Reden von Würzburg aber vor allem ein wesentlicher Unterschied festmachen. Immer wieder wurde hier die gewünschte lange Regierungsdauer betont, wie etwa im Extrablatt anlässlich Ferdinands Ankunft: »Heute betritt unser theuerster Landes Vater Sein neues Churfürstliches Eigenthum zum erstennmal: heute trifft Er in Seiner Residenz Stadt Würzburg ein, um nun für allezeit in der Mitte Seines Volkes zu bleiben.«82

Ähnliches fand sich auf den an den Häusern angebrachten Inschriften, beispielsweise auf jener des Rittmeisters Leimgrub. Dort hieß es »Vivat Ferdinandus Et regat per innumeros annos. Es lebe Ferdinand und herrsche noch nach unzähligen Jahren.«83 Der Chor des am Tag von Ferdinands Ankunft im Theater vorgetragenen Prologs rief am Ende aus: »Er bleib es auch: sey unser Vater gerne, So gerne wir Sein Volk nun sind; So ruft der Frank bis in die weiteste Ferne, So ruft der Greis, das Weib, das Kind: Ja ja: Er ist – Er bleibe Unser!84 Während man sich also 1803 wohl noch nicht vorstellte, dass die territorialen und verfassungsmäßigen Verschiebungen, die der Reichsdeputationshauptschluss mit sich gebracht hatte, nur von kurzer Dauer sein könnten, war man 1806 schon sensibilisierter und drückte den Wunsch nach einer langen Dauer aus, hinter der sich die Befürchtung verbarg, dass es bald wieder zu Veränderungen kommen könnte.

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Brandt (wie Anm. 5), S. 491 – 497. Fortsetzung und Beschluß der Allegorien und Inschriften (wie Anm. 75), Sp. 41. Chronik des Churfürstenthums Würzburg, 1. Mai 1806, Sp. 73 f. Fortsetzung und Beschluß der Allegorien und Inschriften (wie Anm. 75), Sp. 43. Prolog zur erfreulichen Ankunft (wie Anm. 43), Sp. 93 f.

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Resümee Unschwer wurde in den Ausführungen die Schwierigkeit erkennbar, von den formulierten Erwartungen und Hoffnungen auf »Legimationsbedingungen« der Bevölkerung zu schließen. Die Untertanen hatten keine zwingenden Mittel in der Hand, um unnachgiebige Forderungen an den neuen Fürsten zu stellen. Doch lässt man sich auf den Anspruch der Politischen Kommunikation ein, nicht nur die Regierenden, sondern auch die Regierten als Kommunikationspartner ernst zu nehmen, dann verdienen die Äußerungen der Untertanen einen differenzierteren Blick. Wesentlicher Inhalt der Reden und Gedichte war in der Tat die Lobpreisung des neuen Fürsten. Das bedingte allein schon der Anlass, bei dem sie vorgebracht wurden. Doch haben die unterschiedlichen inhaltlichen Fokussierungen und Ausgestaltungen gezeigt, wie genau die Botschaften an die jeweils aktuelle Situation angepasst waren. Man bediente sich also offensichtlich der Gelegenheit, um offene Probleme vorzubringen und die damit verknüpfte Erwartung zu formulieren, dass der neue Herrscher diese lösen werde. All die Fähigkeiten, die er dazu benötigte, wurden ihm großzügig im Lobpreis zuerkannt. Sie entsprachen den Eigenschaften eines idealen Fürsten und einen solchen erwartete sich die Bevölkerung, einem solchen war sie bereit zu huldigen und ihn anzuerkennen. Was aber passierte, wenn ein Fürst dem nicht gerecht wurde? Die Möglichkeiten der Bevölkerung, gegen eine Herrschaft zu protestieren, lagen zwischen Verweigerung von Steuern, Nichtausführen von Befehlen, Fliehen vor der Militärrekrutierung, Klage vor den Reichsgerichten – je nach der rechtlichen Verfasstheit des Landes und nur so lange das Heilige Römische Reich noch Bestand hatte – und letztlich Aufstand. Die Chancen, aus diesen Konflikten siegreich hervorzugehen, waren sehr gering. Doch machten derartige Protestmaßnahmen das Regieren ungleich schwieriger und jeder Regent tat gut daran, sie zu vermeiden suchen. Daher wurde die Stimme der Bevölkerung gehört, ernst genommen und stets das Unruhepotential abgewogen. Damit bekamen die Aussagen der Untertanen – in diesem Fall eingekleidet in lobpreisende Gedichte und Reden – tatsächlich Gewicht.

Astrid von Schlachta

Von unten nach oben – Das Regionale für das Ganze? Aspekte der regionalen politischen Kultur in Dithmarschen im 19. Jahrhundert

»[…] daß alle besten moralischen und intellektuellen Kräfte immer zum Dienste des Gemeinwesens verwendet, die schlechten dagegen alljährlich ausgeschieden werden«1 – diese Worte aus einem Artikel der »Dithmarsischen Zeitung« vom 5. Juli 1834 fassen mehrere programmatische Diskussionen des frühen 19. Jahrhunderts zusammen, die die Region Dithmarschen kennzeichneten. Einerseits: Politik kann durch Abwahl von Repräsentanten gestaltet werden, also eine Abkehr von der bisher üblichen lebenslänglichen Amtsinhaberschaft oder der Kooptation. Dies betraf zunächst einmal die regionale Repräsentation in Dithmarschen, die Institutionen wie Bauerschafts-, Kirchspiel- und Landschaftsversammlungen umfasste.2 1834 stand jedoch auch die erste Versammlung der holsteinischen Provinzialstände bevor, die am 1. Oktober 1835 in Itzehoe zusammentrat und zu der Dithmarschen Vertreter entsandte. Andererseits verbergen sich hinter der Aussage Normen des politischen Miteinanders. Moralische und intellektuelle Fähigkeiten gelten als Auswahlkriterien und nicht mehr Herkunft und ständische Zuordnung. Mit der Möglichkeit einer Abwahl durch das Volk verbinden sich Fragen nach den Ansprüchen, die man an die Repräsentanten stellt, sowie nach dem Maß an Mündigkeit, das man dem Bürger zutraut. Ist er fähig politische Agenden mitzubestimmen? Oder muss er erst dazu erzogen werden, was durch eine breiter angelegte Repräsentation, durch mehr Mitbestimmung von mehr Bürgern erreicht werden könnte? Somit bündelt die Aussage der »Dithmarsischen Zeitung« einige wichtige Argumente, die aus der Region heraus auf die politische Bühne Holsteins gebracht werden sollten. Argumente zur Legitimation bezie1 Dithmarsische Zeitung, 5. Juli 1834, 212. 2 Vgl. generell: Heinrich Martens: Die Entwicklung der Landesverfassung Dithmarschens bis zur Gegenwart, Kiel 1955; Reimer Witt: Dithmarschen unter der Fürstenherrschaft (1559 – 1773), in: Martin Gietzelt (Red.), Geschichte Dithmarschens, Heide 2000, S. 179 – 216, bes. S. 197 – 202;Wilhelm Klüver: Die Landschaft Norderdithmarschen unter den Gottorpern (1581 – 1773) (Schriften des Vereins für Dithmarscher Landeskunde 18), Heide 1939; Reimer Hansen: Behördenorganisation und Verfassung Süderdithmarschens von 1559 bis 1867, in: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Geschichte 55 (1926), S. 184 – 287.

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hungsweise zur Begrenzung und Kontrolle von Macht, die aus dem historischen Vorbild der Region gezogen wurden. Der vorliegende Beitrag führt hinein in die politische Kultur einer kleinen Region im Norden des Deutschen Bundes, die von ihrer herrschaftlichen Zuordnung her einerseits dem König von Dänemark unterstand, andererseits über die Zugehörigkeit zum Herzogtum Holstein auch Teil des Deutschen Bundes war. Die territoriale Zwittersituation verortet Dithmarschen zwischen zwei nationalen Polen, die noch einmal ergänzt werden durch die eigene regionale Identität. Diese präsentiert sich im frühen 19. Jahrhundert in einer spannungsreichen Ambivalenz zwischen »alt« und »neu«, in der Vergangenheit und Gegenwart sehr reflektierend verbunden wurden. Wie in anderen Regionen auch richtete sich der Blick der politischen Akteure Dithmarschens unter dem Druck zentral- und nationalstaatlicher Einigung verstärkt auf die eigene Region, häufig idealisierend fokussiert auf jene Vergangenheit, die durch die Attribute »freiheitlich«, manchmal »demokratisch« gekennzeichnet werden konnte, wenn sie, wie in Dithmarschen, seit dem Mittelalter ein hohes Maß an politischer Partizipation auf der regionalen und lokalen Ebene hervorgebracht hat. Doch trotz aller Idealisierung war die Diskussion in Dithmarschen nicht nur eine konservierende und rückwärtsgewandte, die regionale Besonderheit erhalten wollte, sondern das Bestreben lief vielmehr darauf hinaus, Institutionen und Prozesse der Vergangenheit an neuen Ideen zu testen, sie, wenn nötig, zu modifizieren und in das größere Ganze einzubringen. Die Region grenzte sich also keineswegs auf der Basis historischer Besonderheit ab, sondern öffnete sich für übergeordnete Einheiten. Die vorliegende Analyse führt nicht nur in die Region Dithmarschen, sondern auch in die Region Dithmarschen. Die Region soll als Raum beschrieben werden, in dem historisch gewachsene Strukturen mit menschengemachten und veränderbaren Konstrukten eine politische Kultur ausbilden, die Sinn stiftet, Identitäten kreiert und diese zu anderen Einheiten, etwa dem übergeordneten politischen Gemeinwesen, positioniert. Der Begriff der Region wird somit als sehr offener, flexibler Begriff angewandt. Politische Kultur ist in diesem Zusammenhang ebenfalls etwas »Geschaffenes«, das Produkt einer zielgerichteten, auf Herrschaftsabsicherung und Herrschaftserweiterung abzielenden staatlichen und parteibestimmten Politik und ein mit »Sinnbezügen gefüllter Rahmen«.3 Sie wird unter anderem abgebildet in der politischen Kommunikation, 3 Alf Mintzel: Besonderheiten der politischen Kultur Bayerns. Facetten und Etappen einer politisch-kulturellen Homogenisierung, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.), Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung (Politische Vierteljahresschrift 18), Opladen 1987, S. 295 – 308, hier S. 308; Karl Rohe: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven in der politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321 – 346, hier S. 333; auch: Gerhard Hauck: Das Lokale als Wi-

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die Prozesse regionaler Identitätskonstruktionen offenlegt und Auskunft gibt über die Normen, die diese Prozesse bestimmten, über die Parameter, die die politische Kultur definierten, sowie über die Sinnzuschreibungen, über den inklusiven oder exklusiven Charakter regional bestimmter Räume. Die Annäherung an die regionale politische Kultur soll im folgenden Beitrag an zwei verschiedenen publizistischen Genres geschehen – an einem historiographischen Werk, dem 1820 erschienenen Buch »Zur Verfassung Dithmarsens alter und neuer Zeit« von Peter Mohr, und an der »Dithmarsischen Zeitung«. Dabei liegt der Fokus auf jenen Beiträgen und Debatten, in denen die Geschichte der Region und die historischen Strukturen von Politikgestaltung und Partizipation in späteren Zeiten Pate in der politischen Kommunikation standen. Peter Mohr beispielsweise schrieb, die Verfassung Dithmarschens könne »noch einst ein Muster abgeben, wie ein besonderes Provinz- und Landschaftsleben sich zum allgemeinen Staatsleben, wovon es nur einen organischen Theil ausmacht, im Flor der gesammten Gleichwirksamkeit einzurichten sey«.

Gerade die »Freiheitszeit (habe) die Frucht so glänzender Thaten« hervorgebracht; die Betrachtung der Ereignisse und der Verfassung Dithmarschens in dieser Zeit solle »auch ein Fingerzeig zum Besseren für unsere jetzige« Zeit sein.4 Ein unbekannter Verfasser eines Artikels der »Dithmarsischen Zeitung« sah die »mannigfaltigen Vorzüge« der Dithmarscher Verfassung 1834 sogar als »Muster« für andere Länder.5

Dithmarschen politisch – ein kleiner Rückblick Dithmarschen, an der Nordseeküste des heutigen Schleswig-Holstein gelegen, hatte seine glorreiche Zeit im späten Mittelalter. Die Region verfügte über eine sehr weitreichende Eigenständigkeit in der Verwaltung, da der Erzbischof von Bremen, dem das Gebiet seit der Schlacht von Bornhöved (1227) gehörte, seine derpart destruktiver Globalisierung? Der Mythos von der »kulturellen Gemeinschaft« in Postdevelopmentalismus und Kommunitarismus, in: Leviathan 36 (2008), S. 576 – 589, bes. S. 580; zum Begriff der Region vgl. Axel Flügel: Der Ort der Regionalgeschichte in der neuzeitlichen Geschichte, in: Stefan Brakensiek u. a. (Hg.), Kultur und Staat in der Provinz. Perspektiven und Erträge der Regionalgeschichte (Studien zur Regionalgeschichte 2), Bielefeld 1992, S. 1 – 28; Thomas Kühne: Die Region als Konstrukt. Regionalgeschichte als Kulturgeschichte, in: James Retellack (Hg.), Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1930 – 1918, Bielefeld 2000, S. 253 – 263; Thomas Küster : »Regionale Identität« als Forschungsproblem. Konzepte und Methoden im Kontext der modernen Regionalgeschichte, in: Westfälische Forschungen 52 (2002), S. 1 – 44. 4 Peter Mohr : Zur Verfassung Dithmarsens alter und neuer Zeit, Altona 1820, S. 141, 17. 5 Erwiderung, in: Dithmarsische Zeitung, 24. Mai 1834.

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hoheitlichen Rechte nur äußerst schwach wahrnahm. So konnten sich einzelne Institutionen entwickeln, die Herrschaft regional auf eine breite Basis stellten und in der retrospektiven Betrachtung regionaler Akteure gerne als Zeichen der »demokratischen« oder »republikanischen« Vergangenheit interpretiert und verklärt werden.6 Im späten Mittelalter bildete sich der Achtundvierziger Rat, eine aus 48 Richtern zusammengesetzte Versammlung, als oberstes Gremium heraus, das zunächst die Funktion eines Appellationsgerichts in Zivilstreitigkeiten übernahm, die hohe Gerichtsbarkeit innehatte und über allen Kirchspielen stand.7 Die Achtundvierziger bauten ihre Macht in politischer Hinsicht über die gerichtlichen Funktionen hinaus jedoch bald aus; sie übernahmen die Oberaufsicht über die ordnungsgemäße Rechtspflege im Land und wurden schließlich zu einem Gremium von Regenten und Herren und bildeten eine Art Adels- oder Geschlechter-Oligarchie. Neben dieser machtvollen, übergeordneten Stellung der Achtundvierziger hatten die Kirchspiele die wesentlichen Kompetenzen in der Regelung der inneren Angelegenheiten Dithmarschens inne. Retrospektiv sind vor allem sie es, die zum Merkmal der »föderativen Republik« oder zu »föderativen Organen im Innern« stilisiert wurden.8 Weitere Vertreter der Landschaft waren der Landvogt, der Landschreiber und die Kirchspielvögte – Ämter, deren Zuordnung als landschaftliches oder königliches Amt bis ins 19. Jahrhundert für Diskussionen sorgte. Die untersten Zellen der Verwaltung stellten die Bauernschaften dar, deren Existenz zwar suggeriert, es habe eine politische Partizipation bis auf die unterste Ebene der Gesellschaft gegeben. Jedoch war ganz klar definiert, wer »Vollbauer« war und damit über Rechte und Pflichten verfügte – es waren nur jene, die über einen Anteil an der »Meente« und damit über Besitz verfügten.9 Die genannten Institutionen stehen beispielhaft für die so genannte »freie Republik«, die Dithmarschen bis 1559 angeblich war. Die »Freiheitszeit« oder »Bauernrepublik« fand ihren Höhepunkt in der Schlacht von Hemmingstedt im 6 Vgl. beispielsweise: Wilhelm Klüver: Dithmarschen und Schleswig-Holstein im Wandel der Geschichte, Heide 1931, S. 12; Martens (wie Anm. 2), S. 65; Nis R. Nissen: Dithmarschen. Skizze einer maritimen Kulturgeschichte, in: Ludwig Fischer (Hg.), Kulturlandschaft Nordseemarschen (Nordfriisk Institut 129), Westerhever 1997, S. 121 – 128, hier S. 124 f.; Kersten Krüger: Die landschaftliche Verfassung Nordelbiens in der Frühen Neuzeit: Ein besonderer Typ politischer Partizipation, in: Helmut Jäger u. a. (Hg.), Civitatum Communitatis. Studien zum europäischen Städtewesen (Städteforschung A/21, II), Köln/Wien 1984, S. 458 – 487, bes. S. 463; kritisch hierzu: Erich Hoffmann: Dithmarschen im nordeuropäischen Kräftefeld – eine Skizze, in: Martin Gietzelt (Red.), Geschichte Dithmarschens, Heide 2000, S. 13 – 16, bes. S. 15. 7 Vgl. generell Martens (wie Anm. 2), S. 53 – 56. 8 Ebd. S. 65; Tatjana Niemsch: Land und Herrschaft im frühneuzeitlichen Dithmarschen (I), in: Dithmarschen 4 (2004), S. 95 – 100, hier S. 96. 9 Vgl. als Überblick: Georg Marten/Karl Mäckelmann: Dithmarschen. Geschichte und Landeskunde Dithmarschens, Heide 1927, S. 57 – 60.

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Jahr 1500, als die Dithmarscher mit Hilfe der natürlichen und geographischen Eigenheiten des Landes, der Moore und des Wassers, ein Heer der Dänen und Holsteiner schlugen. Dieser Sieg wird vor allem im 19. Jahrhundert zu einem ruhmgefüllten Erinnerungsort; die historischen Ereignisse werden vielfältig ausgeschmückt und heroisiert und boten auch genügend Stoff in der zeitgenössisch wichtigen Positionierung Dithmarschens gegenüber Dänemark.10 Wenn auch der Erinnerungsort, dessen sichtbares Zeichen das 1900 erbaute Denkmal auf der Dusendüwelswarft war, nicht ganz unproblematisch war, denn auf Seiten der Dänen kämpfte unter anderem ein holsteinisches Kontingent, was im Zuge der zunehmend »deutschen« Positionierung Dithmarschens einige Interpretationsprobleme bereitete. 1559 ist dann jedoch die Eigenständigkeit Dithmarschens beendet, als ein Koalitionsheer der drei Landesherren Herzog Johann von Schleswig-HolsteinHadersleben, Herzog Adolf von Schleswig-Holstein-Gottorf und König Friedrich II. von Dänemark die Dithmarscher schlug. Es folgte die Teilung in Norderdithmarschen, das holsteinisch-gottorfisch wurde, und in Süderdithmarschen, das zukünftig zu Dänemark gehörte. Erst 1773, als der herzogliche Teil durch den Verzicht Russlands auf bestehende Ansprüche an Dänemark fiel, war die Teilung in Norder- und Süderdithmarschen wieder beendet.11 Somit gehörte die gesamte Region Dithmarschen nach 1815 gleichzeitig zu Dänemark und zu Holstein und damit zum Deutschen Bund. Dieser kurze Abriss der Geschichte Dithmarschens offenbart bereits jene Punkte, an denen spätere Interpretationen ansetzen: die vermeintlich demokratische Geschichte mit ihrer angeblich breiten politischen Partizipation, die Freiheitszeit und der Kampf gegen Dänemark, die den politisch-sozialen Strukturen, die in der Region gewachsen waren, Legitimation verleihen sollten.

Aufklärung, Zensur und Pressewesen in Dithmarschen Schon im späten 18. Jahrhundert wurde die regionale politische Kultur Dithmarschens ganz entscheidend von einem sehr liberalen Klima geprägt, das mit der dänischen Zensurpolitik erklärt werden kann.12 Nachdem Johann Friedrich 10 Frank Trende: Die Schlacht bei Hemmingstedt. Ein deutscher Mythos zwischen Politik, Poesie und Propaganda, Heide 2000; Walther Lammers: Die Schlacht bei Hemmingstedt. Freies Bauerntum und Fürstenmacht im Nordseeraum, Heide 21982. 11 Durch die Heirat Karl Friedrich von Holstein-Gottorfs mit Anna Petrowna, einer Tochter Peters des Großen, hatte Russland Ansprüche auf Gebiete herzoglichen Anteils erworben. 12 Vgl. zur Zensur bis 1819: Beate Cöppicus-Wex: Die dänisch-deutsche Presse 1789 – 1848. Presselandschaft zwischen Ancien R¦gime und Revolution (Studien zur Regionalgeschichte 16), Bielefeld 2001, S. 68 – 75; zum Zeitungswesen im 17. und 18. Jahrhundert vgl. allgemein:

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Struensee die Zensur 1770 aufgehoben hatte, verschärfte sich die Situation signifikant erst wieder während der Napoleonischen Kriege, da die dänische Regierung, von 1808 bis 1814 ein fester Bündnispartner Frankreichs, frankreichkritische Veröffentlichungen vermeiden wollte. Auch die Gründung neuer Zeitungen stand in Dithmarschen nicht auf dem Programm. So äußerte sich beispielsweise der Holsteinische Statthalter Carl zu Hessen 1810 äußerst kritisch zu einem Plan des Meldorfer Obergerichtsadvokaten Wilhelm von Eggers, eine »Norddeutsche unpartheyische Zeitung« zu gründen, mit der inhaltlich nicht weiter ausgeführten Begründung, mögliche »Inconvenienzen« könnten eine »unangenehme Folge nach sich ziehen«.13 Die Karlsbader Beschlüsse von 1819, die im Deutschen Bund unter der Führung des österreichischen Staatskanzlers Clemens Wenzel von Metternich zu einer rigiden Zensurpraxis führten, wurden in Dänemark nicht für den Gesamtstaat und nur auszugsweise, das heißt in einzelnen Ausführungsbestimmungen für die Herzogtümer Holstein und Lauenburg, übernommen. Alle Bestimmungen der Karlsbader Beschlüsse, die die Souveränität der dänischen Regierung zugunsten des Deutschen Bundes eingeschränkt hätten, wurden nicht publiziert. Jedoch führte Dänemark eine Vorzensur ein, die in Kiel und Altona angesiedelt war. Alle Zeitungen und Wochenblätter, die nicht in Kiel und Altona erschienen, wurden dagegen im Herzogtum Holstein durch die lokalen Polizeibeamten vorzensiert.14 1820 erließ die Regierung zudem die Anweisung, dass Personen, die ein Tage- oder Wochenblatt herausgeben wollten, eine Genehmigung brauchten, und dass keine Zeitung, außer dem gesamtstaatlich-konservativ ausgerichteten »Altonaer Mercur«, politische Nachrichten bringen durfte. Was jedoch »politische Nachrichten« seien, wurde zwar nicht explizit definiert; allerdings verstand man darunter in Dänemark inoffiziell die außenpolitischen Meldungen. Die Instruktion für die 1819 bestellten Zensoren in Altona und Kiel definiert als Bewertungskriterium all das, »was den Landesgesetzen und Verfügungen widerstreitet« beziehungsweise was die »Würde und Sicherheit des deutschen Bundes und der einzelnen Bundesstaaten verletzt, oder wodurch die Verfassung oder Verwaltung einzelner Bundesstaaten angegriffen wird«.15 Die Diskussion über politische Zuordnungen und über das, worüber beHolger Böning: Zeitung und Aufklärung, in: Martin Welke/Jürgen Wilke (Hg.), 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 22), Bremen 2008, S. 287 – 310. 13 Zit. n.: Cöppicus-Wex (wie Anm. 12), S. 73; vgl. auch ebd., S. 93. 14 Ebd., S. 79 – 81, 239 – 244. 15 Zit. n.: ebd. S. 82; vgl. auch: Henning Unverhau: Pressefreiheit, Pressefrechheit und Zensur in Schleswig-Holstein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 121 (1996), S. 45 – 78, hier S. 48 f.

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richtet werden darf, setzte sich auch in Dithmarschen fort, eingebettet unter anderem in die Deutsche Frage. So problematisierte ein anonymer Artikel in der »Dithmarsischen Zeitung« 1835, was diese unter »Staat« verstehe, ob Dänemark mit seinen Herzogtümern oder das »gesammte Deutschland«. Der Verfasser gibt gleich seine eigene Einschätzung weiter und bezeichnet die Verbindung Dänemarks zu Deutschland zwar als wichtig, für Dithmarschen wären jedoch die Beschlüsse des Bundestages in Frankfurt/Main von immer größerer Bedeutung. Die Frage sei also, ob die »Dithmarsische Zeitung« Artikel aufnehme, die sich auf das »gemeinsame deutsche Vaterland« beziehen.16 Die Herausgeber gehen auf diese Frage ein und geben vor dem Hintergrund der Zensurpolitik eine vorsichtige Marschrichtung vor. Zwar würden die Deutschen als Staat noch recht wenige Gemeinsamkeiten zeigen, als Nation seien sie jedoch schon »innig vereint«. Als Zeitung habe man zwar keine Erlaubnis, politische Dinge zu bringen, könne jedoch zwar ein wenig auf die »Deutsche Reichsverfassung« ausweichen, von der »hier niemand weiß und hören mag«. Generell ziehe man Berichte über regionale Angelegenheiten vor – es sei ratsam, nicht in die »obersten Zweige« des Baumes zu steigen, wo jeder Fehltritt einen Beinbruch bedeuten könnte, sondern die »saftigen Früchte« der unteren Zweige zu ernten, das heißt hauptsächlich über die Landesversammlung zu berichten.17 Im gleichen Jahr wie die eben geschilderte Diskussion, 1835, erhielten die Zensoren in Altona und Kiel als Folge der Beschlüsse der Wiener Ministerkonferenz vom Juni 1834 und als Reaktion auf die wachsende schleswig-holsteinische Bewegung neue Instruktionen. Sie sollten einerseits »auffallend böswillige oder revolutionaire Tendenzen« streichen und der vorgesetzten Zensur-Behörde anzeigen. Andererseits sollten sie Artikeln und Aufsätzen, die einen »anderen Vereinigungszweck für die Gesamtheit der Deutschen Nation bezwecken, als (den) in der Gründung des Deutschen Bundes gegebenen« beziehungsweise die auf »eine democratische Umgestaltung der Bundesverhältnisse« hinwirkten, den Druck verweigern. Auch Schriften, die die Verfassung von Staaten angriffen, die mit Dänemark in »freundschaftlichen Verhältnissen« standen, sollten verboten werden.18 Den Interpretationsspielraum, den die politische Berichterstattung ließ, und die von außen angelegten Definitionskriterien zeigt 1847 auch eine Auseinandersetzung des »Itzehoer Wochenblattes« mit der Regierung. Letztere warf der Redaktion des Wochenblattes vor, sie habe die 16 Dithmarsische Zeitung, 4. Jg., No. 4, 24. Jan. 1835, S. 32. 17 Ebd., Beilage 1. 18 Zit. n.: Unverhau (wie Anm. 15), S. 75 f.; vgl. auch: ebd., S. 48 – 51; Otfried Czaika/Inger Dübeck/Katharina Woellert: Dänemark, in: Peter Brandt/Martin Kirsch/Arthur Schlegelmilch (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert – Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 1024 – 1066, hier S. 1040.

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»gehässige und strafbare Tendenz, das Vertrauen des Volkes zu den Beamten und zu der Landesregierung zu untergraben, Unzufriedenheit überall zu wecken« und »staatsauflösende Principien zu verbreiten«. Zudem hätte man »persönliche Charaktere« verdächtigt und »religiöse Gegenstände auf höchst unangemessene Art« besprochen.19 Die wichtigsten Zeitungen für das Herzogtum Holstein waren der »Altonaer Merkur« sowie ab 1817 das »Itzehoer Wochenblatt« und das »Kieler Correspondenzblatt für die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg«, das ab 1830 erschien. Schon vorher hatte es einige Wochen- und Intelligenzblätter gegeben, die ihr Erscheinen jedoch teilweise nach nur wenigen Jahren wieder einstellten.20 Eine recht lange Erscheinungsdauer hatten die »Schleswig-Holsteinischen Provinzialberichte«, die 1787 das erste Mal herauskamen und ein wichtiges Publikationsorgan für aufklärerische Ideen in den Herzogtümern waren. Herausgeber war August Christian Heinrich Niemann, später Professor für Kameralwissenschaften in Kiel beziehungsweise Gründer der »Patriotischen Gesellschaft«.21 Die »Provinzialberichte« beschäftigten sich mit der Landeskunde, die verschiedene Aspekte des Lebens, aber auch die »Kentnis der natürlichen Beschaffenheit und der bürgerlichen Verfassung« umfasste. Die »Beförderung der Landeskunde«, so Niemann, würde auch den »bürgerlichen Wohlstand« verbessern.22 In Dithmarschen erschienen im späten 18. Jahrhundert zwei Intelligenzblätter, von 1775 bis 1776 die »Dithmarsische Wochenschrift zum Nutzen und Vergnügen« sowie von 1784 bis 1785 die Zeitung »Etwas für alle Stände«, beide wurden in Heide herausgegeben. Nimmt man noch die Publikationen eines ausgewanderten, im Jahr 1781 wieder zurückgekehrten Dithmarschers hinzu, so könnten auch »Das Deutsche Museum« beziehungsweise das »Neue Deutsche Museum« von Heinrich Christian Boie genannt werden, das dieser von 1776 bis 1791 herausgab. Ab 1781 war Boie Landvogt in Süderdithmarschen.23 19 Zit. n.: Cöppicus-Wex (wie Anm. 12), S. 255. 20 Zu den Zeitungen und der Aufklärung generell: Franklin Kopitzsch: Lesegesellschaften und Aufklärung in Schleswig-Holstein, in: Zeitschrift für die Schleswig-Holsteinische Geschichte 108 (1983), S. 141 – 170; Rudolf Bülck: Das schleswig-holsteinische Zeitungswesen von den Anfängen bis zum Jahre 1789 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 16), Kiel 1928; Böning (wie Anm. 12), S. 295; Johannes Weber : Daniel Hartnack – ein gelehrter Streithahn und Avisenschreiber am Ende des 17. Jahrhunderts, in: GutenbergJahrbuch 69 (1993), S. 140 – 158. 21 Kai Detlev Sievers: Patriotische Gesellschaften in Schleswig-Holstein zwischen 1786 und 1929, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften (Wolfenbütteler Forschungen 8), München 1980, S. 119 – 141; generell auch: Ders.: Volkskultur und Aufklärung im Spiegel der Schleswig-Holsteinischen Provinzialberichte (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 58), Neumünster 1970. 22 Zit. n.: Sievers, Volkskultur (wie Anm. 21), S. 19, 22. 23 Zu einer Biographie vgl. Klaus Gille: Heinrich Christian Boie. Ein Lebensbild, in: Dieter

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Leider fehlt es bisher immer noch an fundierten Studien zum Publikum und zum Leseverhalten in Schleswig-Holstein im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Jedoch zeigen Analysen für die oldenburgische Küstenmarsch für die Mitte des 18. Jahrhunderts eine erstaunlich hohe Alphabetisierung; sie gehen für 1750 von 98,5 % Lesenden und 59,1 % Schreibenden aus. Zahlen, die auch auf andere Regionen übertragbar sein könnten, zumal im liberalen Klima Schleswig-Holsteins viele Lesegesellschaften entstanden.24 Der Kieler Professor Johann Nicolaus Tetens, der 1778/79 durch die schleswig-holsteinischen Küsten- und Elbmarschen reiste, berichtet über eine »sich ausbreitende Lectüre« in Dithmarschen. »Jeder anständig lebende Hausmann« würde die politischen Zeitungen lesen und die Chronik des Landes studieren. Er erwähnt eine Lesegesellschaft in Marne, beim Wirt, wo klassische deutsche oder ins Deutsche übersetzte Literatur, wie beispielsweise die Schriften von Gottlieb Wilhelm Rabener, Christian Fürchtegott Gellert oder Thomas Jones gelesen wurde. Allerdings, so Tetens, standen keine neuen Romane und keine empfindsame Literatur auf dem Programm. Vor allem der Landvogt Heinrich Christian Boie würde das Lesen fördern.25 Aus den Quellen ist ersichtlich, dass Boie eine umfangreiche Bibliothek aufgebaut hatte, ebenso Johann Adrian Bolten, ab 1772 Diakon in Wöhrden und Verfasser der »Dithmarsischen Geschichte«. Zudem bestand in Marne um 1800 eine Schul- und Gemeindebibliothek, die 1802 über 202 Bände verfügte.26 Obwohl diese Nachrichten auf ein sehr reges gebildetes Leben in Dithmarschen schließen lassen, muss man deutlich trennen zwischen Stadt und Land. So betont Johann Nicolaus Tetens, dass trotz aller Erfolge für die Bildung ein Gefälle zwischen den Gebildeten und dem »gemeinen Volk« bestehe – letzteres lese gerade den Morgen- und Abendsegen und sonntags die Hauspostille. Heinrich Christian Boie beklagt ebenfalls ein »trauriges« Klima in der Region. Es sei schwierig, so Boie in einem Brief vom Januar 1786, in Dithmarschen eine Gesellschaft zum Lesen und Schreiben zusammenzubringen.27 Die »dienende Klasse der hiesigen Nation ist unwissend und träge, so wie die Dänen. Die hiesigen Gesellschaften sind sehr langweilig, aber ich sehe alle die Menschen selten und

24 25 26 27

Lohmeier u. a. (Hg.), Heinrich Christian Boie. Literarischer Mittler in der Goethezeit, Heide 2008, S. 11 – 32; generell zu den Intelligenzblättern aus Dithmarschen: Adolf Bülck: Das schleswig-holsteinische Zeitungswesen von den Anfängen bis zum Jahre 1789 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 16), Kiel 1928, S. 217, 234, 254 f. So Kopitzsch (wie Anm. 20), S. 146. Zit. n.: ebd., S. 160; zur Meldorfer Lesegesellschaft vgl. Alexander Ritter: Gelehrter Mentor für bürgerliche Lektürekultur in der ländlichen Kleinstadt: Heinrich Christian Boie und die Lesegesellschaft in Meldorf, in: Lohmeier (wie Anm. 23), S. 83 – 102. Kopitzsch (wie Anm. 20), S. 146, 161 f. So in einem Brief an seine spätere Frau Louise Mejer vom 5. 1. 1785, ediert in: Ilse Schreiber (Hg.): Ich war wohl klug, dass ich dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777 – 85, München 1961, S. 425.

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ersetze mein Nicht-Erscheinen durch Höflichkeit und Attentionen, die mich nichts kosten und den Leuten angenehm sind.«

Boie kritisierte zudem die nur unzulängliche moralische Bildung, die der Staat den jungen Leuten zukommen ließe, die jedoch zur Erhaltung von Ruhe und Sicherheit im Land wichtig sei. »Wir sind in unserm Lande noch unbeschreiblich zurück in diesem Stücke. Alle bis jetzt noch gemachten oder versuchten Pläne und Projekte sind Quacksalbereien, wovon meist niemand gut hat als der dabei angestellte Arzt.«28

Auch der in Dithmarschen aufgewachsene, spätere Kieler Pastor Claus Harms berichtet in seinen Lebensbeschreibungen, dass in Dithmarschen zwar die Prediger und Schullehrer den »Altonaer Mercur« lasen, man ansonsten die Nachrichten aus den Zeitungen nur bei der Arbeit, etwa auf der Mühle, oder abends bei Zusammenkünften in den Häusern hörte.29 Somit scheint also eine generell recht offene, im Detail jedoch etwas behäbige gelehrte und aufgeklärte Kultur die Region Dithmarschen geprägt zu haben. Besonders in den ländlichen Gegenden blieb es bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts schwierig, die Leute zu erreichen und unter anderem auch genügend Publikum zu finden, um eine Zeitung am Leben zu erhalten. Noch 1840 wies ein Bericht der Schleswig-Holsteinischen Regierung darauf hin, dass die Gründung von Intelligenzblättern auf dem Land aufgrund der zu erwartenden nur geringen gewerblichen und privaten Anzeigen kaum Erfolg haben würde. Ausgenommen waren jedoch die Marschdistrikte. Allerdings zeigen Untersuchungen zur dänisch-deutschen Presse in Schleswig-Holstein im 19. Jahrhundert, dass die Leser spätestens ab den 1830er Jahren fundiertere und ausführlichere politische Nachrichten wünschten und traditionelle Intelligenzblätter, die vor allem aus Anzeigen und unpolitischen Berichten bestanden, zunehmend ablehnten.30 Als der Heider Buchhändler Carl Friedrich Julius Pauly 1830 um ein Privileg zur Herausgabe der »Dithmarsischen Zeitung« ansuchte, sandte er eine vorher erstellte Subskriptionsliste mit, die 68 Unterschriften umfasste.31

28 Ebd., S. 493, 304. 29 Peter Meinhold (Hg.): Claus Harms, Ausgewählte Schriften und Predigten, Bd. 1, Flensburg 1955, S. 52. 30 Cöppicus-Wex (wie Anm. 12), S. 177. 31 Vgl. zum Bericht der Schleswig-Holsteinischen Regierung und zur Liste des Buchhändlers Pauly : ebd., S. 174.

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Geschichte und Verfassung einer Region als Muster? Der Beitrag der Historiographie

Überblickt man Dithmarscher Quellen des frühen 19. Jahrhunderts, etwa historiographische Werke, Zeitungen oder Verwaltungskorrespondenz, so strahlten nicht nur die angeblich glorreichen und heldenhaften Aspekte der eigenen Vergangenheit in die späteren Jahrhunderte, sondern es waren besonders auch die kommunalen Strukturen der politischen Organisation, die als Leitbild für die politische Partizipation des frühen 19. Jahrhunderts dienen sollten. Beispielhaft hierfür steht der 1820 erschienene Text »Zur Verfassung Dithmarsens alter und neuer Zeit« des Landes- und Kirchspielgevollmächtigten Peter Mohr.32 Gemeinsam mit Claus Harms und Hans Reimer Claussen, die ebenfalls aus Dithmarschen stammten, zählte Mohr zur verfassungsrechtlich-nationalen Bewegung, wobei Harms und Claussen stärker als Mohr in der holsteinischen Politik aktiv waren.33 Der Text steht repräsentativ für eine Argumentation, die aus regionalen Eigenheiten eine politische Kultur konstruierte, die Geschichte und neue Zeit verbindet und sich trotz aller Begeisterung, zeitweise auch Idealisierung des Vergangenen, erstaunlich offen für Neues zeigt. Mohrs Werk besteht aus zwei großen Teilen: einer Darstellung mit Quellenanhängen sowie dem Nachdruck von Beiträgen, die Mohr in Landes- und Kirchspielangelegenheiten in die politische Debatte eingebracht hat. Die Darstellung beschäftigt sich mit der historischen und zeitgenössischen Bedeutung der Dithmarscher Verfassung und reicht von den konkreten politischen Strukturen, der Zusammensetzung der verschiedenen Versammlungen und der Ämterbesetzung über eine Beschreibung der »Sitte« und des »Charakters« der Dithmarscher bis hin zu Bemerkungen über die Landschaft. Die in Landschaft und Kirchspiel eingebrachten Beiträge Mohrs behandeln dagegen die Marschbewirtschaftung, das Kreditwesen und die ökonomische Situation der Landschaft Norderdithmarschen sowie die Handels- und Gewerbefreiheit, also jene Privilegien, um die Dithmarschen im 19. Jahrhundert kämpfte. Darüberhinaus nimmt Mohr in einem weiteren Papier Stellung zur möglichen Umlegung des

32 Peter Mohr (1777 – 1820) lebte in Wennemannswisch in Norderdithmarschen und war dort Besitzer eines Marschhofes. Vgl. generell: Detlev Lorenz Lübker/Hans Schröder (Hg.): Lexikon der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen und Eutinischen Schriftsteller von 1796 bis 1828, Altona 1829, S. 374. 33 Vgl. generell: Harry Schmidt: Beiträge zur Biographie von Klaus Harms, in: Fritz Hähnsen/ Alfred Kamphausen/Ders. (Hg.), Aus Schleswig-Holsteins Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Volquart Pauls, Neumünster 1950, 150 – 160; Ernst-Erich Marhencke: Hans Reimer Claussen (1804 – 1894) (Kieler Werkstücke 23), Frankfurt a. M. u. a. 1999.

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Kirchhofs in Wörden. In allen Beiträgen bilden die Geschichte und die Verfassung Dithmarschens den Fokus und die Basis von Mohrs Argumentation. Somit zunächst zur historiographischen Beschreibung Dithmarschens, wie Peter Mohr sie überliefert. Ein zentraler Aspekt ist bei Mohr die bis 1559 existierende Freiheit, die seiner Meinung nach die Grundlage war für einige positive Entwicklungen in der Region. Er zieht die Freiheit bis in die germanische Vergangenheit, als die Dithmarscher ein »Völkchen von Tacitus edelsten Germaniern […]« gewesen seien, das sich in die Gegend des heutigen Dithmarschen gerettet hätte.34 Es klingt hier nicht nur eine möglichst reine und eigenständige Ursprünglichkeit an, sondern Mohr verankert die Dithmarscher damit auch in einem Narrativ, das im frühen 19. Jahrhundert in Regionen unterhalb der territorialstaatlichen Ebene häufiger zu finden ist. Aus einem germanischen Ursprung heraus wurde eine regionale Volksidentität konstruiert, die nicht nur eine möglichst reine germanische Vergangenheit begründen sollte, sondern die auch in die »deutsche« Gegenwart eingebracht werden konnte.35 So sieht auch Mohr Dithmarschens germanische Vergangenheit eigentlich als deutsche Vergangenheit, die er zudem mit dem Alleinstellungsmerkmal versieht, dass in dem »ganzen Europa« »nur allein das Dithmarsische Volk noch bis zu 1559 hinauf ein ächt und rein ungemischtes altdeutsches« gewesen sei.36 Diese germanische Vergangenheit ist für Mohr die Grundlage für eine nahezu ideale Freiheitssituation, die in einem weiteren Interpretationsschritt in die landständischen Strukturen des späten Mittelalters überführt wird. Für die Freiheit charakteristisch und für ein funktionierendes Gemeinwesen nötig ist in Mohrs Augen eine starke Gemeinschaft, die eine breite politische Partizipation garantiere. Gemeinschaft und Freiheit konkretisierten sich in den Familienbünden, denn diese seien »auf freiem heimischen Boden und aus innerem Leben selbst entsprossen«. Sie seien somit nicht »politischer Arth« gewesen und nicht aus der »Noth des Landes« heraus, sondern freiwillig und als familiäres Bündnis entstanden – und von dieser Breite aus gesehen der Ursprung der »Volksrepräsentation«.37 Die Betonung der Gemeinschaft führt bei Mohr auch dazu, dass er die Bedeutung großer Männer für die Geschichte reduziert. Für Dithmarschen seien Volk und Gemeinschaft wichtig gewesen und man stoße in der Dithmarscher Geschichte nur selten auf die »ausgezeichnet großen Namen und Männer«. Idealbild der Gemeinschaft ohne große Namen ist für Mohr die »Jungfrau«, die bei der Schlacht von Hemmingstedt mit der Fahne vorangeschritten ist. Ihr 34 Mohr (wie Anm. 4), S. 7. 35 Vgl. beispielsweise: Manfred Fuhrmann: Die Germania des Tacitus und das deutsche Nationalbewußtsein, in: Ders. (Hg.), Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antiken europäischen Bildungstradition, Stuttgart 1982, S. 113 – 128. 36 Mohr (wie Anm. 4), S. 7. 37 Ebd., S. 39 f.

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Name sei deshalb nicht überliefert, weil das Leben der Einzelnen hinter dem »vollendeten Gebilde« und dem gemeinschaftlichen Sieg gegen die Dänen verborgen bleiben sollte.38 Mit Hemmingstedt verbindet Mohr nicht nur die anonym gebliebene »Jungfrau«, sondern auch einen Sieg der Gemeinschaft, den er mit der Schlacht der Spartaner bei den Thermopylen vergleicht. Ebenso »wie dort vor Thermopylae die Spartaner unter Musik und Spiel sich ergötzten«, seien die Feinde der Dithmarscher bis vor Meldorf gekommen; allerdings mit dem Unterschied, dass die Spartaner verloren, die Dithmarscher jedoch gewannen. Spartas Niederlage ist für Mohr die Blaupause für die Moral der Dithmarscher : Sparta fiel, weil Unmoral vorherrschte. Dithmarschen dagegen präsentierte sich als moralisch vorbildlich, so dass seine große Stunde schlagen konnte. Die Dithmarscher hätten in »großer Freiheit« gegen die Feinde gekämpft und gewonnen – einen »größeren Sieg hatte kein Volk noch jemals erfochten«, so Mohr.39 In seiner Konstruktion der historischen Verfassung Dithmarschens geht Mohrs Interpretation sogar so weit, die gesamte Verfassung sei »im allgemeinen republikanisch-demokratisch« gewesen. Die Begründung für diese Klassifizierung sieht er einerseits in den von der ganzen Landesgemeinde gewählten Achtundvierzigern, die in wichtigen Angelegenheiten Rücksprache mit der »Landesmeinheit« hätten halten müssen. Andererseits seien alle Angelegenheiten auf »öffentlichem Markt«, »unter freiem Himmel« und vor dem »unmittelbaren Auge des Volkes« in Heide erledigt worden.40 Die republikanische Struktur erklärt Mohr darüberhinaus mit der territorialen Untergliederung in »kleine Republiken«, die er durch die Grenzen der Kirchengemeinde, also letztendlich durch die Grenzen der Kirchspiele, bestimmt. Die »Souverainität« habe hier in den Händen der Gemeinde gelegen, repräsentiert durch den Vogt, die Schlüter und die Geschworenen – sie hatten die »Regentschaft und Leitung ihrer öffentlichen Sachen«. Niemals hätte es »demagogische Unordnungen« gegeben, wodurch beispielsweise Athen und Rom gefallen seien.41 Die Region Dithmarschen präsentiert sich in Mohrs Darstellung als jenes republikanisch-demokratische Gemeinwesen, das bis ins 16. Jahrhundert eine nach außen quasi geschlossene, nach innen jedoch harmonisch zusammenwirkende Einheit bildete. Die Abgeschlossenheit charakterisiert Mohr mit dem 38 Ebd., S. 29 f. Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Name der fahnentragenden Frau bei der Schlacht bei Hemmingstedt als Telse wiedergegeben. Vgl. generell: Marion Kobelt-Groch: Telse und die Schlacht bei Hemmingstedt. Die Entstehung einer Dithmarscher Heldin, in: Bea Lundt (Hg.), Nordlichter. Geschichtsbewußtsein und Geschichtsmythen nördlich der Elbe (Beiträge zur Geschichtskultur 27), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 179 – 196. 39 Mohr (wie Anm. 4), S. 13 f.; Trende (wie Anm. 10), S. 43 f. 40 Mohr (wie Anm. 4), S. 18, 32. 41 Ebd., S. 19 f.

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Begriff »Uncultur«, die in Dithmarschen geherrscht habe – ein in diesem Kontext positiv verwendetes Wort, das die Harmonie des inneren Zusammenlebens ohne Störungen von außen beschreibt. Erst im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert sei diese »Uncultur« gestört worden, durch die Einflüsse von Recht und Kirche. Das römische Recht habe ebenso in die Gesetze der Familienbünde eingegriffen wie die Kirche, die nun die Normen im sittlichen Bereich festgelegt und zudem eine nicht gekannte Hierarchie nach Dithmarschen gebracht habe.42 Doch nicht nur die kommunale Organisation zeigt die Region in Mohrs Darstellung als quasi autonome demokratische Einheit, sondern auch die politischen Abhängigkeiten vom Reich reduzieren sich in seiner Argumentation auf ein Mindestmaß. Dithmarschen sei ein von »Kaiser und Reich anerkannt eigenthümlich mitausmachender Theil Deutschlands« gewesen.43 Das Demokratische und die Selbständigkeit gerieten dann jedoch unter Druck, einerseits durch die erwähnten Einflüsse von römischem Recht und kirchlicher Hierarchie, andererseits durch die dänische Herrschaft. In seiner Geschichtskonstruktion bildet das Jahr 1559, als Dithmarschen zunächst drei-, später zweigeteilt wurde und an Dänemark und Holstein fiel, den Wendepunkt, der verbunden war mit der Zerstörung von gewachsenen Strukturen und dem Niedergang einer gut funktionierenden Verwaltung und Herrschaft. Die Gemeinschaft wurde durch den »fremdlichen Geist« bedroht, den die Dänen mit ihrer Herrschaftsübernahme in die Region hineinbrachten und der sich unter anderem in der Ablehnung des »Demokratischen« zeigte. Die Umbrüche zogen nicht nur den Verlust von Kompetenzen nach sich, den landschaftliche Beamte hätten hinnehmen müssen, sondern auch die Abnahme von Öffentlichkeit. Die Landesversammlung sei nun zu einem »dem Auge des Publikums verschlossen handelnden Corps« mutiert, während die vorherige Dithmarscher Verfassung gezeigt hätte, dass Öffentlichkeit mündige Bürger hervorbringe.44 Öffentlichkeit und mündige Bürger – dies sind schon zwei Themen, die aus der spätmittelalterlichen Geschichte heraus in die politische Kommunikation des frühen 19. Jahrhunderts wirken sollten. Es sind zwei Aspekte des bereits zitierten »Fingerzeigs zum Besseren«, mit dem Peter Mohr die Dithmarscher Vergangenheit beleben wollte.45 Dabei offenbart sein Geschichts- und Gesellschaftsbild die erwähnte Kombination von Rückwärtsgewandtheit und Vorwärtsdrang. Während er einerseits Forderungen vorbrachte, die im liberalen Spektrum zu verankern sind, lehnte er doch gleichzeitig das »mechanische« Staatswesen ab und plädierte für das Harmonisch-Organische und das Gleich42 43 44 45

Mohr (wie Anm. 4), S. 40 f. Ebd., S. 22. Ebd., S. 83, 87 f. Ebd., S. 17.

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gewicht in einem Gemeinwesen. Letzteres bringt ihn in eine Nähe zur liberalkonservativen staatstheoretischen Richtung, wie sie etwa in den Schriften August Wilhelm Rehbergs, Friedrich Gentz’ oder Adam Müllers grundgelegt war. Für sie bildeten das historisch Gewachsene sowie die historischen Traditionen eines Landes und regionale Identitäten eine organische Einheit, die gegen jegliche zentrale Macht in Konfrontation gebracht wurde. Recht war gewachsen, nicht geschaffen.46 Diese Vorstellung der staatlichen Verfassung als etwas organisch Gewachsenes ließ Spielraum für regionale Eigenheiten, für Sonderrollen, die in Privilegien und Verträgen festgelegt waren. Den Gegenpol bot die als mechanisch empfundene zentrale Organisation eines Staates. Nicht sie und die theoretische, unter anderem in der statistischen Erfassung der Gesellschaft konkretisierte Politik sollten Motor von Staatsbildung und Regierungshandeln sein, sondern das »alte Herkommen«, das in der Geschichte angeblich »Bewährte«. Im liberalen Konservatismus gewinnt die Geschichte über die Theorie; die Polemik richtet sich gegen Aussagen, die lediglich auf theoretischen Annahmen basieren und Traditionen und damit die Praxis außer Acht lassen. Zurück zu Peter Mohr. Auch er bringt das Regionale ganz gezielt in die Diskussion ein, setzt jedoch hinter alle Begeisterung für ein gewachsenes System stets das »Aber« der fortschreitenden Vervollkommnung. So spricht er sich angesichts der Entwicklungen in seiner Zeit für geschriebene Gesetze aus, die dem »alten Herkommen« eigentlich entgegenstanden. Für Mohr waren geschriebene Gesetze denn auch dem alten, familiär geprägten System nicht eigen und in seinen Augen erreichten sie mehr den Verstand als das Herz; dennoch kennzeichneten sie für ihn eine »höhere Stufe der Weltbildung«.47 Schon diese Einordnung zeigt, wie sich bei Peter Mohr der Rückblick auf ein Ideal immer wieder mit den Forderungen für seine aktuelle Zeit mischt, die keineswegs nur rückwärtsgewandt erscheinen. Seine teilweise etwas ambivalent wirkende Mixtur lässt sich auch in seinem Bekenntnis zur gemischten Staatsform festmachen, die er in drei Prinzipien verankert: in der Einheit, im Beharren beim Alten und im stetigen Fortschritt. Zudem favorisiert er eine Verknüpfung des monarchischen mit dem aristokratischen und demokratischen Prinzip. Die »monarchische Art« bezeichnet Mohr dabei als Prinzip der »Einheit« und der »Unterordnung«, während er die »aristokratische Arth« als »Erhalten beim Alten« und die »Democratische Arth« als »Princip« der »Gemeinsachlichkeit oder Allgemeinheit« charakterisiert.48 46 Vgl. generell: Hans-Christof Kraus: Politisches Denken in der deutschen Spätromantik, in: Bernd Heidenreich (Hg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1999/2000, S. 33 – 69; Barbara Stollberg-Rilinger : Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats (Historische Forschungen 30), Berlin 1986. 47 Mohr (wie Anm. 4), S. 99 f., 141 f. 48 Ebd., S. 103 – 105.

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Neben dieser gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Konstruktion zieht Peter Mohr aus der Dithmarscher Geschichte noch weitere Forderungen, die auf eine liberale Ausrichtung schließen lassen. Wie bereits erwähnt plädierte er für die Öffentlichkeit von politischen Verhandlungen, wie ja in Dithmarschen die Gemeindeversammlung immer über alles informiert gewesen sei. In diesen Zusammenhang gehört für Mohr auch die Forderung nach einer freien Presse und einer starken Opposition. Sein Plädoyer für Öffentlichkeit sowie eine von Zensur nicht eingeengte Presse und Kontrolle von Macht nimmt nicht nur Anleihen in der Dithmarscher Verfassung, sondern auch in der englischen Verfassung und der Antike. Anhand der englischen Geschichte könnten die Bedeutung einer Opposition und die »Kraft einer constitutionellen Oeffentlichkeit« verdeutlicht werden, denn die Gemeinden und die Verfassung hätten es ohne eine Opposition nicht geschafft, die »Kraft und den Reichtum der Nation fast aufs Höchste« zu treiben. Im antiken Griechenland und in Rom hätte sich der »Gegenkampf des Volkes« ebenfalls als gut für die Ausbildung des Menschengeschlechts erwiesen. Er sei jedoch nicht das plötzliche Produkt des Schöpfers gewesen, der spricht »es werde«, sondern er sei durch die allmählich gewachsene Erfahrung entstanden, die sich »mit den Jahrhunderten […] der Vollkommenheit nähert«.49 Auch zur zeitlichen Begrenzung von Ämtern, einer weiteren Forderung aus dem liberalen Lager, nimmt Mohr Stellung. Obwohl er die lebenslängliche Amtsführung als wichtig für die Ausbildung und Beibehaltung des »so stark demokratischen Geistes« ansieht, denn nur so hätte dieser sich erhalten können, spricht er sich dennoch angesichts der zeitgenössischen Entwicklungen für eine Begrenzung der Amtsdauer aus.50 Allerdings sollte die Amtsführung unentgeltlich sein, was wiederum eine Einschränkung des Zugangs bedeutete. Und Mohr favorisierte die Besetzung von Ämtern mit Einheimischen.

Der Beitrag der Publizistik Von dem historiographischen Werk Peter Mohrs nun zu einigen publizistischjournalistischen Beiträgen, für die als Quelle die »Dithmarsische Zeitung« herangezogen werden soll. Sie erschien am 28. April 1832 das erste Mal und wurde vom Buchhändler Carl Friedrich Julius Pauly in Heide herausgegeben; das Privileg erhielt Pauly am 5. Juli 1831.51 Parallelzeitungen, die einerseits Nachrichten der »Dithmarsischen Zeitung« druckten, andererseits im gegenseitigen, 49 Mohr (wie Anm. 4), S. 95 – 99. 50 Ebd., S. 18. 51 Vgl. Cöppicus-Wex (wie Anm. 12), S. 194. Eine vollständige Überlieferung der Zeitung findet sich in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel.

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kontroversen Austausch mit ihr standen, waren das »Kieler Correspondenzblatt« und die »Itzehoer Nachrichten«, teilweise auch der »Altonaer Mercur«. Die »Dithmarsische Zeitung« erschien wöchentlich und war in den ersten zwei Jahrzehnten Schauplatz vielfältiger, äußerst lebendiger und spannender Diskussionen, die am regionalen Beispiel immer wieder übergeordnete Probleme und Entwicklungen behandelten. Man versuchte, das historische Vorbild Dithmarschens in die größere zeitgenössische Debatte einzubringen und es dadurch gleichzeitig einem Test zu unterziehen, inwiefern Elemente integrierbar seien. Die Ausrichtung der »Dithmarsischen Zeitung« war zu Beginn sehr politisch, Diskussionen aufwerfend und steuernd, dann jedoch ab Mitte der 1840er Jahre etwas weniger programmatisch in die aktuelle Situation eingreifend und weniger reflektierend. Bis dahin hatte die Zeitung regelmäßige Berichte von den Norder- und Süderdithmarsischen Landesversammlungen und von den provinzialständischen Verhandlungen gebracht. 1848/49 fanden sich unter der Rubrik »Briefe aus Frankfurt« zudem Nachrichten über die Verhandlungen in der Paulskirche. Daneben gab es Rubriken zu lokalen Ereignissen sowie Bekanntmachungen und Anzeigen. Einen wesentlichen und für die Geschichte der politischen Kommunikation äußerst fruchtbringenden Teil nahmen jedoch jene Diskussionen ein, die sich mit der kommunalen Verwaltung sowie mit Fragen der Partizipation und Repräsentation beschäftigten. Mit der ersten Ausgabe des Jahres 1849 erschien die Zeitung dann unter dem Titel »Dithmarscher Blätter für deutsche und schleswig-holsteinische Zustände«; die Herausgeber reagierten damit auf die veränderte Zeit. Im Zuge der »Wiedergeburt Deutschlands« sei die Zeitung nun den »deutschen Zuständen im allgemeinen, vor Allem aber Schleswig-Holstein und vorzugsweise Dithmarschen gewidmet«, so die Ankündigung. Sei die Zeitung 1832 aus dem »Bedürfnis nach Freiheit« gegründet worden, das damals »nur im Communalleben Befriedigung suchen durfte«, so wären nun die »deutschen Zustände« die wichtigste Bezugsgröße. Man ordnete sich weder rechts noch links ein, sondern beklagte, dass auf beiden Seiten »Unfähigkeit und Selbstsucht« zunähmen, man selbst jedoch den »edlen und schöpferischen Menschen« suche. Deshalb werde man mal rechts, mal links und mal aus der Mitte heraus berichten und kommentieren. Einem Pegasus gleich wolle man unterschiedliche Wagen ziehen und häufig die Ochsen wechseln, um nicht gezwungen zu sein, »bald einen Wiesner, bald einen Windisch Grätz zum Genossen wählen zu müssen«. Man sei auf das »Gebrüll« gefasst, das diese »handgreifliche Inconsequenz« hervorrufen werde.52 Entsprechend der Umbenennung fokussierten sich die Beiträge in den fol52 Dithmarsische Zeitung, 23. Dez. 1848; die Namen beziehen sich auf: Adolf Wiesner und Alfred zu Windisch Grätz.

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genden Jahren stärker auf deutsche und schleswig-holsteinische Angelegenheiten, allerdings wurden weiterhin auch die politischen Verhandlungen und Entscheidungen publiziert, die die Dithmarscher Gremien hervorbrachten. Ab 1859 nimmt die Tendenz der »Dithmarscher Blätter« dann eine erneute Wende, die dafür sorgte, dass Nachrichten aus der Region vollständig in den Hintergrund rückten. Die Zeitung bringt nun überwiegend Berichte aus den verschiedenen Teilen der Welt, Berichte über technische Neuerungen, kulturelle, geographische Neuheiten und volkskundliche Entdeckungen, über Auswanderungen und das Militärwesen. Es scheint, als sei Dithmarschen jetzt in Schleswig-Holstein und Deutschland aufgegangen, was eine Öffnung des Blickes nach sich zog. Eine Entwicklung, die symptomatisch ist für die generelle Entwicklung der Region Dithmarschen. Hatte man sich vorher auf die regionale Geschichte und Verfassung konzentriert, so öffnete sich die Region nun für schleswigholsteinische und deutsche Anliegen, brachte ihr »Erbe« in die größere Einheit ein. Ebenso wie Peter Mohr verfolgte auch die »Dithmarsische Zeitung« das Ziel, das Lokale als Vorbild für Entwicklungen in den Herzogtümern heranzuziehen beziehungsweise durch die politische Arbeit von unten nach oben den Staat zu gestalten. Oder, so könnte man mit einem Ausspruch eines »Dithmarschers« feststellen, der 1832 im »Neuen staatsbürgerlichen Magazin« genau dieses Ziel vorgab: Reformen müssten von unten nach oben gestaltet werden, schließlich fange auch der Baumeister beim Fundament an.53 In ihrer ersten Ausgabe am 28. April 1832 veröffentlichte die »Dithmarsische Zeitung« einen entsprechenden programmatischen Artikel. Der Verfasser, bei dem es sich um den Herausgeber Carl Friedrich Julius Pauly handeln dürfte, sah die Aufgabe der Zeitung in der Formung der Gesellschaft, die er mit moralisch hochstehenden Zielen verband. So sei die Gesellschaft die »Bedingung menschlicher Entwicklung, der immer zunehmenden Sittlichkeit, Erkenntnis und Glückseligkeit« und eine »Verbindung zu gemeinschaftlichen Zwecken«. Die Basis der Gesellschaft bilde die Familie. Von der Familie erweitere sich die gesellschaftliche Gliederung hin zur Commune – definiert als eine »Anzahl zusammenwohnender Familien« – sowie zur Bauerschaft, zu den Kirchspielen, zur Landschaft, zur Provinz und schließlich zum Staat. Politik, so die implizite Botschaft, vollziehe sich also auf allen Ebenen und sei auf allen Ebenen wichtig – und alle Ebenen sind für die politische Gestaltung gleich wichtig, von ihrem jeweiligen Zweck ausgehend. Jede kleinere und größere Gesellschaft solle, so der Verfasser, ihren Zweck kennen und sich entsprechend ausrichten. Auch in den folgenden Jahren thematisieren die Beiträge in der »Dithmar53 Ein Dithmarscher: Ueber die bevorstehende Wahlordnung, in: Neues staatsbürgerliches Magazin 1 (1832), S. 701 – 722, hier S. 702.

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sischen Zeitung« immer wieder den vorbildhaften Charakter, den die regionale Politik und Partizipation einnehmen sollten. Besonders angesichts der 1835 bevorstehenden Einberufung der Provinzialstände kamen entsprechende Ideen zur Sprache. In einem Artikel vom Januar 1835 heißt es, die Beschäftigung mit den allgemeinen Angelegenheiten sei zwar gut, aber erst müsse das »Besondere« ergründet werden. Wer sich in seiner Landschaft und im Kirchspiel auskenne, könne sich auch um das Allgemeine kümmern. »Aber wer das Besondere verschmäht, für den ist auch das Allgemeine nicht geschrieben.« Und deshalb gelte es, Dithmarschen in seiner »ganzen reichen Vergangenheit und Gegenwart tief« zu ergründen und darzustellen. Von dieser Basis aus richtet der Verfasser dann den Blick in die Zukunft, in der er die Region als Teil der übergeordneten Gemeinwesen sieht. Dithmarschen sei bisher ein »abgesonderter Bezirk« gewesen, dessen Bewohner an der »allgemeinen Staatsverbindung« »mehr einen materiellen und passiven als geistigen und activen Antheil« genommen hätten. Somit sei das Interesse der Bevölkerung in der Vergangenheit auf jene Institutionen beschränkt gewesen, wo man Einfluss nehmen konnte, nämlich in der Landesversammlung sowie in den Kirchspiels-, Kirchen- und Armenkollegien. Doch die Zeiten hätten sich nun geändert und die »Angelegenheiten des gemeinsamen Vaterlandes« seien immer »vielseitiger zur Sprache gebracht« worden.54 Die Dithmarscher seien nicht mehr nur Dithmarscher, sondern »Staatsbürger« und so sei es nötig, dass das Volk über die lokalen Grenzen, das heißt vor allem über die lokalen politischen Institutionen hinaus auf das größere Ganze blicke und sich dafür interessiere. Der Staat sei es, der die wichtigsten Rahmenbedingungen des Lebens in Dithmarschen bestimme; deshalb müsse Dithmarschen auch an den politischen Entscheidungen auf der Ebene des Staates teilnehmen und die »Dithmarscher Zeitung« sich entsprechend positionieren. Die Artikel sind charakteristisch für die regionale Politik in Dithmarschen im frühen 19. Jahrhundert, die sich schon bei Peter Mohr als manchmal ambivalente Verbindung von alt und neu, von altem Herkommen und Innovation präsentierte. So schreibt der Verfasser des Artikels vom 28. April 1832, jede Gesellschaft solle zwar danach streben, immer »vollkommener eingerichtet« zu sein, doch bedeute dies nicht, bestehende Institutionen zu kritisieren. Die Staats- und Regierungswissenschaft »vervollkommnet sich immer mehr«. Kritik solle würdig, vom Standpunkt »höherer Sittlichkeit und Einsicht« geäußert werden – die Wahrheit verliere »dadurch nicht an Kraft, daß sie auf eine würdige Weise gesagt wird«. Eine ähnliche Richtung schlägt noch einmal ein Artikel vom 9. Juni 1832 ein, der vermutlich ebenfalls vom Herausgeber verfasst wurde. Die gesellschaftliche Ordnung als »Bedingung menschlicher Entwicklung« stehe nie 54 Dithmarsische Zeitung, 3. Jan. 1835, Sp. 5 f.

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still. Eine neue Verfassung oder ein neues Werk bereite schon im Moment seiner Gründung »ein neues schöneres Werk vor«. Dennoch, so auch hier wieder die Einschränkung, die »schützende Ordnung« solle erhalten bleiben, bis eine »neue mit innerer Nothwendigkeit an ihre Stelle tritt«.55 Schaut man sich die konkreten Themen, die die »Dithmarsische Zeitung« in die politische Öffentlichkeit transportierte, nun etwas genauer an, so zeigt sich auch hier, wie viele neue Ideen mit historischen Entwicklungen legitimiert wurden. Beispielsweise im Fall der Partizipation und Repräsentation und der Einrichtung der Provinzialstände im Herzogtum Holstein. Die Autoren der »Dithmarsischen Zeitung« sahen die politische Entwicklung auf der Ebene des Herzogtums äußerst positiv und forderten, Dithmarscher Strukturen zum Vorbild zu nehmen. Die Region, so hieß es beispielsweise in einem Beitrag vom 12. Juli 1834, gewinne durch die Einrichtung der Provinzialstände nur, denn schließlich würden dort Elemente übernommen, die in Dithmarschen schon lange üblich seien, etwa die Öffentlichkeit von politischen Verhandlungen. Zudem seien die Bürger in Dithmarschen sehr weit in den politischen Prozess einbezogen.56 Die Öffentlichkeit politischer Verhandlungen, eine zentrale Forderung von liberaler Seite im Vormärz, ist in der »Dithmarsischen Zeitung« immer wieder kontrovers diskutiertes Thema, wobei die meisten Artikel für die Öffentlichkeit plädierten. Sowohl die Landesversammlungen, so der Tenor, als auch die Abstimmungen sollten öffentlich sein, damit das Publikum das Agieren der einzelnen Abgeordneten sieht und beurteilen kann. Bei den nächsten Wahlen würde das Publikum dann urteilsfähig sein und könnte die Richtigen wählen. Qualitätskontrolle durch Öffentlichkeit, so also die Forderung.57 Dass die Dithmarscher an öffentliche Beratungen und Verhandlungen gewöhnt seien, sollte sich, so ein weiterer Autor, auch im strategischen Verhalten der Abgeordneten bei den Provinzialständeversammlungen ausdrücken. Diese sollten zunächst still und zurückhaltend auftreten und gut zuhören, um so die Schwächen der Anderen zu bemerken, und dann »mit Bedacht« reden; auf diese Art und Weise könnten sie den »richtigen Tact« für die größere Versammlung zeigen.58 Ein weiteres, im Vormärz politisch heftig umstrittenes Thema sind Wahlen und ihre entsprechenden Modi. Die Frage, wie umfassend Wahlrecht gewährt werden soll, betraf nicht nur die konkrete Umsetzung von Partizipation und Repräsentation, sondern machte stets auch das dahinter liegende Menschenbild deutlich. Die Artikel in der »Dithmarsischen Zeitung« bestimmte im Vormärz 55 56 57 58

Dithmarsische Zeitung, 28. April 1832, Sp. 2 f.; ebd., 9. Juni 1832, Sp. 50 f. Ebd., 12. Juli 1834, Sp. 219. Ebd., 5. Juli 1834, Sp. 211. Ebd., 6. Juni 1835, Sp. 178.

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eine äußerst emanzipatorische und aufgeklärte Vorstellung von politischem Leben. Viele Autoren plädierten für häufige Wahlen, da so der Gemeinsinn des Volkes sowie die politische Bildung und die Selbständigkeit gefördert würden.59 Sehr weitreichend sind die Vorschläge des aus Dithmarschen stammenden, in der Holsteinischen Ständeversammlung und im Frankfurter Paulskirchenparlament aktiven Politikers Hans Reimer Claussen. Er schlug vor, dass die Landesversammlung nur aus Abgeordneten zusammengesetzt sein sollte, die auf drei Jahre, aber mit der Möglichkeit der Wiederwahl gewählt seien. Wahlberechtigt sollten nach Claussen alle volljährigen Steuerpflichtigen, Männer und Frauen, sein, sofern sie nicht geisteskrank seien oder unter Kuratel stünden. Die Wählbarkeit schränkte Claussen dann jedoch auf Männer ein, die »zur vollen Disposition ihrer Güter« befugt und steuerpflichtig seien.60 Wahlen könnten, so der Autor eines Artikels vom März 1833, die Bürger auch insofern zu »tauglichen und braven Staatsbürgern« erziehen, wenn das Volk dadurch die Möglichkeit hätte, Regierungsbeamte auszubremsen und regional bekannte Personen auf die Stellen zu bringen. Wenn das Volk seine Vertreter selbst wähle, würde es reger teilnehmen und mehr Einfluss nehmen können; ein Gefühl von Selbständigkeit und Freiheit werde wieder belebt; Publikum und Behörden würden gegenseitig aufeinander wirken.61 Somit verbinden sich in den zitierten Beiträgen der »Dithmarsischen Zeitung« ein reges politisches Leben mit der emanzipatorischen Idee, die Bürger zu mündigen Staatsbürgern zu machen. Allerdings machten einige Autoren auch deutlich, dass die »Veredlung« des Menschen ein sehr langsamer, zunächst auf wenige Menschen beschränkter Prozess sei. Der Anspruch der Zeitung wird deutlich, wenn ein Autor 1835 schreibt, dass es nicht um die »augenblickliche Befriedigung der großen Menge« ginge, was der Zeitung die Kritik eingebracht hätte, sie sei nicht amüsant genug.62

Resumée Versucht man die politische Kultur der Region Dithmarschen im frühen 19. Jahrhundert einzuordnen, so präsentiert sich die Region zunächst einmal über die historisch hergeleitete Einheit, die durch bestimmte politische Merkmale gekennzeichnet ist. Die verschiedenen Autoren in der »Dithmarsischen Zeitung« gehen ebenso wie Peter Mohr von einer sehr breiten Partizipation und 59 60 61 62

Dithmarsische Zeitung, 11. Aug. 1832, Sp. 124. Ebd., 5. Juli 1834, Sp. 210. Ebd., 9. März 1833, Sp. 78. Ebd., 3. Jan. 1835, Sp. 2 f.

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Repräsentation in der Geschichte aus, die im frühen 19. Jahrhundert in die Herzogtümer hineinwirken sollte. Mit dem wachsenden Interesse für die Politikgestaltung auf holsteinischer, dann deutscher Ebene vollzieht sich eine Öffnung der Region, in deren Folge das politische Interesse der Bürger auf die nächsthöhere Ebene transferiert werden sollte. Der Ruf nach mehr Gemeinsinn hallte immer wieder durch Beiträge, die aus Dithmarschen die kommunale Struktur oder das größere Ganze beeinflussen wollten. Stets lief dabei die Richtung von unten nach oben, stets sah man in einem zu steigernden Interesse für die bauerschaftlichen Verhältnisse den Anfang, die Menschen auch mehr für die Kirchspiel- und Landschaftssachen zu interessieren. Das Interesse an der Politik auf der nächsthöheren Ebene, im Herzogtum und im Deutschen Bund, sowie die geforderten Möglichkeiten Politik über Wahlen und öffentliche Verhandlungen mitzubestimmen, sollten ebenfalls mehr Gemeinsinn und politische Emanzipation hervorbringen. Das seit der Aufklärung immer präsentere Anliegen, mehr Gemeinsinn durch Bildung zu erreichen und die Verantwortung für das Gemeinwesen auf mehr Schultern zu verteilen, bestimmte viele Beiträge in der »Dithmarsischen Zeitung« – die Menschen sollten zur politischen und gesellschaftlichen Mündigkeit erzogen werden.63 In dieser Legitimation von Herrschaft durch eine möglichst breite Partizipation spielte das Volk eine immer größere Rolle; durch Wahlen sollte es Politik mitbestimmen, Herrschaft Legitimation erteilen. Voraussetzung für die größere Rolle des Volkes sollte dessen Mündigkeit sein, die zu einem besseren Urteilsvermögen verhelfen sollte. Die Öffentlichkeit von politischen Verhandlungen sollte dem Volk helfen, sein Urteilsvermögen zu schärfen und politische Rede zu durchschauen. Ein wichtiger Legitimationsfaktor für Politik war auch die Geschichte, mit der einerseits neue Ideen gestützt, andererseits das alte Herkommen weiterhin hochgehalten werden konnte. Eine interessante Kombination von beidem findet sich in dem Vorschlag des Autors in der »Dithmarsischen Zeitung« vom März 1833, demzufolge Wahlen einheimische Kandidaten in Verwaltungsstellen bringen könnten. Hier klingt die alte Forderung nach dem Indigenat, die im 19. Jahrhundert in einzelnen Regionen auf die Besetzung von Beamtenstellen übertragen wurde, durch, die jedoch mit neuen liberalen Ideen legitimiert wurde. So modernisierend all die Ideen klangen, seien sie von Peter Mohr oder von 63 Vgl. als Hintergrund zum Anliegen der Aufklärung und der Umsetzung in den Intelligenzblättern des späten 18. Jahrhunderts: Holger Böning: Pressewesen und Aufklärung. Intelligenzblätter und Volksaufklärer, in: Sabine Doering-Manteuffel (Hg.), Pressewesen und Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich (Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg, Colloquia Augustana 15), Berlin 2001, S. 69 – 119, bes. S. 74 – 76.

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den meist anonymen Autoren der »Dithmarsischen Zeitung« vorgebracht, die Umsetzung gestaltete sich nicht ganz so einfach. Die Diskussionen über Veränderungen in der lokalen Verwaltung, über die zeitliche Begrenzung von Ämtern oder über die Öffentlichkeit von politischen Verhandlungen zeigen, dass manches umgesetzt wurde, anderes lange in der Diskussion blieb. Die Progressivität, die die 1830er Jahre prägte, schwand später wieder ; der Enthusiasmus endete spätestens 1838/39, als Dithmarschen seine vehement verteidigte Zollfreiheit aufgeben musste.64

64 Vgl. zu den Diskussionen und Aktionen rund um die Aufhebung der Zollfreiheit: Silke Götsch: »… ebenso unpassend wie lächerlich …« Feier wegen Hemmingstedt, 17. Februar 1839, in: Dies./Wolf Könenkamp/Kai Detlev Sievers (Hg.), Geschichte und Museum. Festschrift für Nis Rudolf Nissen zum 70. Geburtstag (Kieler Blätter zur Volkskunde 27), Kiel 1995, S. 45 – 57.

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Herrschaftsjubiläen und Herrschergeburtstage im deutschen Kaiserreich

In welchem Zustand sich die monarchischen Ordnungen in Deutschland in der letzten Phase ihres Bestehens befanden, ist eine Frage, die die Geschichtswissenschaft seit den Jahren der Weimarer Republik ständig beschäftigt hat. Die nahezu widerstandslose Entthronung der Bundesfürsten in der Novemberrevolution 1918 ist ein starkes Argument, um die konstitutionelle Monarchie in ihrer spezifisch deutschen Ausprägung als eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits überlebte Herrschaftsform zu bewerten.1 Dieses Argument könnte jedoch – ließe sich entgegnen – eine unstatthafte Rückprojektion sein: unstatthaft, weil es die Möglichkeit eines rapiden Legitimitätsverlusts der Monarchie in den Kriegsjahren und zudem die besondere Dynamik außer Acht lässt, die sich aus der Koinzidenz von Kriegsniederlage und staatspolitischem Umbruch ergab. Leistungsvermögen und Entwicklungspotential der monarchischen Ordnungen in Deutschland sind in unterschiedlichen Kontexten erörtert worden – zum Beispiel in der Kontroverse der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und Ernst-Wolfgang Böckenförde über den Charakter der deutschen konstitutionellen Monarchie als selbständige politische Form und in sich ruhende Ordnung neben Absolutismus und Parlamentarismus oder als Kompromiss und Übergangserscheinung zwischen diesen beiden Modellen.2 Auf einer weniger abstrakten Ebene spielt das Problem aber auch in allen übergreifenden Darstellungen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle, zumal wenn sie die Sonderwegsthese zu untermauern oder zu entkräften versuchen. Im Folgenden soll es weder um Verfassungsmodelle noch um weit ausgreifende Kommentare zu Modernisierungsdefiziten in der politischen Entwicklung Deutschlands gehen, sondern es soll der Zustand der monarchischen Ordnun1 Vgl. hierzu neuerdings Lothar Machtan: Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, Berlin 2008. 2 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1918), Köln 1972, S. 146 – 170.

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gen in den Vorkriegsjahren durch die Betrachtung einiger Miniaturen erhellt werden. Als solche erscheinen die Herrschaftsjubiläen und Herrschergeburtstage besonders gut geeignet, da sie jeweils auch einen Anlass boten, die Frage zu erörtern, welche Verdienste die Monarchen sich erworben hatten und welche Aufgaben sie in Zukunft noch wahrnehmen konnten. Dass hierbei in erster Linie Selbstbildnisse kommuniziert wurden und die Feiern gerade nicht zu kritischen Betrachtungen einluden, muss die Aussagekraft der Miniaturen nicht schmälern. Als Beispiele wurden zwei Monarchen ausgewählt: Kaiser Wilhelm II., der als primus inter pares der deutschen Bundesfürsten und politisch mit großem Abstand gewichtigster Monarch nicht unberücksichtigt bleiben sollte, sowie Großherzog Friedrich I. von Baden, der in mancherlei Hinsicht ein Gegenbild zum Kaiser darstellte – als Angehöriger einer älteren Fürstengeneration, als Landesherr eines mindermächtigen Mittelstaates und als ausgesprochen populärer Monarch.3 Zunächst zum Kaiser: Die 1890er Jahre boten Wilhelm II. naturgemäß noch keine Möglichkeiten, sich anlässlich feiernswerter runder Geburtstage oder Herrschaftsjubiläen zu präsentieren – dafür war er selbst zu jung und lag seine Thronbesteigung noch nicht lange genug zurück. Er musste sich also mit den ritualisierten jährlichen Feiern seines Geburtstages am 27. Januar begnügen.4 Neben dem Sedantag war dies ein zweiter säkularer Feiertag im Kaiserreich, der mit Parademärschen, Musikzügen und einem obligatorischen Besuch der Bundesfürsten in Berlin begangen wurde. Aber auch für das Alltagsleben der Deutschen hatte der Kaisergeburtstag Bedeutung: In den Schulen wurden die Klassenräume geschmückt und die Bilder der kaiserlichen Familie mit Ehrenkränzen versehen. Auf den Festakten wurden in der Aula patriotische Reden gehalten und Lieder gesungen, die jüngsten Schüler konnten sich mit dem Vortrag von Gedichten beteiligen. Neben dieser Normalität der Kaisergeburtstage gab es in den 1890er Jahren zwei in größerem Rahmen begangene Jubiläen, die für das preußische Königsbeziehungsweise das deutsche Kaiserhaus bedeutsam waren, von Wilhelm II. 3 Als Gegenstand der Forschung sind diese Feiern erst vor kurzem entdeckt worden. Eine materialreiche und chronologisch weit gefasste Doppelfallstudie bietet Simone Mergen: Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchischen Kult in Sachsen und Bayern (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 13), Leipzig 2005. 4 Vgl. hierzu neuerdings Frank Bösch: Das Zeremoniell der Kaisergeburtstage, in: Andreas Biefang/Michael Epkenhans/Klaus Tenfelde (Hg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871 – 1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 153), Düsseldorf 2008, S. 53 – 76. Zum Sedantag vgl. Ute Schneider : Einheit ohne Einigkeit. Der Sedantag im Kaiserreich, in: Sabine Behrenbeck/Alexander Nützenadel (Hg.), Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland seit 1861/71 (Kölner Beiträge zur Nationsforschung 7), Köln 2002, S. 27 – 44.

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jedoch jeweils nicht ohne weiteres direkt zur politischen Selbstinszenierung genutzt werden konnten. Den ersten Anlass bot im Januar 1896 der 25. Jahrestag der Kaiserproklamation in Versailles, der für Wilhelm II. insofern problematisch war, als neben seinem Großvater in das Interesse der Öffentlichkeit natürlich auch dessen Kanzler rückte, zu dem er – vorsichtig formuliert – ein unterkühltes Verhältnis pflegte. Bei einem Besuch Bismarcks in Berlin im Januar 1894 hatten beide zwar versucht, den tiefen Graben zu überbrücken, den Wilhelm II. mit der Entlassung des Kanzlers vier Jahre zuvor aufgerissen hatte; offensichtlich war aber wohl eher ein Waffenstillstand als eine Versöhnung erreicht worden.5 Immerhin war dieser so tragfähig, dass der Kaiser im April 1895 Bismarck zu dessen 80. Geburtstag seine Aufwartung machen konnte. In Friedrichsruh marschierte Wilhelm II. mit zwei Schwadronen Kavallerie, einer Kompanie Infanterie und einer Batterie Artillerie auf, salutierte mit 21 Kanonensalven und überreichte dem Jubilar ein Schwert als ein Symbol jenes Instruments, das Bismarck Wilhelm I. habe schmieden, schärfen und auch führen helfen, ein Symbol »jener großen, gewaltigen Bauzeit, deren Kitt Blut und Eisen war, dasjenige Mittel, das nie versagt und in der Hand von Königen und Fürsten, wenn es not thut, auch nach innen, dem Vaterlande den Zusammenhalt bewahren wird, der es einst nach außen hin zur Einigkeit geführt hat«.6

Hier wurde erstmals das Dilemma sichtbar, das sich Wilhelm II. im Umgang mit der Reichsgründung stellte: Seinem monarchischen Selbstverständnis zufolge musste sein Großvater als die Zentralfigur erscheinen; zugleich durfte aber nicht der Eindruck einer offenen Geschichtsklitterung erweckt werden. Gelang ihm die Lösung dieser schwierigen Aufgabe 1895 noch leidlich mit dem Bild des bei der Schwertführung helfenden Kanzlers, so rief Wilhelm II. zwei Jahre später weithin Unverständnis und Unmut hervor, als die Verdienste seines Großvaters anlässlich seines 100. Geburtstags zu würdigen waren. Wenige Wochen vor der Enthüllung des Reiterstandbilds als Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal, die den Höhepunkt der Feierlichkeiten markierte, hatte Wilhelm II. nämlich bei einem Festmahl des brandenburgischen Provinziallandtags Ende Februar 1897 ein besonderes Exempel seiner rhetorischen Unberechenbarkeit gegeben. Bei seinem Appell an die Verpflichtung zum Kampf gegen die Gefahren eines Umsturzes hatte er die Zuhörer an seinen Großvater erinnert,

5 Vgl. John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888 – 1900, München 2001, S. 661 – 669. 6 Ernst Jordan (Hg.): Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., München 1966, S. 66. Zum Kaiserbesuch in Friedrichsruh vgl. Otto Pflanze: Bismarck. Der Reichskanzler, München 1998, S. 651 – 653.

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»dem wir unser Vaterland, das Deutsche Reich, verdanken, in dessen Nähe durch Gottes Führung so mancher brave tüchtige Ratgeber war, der die Ehre hatte, seine Gedanken ausführen zu dürfen, die aber alle Werkzeuge seines erhabenen Wollens waren,«

nach anderer Version sollen sogar die Worte »Handlanger« und »Pygmäen« für die Männer an der Seite Wilhelms des Großen, wie ihn sein Enkel zu seinem 100. Geburtstag titulierte, gefallen sein.7 Die Irritation über diese eigenwillige Deutung erstreckte sich bis in die höfischen Kreise hinein: Die Baronin Spitzemberg zum Beispiel notierte in ihrem Tagebuch, dass die »peinlich-taktlose Rede des Kaisers […] allgemeines Unbehagen« hervorgerufen habe. »Es ist traurig zu sehen, wie der Enkel verständnislos das Bild des Großvaters verzerrt, ihm einen falschen Stempel aufdrückt, den weder Volk noch Geschichte anerkennen werden. Der alte Herr in seiner Bescheidenheit würde sich im Grabe umdrehen, daß sein Enkel Bismarck, Roon und Moltke nicht etwa bloß ›Handlanger‹, sondern ›Pygmäen‹ nennt. Auch der Beiname ›der Große‹, den ihm der Kaiser aufgebracht hat, stimmt nicht; nie wird ihn das Volk so nennen, für dieses heißt er ›der alte Kaiser‹, allenfalls ›Wilhelm der Siegreiche‹; seine Größe lag in etwas anderem als dem, was in der Geschichte dieses Epitheton erhält, speziell aber darin, daß er seine großen Diener eben nicht für ›Pygmäen‹ hielt und sich deshalb ihrem Rate fügte und mit seiner königlichen Machtfülle ihre Ideen in Taten und Leben umsetzte«.8

Die negative Resonanz, die er mit seinem Bemühen um Erhöhung seines Großvaters auf Kosten Bismarcks geweckt hatte, veranlasste Wilhelm II. bekanntlich nicht dazu, seine Vorstellungen eines »Persönlichen Regiments« zugunsten eines den politischen Realitäten näher kommenden und somit vielleicht weithin konsensfähigen Modells der Monarchenberufes zu revidieren. Immerhin auferlegte er sich bei dem nächsten Herrschaftsjubiläum eine gewisse Zurückhaltung in der Präsentation seiner Geschichtsbilder ; vielleicht wurde eine Wiederholung des Eklats von 1897 aber auch nur durch die ungünstigen Umstände verhindert, unter denen die Feierlichkeiten zum 200. Jubiläum der preußischen Monarchie im Jahr 1901 stattfanden: Ein unvorhergesehener Staatsbesuch des Kaisers in England anlässlich des Todes Königin Victorias verursachte die Absage eines großen Teils des Festprogramms. Der Auftakt fand noch planmäßig am 18. Januar statt, um die Erinnerung an die Krönung Friedrichs I. in Königsberg mit der 30. Wiederkehr des Reichsgründungstages zu verknüpfen. Bei dieser Gelegenheit schlug Wilhelm II. einen 7 Jordan (wie Anm. 6), S. 70. Vgl. auch Röhl, Aufbau (wie Anm. 5), S. 943. 8 Rudolf Vierhaus (Hg.): Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg geb. Freiin v. Varnbühler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 43), Göttingen 41976, S. 352 f.

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weiten Bogen von der Erwerbung der preußischen Königskrone 1701 über die Schaffung des preußischen Heeres durch Friedrich Wilhelm I. bis zu Friedrichs des Großen Erweiterung und Stabilisierung des Staates als Basis, »auf der einst Kaiser Wilhelm der Große das neue Deutsche Reich errichten konnte«.9 Despektierliche Äußerungen über die Männer an der Seite der Monarchen fehlten dieses Mal. Dass der Geist des Neoabsolutismus die Jubiläumsfeierlichkeiten durchwehte, war dennoch offensichtlich: in der maßgeblich nach dem Kunstgeschmack des Kaisers erfolgten Gestaltung der 1901 fertig gestellten Siegesallee mit den 32 Standbildern seiner Vorgänger.10 Mangels passender Anlässe blieben große Herrschaftsfeiern in den folgenden Jahren aus. Als sich dann 1909 mit dem 50. Geburtstag Wilhelms II. die nächste Gelegenheit zu einer außergewöhnlichen Selbstinszenierung bot, ließ der Kaiser sie ungenutzt verstreichen. Dies war insofern eine gut nachvollziehbare Entscheidung, als er wenige Wochen zuvor die bislang schwerste Krise seiner Regierungszeit erlebt hatte. Die berühmt-berüchtigte Daily Telegraph-Affäre vom November 1908 hatte sein Ansehen in der Öffentlichkeit erheblich beschädigt, sein Verhältnis zu Reichskanzler Bülow irreparabel gestört und selbst ein Zerwürfnis mit den konservativen Parteiführern verursacht. Da Wilhelm II. durch sein vom Auswärtigen Amt leichtfertig autorisiertes Interview in den Ruch des politischen Dilettantismus geraten war und überdies zur Abwendung einer Verfassungskrise durch den Reichskanzler hatte öffentlich erklären lassen müssen, dass er künftig in seinen politischen Äußerungen Zurückhaltung üben werde, verbot sich eine groß angelegte Zurschaustellung seiner Herrschertugenden von selbst. Stattdessen wurde der Festtag im üblichen Rahmen der Kaisergeburtstage begangen. Lediglich die Frequenz der monarchischen Besucher war höher als sonst bei diesem Anlass: Nahezu alle deutschen Fürsten erschienen, berichtete sein Hofmarschall Graf Zedlitz-Trützschler, »um in Anbetracht der Herbstvorgänge dem Kaiser den Ausdruck ihrer Treue und Anhänglichkeit auszusprechen«.11 Die Baronin Spitzemberg notierte am 27. Januar 1909 in ihrem Tagebuch: »Noch nie habe ich so intensiv an seinem Geburtstage meines Kaisers gedacht als heute, und zwar mit einem Herzen voll Mitgefühls und Mitleidens für den Mann, der vom 9 Zit. n.: Franz Herre: Kaiser Wilhelm II. Monarch zwischen den Zeiten, Köln 1993, S. 220. 10 Anlässlich der Fertigstellung des Werkes im Dezember 1901 hielt Wilhelm II. seine berüchtigte Rede über die »wahre Kunst«, in der er die »Berliner Bildhauerschule auf einer Höhe« sah, »wie sie wohl kaum je in der Renaissancezeit schöner hätte sein können«, und in der er feststellte: »Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr«; Jordan (wie Anm. 6), S. 101 f. 11 Robert Zedlitz-Trützschler : Zwölf Jahre am deutschen Kaiserhof, Berlin und Leipzig 1924, S. 215.

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Schicksal derartig gedemütigt und der ›Maßregelung‹ wohl im innersten Herzen verständnislos gegenübersteht«.

Trost bereiteten der Baronin allerdings die Tagesnachrichten vom Verlauf des Kaisergeburtstags: »Heute bei der Galaoper soll er endlos Cercle gemacht haben, soll unglaublich frisch und munter, auch wieder laut und burschikos gewesen sein. Durch das Kommen der deutschen Fürsten […] ist sein geknicktes Selbstgefühl wohl wieder gehoben worden – wir wollen hoffen, nicht bis zum Vergessen des Vorgefallenen«.12

Zwar mochte die Feier einen gewissen therapeutischen Effekt auf den Kaiser gehabt haben; beim Blick auf seinen 50. Geburtstag bleibt der wichtigste Befund aber wohl doch die durch die innenpolitische Lage erzwungene Bescheidenheit der Inszenierung. Auch die publizistische Panegyrik, für die ein runder Monarchengeburtstag üblicherweise ein Pflichttermin war, trieb nur vereinzelte Blüten. Den konsequentesten Versuch, ein Heldenbild zu zeichnen, unternahm der konservative Publizist Adolf Stein, der mit seinem am Jahresanfang 1909 erschienenen Büchlein »Wilhelm II.«13 einiges Aufsehen erregte und sich vielfach mit dem Vorwurf konfrontiert sah, bei der Rechtfertigung des kaiserlichen Verhaltens in der Daily Telegraph-Affäre weit über das Ziel hinausgeschossen und Wilhelm II. dadurch erneut desavouiert zu haben.14 Anders als der 50. Geburtstag Wilhelms II. wurde sein 25. Regierungsjubiläum 1913 im großen Rahmen gefeiert. Die Straßen Berlins wurden aufwendig geschmückt, unter anderem trugen die Straßenlaternen Kronen aus vergoldetem Zinkblech und beließen auf diese Weise, wie Reichskanzler Bethmann Hollweg später in einer Charakteristik des Jubiläums festhielt, die Schattenseiten »im wohltätigen Dunkel«.15 Von der Aufgeschlossenheit des Kaisers für technischen Fortschritt gab bereits in einer Vorfeier am 13. Juni ein Huldigungszug Ausdruck, an dem sich der Kaiserliche und der Hannoversche Automobilklub sowie das Freiwillige Automobilkorps mit 500 blumengeschmückten Kraftwagen beteiligten.16 12 Vierhaus (wie Anm. 8), S. 498 f. 13 Adolf Stein: Wilhelm II., Leipzig 1909. Seine Intentionen legte Stein in dem Vorwort bildhaft dar : »König Wolfdieterich ward in Feindesland hart bedrängt, der treue Berchtung aber kämpfte in der Vorhut, mit ihm seine fünf Söhne. Jedesmal, wenn einer der Söhne fiel, wandte sich Berchtung lachenden Angesichts zum Könige um, damit dieser guten Mutes bleibe und den Verlust nicht merke. König Wolfdieterich steht im Pfeilhagel, den treuen Berchtung kann ich noch nicht entdecken, aber ich möchte wohl einer seiner Söhne sein«. 14 Zu den Reaktionen vgl. Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender NF 25 (1909), S. 46 f. 15 Zit. n.: Herre (wie Anm. 9), S. 275. 16 Zum äußeren Ablauf der Feierlichkeiten, für die der Kaiser persönlich bereits zwei Jahre zuvor erste Anweisungen gegeben hatte, vgl. John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900 – 1941, München 2008, S. 1013 – 1016 und zur zeitgenössischen Kritik an den

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Einen Tag später vertagte sich der Reichstag mit Rücksicht auf das Regierungsjubiläum. Die Vertagung erfolgte – nach dem erwartungsgemäßen Auszug der Sozialdemokraten – mit einer Ansprache des Reichstagspräsidenten Johannes Kaempf, der sich um eine Würdigung des Kaisers bemühte. Seine linksliberale politische Herkunft verleugnete Kaempf nicht, indem er an die Bedenken erinnerte, die insbesondere die militärischen Neigungen Wilhelms II. bei seiner Regierungsübernahme 1888 geweckt hatten. Diese indes hätten sich als »gänzlich grundlos erwiesen«. »Er, der das mächtigste Kriegsinstrument in der Hand hält, hat es benutzt, nicht um kriegerische Lorbeeren zu pflücken, sondern um uns und der Welt den Frieden zu bewahren. Wir leben in einer ernsten Zeit, aber wir haben das felsenfeste Vertrauen, daß der Kaiser das sein wird, was er war und was er ist: der Friedensfürst, der das Kriegsschwert nur ziehen würde, wenn es gälte, Lebensbedingungen des deutschen Volkes zu verteidigen«.17

Schwerer tat sich Kaempf, die Verdienste des Kaisers um die innere Entwicklung des Reiches zu beschreiben. Hier behalf er sich mit der Würdigung seines sittlichen Ernstes, des kategorischen Imperativs der Pflicht, der allen Deutschen ein Leitbild sei. In seiner Festrede bei der Feier der Universität Berlin am 16. Juni setzte der Historiker Otto Hintze einen anderen Schwerpunkt als der Reichstagspräsident und erörterte die innenpolitische Haltung des Kaisers. Dabei trug er – von Wilhelm II. ausdrücklich dazu autorisiert – einen bislang unbekannten historischen Vorgang vor, den er für geeignet hielt, die vielfach angezweifelte kaiserliche Verfassungstreue zu demonstrieren: Unmittelbar nach dem Tod seines Vaters sei ihm, wie seinen beiden Vorgängern, ein politisches Testament Friedrichs Wilhelms IV. vorgelegt worden. Darin befand sich angeblich eine in den »stärksten und beweglichsten Wendungen gehaltene Mahnung«, die preußische Verfassung »noch vor der Vereidigung umzustoßen«. Wie Wilhelm I. und Friedrich III. habe der junge Kaiser natürlich nie daran gedacht, diese Mahnung zu beherzigen, und überdies die Vernichtung des Schriftstücks angeordnet, da er nicht ausschließen wollte, dass »in Zukunft einmal ein junger unerfahrener Herrscher zur Regierung käme, auf den dieses Testament doch vielleicht einen verhängnisvollen Eindruck hätte machen können«.18 Die Absicht dieser historischen Mitteilung war unschwer erkennen: Nachdem die Erinnerung an die Daily Telegraph-Affäre allmählich verblasst war und der Feierlichkeiten Bernd Sösemann: Hollow-sounding jubilees: forms and effects of public self-display in Wilhelmine Germany, in: Annika Mombauer/Wilhelm Deist (Hg.), The Kaiser. New Research on Wilhelm II’s role in Imperial Germany, Cambridge 2003, S. 37 – 62. 17 Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender NF 29 (1913), S. 254. 18 Ebd., S. 255 f.

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Kaiser zuletzt seine Neigungen zu einem »Persönlichen Regiment« weitgehend unterdrückt hatte, sollte er nun zu seinem 25. Regierungsjubiläum als von Anfang an verfassungstreuer Monarch präsentiert werden. Den Höhepunkt der Feierlichkeiten bildete am 17. Juni 1913 der Empfang der deutschen Bundesfürsten, bei dem der bayerische Prinzregent Ludwig – den der Kaiser für einen partikularistischen Querulanten hielt und dem er zudem nachtrug, 1866 gegen Preußen im Felde gestanden zu haben – die Festansprache hielt: Wie der Reichstagspräsident würdigte auch Ludwig den Kaiser in erster Linie als Friedenswahrer und vermochte darüber hinaus sein vermeintlich segensreiches Handeln im vergangenen Vierteljahrhundert kaum konkret zu illustrieren. Neben den allgemeinen Ausführungen zur wirtschaftlichen und kulturellen Blüte des Reiches während seiner Regierungszeit trat als weitere spezielle Herrschertugend deutlich nur die aufrichtige Achtung der Einzelstaaten im »verfassungsmäßigen Organismus des Reiches« hervor.19 Die föderale Ordnung des Reiches spiegelte sich auch in dem Geschenk der Bundesfürsten wider : einem als Tafelaufsatz gefertigten Schiff, umrahmt von den Wappenschildern der deutschen Bundesstaaten, mit dem Reichsadler auf schwellendem Segel und der Kaiserkrone als Schiffszier. Dem bayerischen Prinzregenten antwortete der Kaiser in untypischer Bescheidenheit: Als Schirmherr der durch die Bundesverträge geschlossenen »Vielgestaltigkeit unseres staatlichen Lebens« wolle er auch weiterhin wirken, meinte Wilhelm II. und verwies darauf, wie weit das Reich im vergangenen Vierteljahrhundert voran gekommen sei: »wie in Heer und Flotte, so auch in Landwirtschaft und Industrie, in Handel, Schiffahrt und Verkehr, in Wissenschaften und Technik, in Künsten und – auch das ist wichtig – in der Pflege frohgemuter körperlicher Übungen«.

Fern liege ihm jedoch der Gedanke, »als Verdienst für einzelne in Anspruch zu nehmen, was Gesamtleistungen der Nation sind«.20 Auch in seinem Dankerlass im Rückblick auf das Regierungsjubiläum vom 20. Juni 1913 beließ es Wilhelm II. bei allgemeinen Wendungen wie dem Stolz auf die »beispiellose Zunahme an Volkskraft und Nationalvermögen«, die dem Reich seit 1888 widerfahren sei. Selbst das Bild des Friedensfürsten machte er sich nur vorsichtig zueigen mit der unpersönlichen Formulierung, dass das Reich habe gedeihen können »unter den befruchtenden Strahlen der Friedenssonne […], deren Kraft jedes am Horizont auftauchende Gewölk siegreich zerstreute«.21

19 Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender NF 29 (1913), S. 258. 20 Ebd., S. 259. 21 Ebd., S. 263.

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Die Baronin Spitzemberg zeigte sich mit dem Verlauf der Feierlichkeiten einverstanden. Über ihnen leuchte »ein guter Stern«: »in den Blättern keine byzantinischen Verhimmlungen des Kaisers, wohl aber manche ehrliche Anerkennung und gerechte Beurteilung seines Wesens […] Es ist mir eine Herzensfreude, daß unser Volk trotz aller Mißtöne, die es durchklingen, sei es auch nur für Tage, zu einer ehrlichen Festfreude und Huldigungsstimmung für den Kaiser sich aufraffen kann«.22

Die Substanz der Huldigungen blieb allerdings gering: Sofern sie sich nicht darin erschöpften, Wilhelm II. als Symbol für den Aufstieg des Reiches in verschiedenen Lebensbereichen zu preisen, galten sie dem Friedensfürsten. Dass dem Kaiser nur noch auf dem Feld der Außenpolitik entscheidende Bedeutung zugemessen wurde, kam auch in der von dem Kieler Historiker Felix Rachfahl verfassten offiziösen Festschrift zu Ausdruck, die unter dem Titel »Kaiser und Reich 1888 – 1913. 25 Jahre preußisch-deutscher Geschichte« schilderte. Rachfahl versuchte erst gar nicht, Wilhelm II. zur Zentralfigur der politischen Entwicklung des Reiches zu stilisieren, und machte schon im Vorwort seiner Festschrift deutlich, dass unter den Bedingungen eines modernen Verfassungsstaates »eine Darstellung wie die vorliegende bis zu einem gewissen Grade den Charakter einer Parlaments- und Parteiengeschichte annehmen« müsse; »zu einem guten Teil ist die Reichsgeschichte jetzt eben Reichstagsgeschichte. Nicht durch große, in romantischem Lichte glänzende Haupt- und Heldenaktionen zeichnet sich das soeben verflossene Vierteljahrhundert preußisch-deutscher Geschichte aus«,23

meinte Rachfahl und tat sich entsprechend schwer, die persönlichen Verdienste des Kaisers hervorzuheben, die jedoch in einem Punkt unstrittig erschienen: »Die Güter und Segnungen des Friedens hat der Herrscher dem deutschen Volke zugleich mit dem Frieden selbst gehütet und bewahrt. Wie oft lag das Los über Krieg und Frieden in seiner Hand, wie oft schien es, als ob die Lage zum Kriege dränge, wie oft trieb die öffentliche Meinung selbst dem Kriege entgegen! Verkennung, offene und versteckte Anklagen konnten ihn nicht aus der weisen Mäßigung bringen, welche die Aufgabe seines hohen Amtes ist, ihm nicht den kühlen und ruhigen Gleichmut der Entschließung rauben, der, unbeirrt durch Haß, Leidenschaft und Anfechtung, nur das Wohl des Ganzen im Auge hatte. Und das deutsche Volk ist gut dabei gefahren«.24

Eine ähnliche wichtige Funktion wie die, die dem Kaiser anlässlich seines 25. Regierungsjubiläum zugeschrieben wurde, konnte auf den badischen Groß22 Vierhaus (wie Anm. 8), S. 558. 23 Felix Rachfahl: Kaiser und Reich 1888 – 1913. 25 Jahre preußisch-deutscher Geschichte, Berlin 1913, S. III – IV. 24 Ebd., S. 350.

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herzog Friedrich I., der als zweites Beispiel noch kurz vorgeführt sei, nicht projiziert werden. Anlässe, ihm zu huldigen, gab es in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende mehrfach: 1892 feierte er sein 40. Regierungsjubiläum, vier Jahre später seinen 70. Geburtstag und 1902 sein 50. Regierungsjubiläum, auf das im Folgenden der Blick gerichtet wird. Die Feierlichkeiten begannen am Wochenende des 19. und 20. April 1902 mit einem Festkonzert in der Karlsruher Liederhalle und der Eröffnung einer Ausstellung im Kunstgewerbemuseum der Stadt.25 In den folgenden Tagen reisten die auswärtigen Gäste an, unter ihnen Prinz Gustav von Schweden und der russische Großfürst Michael. Am Freitag, den 25. April, traf eine Abordnung des Bundesrats mit Reichskanzler Bernhard von Bülow an der Spitze in Karlsruhe ein und besuchte im Anschluss an ein Galadiner im Schloss eine Festvorführung im Hoftheater. Am nächsten Tag reisten die höchstrangigen Besucher an: der König von Württemberg und Kaiser Wilhelm II. Einer Parade auf dem Schlossplatz folgte eine Paradetafel im Schloss, anschließend brachten die drei badischen Hochschulen dem Jubilar einen Fackelzug dar, bevor er eine Rundfahrt durch die festlich erleuchtete Stadt unternahm. Der 27. April war den badischen Gratulanten reserviert: den Abordnungen der beiden Kammern des Landtags, dem Erzbischof von Freiburg und dem Karlsruher Oberbürgermeister, der als Vorsitzender einer Jubiläumsstiftung einen Sammlungserlös von annähernd einer halben Million Mark zu wohltätigen Zwecken überreichte. Bei einer ausgedehnten nochmaligen Rundfahrt durch Karlsruhe standen – organisiert von den Vereinen und Schulen – 15.000 Menschen Spalier. Nach diesem Höhepunkt dauerten die Festlichkeiten noch sechs Wochen an, während derer weitere Abordnungen empfangen wurden und weitere fürstliche Gäste eintrafen: als prominentester unter ihnen der preußische Kronprinz am 4. Mai, als 1.500 Radfahrer sich auf dem Schlossplatz an dem Preiscorso des Deutschen Radfahrer-Bundes beteiligten. Der Jubilar bereiste dann auch noch die wichtigsten Städte seines Landes: Heidelberg, Freiburg und zwei Mal Mannheim, wo er Anfang Juni die Deutsche Landwirtschaftsausstellung eröffnete. Ähnlich überdimensioniert wie die Feierlichkeiten erscheint auch die durch das Jubiläum veranlasste literarische Produktion: Der Freiburger Historiker Alfred Dove würdigte Friedrich I. in einem Buch als Landesherrn und deutschen Fürsten, sein Jenaer Kollege Ottokar Lorenz legte ein Charakterbild des Großherzogs mit biographischen Nachrichten vor, der Landtags- und frühere konservative Reichstagsabgeordnete Ernst August Göler von Ravensberg 25 Zum Ablauf der Feierlichkeiten vgl. Julius Katz (Hg.): Ansprachen Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs Friedrich von Baden anläßlich des 50jährigen Regierungs-Jubiläums und Chronik der Jubiläums-Feier, Karlsruhe 1902.

Herrschaftsjubiläen und Herrschergeburtstage im deutschen Kaiserreich

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widmete eine Schrift dem Verhältnis Friedrichs und seines Volkes, und Wilhelm Martens kompilierte eine reich bebilderte Festgabe, die einige Schlaglichter auf die Regierungszeit des Großherzogs warf.26 Die Würdigungen Friedrichs I., die die zahlreichen Gratulanten, Festredner und Publizisten vorbrachten, zeigten bemerkenswert wenig Unterschiede. Reichskanzler Bülow richtete in seiner Ansprache das Hauptaugenmerk auf die »vorausschauende, unbeirrte, hingebende Mitarbeit« des Großherzogs an der »Neubegründung des Reichs«, von »dem ersten Einlenken der badischen Politik in die Richtung, die für einen unlösbaren Zusammenschluss von Nord und Süd entscheidend ward, bis zu dem denkwürdigen Augenblick, da Euere Königliche Hoheit als Erster das Hoch auf einen Deutschen Kaiser ausbringen konnte«.27

Auch Wilhelm II. blickte zurück auf die Zeit der Einigungskriege, als der badische Großherzog – anders als seine Nachbarn in Württemberg und in Bayern – konsequent den Anschluss an Preußen gesucht hatte, und würdigte ihn als einen treuen Waffengenossen und »Förderer der Gedanken meines hochseligen Großvaters«, einen emsigen und eifrigen »Hüter der erworbenen Schätze und Güter unseres deutschen Volkes, in allen diesen Dingen ein Vorbild für unsere jüngere Generation«.28 Dass der Kaiser und der Reichskanzler die Verdienste Friedrichs I. um die Reichsgründung in den Vordergrund rückten, lag auf der Hand; aber auch die badischen Gratulanten und Festredner nahmen diese Perspektive ein. Der badische Staatsminister Arthur von Brauer zum Beispiel erhöhte den Großherzog noch ein ganzes Stück und schilderte ihn, der für Wilhelm II. ein treuer Waffengenosse und Förderer der Gedanken seines Großvaters war, als »Mitbegründer des Reiches« und als »dessen weiser Berather«.29 Noch weiter gesteigert sind die Verdienste Friedrichs I. in der Festgabe von Martens: Jeder, der mit der Geschichte der Reichsgründung vertraut sei, wisse, dass »Großherzog Friedrich von Baden auf das Zustandekommen und Gedeihen des deutschen Reiches eine bedeutungsvolle, von den glaubwürdigsten Zeugen wiederholt und 26 Alfred Dove: Großherzog Friedrich von Baden als Landesherr und deutscher Fürst, Heidelberg 1902; Ottokar Lorenz: Großherzog Friedrich von Baden. Zum fünfzigsten Regierungsjubiläum 1852 – 24. April – 1902. Ein Charakterbild mit einem Anhang biographischer Nachrichten nach meist handschriftlichen Quellen, Berlin 1902; Ernst August Freiherr von Göler : Großherzog Friedrich von Baden und sein Volk. Festschrift zum fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläum, Karlsruhe 1902; Wilhelm Martens: Großherzog Friedrich von Baden. Eine Festgabe zur Erinnerung an das fünfzigjährige Regierungsjubiläum, Karlsruhe 1902. 27 Katz (wie Anm. 25), S. 20. 28 Ebd., S. 26 f. 29 Ebd., S. 29.

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rühmlich bestätigte Einwirkung ausgeübt hat. Wenn die Zukunft dereinst den Schleier über manche Vorgänge lüftet, die heute noch als Staatsgeheimnis betrachtet werden müssen, so wird aller Voraussicht nach das vaterländische Verdienst unseres Großherzogs in noch hellerem Glanze strahlen«.30

Nun waren dies Verdienste, die zum Zeitpunkt des Jubiläums bereits mehr als drei Jahrzehnte zurücklagen, so dass die Frage auftauchen mochte, was der Großherzog denn seit 1871 für das Reich geleistet habe. Die Gratulanten, Festredner und Publizisten klammerten sie weitgehend aus und beließen es zumeist bei Verweisen darauf, dass Friedrich I. immer eng an der Seite Wilhelms I. und Bismarcks gestanden habe – den hieraus folgenden und durchaus zutreffenden Schluss, seit 1890 habe sein Einfluss in Berlin merklich nachgelassen, zogen sie nicht explizit. Lediglich Lorenz konzedierte in seinem Charakterbild Friedrichs I., dass als notwendige Folge der neuen Reichsverfassung die »einzelnen Bundesfürsten in persönlicher Beziehung keinen unmittelbaren Einfluß auf die allgemeinen deutschen, besonders auf die auswärtigen Verhältnisse und die große Politik auszuüben imstande waren«.

Aber auch er wagte die Prognose, dass die Geschichtswissenschaft dereinst bei Zugänglichkeit der Regierungsakten und Korrespondenzen einen »heilsamen Einfluß« des Großherzogs auf die Reichspolitik nach manchen Seiten hin feststellen werde.31 Von den Verdiensten des Großherzogs um die innere Entwicklung Badens war bei den Jubiläumsfeierlichkeiten 1902 eher in zweiter Linie die Rede. Auch hier wurden die Argumente vornehmlich aus der recht weit zurückliegenden Vergangenheit und weniger aus der Gegenwart geschöpft. Dove zum Beispiel widmete in seinem Buch der Neuen Ära der 1860er Jahre breiten Raum, die von Friedrich I. mit der seinerzeit deutschlandweit viel beachteten Einsetzung einer liberalen Regierung eingeleitet worden war. Hinter der ausführlichen Würdigung dieser Epoche, in der in Baden in rascher Folge die Gewerbefreiheit eingeführt, die Judenemanzipation abgeschlossen und die Verfassung modernisiert worden waren, trat die badische Landespolitik seit der Reichsgründung deutlich zurück. Der äußerst scharf geführte Kulturkampf, der das politische Leben in Baden bis in die späten 1880er Jahre hinein geprägt hatte, wurde von Dove nur sehr vorsichtig32 und von den meisten anderen Festschreibern und Festrednern gar nicht erwähnt. Welche aktuelle politische Rolle der Großherzog in Baden spielte, wurde kaum erörtert. Wie bei den Feierlichkeiten zum Kaiserjubiläum von 1913 blieb 30 Martens (wie Anm. 26), S. 5. 31 Lorenz (wie Anm. 26), S. 51. 32 Vgl. Dove (wie Anm. 26), S. 175 – 178.

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es auch im Falle Friedrichs I. zumeist bei dem Verweis auf den enormen Aufschwung, den sein Land nicht zuletzt in wirtschaftlicher Hinsicht während seiner Regierungszeit vollzogen habe. Am deutlichsten trat er noch als Förderer von Wissenschaft und Kunst hervor. Wie Kaiser Wilhelm II. erschien auch der Großherzog als Muster der Tugendhaftigkeit, der – wie Göler dies formulierte – als »fürstlicher Held der Treue« allzeit auch seine Untertanen »zu treuer Pflichterfüllung« aufmuntere.33 Insgesamt betrachtet aber bezogen sich die Herrschertugenden, die beim 50. Regierungsjubiläum Friedrichs I. hervorgehoben wurden, auf so weit zurückliegende Verdienste – die Neue Ära der 1860er Jahre und die Reichsgründung –, dass vielleicht auch den Zeitgenossen der Gedanke gekommen sein mochte, sie huldigten einem lebenden Denkmal und nicht einem regierenden Fürsten. Zum Schluss sei die Eingangsfrage aufgegriffen: Was verraten die Herrschergeburtstage und Herrschaftsjubiläen über den Zustand der monarchischen Ordnungen in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs? Es sollen aus der Betrachtung einiger weniger Miniaturen keine weitreichenden Schlüsse gezogen werde, es ist aber doch bemerkenswert, dass die bei den Feierlichkeiten vermittelten Bilder nur sehr wenige Aufschlüsse über die Funktionen der Monarchen im politischen System geben und diese wenigen Aufschlüsse zudem problematisch erscheinen. Dass die Monarchen eine zentrale Aufgabe im politischen Tagesgeschäft erfüllten, war jedenfalls bei den Feierlichkeiten nicht zu erkennen – sie wurden im Wesentlichen auf symbolische Funktionen reduziert: historisch als Wahrer der Traditionen der Reichsgründer, allgemein als Maßstab für den wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung ihrer Länder während ihrer Regierungszeit oder individuell als Verkörperung bestimmter für das gesamte Volk nützlicher Tugenden. Im Falle Großherzog Friedrichs I. erschöpften sich die Zuschreibungen in diesen symbolischen Funktionen, die jedoch wohl eher Kennzeichen einer parlamentarischen als einer konstitutionellen Monarchie sind. Bei Kaiser Wilhelm II. kam noch die wichtige Funktion der Friedenswahrung hinzu. Damit aber wurde ihm eine Aufgabe zugeschrieben, die er – wie sich schon ein Jahr nach seinem 25. Regierungsjubiläum zeigen sollte – auch nicht annähernd erfüllen konnte.

33 Göler (wie Anm. 26), S. 47.

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Das Reich als »Organismus« oder »Mechanismus« – Bundesstaat und Einheitsstaat in der Imagination der Weimarer Zeitgenossen

Die deutsche Verfassungsdiskussion 1918/19 wurde nach dem Ende der konstitutionellen Monarchie nicht nur durch die Alternative parlamentarische Demokratie oder Räterepublik geprägt, sondern auch durch die Frage bestimmt, ob die Weimarer Republik als Bundes- oder Einheitsstaat konstituiert werden sollte. Eine umfassende Reorganisation der Beziehungen zwischen Reich und Ländern wurde dabei 1919 durch die Verfassungsväter vertagt. Im Unterschied zur klaren Entscheidung gegen die Räterepublik und für die parlamentarische Demokratie manifestierten die Verfassungsberatungen einen Kompromiss von föderalen und zentralistischen Elementen, bei dem beide Seiten – Reich und Länder – fortan nach einer Reform der aus ihrer Sicht unpassenden Bestimmungen strebten. Von daher war es weniger eine Frage des geschriebenen Verfassungstextes als vielmehr eine Frage seiner Interpretation und der politischen Praxis, ob sich das Reich künftig als ein »federal state or a single state«1 entwickeln würde.

Bundesstaat oder Einheitsstaat – konkurrierende politische Ordnungsideen 1918/19 Der sozialdemokratische Ministerpräsident Preußens Otto Braun charakterisierte das Weimarer Verfassungswerk als ein provisorisches Gebilde: Die Deutschen seien bei der Wohnungssuche auf der halben Treppe stehen geblieben, so könnten sie sich nicht häuslich einrichten. Entweder müssten sie hinaufgehen zur nächsten Etage, dem Einheitsstaat, oder hinunter zu einer Föderativordnung und der Aufteilung Preußens schreiten.2 Die weit verbreitete Erkenntnis von der Weimarer Bundesstaat-Verfassung als Übergangsform, die 1 Walter James Shepard: The New German Constitution, in: American political science review 14 (1920), S. 34 – 52; Ren¦ Brunet: The New German Constitution, New York 1922, S. 70. 2 Zit. n.: Arnold Brecht: Reichsreform. Warum und wie?, Berlin 1931, S. 8.

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keine »Gestaltung der deutschen Lebensgemeinschaft […] von dauernder Geltung sein könnte«3 führte zu einer Reichsreform-Bewegung in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, die auf eine institutionelle und territoriale Neugestaltung der Reich-Länder-Ordnung zielte.4 Die Forderung nach einer »Reichsreform« ist zwar nicht allein an die Weimarer Epoche gebunden, sondern ein Thema, das sich durch die gesamte neuere deutsche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte zieht.5 Doch gewann es nach 1919 an Schärfe, als zahlreiche ältere Strukturprobleme in einem rapiden Modernisierungsprozess zu einer Lösung drängten, die vor dem Hintergrund von Kriegsniederlage, Revolution und Staatskrisen als besonders dringlich empfunden wurde.6 So bietet gerade die Weimarer Epoche ein Lehrstück der Auseinandersetzung zwischen Unitariern und Föderalisten.7 Auch wenn die Reichsreformdebatte mitunter den Charakter einer reinen Spezialistendebatte annahm, so war die Durchschlagskraft unitarischer Reformpläne und föderativer Positionen unter den Bedingungen moderner Kommunikation und erst recht unter demokratischen Vorzeichen doch in entscheidender Weise davon abhängig, ob sie den Wählern 3 Willibalt Apelt: Staatstheoretische Bemerkungen zur Reichsreform, Leipzig 1932, S. 1. 4 Eine 1928 publizierte Literaturliste umfasste bereits 332 Titel zur Reichsreform, vgl. Bund zur Erneuerung des Reiches: Reich und Länder, Berlin 1928 und die Zusammenfassung des Diskussionsstandes im Auftrag der Reichsregierung: Bundesarchiv Berlin R 43 I/1877 Vorschläge zur Reichsreform. 5 So sucht seit 2003 eine Bund-Länder-Kommission nach einer systemgerechten Modernisierung der gegenwärtigen bundesstaatlichen Ordnung. Neben der Bedeutung der Kompetenzen von Bund und Ländern gibt es in der öffentlichen Debatte immer wieder Vorstöße für eine Neugliederung der Länder. Aus der inzwischen überbordenden Literatur Christian Starck (Hg.): Föderalismusreform, München 2007. 6 Eine wissenschaftliche Analyse der Weimarer Reichsreformdebatte setzte bereits Ende der 1920er Jahre ein mit Christian König: Die süddeutschen Staaten und das Problem der Reichsreform, Rostock 1929. Als Standardwerk gilt immer noch Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 1: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919 – 1930, Berlin 1963. Die 1987 und 1992 erschienenen zweiten und dritten Bände bis 1933 gehen auf die Reichsreform nur noch am Rande ein. Schulz folgte weitgehend einem Einheitsparadigma, wenn er die deutsche Territorialgeschichte seit dem Wiener Kongress vor allem als »eine im Ganzen auf Zusammenfassung, Angleichung und Vereinheitlichung drängende Entwicklung« beschrieb, die nach einem fortgesetzten Rhythmus kleinere Gebiete in größeren aufgehen ließ. Ebd., S. 3 f. Gegen hegemonial geprägte Sichtweisen wie diese wandte sich zuletzt Jürgen John, der die eigenständigen Perspektiven der deutschen Kleinund Mittelstaaten hervorhob, vgl. Jürgen John: »Unitarischer Bundesstaat«, »Reichsreform« und »Reichsneugliederung« in der Weimarer Republik, in: Ders. (Hg.), »Mitteldeutschland« – Geschichte, Begriff, Konstrukt, Jena 2001, S. 279 – 375 und Ders.: Die Thüringer Kleinstaaten – Entwicklungs- oder Beharrungsfaktoren?, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 132 (1996), S. 91 – 149, bes. S. 112 f. 7 Eine Zusammenfassung der Argumente beider Seiten findet sich bei Hans Nawiasky : Grundprobleme der Reichsverfassung. Erster Teil: Das Reich als Bundesstaat, Berlin 1928, S. 79 – 132.

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erfolgreich vermittelt werden konnten. Bundesstaat und Einheitsstaat aber waren zunächst nur abstrakte Begriffe der Staatstheorie, über die es – ähnlich der dauernd definitionsbedürftigen Zusammensetzungen Bundesstaat und Staatenbund8 – nie zu einer einhelligen Meinung gekommen ist und die nach sprachlicher und bildhafter Imagination verlangten, sollten sie medial wirksam werden. Dementsprechend verbanden sich unitarische und föderative Argumentationen mit bestimmten Bildprogrammen. Die Verbildlichung einer einheitlichen Semantik diente dabei als Voraussetzung für die Herstellung kollektiver Identitäten. Sie trug zur Ablehnung oder zur Identifikation mit einem verbindlichen Wertekatalog bundesstaatlicher Konzeptionen bei und damit zur Legitimation der jeweils angestrebten politischen Ordnung.9

Territoriale Neugliederung und Reichsreform als politisches Dauerthema Weimars Für ein tieferes Verständnis der kommunikativen Strategien in der Reichsreformdebatte und der Legitimierung bzw. Delegitimierung der Weimarer bundesstaatlichen Ordnung erscheint es vorab sinnvoll, die wesentlichen Entwicklungen der Reich-Länder-Beziehungen zwischen 1918/19 und 1933 zu beschreiben. Angesichts einer gefährdeten Integrität des Reiches im Westen und Osten sowie von Unruhen und Aufständen im Innern der Republik, die mit zentralen politischen Steuerungs- und revolutionären Gestaltungsansprüchen verbunden wurden, gewann in der Nachkriegszeit zunächst eine reichsfixierte Staatspraxis gegenüber den Ländern an Boden: Die völlige Neuordnung der Staatsfinanzen durch die Reichsfinanzreform zu Lasten der Länder ließ sich 1918 bis 1920 in relativ kurzer Zeit durchsetzen und wie aus einem Guss ge8 Staatsrechtlich, völkerrechtlich und verfassungsrechtlich stiftete die Kontroverse »Staatenbund gegen Bundesstaat« zwar kaum Klarheit. Jedoch ist beiden Begriffen gemeinsam, dass Souveränität als teilbar gedacht werden kann: Für die systematische Aufarbeitung der Bundesstaatslehren des 19. und 20. Jahrhunderts siehe Ernst Rudolf Huber : Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde, Stuttgart 21990 – 1991; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts, Bde 2 u. 3, München 1992, 1999 und insbesondere Stefan Oeter : Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsdenken. Untersuchungen zur Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz (jus publicum 33), Tübingen 1998. 9 Insbesondere Reinhart Koselleck hat den metaphorischen Gehalt politisch-historischer Begriffe hervorgehoben, die auf Anleihen aus den jeweiligen Erfahrungsbereichen der Menschen angewiesen waren, damit ihre Inhalte überhaupt vorstellbar sind und kommuniziert werden konnten. Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 67 – 69, 159 – 167, 486 – 503 und Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2003, S. 9 – 26.

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stalten.10 Auch die potentiellen Gefährdungen und Langzeitfolgen der mit erheblichen Not- und Ausnahmerechten begründeten Reichsexekutionen gegen Sachsen und Thüringen waren 1923 kein ernstes Thema.11 Eine Neugliederung, die die Existenz Preußens und die kleinen Länder berührte, wurde hingegen zum Allheilmittel verklärt, das alle Friktionen des Bundesstaates beseitigen würde. Die neuen Länder sollten gleich groß, wirtschaftlich und sozial ausgewogen sein.12 Eine auf Initiative der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) von der Nationalversammlung ins Leben gerufenen »Zentralstelle für die Gliederung des Reiches« sollte den Neugliederungsartikel 18 der Weimarer Verfassung politisch umsetzen, agierte jedoch wirkungslos. Selbst der Zusammenschluss der thüringischen Staaten 1920 ist dieser beim Reichsministerium des Innern angebundenen Kommission nicht zuzurechnen. Ihre Gutachten lenkten jedoch den Blick auf die Stärke der im Bewusstsein der Bevölkerung weiterlebenden historischen Zugehörigkeiten und regionalen Identitäten, die nicht – und dies war ein verbreiteter Trugschluss der Nachkriegsjahre – mit den Dynastien untergegangen waren.13 Eine neue Phase der Reichsreformbemühungen wurde 1924 mit einer von Bayern ausgehenden Eingaben- und Denkschriftenkultur gegen den Zentralisierungsschub der Revolutions- und Nachkriegszeit eröffnet.14 Während die Regierungen in der Stabilisierungspolitik zunächst absorbiert waren, stießen akademische und politische Erörterungen der Reich-Länder-Beziehungen auf eine zunehmende öffentliche Resonanz, für die eine inflationäre Verbreitung von Denkschriften und Kommentaren symptomatisch war. Die größeren Parteien und führende Politiker der Länder nahmen jetzt programmatisch Stellung.15 Außerdem wurden kommunale und wirtschaftliche Organisationen und Inter-

10 Peter-Christian Witt: Finanzen und Politik im Bundesstaat. Deutschland 1871 – 1933, in: Ders./Jochen Huhn (Hg.), Föderalismus in Deutschland. Traditionen und gegenwärtige Probleme (Schriften zur Innenpolitik und zur kommunalen Praxis 8), S. 75 – 126. 11 Karl Heinrich Pohl: Die Zerstörung des linksrepublikanischen Projektes in Sachsen. Zu Stresemanns »Krisenlösungsstrategie« im Jahre 1923, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 7/8 (2006), S. 442 – 455. 12 Ein erster konkreter Vorschlag zur Abgrenzung von 16 neuen Ländern mit mindestens einer Million Einwohnern stammte von dem Berliner Geographen Walther Vogel: Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung, Berlin 1919. 13 Georg Kaisenberg: Die Zentralstelle für die Gliederung des Reiches (Erde und Wirtschaft 1), Braunschweig 1927/28. 14 Die Denkschrift der Bayerischen Staatsregierung »Zur Revision der Weimarer Reichsverfassung« von 1924 ist abgedruckt in: Reichsministerium des Innern (Hg.): Verfassungsausschuss der Länderkonferenz. Beratungsunterlagen, Berlin 1929, S. 343 – 361. 15 So der preußische Ministerpräsident Otto Braun: Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem?, Berlin 1927 oder der badische Staatspräsident und Minister Adam Remmele: Vorschläge für die Reichs- und Länderreform, Karlsruhe 1929. Vgl. auch Anm. 4.

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essenverbände aktiv und traten mit eigenen Reichsreformkonzepten hervor.16 Das verbreitete Wunschbild eines einheitlichen Ländertyps für das gesamte Reich, der die Mitte hielt zwischen den preußischen Provinzen und den süddeutschen Ländern, schlug sich exemplarisch in Niedersachsen-, Mitteldeutschland- und Südweststaatsplänen nieder.17 Demgegenüber hatte sich der Gedanke verflüchtigt, dass Freistaaten mit weniger als einer Million Einwohnern eigene Existenzrechte besäßen.18 Wegen des massiven Widerstandes der preußischen und süddeutschen Regierungen gegen das Konzept eines »Dezentralisierten Einheitsstaates« kam 1927 erstmals eine norddeutsche Teillösung ins Gespräch, die Preußen ohne weitere Veränderung mit dem Reich vereinigen sollte.19 Die so genannte Reichslandlösung, die am einflussreichsten vom parteiübergreifenden Bund zur Erneuerung des Reiches vertreten wurde, ließ in der Schwebe, was daraus für die nord-, mittel- und süddeutschen Länder und die föderative Ordnung folgen würde.20 Die strategische Beschränkung der Reichsreform auf den Norden, die auf die Zustimmung der süddeutschen Regierungen zielte, mochte ebenso wenig wie das Idealbild des dezentralisierten Einheitsstaates Mehrheiten zu bündeln. Sie stellte allerdings eine Folie für die so genannte »Differenzierende Gesamtlösung« dar. Diese weit gefasste Kompromissformel, auf die sich 1928 bis 1930 Reichsregierungen und Länder in einer gemeinsamen Länderkonferenz verständigten, enthielt einen deutlichen propreußischen und zentralisierenden Impetus.21 Zur Zeit der Präsidialkabinette schwand der bis dahin bestehende Konsens, es sei im Sinne der Stabilität des Reiches besser, sich über Fragen der ReichLänder-Struktur zu streiten. Brünings Sanierungsprogramm, das die Länder endgültig finanziell mediatisierte und Papens Preußenschlag 1932, der den Präzedenzfall für die Absetzung politisch unbotmäßiger Landesregierungen markierte, sollten den Versuch beenden, eine territoriale und institutionelle 16 Erwin Scheu: Deutschlands Wirtschaftsprovinzen und Wirtschaftsbezirke, Berlin 1928. Zu den Reichsreformplänen des Deutschen Städtetages vgl. Oskar Mulert: Reichsaufbau und Selbstverwaltung, in: Jahresversammlung des deutschen Städtetages in Breslau 1928 (Schriftenreihe des deutschen Städtetages 4), Berlin 1928. 17 Der Rhein-Mainische Städtekranz mit seiner Zentrale Frankfurt am Main im südwestdeutschen Wirtschaftsgebiet, Frankfurt a. M. 1924; Kurt Brüning: Niedersachsen im Rahmen der Neugliederung des Reiches, 2 Bde, Hannover 21929 oder Erhard Hübener : Die Neugliederung Mitteldeutschlands, in: Reich und Länder. Sonderdruck (1929). 18 Anke John: Freistaat, preußische Provinz oder Reichsland? Die Selbstbehauptung der mecklenburgischen Länder in der Weimarer Republik, in: Mecklenburgische Jahrbücher 120 (2005), S. 157 – 174. 19 Erstmals erwähnt bei Adam Stegerwald: Zusammenbruch und Wiederaufbau, Berlin 1922. 20 Bund zur Erneuerung des Reiches (wie Anm. 4). 21 Franz Albrecht Medicus: Reichsreform und Länderkonferenz. Die Beratungen der Länderkonferenz und ihrer Ausschüsse, Berlin 1930.

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Reichsreform auf dem Verhandlungsweg zu erreichen.22 Für die Zerstörung des Bundesstaates mit Hilfe der außerordentlichen Gesetzgebung des Reichspräsidenten nach Artikel 48 bürgerte sich der Begriff »kalte Unitarisierung« ein. Diese Form der »Reichsreform«politik beeinflusste bis weit nach 1933 das Verständnis von den Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtübernahme. Mehrere Monate verlief die Diskussion um eine Reichsreform noch in der Öffentlichkeit und im Reichsministerium des Innern, bis sie im Dezember 1933 angesichts unerwünschter Konflikte auf Weisung Hitlers abrupt abgebrochen wurde. Dennoch hielt sich im NS-Staat die Erwartung, dass man »in einem Zwischenstadium« lebe23 und eine »Reichsreform im weitesten Sinne des Wortes« noch bevorstehe.24

Das Reich als »Notbau« – Metaphern im Reformdenken Darüber, dass eine Bundesstaatsreform nur erreicht werden würde, wenn sie »auch psychologisch Allgemeingut der Bevölkerung geworden ist«,25 bestand in der Weimarer Republik lange Zeit Konsens. Grundlegend für die Bindung an den Bundesstaat war demnach nicht nur der rechts- und ideenhistorische Rahmen, sondern auch das mediale Problem seiner Legitimation. Beiträge der regionalen, deutschen und internationalen Presse und Publizistik in der Reichsreformde22 Zuletzt mit neuen Einsichten über die Positionen der preußischen Regierung Braun Heiko Holste: Reichsreform und »Preußenschlag«. Ministerialbeamter im Dienst der Republik, in: Claus D. Krohn/Corinna R. Unger (Hg.): Arnold Brecht, 1884 – 1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York (Transatlantische Studien 27) Stuttgart 2006, S. 72 – 82. 23 Reinhold Bezler : Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, Heidelberg 1934, S. 15. 24 Helmut Nicolai: Der Neuaufbau des Reiches nach dem Reichsreformgesetz vom 30. Januar 1934 (Das Recht der nationalen Revolution 9), Berlin 1934, S. 31. Die NS-Forschung hat die lange Zeit dominierende zentralstaatliche Perspektive inzwischen durch den Blick auf die Umsetzung der NS-Herrschaft vor Ort, die Tätigkeit der regionalen Machtzentren und lokalen Behörden relativiert. Neben der »Zerschlagung jedes echten Föderalismus« und dem durch die Erfordernisse der Kriegswirtschaft vorangetriebenen Prozess weiterer Zentralisierung ist für den NS-Staat das Nebeneinander von Zentralismus und Partikularherrschaft charakteristisch gewesen. In der Gesamttendenz entwickelte diese »Polykratie« eine integrierende und zentripetale Kraft mit erheblichen Steuerungs-, Mobilisierungs- und Koordinationswirkungen. Den Beginn einer veränderten Sichtweise markierte Peter Hüttenberger : Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969; des Weiteren Dieter Rebentisch: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939 – 1945, Stuttgart 1989; Hachtmann, Rüdiger/Süss, Winfried (Hg.): Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 22), Göttingen 2006. 25 Der Weg zum Einheitsstaat, in: Sächsisches Volksblatt, 21. Okt. 1919: Hauptstaatsarchiv Dresden 10701/19.

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batte wurden dementsprechend von den Ministerialbürokratien gesammelt und stellen heute geschlossene Aktenbestände in den Archiven dar.26 Den Quellen lassen sich entsprechende Metaphern, Topoi und Analogien entnehmen, mit deren Hilfe Positionen für oder gegen den Bundesstaat kommuniziert wurden. Sie nahmen Bezug auf historische Erfahrungen, die Naturlehre und Naturwissenschaft, aber auch auf die industriell-technischen Phänomene dieser Zeit.27 Bilder vom Grundstein und vom Reichsbau, die in die Darstellung eines Hauses übersetzt wurden, waren beliebte Motive, bundes- bzw. einheitsstaatliche Ideen zu präsentieren. Je nach politischem Standpunkt konnten dabei eher traditionale oder konstruktive Elemente zitiert werden, um zu veranschaulichen, wie das nationale Gehäuse bzw. gesellschaftliche Gebäude konkret aussehen sollte. Diejenigen, die sich für eine Reichsreform einsetzten, waren sich weitgehend darüber einig, dass die Weimarer Verfassung »das Reichsgebäude als einen Notbau« errichtet hatte. Ihr einflussreicher Kommentator Gerhard Anschütz sprach unter dem Eindruck der Nachkriegsmisere 1923 von »stehengebliebenen Resten und Ruinen des Alten« neben denen »in wachsender Fülle neue Bildungen« stehen, die »zum Teil unvollendete Rohbauten, selbst wieder Ruinen gleichen«.28 Das Gleichnis eines »Gebäudes auf Abbruch«29 war dabei ein beliebtes Motiv, um den Veränderungsdruck für eine Reichsreform zu erhöhen. In diesem Sinne wurden die föderalistischen Elemente der Verfassung von 1919 als »eine prunkende Aussenfassade«30 bezeichnet, hinter der eine zentralstaatliche Entwicklung des Reiches längst in Gang gekommen sei. Den Gegnern der traditionalen Länderstruktur ging es darum, alle Hindernisse, »die den Vormarsch zu einem neuen, den Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volkes besser entsprechenden Reichsbau aufhalten oder wenigstens vorübergehend zum Stillstand bringen können« zu beseitigen.31 In Abgrenzung zu traditionalen Vorstellungen wurde das Reich als ein architektonisches Gebilde veranschaulicht, das ein bewusst errichtetes und 26 Ein eindrückliches Beispiel für diese Sammlungstätigkeit bietet die Tätigkeit der Pressestelle des Hamburger Senats, vgl. den entsprechenden Aktenbestand im Staatsarchiv der Hansestadt Hamburg 135 – 1, I – IV. 27 Eine umfassende Sammlung von Sprachbildern und Gleichnissen im historisch-politischen Denken wurde zuletzt vorgelegt von Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978. 28 Gerhard Anschütz: Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung. Rede gehalten bei der Jahresfeier der Universität Heidelberg am 22. Nov. 1922, Tübingen 1923, S. 1. 29 Dieses Bild bezog unter anderen der USPD-Abgeordnete Ledebour in der Sitzung des Reichstagsausschusses für auswärtige Angelegenheiten am 21. Okt. 1920 auf Preußen, wie ein Bericht des Gesandten Nebelthau an die Bremer Senatskommission für Reichs- und Auswärtige Angelegenheiten vom 21. Okt. 1920 wiedergibt: Staatsarchiv Bremen 4.49– 411/83. 30 Fritz Rickhey : Die hannoversch-niedersächsische Freistaatsbewegung (Die niederdeutsche Frage VIII), Dissertation Münster 1926, S. 128. 31 Von Zittau bis Eisenach, in: Dresdner Nachrichten, 21. Okt. 1928.

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daher gestaltbares Werk sei. Neugliederungspläne wurden dadurch legitimiert, dass sie der Staatsstruktur neue Stabilität verleihen sollten. Propagiert wurde die Vorstellung, ein geeintes und selbstständiges Südwestdeutschland zu »einer festen scharfen Ecke« des Reiches auszubauen.32 Auch Mitteldeutschlandpläne nahmen Bezug auf eine ins Bild gesetzte Statik des deutschen Reichsbaus. Diese sollte durch einen »territorialen Balken Sachsen-Thüringen«33 abgesichert werden. Disparate Ideen der Staatsgestaltung wurden allegorisch in »Baupläne« übersetzt. Den zentralisierten Einheitsstaat karikierten Befürworter des Bundesstaates abwertend als eine »geschlossene Wohnkaserne mit Zentralküche«. Der föderativ aufgebaute Bundesstaat wurde demgegenüber als ein »System der genossenschaftlichen Siedlung mit Eigenheimen« präsentiert. Auf Reformpläne eines dezentralisierten Einheitsstaates, in dem die Länder in den Rang selbständiger Verwaltungsprovinzen absinken sollten, wurde das Bild vom »normierten Zinshaus« mit »getrennten Haushaltungen, aber allzudichtem Zusammenwohnen« übertragen, welche »das Bewusstsein der Selbstbestimmung« nicht zulassen würden.34 Metaphern vom Reichsgebäude in einem traditional-föderalistischen Kontext wurden jedoch eher mit dem Gedanken geschichtlicher Entwicklung und organischen Wachstums verknüpft als mit rein rationalen Konstrukten. Der preußische Reformer Freiherr Karl vom und zum Stein, der anlässlich seines 100. Todestages 1932 als Vorkämpfer des deutschen Einheitsstaates vereinnahmt wurde, war aus bayerischer Sicht eher ein »Reichsbaumeister von unten nach oben, statt ein Konstrukteur von oben nach unten«.35 Besonders anschaulich wurde im selben Jahr die sächsische Kehrtwende gegen eine Reichsreform angekündigt. Mit dem Appell, einen »Bauriß unseres alten Vaterhauses Deutschland zu zeichnen« und »einen Blick auf seine Baugeschichte zu werfen«, wurde die Rückbesinnung auf die historischen Gegebenheiten deutscher Bundesstaatlichkeit angemahnt: »Wir wünschen uns aber auch gar nicht statt des alten Hauses einen Eisenbetonbau in neuer Sachlichkeit, weil wir das alte Haus in seiner gotischen Mannigfaltigkeit lieben als den Ausdruck unseres Deutschen Wesens.«

Auch hier wurde die Stabilität des Reiches als statisches Gesetz imaginiert. Neben seinen »wesentlichen Fundamente(n), Pfeiler(n) und Bogen« galt es im 32 Süddeutscher Demokratentag und Volksfreund Karlsruhe, 15. Nov. 1920. 33 Thüringens Anschlußfrage, in: Chemnitzer Zeitung, 21. Okt. 1929. 34 Zur Reform der Reichsverfassung, o. D. 1932: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 321. 35 Bemerkung zur Prägung von Silbermünzen als Erinnerungsmünzen an Stein, München 7. Juli 1931: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 280.

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Sinne geringfügiger Anpassungen »den Rissen und Schäden« nachzuspüren, die »am alten Bau aufgetreten sind«.36 Bismarcks Diktum, die Kleinstaaten seien »Mörtel zwischen den Quadern« der größeren Bundesstaaten wurde in der Fiktion einer föderalistischen Mission der norddeutschen Staatenwelt aufgegriffen. Mit ihr verbunden war die Warnung vor einer Reichsreformpolitik zu Lasten der kleinen und mittleren Länder : »Ohne diesen Mörtel werden die Steine des deutschen Staatsbaues nur mehr lose aufeinandersitzen und das deutsche Haus wird in Gefahr sein, im Sturm der kommenden Zeit zusammenzustürzen.«37 Ein Memorandum der sozialdemokratischen Dessauer Regierung stützte sich bereits 1919 darauf, dass die Beseitigung der kleinen Länder »in jedem Falle einen durch nichts zu verklebenden Riß in dem Neubau der deutschen Republik hinterlassen« würde.38 Der Haustopos begründete in verschiedenen Zusammenhängen die Eigenständigkeit der Länder als ein unveräußerliches Hausgut an Rechten gegenüber dem Reich. Das Recht im eigenen Hause wurde zitiert, um die Gefährdung der Ländersouveränität durch die Reichsgewalt vor Augen zu führen. Reichsexekutionen, die auf der Grundlage der Präsidialgewalt des Reichspräsidenten gegen einzelne Länder angeordnet wurden, stellten eine erhebliche Einbruchstelle für den Bundesstaat dar. Bürgerlichen Politikern, die in Sachsen 1923 die Hilfe des Reiches gegen die linksdemokratische Regierung Zeigner angerufen hatten, wurde vorgehalten, den Sturz des Dresdner Kabinetts mit dem »Preis des Rechtes im eignen Haus« zu teuer bezahlt zu haben. Föderalisten sahen in der Zurücksetzung des legitimen Anspruchs der Länder auf eine eigenständige Politik den »eigentlichen Sinn der Vorgänge von 1923«, die mit dem Einmarsch der Reichswehr und der verfassungswidrigen Absetzung der sächsischen Regierung durch das Reich geendet hatten: »Es war eine Missregierung, aber der Weg zum Besseren war zu teuer erkauft mit diesem Schlag gegen die Selbständigkeit der Länder.«39 Anknüpfend an die Vorstellung von einem Hausgut an Rechten, das die Länder besaßen, verlieh auch die badische Regierung 1932 ihrem Protest gegen die Reichsexekution in Preußen, welche den entscheidenden Präzedenzfall für die Absetzung einer Länderregierung schuf, eine kämpferische Note. In dem Bewusstsein, dass den anderen Ländern ein schwerer Existenzkampf gegen die zentralistischen Bestrebungen der Reichsregierung Papen bevorstehen würde, erklärte sie: »So leicht, wie sich die preußischen Junker dieses Spiel mit Süd36 Bericht über eine Rede des neuen Chefs der Dresdner Staatskanzlei Schettler vor sächsischen Finanzbeamten, 24. Mai 1932: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA1943/103 321. 37 Richard Korherr : Die Reichsreform des Erneuerungsbundes, Regensburg 1932, S. 12. 38 Norddeutschland als Einheitsstaat, Sonderabdruck aus Nr. 99 der Jenaischen Zeitung, 29. April 1919. 39 Otto Kunze: Sachsen und Thüringen, in: Vom Dritten Reich, 20. Sept. 1928.

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deutschland vorstellen, wird es nun doch nicht gehen«, man wolle zeigen, »dass vorläufig noch Süddeutschland keine ostelbische Klitsche ist.«40 Argumentationen für die Weimarer Länder stützten sich zudem auf den Einheitstopos in der bildlichen Übersetzung einer gemeinschaftlichen Heimstätte der Nation. Gerade in Krisenzeiten mit einer als offen geltenden Zukunft wollten sich Länderregierungen die Tradition des Bundesstaates und des eigenen Landes »nicht über den Haufen« rennen lassen und betonten, man habe andere Sorgen als die Einteilung des Reiches nach neuen Gesichtspunkten zu erwägen: »Wenn das Wohnhaus brennt, dann streitet man sich nicht über die Einteilung der Zimmer.«41 1931 warnte die Dresdner Regierung vor der ungewissen Zukunft in einem deutschen Einheitsstaat, da nicht garantiert sei, dass die Nation über einen Neubau »nicht obdachlos« werden würde.42

Der organische Bundesstaat In der Auseinandersetzung um die richtige Gestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung spielte seit dem 18. Jahrhundert des Weiteren der Organismusbegriff und mit ihm verknüpft das Attribut organisch eine zentrale Rolle. In seinem Kontext wurde neben der Lösung der Frage politischer Partizipation die Bildung und innere Gliederung des Nationalstaates bedeutsam. Der Organismusgedanke diente hier einer betonten Abgrenzung von Bestrebungen, regionale und lokale Gewalten im Zuge einer staatlichen Zentralisation einzuebnen. Er gab damit einen Legitimationsbegriff für die Erhaltung oder Neubildung solcher Zwischenglieder der Nation ab. In diesem Sinne wurde der organisch-systematische Staat seit dem frühen 19. Jahrhundert als ein Gebilde vorgestellt, das garantieren sollte, dass die Nation »[…] sich zwar in Stände teilt, aber nicht in Kasten zerfällt, wo alle Stämme und Stände ein lebendiges Ganzes, ein organisch zusammengehöriges System von Verhältnissen bilden […] und ihre Einheit nicht erst in einer äußerlich aufgestellten obersten Gewalt finden«.43

Weiter entwickelt wurde diese aufsteigende Ordnungsidee auf der Grundlage korporativer Zwischenglieder von der katholischen Sozialtheorie und der genossenschaftlichen Staatstheorie Otto Gierkes und ihm nachfolgend von Hugo 40 Drohendes Klassenwahlrecht, in: Volksfreund, Karlsruhe, 1. Nov. 1932. 41 Straubinger Tageblatt, 3./4. Okt. 1931: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/ 103 319. 42 Bericht über eine Rede des neuen Chefs der Dresdner Staatskanzlei Schettler vor sächsischen Finanzbeamten, 24. Mai 1932: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 321. 43 Heinrich Leo: Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates, Halle 1833, S. 44, 59.

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Preuß. In diesem Sinne entsprachen Organismusvorstellungen einer durchaus evolutionären, auf mittlere Lösungen ausgerichteten Grundtendenz der verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland. Im Unterschied zu revolutionären Ordnungsideen spielte der Organismusbezug aber auf dem Boden einer durch die französische Revolution erreichten Gestaltbarkeit der politischstaatlichen Ordnung und er war zugleich unbestimmt genug, um für vielfache politischen Besetzungen offen zu sein.44 In der Weimarer Reichsreformdebatte diente die Idee des Organischen als Antithese einer mechanistischen Gesellschaft, wenn man den Zustand des neu zu schaffenden Staates prägnant beschreiben wollte. Ungeachtet seiner verschiedenen Ausdeutungen und Bedeutungsvarianten knüpfte der Organismustopos an die Vorstellung von der Wechselbeziehung zwischen den Teilen und dem Ganzen an, wie sie bereits Kant prägnant formuliert hatte.45 Ein Staatswesen ist daher in dem Maße ein organisches, je vollständiger das Ganze nicht nur auf seine Glieder einwirkt, sondern auch von diesen lebendige Rückwirkungen erhält. Entscheidend ist hier eine Wechselbeziehung und immanent sich entwickelnde Ordnungsstruktur zwischen dem Ganzen und seinen Gliedern. Diese Wechselbeziehungen politischer Herrschaft wurden metaphorisch bereits vor 1806 durch das Bild des Reiches als Körper erfasst. Die Vorstellungen von Haupt und Gliedern waren geeignet, seine politische Wirklichkeit und komplexe Verfassung zur Anschauung zu bringen. In der Auseinandersetzung um die Positionen von Kaiser und Reichsständen konnte er beiden Seiten als Argumentationsgerüst dienen und umgekehrt auch den zusammengesetzten Charakter des Alten Reiches mit erfassen. Diese Bildstrategie verband sich mit Verfahren der Repräsentation des Staates, wie sie das 19. Jahrhundert hervorgebracht hatte. Als Gegen- wie Komplementärfigur des symbolischen Körpers des Herrschers war mit wachsender wirtschaftlicher und kultureller Hegemonie des Bürgertums der symbolische Einheitskörper des Volkes und der Nation in Form von Nationalallegorien populär geworden. Kleinstaaten wie Lippe knüpften an die Auffassung vom Monarchen als Landesvater bzw. Landesmutter und der Untertanen als großer Familie an. Das durch die Dynastie populär gewordene »liebliche Bild einer freundlich geleiteten, glücklich zu übersehenden Familie« stellte die Kleinstaaten als Refugien dar, die 44 Ernst Wolfgang Böckenförde: Organ, in: Otto Brunner/Eckart Conze/Reinhard Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 21997, Bd. 4, S. 519 – 622, bes. ab S. 552. 45 Kants Organismusvorstellung übte eine vielfach belebte Anziehungskraft aus und setzte Maßstäbe. Organisch war eine Verfassung demnach dann, wenn der Staat durch sie »so konstruiert ist, dass jedes seiner Glieder, sich gegenseitig Mittel und Zweck, immerfort zur Erhaltung des Ganzen mitwirken muß« und »hinwiederum durch das ganze seiner Stelle und Funktion nach bestimmt und erhalten wird.« Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2001, S. 37. Siehe auch Wolf D. Gruner : Immanuel Kant – Friedrich Gentz – Karl Christian Friedrich Krause und die Deutschland- und Europavorstellungen ihrer Zeit, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 66 (2006), S. 145 – 167.

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noch einen Schutz boten gegen »die kalte Mechanisierung und Organisierung, bei der jeder nur eine Nummer und eine Funktion hat«.46 Figurative Volks- und Nationsbilder führten nicht allein den Einheitsgedanken fort, sondern wurden auch als Träger der deutschen Vielheit vorgestellt. Als Sinnbild eines besseren Zusammenlebens entwarf Reichskanzler Wilhelm Marx das Bild einer harmonischen Reichsfamilie aus Reich und Ländern, die auf der »Grundlage vollster gegenseitiger Loyalität« handeln sollten.47 Das Idealbild eines von gesundem, zukunftsträchtigem Leben durchpulsten Volkskörpers wurde unter anderem in der Wahrnehmung der thüringischen Landesgründung nach 1920 aufgegriffen. Als Mikrokosmos deutschen Wesens wurden der Zusammenschluss bzw. die Mediatisierung der thüringischen Kleinstaaten bereits im 19. Jahrhundert als ein Probestück im politischen Streit um die Einheit des Reiches gesehen. Das unter kleinstaatlichen Verhältnissen herangewachsene Thüringen galt in diesem Konflikt jedoch nicht nur im pejorativen Sinne als partikularistisch. Im Sinne von Einheit wurde es auch nach 1919 als »Land der Mitte, der Vermittlung und des Ausgleichs«48, als das »grüne Herz Deutschlands« oder als »Herzstück« der Nation vorgestellt.49 Jedoch ließ sich die Vorstellung vom Volkskörper des Reiches und seinen Gliedern als lebenswichtigen Organen auch gegen den jungen Freistaat und die aus dem sozialistischen und linksbürgerlichen Milieu stammenden Protagonisten der Landesgründung Thüringens wenden. Das »herrliche, schöne Land im Herzen Deutschlands« war in den Augen seiner Kritiker »zu einer Eiterbeule geworden […], die aufgestochen werden muss« und es war ein Land, welches »den Todeskeim in sich trägt«.50 Nach der Landesgründung galt vor allem den bürgerlichen Parteien und der Rechten das kleinthüringische, linksdemokratisch regierte Land nur als eine Art Provisorium. Für sie war es ein politisch und finanziell unmögliches Staatsgebilde, wie es in dem Gedicht »Das schöne Kind Thüringia« 1923 karikiert wurde. In einem Zwiegespräch der beiden Nationalfiguren Germania und Vetter Michel wurde gleichnishaft zu Geburt und Taufe die Thüringer Landesgründung als territoriale und politische Missgeburt beschrieben und auf diese Weise eine zweifelhafte politische Leistungs- und Lebensfähigkeit des Landes veranschaulicht. 46 Wilhelm Bröker : Lippe als selbständiger Staat oder Anschluß an Preußen? Ein Beitrag zu kleinstaatlicher Staats- und Wirtschaftspolitik, Detmold 1926, S. 170. 47 Reichskanzler Marx am 18. Nov. 1927, Festabend des Vereins der Berliner Presse: Hauptstaatsarchiv Dresden 10719/40018. 48 So Edwin Redslob in seinem Vortrag über die kulturelle Einheit Thüringens am 5. Jan. 1919: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatsministerium Nr. 1, Bl. 29 Rs. 49 Das Problem Groß-Sachsen, Zeitungsausschnitt 27. Juni 1928: Hauptstaatsarchiv Stuttgart 10701/14. 50 Oscar Arnold an den bayerischen Ministerpräsidenten, Neustadt/Coburg 26. Juni 1924: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/102 025.

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»›Ei guten Tag Germania! / Ist das dein Töchterlein?‹ / ›Ja, lieber Vetter Michel, ja.‹ / ›Ich find es etwas klein!?‹ / ›Wie!? Klein!? – Da schlage einer Rad! Groß ist’s! – Was Du nur hast! – / Klein scheint’s, weil’s vorn ’nen Buckel hat / Und hinten einen Ast!‹ / ›Woher hast Du das Kindlein, sag? / Bist Du denn jetzt vermählt?‹ / ›Ach, lieber Vetter Michel, frag’ / Mich nicht, weil mich das quält. / Herr Umsturz war für mich erglüht; ich selbst blieb auch nicht kalt. / Er hat den Priester nicht bemüht / Und nahm mich mit Gewalt.‹ / ›Daß einfach Ihr zusammenlauft / Ist arg muß ich gestehn. / Ist wenigstens das Kind getauft?‹ / ›Nein das ist nicht geschehn! / Doch ist sein Name wohlbekannt, / Damit Du es nur weißt, / Weil man’s im ganzen Deutschen Land, / Nur Schön-Thuringia heißt!‹«51

Problematisch an dem politischen Aussagewert derartiger Bilder war, dass in den Beziehungen zwischen dem Ganzen zu seinen Gliedern, ganz auf der Linie der bestehenden staatsrechtlichen Fiktion, die Pflicht der Länder und ihre Unterordnung gegenüber dem Reich stark betont wurden. Demnach wurde es als ein wichtiges Moment angesehen, wie gut oder wie schlecht die Länder ihre Funktionen als Glieder des Reiches erfüllten. In der Grundtendenz jedoch setzte der Organismustopos eine in sich gegliederte Einheit voraus. Das Grundprinzip dieser Vorstellungen vertrug sich daher wenig mit zentralistischen Ambitionen. Insbesondere Autoren, die sich eindringlich über den Gedanken des Wachstums und der organischen Reife äußerten und Rücksicht vor dem Geheimnis der Leibwerdung der Nation verlangten, versicherten damit, dass organische Gebilde nicht einfach konstruiert werden können. Aus der Verwendung dieser Metaphern ergaben sich bestimmte politische Folgerungen und Konsequenzen: Die analogiehafte Beschreibung des Reiches als gedachter lebendiger Volkskörper zog für die verfassungspolitische Gestaltung einen staatstheoretischen Rahmen, jenseits dessen Reformen in das Gegenteil – ein morbides Reichsgebilde – umschlagen konnten. Pläne der Reichsregierung, eine Verwaltungsvereinfachung einseitig zu Lasten der Länder umzusetzen, wurden mit der Begründung abgelehnt, dass diese Gefahr liefen, den Ländern »den Lebensfaden zu verkürzen oder abzuschneiden«.52 Ausgehend von dem Grundverständnis über die Bewahrung einer in sich gegliederten Einheit öffnete sich jedoch ein weiter Interpretationsspielraum für eine Strukturierung des Reiches. Der Dualismus zwischen dem Reich und Preußen wurde einerseits als Mangel »einer richtigen Statik in der Reichsspitze« und als ursächlich für die »Krebsschäden des öffentlichen Lebens« bezeichnet. Andererseits wurde dieses Argument für eine Reichsreform entkräftet, indem es als Fehldiagnose des »kranken Volkskörpers« charakterisiert wurde. So trat die bayerische Regierung mit der nachdrücklichen Forderung an die Seite Preußens, »dringend dem an ganz anderer Stelle sitzenden Krankheitsherd das Augenmerk 51 Altenburger Landeszeitung, 11. April 1923. 52 Sitzung des Ministerrates, 20. Jan. 1926, Abschrift: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 279.

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zu schenken. Sonst könne der Fall damit enden, dass erklärt werden müsste: ›Dualismus beseitigt, Patient tot‹.«53 Die Neugliederung des Reiches war im Unterschied zur Frage der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern der öffentlichkeitswirksamere Aspekt einer Reichsreform. Denkbar war eine Zukunft der historischen Länder, aber auch anderer regionaler Einheiten. Die Präambel der Weimarer Reichsverfassung sprach lediglich von einem deutschen Volk »einig in seinen Stämmen«. Die Stämme erschienen gegenüber den Ländern als eine natürliche, sozialer und zeitlicher Veränderung nicht ausgesetzte Größe. Sie wurden als eine Gemeinschaft gedacht, die dank ihrer Besonderheiten die Monarchien überdauert hatten, zumal Unterschiede in Dialektik, Mentalität und Volksbräuchen unmittelbare und gepflegte Erfahrungsbestände darstellten.54 So galten nach dem Ende der Dynastien vor allem die Gebilde als historisch legitimiert und als politisch lebensfähig, die eine kulturell-sprachliche und ethnische Homogenität aufweisen konnten. Wissenschaftlich war das Stammeskonzept, wie es zum Beispiel der Heidelberger Geograph Walther Tuckermann oder die Autoren der Zeitschrift Geopolitik vertraten, schon damals wenig überzeugend. Auch wenn die biologisch begründete Stammeshypothese allenthalben propagiert wurde, hat die Diskussion doch zu ihrer Dekonstruktion beigetragen. Dabei taten sich auch Föderalisten gegenüber einer romantischen Stammeslyrik schwer.55 Aus dem mehr als fragwürdigen Stammeskonzept ließen sich vorerst jedoch unterschiedliche Argumentationsmuster gewinnen: Zum einen diente es der Legitimation der Weimarer Länder. Im Sinne historischer Kontinuität wurde ihre Existenz auf tiefere Ursachen als auf den dynastischen Selbsterhaltungswillen zurückgeführt. Stamm wurde hier in erster Linie als ein Ausdruck von moderner Staatsintegration und Staatsidentität in den Jahrzehnten des Deutschen Bundes und des Deutschen Kaiserreiches verwendet. Andererseits stützte der Stammes-Topos Neugliederungskonzepte des Reiches. Die Länder konnten für diesen Fall als aus dynastischem Egoismus geschöpfte Kunstgebilde der Rheinbund- oder Reichsgründungszeit gering geschätzt werden:

53 Briefwechsel Walter Jahn mit dem bayerischen Ministerialrat Sommer, September 1930: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 445. 54 Exemplarisch dafür stehen die emotionalen Reaktionen auf den Reichspostkalender 1929, der nur die Tagesbezeichnung Sonnabend statt des in Süd- und Westdeutschland gebräuchlichen Samstag aufführte, vgl. einen Rundbrief des Bayernbundes an Reichs- und Länderregierungen, München 25. Nov. 1929: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 286. 55 Zeitschrift Geopolitik. Monatshefte für deutsches Auslandswissen, hg. vom Institut für Geosoziologie, Heidelberg 1924 und folgende, vgl. auch Rainer Sprengel: Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914 – 1944, Berlin 1996, S. 16 – 23.

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»Die berühmte Eigenart der Stämme ist ja keine Chimäre. Verlogen ist nur ihre Gleichsetzung mit den dynastischen Kunstgebilden der heutigen Länder. Aber auch diese Kunstgebilde sind nun schon historische Erscheinungen geworden und haben Tradition angesetzt. Vergessen ist, dass sie zum guten Teil ausdrücklich als Werkzeuge antideutscher Politik von einem Franzosenkaiser geschaffen wurden, der unser Land damit dauernd unter seiner Oberherrschaft halten wollte. Vergessen ist vielfach, wie wenig die wirkliche Eigenart deutscher Stämme und Landschaften von den Dynastien geachtet und gepflegt worden ist.«56

Autoren, die für ein neues Land Niedersachsen plädierten, beriefen sich historisch darauf, »dass die Pflege der Stammesart und des Heimatgedankens in Deutschland im Grunde gar nicht an Eigenstaatlichkeit gebunden ist«.57 Da man jedoch zögerte, historisch-rechtliche Gliederungen eindeutig zu verurteilen, wurden Neuordnungspläne an eine vermeintlich Jahrhunderte bestehende einheitliche Stammestradition gebunden: »[…] und noch heute ist der niedersächsische Stammesgedanke nach 750 Jahren der Zersplitterung und Zersetzung eine Macht, die über die Grenzen der beteiligten Länder hinwegwirkt.«58 Die Stammes- und Volkstumsrhetorik vermittelte Kontinuität und eine naturhaftorganisch anmutende Einbindung des Einzelnen in einen sozialen Verband, was vor allem in den Krisenjahren der Republik dem Bedürfnis nach Wertorientierung und Traditionsverbundenheit entgegenkam. So wurde der Stammesgedanke zu einem wichtigen Leitmotiv und Identifikationsmerkmal der Neugliederungsbewegungen. Er verdrängte den Monarchie- und Rechtsgedanken, was sich beispielsweise in der Zuwendung der Welfenbewegung zu Niedersachsenplänen als dem politischen Ziel der Selbständigkeitsbestrebungen nach 1918 niederschlug. Ein selbstständiges Hannover als erste Durchgangsstufe sollte unter freiwilligem Anschluss der stammesverwandten Nachbargebiete zu einem größeren Niedersachsen führen.59 In der Grundtendenz konfrontierten Argumentationsmuster, die auf den Stammesgedanken und Bilder eines lebendigen Volkskörpers rekurrierten – trotz aller romantischen Verklärung und heterogener Interessen –, Anhänger einer starken Zentralmacht mit den Tatsachen lokaler, regionaler und territorialer Eigenständigkeit.

56 Frankfurter Zeitung, 2. Nov. 1928: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 366. 57 Georg Schnath: Die Gebietsentwicklung Niedersachsen. Mit acht Kartenbeilagen (Wirtschaftswissenschaftliche Gesellschaft zum Studium Niedersachsens e. V. 8) Hannover 1929, S. 48. 58 Ebd. 59 Klaus Neumann: Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland, Münster 21990, S. 319 – 321.

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Der rationalisierte Einheitsstaat Gegenteilig zum Organismustopos waren es vor allem Metaphern der Technizifierung, Modernisierung und Industrialisierung, die zu Leitwörtern und Bildern einer bewussten und grundlegenden Veränderung der bestehenden bundesstaatlichen Ordnung herangezogen wurden. Adolf Hitler hatte 1923 in seinem Buch »Mein Kampf« das Ende des Bundesstaates und seiner Länder folgendermaßen angekündigt: »Der moderne Verkehr, die moderne Technik lässt Entfernung und Raum immer mehr zusammenschrumpfen. Ein Staat von einst stellt heute nur mehr eine Provinz dar, und Staaten der Gegenwart galten früher Kontinenten gleich.«60

In dieser Verdichtung des Raumes sah Hitler eine optimale Voraussetzung für einen zentralistischen Staatsumbau: »Die Schwierigkeit, rein technisch gemessen, einen Staat wie Deutschland zu verwalten, ist nicht größer als die Schwierigkeit der Leitung einer Provinz wie Brandenburg vor hundertzwanzig Jahren. Die Überwindung der Entfernung von München nach Berlin ist heute leichter als die von München nach Starnberg vor hundert Jahren.«61

Aufgrund der modernen Verkehrstechnik sei das gesamte Reichsgebiet demnach faktisch »kleiner als irgendein mittlerer deutscher Bundesstaat zur Zeit der Napoleonischen Kriege«.62 Die weitere Entwicklung sollte in Hitlers Augen nivellierend verlaufen: »Die Leichtigkeit des modernen Verkehrs schüttelt die Menschen derart durcheinander, dass langsam und stetig die Stammesgrenzen verwischt werden und so selbst das kulturelle Bild sich auszugleichen beginnt.«63

Angesichts zunehmender sozioökonomischer Entgrenzungen und flexibler Lebenswelten erschien die bundesstaatliche Struktur mit ihren regionalen und lokalen Bezügen und Sonderheiten in diesen Kontexten als ein Anachronismus. Deutschland – das Reich, die Länder, Provinzen und Gemeinden – so lautete der Grundtenor einer Serie des südwestdeutschen Rundfunks, die 1931 das Thema der Reichsreform aufgriff, »befände sich im Gegensatz zur privaten Wirtschaft noch durchaus im Stadium vor der Rationalisierung«. Sein Aufbau entspräche nicht »den Erfahrungen der jüngsten Zeit, der Technik und dem natürlichen Empfinden seiner Bewohner, nicht den Bedürfnissen, wie sie Verkehr und Wirtschaft gezeitigt haben.« Die traditionalen Länder wie sie Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhundert geschaffen, der Wiener Kongress, der Deutsche Bund 60 61 62 63

Adolf Hitler : Mein Kampf, Bd. 2, München 1938, S. 641. Ebd., S. 641 f. Ebd., S. 642. Ebd., S. 647.

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und die Bismarcksche Verfassung verankert hatten, galten als dynastische Gebilde und mentaler wie finanzwirtschaftlicher Ballast der demokratischen Republik: »Wir denken, da die Revolution von 1918 nur die Staatsform nicht die Ländergrenzen sachgemäß geändert hat, heute noch in den kleinstaatlichen Begriffen des 19. Jahrhunderts, während überall sonst dem Rhythmus und der Technik des 20. Jahrhunderts entsprechende Aufgabenteilungen und Arbeitsgewohnheiten – die erhebliche geldliche Einsparungen ermöglichen – festzustellen sind.«64

Rationalisierung, Effizienz und Wirtschaftlichkeit waren Attribute, mit denen die Vision eines modernen Einheitsstaates ins Bild gesetzt wurde. Ein Karikaturist der Süddeutschen Sonntagspost zitierte beispielsweise die Schreibmaschine gegen Tintenfass und Federkiel, um vermeintliche Vorteile eines künftigen deutschen Einheitsstaates gegenüber der traditionalen Verwaltungsverflechtung von Reich und Ländern im Bundesstaat zu veranschaulichen.65 Finanzielle Vorteile in einem billigeren Einheitsstaat,66 der die »Grotesken der Vielstaaterei« überwinden sollte, erhoffte man sich von einer Umwandlung und Zusammenlegung der Länder zu größeren Verwaltungsprovinzen und der Beseitigung der Landesparlamente und anderer Länderorgane. Der führende Verwaltungsexperte Bill Drews warb 1920 für ein starkes Preußen als Nukleus eines künftigen Einheitsstaates, »damit alle deutschen Länder die gleichen Vorteile einer solchen zentralen Großbetriebsverwaltung genießen« könnten. Preußen hielt er »allein von allen deutschen Staaten, dank seiner Größe und der dadurch bedingten Leistungsfähigkeit« für in der Lage, die unterschiedlichen Lebensbedingungen nach dem Krieg im Sinne des angestrebten Wohlfahrtsprinzips auszugleichen. Es sei »genau der gleiche Vorgang wie im Privatwirtschaftsleben: der Großbetrieb ist dem Kleinbetrieb überlegen durch die größeren Mittel, mit denen er arbeitet, die ihm eine weitere Betätigung, gesteigerte Ausgleichsmöglichkeiten und die Beschaffung für den Kleinbetrieb zu kostspieliger, im einheitlich geleiteten Großbetrieb aber lohnender Spezialeinrichtungen und Maschinen ermöglichen.«67

64 Stadtrat Dr. Michel, Frankfurt a. M., Südwestdeutschland als Kultureinheit, Beitrag in der Vortragsreihe der Südwestdeutschen Rundfunk AG am 23. Sept. 1930 gehalten, abgedruckt in: Südwestdeutschland als Kultur- und Wirtschaftseinheit, sieben Rundfunkvorträge, Frankfurt a. M. 1931: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 313. 65 Süddeutsche Sonntagspost, Nr. 49, 1928, S. 3: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 330. 66 Karl Sommer : Der billigere Einheitsstaat, München 1929, setzte sich mit diesem Schlagwort der Reichsreformbewegung auseinander. 67 Deutscher Einheitsstaat und preußische Verwaltungsreform, 27. Jan. 1920: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bevollmächtigter, Nr. 47.

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Abb. 1: Ausschnitt aus einer Berliner Zeitung, die für Großpreußen agiert, in: Süddeutsche Sonntagspost 49 (1928).68

Einen tiefen Eingriff in die vorgegebene Reich-Länderstruktur implizierte – im Unterschied zum vielgliedrigen Organismustopos und seinem Wachstumsund Entwicklungsgedanken, der nur therapeutische Eingriffe zuließ – auch das sprachliche Gleichnis einer veralteten und modernisierungsbedürftigen Staatsmaschine für den Weimarer Bundesstaat. Eine Mediatisierung der Kleinstaaten bezeichnete die Schaumburg-Lippische Regierung als »Beseitigung aller der Gebilde, die noch aus der Zeit der Postkutsche stammen und die in der Zeit des Flugzeugs und des Automobils keine Stätte mehr haben«.69 Ihre Argumentation, die 1926 die Zustimmung der Wähler zu einem Anschluss des Kleinstaates an Preußen als Zwischenstufe eines künftigen Einheitsstaates erheischen sollte, orientierte sich an technokratischen und bürokratischen Mustern. Da diese jedoch kaum eine ausreichende politische Wirksamkeit entfalteten, wurde der Weimarer Verfassung, die eine Neugliederung des Reiches an demokratische Legitimationsverfahren gebunden hatte, angelastet, sie habe »soviel als möglich mit Hilfe von Bremsklötzen dafür Vorsorge getroffen, dass die Kurbelstange sich nicht über den toten Punkt hinausbewegt weder vor, aber auch nicht zurück«.70 68 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/103 330. 69 Soll Schaumburg-Lippe an Preußen angeschlossen werden? Darlegungen der SchaumburgLippischen Landesregierung, 4. Mai 1926, Anlage 3, S. 19. 70 Bröker (wie Anm. 46), S. 6.

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Ein ähnliches Bild verwendete ein Karikaturist, um die Widerstände der bayerischen und württembergischen Regierungen Held und Bazille gegen die Vereinheitlichungsbestrebungen der Länderkonferenz 1928 darzustellen. Die Bewegung des übergroßen Rades mit dem Schriftzug »Der Einheitsstaat« wird durch den fliegenden Reichsadler im Bild gegen die widerstrebenden süddeutschen Politiker verstärkt.

Abb. 2: Hans Gerner : Held und Bazille, in: Die Sonntagszeitung Stuttgart, 29. Januar 1928.71

71 Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 130b BÜ 2135.

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Den Protagonisten einer Vereinheitlichung des Reiches wiederum begegnete ein Thüringer Verleger mit dem Argument, sie würden »eine Maschine mit allen ihren Konstruktionen vor sich sehen, und für Maschinen begeistert man sich so lange nicht, bis sie wirklich erfunden sind und dann funktionieren.« Wer das Volk zu begeistern suche, müsse statt dessen »von der Wurzel ausgehen und rein die Forderungen organischen Wachstums vertreten«.72 Der Erste Weltkrieg hatte einen naiven Macht- und Fortschrittsglauben nachhaltig erschüttert. So wies der Lübecker Senat die Neugliederungsabsichten von Hugo Preuß nach der Revolution mit folgenden Argumenten zurück: »In der Tat erschöpfen sich im Staatsleben die Kraft und die Bedeutung eines Staates in der Volkszahl ebenso wenig wie etwa die Bedeutung einer Privatwirtschaft in deren ziffernmäßigem Stammvermögen. Auch in der Völkergemeinschaft dürfen kleinere Länder, wie z. B. Dänemark oder Finnland, gegenüber gewaltigen Nachbarstaaten vollberechtigten Anspruch auf ungeschmälerte Geltung erheben, genau so gut wie in der Privatwirtschaft die Aufsaugung des Kleinen – der mittleren Bahn, Reederei oder Landwirtschaft – durch den Großen haltmachen soll vor dem in sich lebensfähigen und Leben gebenden gesunden Organismus.«73

Vereinheitlichenden und zentralistischen Denkbildern einer Staatsmaschine stellte ein Karikaturist die Chimäre der »roten Einheitsmühle« entgegen. Die Länder, symbolisiert als Kartenausschnitte, sollten zunächst – Tellern und Tassen gleich – DIN-formiert und vereinheitlicht werden. Als Ergebnis dieses »technischen« Prozesses wurden ihr Verschwinden und vollständiges Aufgehen im Einheitsstaat prophezeit. Vor allem aber wirkten die in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre offenbarten Grenzen zentralistischer Regulierungsmöglichkeiten insgesamt ernüchternd. Die Lehre, die man aus dieser Krise zunächst ziehen konnte, war eine Besinnung auf »eine individualisierte, feinmaschige und dezentralisierte« Gesellschaftsordnung und keine »neue zentralistische Welle«, wie sie »vom Kampffeld einer Reichsreform« ausging.74

72 An Staatsminister Paulssen, 23. Febr. 1929: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatsministerium Nr. 42. 73 Lübeck im neuen Reich. Denkschrift der Handelskammer im Auftrag des Bremer Senats vom Februar 1919: Archiv der Hansestadt Lübeck NSA I, 2/5. 74 Bericht über die Kundgebung führender sächsischer Beamten- Kultur- und Wirtschaftsverbände am 29. April 1932 in Dresden, in der Anlage: Veröffentlichung des Verbandes Sächsischer Industrieller, Heft Nr. 66: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/ 103321.

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Abb. 3: Münchner Augsburger Abendzeitung, 4. November 1928.75

Insbesondere der Begriff Rationalisierung und damit ein wichtiges Leitbild einheitsstaatlicher Konzepte wurde desavouiert. Ökonomisch gesehen waren die seit den 1920er Jahren eingeleiteten technischen Rationalisierungsmaßnahmen zwar durchaus erfolgreich. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht jedoch wurden diese für die mit ihnen verbundenen brach liegenden Kapazitäten und damit für die krisenhaften Entwicklungen am Ende der Weimarer Republik verantwortlich gemacht. Zunehmend prägte nun der Begriff der »Fehlrationalisierung« den öffentlichen Diskurs.76 Ein wichtiges Motiv für die zunehmende Abneigung gegen den zentralistischen Einheitsstaat beruhte dabei auf dem möglichen Zusammenhang von 75 Die Karikatur ist abgedruckt bei Manfred Peter Heimers: Unitarismus und süddeutsches Selbstbewusstsein. Weimarer Koalition und SPD in Baden in der Reichsreformdiskussion 1918 – 1933 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 98), Düsseldorf 1992, S. 6. 76 Toni Pierenkemper : Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 29), München 1994, S. 43 f.

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Wirtschaftskultur und politischer Kultur. Nicht zuletzt aus den revolutionären Erfahrungen und antibolschewistischen Ängsten heraus konnte das föderative Grundmuster der Weimarer Republik nun überzeugender verteidigt werden: Durch eine übermäßige wirtschaftliche und politische Zentralisation, formulierte der sächsische Gesandte in Bayern, würden auf der einen Seite vor allem die Großbanken und die Schwerindustrie zu einer unheilvollen Machtstellung im Reiche gelangen, während auf der anderen Seite der Einfluss der radikalen Parteien noch größer werden könnte.77 Angestrebt wurde unter diesen Umständen ein Reich, dessen Stabilität durch dezentrale Strukturen besser garantiert werden konnte. Die Bestandteile seiner institutionellen Ordnung, die Republikanern und Wirtschaftsliberalen vor Augen standen, wenn sie in der Publizistik und in der historiographischen Interpretation ihre Unzufriedenheit mit dem Weimarer Bundesstaat verarbeiteten, waren dementsprechend Gemeinde, Stadt, Provinz und Region. Als Reaktion auf die Mobilität und Anonymisierung des Individuums verdichteten sich außerdem Muster kleinräumiger Identität und Beheimatung. Mehrheitlich wurde in Volksabstimmungen und Landtagsbeschlüssen der norddeutschen Mittel- und Kleinstaaten ein Anschluss an Preußen als erster Schritt zum Einheitsstaat und als »ein Hinabsinken zur willenlosen Berliner Provinz zu Nutz und Frommen einer allmächtigen Großbürokratie« abgelehnt.78 Föderalisten verglichen Preußens Mediatisierungsbestrebungen gegenüber seinen angrenzenden Klein- und Mittelstaaten mit einem »Grossbetrieb«, der »die kleineren aufsaugt, bis er selbst zur Sozialisierung reif« sei.79 Gegenüber den im 19. Jahrhundert dominierenden Meistererzählungen einer vereinheitlichenden und nivellierenden Modernisierung in Staat und Gesellschaft hatten der Erste Weltkrieg und die Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik somit das politische Bewusstsein für die Ambivalenz und die vom so genannten »Leben« gebotenen Grenzen von Technik und Fortschritt geschärft. Anfang der Dreißiger Jahre waren zentralistisch-bürokratische Reichsreformpläne deutlicher als zuvor diskreditiert, wie der bayerische Regierungsbeamte Karl Sommer seinen bundesstaatlichen Parteigängern befriedigt vor Augen führte: »Heute zeigt es sich deutlich, worin die Schäden der Gestaltung unseres Gemeinschaftslebens liegen, ganz anderswo, als etwa in einer verkehrten Organisation im

77 Sächsische Gesandtschaft, München 1. Okt. 1928, Entwurf, S. 1: Hauptstaatsarchiv Dresden 10722/370. 78 Generalanzeiger für beide Mecklenburg und Nachbargebiete, Neustrelitzer Presse, Unabhängige Tageszeitung, Nr. 303, 30. Dez. 1931: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/104 317. 79 Rickhey (wie Anm. 30), S. 135.

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Verhältnis zwischen Reich und Ländern. Im Gegenteil der Zentralismus in der Wirtschaft und in den Finanzen hat uns soweit gebracht.«80

Über alle Versuche des straffsten Zentralismus hinweg, so fuhr der spiritus rector der bayerischen Reföderalisierungsbestrebungen fort, würde sich langfristig zeigen, »dass Deutschland nur in der Form bestehen kann, die auf der Grundlage von sich frei verwaltenden Ländern von unten herauf nach oben zur Freiheit und Einheit drängt. Jede andere Klammer muss zerspringen. Der Kampf um dieses Reichsideal wird siegreich enden, auch wenn wir es nicht mehr erleben sollten«.81

Fazit In der Debatte um den Weimarer Bundesstaat verbanden sich unterschiedliche Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Reich und Ländern mit bestimmten Bildprogrammen. Diese waren für die Herstellung eines verbindlichen Wertekataloges föderativer oder einheitsstaatlicher Konzeptionen maßgebend. Die entsprechenden Topoi und Metaphern erfüllten dabei nicht nur eine Signalfunktion für die eigene Anhängerschaft. Wegen ihres Assoziationsreichtums und ihrer Interpretationsbedürftigkeit ermöglichten Vorstellungen vom Reich als Volkskörper oder Staatsmaschine auch eine dialogische Kultur und die Verständigung differierender Gruppen. Während föderative Positionen für die Vorstellung einer kooperativen Wechselbeziehung zwischen den Teilen und dem Ganzen den Organismustopos heranzogen, der nur therapeutische Eingriffe in einen lebendigen Volkskörper zuließe, wurde in einheitsstaatlichen Konzeptionen das Reich als ein rein rationales Konstrukt imaginiert. Im Vergleich mit einem technisch-abstrakten Gebilde stützten sich seine Befürworter – nicht zuletzt aus Mangel an Geschichtsbildern – stark auf die zeitgenössischen Erfahrungsbereiche einer technifizierten und rationalisierten Welt. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und vor allem der Weltwirtschaftskrise wurden diese einheitsstaatlichen Argumentationsmuster jedoch stärker in Frage gestellt. Eine damit verbundene partielle Neuorientierung im Bundesstaatsdenken Ende der 1920er Jahre wurde durch die Etablierung des nationalsozialistischen Zentralstaates 1933 80 Karl Sommer an Rudolf Henle, München 21. Dez. 1931: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MA 1943/104 317. 81 Ebd.

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überschattet, sie bot aber nachweislich zahlreiche Anknüpfungspunkte für die deutsche Verfassungsdiskussion nach 1945.82

82 Implementiert durch deutsche Experten und britische und amerikanische Deutschlandspezialisten kehrten Gedanken aus der Weimarer Reichsreformdiskussion nach 1945 wieder. Ihre Hauptakteure waren außerdem als Ministerpräsidenten in den Verwaltungen und Landesparteien am Wiederaufbau entscheidend beteiligt. Die Auseinandersetzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten in der Formierungsphase beider deutscher Staaten stellte vielfach die Wiederaufnahme alter Gegensätze dar, die mit ähnlichen Argumenten wie in der Weimarer Republik ausgetragen wurden. Prototypisch für beide Seiten sind Werner Hahn: Fiktionen und Gefahren des westdeutschen Föderalismus, in: Ders. (Hg.), Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951 und Hans Nawiasky : Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1950. Für die sowjetische Besatzungszone Otto Grotewohl: Deutsche Verfassungspläne, Berlin 1947, S. 57, und Erhard Hübener : Mitteldeutschland und Sachsen-Anhalt, hg. von Mathias Tullner/Wilfried Lübeck, Halle (Saale) 2001.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Frank Engehausen (Heidelberg): außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, südwestdeutsche Landesgeschichte. Ellinor Forster (Innsbruck): 2008 – 2013 Universitätsassistentin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck; seit 2011 Inhaberin einer Elise-Richter-Stelle (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung – FWF). Habilitationsprojekt: »Veränderung der Gesellschaft durch Regieren und Verwalten. Politische Kommunikation in den Territorien Ferdinands III. – Toskana, Salzburg, Würzburg 1790 – 1824«. Forschungsschwerpunkte: Rechts- und Geschlechtergeschichte, Politische – insbesondere symbolische – Kommunikation um 1800. Anke John (Jena): 1997 – 2001 Lektorin und Publizistin für die Ostsee-Zeitung und beim Konrad Reich Verlag, Neuer Hochschulschriftenverlag; 2001 – 2013 Wissenschaftliche Assistentin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Rostock; 2009 Habilitation; 2009 – 2011 Vertretung der Professur für Didaktik der Geschichte an der Universität DuisburgEssen; seit 2011 Vertretung der Professur für Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2013 Ruf auf die Professur für Geschichtsdidaktik. Forschungsschwerpunkte: Raumgebundenheit und Nachhaltigkeit historischer Lehr- und Lernprozesse, insbesondere lokal- und regionalgeschichtliche Zugänge, forschend-entdeckendes Lernen sowie Konzepte der Vermittlung von DDR-Geschichte, Oralität und medial-methodischer Wandel historischen Lernens, Lehr- und Lernmaterialen für den Geschichtsunterricht.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Jörg Ludolph (Kiel): Promotionsprojekt an der Universität Kiel »Die politische Sprache von Landständen und Landesherren und ihre Bedeutung für den Wandel politischer Kultur in Schleswig-Holstein im 16./17. Jahrhundert«. Forschungsschwerpunkte: Politische Sprache und Kultur im Alten Europa vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit, Landesherrschaft im Zusammenspiel von Landesherren und Landständen, Theorie und Methode der Begriffsgeschichte sowie verwandter Ansätze. Astrid von Schlachta (Regensburg): 2006 – 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck; seit 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Neuere Geschichte, Universität Regensburg. Habilitationsprojekt: »Regionale Identitäten in der Konfrontation. Ostfriesland, Tirol und Dithmarschen auf dem Weg in den Parlamentarismus«. Forschungsschwerpunkte: Täufer in der Frühen Neuzeit, Protestantismus und Konfessionalisierung, Pietismus, Hof in der Frühen Neuzeit, Landstände und regionale politische Kultur, Gendergeschichte. Daniel Schläppi (Bern): Hochschuldozent, Archivmitarbeiter und freischaffender Historiker ; Promotion im Jahr 2000. Habilitationsprojekt: »Gemeinbesitz, kollektive Ressourcen und die politische Kultur der alten Eidgenossenschaft (17. und 18. Jahrhundert)« (vom SNF finanziertes Projekt am Historischen Institut der Universität Bern). Forschungsschwerpunkte: Ständische Gesellschaft, Ungleichheit, Distinktion, Korporationen, Diplomatie und Außenpolitik der Vormoderne, Mikroökonomie und ökonomische Theorien, Raumkonzepte, Emotionen, Rituale, Erinnerungskulturen. Kordula Schnegg (Innsbruck): 2003 – 2006 und 2007 – 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik an der Universität Innsbruck; seit 2012 Assistenzprofessorin. Habilitationsprojekt: »Eunuchen, Androgyne und transgender people in der Antike«. Forschungsschwerpunkte: Griechische und römische Historiographie (speziell: Alexanderhistoriographie, Römische Annalistik, römische Historiographie des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr.), Geschlechterforschung in den Altertumswissenschaften, Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaft, Römische Republik. Volker Seresse (Kiel): Habilitation 2002 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; ebenda am Historischen Seminar seit 2007 als Lehrkraft für besondere Aufgaben und apl. Professor tätig. Forschungsschwerpunkte: politische Kultur, insbesondere politische Sprache vom 15. bis 18. Jahrhundert, Religion und Politik in der Neuzeit.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Maria Stopfner (Bozen): 2006 – 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Stabsstelle für Forschung und Entwicklung der Austria Presse Agentur/Mediawatch; bis Ende 2014 Universitätsassistentin (Postdoc) am Bereich Sprachwissenschaft des Instituts für Sprachen und Literaturen, Universität Innsbruck; seit 2015 Senior Researcher am Institut für Fachkommunikation und Mehrsprachigkeit, EURAC Bozen. Forschungsschwerpunkte: Sprache in Politik, (Neue) Medien und Migrationslinguistik. Claudia Tiersch (Berlin): 1993 – 2007 Tätigkeit am Lehrstuhl für Alte Geschichte der TU Dresden; 2007 – 2010 am Lehrstuhl für Alte Geschichte der LMU München; Habilitation 2006; seit 2010 Professorin für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Rolle der politischen Elite sowie institutionelle Wandlungsprozesse innerhalb der Athenischen Demokratie, politische Kommunikation und semantische Dynamiken in der späten Römischen Republik, religiöse, politische und gesellschaftliche Transformationsprozesse der Spätantike, v. a. in ihrer kulturellen Dimension.