Regieren in Dörfern: Ländlichkeit, Staat und Selbstverwaltung, 1850–1945 [1 ed.] 9783412528805, 9783412528782

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Regieren in Dörfern: Ländlichkeit, Staat und Selbstverwaltung, 1850–1945 [1 ed.]
 9783412528805, 9783412528782

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Anette Schlimm

REGIEREN IN DÖRFERN Ländlichkeit, Staat und Selbstverwaltung, 1850 –1945

Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Ulrike von Hirschhausen, Frank Bösch und Andreas Eckert

Anette Schlimm Regieren in Dörfern

Anette Schlimm

Regieren in Dörfern Ländlichkeit, Staat und Selbstverwaltung, 1850–1945

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Pertermann, Paul: Prödel, Kreis Leipzig, um 1920 (Luftbildfotografie, aus: Deutsche Fotothek: http://www.deutschefotothek.de/ documents/obj/33105101)

Korrektorat: Andreas Eschen, Berlin Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52880-5

Für Konrad und Antonia

Inhalt

Dank.................................................................................................... 11 1.

2.

Einleitung ...................................................................................... 1.1 Das Problem: Regieren eines Raums im Wandel .......................... 1.2 Brach liegende Felder? Der Forschungsstand zu ländlichen Gesellschaften in der Moderne .................................. 1.3 Methodik: Mikrogeschichte und Makrogeschichte in drei Dörfern .. 1.4 Vorgehen ...............................................................................

15 15

Auftakt .......................................................................................... 2.1 Drei Karten, drei Dörfer ........................................................... 2.2 Bauern und Dörfer .................................................................. 2.3 Ausgangspunkte......................................................................

43 43 55 63

24 35 41

Die Gouvernementalisierung der Gemeinden 1850–1900 Regierung durch Selbstverwaltung .................................................. 3.1 Die Problematisierung des dorfgemeindlichen Lebens: Reformen und Reformversuche................................................. 3.2 Die Vertreter der Gemeinde...................................................... 3.3 Wie, wo, wann – die Sitzungspraxis der Gemeindevertretungen .... 3.4 Dorfpolitik konkret: Wie agierten die Gemeindevertretungen? ..... 3.5 Schlussfolgerungen: Selbstverwaltung im ländlichen Raum als Regierungstechnik? ...................................................

105

4.

Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat .................................. 4.1 Zwischen Gemeinde und Staat .................................................. 4.2 Einübung in der Praxis............................................................. 4.3 Das Amt als Ehre .................................................................... 4.4 Objekte oder Subjekte der Gouvernementalisierung? ...................

109 112 124 138 144

5.

Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft .............................. 149 5.1 Der kommunale Zuchtstier....................................................... 152 5.2 Die Nutzung gemeindlicher Ressourcen und die Regulierung der dörflichen Sozialbeziehungen ............................ 157

3.

67 69 80 90 98

8

Inhalt

5.3 Aufschläge und andere Gemeindeeinnahmen ............................. 170 5.4 Gemeindliche Ausgaben analysieren .......................................... 181 5.5 Wirtschaftliche Strategien und die Regierung des Dorfes .............. 188

Rural modern 1875–1925 6.

Die Bewohner des Dorfes oder: Local Citizenships ........................... 6.1 Heimat................................................................................... 6.2 Die politische Ordnung dörflicher Ungleichheit .......................... 6.3 Bürger und Staat – Wahlen als Beziehungsmomente .................... 6.4 Nationale Zugehörigkeiten und das Dorf .................................... 6.5 Zugehörigkeiten in der Hochmoderne .......................................

193 195 203 215 225 233

7.

Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden ............................. 7.1 Die Armen im Dorf ................................................................. 7.2 Die Schule und die Gemeinde ................................................... 7.3 Infrastrukturen. Die Vernetzung des Dorfes? .............................. 7.4 Veränderte Maßstäbe ...............................................................

235 237 249 263 272

8.

Ländlichkeit in the making ............................................................. 8.1 Ländlichkeit, statistisch betrachtet ............................................. 8.2 Heimatschutz als Ländlichkeitsproduktion ................................. 8.3 Ländlichkeit als pull factor ........................................................ 8.4 Organisierte Ländlichkeit ......................................................... 8.5 Ästhetisierung und Politisierung von Ländlichkeit.......................

277 279 285 292 303 314

Krisen und Konflikte 1900–1945 9.

Den Krieg, den Frieden regieren ..................................................... 9.1 Mobilisierung ......................................................................... 9.2 Spannungen und Konflikte ....................................................... 9.3 Kriegsende, Revolution und Nachkriegszeit ................................ 9.4 Vom „Reichsland“ zur République française ................................ 9.5 Der Erste Weltkrieg als Zäsur? ..................................................

319 320 331 338 345 355

10. Die Verteidigung der Ländlichkeit.................................................... 359 10.1 Die Kirche im elsässischen Dorf: L’Introduction de la loi laïque ...... 361 10.2 Die wahren Interessen der Landgemeinden? Der Preußische Landgemeindeverband ...................................... 367

Inhalt

10.3 Zwischen altem und neuem Dorf .............................................. 374 10.4 Das „arme Fischerdorf “ und der reiche Geschäftsmann ............... 381 10.5 Das Land als Differenzmaschine................................................ 387 11. Regieren in der Diktatur ................................................................. 11.1 Das Ende der Weimarer Demokratie.......................................... 11.2 „Krise“ und Umdeutung der Selbstverwaltung ............................ 11.3 Die (symbolische) Inbesitznahme der Gemeinden ....................... 11.4 Zusammenbruch und zögerlicher Neuanfang.............................. 11.5 Die Regierung des ländlichen Raums während der NS-Zeit ............................................................................

389 391 397 407 419

12. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen ................................... 12.1 Drei Phasen des Regierens ........................................................ 12.2 Ergebnisse und Perspektiven..................................................... 12.3 Das Land in der Neuesten Geschichte ........................................

427 427 432 437

422

Anhang 13. Das Personal der ländlichen Selbstverwaltung................................. 13.1 Bernried ................................................................................ 13.2 Mahlow ................................................................................. 13.3 Wolxheim ..............................................................................

443 443 445 448

14. Verzeichnisse ................................................................................ 14.1 Archivalien............................................................................. 14.2 Gedruckte Quellen .................................................................. 14.3 Literatur................................................................................. 14.4 Abbildungen und Tabellen........................................................

453 453 457 465 495

9

Dank

Diese Arbeit ist über viele Jahre hinweg gereift. Die ersten Ideen habe ich im Jahr 2011 entwickelt, als Habilitation wurde sie im Januar 2020 an der Fakultät 09 der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen. Ich danke meinen Mentor:innen im Habilitationsverfahren, die diese Arbeit über Jahre hinweg mit Ratschlägen und wichtigen Hinweisen, vor allem aber immer mit Wohlwollen unterstützt und schließlich die Gutachten für das Habilitationsverfahren verfasst haben: Sabine Freitag (Bamberg), Martin H. Geyer (München), Marc Redepenning (Bamberg) und Margit Szöllösi-Janze (München). Gekürzt und überarbeitet habe ich während der Corona-Pandemie und in meiner Elternzeit – und noch viele Monate danach, denn oft genug waren Kinderbetreuung und sonstige Formen der Care-Arbeit oder einfach nur ein bisschen Schlaf dringender als diese Arbeit. Nun bin ich froh, dass ich sie trotz aller Widrigkeiten zu einem guten Schluss gebracht habe. Die Forschungsaufenthalte am DHI Paris im Frühjahr 2016 und am Center for Advanced Studies der LMU München im Wintersemester 2016/17 haben dazu beigetragen, die letzten archivalischen und konzeptionellen Lücken zu schließen – und ich hatte das Glück, dort Gesprächspartner:innen zu finden, mit denen ich bei einem Kaffee, einem Spaziergang oder einem Mittagessen über ländliche Gesellschaften, aber auch über ganz andere Dinge diskutieren konnte. Mehrere Forschungs- und Archivaufenthalte hat das Historische Seminar der LMU München großzügig finanziell unterstützt. Ohne das Förderstipendium am Historischen Kolleg im akademischen Jahr 2017/18 wäre diese Arbeit eine andere geworden. Das Jahr in der Kaulbach-Villa habe ich sehr genossen. Was für ein Luxus war es, ein Jahr lang außer der Habilitation keine Arbeit auf dem Schreibtisch zu haben! Die Gerda Henkel Stiftung hat diesen Forschungsaufenthalt finanziert und mir zudem einen überaus großzügigen Druckkostenzuschuss gewährt. Die Münchener Universitätsgesellschaft hat meine Arbeit im Sommer 2020 mit dem Habilitationsförderpreis ausgezeichnet – auch dafür danke ich ganz herzlich! Dass diese Arbeit nun in der Schriftenreihe „Industrielle Welt“ des Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte Aufnahme gefunden hat, verdanke ich vor allem Ute Schneider und Christof Dipper, die das Manuskript der Habilitationsschrift wohlwollend begutachtet und wichtige Hinweise für die Überarbeitung gegeben haben. Außerdem danke ich Kirsti Doepner vom Böhlau-Verlag, die immer geduldig und gleichzeitig motivierend war.

12

Dank

Ich hatte in München das Glück, in einem überaus produktiven und menschlich angenehmen Klima arbeiten zu dürfen. Der Lehrstuhl für Zeitgeschichte war im vergangenen Jahrzehnt mehr für mich als nur ein Arbeitsplatz. Meinen Kolleg:innen am Lehrstuhl und am Historischen Seminar danke ich dafür, dass sie das Arbeiten in München und an diesem Buch zu einer wirklich angenehmen Lebensphase gemacht haben. Vor allem aber danke ich Margit Szöllösi-Janze, die als Inhaberin des Lehrstuhls für Zeitgeschichte meine Vorgesetzte, insbesondere aber meine Mentorin war (und ist). Seit meinem Stellenantritt in München hat sie mich immer gefördert und unterstützt, hat mir Mut gemacht und in den richtigen Momenten mehr Pragmatismus angemahnt. Vor allem aber hat sie mir alle Freiheiten zur Forschung an diesem – meinem – Projekt gegeben. Ich hätte mir keine bessere Unterstützerin wünschen können. Ich danke allen Kolleg:innen bei Tagungen und Kolloquien, mit denen ich in den vergangenen Jahren in Bamberg, Dresden und Havixbeck, in Florenz, Freiburg und Gießen, in Leipzig, San Diego, Tübingen und natürlich in München meine (Zwischen-)Ergebnisse diskutieren konnte. Dabei waren diese Gelegenheiten immer auch der nötige Schubs, wieder einmal etwas zu Papier zu bringen. Eine solche Arbeit mit Lokalbezug ist unmöglich ohne die Unterstützung von Archivar:innen. Stellvertretend danke ich Dr. Walburga Scherbaum, der langjährigen Leiterin des Gemeindearchivs Bernried und selbst Historikerin, die mich unterstützt hat, wo sie nur konnte – deutlich über das normale Maß hinaus. Ohne studentische Hilfskräfte wäre ich oft verloren gewesen, vor allem in den letzten Jahren, als es an die Fertigstellung der Arbeit bei gleichzeitiger hoher Arbeitsbelastung in der Uni und im Privaten ging. Die unzähligen Hilfskräfte am Lehrstuhl für Zeitgeschichte haben mich immer unterstützt – angefangen von Sebastian Lang und Juliane Hornung bis hin zu Annalena Labrenz und Leonard Bittner zehn Jahre später. Besonderer Dank gilt „meinen“ Hilfskräften: Karl Siebengartner, der mich im Historischen Kolleg unterstützt hat, sowie Anne Böck und Maria Leisl, die als studentische Hilfskräfte aus Mitteln zur Gleichstellung in Lehre und Forschung finanziert waren und maßgeblich an der Entstehung der beiden Manuskripte beteiligt waren. Ich danke an dieser Stelle auch der Frauenbeauftragten der Universität München, Dr. Margit Weber, die diese Mittel über viele Semester hinweg bewilligt hat. Teile des ursprünglichen Manuskripts haben Jürgen Finger, Juliane Hornung, Britta Voithenberg, Theresia Bauer, Emanuel Steinbacher, Magnus Altschäfl, Karl Siebengartner und Mathias Irlinger gelesen, verbessert und kritisiert. Die gesamte Fassung hat vor der Abgabe Timo Luks gelesen – wie alle meine Arbeiten seit dem Hauptstudium. Wo wäre ich nur ohne dich! Viele Kapitel hat Eva Külkens im Zuge der Überarbeitung gelesen und stets einen kritischen Blick gehabt.

Dank

Die Unterstützung, die ich in den letzen Jahren erfahren habe, ging weit über die Arbeit an Konzept und Text hinaus. Ich danke Anna Beckers, Lisa Dittrich (†), Thomas Etzemüller, Jürgen Finger, Daniela Gasteiger, Nicolai Hannig, Victoria Hannig, David Kuchenbuch, Eva Külkens, Doris Langner, Hans-Jürgen Langner, Ina Langner, Ariane Leendertz, Annika Luks, Timo Luks, Matthias Neges, Jan Neubauer, Daniel Mollenhauer, Karin Proff, Sabine Schlimm, Susanne Schlimm, Wolfgang Schlimm, Christiane Schmal, Martin Schmidt (†), Dirk Wackernagel, Ida Wackernagel, Josefin Wackernagel, Florian Wimmer (†) und Kim Wünschmann für Gespräche, Unterstützung und Da-Sein. Ronald Langner ist mir vieles – Gesprächs- und Sparringspartner, Aufrichter und Motivator, Freund und Lebenskomplize. Du machst mein Leben so viel besser! Gewidmet ist das Buch unseren Kindern Konrad und Antonia, die ihre Mutter gar nicht ohne die Arbeit daran kennen – in der Hoffnung, in den nächsten Jahren mehr gemeinsame Zeit mit ihnen zu verbringen.

13

1.

Einleitung

1.1

Das Problem: Regieren eines Raums im Wandel

Am 25. August 1898 berichtete das „Weilheimer Tagblatt“ ausführlich über die „musikalisch-humoristische Unterhaltung“,1 eine Abendveranstaltung im Bernrieder Sommerkeller, ausgerichtet von den Lehrern der näheren Umgebung. Zu den Gästen gehörten Mitglieder des regionalen Lehrervereins mit ihren Familien, Einwohner:innen der kleinen Gemeinde Bernried am Starnberger See (inklusive der Baronin von Wendland) und Sommergäste. Der Bernrieder Volksschullehrer Silverius Sedlmayr trug Lieder von Franz Abt vor, und auch eine Konzertsängerin aus dem nahegelegenen Tutzing beteiligte sich am Konzert. Solche Veranstaltungen gehörten zum üblichen Sommerprogramm in der Urlaubsregion am Starnberger See. Bei der Neubesetzung der Lehrerstelle an der Bernrieder Volksschule im Jahr 1889 hatten das Bezirksamt und die Distriktsschulinspektion in Weilheim daher gegenüber der Regierung von Oberbayern den ausdrücklichen Wunsch formuliert, dass der neue Lehrer musikalische Fähigkeiten mitbringen möge: „Wünschenswerth ist nicht bloß ein tüchtiger Schullehrer, sondern auch ein guter Chororganist, da während der Sommermonate viele Musikkenner und Freunde der Musik sich in Bernried aufhalten. Auch dürfte es sich empfehlen, als Lehrer in diese von Fremden viel besuchte Gemeinde einen Mann mit entsprechenden Umgangsformen zu versetzen.“2 Der Bewerber Silverius Sedlmayr war sehr musikalisch, sodass er trotz seiner geringen Berufserfahrung schließlich die Lehrerstelle in Bernried erhielt und fortan für das musikalische Sommerprogramm im Ort sorgte.3 Eine wichtige Aufgabe der Gemeinden war die Feuerbekämpfung. Sie mussten für die Ausrüstung sorgen, diese in Schuss halten und den Feuerlöschdienst organisieren. In Mahlow, einer brandenburgischen Gemeinde südlich von Berlin, wurde noch Anfang des 20. Jahrhunderts klargestellt, dass die Feuerbekämpfung die Aufgabe der Büdner sei, also derjenigen Bewohner des Dorfes, die nur über minimalen Grundbesitz verfügten. Diese müssten reihum zur Verfügung stehen, um im Übungs- und Ernstfalle die Feuerspritze zu betätigen. Dass die bäuerlichen

1 Weilheimer Tagblatt, 19.8.1898, in: Bernried im Spiegel der Heimatzeitungen I. Im 19. Jahrhundert (Pressespiegel), S. 21; Gemeindearchiv Bernried (GAB) Bi 19/69. 2 Bezirksamt und Distriktsschulinspektion Weilheim I: Anzeige über die Erledigung des Schuldienstes in Bernried, 27.12.1889; Staatsarchiv München (StAM) RA 54310. 3 Bezirksamt und Distriktsschulinspektion Weilheim an die Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern: Erledigung des Schuldienstes in Bernried BzA Weilheim, 9.2.1890; ebd.

16

Einleitung

Gemeindevertreter die ungeliebte, weil auch gefährliche Feuerlöscharbeit der dörflichen Unterschicht überantworteten, wundert nicht; es macht vielmehr deutlich, wie wichtig noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Unterteilung der lokalen Bevölkerung in Besitzklassen war. Allerdings veränderte sich Mahlow um 1900 stark, als die Heimstätten-Aktien-Gesellschaft Siedlungshäuser jenseits des bäuerlichen Dorfkerns baute. Mahlow bekam also neue Ortsteile, die nicht mehr durch eine bäuerliche Bevölkerung geprägt waren. Im Jahr 1903 beschäftigte sich die Gemeindevertretung wieder mit dem Feuerlöschdienst, denn die bisherigen ortsüblichen Regelungen funktionierten nicht mehr. Kurzerhand führte die Gemeinde ein egalitäres System für den neuen Siedlungsteil ein: „Jeder Besitzer der Heimstättenkolonie ist verpflichtet, bei Feueralarm bezw. Spritzenprobe der Reihe nach einen Mann zu stellen. Uebertretungen werden nach dem Ortsstatut bestraft.“4 Im Januar 1904 schrieb der Pfarrer der Gemeinde Ergersheim dem Bürgermeister der Nachbargemeinde Wolxheim im Elsass einen geharnischten Brief. Im Namen aller Gemeindemitglieder beschwerte er sich „über den erbärmlichen Zustand“ des Weges von Ergersheim zur Wallfahrtskirche in Altbronn, der „wie bekannt, zum großen Theile im Wolxheimer Banne liegt, anstoßend an Reben und Aecker, welche, zum großen Theil wieder, Wolxheimer Bürgern angehören“. Immer wieder, so betonte der Pfarrer, seien – zu Recht oder zu Unrecht, das lasse er ganz offen – die Autoritäten beider betroffenen Gemeinden beschuldigt worden, für die schlechten Wegverhältnisse die Verantwortung zu tragen. Nun, da der Verwalter einer nahegelegenen Domäne Baumaterial für die Straßenverbesserung gratis zur Verfügung stelle, müsse diese Gelegenheit genutzt werden, denn sonst seien die Klagen der Betroffenen wirklich berechtigt! Gerade die Gemeinde Wolxheim sei nun am Zuge, denn sie habe sich „zu einer gewissen Zeit“ gegen die Übernahme der Straße in staatliche Verwaltung ausgesprochen. Der Pfarrer argumentierte mit einem wichtigen Topos der politischen Sprache, nämlich mit der Gegenüberstellung von Partikular- und Allgemeininteressen: „Die mißverstandenen Partikularinteressen [der Gemeinde Wolxheim, AS] haben das Bessere abgewiesen, zum Schaden des öffentlichen – ja selbst des besserverstandenen Privatwohles.“5 Dieser scharf argumentierende Brief wurde von einem weiteren, sanfter formulierten begleitet: „Nebenliegend übersende ich den Brief von dem wir mündlich gesprochen haben.“6 Nachwirkungen hatte dieser Brief offenbar nicht – zumindest ist im Archiv der Gemeinde Wolxheim nichts über die Instandsetzung des Weges zwischen Altbronn und Ergersheim zu finden. 4 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 11.7.1903; Kreisarchiv Teltow-Fläming (KrA-TF) XII.294 (meine Hervorhebung, AS). 5 A. Deby, Pfarrer von Ergersheim, an den Bürgermeister von Wolxheim, 14.1.1904 (I); Archives départementales du Bas-Rhin (ADBR) 8 E 554/58. 6 A. Deby, Pfarrer von Ergersheim, an den Bürgermeister von Wolxheim, 14.1.1904 (II); ebd.

Das Problem: Regieren eines Raums im Wandel

Diese drei Anekdoten7 wirken zunächst unverbunden und beliebig. Ihnen ist jedoch gemeinsam, dass sie auf einen grundlegenden Wandel hinweisen, dem die ländlichen Gemeinden zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts unterworfen waren. Diesem Wandel waren die ländlichen Akteure offenbar nicht hilflos ausgeliefert, sondern sie gestalteten ihn – indem sie ihre Nachbarn an ihre Verantwortung für die Unterhaltung der Infrastruktur erinnerten oder soziale Ordnungen an neue Gegebenheiten anpassten. Die drei Anekdoten verweisen auch auf die erhebliche Spannbreite von alltäglichen Herausforderungen und Ereignissen im ländlichen Raum um die Wende zum 20. Jahrhundert und damit darauf, dass es einer Aufmerksamkeit für sehr unterschiedliche Themen bedarf, um diese Geschichten zu analysieren. Schlussendlich wurden damit die drei Gemeinden Bernried, Mahlow und Wolxheim vorgestellt, die uns in der gesamten Arbeit begleiten werden, als Untersuchungsorte für die Fragen, denen diese Studie gewidmet ist: Wie wurden ländliche Gemeinden regiert? Wie regierten sie sich selbst? Zunächst werde ich zwei zentrale Konzepte für diese Arbeit – „Moderne“ und „Regierung“ – diskutieren und für mein Problemfeld adaptieren; im Zuge dessen wird auch die Fragestellung weiter präzisiert. 1.1.1

Moderne oder Tradition im ländlichen Raum?

Das Land galt und gilt gemeinhin nicht als Ort der Moderne.8 Die aktuelle Forschung zur „Hochmoderne“ als besonders dynamischer wie auch ambivalenter Epoche zwischen 1880 und 1970 hat einen eindeutig urbanen bias. Die bevorzugten Themen stammen aus der Stadt- und Urbanisierungsgeschichte, der intellectual history, der Mediengeschichte mit einem Fokus auf urbane Massenmedien, der Konsumgeschichte und der Geschichte von Verwissenschaftlichungsprozessen. Bei allen diesen Themenfeldern liegt die Erforschung des ländlichen Raums nicht nahe, auch wenn sich das langsam zu ändern beginnt.9 Einflussreiche Gesamtdarstellungen, vor allem zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, postulieren zudem den time lag ländlicher Gesellschaften gegenüber der städtischen Mehrheitsgesellschaft.10 In dieser Darstellung waren ländliche

7 Zur Bedeutung und zum sinnvollen Einsatz von Anekdoten in der Geschichtswissenschaft vgl. den literaturhistorischen Ansatz von Greenblatt 2000. 8 Eine Ausnahme stellt Spiekermann dar, der den landwirtschaftlichen Musterbetrieb gerade als zeitgenössischen Kontrast zum Land als „Ort der Moderne“ aufgreift. Vgl. Spiekermann 2016. 9 Vgl. Zimmermann, Mahlerwein, Maldener 2018. 10 In den meisten Darstellungen werden städtische mit großstädtischen Gesellschaften gleichgesetzt. Ab 1910 lebten 60 Prozent der Bevölkerung im Deutschen Reich in Städten – gemeint sind allerdings Siedlungen mit mehr als 2000 Einwohner:innen. Immerhin 25 Prozent der Deutschen lebten

17

18

Einleitung

Gesellschaften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein der Ort traditioneller Sozialordnungen. Entsprechend wird der gesellschaftliche Wandel in diesen Gesellschaften als „Erosion“ einer eigenständigen ländlichen Lebenswelt diskutiert.11 Vor allem hält sich die Interpretation, dass die Moderne erst nach 1945 auf dem Lande Einzug gehalten habe.12 Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist, dass häufig ländliche Gesellschaft und Landwirtschaft synonym bezeichnet und gedacht werden; in dieser Lesart traf die Moderne in dem Moment auf dem Land ein, als sich Traktor, Mähdrescher und (als Konzession an die Kulturgeschichte) das Kino auch im ländlichen Raum durchzusetzen begannen. Ein anderer, hier wichtigerer Grund liegt darin, dass in vielen Darstellungen das Konzept „Moderne“ nicht reflektiert wird. Denn selbst, wenn der Begriff gar nicht verwendet wird, ist doch die Modernisierungstheorie als Deutungsmuster weiterhin einflussreich, dahingehend dass der ländliche Raum als das Andere der modernen (deutschen) Gesellschaft fungiert. Er wird als traditionell beschrieben – oft implizit und vor dem Hintergrund der eigentlichen, der modernen Gesellschaft, die im Zentrum der Darstellung steht. Damit wird der als „traditionell“ markierte ländliche Raum aus dem Fokus gerückt und zum Fremdkörper in der Moderne gemacht.13 Ich verfolge demgegenüber einen anderen Ansatz. Ich verstehe „Land“ nicht als Gegenteil der Moderne, sondern als einen integralen Bestandteil einer Welt, die

in Dörfern und Kleinstädten mit 2000 bis 20.000 Einwohner:innen, und über diese Klein- und Mittelstädte wissen wir, bis auf Einzelstudien wie Sieger 2014, viel zu wenig. Die Zahlen stammen aus Wehler 1995, S. 512. 11 Laut Ulrich Herbert sei die ländliche Gesellschaft in Deutschland bis weit ins 20. Jahrhundert „durch überkommene ständische Strukturen und durch einen Überhang traditioneller Normen gekennzeichnet“ geblieben. Herbert 2014, S. 41. In anderen Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts wie Wolfrum 2006 oder Winkler 2001 wird der ländliche Raum so gut wie gar nicht thematisiert. Allerdings sind diese Gesamtdarstellungen vornehmlich an einer national gefassten Politikgeschichte, sprich Staatsgeschichte orientiert. Hans-Ulrich Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ ist sicher keine aktuelle Synthese mehr. Trotz der vielen wichtigen Studien zur ländlichen Gesellschaft aus der Bielefelder Sozialgeschichte hatte die Geschichte ländlicher Gesellschaften in Wehlers „Gesellschaftsgeschichte“ lediglich funktionalen Charakter, denn eigentlich ging es ihm um die reaktionären ostelbischen Junker. Ausführlich dazu Dipper 2015b, S. 94. 12 Vgl. Kielmansegg 2000, S. 418. Dieser Interpretation folgt beispielsweise auch Rödder 2004, S. 28. Ein wichtiges Argument für die Nicht-Beachtung der ländlichen Strukturen in der Zeitgeschichte ist auch, dass die ausschließlich und spezifisch agrarischen Regionen für die Geschichte der Bundesrepublik keine Rolle gespielt hätten, da diese vornehmlich östlich der Elbe gelegen hätten. Implizit bei Conze 2009, S. 185; expliziter: Wolfrum 2005, S. 189. 13 Der ländliche Raum fungiert damit implizit oder explizit als Beispiel für die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Dass mit diesem Deutungsmuster ein Chronozentrismus einhergeht, der auf analytischer Ebene Perspektiven eher verstellt als erschließt, hat Achim Landwehr 2012 gezeigt.

Das Problem: Regieren eines Raums im Wandel

durch die Moderne als Denk- und Handlungsmodus gekennzeichnet war. Dafür ist es notwendig, ein anderes, historiographisch reflektiertes Konzept von Moderne zu verwenden. Ich folge in diesem Buch weitgehend einem Vorschlag, den Christof Dipper und Lutz Raphael gemacht haben, um Moderne als Epochenbegriff zu bestimmen und dabei die Rolle der Akteur:innen ernst zu nehmen.14 Sie schlagen vor, Moderne als eine Epoche zu verstehen, deren gerichteter Verlauf dadurch zu erklären ist, dass sich eine kontingente Gruppe von Basisprozessen mit den Zeitdiagnosen der Zeitgenoss:innen, den epochenspezifischen Ordnungsmustern, verschränkte. Unter Basisprozessen verstehen Dipper und Raphael jene strukturellen Wandlungen, die auch die Modernisierungstheorie kennt, die sich auf den ersten Blick hinter dem Rücken der Zeitgenoss:innen zu vollziehen schienen. Angesprochen sind Veränderungen in der Demographie und Sozialstruktur, institutionelle Verschiebungen des Staates (Staatsexpansion und Bürokratisierung), Urbanisierung, Verwissenschaftlichung, aber auch Individualisierung. Aber, und hier kommt der Unterschied zur Modernisierungstheorie ins Spiel: Sie fanden eben nicht hinter dem Rücken der Akteur:innen statt, sondern wurden von ihnen wahrgenommen, diskutiert und gedeutet. So wurden die Akteur:innen in dieser Welt zu handelnden Subjekten. Oder einfacher gesagt: Dadurch, dass sich die Zeitgenoss:innen einen Reim auf die Veränderungen ihrer Umwelt machten, konnten sie versuchen, die Veränderungen zu beeinflussen, zu beschleunigen oder aufzuhalten. Dipper und Raphael haben dabei als Ordnungsmuster (die jeweils epochenspezifische Gesamtheit der Zeitdiagnosen etc.) vor allem wissenschaftliche und wissenschaftsnahe Deutungen vor Augen, deren gesellschaftlicher Einfluss enorm war. Dazu gehört das in der Forschung zur Hochmoderne höchst einflussreiche Doppelkonzept von Utopie und Planung, das vor allem staatliche Eingriffe motivierte. So beeinflussten die Ordnungsmuster wiederum die Basisprozesse, denn als handlungsleitende Konzepte standen sie für gesellschaftliche Steuerungsversuche und Eingriffe Pate. Urbanisierung und Migration, Staatsaufbau und Wirtschaftssystem wurden politisch und gesellschaftlich beeinflusst. Ordnungsmuster und Basisprozesse waren also eng miteinander verflochten; keine Seite präjudizierte die andere, sondern sie wirkten wechselseitig aufeinander ein, weil die Zeitgenoss:innen als vermittelndes Element fungierten. Insofern handelt es sich um ein akteur:innenzentriertes Konzept von Moderne. Für meine Untersuchung passe ich dieses Modell leicht an. Einige Basisprozesse treten besonders in den Vordergrund: Staatsexpansion und Bürokratisierung, die Ausweitung von politischer Partizipation, die oftmals als Massenpolitisierung

14 Dipper 2018; vgl. auch ders. 2012; ders. 2015a; Raphael 2008b; ders. 2014.

19

20

Einleitung

etikettiert wird,15 die fortschreitende volkswirtschaftliche Verschiebung von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungswirtschaft, Urbanisierungsprozesse und Ähnliches mehr. Diese Dynamiken bilden ein Spannungsfeld, innerhalb dessen ich die Geschichte der ländlichen Regierung in meinem Untersuchungszeitraum analysiere. Aber sie waren mehr als nur Kontext, denn sie schlugen sich im lokalen Raum sehr konkret nieder. Und auch im ländlichen Raum machten sich die Akteur:innen einen Reim auf diese Basisprozesse, aber sie formulierten ihre Interpretationen meist nicht explizit – oder zumindest nicht schriftlich. Ich muss also die Ordnungsmuster aus recht sprödem Material herauslesen. Daher kommt in meiner Arbeit den Praktiken eine vermittelnde Rolle zwischen den Basisprozessen einerseits und den weitgehend impliziten Ordnungsmustern andererseits zu. Die Praktiken, die ich aus den Quellen herausarbeiten kann, dienen mir daher als Seismographen, die kleine Erschütterungen und Verschiebungen in den Zeitdiagnosen und Deutungen der Akteur:innen anzuzeigen vermögen, ohne sie vollständig offenzulegen. Das zentrale Ordnungsmuster für die Regierung des ländlichen Raums in meinen Untersuchungsregionen (und darüber hinaus) war das Konzept Tradition. Tradition eignet sich nicht als historiographisches Urteil, war (und ist) sie doch aufs Engste mit ihrem Gegenpol, der Moderne, verbunden. Tradition ergibt als Zuschreibung – egal ob als idealisierende oder als pejorative16 – nur Sinn, wenn sie nicht der Normalfall einer Gesellschaft ist.17 Tradition war zeitgenössisch eine Differenzzuschreibung, die zum Beispiel den ländlichen Raum von der modernen Welt abgrenzte. Dieses Ordnungsmuster motivierte eine ganze Reihe von Regierungspraktiken, die in dieser Arbeit analysiert werden: von der gesonderten Behandlung ländlicher Gemeinden in den Gemeindeordnungen über die Absicherung gestufter Partizipationsrechte in den Gemeinden (um die „Tradition“ zu erhalten) bis hin zu Konflikten darüber, wie ein Dorf zu regieren sei – immer wieder tauchte explizit oder implizit das Konzept der Tradition auf, um Handlungen zu rechtfertigen, Ziele zu beschreiben und Regierungsprogramme zu verwirklichen. Tradition, so lautet also eine zentrale These meines Buches, ist keine Eigenschaft ländlicher Räume, sondern eine zeitgenössische Zuschreibung, die in enger Verflechtung mit Basisprozessen die Praktiken vieler Akteur:innen anleitete und damit auf die Basisprozesse zurückwirkte. Somit ist auch das Urteil, der ländliche Raum sei bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts traditionell geblieben, sowohl ein Rest dieses Deutungsmusters als auch ein Zeichen dafür, wie gründlich dieses Deutungsmuster auf die Basisprozesse im ländlichen Raum zurückwirkte und ihn damit nachhaltig beeinflusste – auch strukturell und materiell. 15 Diesen Begriff verwende ich aus unterschiedlichen Gründen nicht; die meisten davon hat Thomas Stockinger ausgeführt: Vgl. Stockinger 2012, S. 37–77. 16 Vgl. Wiedenhofer 1990, S. 643–645. 17 Vgl. Mergel 1997, S. 228.

Das Problem: Regieren eines Raums im Wandel

Die Zuschreibung von Tradition war allerdings weder einhellig, noch waren die Praktiken, die sich daraus ableiten ließen, jederzeit konsensfähig. Vielmehr produzierten die Basisprozesse und Ordnungsmuster im ländlichen Raum und darüber hinaus erhebliche Konflikte. Das hier benutzte Konzept von Moderne nimmt gerade diese Reibungen in den Blick, statt sie als Fehler der Modernisierung, etwa als „partielle Modernisierung“ oder „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, abzutun. Die Koexistenz von gesellschaftlichen Institutionen, die aus unterschiedlichen Zeitschichten zu stammen scheinen, wird in dieser Perspektive zu einer gesellschaftlichen Normalität, nicht zu einem Fehler bei der Umsetzung eines eigentlich konsistenten Bauplans. Sie regt auch dazu an, die Umkodierung älterer Institutionen in neuen Kontexten zu beobachten.18 Aus diesen konzeptionellen Überlegungen leite ich erste Fragestellungen ab. Wie deuteten die Akteur:innen im Dorf und darüber hinaus die Wandlungen, denen sie und ihre Welt unterworfen waren? Wie reagierten sie in ihrem konkreten Handeln darauf, und wie trugen sie damit zu einer neuerlichen Dynamik bei? Diese Phänomene sind nicht erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten, sondern setzen viel früher ein. Spätestens die lange Jahrhundertwende zwischen ca. 1875 und 1925 produzierte eine ganze Fülle davon, wie die eingangs erzählten Anekdoten bezeugen: Pfarrer mussten die politische Sprache bemühen, um zur Pflege der Infrastruktur aufzurufen; bei der Besetzung einer Lehrerstelle spielten die Ansprüche von Tourist:innen eine Rolle, und ein Gemeinderat musste kollektive Pflichten auf die gesamte Wohnbevölkerung übertragen, weil die unterbäuerlichen Schichten nicht mehr verfügbar waren. So unbedeutend diese einzelnen Begebenheiten auch gewesen sein mögen, in der Kombination weisen sie auf grundlegende Wandlungen in den lokalen Gesellschaften hin, die von den Zeitgenoss:innen als Problem wahrgenommen und bewältigt wurden. 1.1.2

„Regierung“ statt „Politik“

Ländliche Gesellschaften im 19. und (nicht nur frühen) 20. Jahrhundert gelten in der Forschung oft als politikfern,19 und auch viele Zeitgenossen beschrieben (Land-)Gemeinden als unpolitische Räume. Das hatte unterschiedliche Effekte: Unter anderem wurden die Gemeinden damit vom „politisierten“ Staat (vor allem von den Parlamenten und später auch von den parlamentarisch kontrollierten

18 Vgl. Raphael 2014, S. 104. Etwas anders ist der Zusammenhang von Tradition und Moderne bei Bauerkämper gedacht. Auch er macht auf den engen Zusammenhang aufmerksam, weist aber der Tradition (als besonderer Form hergebrachter Sozialstruktur, Werteordnung etc.) eine Brückenfunktion bei der gesellschaftlichen Modernisierung zu. Bauerkämper 2002, S. 511. 19 So plädiert Bösch dafür, die politischen Sammlungsbewegungen im ländlichen Raum im „vorpolitischen“ Bereich zu suchen; Bösch 2000, beispielsweise S. 233.

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Regierungen) abgegrenzt. Zudem wurde damit die innere Einigkeit der Gemeinden betont (oder herbeigeredet), die dem Parteienstreit keinen Platz lasse.20 Dass diese Fremd- und Selbstbeschreibungen selbst hochpolitisch waren, Sprech- und Handlungspositionen ausschlossen und Machteffekte hatten, ist eine Grundthese dieser Arbeit. Um das zu zeigen, wähle ich einen Politikbegriff, der einerseits die Engführung von Politik als staatliches oder zumindest staatsbezogenes Handeln vermeidet,21 andererseits aber diese Aspekte produktiv miteinschließt. Einen Ausgangspunkt dafür bietet Pierre Rosanvallons Definition des „Politischen“:22 Das Politische ist nach meinem Verständnis zugleich ein Feld und eine Tätigkeit. Als Feld bezeichnet es den Ort, wo Menschen, Männer wie Frauen, ihre vielfältigen Lebensentwürfe koordinieren, den Ort, der die Gesamtheit ihrer Diskurse und Handlungen mit einem Rahmen versieht. Es verweist auf die Tatsache, dass eine „Gesellschaft“ existiert, die in den Augen ihrer Mitglieder ein sinnvolles Ganzes bildet. Als Tätigkeit bezeichnet das Politische den Prozess, durch den eine menschliche Gruppierung, die als solche eine bloße „Bevölkerung“ darstellt, allmählich das Aussehen einer wirklichen Gemeinschaft annimmt. Es geht somit aus dem stets umkämpften Prozess der Erarbeitung impliziter oder expliziter Regeln des kollektiv Zugänglichen und Verfügbaren hervor, die dem Leben des Gemeinwesens seine Gestalt verleihen.23

Rosanvallon verbindet hier produktiv Praktiken, Vorstellungen und Wissensformen sowie Konflikte und Auseinandersetzungen. Damit ist sein Politikbegriff sehr anschlussfähig an die Überlegungen, die im Zuge einer „neuen Politikgeschichte“ oder „Kulturgeschichte des Politischen“ gemacht worden sind;24 gleichzeitig kann man mit diesem Begriff die Engführung auf Repräsentationen und kulturelle Praktiken der high politics umgehen. Problematisch bleibt allerdings die Abgrenzung von Politik und Nicht-Politik. Handelt es sich nur dort um Politik, wo von Politik gesprochen wird?25 Das kann gerade für die Analyse ländlicher Gesellschaften, die zeitgenössisch als unpolitisch

20 Vgl. Andres 2007; Koshar 1986; Steber 2010. 21 Vgl. Sellin 1978; vgl. auch Friedeburg 1997, S. 22, der betont, dass ein bürgerlicher Politikbegriff für die Untersuchung von Politik im ländlichen Raum nicht geeignet sei. 22 Die Unterscheidung zwischen „der Politik“ und „dem Politischen“ ist in der gegenwärtigen politischen Theorie häufig anzutreffen. Für meine Untersuchung ist sie allerdings nicht hilfreich, sodass ich im Folgenden beide Begriffe synonym verwenden werde. 23 Rosanvallon 2011, S. 46. 24 Wichtige Texte der neuen Politikgeschichte sind Frevert, Haupt 2005; Landwehr 2003; Mergel 2002; Steinmetz 2007a. 25 Teile der neuen Politikgeschichte gehen diesen Weg; vgl. Steinmetz 2007b.

Das Problem: Regieren eines Raums im Wandel

wahrgenommen und behandelt wurden, nicht überzeugen. Politik fand nicht nur in Kabinetten statt, nicht nur in Parteien, Parlamenten oder in Organisationen, die Protest gegen Staat und Parlamente bündelten. Politik war auch und gerade dort zu finden, wo sie zeitgenössisch gerade nicht vermutet wurde oder sogar verhindert werden sollte.26 Um das Problem der Überkreuzung von Quellen- und Analysebegriffen zu umgehen, bezeichne ich die angesprochenen Praktiken als „Regieren“ beziehungsweise „Regierung“. Diese Begriffe kopple ich an Überlegungen zur Foucault’schen Gouvernementalität.27 Ganz im Sinne neuerer Forschungen zur Geschichte der modernen Staatlichkeit28 wird dabei der Staat nicht vorausgesetzt, sondern als Effekt einer historischen Konstellation von Regierungspraktiken und -rationalitäten auf unterschiedlichen Ebenen verstanden.29 Gouvernementalität bündelt als Begriff viele dezentrale Praktiken unterschiedlicher Akteur:innen, die sich selbst, aber auch ihre Umwelten zu beeinflussen, zu steuern, das heißt zu regieren versuchten. Wer das Regieren untersucht, analysiert auch institutionelle Verfestigungen, neue Wissensbestände, Handlungspositionen und mehr oder weniger routinisierte Praktiken, die sich in konkreten historischen Situationen herausbildeten und gegenseitig beeinflussten. Damit sind drei lediglich heuristisch voneinander zu trennende Komplexe angesprochen: Erstens untersuche ich die zeitgenössischen Wissensordnungen, zum Beispiel politische Debatten um den Charakter und die Verfassung von Gemeinden, aber ebenso das spezifische Wissen ländlicher Akteur:innen über Verwaltungsroutinen oder auch lokale Zusammenhänge. Zweitens interessieren mich die unterschiedlichen Akteur:innen des Regierens, von den lokalen Bürgermeistern über die Einwohner:innen, die sich an die Gemeindeverwaltung wandten, bis hin zu Parlamentariern, die über die Verfassung der Gemeinden stritten. Drittens analysiere ich die Praktiken des Regierens, die oft alltägliche Routinen der lokalen

26 Vgl. Scott 2009, S. 8 f. 27 Foucault selbst definiert Gouvernementalität in seiner berühmten Vorlesung vom 1. Februar 1978 in dreierlei Hinsicht, wobei sich diese Definitionen durchaus widersprechen. Zum einen sei damit ein spezifisches setting von Regierungsrationalität, -institutionen und -praktiken seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bezeichnet, zum zweiten Gouvernementalität als ein allgemein-neuzeitliches Phänomen der raison d’état eingeführt und zum dritten der Prozess der Staatstransformation vom „mittelalterliche[n] Staat der Gerichtsbarkeit“ zum Policeystaat und schließlich zum gouvernementalisierten, liberalen, sich selbst beschränkenden Staat beschrieben. Damit wollte er aber keinesfalls eine Höherentwicklung von Staatlichkeit implizieren, vielmehr sollten historisch spezifische Erscheinungsformen des Staates skizziert werden; vgl. Foucault 2004, S. 164. Als Überblick zu den v. a. britischen und amerikanischen Gouvernementalitätsstudien: Bröckling, Krasmann, Lemke 2011. 28 Vgl. etwa (mit weiterführender Literatur) Ganzenmüller, Tönsmeyer 2016a; als Versuch der interdisziplinären Debatte zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft Albert, Steinmetz 2007. 29 Foucault 2004, S. 164.

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Verwaltung waren, aber auch viele Konflikte betrafen. Das Wissen um das Regieren im ländlichen Raum, die Positionen der Akteur:innen und ihre jeweiligen Machtressourcen, aber auch die Praktiken, die sie an den Tag legten, waren eng miteinander verschränkt und beeinflussten sich gegenseitig. Zudem wirkten die sich verändernden gesellschaftlichen und politischen Kontexte auf das Regieren ein. Eine Analyse des Regierens nimmt also administrative Praktiken und Institutionen in den Blick, aber auch Organisationen (wie Verbände oder Parteien), die das Soziale zu regieren versuchten. Ebenso interessieren mich die gemeinsame Regelung ökonomischer Verhältnisse oder das Wissen darum, wer mitreden und mitregieren durfte. Diese zunächst sehr heterogenen Untersuchungsfelder setze ich über den Begriff des „Regierens“ miteinander in Bezug.

1.2

Brach liegende Felder? Der Forschungsstand zu ländlichen Gesellschaften in der Moderne

Der Fokus auf das Regieren von und in ländlichen Gesellschaften erlaubt es mir, den sehr heterogenen Forschungsstand zur Geschichte des ländlichen Raums zielgerichtet für diese Studie zu nutzen. Denn es handelt sich bei der Geschichte ländlicher Gesellschaften zwischen 1850 und 1950 keineswegs um „brach liegende Felder“,30 wie Robert von Friedeburg im Jahr 2004 polemisch formulierte. Der Forschungsstand ist allerdings sehr disparat. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Geschichte zum ländlichen Raum nur wenig an allgemeinere Forschungstrends in der Neueren und Neuesten Geschichte angebunden ist, zum anderen damit, dass die Forschungen häufig sehr regional ausgerichtet sind.31 Das führt letztlich dazu, dass viele Untersuchungsergebnisse kaum kontextualisiert sind, entsprechend die Sichtbarkeit in der allgemeinen Geschichtswissenschaft leidet. Statt von Brachen könnte man also eher von Kraut und Rüben sprechen.

30 Friedeburg 2004. 31 Diese regionale Zersplitterung der agrarhistorischen Forschung hat unterschiedliche Ausprägungen: Zum einen gibt es die lokal- und regionalhistorischen Studien, die, teilweise von geschichtswissenschaftlichen Laien ausgeführt, gar keine Einordnung in größere historische Fragestellungen oder Befunde bieten; dazu kommen bestimmte regionale „hotspots“ der agrarhistorischen Forschung, etwa der deutsche Südwesten, Westfalen und Gebiete östlich der Elbe. Diese sind durch besonders günstige Forschungsbedingungen, z. T. aber durch starke regionale Besonderheiten geprägt. Insgesamt lassen sich agrarhistorische Befunde nur schwer für den gesamten deutschen oder gar den europäischen Raum verallgemeinern, da für ländliche Gesellschaften regionale Entwicklungspfade besonders stark ausgeprägt sind. Vgl. die „Grundzüge der Agrargeschichte“, die diesen regionalen Entwicklungspfaden besondere Aufmerksamkeit schenken: Brakensiek, Kießling, Troßbach, Zimmermann 2016.

Brach liegende Felder? Der Forschungsstand zu ländlichen Gesellschaften in der Moderne

Die Geschichte von Ländlichkeit spielt für die Historiographie des „langen“ 20. Jahrhunderts nur eine sehr untergeordnete Rolle. Seit dem faktischen Verschwinden sozialhistorischer Detailstudien hat sich dieser Trend noch weiter verstärkt. Methodisch anregende Studien stammen häufig aus der Frühneuzeitforschung, die zunehmend die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einbeziehen.32 Dann aber klafft eine Lücke bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, für die der endgültige „Abschied vom Agrarland“33 proklamiert wird.34 Sie wird nur notdürftig durch Untersuchungen geschlossen, die sich der Organisation agrarischer Interessen ab den 1890er Jahren widmen beziehungsweise der Frage nachgehen, weshalb gerade im ländlichen Raum der Nationalsozialismus so viele Anhänger fand. Das verstärkt das Bild, das auch in den Gesamtdarstellungen prominent ist, dass nämlich ländliche Räume gerade nicht die Orte entscheidender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse gewesen seien. Eine Gesellschaftsgeschichte der Moderne, die den Zusammenhang von ländlicher und städtischer, dörflicher Mikro- und gesamtgesellschaftlicher Makrogesellschaft in den Blick nimmt, gibt es nicht, während die aktuelle Stadtgeschichte selbstbewusst für sich reklamiert, „allgemeine“ Geschichte zu sein.35 Für das „lange“ 20. Jahrhundert, das mit der erweiterten Jahrhundertwende um 1880 anbrach, bemängelt Hartmut Kaelble, dass dem multidimensionalen Phänomen des Wandels im ländlichen Raum, in dessen Zuge das bäuerliche Milieu stark an den Rand gedrängt wurde, kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden sei.36 Gunther Mai schlägt vor, diesen Verdrängungsprozess in eine breitere agrarische Transition einzuordnen, in dem die Deagrarisierung der Ökonomie mit der Deruralisierung des ländlichen Raums zusammengetroffen sei.37 Dabei unterscheidet er zwischen den strukturellen Verlaufsformen dieses Wandels und den sozialen, politischen und kulturellen Mustern, mit denen die europäischen Gesellschaften diesen strukturellen Wandel zu bewältigen versuchten. Die von Mai untersuchten Teilprozesse verliefen nicht synchron, standen zum Teil zueinander im Widerspruch und produzierten Konflikte und antimoderne Haltungen. Diesem Modell ist eine grundlegende modernisierungstheoretische Vorannahme eingeschrieben, geht er doch von zwei Zuständen aus, der agrarischen Gesellschaft einerseits und

32 Zusammenfassend wird das beispielsweise deutlich im zweiten Band der Grundzüge der Agrargeschichte, der sich der Zeit zwischen Dreißigjährigem Krieg und Hochmoderne widmet: Prass 2016. Vgl. den Klassiker: Mooser 1984; als Beispiel für die aktuelle, weiterhin sehr fruchtbare Forschung in diesem Bereich: Grüne 2011. 33 So lautet der Titel eines einflussreichen Sammelbandes: Münkel 2000. 34 Vgl. Balcar 2004; Erker 1996; Gerhard 2012; Mooser 2000; Strube 2013. 35 Vgl. Lenger 2013, S. 12 f. 36 Vgl. Kaelble 2007, S. 193 f. 37 Vgl. Mai 2007, S. 472.

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der durch die „von der technisch-wissenschaftlichen Revolution geprägten Gesellschaft“ andererseits; zwischen diesen beiden Zuständen sei die gerichtete Transition angesiedelt.38 Die angestellte Grundüberlegung ist zwar anregend, die Erklärung überzeugt vor dem Hintergrund der vorgestellten Konzeption von Moderne aber nicht. Im Folgenden stelle ich drei Felder vor, die besonders wichtige Orientierungen für die vorliegende Arbeit bieten, gleichzeitig aber auch plastisch machen, wo die bisherigen Forschungen noch kein ausreichend komplexes Bild ländlicher Gesellschaften in der Moderne zeichnen. Dabei handelt es sich um die (vor allem französischen) Untersuchungen zur politisation rurale, um verwaltungsgeschichtlich orientierte Untersuchungen zum „Vorrücken des Staates in die Fläche“ sowie um Forschungen zur Radikalisierung der ländlichen Bevölkerung im frühen 20. Jahrhundert mit besonderem Fokus auf den Zusammenhang zwischen ländlicher Bevölkerung und Nationalsozialismus. 1.2.1

Die politisation rurale – wie die Nation ins Dorf kam

Politisierung des Landes, so hat es Maurice Agulhon formuliert, meint „la pénétration dans les campagnes de la politique“.39 Diese Spielart des Politisierungsbegriffs, die vor allem auf das Eindringen nationaler Einflüsse, Symbole und Deutungsmuster in den vormals parochialen Raum abhebt, ist seit Agulhons Arbeit über die „Republik im Dorf “ von 1970 ein wichtiger Bezugspunkt, nicht nur in der französischen Forschung zum ländlichen Raum.40 Kurz nach Agulhon hat Eugen Weber mit dem Narrativ der Wandlung vom „Bauern zum Franzosen“41 eine ähnliche Interpretation vorgelegt. Bei allen Differenzen liegt doch beiden Interpretationen eine ähnliche modernisierungstheoretische Stoßrichtung zugrunde: Lokale Gesellschaften wurden im Zuge der Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in die Nationalgesellschaften integriert, die parochialen Eigenheiten abgeschliffen und die Dorfbewohner:innen damit zu Mitgliedern der Nation gemacht.42 Besonders Agulhon betont die Rolle von Vermittlungsinstanzen wie den Notabeln, deren Be-

38 Nicht nur lehnt sich Mai in seiner Modellbildung an den demographischen Übergang an, ein ebenso modernisierungstheoretisches Modell der Bevölkerungsentwicklung, sondern unterstellt auch, dass es sich bei dieser Transition um eine Entwicklung gehandelt habe, die für alle Gesellschaften gleichermaßen zutreffe, die manche Gesellschaften früher, andere später, wieder andere erst in Zukunft durchliefen; vgl. ebd., S. 471. 39 Agulhon 2000, S. 2. 40 Agulhon 1982 (Orig. 1970). 41 So der Titel der Studie: Weber 1976. Zur Würdigung und Kritik des Werkes sowie zum Einfluss auf die Forschung zum ländlichen Raum vgl. Cabo, Molina 2009. 42 Ausführlich zur Differenzierung der Positionen Stockinger 2012, S. 39 f.

Brach liegende Felder? Der Forschungsstand zu ländlichen Gesellschaften in der Moderne

deutung für die französische Politik- und Verwaltungsgeschichte hoch veranschlagt werden muss. „Politisierung“ gerät so bei Agulhon ausschließlich als exogener Prozess in den Blick, eben als eine pénétration, während den Transformationen innerhalb der ländlichen Gesellschaften und dem Agieren der lokalen Akteur:innen eher geringe Bedeutung zugesprochen wird. Jean-Luc Mayaud hat deshalb vorgeschlagen, Politisierung nicht mehr als „descente de la politique vers les masses“ zu verstehen, sondern mittels einer Mikroanalyse die komplexen sozialen Zusammenhänge in den Gemeinden selbst zu berücksichtigen. So geraten auch die endogenen Faktoren der Politisierung in den Blick, die aus den lokalen Konfliktlagen und Strukturen herrührten. Der Prozess der Politisierung würde damit sichtbar als ein Prozess, der auf zwei Ebenen, der nationalen und der lokalen, stattgefunden habe, ohne dass die eine Ebene wichtiger geworden sei als die andere.43 Politisierung wird bei Mayaud – ebenso wie bei Agulhon übrigens – als ein Lernprozess (apprentissage) verstanden, aber während bei Agulhon die Belehrung der Landbevölkerung durch Notabeln im Vordergrund steht, fokussiert Mayaud die ländlichen Akteur:innen als aktiv Lernende. Doch auch bei Mayaud bleibt „Politik“ etwas, das dem Dorf eigentlich fremd war, und Politisierung war jener Prozess, in dem republikanische und klerikale Aushandlungen staatlicher Ordnung auf die lokalen Logiken trafen. Demgegenüber diskutiert Christof Dipper „Politisierung“ als eine Veränderung politischer Praktiken. Am Beispiel der ländlichen Bevölkerung im Odenwald, dieser armen und peripheren Region im Südwesten Deutschlands, untersucht Dipper, wie sich die Praktiken des Aushandelns im ländlichen Raum wandelten, ausgehend von der Revolution 1848. Auch hier spielen nicht-ländliche Akteure eine wichtige Rolle, die diese neuen Praktiken in den ländlichen Raum hineintrugen.44 Ruth Dörner hat, ausgehend von den Überlegungen Mayauds, im mikrohistorischen Vergleich die sprachliche und affektive Bindung an Staat und Nation in Deutschland, Frankreich und Luxemburg für das „kurze“ 19. Jahrhundert zwischen 1815 und 1890 untersucht. Sie nimmt die Wandlungsimperative von außen ebenso in den Blick wie die Aneignungen durch lokale Akteur:innen, etwa wenn sie die Festkultur im Dorf untersucht. Die Dorfbewohner:innen, so Dörner, konnten durchaus an großen politischen Fragen ihrer Zeit Anteil nehmen, allerdings taten sie es meist nur in Krisensituationen. Mit einer Fragestellung, die gerade nach den Bindungen an Staat und Nation fragt, setzt sie „Politik“ jedoch stark mit zentralstaatlicher Politik und „großen“ Fragen wie Kulturkampf, Verfassungskonflikt oder Revolutionen gleich. Dabei betont sie gleichzeitig, wie wenig planbar die nationale Integration im „Parterre der Gesellschaft“ gewesen sei und wie sehr dieser Prozess

43 Mayaud 2000, S. 167. 44 Dipper 2006.

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auf Gewöhnung und pragmatischen Aneignungen seitens der Dorfbewohner:innen basiert habe.45 Während in diesen Untersuchungen die Bedeutung staatlicher bzw. nationaler, also dezidiert überregionaler Deutungsmuster für die politische Kommunikation und die alltägliche Praxis in ländlichen Gesellschaften ausgelotet wurde, gehen andere Studien den umgekehrten Weg und fragen nach der Bedeutung gerade regionaler Strukturen und lokaler Bindungen für die politische Kultur und die Nationsbildung im 19. und 20. Jahrhundert. Klassiker wie Celia Applegates „Nation of Provincials“46 oder Alan Confinos „The Nation as a Local Metaphor“47 haben unterstrichen, wie wichtig gerade lokale und regionale Bezugssysteme für die politische Einbindung und Mobilisierung der Menschen in der Provinz waren. „Heimat“ als eine spezifisch moderne Konstruktion, so das Ergebnis der Studien, fungierte als Transmissionsriemen, über den eine Integration in die Nation erst möglich wurde. Martina Steber hat vor allem für das frühe 20. Jahrhundert die Bedeutung regionaler Bezugssysteme hervorgehoben. Diese sollten nicht nur funktional als Mittel zur Nationalisierung verstanden werden. Das „Austarieren“ der unterschiedlichen Bezugsräume war vielmehr ein Aspekt des „Aushandeln[s] politischer Machtverhältnisse“.48 Dies war keine ausschließlich deutsche Entwicklung, vielmehr kann Regionalismus ab dem späten 19. Jahrhundert als ein transnationales Phänomen in vielen europäischen Gesellschaften beobachtet werden. Ob es sich dabei um den Versuch handelte, mittels demokratisierter und dezentralisierter Nationalstaatsvorstellungen die unteren sozialen Klassen einzubinden, wie es Eric Storm vermutet, muss zunächst dahingestellt bleiben.49 Es bleibt festzuhalten: Parochiale Bezugssysteme waren nicht gleichbedeutend mit vorpolitischen Zuständen. Eine strikte Unterscheidung zwischen „dem Dorf “ und „der Politik“ ist nicht möglich und die Konzentration auf vermeintliche Überschreibungs- und Assimiliationsprozesse demnach wenig zielführend. Analytisch interessant sind vielmehr die Mischungsverhältnisse zwischen lokalen und regionalen, nationalen und globalen Bezügen.

45 46 47 48 49

Dörner 2006, S. 327–331. Applegate 1990. Confino 1997. Steber 2010, S. 34. Storm 2012, S. 659.

Brach liegende Felder? Der Forschungsstand zu ländlichen Gesellschaften in der Moderne

1.2.2

Das Vorrücken des Staates in die Fläche

Einen wichtigen Bezugspunkt dieser Studie stellen die Forschungen zum Staatsausbau beziehungsweise zur Durchstaatlichung50 seit der Frühen Neuzeit und beschleunigt seit dem 19. Jahrhundert dar. Im Gegensatz zu älteren Ansätzen, die sich vor allem auf die verfassungsgeschichtlichen und damit normativen Veränderungen fokussierten, geht es in diesen neueren verwaltungsgeschichtlichen Ansätzen um die Praxis von staatlicher Transformation und Veränderungen von Macht und Herrschaft. Im Zentrum stehen Fragen nach der Veränderung von Staatlichkeit51 sowie der Ausweitung zentraler staatlicher Steuerungsmöglichkeiten bis in die Peripherien der modernen Territorialstaaten.52 Damit stellen diese Forschungen wichtige Grundlagen für die hier untersuchten Transformationen der Politik im ländlichen Raum dar. Die klassische Erzählung vom Erfolg des expansiven bürokratischen Staats gegenüber traditionalen und zumeist lokal begrenzten Ordnungen speist sich auch aus der Staats- und Bürokratiekritik seit dem Vormärz. Sie hat aber dennoch maßgebliche verwaltungshistorische Darstellungen, etwa die „Deutsche Verwaltungsgeschichte“, bis heute geprägt.53 Spätestens seit den 1990er Jahren sind die Teleologie der Staatsexpansion ebenso wie ihre Intentionalität und Professionalität hinterfragt worden. Thomas Ellwein hat in seiner Studie zum „Staat als Zufall und Notwendigkeit“ die großen Entitäten „Staat“ und „Verwaltung“ in akribischer Detailarbeit am Beispiel von Ostwestfalen-Lippe in die jeweilige Praxis aufgelöst.54 Vor einigen Jahren hat zudem ein sozialhistorisches Forschungsprojekt an der Universität Trier das Konzept der „Durchstaatlichung“ am Gegenstand ländlicher Gemeinden im Rhein-Maas-Raum kritisch geprüft. Die Teilprojekte haben auf der einen Seite die großen Schwierigkeiten des Staates bei der Durchdringung der ländlichen Peripherie kartiert, auf der anderen Seite den Prozess der Durchstaatlichung als ein reziprokes Modell entworfen, das die hegemoniale Stellung des expansiven Staates und die passive Rolle der durchstaatlichten (beziehungsweise zu durchstaatlichenden) Gemeinden teilweise aufgebrochen hat.55 So kommt Lutz Ra-

50 Mehr oder weniger implizit handelt es sich bei „Durchstaatlichung“ um eine Bezugnahme auf Max Weber, der den Begriff im Zusammenhang mit der Analyse der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg prägte; hier handelt es sich also um einen eher sektoralen als um einen topographischen Prozess der Durchstaatlichung, den Weber mehr als kritisch einschätzte; vgl. Weber 1984b. 51 Vgl. etwa Maier 2012 (mit einem klaren zeitlichen Schwerpunkt in der „klassischen Moderne“) oder Reinhard 2002 (mit stärkerer Betonung der Entwicklungen in der Frühen Neuzeit). 52 Mit viel weiterer Literatur Ganzenmüller, Tönsmeyer 2016a und Nellen, Stockinger 2017. 53 Vgl. Jeserich, Pohl, Unruh 1983–1988. 54 Ellwein 1993–1997. Vgl. dazu auch: Greven 1997; Dipper 1997. 55 Zur Anlage des Projekts vgl. Raphael 1999a sowie die weiteren Aufsätze aus diesem Sammelband.

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phael als Projektleiter zu der Schlussfolgerung, dass die Veränderungen der Relation Staat/Dorf einerseits als adaptiver Wandel, andererseits als politisch-administratives Aushandeln verstanden werden müssten.56 Ein wichtiger Aspekt der Durchstaatlichung war auch die Ausschaltung von etablierten Mediatgewalten, etwa der Patrimonialgerichtsbarkeit in Preußen. Auch hier wurde in den letzten Jahren betont, dass es sich nicht um rein von oben initiierte und entsprechend durchgeführte Reformen gehandelt habe, sondern dass der Prozess der modernen Staatsbildung nur in der Dialektik von Staat und Gesellschaft verstanden werden könne.57 Während Monika Wienfort diesen Prozess anhand der Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit in Preußen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht hat, wandte sich Patrick Wagner der Frage zu, wie die alten, (vermeintlich) vormodernen Eliten in Preußen bis ins 20. Jahrhundert ihre Herrschaft stabilisieren konnten. Mit Blick auf die Veränderungen in den Kreisverwaltungen kommt er zu dem Urteil, dass die Junkerherrschaft Ende des 19. Jahrhunderts auf vollkommen anderen Ressourcen und Koalitionen beruht habe als noch wenige Jahrzehnte zuvor; erst in engem Schulterschluss mit dem Verwaltungsstaat hätten die Junker in Ostelbien ihre Vorherrschaft nach 1870 reetablieren können. Eine eigenständige Junkerherrschaft jenseits des preußischen Staates existierte nicht mehr.58 Diese Forschungen tragen dazu bei, den Prozess, der zur zunehmenden Integration von Regionen und Lebensbereichen in staatliche Zusammenhänge führte, genauer zu entschlüsseln. Sie ergänzen die etablierten Forschungsansätze zur Politisierung und Nationalisierung ländlicher Lebenswelten um die Komponente des administrativen Handelns, das für das alltägliche Leben der Verwaltenden und der Verwalteten besonders bedeutsam war. Vor allem die Einbeziehung alltagshistorischer und ethnologischer Konzepte trägt dazu bei, die Durchstaatlichung nicht mehr nur als top-down-Prozess zu verstehen, sondern einerseits die reziproken Praktiken, andererseits aber auch das permanente Scheitern moderner Staatlichkeit in der Peripherie in den Blick zu nehmen.59 1.2.3

Politische Organisation des Landes

Spricht man über die Politik im ländlichen Raum, darf man über ländliche Organisationen, Interessenvertretungen und die Reichweite politischer Parteien auf dem Land nicht schweigen. Hierzu liegt eine Fülle von Studien vor, die vor allem die großen, ab den 1890er Jahren neu entstandenen pressure groups wie den Bund der 56 57 58 59

Raphael 2003, S. 60 f. Wienfort 2001, S. 18. Wagner 2005, S. 570; Wagner 2014, S. 260. Vgl. etwa Scott 2009; Trotha 1994; ders. 1999.

Brach liegende Felder? Der Forschungsstand zu ländlichen Gesellschaften in der Moderne

Landwirte in den Blick nehmen.60 Sie haben seit den 1980er Jahren vor allem in der angloamerikanischen Forschung eine Neubewertung erfahren. Seit den Beiträgen von David Blackbourn und anderen sind die agrarischen Interessenverbände im Wilhelminischen Kaiserreich nicht mehr gleichbedeutend mit der Dominanz der ostelbischen Junker über die Bauern, die vermeintlich nicht über genug politisches Verständnis verfügten und sich von den Großagrariern für ihre Zwecke einspannen ließen.61 Viele Studien zur agrarischen Interessensorganisation haben einen Fluchtpunkt, der meist außerhalb ihres Untersuchungszeitraums liegt, nämlich das Jahr 1933. Oftmals sind sie durch die These vom deutschen Sonderweg inspiriert, fragen also nach den spezifisch deutschen Demokratiedefiziten, nach den gesellschaftlichen Konfliktlinien und kulturellen Besonderheiten, die letztlich den Erfolg des Nationalsozialismus insbesondere im ländlichen Raum erklären können. Dabei setzt die Forschung weit vor 1933 an. Da gibt es diejenigen, die nach den ideologischen Kontinuitäten der Agrarromantik und des Agrarprotektionismus der Jahrhundertwende in der Agrarideologie des Nationalsozialismus suchten und ein fruchtbares Feld identifizierten, auf dem der Nationalsozialismus wachsen und gedeihen konnte.62 Vor allem aber die Zwischenkriegszeit steht bei diesen Forschungen im Fokus. Während Autoren wie Wolfram Pyta und Manfred Kittel aus im Detail unterschiedlichen methodischen Vorannahmen heraus nach den milieu- und mentalitätsspezifischen Grundlagen der NS-Wähler:innenschaft im protestantischen ländlichen Raum fragen,63 untersuchen andere Autor:innen die organisatorischen Kristallisationspunkte, an denen sich eine Radikalisierung der Landbevölkerung zeigte, etwa in der Landvolkbewegung oder in den Landbünden.64 Im Grunde handelt es sich bei diesen Studien um von der Wahlforschung angeregte Untersuchungen, die die quantitativen Befunde, etwa von Jürgen W. Falter,65 durch qualitative, mit historischer Tiefenschärfe ausgestattete Analysen erweitern und differenzieren sollen. Sie bieten eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für die vorliegende Studie, da sie sozialhistorische, kulturgeschichtliche und institutionengeschichtliche Analysen miteinander kombinieren, um die Radikalisierung der Bevölkerung im ländlichen Raum in der Zwischenkriegszeit sichtbar und erklärbar zu machen. Mit dem klaren telos der nationalsozialistischen Herrschaft jedoch

60 Aldenhoff-Hübinger 2002; Puhle 1967. 61 Blackbourn 1984. 62 Farquharson 1976. Den vermeintlichen deutschen Exzeptionalismus nimmt Renton kritisch unter die Lupe: Renton 2001. 63 Kittel 2000; Pyta 1996. 64 Hempe 2002; Merkenich 1998; Le Bars 1986; Otto-Morris 2013; Pomp 2011. Zur Landvolkbewegung lesenswert die literarische Verarbeitung Fallada 1931. 65 Falter 1991.

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neigen sie zu einer pathologisierenden Sicht, die für die hier geplante, offenere Analyse nicht befriedigend wäre. Weitere wichtige Studien betreffen die Geschichte des Nationalsozialismus ab 1933 im ländlichen Raum. Auch wenn Andreas Dornheim bemängelt, es gebe keine systematische Darstellung der NS-Agrarpolitik,66 ist doch der Forschungsstand zur Geschichte des ländlichen Raums während des Nationalsozialismus ebenso umfangreich wie vielfältig (s. u., Kap. 11). Ein wichtiges Projekt für die Erforschung des Nationalsozialismus im ländlichen Raum war das sogenannte „Bayern-Projekt“ des Instituts für Zeitgeschichte München, welches ab den frühen 1970er Jahren eine neue Perspektive auf die Geschichte des Nationalsozialismus entwickelte. Unter der Leitung von Martin Broszat sollte eine Wirkungsgeschichte des NS-Regimes „von unten“ geschrieben werden, um eine grundlegende Frage zu beantworten: „Wirkten lokale und regionale Traditionen und (Teil-)autonomien auf den Nationalsozialismus im Einzelfall mäßigend und begrenzten sie seinen Totalitätsanspruch? Oder gewann der NS-Staat auch dort an Dynamik, wo er sich zwar nicht über bestehende regionale Eigenständigkeiten hinwegsetzte, diese möglicherweise aber für die eigenen Mobilisierungszwecke instrumentalisierte?“67 Der NS-Staat wurde hier – ganz ähnlich wie in den bereits diskutierten Politisierungsstudien – als Kraft beschrieben, die von außen in den ländlichen Raum einbrach. Der zentrale Begriff, mit dem das Projekt die bayerische Reaktion auf den Nationalsozialismus beschrieb und analysierte, war die „Resistenz“; damit wurde die Vielzahl von lokalen Praktiken bezeichnet, die eines gemeinsam hatten: „Wirksame Abwehr, Begrenzung, Eindämmung der NS-Herrschaft oder ihres Anspruches, gleichgültig von welchen Motiven, Gründen und Kräften her.“68 Demgegenüber hat ein neueres Projekt zur „Volksgemeinschaft in der Region“ einen anderen Fokus gelegt – weniger auf die resistenten Praktiken, sondern vielmehr auf die vielen Spielarten des Mitmachens. Auch hier erprobten die beteiligten Forscher:innen einen neuen alltags- und sozialgeschichtlichen Untersuchungsansatz für die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, der auf lokal- und regionalhistorischen empirischen Studien basiert. Herrschaft wird hier konsequent als soziale Praxis beschrieben und analysiert, wodurch die lokalen Fallstudien unmittelbar mit der Herrschaftsordnung des Nationalsozialismus verknüpft werden. Es geht um die Realisierung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zwischen Inklusion und Exklusion sowie die Stabilisierung nationalsozialistischer Gesellschafts- und Gemeinschaftskonzepte.69 Der regionalhistorische Ansatz des 66 67 68 69

Dornheim 2011, S. 26. Wirsching 1996, S. 25. Broszat 1981. Vgl. zum Bayern-Projekt Wildt 2007a. Einen guten Überblick über den Ansatz des Forschungsverbundes geben zwei Sammelbände: Reeken, Thießen 2013a sowie Schmiechen-Ackermann, Buchholz, Roitsch, Schröder 2018.

Brach liegende Felder? Der Forschungsstand zu ländlichen Gesellschaften in der Moderne

„Volksgemeinschafts“-Projekts fragt nun aber nicht mehr nach dem Spezifischen bestimmter Regionen (wie etwa Bayern), sondern nimmt unterschiedliche soziale Nahräume – vom Dorf über die Stadt bis hin zum Betrieb – in den Blick: „Gemeinsam ist diesen Räumen, […] dass die Interaktionen und Kommunikationen der Menschen im sozialen Nahbereich konkret fassbar sind, dass Zugehörigkeiten hier genauso verhandelt und gelebt werden wie Grenzziehungen und Ausgrenzungen, dass in der Sprache der Volksgemeinschaftsforschung also In- und Exklusionen und ihre alltäglichen Begegnungen greifbar werden.“70 Clemens Zimmermann beschließt seinen Forschungsüberblick zur Geschichte des Dorfs in der NS-Zeit mit der Aussage, dass die isolierte Betrachtung der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft für den ländlichen Raum deshalb sinnvoll sei, weil in vorher nicht bekanntem Ausmaß Kräfte von außen in die ländlichen Gesellschaften eindrangen und diese umstrukturierten.71 Ich gehe in meiner Untersuchung genau den umgekehrten Weg. Allen Besonderheiten und Extremen der nationalsozialistischen Zeit im Dorf zum Trotz müssen gerade die längerfristigen Transformationen in den Blick genommen werden. Nur so können auch die Besonderheiten, vor allem die Beschleunigungen bestimmter Prozesse während des Nationalsozialismus, sichtbar gemacht werden. 1.2.4

Bilanz und erste Thesen

Abschließend möchte ich vier Punkte festhalten: Erstens unterscheiden sich die Forschungen zum 19. und zum frühen 20. Jahrhundert recht stark. Während für die Geschichte des 19. Jahrhunderts die Fragen der Durchstaatlichung und des Bürokratie- und Staatsausbaus dominieren, gibt es für das 20. Jahrhundert mehr Untersuchungen zu klassischen Themen der Politisierungsforschung und der politischen Herrschaft. Die vorgestellten Studien befassen sich mit politischen Mentalitäten, mit Massenorganisationen und diktatorischer Politik. Dadurch wirken die beiden Jahrhunderte unterschiedlicher, als sie waren; die Scharnierfunktion der langen Jahrhundertwende wird für die (politische) Geschichte des ländlichen Raumes noch zu wenig beachtet. Aufgrund der vermeintlichen Traditionalität des ländlichen Raums neigt die Forschung dazu, für das 19. Jahrhundert Interpretationen aus der Geschichte der Frühen Neuzeit fortzuschreiben, während die Zeitgeschichte den ländlichen Raum vor allem unter der Perspektive der mangelnden Demokratiefähigkeit betrachtet. Demgegenüber ziehe ich die neueren Überlegungen zur modernen Staatlichkeit in das frühe 20. Jahrhundert hinein und übertrage die

70 Reeken, Thießen 2013b, S. 18. 71 Zimmermann 2006, S. 254.

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Prozesse der „Durchstaatlichung“ und den Fokus auf staatliche Praktiken auch auf die ländliche Politik im Zeitalter der klassischen Moderne.72 Zweitens wird der ländliche Raum häufig als Container verstanden: Was ländlicher Raum eigentlich ist, wie er hergestellt, interpretiert und dargestellt wird, steht in der historischen Forschung nicht zur Debatte. Vielmehr wird für die Studien vorausgesetzt, dass der ländliche Raum als solcher existiere und dass in diesem Raum bestimmte Zusammenhänge anders zu interpretieren seien als in anderen Räumen. Dabei wird nicht diskutiert, welche Charakteristika die ländlichen Räume ausmachen, wie sich diese über die Zeit wandelten, geschweige denn, inwiefern sie selbst historisch gemacht sind. Insofern könnte man, in Anlehnung an Keith Hoggart, auch für die historische Forschung fordern: „Let’s do away with rural!“73 Ich gehe allerdings den umgekehrten Weg und mache das „Ländliche“ des ländlichen Raums zum Untersuchungsgegenstand, frage also danach, wie die Ländlichkeit des hier untersuchten Raums hergestellt wurde und in welchem Zusammenhang sie mit bestimmten politischen Praktiken stand. Im Verlauf der Arbeit wird sich nämlich immer mehr zeigen, dass der ländliche Raum durch die Akteur:innen selbst mit hervorgebracht wurde. „Land“ war kein Container, innerhalb dessen möglicherweise spezifische Regierungsweisen beobachtet werden können. Ländlichkeit wurde vielmehr durch diese Praktiken des Regierens geschaffen und verändert, strukturiert und infrage gestellt. Der politisch aufgeladene Gegensatz zwischen Stadt und Land einerseits, zwischen lokaler ländlicher Gesellschaft und einer vielfach nur imaginierten Gesamtgesellschaft andererseits waren zentrale Effekte des Regierens im ländlichen Raum. Drittens ist die Einordnung der ländlichen Gesellschaft zwischen den Polen Tradition und Moderne, auch wenn es nicht immer explizit gemacht wird, ein wichtiger Fluchtpunkt vieler Untersuchungen zur Geschichte des ländlichen Raums im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei hat Patrick Wagner etwa für die Machtverhältnisse auf dem preußischen Land festgestellt, dass der Anschein einer traditionalen Ordnung nur deshalb erhalten bleiben konnte, weil die ländlichen Machtverhältnisse sich stark an die neuen staatlichen Gegebenheiten anpassten.74 Vor diesem Hintergrund wäre es nicht weiterführend, erneut eine Antwort auf die Frage zu suchen, wie „modern“ oder „rückständig“ die von mir untersuchten ländlichen Gesellschaften waren. Mein Ansatz ist vielmehr, die enge Verbindung zwischen den zeitgenössischen Wahrnehmungen und Regierungsweisen ländlicher Räume mit der Zuschreibung von Traditionalität zusammenzudenken. Damit kann ich zeigen, 72 Einen ersten ähnlichen Versuch unternimmt ein Sammelband, der aber wiederum nur die Zwischenkriegszeit in den Blick nimmt und sehr unterschiedliche europäische Regionalstudien versammelt: Ribi Forclaz, Grift 2017. 73 Hoggart 1990. 74 Wagner 2005, S. 570.

Methodik: Mikrogeschichte und Makrogeschichte in drei Dörfern

dass Tradition genauso hergestellt wurde wie Ländlichkeit. Das geschah beispielsweise im Kontext der spezifisch modernen Agrarromantik, aber auch jenseits von solchen zivilisationskritischen Diskursen. Ich nehme die Praktiken und Sprechweisen in den Blick, die den ländlichen Raum als traditionell charakterisierten, und damit auch jene Vorgänge, die vorhandene Sozialstrukturen und Kulturmuster mit oft großem Aufwand in der Praxis aufrechterhielten. Viertens spreche ich viele Aspekte, die für die Gesellschaftsgeschichte des ländlichen Raums relevant sind, nur am Rande an. Das betrifft die ökonomischen und betrieblichen Veränderungen der Agrarwirtschaft ebenso wie die Veränderungen der Geschlechterverhältnisse und Familienstrukturen oder die Geschichte der Religion und der Religiosität. Diese und weitere Aspekte des Lebens auf dem Lande werden in dieser Studie nur indirekt eine Rolle spielen, nämlich dann, wenn sie aus der Perspektive der Landgemeinde und des ländlichen Regierens in den Blick kommen. Dieses Buch kann und will keine histoire totale des ländlichen Raums in der Moderne sein, sondern versteht sich komplementär zu anderen wichtigen Studien, etwa zur zentralen Bedeutung der katholischen Frömmigkeit in der Moderne oder der familialen Reproduktion im Dorf.75 Indem ich die Regierung im ländlichen Raum und des ländlichen Raums zum Fluchtpunkt meiner Untersuchung wähle, ergänze ich diese Forschungen, erweitere aber auch die Vorstellungen von ländlichen Gesellschaften, die bis heute oftmals als politikfern und unpolitisch gelten. Zudem integriere ich die Perspektiven auf das 19. und das 20. Jahrhundert, die sich recht deutlich voneinander unterscheiden, in eine Analyse der Moderne im ländlichen Raum. Dazu ist es hilfreich, die Spannung zwischen Tradition und Moderne nicht a priori zu setzen, sondern auf die Ebene der Zeitgenoss:innen zu verlagern. Daher ziehe ich die Spezifika des ländlichen Raums nicht als Erklärung für meine Beobachtungen heran, sondern historisiere sie.

1.3

Methodik: Mikrogeschichte und Makrogeschichte in drei Dörfern

Drei Fallstudien zu lokalen ländlichen Gesellschaften ermöglichen eine Untersuchung der Prozesse, in denen sich soziale Beziehungen organisatorisch und institutionell verfestigten und verflüssigten.76 Vor allem die Landgemeinde rückt dabei in den Fokus, während andere Ebenen der sozialen Beziehungen – beispielsweise Verwandtschaft, Kirchengemeinde oder Arbeitsbeziehungen – demgegenüber

75 Zur Rolle der Religion vgl. Blackbourn 1997; ders. 1988; ders. 1980; Dietrich 2004; zu Familienstrukturen vgl. Fliege 1998; Kaschuba, Lipp 1982. 76 Raphael 2001, S. 11.

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in den Hintergrund treten. Denn eine zentrale These dieser Arbeit ist, dass die Landgemeinde als zentrale Arena für das ländliche Regieren selbst ein Effekt dieses Regierens war (vgl. Kap. 3). Eine Untersuchung, die auf drei Fallstudien zu drei Dorfgemeinden mit sehr unterschiedlicher Struktur, unterschiedlicher Geschichte und unterschiedlicher Überlieferung basiert, muss sich die Frage gefallen lassen, ob ihre Ergebnisse überhaupt generalisierbar sind, eine Frage, die sich für mikrohistorische Arbeiten grundsätzlich stellt.77 Dieser Problematik ist Matthias Pohlig auf grundsätzlicher Ebene nachgegangen und hat die meist impliziten Vorannahmen über das Verhältnis zwischen generalisierbarer Aussage und individueller Fallstudie systematisiert. Während das Beispiel eine Regel veranschauliche, lasse sich ein Fall gar nicht oder nur unzureichend unter eine Regel subsummieren – eine Unterscheidung, der auch ich in dieser Studie folge.78 Meine Fallstudien sind also keine Beispiele für allgemeine historische Trends. Aber sie dienen dazu, vorläufige Thesen über allgemeinere Entwicklungen aufstellen zu können. Dabei steht ihre Individualität jedoch stärker im Vordergrund als ihre Repräsentativität, denn eine solche wäre bei historisch individuellen Einzelfällen ohnehin eine Illusion.79 Daher muss das Problem also auf andere Weise angegangen werden. Pohlig schlägt eine methodisch reflektierte, gleichwohl immer vorläufige Typenbildung vor und folgt damit Vorschlägen prominenter Mikrohistoriker wie Giovanni Levi.80 Ethnolog:innen genauso wie Historiker:innen untersuchen eben nicht Dörfer, sondern in Dörfern, um das bekannte bonmot Clifford Geertz’ zu bemühen.81 Übertragen auf meine Untersuchung bedeutet das: Nicht das einzelne Dorf selbst als Spiegel der Gesamtgesellschaft steht im Vordergrund, sondern in den einzelnen Dörfern sind Entwicklungen, Problematisierungen und Praktiken auszumachen, die als solche auch für die breitere Gesellschaft von Bedeutung sind. Sie können aber nur auf der Mikroebene sichtbar gemacht werden. Gleichzeitig unterlaufe ich die grundlegende Opposition zwischen Mikro- und Makrogeschichte, indem ich meine Fallstudien nicht auf die ausgewählten Dörfer begrenze. Sie dienen mir vielmehr als Ausgangspunkte der Analyse. Ich verstehe

77 Vgl. Levi 2001, S. 109. Allerdings betont Levi, dass gerade die Mikrogeschichte wenig theoretische Reflexion hervorgebracht habe, da es sich stärker um einen geschichtswissenschaftlichen Praxistyp als um eine theoretische Richtung handle. Ebd., S. 93. 78 Pohlig 2013, S. 310. 79 Anders Raphael 1999a, S. 17 f. 80 Levi 1998. 81 Es ist ein bonmot, das in aller Regel ohne Literaturnachweis zitiert wird und in lokalgeschichtlich angelegten Untersuchungen immer wieder zum Einsatz kommt. Popularisiert vor allem über Giovanni Levi, handelt es sich um eine Übernahme aus dem (zumindest von Historiker:innen) wohl meistgelesenen Text des Ethnologen Geertz 1987, S. 32.

Methodik: Mikrogeschichte und Makrogeschichte in drei Dörfern

die Landgemeinden nicht als fest umrissene Objekte, sondern als Verdichtungen von Entwicklungen, die außerhalb der Gemeinde weiterverfolgt werden müssen – in anderen Gemeinden, in Parlamenten, Expertendiskursen oder Behörden.82 Ich begreife nicht den Staat als Allgemeines, dessen kleinster Bestandteil ein Dorf wäre. Staatliche und dörfliche Entwicklungen oder Untersuchungsgegenstände unterscheiden sich zunächst nicht substantiell voneinander, denn bei beiden handelt es sich um konkrete Zusammenhänge, die als Praktiken untersucht werden müssen.83 Sie differieren vielmehr, mit Bruno Latour gesprochen, im Grad ihrer Vernetzung: Das Makro beschreibt nicht länger eine umfassendere oder ausgedehntere Stätte, in der das Mikro wie eine Russische Puppe eingebettet ist, sondern einen anderen, gleichfalls lokalen, gleichfalls Mikro-Ort, der mit vielen anderen durch irgendein Medium verbunden ist, das spezifische Typen von Spuren transportiert. Von keinem Ort kann es heißen, er sei größer als alle anderen, aber von einigen läßt sich sagen, daß sie von weitaus sichereren Verbindungen mit sehr viel mehr Orten profitieren als andere.84

Heruntergebrochen auf meine Untersuchung bedeutet das, dass die vermeintliche Makro-Ebene (z. B. „Staat“) nicht wirklich das Allgemeine beschreibt. Sie ist vielmehr aus vielen „Mikro-Orten“ zusammengesetzt, aus den Abteilungen in den Ministerien, den Ausschüssen der Parlamente, einzelnen Regierungsmitglieder etc. Diese waren besonders gut vernetzte Knotenpunkte im großen Netz. Was dort passierte, wirkte auf besonders viele andere Mikro-Orte ein. Dass Entscheidungen einer einzelnen Gemeindeverwaltung keinen vergleichbar großen Einfluss hatten, lag daran, dass sie mit viel weniger anderen Orten direkt verknüpft war. Mit diesem Bild vor Augen können die Verbindungen zwischen dörflichen und staatlichen Stellen, zwischen lokalen ländlichen Gesellschaften und der einflussreichen Vorstellung der nationalen Gesellschaft verfolgt und in ihrer historischen Dynamik untersucht werden. 1.3.1

Die Auswahl der Untersuchungsgemeinden

Die drei untersuchten Gemeinden, in denen bereits die Miniaturen zu Beginn der Einleitung spielten, liegen in drei sehr unterschiedlichen Regionen. Bayern und Preußen sind häufig Gegenstand kontrastierender Untersuchungen gewe-

82 So formulieren es auch Langthaler, Sieder 2000, S. 24 f. 83 Zur Praxeologie, auch in der Geschichtswissenschaft, könnte man reichlich Literatur – kritische wie affirmative – zitieren. Ich beschränke mich auf den gemäßigt kritischen Überblick von Reichardt 2007. 84 Latour 2010, S. 304 (Hervorhebungen im Original).

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sen;85 hinzu kommt das Unterelsass, das alleine aufgrund der während meines Untersuchungszeitraums mehrmals wechselnden nationalen Zugehörigkeit einen Spezialfall bildet. Doch warum diese drei Regionen? Da es sich bei meiner Untersuchung nicht um einen symmetrischen Vergleich dreier Gemeinden oder der jeweiligen Regionen/(Teil-)Staaten handelt, habe ich die Untersuchungsfälle so gewählt, dass sie eine große Bandbreite unterschiedlicher Einflüsse und institutioneller Settings abbilden, um unterschiedliche Regierungspraktiken sichtbar zu machen. Sie weisen jedoch auch strukturelle Gemeinsamkeiten auf. Alle drei Gemeinden waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts bäuerliche Gemeinden – im Gegensatz zu Industriedörfern beispielsweise. Um 1900 lebten in allen drei Gemeinden etwa 500 bis 1000 Personen. Zudem handelte es sich um weitgehend monokonfessionelle Gemeinden, sodass Konflikte und Kooperationen zwischen den Konfessionen bzw. Pfarrgemeinden die Komplexität der Fallstudien nicht weiter verstärkten. Diese wenigen strukturellen Gemeinsamkeiten, zusammen mit einer zumindest brauchbaren Überlieferungslage, waren die wichtigsten Auswahlkriterien für die Fallstudien. Die drei Gemeinden bekamen zu unterschiedlichen Zeitpunkten institutionelle Formen der lokalen (Selbst-)Verwaltung. In Wolxheim galt ab 1789 die revolutionäre Gemeindeordnung mit weitgehenden Autonomierechten der Gemeinden, die allerdings bald zugunsten des Zentralismus wieder eingeschränkt wurden. Erst ab 1870 erhielten die französischen Gemeinden wieder größere Freiheiten, die elsässischen allerdings erst ab 1895 mit der elsass-lothringischen Gemeindeordnung. Bernried bekam 1818 mit dem revidierten bayerischen Gemeindeedikt das Recht auf Selbstverwaltung, und in Mahlow war es erst die Gemeindeordnung für die östlichen Provinzen der preußischen Monarchie, die im Jahr 1891 die Gemeinde zum Subjekt ihrer eigenen Angelegenheiten machte. Diese Unterschiede im Bereich der Selbstverwaltung und Gemeindefreiheit können auf ihre Auswirkungen auf die ländlichen Regierungstechniken geprüft werden. Zudem erlauben die drei Fallstudien, die bekannten Vorannahmen über das reaktionäre Preußen, das konservative Bayern und das durch jahrhundertelange Gemeindefreiheiten geprägte Elsass86 einer kritischen Durchmusterung zu unterziehen. Hatten sie Auswirkungen für das späte 19. und das frühe 20. Jahrhundert, und wenn ja, welche? Verwischten die Differenzen, oder blieben sie wirksam? Insofern werden die Fallstudien auch auf institutionelle Unterschiede abgeklopft, welche selbst zum Gegenstand der

85 Vgl. etwa für die Reformen im frühen 19. Jahrhundert: Nolte 1990; für die politische Kultur und Herrschaftspraxis im 19. Jahrhundert Krauss 1997; für den Kulturkampf Becker 2010; zum Staatsbürgerschaftsrecht im 20. Jahrhundert Sammartino 2008 u. v. a. m. 86 In engem nicht nur regionalem, sondern auch historischem Zusammenhang steht damit der deutsche Südwesten, der als Hort der Gemeindefreiheiten und des lokalen Republikanismus gilt. Vgl. Nolte 1994; Zimmermann 1983.

Methodik: Mikrogeschichte und Makrogeschichte in drei Dörfern

Analyse gemacht werden. Eine besondere Stellung hat die Fallstudie Wolxheim. Als elsässische Gemeinde weist sie neben vielen anderen lokalen Charakteristika vor allem das Spezifikum auf, dass sie während des Untersuchungszeitraums vier Mal die nationale Zugehörigkeit wechselte. Welche Auswirkungen hatten diese vielen politischen Diskontinuitäten auf die Regierung des ländlichen Raums? Die Geschichte des Elsass ist häufig aus der Perspektive der Integration in die beiden konkurrierenden Nationalstaaten erzählt worden. Doch dieser Grenzraum war auch immer ein Raum engster Verflechtungen,87 der das Elsass auch für diese Studie besonders interessant macht.88 Hier kann genau beobachtet werden, welche Rolle nationale Zugehörigkeiten, aber auch regionale politische Identitäten für den Wandel des Regierens im ländlichen Raum spielte; gleichwohl ist damit ein Vergleichsfall gewählt, der von den beiden anderen Fallstudien aufgrund dieser Spezifik stark abweicht. Die Asymmetrie in national-politischer Hinsicht ist gewollt und wird reflektiert. Im nächsten Kapitel werden die drei Untersuchungsgemeinden genauer vorgestellt. Damit bildet das Kapitel 2 den Auftakt für die Untersuchung, indem die Koordinaten des ländlichen Europa um 1850 insgesamt, aber auch die besonderen Voraussetzungen jeder einzelnen Gemeinde, genauer durchmustert werden. 1.3.2

Quellen

Gemeinsam ist den drei Untersuchungsgemeinden, dass es eine ausreichend stabile gemeindliche Überlieferung gibt, auf deren Grundlage eine solche Untersuchung überhaupt durchgeführt werden kann. Dazu gehören in erster Linie die Protokolle der Gemeindevertretungen, die über die Felder und Modi der gemeindlichen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Problemlagen Auskunft geben können. In Bernried und Wolxheim ist diese Überlieferung sehr gut, für Mahlow zufriedenstellend.89 Die Gemeinderatsprotokolle gewinnen enorm an Aussagekraft, indem sie nicht als einzelne, sondern als serielle Quellen analysiert werden.

87 Vgl. Ara, Kolb 1998; Rauh-Kühne 2001; Windler 2002. 88 Die Forschung ist kaum zu überschauen; beispielhaft für die Wahlforschung im Reichsland ElsassLothringen: Hiery 1986; zur Verfassungsgeschichte des Reichslands Preibusch 2006; zur politischen Kultur Riederer 2004; zur Geschichte der Wiedervereinigung mit Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem aus verwaltungshistorischer Perspektive: Fisch 1997a. Den Verflechtungsaspekt hebt besonders hervor Carrol 2018. 89 Gerade für die Zeit kurz vor und während des Ersten Weltkriegs fehlen für Mahlow die Protokolle der Gemeindevertretung. Diese Lücke kann aber über die Überlieferung der Nachbargemeinde Glasow, die 1945 mit Mahlow zusammengelegt wurde, zumindest rudimentär geschlossen werden.

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Allerdings müssen andere Quellen dazukommen.90 Auch die sonstige Aktenführung der Landgemeinden war – gemessen an staatlichen Behörden – in den meisten Fällen lückenhaft, häufig extrem nachlässig. Glücklicherweise sind die Lücken für jede Gemeinde andere. Während ich für Wolxheim eine gute Überlieferung der Protokolle des Gemeinderats und der gemeindlichen Haushaltsunterlagen habe, bietet die Mahlower Überlieferung viel Material über Konfliktfelder im 20. Jahrhundert, und das Bernrieder Gemeindearchiv verfügt beispielsweise über eine ausführliche Pressedokumentation. Die drei Untersuchungsgemeinden bieten zudem unterschiedliche Problemfälle, die als Fallstudien für die folgende Analyse dienen, ohne dass es jeweils Entsprechendes auch für die anderen Gemeinden zu berichten gibt. Die Unterlagen der Aufsichtsbehörden ergänzen das Bild, auch wenn sie gerade im 19. Jahrhundert durch eine spezifisch bürokratische Perspektive auf die landgemeindlichen Verwalter geprägt sind, die reflektiert werden muss. Für die Geschichte des ländlichen Regierens auf unterschiedlichen Ebenen ist es oft hilfreich, von gut dokumentierten Einzelfällen auszugehen, um bestimmte Problemlagen exemplarisch zu entfalten. Dafür habe ich auch auf eine Vielzahl anderer Quellen zurückgreifen können. Dazu gehörte die parlamentarische Überlieferung für die Frage der Landgemeindereformen ebenso wie zeitgenössische Publizistik zur Landgemeindeverwaltung. Besonders instruktiv waren zeitgenössische Ratgeber für Bürgermeister und Gemeindevorsteher, die aus der Perspektive städtischer Verwaltungsfachleute die Regierungsprobleme des ländlichen Raums praxisbezogen zu erläutern versuchten.91 Insgesamt ist die Quellenbasis dieser Arbeit vielfältig und fragmentarisch. Das bedeutet aber nicht, dass keine Schlussfolgerungen möglich sind. Ich werde vielmehr in dieser Arbeit immer wieder diskutieren, welche Schlüsse ich aufgrund des mir vorliegenden Materials ziehen kann – und welche auch nicht. Gerade Lücken in der Überlieferung sind oft höchst aufschlussreich. Meistens ergeben sich die Ergebnisse aus der Konfrontation vieler Quellenschnipsel mit methodischen Überlegungen und Forschungsperspektiven. Selbst in Untersuchungen, die auf einer soliden und gut erhaltenen Quellenbasis stehen, sprudeln die Quellen nicht für sich, sondern müssen mehr oder weniger mühevoll zum Sprechen gebracht werden. Diesen Prozess der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis am Einzelfall sichtbar zu machen, ist ein weiteres Ziel dieser Arbeit.

90 Gemeinden mit besonders guter Quellenüberlieferung sind oft Gegenstand von Untersuchungen geworden, so etwa das deshalb so berühmte Kiebingen: Vgl. Jeggle 1977; Ilien, Jeggle 1978; Kaschuba, Lipp 1982. 91 Genauere Diskussionen der jeweils spezifischen Quellenlage für die thematisch sehr unterschiedlichen Kapitel finden sich dort.

Vorgehen

1.4

Vorgehen

Die Geschichte des ländlichen Regierens kann nicht in einer starren Chronologie erzählt werden. Vielmehr ist ein Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit dem Gegenstand dieser Arbeit, dass sich das Regieren in mehreren Schüben veränderte, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Daher verliefen diese Entwicklungen nicht nach-, sondern schoben sich übereinander. Ich gliedere demnach meine Arbeit in drei chronologische Blöcke, innerhalb derer ich jeweils unterschiedlichen Themensträngen nachgehe. Die chronologischen Blöcke überlappen sich sehr stark, sodass die Veränderungen des Regierens in einen Bereich mit Veränderungen im anderen interagierten, sich verflochten und damit die eigenwillige Dynamik des ländlichen Regierens ergaben. Die jeweils für sich kontingenten Prozesse verbanden sich so miteinander zu größeren Entwicklungssträngen, verstärkten sich gegenseitig und flauten auch wieder ab. So haben wir es in der Geschichte des ländlichen Regierens nicht mit einer gleichmäßigen Dynamik zu tun, sondern mit vielen Veränderungsschüben, die jeweils einzeln analysiert, aber nur gemeinsam und in ihrer Wechselwirkung verstanden werden können. Ich beginne zunächst mit einem knappen Kapitel, das als Präludium für die Untersuchung dient. In Kapitel 2 stelle ich die gewählten Untersuchungsgemeinden ausführlicher vor, erläutere ihre Grundvoraussetzungen und ordne sie in die Situation des ländlichen Raums um 1850 ein. Anschließend schlage ich drei sich überlappende Zeitschichten vor, die sich als Abschnitte meiner Arbeit realisieren. Das sind erstens die Zeit der Gouvernementalisierung der Gemeinden (1850–1900), zweitens „rural modern“ als die Ausprägungsphase der ländlichen Moderne (1875–1925) und drittens Zäsuren, Krisen und Konflikte (1900–1945). In jedem dieser Großkapitel blicke ich etwas anders auf die untersuchten Gegenstände. Der erste Block befasst sich vor allem mit den Wandlungen von Staatlichkeit – nicht nur auf der Ebene von Verwaltungsstrukturen, sondern gerade in Bezug auf die Praxis des ländlichen Regierens. Der zweite zeitliche Block, „rural modern“, nimmt maßgebliche Wandlungen in den Blick, die vor allem mit lokalen Aneignungen von zeitgenössischen Konzepten zu tun haben. Hier zeigt sich, wie Vorstellungen von Zugehörigkeit oder Ländlichkeit oder neue Anforderungen an die Modernität von Gemeinden sich im Lokalen konkretisierten. Im dritten Großkapitel treten Konflikte – innerhalb der Dörfer, aber auch in den untersuchten Gesellschaften insgesamt – stärker in den Vordergrund. Sie beeinflussten, wie vor Ort regiert wurde. Alle drei Kapitel thematisieren immer wieder das Ineinandergreifen von lokaler Ordnung und überregionaler Regierung.

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Einleitung

Die Abfolge von sich überlagernden Zeitschichten92 ergibt eine dynamische Erzählstruktur, und sie ermöglicht jeweils eigene thematische Schwerpunkte. Die drei Schichten waren aber stark miteinander verflochten. Die Gouvernementalisierung der Gemeinden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts prägte den Umgang mit der Neuordnung des ländlichen Raums durch Tourismus, Pflege einer ländlichen Kultur oder Verschiebung lokaler Rechte ebenso wie den Umgang mit Konflikten. Die Schaffung der spezifischen Ländlichkeit hatte andererseits Einfluss darauf, wie Konflikte innerhalb des Dorfes und über die Grenzen der Gemeinde hinweg ausgetragen wurden. Der mittlere dieser drei Zeiträume stellt das Gravitationsfeld der Geschichte des ländlichen Regierens in der Hochmoderne dar. Während der ersten Phase bahnten sich die Mechanismen des landgemeindlichen Regierens ihren Weg, wodurch sich die Landgemeinden als Arenen der Regierung im ländlichen Raum herausbildeten. In der letzten Phase wuchs die Interdependenz von lokalen und überlokalen Konfliktlagen, die gravierende Auswirkungen auf das landgemeindliche Regieren hatten. Die für die Geschichte des ländlichen Regierens so wichtige Selbstdynamisierung und Selbstregierung aber ist in der mittleren Phase anzusiedeln. Damit betone ich die zentrale Bedeutung der erweiterten Jahrhundertwende auch für die Geschichte des ländlichen Raums.

92 Zur Idee der Zeitschichten vgl. Koselleck 2000b, der mit der Metapher aus der Geologie versucht, „verschiedene zeitliche Ebenen analytisch zu trennen, auf denen sich die Personen bewegen, Ereignisse abwickeln oder deren längerwährende Voraussetzungen erfragt werden.“ Für die Zeitgeschichte hat vor allem Doering-Manteuffel (2009) auf das Konzept zurückgegriffen.

2.

Auftakt

2.1

Drei Karten, drei Dörfer

Drei Karten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts führen uns näher an die drei Untersuchungsdörfer. Karten sind uns heute sehr vertraut, sie verschaffen uns einen Überblick. Schnell können wir Ausdehnung, Form, Größe und andere Spezifika einer Siedlung oder eines Territoriums erfassen. Leicht vergessen wir dabei, dass Karten ein modernes Medium sind, insbesondere dann, wenn wir über solche Karten wie hier sprechen, die nicht militärischen Zwecken oder der Herrschaftssicherung und -veranschaulichung dienten.1 Karten von kleinen Dörfern, vom ländlichen Raum, stammen in der Regel erst aus dem 19. Jahrhundert. Denn nun wurde es zunehmend bedeutsam, wem welches Land gehörte und welches Land zu welchem Gemeindebezirk zählte. Oder genauer: Diese Informationen waren auch in den Jahrhunderten zuvor für den Alltag in den Dörfern und die lokale Herrschaft wichtig gewesen. Aber erst jetzt wollte der Staat genau wissen, wie es um die Besitzverhältnisse und die Zugehörigkeiten bestellt war, und suchte nach Techniken, um dieses Wissen zu erheben und festzuhalten. So sollte das Privateigentum an Grund und Boden kodifiziert werden, was mit den spätaufklärerischen Agrarreformen in immer mehr Territorien relevant wurde; der sich herausbildende Steuerstaat brauchte diese Informationen für die Vereinheitlichung von Abgabesystemen; und schlussendlich galt es nun, ab 1800 mit erheblicher zeitlicher Spreizung, den Staat planmäßig von oben nach unten oder unten nach oben aufzubauen, wodurch die Gemeinden zu Staatsbezirken gemacht und in eine territoriale Ordnung eingefügt wurden.2 Alleine das Vorhandensein der Karten, die hier abgedruckt sind, verweist also auf ein neues Verständnis von Territorium, Gemeinde und Staat, das die Grundvoraussetzungen für das Regieren des ländlichen Raums bildete, das ich im Folgenden untersuchen werde. In den drei Territorien, um die es im Folgenden gehen wird – in den Königreichen Bayern und Preußen sowie im Départment Bas-Rhin – wurde die Kartierung des lokalen Raums zu recht unterschiedlichen Zeitpunkten voran-

1 Vgl. Schneider 2012. 2 Zu all diesen Feldern gibt es umfassende Literatur. Ausgehend von einer Tagung zur Technik der Kataster, die im November 2021 am Historischen Kolleg in München stattfand, habe ich mich näher mit dieser Frage auseinandergesetzt; vgl. Schlimm 2023. Zu den größeren Zusammenhängen vgl. Blaufarb 2016; Gugerli, Speich Chassé 2002; Maier 2016; Pistor 2020; Sassen 2008.

44

Auftakt

getrieben. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war zumindest die Erstaufnahme abgeschlossen. 2.1.1

Bernried

Das Bernrieder Ortsblatt stammt aus der Landesaufnahme Bayerns im 19. Jahrhundert. Während manche bayerischen Regionen erst in der zweiten Jahrhunderthälfte fertig vermessen waren, war Oberbayern (damals noch der Isarkreis) früh dabei. Bereits 1810 war Bernried fertig kartiert, alle Grundstücke erfasst und mit ihren Besitzer:innen im Grundbuch festgehalten; im Jahr 1861 wurde eine Renovationsmessung durchgeführt. Das Ortsblatt zeigt den kleinen Ort am Westufer des Starnberger Sees.

Abb. 1 Bernried 1861.

Drei Karten, drei Dörfer

Der Dorfkern besteht aus einer Vielzahl von kleinen und mittleren Grundstücken, ein verhältnismäßig dichtes Dorf also, in dem sich kleine Häuser mit Hausgärten gruppierten. Zwei Besitzungen stechen heraus: Die Nummern 44 bis 46, im Südosten des Dorfes gelegen, bezeichnen das ehemalige Kloster. Im Jahr 1803 war das Augustiner-Chorherrenstift säkularisiert worden. Die Bernrieder, die bislang auch herrschaftsmäßig zu dieser Hofmark gehört hatten, wurden nun staatsunmittelbare Untertanen. Das Klostergebäude wurde verkauft und als repräsentativer Wohnsitz für wechselnde Familien genutzt. Im Untersuchungszeitraum spielte die Familie von Wendland eine wichtige Rolle im Dorf; August von Wendland, ein Jugendfreund und Kammerherr des bayerischen Königs Maximilian II., hatte das „Schloss“, wie es nun hieß, samt großer Ländereien im Jahr 1852 gekauft. Auch das ehemalige Klostergut, die Nummer 42 im Ortsblatt, gehörte ab diesem Zeitraum der Familie von Wendland, die hier eine Rinderzucht betrieb. Zum Gut gehörte auch eine Brauerei, die allerdings noch vor dem Ersten Weltkrieg ihr Braurecht verlor. Die von Wendlands waren es auch, die den Besitz von Schloss und Klostergut zum Großgrundbesitz ausbauten und einen großzügigen Park anlegen ließen.3 Und August von Wendland sorgte offenbar dafür, dass Bernried einen Haltepunkt der Eisenbahn bekam – seit 1865 war Bernried daher per Schiene zu erreichen, was zur Attraktivität des Ortes als Sommerfrische im späten 19. Jahrhundert beitrug. Die Familie von Wendland spielte also für die Entwicklung des Dorfes, aber auch für das Alltagsleben als Arbeit- und zum Teil wohl auch Kreditgeber eine große Rolle im Dorf. Sie prägte die Gemeinde in viel stärkerem Maße als die wenigen anderen Gutsbesitzer auf der Bernrieder Flur. Das gilt, wenn auch in anderer Ausprägung, ebenso für die schillernde Persönlichkeit, die den Besitz der von Wendlands kaufte – stückweise ab etwa dem Ersten Weltkrieg. Die amerikanische Erbin Wilhelmina Busch lebte ab 1914 mit wechselnden Ehemännern in Bernried. Zum Bernrieder Gemeindegebiet gehörten neben dem Dorf noch ein paar kleinere Wohnplätze. Adelsried, Höhenried und Hapberg waren große Bauernhöfe bzw. Güter, die im 19. Jahrhundert mehrfach die Besitzer wechselten, die aber bei der Regierung des Dorfes keine große Rolle spielten. Dazu kamen noch zwei sehr arme Wohnplätze: Karra und Gallafilz, beide im Moos gelegen. Sie stammten aus der Kolonisation des Mooses westlich des Starnberger Sees im 18. Jahrhundert;4 bewohnt wurden sie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem von armen Familien und Torfstechern.5 Es gab eine eigene Stiftung, die von der Gemeinde verwaltet wurde, 3 Vgl. Scherbaum [1982b], S. 21. 4 Vgl. Warmuth 1908. 5 Um 1950 hatte Karra immerhin rund 50 Einwohner:innen; seit den 1970er Jahren sind nur noch einzelne Bewohner:innen nachgewiesen. Vgl. Karra, https://www.bavarikon.de/object/odb:BSBODB_S00021495?lang=de [16.2.2023].

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und deren Erträge für Schuhe und Schulbücher der armen Schüler:innen aus diesen Orten verwendet werden sollten, damit sie überhaupt die Schule besuchen konnten. Bernried war also eine stark auf das Dorf ausgerichtete Gemeinde. Dort lag der Schwerpunkt der Bevölkerung (im Jahr 1904 knapp 73 Prozent), dort waren die zentralen gemeindlichen Infrastrukturen (Gemeindeverwaltung, Kirche und Schule, darüber hinaus Post, Bahnhof und Dampfschiffstation). Die übrigen Weiler und Wohnplätze waren zum Teil weit vom Dorf entfernt, Karra und Gallafilz beinahe vier Kilometer.6 Das Dorf Bernried war ökonomisch durch die Geschichte als Klosterhofmark geprägt. Dominiert durch das klösterliche Gut hatten sich lediglich kleine bäuerliche Betriebe in Bernried entwickelt. Maßgeblichen Gemeindebesitz oder Gemeinderechte gab es nicht – nicht einmal die Fischerei im Starnberger See, die offenbar im Mittelalter noch ein Allmendrecht gewesen war, konnte frei von den Bernrieder:innen betrieben werden. Seit 1500 mussten die Fischer, von denen es in Bernried einige gab, Abgaben für ihre Netze an den Landesherrn zahlen.7 Insgesamt dürften die Bewohner:innen Bernrieds in der Frühen Neuzeit eher arme Leute gewesen sein, abgesehen von den Augustiner Chorherren und den Gutsbesitzern außerhalb des Dorfes. Im Jahr 1685 brannte das Dorf weitgehend ab und musste neu aufgebaut werden. Aus dieser Zeit stammen die Holzhäuser, die zum Teil bis heute das Dorfbild prägen. Auch nach dem Brand blieben die Existenzbedingungen für die meisten Bernrieder:innen schwierig. Scherbaum schreibt von Mischformen: So mancher Fischer, berichtet sie, habe nebenher nicht nur eine kleine Landwirtschaft mit ein bisschen Vieh betrieben, sondern auch noch ein Handwerk ausgeübt, um irgendwie über die Runden zu kommen.8 Diese Praktiken waren nicht selten, zeugen aber von der prekären ökonomischen Situation der meisten Bernrieder:innen. Der Historische Atlas von Bayern dokumentiert die Größe der Güter für das Landgericht Weilheim auf der Grundlage der Güterkonskription des Jahres 1752. Das Dorf Bernried umfasste damals 38 Güter, davon galten 32 als 1/16-Stellen, weitere sechs als 1/32-Stellen. Nimmt man an, dass eine Vollstelle ca. 120 bis 180 Tagwerk umfasste, lagen die Besitzgrößen der Dörfler:innen zwischen 1,6 und 3,2 Hektar. Es handelte sich also um kleinbäuerlichen Besitz. Anderes galt für die anderen Ortsteile von Bernried, für Hapberg (3 Viertelstellen), Höhenried (eine Viertelstelle), Karra mit einer halben und einer Viertelstelle, Sägmühl mit einer halben Stelle und Unterholz mit zwei Viertelstellen. Auch diese Besitzgrößen

6 Ortschaften-Verzeichnis 1904, S. 352 f. In den früheren Gemeindeverzeichnissen sind die einzelnen Wohnplätze nicht differenziert. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die größten Wohnplätze jenseits des Dorfes Karra mit 46, Hapberg mit 31 und Unterholz mit 26 Einwohner:innen. 7 Scherbaum [1982b], S. 9. 8 Ebd., S. 14.

Drei Karten, drei Dörfer

waren nicht riesig, aber doch eher dazu geeignet, Familien zu ernähren.9 Für ein großes Bevölkerungswachstum gab es aber keine Spielräume. Tabelle 1 Einwohner:innenentwicklung Bernried Jahr 1840 1871 1900 1925 1939 1950 2010

Einwohner:innen 349 468 540 599 514 1011 2232

Die Säkularisation des Klosters bedeutete erstmal keine Freiheit für die Bernrieder:innen, sondern neue Unsicherheiten, da das Kloster als Beschäftigungsort und auch Wohltäter wegfiel. Auch für die Kirchengemeinde gab es Umstellungen: Die Kirche des Klosters wurde nun zur Pfarrkirche; die bisherige Kirche der Grundhörigen der Hofmark blieb zunächst sich selbst überlassen, sollte dann abgerissen werden und wurde 1830 von der Gemeinde als Rettungsaktion gekauft.10 Trotz der ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen für die Bernrieder Bevölkerung agierte die Gemeinde, gut zehn Jahre nach der Einführung der kommunalen Selbstverwaltung, als eigenständige Akteurin. Auch in den folgenden Kapiteln wird deutlich, dass die Gemeinde, die von den landwirtschaftlich oder handwerklich tätigen Bewohnern des Ortes getragen wurde, gemeinsam zu handeln in der Lage war. Außen vor blieben aber, neben den allermeisten Frauen, die Tagelöhner und ähnliche, noch prekärere Existenzen. 2.1.2

Mahlow

Die Karte von Mahlow stammt aus dem Jahr 1831, aus der preußischen Landesaufnahme, die im Jahr 1822 begann und die Grundlage für die topographische Kartographie des Königreichs bilden sollte. Mahlow wurde gemeinsam mit Lichtenrade im Norden, Blankenfelde im Süden, Diedersdorf im Westen und Glasow im (Süd-)Osten auf einem Messtischblatt kartiert. Auf dieser Karte ist Mahlow ein winziges Dorf mit wenigen Häusern, zwischen Mahlow und den umliegenden Dörfern lag lediglich Feldflur.

9 Vgl. Albrecht 1952, S. 25. Zu den Besitzgrößen vgl. Beck 2004, S. 220–224. 10 Vgl. Scherbaum 1997a, S. 5–7.

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Abb. 2 Mahlow 1831.

Mahlow gehörte zum brandenburgischen Kreis Teltow, der im 19. Jahrhundert sehr heterogen war und immer heterogener wurde. Er umfasste einen großen Bereich südlich von Berlin. Entsprechend stark war der Kreis geprägt durch das Wachstum der Stadt Berlin. Im 19. Jahrhundert gehörten die Stadt Charlottenburg und Landgemeinden wie Rixdorf (später dann: Neukölln), Schöneberg und viele andere mehr zum Landkreis Teltow, die 1920 mit der Schaffung von Groß-Berlin vom Kreis abgetrennt und der Hauptstadt zugeschlagen wurden. Einen städtischen Charakter hatten sie aber auch lange vorher schon. Nach 1920 grenzte Mahlow

Drei Karten, drei Dörfer

damit direkt an Berlin, denn die nördliche Nachbargemeinde Lichtenrade, die 1920 bereits fast 5000 Einwohner:innen zählte, wurde Teil der neuen Großstadt.11 Mahlow war Mitte des 19. Jahrhunderts ein kleines, ziemlich unbedeutendes Dorf. Bis 1875 gab es nicht nur eine Gemeinde Mahlow, sondern auch einen Gutsbezirk. Das Gut, das immerhin 447 Hektar umfasste,12 war ein in Erbpacht vergebenes Vorwerk, das dem Rentamt in Köpenick unterstand.13 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Gut immer wieder neu verpachtet.14 Dann aber wurden Gutsbezirk und Gemeinde zusammengelegt,15 woraufhin sich die Bevölkerung der Gemeinde beinahe verdoppelte.16 Allerdings ist fraglich, wie stark der Einschnitt für das Empfinden der Zeitgenoss:innen war. In Mahlow gab es nur einen Wohnplatz, sodass die dörfliche Bevölkerung mit den Gutsangehörigen gemeinsam in einem Dorfkern lebte, die Kinder gemeinsam in eine Schule gingen und alle Mahlower:innen eine Kirche besuchten – denn ausnahmslos alle Einwohner:innen waren protestantischer Konfession. Nur wenige Unterlagen erlauben einen Einblick in die sozialgeschichtlichen Entwicklungen Mahlows. Es handelte sich, das habe ich erwähnt, um ein sehr kleines Dorf. Bei der Volkszählung von 1871 wurden für die Gemeinde 15, für den Gutsbezirk 18 Familien gezählt. Nur etwas weniger als 40 Prozent der Bevölkerung waren auch in Mahlow geboren, doch Angehörige des Preußischen Staates waren sie alle. Das deutet auf die hohe regionale Mobilität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin, die ganz offenbar nicht nur eine Mobilität vom ländlichen Raum in die Stadt war (s. u., Kap. 2.2). Der Dienstregulierungsrezess vom 23. Mai 1834 führt für das Dorf fünf Bauernund zwei Kossäthenstellen auf.17 In rechtlicher Hinsicht, als Genossenschaft, bestand die Gemeinde Mahlow in den 1830er Jahren aus nur wenigen Familien

11 Vgl. Hannemann 1931. 12 Auszug aus der Mutterrolle des selbständigen Gutsbezirks Mahlow (1866); Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), 39, Kataster 4297 Gut Mahlow. 13 Vgl. Wölfle-Fischer 2011, S. 41 f. Daher lag auch die Gutsherrschaft in der Hand des Staates. Vgl. Kopie der Ablöseverhandlungen vom 30.8.1836; BLHA, 2AII D 9853. 14 Vgl. alleine die Schreiben in Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA-PK) I. HA, Rep. 77, Tit. 438, Nr. 27, Bd. 7 und 9: 1853: Badouin verkauft an Koblank; 1863: Koblank verkauft an Vetter; 1871: Vetter verkauft an Tietz. Etwas andere Jahreszahlen nennt Wölfle-Fischer 2011, S. 63. 15 Ebd. 16 Gemeinden und Gutsbezirke 1873, S. 42 f. u. 46 f. 17 Vgl. Dienstregulierungsrezess Gemeinde Mahlow vom 23.5.1834; BLHA, Rep. 37 Mahlow, 3. Dabei war offenbar die Trennung zwischen Bauer und Kossäth nicht immer ganz trennscharf. Vgl. die wechselnde Benennung von Johann Friedrich Winkelmann in: Patrimonialgericht über Mahlow, [Ladung zum Ortstermin], 20.11.1839; ebd.

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– zu den sieben landwirtschaftlichen Familien kamen die Haushalte von Pfarrer, Lehrer, Dienstmann und Müller. Doch es gehörten noch mehr Menschen ins Dorf. Im Jahr 1801 gab es zum Beispiel sechs Einlieger-, also landlose Haushalte.18 Und für das Jahr 1858 führt das Historische Ortslexikon zwar nur acht Gutsund Hofeigentümer auf – das sind das Rittergut, die fünf Bauerngüter und die zwei Kossäthen. Dazu kommen allerdings 37 Knechte und Mägde, 18 Tagelöhner, ein Nebenerwerbslandwirt, sechs Arbeiter und fünf „Bediente“ (also Hausangestellte, nicht Gesinde).19 Die Bevölkerung Mahlows war also vielfältiger, als es die rechtlichen Dokumente aus dem Kontext der Agrarreformen verraten. Viel wichtiger als die administrative Zusammenlegung von Gemeinde und Gutsbezirk war die Tatsache, dass gleichzeitig der bisherige Gutspächter zum Besitzer des Landes wurde. Denn damit begann der Gutsherr, Rittmeister Rudolf Richter, das Gutsgelände zu parzellieren und zu verkaufen – wie praktisch, dass im gleichen Jahr in Mahlow direkt zwei Bahnhöfe eröffnet worden waren, am 17. Juni 1875 der Bahnhof der Berlin-Dresdener Bahn, knapp vier Monate später, am 15. Oktober 1875, der Bahnhof der Königlich-preußischen Militäreisenbahn.20 Zufällig geschah das nicht; offenbar war der Gutsbesitzer Richter zumindest stark interessiert am Bau der Bahnhöfe. Ob er tatsächlich das Grundstück für den Bau unentgeltlich zur Verfügung gestellt hat, wie sein Sohn im Mai 1936 behauptete, ist allerdings unklar.21 Nun setzte ein enormes Bevölkerungswachstum ein, das vor allem durch Zuzug getragen war. Mahlow entwickelte sich vom kleinen landwirtschaftlich geprägten Dorf hin zu einer stark wachsenden Vorortgemeinde von Berlin. Dabei entstanden auf der Mahlower Gemarkung neue Gemeindeteile, und diese neuen Siedlungsteile unterschieden sich stark vom alten Dorf, seinen Gepflogenheiten und auch seiner Bevölkerung.22 Dadurch veränderten sich die Praktiken des Regierens in diesem Dorf. Schon in der Einleitung hat sich gezeigt, dass neue Methoden notwendig wurden, um so einfache Dinge wie den Feuerlöschdienst zu organisieren. Auch in den folgenden Kapiteln wird deutlich, welch große Rolle die Differenz zwischen altem Dorf und neuen Ortsteilen für Mahlow beim Regieren spielte. Und die Karte, die am Anfang dieser Ausführungen zu Mahlow steht, war bereits nach wenigen Jahren durch die Entwicklung des Dorfes überholt – das Mahlow der Mitte des

18 19 20 21

Vgl. Enders 1976, S. 176. Vgl. ebd. Vgl. Wölfle-Fischer 2011, S. 61. Zumal Fritz Richter in dem Schreiben, in dem er um sein Ansehen und seine finanzielle Existenz rang, die Jahreszahlen offenbar durcheinanderbrachte. Er schrieb, der Vater habe 1878 ein 80.000 qm großes Grundstück für den Bau des (zivilen?) Bahnhofs zur Verfügung gestellt. Vgl. Fritz Richter an die Provinzregierung in Potsdam, 27.5.1936; BLHA, 2a I S 360, fol. 64–69, hier: fol. 64. 22 Enders (1976, S. 174) führt im Historischen Ortslexikon für das Jahr 1950 alleine für Mahlow acht Wohnplätze neben dem alten Dorfkern auf.

Drei Karten, drei Dörfer

20. Jahrhunderts erinnerte nur noch in Ansätzen an das isoliert liegende Dorf, das die Karte von 1831 (und eine ganz ähnliche andere von 1869) zeigt (vgl. Kap. 8.3.2). Besonders deutlich sieht man schon an der reinen Einwohner:innenzahl die Differenz zu Gemeinden wie Bernried. War Mahlow um 1850 noch ein typisches brandenburgisches Kleinstdorf, wuchs es im Laufe des Untersuchungszeitraums vor allem durch Zuzug und die rege Siedlungstätigkeit erheblich an. Tabelle 2 Einwohner:innenentwicklung Mahlow Jahr 1858 1875 1900 1925 1939 1950

2.1.3

Einwohner:innen 173 299 437 1293 2563 4803

Wolxheim

Die Karte, die uns für Wolxheim vorliegt, stammt von 1819 aus der ursprünglichen Katastrierung und Vermessung, die noch unter Napoleon begonnen worden war. In dieser Ansicht ist die gesamte Gemeindemarkung von Wolxheim auf einem Kartenblatt aufgebracht, also nicht nur der Dorfkern, sondern auch die zur Gemeinde gehörende Flur. In diesem Fall sind das vor allem die Weinberge, die sich im Norden an den Siedlungskern des Dorfes Wolxheim anschlossen und bis heute anschließen. Wolxheim liegt an der Bruche/Breusch, streng genommen am Canal de la Bruche/Breuschkanal, der heute nur noch Freizeitzwecken dient, im 19. Jahrhundert aber ein wichtiger Transportweg für Baumaterial nach Strasbourg war. Wolxheim war durch die Kanalsiedlung westlich des alten Dorfkerns, wo die Kanalschiffer lebten, an diesen Verkehrsweg angeschlossen. Wolxheim ist der einzige meiner Untersuchungsorte, der im Laufe des Untersuchungszeitraums kein Bevölkerungswachstum verzeichnen konnte, sondern sogar schrumpfte. Zudem ist über dieses Dorf jenseits von statistischen Beschreibungen kaum etwas bekannt.23

23 Für Wolxheim existieren praktisch nur statistische Ortsbeschreibungen in Artikelform wie Wolxheim 1901.

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Abb. 3 Wolxheim 1819.

Tabelle 3 Einwohner:innenentwicklung Wolxheim Jahr 1851 1872 1901 1926 1936 1946 2016

Einwohner:innen 1207 1052 878 758 718 712 954

Wolxheim gehört zu den wichtigsten Weinbaugemeinden im Unterelsass mit mehr als 100 Hektar Weinbergen, verfügte aber sonst über sehr wenig Ressourcen. Die landwirtschaftliche Nutzfläche jenseits der Weinberge war klein, es gab keinen Gemeindewald und nur eine kleine Allmende, die auch im 19. Jahrhundert nicht dauerhaft, sondern nur auf Zeit aufgeteilt wurde. Die Gemeinde füllte ihre Kasse einerseits durch die Versteigerung aller möglichen kleinen Gemeinderessourcen, andererseits (das dürfte den Löwenanteil ausgemacht haben) durch die Zahlungen der Einwohner:innen. Die Gemeinde war chronisch knapp bei Kasse und führte das als ständiges Argument gegen gemeindliche Zahlungen aller Art ins Feld. Die meisten wirtschaftlich selbstständigen Bewohner:innen Wolxheims waren Winzer:innen und/oder Weinhändler:innen. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich

Drei Karten, drei Dörfer

zudem eine Siedlung am Bruchekanal, deren Einwohner:innen Kanalschiffer:innen waren. Viele Gemeindemitglieder mussten also einerseits wirtschaftlich miteinander kooperieren, etwa bei der Bewirtschaftung der Weinberge; andererseits standen sie in wirtschaftlicher Konkurrenz zueinander. Ob das der einzige Grund für die häufigen Konflikte innerhalb der Gemeinde war, bleibt indes unklar. Aus der Retrospektive und nur mit schriftlichen Quellen als Untersuchungsbasis ist diese Gemeinde überhaupt über weite Strecken rätselhaft. Aus den Unterlagen wird ersichtlich, dass es offenbar zwei (oder vielleicht auch noch mehr) Fraktionen im Dorf gab, die immer wieder miteinander in Streit gerieten. Die Besetzung des Postens des Bürgermeisters war deshalb ein schwieriges Unterfangen, weil es einerseits kein Außenseiter sein durfte, er aber andererseits die verfeindeten Parteien an einen Tisch bringen musste. Aus den Unterlagen geht aber weder hervor, woraus diese Konflikte sich speisten, noch, wie langlebig diese Konfliktkonstellation eigentlich war. Deutlich wird lediglich: Anders als in den beiden anderen Gemeinden gab es keinen harten Kern von Gemeindebürgern, die gemeinsam die Geschicke des Dorfes leiteten, während andere Bewohner:innen außen vor blieben. In Wolxheim war die Gruppe der lokalen Elite nicht geeint, sondern zerstritten. Die Konfliktlinie lief also nicht entlang wirtschaftlicher Ungleichheiten. Auch die gesprochene Sprache bietet uns keinen Anhaltspunkt, denn Wolxheim war bis zum Zweiten Weltkrieg ein weitgehend sprachlich homogenes Dorf, in dem ein elsässischer Dialekt gesprochen worden sein dürfte, während die schriftliche Kommunikation weitgehend auf Deutsch ablief – inklusive der gemeindlichen Verwaltung. Wolxheim war viel stärker als die anderen Gemeinden im Untersuchungszeitraum durch politische Diskontinuitäten geprägt. Als elsässische Gemeinde machte Wolxheim in dem hier untersuchten Jahrhundert ganze vier Zugehörigkeitswechsel mit. Denn ab 1871 wurde das Elsass gemeinsam mit Lothringen als Ergebnis des preußisch-französischen Kriegs zu einem Teil des neu gegründeten Deutschen Reichs; in einer verfassungsrechtlich komplexen Konstruktion wurde das Reichsland Elsass-Lothringen gegründet. Nach 1918 wurden Elsass und Lothringen wieder in die Französische Republik integriert.24 Im Zweiten Weltkrieg wiederum wurde das ehemalige „Reichsland“ durch die deutsche Wehrmacht besetzt und einem Chef der Zivilverwaltung unterstellt. Mit dieser Konstruktion wurde eine formelle Annexion vermieden, die einem (zu diesem Zeitpunkt) erhofften Friedensschluss mit Frankreich hinderlich gewesen wäre. Der Chef der Zivilverwaltung, der die Zivilverwaltung im militärischen Auftrag übernahm, war Robert Wagner, der Gauleiter von Baden. Unter deutscher Besatzung wurde eine rigide Germanisierungspolitik im Elsass betrieben, Deutsch wurde zur offiziellen Sprache, während alle französi-

24 Ausführlicher in Kap. 9.4 u. 10.1.

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schen Einflüsse gewaltsam zurückgedrängt wurden.25 Die Besatzung dauerte bis in den Winter 1944/45; ab Anfang 1945 stand das Elsass weitgehend wieder unter französischer Verwaltung. Als Reaktion auf Krieg und Besatzung wurde nun nicht nur das Deutsche, sondern auch die elsässische Sprache radikal zurückgedrängt.26 Diese tief einschneidenden Ereignisse der politischen Geschichte schlugen sich zum Teil sehr stark, zum Teil kaum merkbar auf der Ebene der Verwaltung nieder. In den einzelnen Analysekapiteln werde ich das weiter vertiefen; hier reicht zum jetzigen Zeitpunkt der Hinweis darauf, dass 1871 und 1918 als Verwaltungszäsuren sehr stark verschwammen. In vielerlei Hinsicht, nicht zuletzt bei der Sprache, waren die Kontinuitäten stärker ausgeprägt als die Diskontinuitäten. Das gilt trotz der durchaus erheblichen Eingriffe in gesellschaftliche Freiheiten, trotz der Repressionen insbesondere der Militärverwaltung ab 1870 und trotz des Zwangs, sich für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden (Option, vgl. dazu Kap. 6.4). Vor allem im Bereich der Verwaltung blieben viele Regelungen und Praktiken zunächst erhalten; der juristische Angleichungsprozess an die deutschen Verhältnisse dauerte viele Jahre. Das gilt auch für die Reannexion nach dem Ersten Weltkrieg: Zunächst blieb vieles beim Alten. Die Versuche, im Elsass jene Verhältnisse einzuführen, die in den Jahren der Teilung zur gesellschaftlichen Normalität in Frankreich geworden waren – der Laizismus beispielsweise – führten zwar zu erheblichen Protesten, doch auch hier überwogen die (administrativen) Kontinuitäten deutlich. Das merkt man auch an den Quellen: In der lokalen Überlieferung der Gemeinde Wolxheim werden diese beiden Veränderungen der nationalen Zugehörigkeit nicht sehr deutlich; über beide Zäsuren hinweg wurden beispielsweise die Protokolle des Wolxheimer Gemeinderats auf Deutsch abgefasst. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Quasi-Annexion hingegen verschwand Deutsch vollständig aus dem lokalen und regionalen Alltag und damit auch aus den lokalen Quellen. *** Karten sind eindrücklich und geben uns einen guten ersten Eindruck davon, wie die Dörfer im 19. Jahrhundert in etwa aussahen. Allerdings haben Karten als Medien eine Eigenart: Sie bilden einen Moment ab, der dann über viele Jahre, oft Jahrzehnte, als Zustand fortgeschrieben wird. Sie frieren den Zustand der Vermessung ein, und bis nicht eine neue Karte erstellt wird, sind sie das Dorf, die Stadt, die Flur. Diese Statik, die Karten produzieren, führt uns insbesondere für unseren Untersuchungsgegenstand in die Irre. Denn die Dörfer, die hier im Mittelpunkt stehen, waren eines ganz sicher nicht: statisch.

25 Ausführlicher in Kap. 11.2.3. 26 Ausführlicher in Kap. 11.4.

Bauern und Dörfer

2.2

Bauern und Dörfer

Allerdings erschien „das Dorf “ manchen Zeitgenoss:innen als genau das: als statisches Gebilde, als Fels in der Brandung der bewegten Zeit. Dieses Bild wurde geprägt von der Kunst, von der Literatur des 19. Jahrhunderts, von den Bewegungen, die ausgehend von der Romantik den ewigen Volksgeist in der Landbevölkerung zu erblicken dachten.27 Einer der berühmtesten und wirkungsreichsten Beobachter ländlicher Zustände in Deutschland im 19. Jahrhundert war Wilhelm Heinrich Riehl. Der Journalist und Kulturhistoriker gilt heute als Begründer der Volkskunde ebenso wie als Ideologe der Agrarromantik und Großstadtfeindschaft.28 In seinem Werk über die „bürgerliche Gesellschaft“, das erstmals 1851 erschien und ihn im konservativen postrevolutionären Deutschland bekannt machte, vertrat er die These von den Ständen der Beharrung und denen der Veränderung: Während der Adel und das Bauerntum die Kräfte der Beharrung darstellten (der Adel in degenerierter, das Bauerntum in natürlich-historischer Weise), seien vom Bürgertum und der Arbeiterschaft nur Unruhe zu erwarten. Ein Staatswesen, dem es um Stabilität gehe, möge sich am Bauernstande ausrichten. In dem rund hundertseitigen Kapitel zum Bauernstand stellt Riehl ausführlich sein Bild vom „Bauern“ als Kollektivsingular dar. Die Beständigkeit dieses Standes sei sein eigentliches Charakteristikum: In dem Bauernstande allein noch ragt die Geschichte alten deutschen Volksthums leibhaftig in die moderne Welt herüber. […] Alle anderen Stände sind aus ihren ursprünglichen Kreisen herausgetreten, haben ihre uralten Besonderheiten gegen die ausebnende allgemeine Civilisation dahingegeben, die Bauernschaft dagegen besteht, wenn auch nicht unberührt von allem Schliff, doch noch in gar knorriger Eigenart als ein trutzig selbständiges sociales Gebilde.29

Diese Vorstellung eines überzeitlichen, sozial und kulturell beständigen Bauernstandes hielt sich sehr lange – und in gewisser Weise ist sie bis heute einflussreich, wenn die Bevölkerung ländlicher Regionen als besonders traditionsverbunden und

27 Das war kein rein deutsches Phänomen; auch in anderen Ländern gab es die Versuche, über die Landbevölkerung eine untergegangene Nation zu reanimieren – vgl. hier nur Norwegen, wo nach Jahrhunderte währender kultureller Dominierung durch Dänemark in der (wiederum schwedisch dominierten) Union das „ursprüngliche“ Norwegen auch sprachlich wiederentdeckt werden sollte. Vgl. Sørensen 1997. 28 Bergmann 1970. 29 Riehl 1861, S. 53.

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wenig offen für Neues imaginiert wird.30 Was in Riehls Ausführungen keinen Platz fand, weil es weder in sein wissenschaftliches noch in sein politisches Programm passte und ihm möglicherweise nicht einmal selbst vollständig klar war: Er war selbst Zeitgenosse erheblicher sozialer Umschichtungen im ländlichen Raum. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren viele ländliche Regionen in Europa Schauplätze von sozialen Krisen („Pauperismus“),31 sie waren der Ort von sozialen und politischen Revolten und Revolutionen, von ökonomischen Entwicklungen, die oftmals den Grundstein für die spätere Industriegesellschaft legten („Proto-Industrialisierung“),32 hier wurden in der großen Fläche Reformen hin zur Eigentümergesellschaft durchgeführt („Bauernbefreiung“).33 Der ländliche Raum war also eng verbunden mit der sich entwickelnden industriellen Welt, er war nicht ihr Gegenteil. Bereits vor 1850 waren die ländlichen Räume, so unterschiedlich sie waren, elementare Bestandteile der sich radikal verändernden modernen Welt, waren sogar, wie viele Autor:innen festgestellt haben, diejenigen Räume, die die Vorbedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus und der Industrialisierung bereithielten.34 Diese Prozesse sind im Einzelnen in beeindruckender Tiefe erforscht; die Ergebnisse dieser Detailuntersuchungen können hier nur angerissen werden. Es geht im Folgenden auch nicht um eine erschöpfende Darstellung dieser Prozesse, sondern lediglich darum, punktuell diese Ergebnisse in Gedächtnis zu rufen und miteinander zu verknüpfen. So wird klar, vor welchem historischen Hintergrund „meine“ Geschichte beginnt. 2.2.1

Demographische Verschiebungen

Diese vielfältigen Entwicklungen waren es, vor deren Hintergrund die bäuerliche Bevölkerung, eigentlich nur eine kleine Teilmenge der ländlichen Gesellschaft, als die dominierende Gruppe im Dorf beschrieben und herbeigeschrieben wurde. Die Gleichsetzung von ländlicher Bevölkerung und „Bauern“, die als sozialphilosophische oder -moralische Sprachregelung älteren Datums ist, hat hier ihren Ursprung als politisches Programm. Doch herrschte sowohl in rechtlicher als auch in ökonomischer und sozialer Hinsicht in den sehr unterschiedlichen ländlichen Regionen in der Mitte Europas eine erhebliche Vielfalt von Lebensformen und -bedingungen. Weder im 19. noch im 20. oder 21. Jahrhundert waren die Bauern, also diejenigen, die eigenes Land

30 Farr wies mit Recht auf die Kontinuität des Bauernbildes von 1848 bis in die Gegenwart hin – auch wenn diese Vergangenheit inzwischen auch beinahe vierzig Jahre zurückliegt; Farr 1986, S. 9–12. 31 Vgl. Wehler 1987, S. 281–296. 32 Vgl. Kriedte, Medick, Schlumbohm 1977. 33 Vgl. Dipper 1980. 34 Vgl. Dipper 1996, S. 80; Kriedte, Medick, Schlumbohm 1977.

Bauern und Dörfer

selbstständig bewirtschafteten, im ländlichen Raum in der Mehrheit. Sie teilten sich ihre Siedlungen mit Gesinde und Landarbeiter:innen, mit Kleinstellenbesitzer:innen und ländlichen Handwerker:innen, mit Pfarrern, Lehrern (und später: Lehrerinnen), Ordensleuten und vielen anderen mehr. Viele Familien, die selbst Ackerland bewirtschafteten oder Vieh hielten, waren darüber hinaus auf andere Einkommensquellen angewiesen, ob als Landarbeiter:innen, in der Protoindustrie oder als Pendler oder Saisonarbeitskräfte in benachbarten oder weiter entfernten Regionen.35 Im gesamten 19. Jahrhundert veränderte sich die soziale Zusammensetzung der ländlichen Bevölkerung erheblich. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren viele Landstriche durch extreme Armut gekennzeichnet – das ist das, was in der Forschung als „Pauperismus“ bezeichnet wird. In Preußen, so schätzt Wehler, bestand die Hälfte der gesamten Bevölkerung aus den Landarmen und Landlosen mit ihren Familien; in den ländlichen Räumen dürfte ihr Anteil bei etwa zwei Dritteln gelegen haben – Tendenz steigend.36 Durch ein starkes, vornehmlich von den Unterschichten getragenes Bevölkerungswachstum gerieten viele ländliche Gegenden in das, was immer noch manchmal die „malthusianische Falle“ genannt wird.37 Die Verdienst- und Versorgungsmöglichkeiten vor Ort reichten schlichtweg nicht für die stark wachsende Bevölkerung aus. Während die Gruppe der Besitzenden, vor allem der mittleren und großen Bauern, weitgehend stabil war, weil hier das Heiratsalter relativ hoch und die Geburtenzahlen beschränkt blieben, waren die stark wachsenden ländlichen Unter- und Mittelschichten nicht dazu in der Lage, sich ökonomisch über Wasser zu halten. Bewältigungsstrategien gab es einige. Die Flucht in die „Ökonomien des Notbehelfs“, wie sie Olwen Hufton bereits für das 18. Jahrhundert in Frankreich beschrieben hatte, war auch in den meisten deutschen Gegenden die wichtigste: Viele verschiedene Ressourcen mussten miteinander kombiniert werden.38 Zeitlich gesehen später ergab sich mit der Freizügigkeit auch ein anderer Ausweg für diejenigen Landbewohner:innen, die in ihren Dörfern keine Chance auf eine auskömmliche Existenz hatten. Spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts setzten starke Wanderungsbewegungen ein, die stärkste unter ihnen war die Binnenmigration. Insbesondere die jüngeren Vertreter:innen der dörflichen Unterschichten und – in Anerbengebieten – diejenigen Abkömmlinge bäuerlicher Betriebe, die den Hof nicht würden übernehmen können, wanderten

35 Vgl. Dipper 1996, S. 76. Diese Kombination unterschiedlichster Einkommensquellen war eher die Regel als die Ausnahme, sowohl im 18. als auch im späten 19. Jahrhundert. Vgl. für Frankreich beispielsweise Hufton 1974; Mayaud 2004. 36 Wehler 1987, S. 168. 37 Vor der umstandslosen Übernahme solcher biopolitischen Deutungsmuster ist allerdings zu warnen. Vgl. Etzemüller 2007, S. 23–26. 38 Vgl. Hufton 1974; für Deutschland Kocka 1990, S. 91 f.

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nun ab, statt in den Dörfern zu bleiben. Dadurch veränderte sich gegenüber der Zeit um 1900 die soziale Struktur in vielen Dörfern erheblich: Die jungen Mitglieder der dörflichen Unterschichten verließen zunächst temporär, dann immer öfter auch dauerhaft ihr Heimatdorf, zogen in Nachbargemeinden, in nahe oder gar ferne Klein-, Mittel- und Großstädte. Mit der sozialen veränderte sich entsprechend auch die demographische Struktur, sodass das Bevölkerungswachstum in dieser ländlichen Teilbevölkerung gebremst wurde. Die Migrierenden gründeten ihre Familien fortan an Orten, wo es Arbeit und Lebensunterhalt für sie gab.39 Die Binnenmigration war einer der wichtigsten Prozesse des 19. Jahrhunderts, über den wir immer noch erstaunlich wenig wissen. So ist zwar aus historischen Quellen gut ablesbar, dass es eine große regionale Migration gab, die keineswegs nur die Richtung vom Land in die Städte kannte – auch in Mahlow gab es diese Hinweise (s. o., Kap. 2.1.2), doch über diese Wanderungen selbst wissen wir nur wenig. Erste Untersuchungen gibt es zur Selbstbeschreibung der Migrierenden im Sinne eines belonging,40 und eine Pionierstudie fokussiert unter anderem die Praktiken der Migrierenden vom Land in den Städten, die als hybride Rurbanisierung verstanden werden kann.41 Aber auch die Dörfer veränderten sich, wenn auch regional sehr unterschiedlich. Während sich im Westen, vor allem im Südwesten, aber auch in Teilen Hessens, die Dörfer insofern veränderten, dass der Anteil der bäuerlichen Haushalte im Dorf zurückging,42 so war östlich der Elbe in der Regel das Gegenteil der Fall. Hier wuchs, relativ gesehen, die Gruppe der bäuerlichen Mitglieder in den ländlichen Gemeinden in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder an. Die Dörfer verbäuerlichten, weil die unterbäuerlichen Schichten, die wenig oder gar kein Land besaßen, abwanderten.43 In den stärker mit (Klein- und Mittel-)Städten durchsetzten Regionen konnten diese sozialen Gruppen hingegen außerhalb des Ortes Verdienste finden und gleichzeitig im Dorf wohnen bleiben – was wiederum zu neuen Dynamiken im Dorf führte.44 Wieder anders war die Situation in Bayern, wo die Bevölkerungsentwicklung über weite Strecken viel weniger dynamisch war als in anderen Regionen Deutschlands.45 Wo die bäuerliche Bevölkerung in den

39 Am Beispiel eines ostpreußischen Dorfes hat Hans Linde diesen Prozess nachgezeichnet, allerdings mit einem stark biopolitischen Blick auf die demographischen Vorgänge. Linde 1939, S. 70–73. 40 Vgl. Harders, Schnicke 2022. In diesem Sammelband geht es allerdings vornehmlich um grenzüberschreitende Migration. 41 Als Pionierstudie vgl. Voithenberg 2022. 42 Vgl. Sabean 1990, S. 61–65; Wagner 1986. 43 Linde 1939. 44 Vgl. Gestrich 1986. 45 Vgl. Lee 1975.

Bauern und Dörfer

Dörfern nun auch quantitativ dominierte, war das keine „Normalität“ des Landes, sondern der Effekt von sozialen Krisen und den individuellen wie kollektiven Versuchen, diese zu bewältigen. Kollektiv waren diese Versuche insofern, als die bäuerliche Bevölkerung durch rechtliche und ökonomische Weichenstellungen im 19. Jahrhundert als soziale Gruppe gestützt wurden. Die „Bauernbefreiungen“, also die Umwandlung des persönlichen Rechtsstatus vom Abhängigen zum Staatsbürger und die Umwandlung des Bodens in freies Bodeneigentum, zusammen mit der Aufteilung von bislang kollektiv genutzten Flächen in Individualeigentum, spielten in vielen Regionen vor allem den ohnehin schon ökonomisch Stärkeren im Dorf in die Hände.46 Das war keine einfache Entwicklung, sondern ein politisch bewusst herbeigeführter Prozess. Schließlich war es aber auch eine kulturelle Entwicklung: Die bäuerliche Bevölkerung bildete in vielen ländlichen Regionen die kulturelle Norm.47 Über viele Jahrzehnte hinweg waren Besitz und bäuerlicher Lebensstil (wie sehr dieser auch selbst Wandlungen unterworfen war) das Leitbild, war der Erwerb von (Garten-)Grundstücken oder kleinen Feldstücken Ziel auch der dörflichen Unterschichten, um ihren Aufstieg zu markieren. Auch diese Prozesse beförderten die „Verbäuerlichung“ des Dorfes weiter – ein Begriff, der eigentlich erst für einen späteren Zeitraum, nämlich für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, geprägt wurde.48 2.2.2

Die Revolution, das Chaos und die Bauern

Die Revolution von 1848 war ein überaus komplexes Ereignis – oder vielmehr: bestand aus sehr vielen, schon jeweils für sich genommen, sehr komplexen Ereignissen.49 Denn die Geschehnisse in den Städten, insbesondere in den Residenzstätten, waren nur ein Teil der Revolution. Wolfram Siemann schreibt von der „Basisrevolution“ im öffentlichen Raum, auf den Straßen, die für das Verständnis auch der länger dauernden kulturellen Wandlungen von großer Bedeutung ist. Denn die politische Umbruchstimmung erfasste weite Teile der Bevölkerung. Auch Bauern, Kleinstellenbesitzer und Landarbeiter waren ein Teil dieser Revolution.50

46 47 48 49

Vgl. Wehler 1987, S. 165; Brakensiek 1991. Vgl. etwa Kaschuba, Lipp 1982, S. 5 u. 86. Vgl. Mai 2007, S. 477. Mergel argumentiert, 1848 sei nur deshalb eine Chiffre so unterschiedlicher heterogener Ereignisse, weil zeitgenössisch (und auch in der Nachgeschichte) mit einer Revolution gerechnet, sie erwartet und erfahren worden sei. Mergel 1998, S. 8. Zur Frage, wo eigentlich ein Ereignis beginnt und wo es endet, die sehr interessanten Überlegungen von Karla 2021. 50 Siemann 2012, S. 59.

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Auftakt

Insbesondere im Frühjahr 1848, als in verschiedenen deutschen Staaten die Abschaffung der herrschaftlichen Privilegien vor allem im Kontext der ländlichen Herrschaft auf der revolutionären Agenda stand, waren die Bewohner:innen ländlicher Gebiete wichtige Akteur:innen von lokalen und regionalen Erhebungen. In zum Teil gewaltsamen Aktionen versuchten sie, ihre Interessen durchzusetzen – zumindest in Ansätzen erfolgreich, oftmals aber auch deshalb, weil gerade die standesherrlichen Privilegien auch der staatlichen Bürokratie und vielen Regierungen schon länger sauer aufgestoßen waren und die Revolution nun ein willkommener Anlass war, um diese ständischen Vorrechte zugunsten einer Zentralisierung staatlicher Macht abzuschaffen. Genauer hingesehen unterschieden sich die Forderungen der ländlichen Bevölkerungsgruppen jedoch meist erheblich von den bereits im Frühsommer 1848 vielerorts durchgesetzten Maßnahmen. Waren es in manchen Gegenden ganze Gemeindeversammlungen, die gemeinsam gegen einen Grundherrn vorgingen und Entlastungen forderten, waren es an anderen Orten nur die unterbäuerlichen Schichten, die im Sinne eines „bäuerlichen Communismus“ alte Nutzungsrechte zurückforderten, die ihnen im Zuge der Gemeinheitsteilungen abgesprochen worden waren. Hier taten sich erhebliche Gräben auf zwischen den Kleinstellenbesitzern und den Bauern, die weitgehend von den Teilungen profitiert hatten.51 Die großen ökonomischen Reformen blieben indes aus, die auch den ländlichen Unterschichten hätten nützen können. Ein Effekt von 1848 und seinem Scheitern war daher auch die demographische Umschichtung durch Migration, die ich im vorigen Kapitel angerissen habe.52 Neben den ökonomischen Forderungen, die vielerorts erhoben und oft als unpolitisch (fehl)interpretiert wurden,53 verlangten die Protestierenden in vielen ländlichen Regionen mehr Mitspracherechte, vor allem im Lokalen. Nikolaus Back ordnet die Proteste gegen die Schultheißen in Württemberg in die vormärzliche Bürokratiekritik ein, auch wenn die Schultheißen nicht wirklich zur staatlichen Bürokratie gehörten. Doch es wurden nicht nur Dorfvorsteher abgesetzt, sondern auch mehr Selbstverwaltungsrechte gefordert. Im Einzelnen verlangten die Dorfbewohner:innen die Möglichkeit, überhaupt Einblick in die lokale Verwaltung zu bekommen. In Petitionen drängten sie auf die Öffentlichkeit der Sitzungen, aber auch auf die Abschaffung der Lebenslänglichkeit von kommunalen Ämtern, um Dorfvorsteher überhaupt absetzen zu können.54

51 Vgl. ebd. 52 Brakensiek spricht von einer „Abstimmung mit den Füßen“, im Zuge derer vor allem die jungen Unterschichtsangehörigen die Dörfer in Richtung Amerika oder in Richtung Stadt verlassen hätten. Brakensiek 1991, S. 424. 53 Zur Kritik vgl. Gailus 1982. 54 Vgl. Back 2010, S. 68–80.

Bauern und Dörfer

Neben Versammlungen, Petitionen und sonstigen, vermeintlich zivilisierten Formen des Protestes nutzte die ländliche Bevölkerung aber auch Mittel, die sich gerade nicht in moderne Schemata politischer Aushandlungen fügten. Manfred Gailus hat wiederholt auf die ländlichen Gewaltexzesse um 1848 hingewiesen – und darauf, dass auch zwischen dem Gewalteinsatz der Beherrschten und der Herrschenden unterschieden werden müsse.55 Christof Dipper argumentiert am Beispiel des Odenwalds, einer Region, in der es besonders viele lokale Protestaktionen im Revolutionsfrühjahr gab, dass die Revolution von 1848 als ein wichtiger Schub von Politisierung im ländlichen Raum gelesen werden müsse, weil hier politische Praktiken im ländlichen Raum Einzug hielten, die eher den liberalen und demokratischen Vorstellungen von moderner Politik entsprachen: Versammlungen, Wahlmobilisierung, Clubs. Demgegenüber seien die gewaltsamen kollektiven Praktiken zurückgedrängt worden.56 Je nach Region unterschied sich stark, welcher Seite der revolutionären Politik sich die ländlichen Bevölkerungen zuneigten. Dipper stellt die starke Affinität der ländlichen Bevölkerung im Odenwald vor allem zu den Demokraten heraus, denen es gelang, in dem kurzen Zeitfenster zwischen Frühjahr 1848 und Herbst 1849 ein personelles Netz im Odenwald zu spannen und politische Clubs mit erheblicher Mobilisierung in der ländlichen Bevölkerung zu gründen.57 In anderen Regionen sah das ganz anders aus, dort waren die ländlichen Bevölkerungen sehr schnell auf die konservative Seite gerückt, vor allem durch den Einfluss des Klerus und aus Ablehnung eines allgemeinen Umsturzes heraus. Das traf zum Beispiel auf das von Josef Mooser untersuchte Minden-Ravensberg zu, wo sich auch die anfänglichen lokalen Revolten aus einem grundsätzlichen Sozialkonservatismus der ländlichen Bevölkerung gespeist habe.58 Doch unabhängig davon bedeutete 1848 auch für den ländlichen Raum einen wichtigen Einschnitt, auf unterschiedlichen Ebenen. Die Revolution beschleunigte die Ablösung feudaler Strukturen. So wurde beispielsweise ein ganz handfestes (land-)adliges Recht in Preußen abgeschafft: die Prügelstrafe, die im Allgemeinen Landrecht noch kodifiziert gewesen war.59 Auch in Bayern wurde nun das Grundeigentum endgültig abgelöst, und in den meisten Ländern fand auch die Patrimonialgerichtsbarkeit ihr Ende, also jene herrschaftlichen Strukturen, die in erster Linie im ländlichen Raum die niedere Gerichtsbarkeit bei den unteren Herrschaftsträgern gelassen hatten.60 Eine harte herrschaftsgeschichtliche Zäsur

55 56 57 58 59 60

Zum letzten Punkt vgl. besonders Gailus 2003, S. 194 f. Dipper 2006, S. 356–360. Ebd., S. 358. Vgl. Grüne 2011, S. 424–445. Mooser 1984, S. 355. Vgl. Gailus 2003, S. 185. Vgl. Wienfort 1994.

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Auftakt

war 1848 jedoch nicht, denn nicht alle adligen Herrschaftsrechte im ländlichen Raum wurden abgeschafft. In Preußen blieben die Gutsbezirke erhalten, und auch die Kreisverwaltung war noch lange ständisch geprägt, denn die Widerstände gegen Reformen im ländlichen Raum blieben groß.61 Gunter Mahlerwein betont, dass die Revolution von 1848 für die Ausübung lokaler Herrschaft wenn keinen Bruch, so doch eine Wende bedeutet habe. Mit der Revolution sei es immer weniger möglich gewesen, an der Dorfgesellschaft, und das hieß vor allem: an der Gemeindeversammlung, vorbei zu regieren. Somit wurde es für Bürgermeister, die sich einzig und allein auf die Machtressource der Herrschaft gestützt hatten, schwieriger, im Dorf zu bestehen.62 Jenseits solcher regierungsgeschichtlicher Strukturwandlungen hatte die Revolution aber auch erhebliche kulturelle Wirkungen. Siemann betont, dass die Revolution mit ihrer Vielzahl von Handlungsebenen und neuen, auch weit verbreiteten Kommunikations- (Bilderbögen, Flugblätter, Lieder) und Handlungsformen (z. B. Katzenmusiken) eine Fundamentalpolitisierung zur Folge gehabt habe, die sich gerade nicht in der Organisation oder im Wahlrecht niederschlug, aber politische Fragen weit in den Alltag auch der „kleinen Leute“ hineingeschoben habe.63 Die Revolutionserfahrung, so könnte man ein Argument von Michael Th. Greven weiterführen, erhöhte das Ausmaß der Kontingenzerfahrung im alltäglichen Leben, sodass immer mehr Lebensbereiche der aktiven Beeinflussung zugänglich erschienen.64 Dieses Argument gilt in besonderem Maße für Frankreich, wo mit den permanenten Wahlen auch im Zweiten Kaiserreich die Zweite Republik gleichsam weitergeführt und durch die plebiszitären Elemente zwar keine echte Kontingenz, aber deren Illusion geschaffen wurde.65 In unserem Zusammenhang ist aber noch ein anderer Punkt wichtig, nämlich gerade die Gegenbewegung zu solchen Verflüssigungstendenzen. Die Revolution wurde durchaus auch als bedrohlich und negativ erfahren, gerade von besitzenden Gruppen im Dorf. Diese zogen sich nicht selten auf einen Konservatismus zurück, der darauf basierte, Veränderungen aktiv abzublocken und zu verhindern. Dieser Konservatismus als Reaktion war bei Weitem nicht auf die bäuerliche Bevölkerung beschränkt, im Gegenteil. Der nun einflussreiche Konservatismus suchte jedoch zumindest den symbolischen Schulterschluss zu jenen ländlichen Bevölkerungsteilen, die allzu deutlichen Veränderungen im dörflichen Kontext abhold waren. Das konnte allerdings auch bedeuten, dass konservative Politiker oder Publizisten sich auf diese Gruppe bezogen, über sie statt mit ihr sprachen und sie mit dem 61 62 63 64 65

Vgl. dazu Kap. 3.1, vor allem zur gescheiterten preußischen Gemeindeordnung von 1850. Mahlerwein 2001, S. 418. Siemann 2012, S. 225. Greven 2000, S. 27, der allerdings über das 20. Jahrhundert schreibt. Vgl. Agulhon 2000, S. 5.

Ausgangspunkte

Argument, sie hätte ohnehin kein Interesse an Politik, vom politischen Diskurs ausschlossen. Einer der wichtigsten Stichwortgeber dafür war – und da schließt sich der Kreis wieder – Heinrich August Riehl.66

2.3

Ausgangspunkte

Die sozialen und demographischen Verschiebungen, die im 19. Jahrhundert in allen Untersuchungsregionen (und darüber hinaus) stattfanden, stellen einen Teil des komplexen Hintergrunds der folgenden Analyse dar. Einerseits ist deutlich geworden, dass die Herausbildung einer verfestigten Elite im Dorf ein Ergebnis dieser Zeit war, als der Pauperismus und der ländliche Bevölkerungszuwachs durch Abwanderung zurückgingen. Die besitzenden sozialen Gruppen im Dorf bauten ihre Vorrangstellung aus, die sie im Folgenden beim Ausbau der Gemeinden als Vorposten der Staatlichkeit in Partizipationsrechte übersetzen konnten. Dazu trug nicht nur die Abwanderung der nicht-besitzenden Schichten im Dorf bei und damit die Reduktion des „Drucks“ von unten, sondern vor allem die Kodifizierung von Eigentum überhaupt. Denn erst mit der Überführung von komplexen Nutzungsin Eigentumsrechte und der Aufteilung von gemeindlichen Nutzungen in private konnte sich eine Besitzelite herausbilden. Das geschah in den Dörfern in sehr ungleichem Maße. Die demographischen Verschiebungen hatten aber noch eine weitere wichtige Wirkung, die über das einzelne Dorf hinauswirkte. Sowohl demographisch als auch (und das ist hier entscheidender) in der zeitgenössischen Wahrnehmung vertiefte sich die Differenz zwischen Stadt und Dorf. In den folgenden Kapiteln wird immer wieder deutlich, dass die zeitgenössische Vorstellung, Stadt und Land seien wesensmäßig verschieden, eine wichtige Voraussetzung für das Regieren im Dorf war. Das vermeintliche Wissen darüber, dass Dörfer anders funktionierten als Städte und auch anders funktionieren sollten, hatte Auswirkungen darauf, wie in den Dörfern gewählt, verwaltet und regiert wurde. Die Vorstellungen waren, gerade in den ersten Jahrzehnten meines Untersuchungszeitraums, darüber hinaus sehr stark von der Revolutionserfahrung geprägt. Verwaltung, auch kommunale Selbstverwaltung, sollte dort, wo sie installiert wurde, dazu dienen, Gemeinden zu befrieden und Proteste und Umstürze zu verhindern. Während in den Städten die kommunale Selbstverwaltung als konkrete Befriedungsstrategie eingesetzt wurde, um das liberale Bildungsbürgertum mit (eingehegtem) Mitspracherecht auszustatten, war die kommunale Selbstverwaltung in den Dörfern anders gestrickt: Hier ging es darum, potenziell unruhige Bevölkerungsgruppen

66 Vgl. Rouette 1998; Hecker 2000.

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Auftakt

vom Mitspracherecht komplett auszuschließen und die Regierung des ländlichen Raums denjenigen Gruppen anzuvertrauen, die, so die weit verbreitete Meinung, an Politik ohnehin uninteressiert seien: den Bauern. Insofern ist die Geschichte, die es im Folgenden zu erzählen gilt, auch eine Nachgeschichte der politischen und sozialen Transformationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber sie ist auch mehr, denn sie berichtet davon, wie vielfältig die Herausforderungen waren, die auf den ländlichen Raum und die dortigen Akteur:innen zukamen, und wie diese Menschen mit den Herausforderungen umzugehen lernten.

Die Gouvernementalisierung der Gemeinden 1850–1900

3.

Regierung durch Selbstverwaltung

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden sowohl der französische als auch die deutschen Staaten massiv umgebaut. Ihre Strukturen veränderten sich, auch im Lokalen. Die französische Verwaltung wurde im Zuge der revolutionären Neuorganisation planmäßig von unten nach oben aufgebaut, womit die Grundlage für die bis heute weitgehend unveränderte Struktur von unzähligen kleinen municipalités mit wenigen eigenen Rechten geschaffen wurde.1 Die bayerische Konstitution von 1808 ordnete die Städte und Gemeinden in den Staat ein, beschnitt ihre bisherigen Rechte erheblich und zog ihr Vermögen ein, um es zentral zu verwalten.2 Ebenfalls im Jahr 1808 trat die berühmte Stein’sche Städteordnung in Preußen in Kraft. Dadurch wurden die Städte zu Selbstverwaltungsräumen, in denen die Bürger ihr lokales Gemeinwesen zumindest in Teilen selbst verwalten sollten.3 Die Landgemeinden hingegen, vor allem die in den östlichen Provinzen, waren nur sehr grob durch das Allgemeine Landrecht von 1794 geregelt. Zwei unterschiedliche Ansätze also: Verstaatlichung, unbedingte Einordnung, zentrale Organisation der Gemeinden auf der einen Seite, Verselbstständigung und Bürgergesellschaft auf der anderen Seite. So zumindest ist die idealtypische Erzählung, die allerdings zwei Dinge ignoriert: Erstens entsprachen die Konzepte, Ordnungen und Gesetze des frühen 19. Jahrhunderts nicht der administrativen Realisierung, denn die Umsetzung gestaltete sich schwierig. Auch war mit diesen frühen Programmen keineswegs die Ordnung der Gemeinde für alle Zukunft bestimmt. Die Reformen blieben Stückwerk – wie in Preußen, wo nur die Städte eine entsprechende Ordnung bekamen, die Landgemeinden aber zum Teil sehr lange, in Ostelbien bis 1891, auf eine dauerhafte Gemeindeordnung warten mussten. Andere Programme wurden wieder zurückgenommen oder überhaupt nur bruchstückhaft umgesetzt – in Bayern ebenso wie in Frankreich, wo die territoriale Abgrenzung der Gemeinden voneinander – Grundvoraussetzung für die Gemeindebildung – erhebliche praktische Schwierigkeiten machte. Zudem waren die erwähnten Ordnungen nur der Anfang. In allen drei Staaten wurden die Gemeindegesetze im 19. Jahrhundert immer wieder überarbeitet, angepasst oder gar komplett neu geschaffen. Die zugespitzte Typisierung ergibt sich also nur aus der normativen Situation im frühen 19. Jahrhundert, sagt aber über die überaus komplexe administrative Realisierung nur sehr wenig aus.

1 Vgl. Godechot 1968, S. 108–112; Lignereux 2012, S. 103–135. 2 Vgl. Mages 11.5.2006; Söder 1998; Weiss 1986. 3 Vgl. Koselleck 1981, S. 560–586; Mieck 1993; Nipperdey 1983, S. 38–40.

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Regierung durch Selbstverwaltung

Zweitens – und das ist das wichtigere Argument – verstellt die Opposition von Verstaatlichung und Autonomisierung den Blick darauf, dass diese Herangehensweisen ans Gemeindeproblem mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede hatten. Denn es handelte sich eben in allen Fällen um Regierungstechniken. Ländliche Gemeinden wurden – mal früher, im Fall der Landgemeinden im ostelbischen Preußen später – zu Teilen des Staats. Sie wurden zu Räumen, in denen die lokale Gesellschaft regiert werden konnte, das heißt in denen die Bevölkerung in einer bestimmten Weise beeinflusst und gesteuert wurde (oder zumindest: werden sollte).4 Die Gemeinden wurden standardisiert; staatliche Aufgaben wurden an sie übertragen und bisher genossenschaftliche oder kirchliche Handlungsfelder auf den Staat ausgerichtet. Dies waren teils Effekte der neuen Gemeindeordnungen, teils unabhängige Entwicklungen, die jedoch durch die neuen Gemeindeordnungen reflektiert und verstärkt wurden. Diese verstreuten Praktiken fasse ich heuristisch zusammen und analysiere sie als „Gouvernementalisierung der Gemeinden“. Damit mache ich mir ein weiteres Mal einen Terminus von Michel Foucault zu eigen, der ihn allerdings auf den Staat selbst gemünzt hatte. Die Gouvernementalisierung, so formulierte er es in seinem gleichnamigen Vortrag von 1978, habe es dem Staat ermöglicht, trotz aller Kämpfe um das Regieren selbst erhalten zu bleiben, ja sich überhaupt erst als moderner Staat zu konstituieren. Die Gouvernementalisierung sei historisch betrachtet die Entwicklung, durch die bestimmt wurde, „was in die Zuständigkeit des Staates gehört und was nicht in die Zuständigkeit des Staates gehört, was öffentlich ist und was privat ist, was staatlich ist und was nicht staatlich ist“.5 In ähnlicher Weise fasse ich die Gouvernementalisierung der (Land-)Gemeinden: Mit Gouvernementalisierung der Gemeinden ist der Prozess angesprochen, durch den Gemeinden als Institutionen stabilisiert und als Akteurinnen des lokalen Regierens geschaffen wurden. Sie wurden dadurch zwar nicht die Monopolistinnen des Regierens im ländlichen Raum, doch sie richteten viele Regierungstaktiken und Aufgaben auf sich aus. Gouvernementalisierung der Gemeinden bedeutete auch eine Problematisierung des Wesens von Gemeinde: Was war eine Gemeinde? Was sollte sie leisten, was sollte sie vermeiden oder verhindern? Damit fokussiere ich das „doing“ der Gemeinde; ich setze sie nicht als gegeben voraus, sondern betrachte sie in ihren sich wandelnden Realisierungen.6 Zunächst werde ich in einem ausführlichen Abschnitt die Auseinandersetzung mit dem Konzept „Gemeinde“ im Zuge der politischen Reformdebatten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts analysieren. Danach untersuche ich die Praktiken 4 Eine vergleichbare Idee verfolgen (allerdings für das Großbritannien der Thatcher-Ära) Rose, Miller [1992] 2010. 5 Foucault 2003, S. 822. 6 Vgl. Gehring 2008, S. 153.

Die Problematisierung des dorfgemeindlichen Lebens: Reformen und Reformversuche

der gemeindlichen Selbstverwaltung in den Untersuchungsgemeinden, wobei die Gemeinderäte die zentralen Organe der Gemeindeverwaltung waren. Sie stellten die halböffentlichen Orte der Gemeindepolitik dar. Was können wir trotz der fragmentarischen Überlieferung über ihre Zusammensetzung herausfinden, was über ihre Sitzungspraxis und über einschränkende oder ermöglichende Faktoren ihres Wirkens? In einem kurzen Überblick umreiße ich anschließend, wie vielfältig das Handeln von Gemeindevertretungen war; in den folgenden Kapiteln werde ich das immer weiter differenzieren. Abschließend diskutiere ich, wie die strukturellen Wandlungen des modernen Staats als Basisprozess der Moderne und das Ordnungsmuster gemeindliche Selbstverwaltung miteinander verschränkt waren, vermittelt über die lokalen Praktiken, die nur in den Dörfern selbst beobachtet werden können.

3.1

Die Problematisierung des dorfgemeindlichen Lebens: Reformen und Reformversuche

Gemeindeverfassungen waren ein umstrittenes Thema, und die Debatte um sie brach im 19. Jahrhundert kaum jemals ab. Manche Reformvorhaben gelangen, andere verliefen im Sande.7 Auch die gescheiterten Reformen produzierten Quellen: stenographische Berichte von parlamentarischen Debatten, Denkschriften und Vorträge aus dem Gesetzgebungsprozess, aber auch Interventionen wie Petitionen oder Expertengutachten. Sie verraten viel über Vorstellungen und Zielsetzungen, die die Zeitgenossen mit der Ordnung der Gemeinden verbanden. Hier wurden Gemeinden problematisiert, und das heißt: Sie wurden zu einem Gegenstand gemacht, der nicht nur intellektuell gefasst, sondern auch politisch bearbeitet und in eine rechtliche Form gegossen werden konnte.8 Eines der gescheiterten Projekte war die preußische Gemeindeordnung von 1850. Diese war zwar knapp drei Jahre gültig, doch wurde sie noch nicht umgesetzt, als die Debatten über ihre Kassation bereits begonnen hatten.9 Interessant ist sie trotzdem, denn hier verhandelte der Preußische Landtag darüber, wie die Gemeinden die postrevolutionäre Gesellschaft insgesamt stabilisieren sollten. Die Meinungen gingen allerdings auseinander, ob dafür eine Reform dringend erforderlich sei (das

7 Die Notwendigkeit, auch gescheiterte Reformvorhaben in die Analyse der Demokratiegeschichte einzubeziehen, betonen Capoccia, Ziblatt 2010. 8 Vgl. Bacchi 2012, S. 2. Auch dieser Ansatz geht übrigens auf Foucault’sche Überlegungen zurück: Foucault 2005, S. 825; dazu vgl. Castel 1994. 9 In den einschlägigen Handbüchern ist über die Gemeindeordnung von 1850 wenig zu finden, wohl weil sie rechtlich wenig Wirkung hatte. Vgl. Bornhak 1886, S. 256–258; Heffter 1969, S. 461; Unruh 1983, S. 462 (ein Absatz). Etwas ausführlicher: Grünthal 1982, S. 181–187.

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Regierung durch Selbstverwaltung

war die liberale Position)10 oder ob eine Reform gerade die Stabilität gefährde (dies entsprach der konservativen Haltung).11 Letztlich setzte sich die konservative Richtung in der Ära der Reaktion durch. Die nächsten Jahrzehnte war die preußische Bürokratie damit beschäftigt, die Gemeinden trotzdem in eine neue Ordnung zu bringen, die Stimmrechte zu standardisieren und dort, wo es sie noch nicht gab, Dorfschulzen einzusetzen, mit denen die Bürokratie kooperieren konnte. Allerdings geschah dies nun für jede Gemeinde einzeln und war entsprechend noch nicht abgeschlossen, als die sieben östlichen Provinzen schließlich im Jahr 1891 doch noch eine Gemeindeordnung bekamen.12 Nun aber zu den drei Reformen, die in den drei untersuchten Territorien tatsächlich umgesetzt wurden: die bayerische Gemeindeordnung von 1869, die preußische von 1891 und die reichsländische von 1893. Die drei ähneln sich, problematisierten aber die Gemeinde und ihre Verwaltung auf je eigene Art. 3.1.1

Bayern 1869: Stadtgemeinden, Landgemeinden

In den späten 1860er Jahren widmete sich der Bayerische Landtag einem großen Reformprojekt, der sogenannten Sozialgesetzgebung, die Gewerbefreiheit und Freizügigkeit schaffen sollte. In diesem Kontext sollte auch die Gemeindeautonomie gegenüber dem revidierten Gemeindeedikt von 1834 weiter ausgebaut werden, vor allem, um die Partizipationsinteressen der besitzenden Gruppen zu befriedigen und sie gleichzeitig im lokalen Raum einzuhegen.13 Die Neufassung der gemeindlichen Autonomie war also in erster Linie auf die Städte gerichtet, doch auch in den Landgemeinden wurde nun die Staatsaufsicht zurückgefahren. Nicht nur Modernisierer trieben diese Reform voran, im Gegenteil:14 Konservative Politiker wie Wilhelm von Thüngen, Mitglied im Sozialgesetzgebungsausschuss der Kammer der Reichsräte und Mitbegründer der konservativen Bayerischen Patriotenpartei, sahen in autonomeren Gemeinden einen Damm gegen politische und gesellschaftliche Demokratisierungsprozesse. Das konnte allerdings nur dann

10 Vgl. Rönne 1850, S. 12. 11 7 gedruckte Petitionen an den Preußischen König (3 Seiten), 7/1850, Bl. 2; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 1, adh. II. Vgl. auch die Artikel in der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung), die etwa vor der Unruhe in der Landwehr warnten, „wenn der Gutsherr oder Gutspächter, der jetzt als Offizier seine eigenen und seine nächsten Nachbarsleute führet, durch die neue Gemeindeordnung es nur mit Leuten zu thun behält, die stolz darauf sind, ‚staatsbürgerlich‘ von ihm emancipirt zu sein und eben keine natürliche Autorität mehr in ihm zu erblicken.“ Neue Preußische Zeitung 1851, Nr. 68 vom 22.3.1851, S. 1. 12 Vgl. Wagner 2005, S. 145–157. 13 Vgl. Hesse 1971, S. 14. 14 Vgl. Rumschöttel 2012, S. 17.

Die Problematisierung des dorfgemeindlichen Lebens: Reformen und Reformversuche

gelingen, wenn das Bürgerrecht auf die Grundbesitzer beschränkt bliebe, so die konservative Annahme.15 Im Gegensatz zu den Ordnungen von 1818 und 1834 handelte es sich diesmal um eine parlamentarisch erarbeitete Reform, die entsprechend ein ganz anderes Ausmaß an politischer Debatte und gesellschaftlicher Resonanz erzeugte.16 Entsprechend finden sich in den Protokoll- und Beilagebänden der beiden Kammern des Bayerischen Landtags unglaubliche Mengen an Quellen, die von der breiten Problematisierung der Gemeinden zeugen. Dazu gehört auch der ausführliche Vortrag von Thüngens vor dem Sozialgesetzgebungsausschuss der Kammer der Reichsräte vom 31. Januar 1869, der den Diskussionsstand zur Gemeindeordnung zusammenfasste und aus konservativer Perspektive kommentierte. Thüngen forderte mit Verve ein, dass die Kommunen in der neuen Gemeindeordnung in erster Linie als wirtschaftliche, nicht als politische Körperschaften definiert werden sollten. Damit unterstrich er die nicht nur in Bayern sehr einflussreiche Lesart des Gemeindeproblems, dass Gemeinde und Staat grundsätzlich verschieden seien und entsprechend unterschiedlich behandelt werden müssten.17 So konnte von Thüngen argumentieren, dass nur den Grundbesitzern Mitspracherecht in den Gemeinden zukomme. Diese konservative Linie setzte sich weitgehend durch, sodass die Besitzenden auf Kosten der wachsenden Unterschichten ihre Dominanz in den Gemeinden verteidigen konnten.18 Besonders ausführlich stritten die Parlamentarier über die Frage, ob es für alle Gemeinden eine gemeinsame Ordnung geben oder ob das Gesetz zwischen Stadtund Landgemeinden unterscheiden solle.19 Schlussendlich gab es zwar weiterhin eine Gemeindeordnung (nicht wie in Preußen, wo bis in die Zwischenkriegszeit unterschiedliche Gesetze für Städte und Landgemeinden existierten), doch diese sah für Städte und Märkte auf der einen und Landgemeinden auf der anderen Seite unterschiedliche Regelungen vor. Diese Unterscheidung war folgenreich, denn sie reflektierte nicht nur vorhandene Unterschiede, wie die Politiker argumentierten, sondern verstärkte die Differenz zwischen Stadt und Land weiter. Die kleinen Landgemeinden sollten mit der Verwaltung nicht überfordert werden, denn sie galten als wenig leistungsfähig – weder in finanzieller noch in perso-

15 Thüngen 1869, S. 366. 16 Vgl. Hecker 1998, S. 6 f. 17 Thüngen 1869, S. 291. Das war kein bayerisches Spezifikum, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden. 18 S. u., Kap. 6.2. 19 Diese Frage wurde vor allem deshalb so ausführlich diskutiert, weil zu Bayern auch die Pfalz gehörte, die durch die französische Gemeindegesetzgebung geprägt war, die nicht zwischen Städten und Landgemeinden unterschied. Schließlich wurde der Konflikt über die Einheitlichkeit der bayerischen Gesetzgebung gelöst, indem die Pfalz eine eigene Gemeindeordnung erhielt.

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Regierung durch Selbstverwaltung

neller Hinsicht. Dadurch wurde den Landgemeinden gleichzeitig die Möglichkeit verstellt, ihre Verwaltung zu professionalisieren oder Investitionen, beispielsweise in kommunale Infrastrukturen, zu tätigen. Vor allem in dieser Hinsicht entwickelten sich Städte und Landgemeinden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark auseinander: Während die Städte immer mehr zu leistungsfähigen Kommunen wurden, konnten die Landgemeinden es ihnen nicht gleichtun, selbst wenn die Gemeindebürger es gewollt hätten. Die Regelungen für die Landgemeinden in der Gemeindeordnung schränkten die Freiräume für die Dörfer ein. Allerdings hatte das Ministerium durchaus versucht, auch die Verwaltung der Landgemeinden zu verändern. Nach dem Vorbild der bayerischen Pfalz sollten auch im rechtsrheinischen Bayern mehrere Landgemeinden zu einer Verwaltungseinheit mit einem professionellen Bürgermeister, einer Bürgermeisterei, zusammengefasst werden. Der hauptamtliche Vorsteher, so die Hoffnung, hätte mehr Kapazitäten für eine leistungsfähige Verwaltung als die ehrenamtlichen Bürgermeister. Doch diese Reform scheiterte am Widerstand der konservativen Patriotenpartei, die den Landtagswahlkampf im Herbst 1869 unter anderem auf dieses Thema ausrichtete. Die Agitation gegen die Bürgermeistereien ist sehr interessant, weil sie noch einmal zeigt, wie die Verwaltung der Landgemeinden konservativ ausbuchstabiert wurde. Die parteinahe Zeitung Der Volksbote für den Bürger und Landmann20 rief die Landbevölkerung zur Gegenwehr gegen die Verwaltungsreform auf. „Schau dich recht um, die Bürgermeisterei geht um!“21 Dieser Argwohn gegenüber den Bürgermeistereien speiste sich in erster Linie aus einer antibürokratischen und gegen die liberale Regierung gerichteten Haltung.22 Die Zusammenlegung mehrerer Gemeinden mit einem besoldeten Bürgermeister werde nur die „Schreiberei“ (um ein klassisches antibürokratisches Schlagwort zu verwenden) vermehren,23 koste „den“ Bauern übermäßig Geld24 und führte Personen in die Dörfer, die dort nichts zu suchen hätten und nicht nur fremd,25 sondern in der Regel auch antireligiös seien.26 Damit war ein Gutteil des argumentativen Arsenals gegen liberale Verwaltungsreformen ausgebreitet: Bürokratiekritik, Kritik an Steuern und Abgaben und 20 21 22 23 24

Vgl. Hesse 1971, S. 269; Hartmannsgruber 1986; Hoser 16.10.2012. Der Volksbote für den Bürger und Landmann vom 15.8.1869, S. 794. Vgl. Hartmannsgruber 1986, 87, 89. Der Volksbote für den Bürger und Landmann vom 11.8.1869, S. 779. Dieses Argument ist immer wieder zu finden, beispielsweise: ebd., 14.8.1869, S. 790; ebd., 18.8.1869, S. 801; ebd., 24.9.1869, S. 929. 25 Explizit auf die Fremdheit des drohenden professionalisierten Kommunalpersonals zielt eine andere Wortmeldung ab; vgl. ebd., 15.8.1869, S. 794. 26 „Die Landleute fürchten (mit Recht!) einen Bürgermeister, der in Schreibereien und den neuen Gesetzen recht zu Hause ist und wollen lieber einen, der in je ihrem Orte und im Christenthum daheim ist.“ Ebd., 11.8.1869, S. 779; vgl. auch ebd., 15.8.1869, S. 794, wo von den „Gebildeten“ die Rede ist, die zumeist ungläubig seien.

Die Problematisierung des dorfgemeindlichen Lebens: Reformen und Reformversuche

am vermeintlich religionsfeindlichen Staat – wurde doch diese Debatte mitten im (in Bayern besonders hart ausgefochtenen) Kulturkampf geführt. Der Volksbote bemühte hier die Dichotomie zwischen „Staat“ und „Land“, die nicht deckungsgleich mit der Opposition Stadt/Land, aber ebenso einflussreich war. Während der Staat für den „Fortschritt“ antrete, seien die alten Verhältnisse auf dem Land zu schützen; die formale Bildung der Bürokraten wurde gegen die letztlich überlegene „Schläue“ und den Verstand der Bauern ausgespielt. Mit dieser permanenten Opposition griff der Volksbote die Stimmung der einflussreichen Bauern auf dem Land gegen die Bürgermeistereien und damit eine Professionalisierung der ländlichen Verwaltung auf und verwandelte sie in eine grundlegende Opposition des Landes gegen den Staat. Die Patriotenpartei gewann die Landtagswahl im Herbst 1869 und damit die Richtungsentscheidung zwischen dem „[w]eitere[n] Ausbau der liberalen Reformen“ oder der „vorwaltenden Rücksichtnahme auf die sozialkonservative Mehrheit der Bevölkerung“27 zugunsten der zweiten Option. Ob die nun patriotische Kammermehrheit oder die administrativen Schwierigkeiten letztlich den Ausschlag gaben: Die Bürgermeistereien wurden nicht realisiert. Und die Landgemeinden waren durch parlamentarische und publizistische Debatten sowie die rechtliche Verfassung zu einem Gegensatz zu Städten und Staat stilisiert worden. Das war allerdings nicht nur eine Wirkung der Agitation durch die Patriotenpartei. Auch in der Gemeindeordnung war das bereits angelegt. Aus demokratiehistorischer Perspektive ist beispielsweise wichtig, dass die Landgemeinden keine repräsentative Ordnung erhielten, denn die höchste Institution, der die zentralen Befugnisse in der Gemeinde zukamen, war die Gemeindeversammlung, in der alle Gemeindebürger gemeinsam über Wohl und Wehe der Gemeinde entscheiden sollten. Damit vertiefte die Gemeindeordnung die Kluft zwischen landgemeindlichem und staatlichem Regieren, bei dem das monarchische Prinzip durch repräsentative Formen ergänzt wurde. Die Gemeindeordnung in Bayern, die (gerade im Vergleich zu Ordnungen, die den Gemeinden weniger Autonomie versprachen) oft gelobt wird,28 war ein Mittel konservativer Gesellschaftspolitik, die die Landgemeinden zu unpolitischen Instanzen machte und Gemeindefreiheit vor allem als Freiheit der Gemeinde vom Staat interpretierte.29 Damit war das Programm ganz und gar nicht unpolitisch.

27 Hartmannsgruber 1986, S. 84. 28 Hecker 1998, S. 6; Knemeyer 1994. 29 Vgl. Hesse 1971, S. 210.

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3.1.2

Östliches Preußen 1891: Die Mobilisierung von Ressourcen

In Preußen dauerte es noch bis Anfang der 1890er Jahre, bis auch für die östlichen Provinzen eine Landgemeindeordnung geschaffen wurde. Das stand in einem engen Zusammenhang mit dem Kommunalabgabengesetz, das die Steuereinnahmen von Staat und Gemeinden auf eine neue Grundlage stellte. Noch im Jahr 1890 hatte Innenminister Ernst Ludwig Herrfurth eher verhalten auf eine Anfrage zur Gemeindeordnung reagiert und mitgeteilt, er sei von deren Notwendigkeit nicht überzeugt.30 Doch andere Akteure sahen das anders. Der Verein für Socialpolitik führte sogar eine Enquête zur Gemeindeverfassung durch, und Hugo Thiel, Ministerialdirektor im Preußischen Landwirtschaftsministerium, appellierte in der Publikation des Vereins im Jahr 1890 an den Gesetzgeber, eine wirksame Gemeindeordnung für die Landgemeinden zu schaffen. Zwar sei die reine Verwaltungsarbeit auch ohne gemeindliche Selbstverwaltung zu schaffen, aber es sei Zeit, auch die ländlichen Einwohner (gemeint waren die besitzenden Einwohner) zu Bürgern zu machen, und das gelinge nur, wenn man sie zur Mitarbeit bewegen könne. Eine wirklich lebendige Einsicht in den Zusammenhang der gesellschaftlichen Ordnung, in die Bedingtheit staatlicher Existenz und Wirksamkeit, in die Voraussetzungen, unter denen sich ein Gemeinwesen entfalten und gedeihen kann, in die Möglichkeiten und Grenzen einer Teilnahme der Staatsangehörigen an der Regierung des Staates, das alles kann dem Verständnis der Mehrzahl selbst der Gebildeten und Begüterten nur vermittelt werden durch das Gemeindeleben als derjenigen Form staatlicher Organisation, mit der man am unmittelbarsten Fühlung gewinnen kann.31

So sei die Schaffung kommunaler Selbstverwaltung auch im ländlichen Raum ein Teil der politischen Erziehung der Untertanen, ohne dass Thiel das monarchische Prinzip antastete. Dem preußischen Innenministerium ging es jedoch um ganz andere Fragen. Laut einer Denkschrift war weniger die politische Erziehung als vielmehr die Sesshaftmachung der ländlichen Bevölkerung das Ziel einer Gemeindereform. Es galt, die Abwanderung der ländlichen Unterschichten in die Städte und den so entstehenden Arbeitskräftemangel auf dem Land zu bekämpfen: Im besonderen wird betont, daß es darauf ankomme, in dem ländlichen Arbeiter- und Handwerkerstande durch Verleihung des Rechtes der Beschlußfassung über öffentliche

30 Rede des Ministers Herrfurth 1890. 31 Thiel 1890, XI.

Die Problematisierung des dorfgemeindlichen Lebens: Reformen und Reformversuche

Angelegenheiten den Sinn für Seßhaftigkeit und für die bestehende Gesellschaftsordnung zu wecken.32

Aber letztlich ging es bei der anstehenden Reform um ganz praktische Fragen: Die Gemeindeordnung wurde auch deshalb notwendig, weil niemand mehr den Wust von Einzelordnungen, verwaltungsgerichtlichen Urteilen und Ausführungsbestimmungen überblickte, am wenigsten die ländliche Bevölkerung selbst.33 Die Besitzverhältnisse in den Gemeinden hatten sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, in den lokalen Ordnungen war aber immer noch eine Gruppe von etwa gleich besitzenden Bauern privilegiert. Das führte zu ständigen Konflikten über kommunale Pflichten und Rechte.34 Noch ein weiteres Problem kam hinzu: Für die Armenfürsorge, den Ausbau des ländlichen Straßen- und Wegenetzes etc. mussten lokale Ressourcen mobilisiert werden. Ohne Gemeinden als echte Einheiten des ländlichen Regierens war das nicht mehr zu machen. Auch die Finanzierung und Organisation der Dorfschulen erforderten eine lokale Verwaltung, die nicht mehr nur über die teils sehr großen Kreise sichergestellt werden konnte. Allerdings existierten im östlichen Preußen sehr viele sehr kleine Gemeinden, die die erheblichen Lasten der öffentlichen Aufgaben kaum tragen konnten.35 Diese Fragen waren es letztlich, die den Ausschlag für eine Neuregelegung des ländlichen Gemeindewesens gaben. Und das ging nicht ohne zumindest eine eingeschränkte Partizipation der lokalen Bevölkerung. Räume der Selbstverwaltung mussten geschaffen werden, um öffentliche Aufgaben realisieren zu können.36 Widerstand gegen die Gemeindeordnung kam aus der konservativen Richtung. Denn die liberale Kammerminderheit und Innenminister Herrfurth hofften, nun endlich die Doppelstruktur von Landgemeinden und Gutsbezirken zu beenden,

32 Denkschrift, betreffend die Reform der Landgemeindeverfassung in den sieben östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie, 26.7.1890; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 10, Bd. 4, fol. 401–428, hier: fol. 416. Einhellig war diese Meinung aber nicht; die Mehrzahl der Befragten votierte für eine klare Bevorzugung der Bauern, sprich der Landbesitzer, gegenüber den dörflichen Unterschichten. 33 Vgl. Menzen 1891, S. 56; vgl. auch Motive zum ersten Entwurf der Gemeindeordnung, 26.7.1890; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 10, Bd. 4, fol. 3–6, hier fol. 3 u. RS. 34 S. u., Kap. 6. 35 Vgl. Erhebung von 1890; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 10, Bd. 2, fol. 5–11. Knapp 8000 der rund 25.000 Landgemeinden in den östlichen Provinzen, also etwas weniger als ein Drittel, hatten weniger als 150 Einwohner:innen. In Brandenburg hatten 1172 von 3163 Landgemeinden bis 200 Einwohner:innen, also ebenfalls rund ein Drittel; gleichzeitig zählten 163 brandenburgische Gemeinden mehr als 1000 Einwohner:innen und sogar neun mehr als 5000 Einwohner:innen. Die Spannbreite war also enorm; dazu trug vor allem der Speckgürtel Berlins bei. 36 Vgl. Keil 1890, S. 217: „Und doch kann ohne eine Landgemeindeordnung weder die Wege-, Schulund Armenlast gerecht verteilt noch eine organische Kommunalsteuerreform in Angriff genommen werden.“

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indem man die Gutsbezirke mit den Landgemeinden vereinige.37 Gegen diese Entmachtung der Gutsbesitzer auf lokaler Ebene machten die Konservativen, allen voran Otto von Bismarck, Stimmung. In seinen Memoiren formulierte Bismarck seine Einwendungen gegen die Gemeindeordnung so: [D]ie Landbevölkerung der alten Provinzen lebe in tiefem Frieden mit einander, Niemand fühle ein Bedürfniß der Aenderung […]; die große Masse der ländlichen Bevölkerung lebe in der jetzigen bäuerlichen Dorfverfassung in Ruhe und Frieden, und auch zwischen Guts- und Dorfgemeinden herrsche nicht nur Eintracht, sondern auch auf beiden Seiten Abneigung gegen Aenderungen.38

Auch andere Konservative betonten, die ländliche Bevölkerung wolle überhaupt keine neue Gemeindeordnung.39 Und offenbar waren die Landgemeinden wenig bereit, Geld für lokale Verwaltung auszugeben.40 Der große Streit, der über die Gemeindeordnung ausbrach, kann damit aber kaum erklärt werden. Die politische Aufregung zeigt vielmehr, dass die Reform der Landgemeindeverwaltung ganz grundlegende Fragen berührte. Anton Sombart wollte die Gemeindeordnung zum Anlass nehmen, die Ausbreitung der Sozialdemokratie aufs Land zu verhindern, indem „zuverlässige“ Bevölkerungsgruppen auf dem Lande angesiedelt werden sollten.41 Die Konservativen um Otto von Bismarck sahen hingegen ihre Vorrangstellung auf dem Land schwinden und kämpften dagegen an, wie sie auch schon gegen die Kreisordnung von 1872 angekämpft hatten.42 Die Gemeindeordnung war aufs Engste mit sehr unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Programmen verbunden. 3.1.3

Reichsland Elsass-Lothringen 1895: Selbstverwaltung als Schule der Bürger

Im Jahr 1892 wurde dem Landesausschuss Elsass-Lothringen der Entwurf einer Gemeindeordnung vorgelegt. Das war spät, gemessen an Bismarcks Äußerung vor dem Reichstag im Mai 1871, den Elsässern und Lothringern solle ein ähnliches Maß

37 Vgl. Heffter 1969, S. 716. 38 Bismarck 2012, S. 430. 39 Abgeordneter Wilhelm v. Rauchhaupt (Deutschkonservative Partei) im Preuß. Abgeordnetenhaus, 16. Sitzung am 16.2.1889; in: GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 10, Bd. 2, fol. 76 RS. 40 Vgl. Kitzel 1957, S. 57–65. 41 Drucksache Stenographische Berichte der Verhandlungen des preußischen Hauses der Abgeordneten: Sombart, Anton (Nationalliberale), 16. Sitzung, 25.02.1890, S. 335–354 (Drucksache), hier S. 336; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 10, Bd. 3. 42 Vgl. Kitzel 1957, S. 147. Zum Streit um die Kreisordnung vgl. Wagner 2005, S. 291–375.

Die Problematisierung des dorfgemeindlichen Lebens: Reformen und Reformversuche

an kommunaler Selbstverwaltung zugestanden werden wie den anderen Einwohnern des Deutschen Reichs.43 Die Selbstverwaltung schien eine Möglichkeit zu sein, die (städtische) Bevölkerung im „Reichsland“ für die deutsche Sache zu gewinnen, „bei dem deutschen Charakter der Elsässer und Lothringer, der mehr nach individueller und kommunaler Selbstständigkeit strebt, wie der Franzose“.44 Doch die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung im Reichsland warf heikle Fragen von Souveränität und der verfassungsrechtlichen Konstruktion des Reichslands auf, das vor allem in den 1870er und 1880er Jahre strikt und zentralistisch regiert wurde. Auf lokaler Ebene wurde daher die Verwaltung zunächst einfach weitergeführt; die französische Gemeindeordnung von 1855 blieb in Kraft, die Kommunalverwaltung stark zentralisiert. Die lokalen Behörden waren Teil der Staatsverwaltung, und die Bürgermeister wurden ernannt, nicht gewählt. Die Gemeinderäte durften nur auf wenigen Feldern mitsprechen, und die Staatsaufsicht war streng. Oberhalb der Gemeinden war die Verwaltung bereits in den frühen 1870er Jahren etwas dezentralisiert worden; viele Befugnisse, die in französischer Zeit beim Präfekten gelegen hatten, wurden nun an die Kreisdirektoren delegiert, ähnlich wie in Preußen. Doch nun, gut zwanzig Jahre nach der Annexion, sollte die Kommunalverwaltung stärker den Einwohnern übertragen werden. In der Begründung des Gesetzentwurfes hieß es: Dadurch, daß die Gemeinde gekräftigt wird, soll die Liebe zu derselben belebt, der Gemeinsinn überall geweckt werden, und von der größeren Selbständigkeit und dem freieren Spielraume in der Entfaltung der Kräfte ist eine durchgreifendere Mitarbeit und die bisher oft vermißte Theilnahme der Gemeindeeingesessenen bei der Berathung und Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten zu erhoffen. Die selbständige Verwaltung der letzteren soll gleichzeitig eine Schule für die selbständige Verwaltung auch der Angelegenheiten der Kreise und Bezirke sein.45

Mit solchen Motivschriften zu Gesetzesentwürfen muss man vorsichtig sein: Oftmals werden hier besonders hohe, vor allem ethische Ziele genannt, die durch die Gesetzesreform erreicht werden sollten. Das muss nicht zwingend die Hauptmotivation des Ministeriums für Elsass-Lothringen gewesen sein. Für eine Analyse der Problematisierungsweise ist aber wichtig, was hier wie miteinander verknüpft

43 Abgesehen davon, dass die Ankündigung folgenlos blieb: Auch im Deutschen Reich galt die Selbstverwaltung ja keineswegs flächendeckend und etwaige Anstrengungen in diese Richtung wurden von Bismarck selbst sogar bekämpft. 44 Otto von Bismarck am 2.5.1871, in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags/Stenographische Berichte, Bd. 1, S. 519. 45 Begründung, in: Landesausschuss für Elsass-Lothringen (XIX. Session 1892). Vorlage No. 2: Entwurf einer Gemeindeordnung, 14.1.1892, Bd. 2, S. 27; ADBR, 39 AL 166.

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wurde. Und das war in diesem Fall die kommunale Selbstverwaltung, die mit der Förderung der „Mitarbeit“ jedes Einzelnen verbunden wurde. So kritisierte das Ministerium hier „die bisher oft vermißte Theilnahme“46 seitens der Bevölkerung. Die Debatte im Landesausschuss zeigte dann, dass Selbstverwaltung und Motivation zur Partizipation diskursiv so eindeutig miteinander verschaltet waren, dass sie auch von den Abgeordneten aufgegriffen wurde. So argumentierte der Abgeordnete Klein beispielsweise, das Reichsland bräuchte „dies[e] Schule […], um die Bürger zur Selbstständigkeit und zur Selbstverwaltung heranzubilden“.47 Daher müsse zuerst die kommunale Selbstverwaltung geschaffen werden, um dort fähige Männer auszubilden, die dann in einem weiteren Schritt auf der Ebene der Kreise mitbestimmen könnten. Ernst von Köller, Unterstaatssekretär im Ministerium für Elsass-Lothringen und maßgeblich mit der Gemeinde- und Kreisordnung befasst, appellierte an den Landesausschuss: „‚Selbst ist der Mann‘; was wir selbst können, sollen wir durch keinen andern machen lassen, und wenn Sie sich selbst in vielen Angelegenheiten Ihre Sachen besorgen können, warum wollen Sie es sich durch andere machen lassen?“48 Kommunale Selbstverwaltung, so wird in diesen Zitaten deutlich, sollte die Bürger des Reichslandes aktivieren, sollte sie motivieren, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen – allerdings innerhalb der gebotenen Grenzen. Kommunale Selbstverwaltung sollte keine Vorstufe zu einem demokratischen Aufbruch sein. Große neue Freiheiten versprach jedoch der Entwurf von 1892 nicht. Zwar wurde die Staatsaufsicht etwas reduziert, hier und dort die Entscheidungsbefugnis der Gemeinderäte erweitert. Doch ein Wahlrecht für den Bürgermeister gab es noch immer nicht, und letztlich blieb die Selbstverwaltung auf die Administration der Gemeindegüter begrenzt.49 Die Gemeindeordnung, so vermutet Preibusch, sei der Versuch des Ministeriums gewesen, die aufkommenden Wünsche nach einer Verfassung aufzugreifen und abzulenken.50 Doch es dauerte noch drei Jahre, bis sie in Kraft trat. Denn der erste Entwurf blieb im Landesausschuss stecken; erst 1895 wurde die Gemeindeordnung

46 Ebd. 47 Stenographischer Bericht, Landesausschuss für Elsaß-Lothringen, 19. Session, 5. Sitzung, 17.2.1892, S. 60; ADBR, 39 AL 166; ähnlich argumentiert auch Hugo Zorn von Bulach, einer der wichtigsten elsässischen Politiker der „Reichsland“-Zeit, in: ebd., S. 61 f. 48 Ernst v. Köller, in: Stenographischer Bericht, Landesausschuss für Elsaß-Lothringen, 19. Session, 4. Sitzung, 16.2.1892, S. 37; ADBR, 39 AL 166. 49 S. u., Kap. 5. 50 Preibusch 2006, S. 331 f.

Die Problematisierung des dorfgemeindlichen Lebens: Reformen und Reformversuche

für Elsass-Lothringen schließlich vom (ohnehin nur beratenden) Landesausschuss abgenickt und kaiserlich sanktioniert.51 Auch hier war übrigens die Frage strittig gewesen, ob es eine gemeinsame Ordnung für Stadt und Land geben solle. Das Ministerium plädierte für unterschiedliche Ordnungen, weil die Dorfbevölkerung keine Muße für und kein Interesse an der Selbstverwaltung habe.52 Die Bevölkerung musste vor allem in den Städten für die deutsche Sache begeistert werden; die Landbevölkerung war offenbar nicht so wichtig. *** Was bleibt nun nach der Analyse der Problematisierungsweisen von gemeindlicher Selbstverwaltung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Die Motive für die Reformen versprachen Ähnliches: Mehr Freiheit in der Verwaltung der lokalen Angelegenheiten sollte Partizipation für die vernünftigen Bürger ermöglichen, das Regieren vereinfachen und die Bürger näher an den Staat binden. Diese Vorstellung ging in der Regel von den Stadtgemeinden aus – besonders sichtbar bei der bayerischen und der elsass-lothringischen Gemeindeordnung, denn beide unterschieden zwischen Stadt- und Landgemeinden. Konservative Politiker betonten, dass die Landbevölkerung kein Interesse an einer Reform der Selbstverwaltung habe. Möglicherweise trauten auch die Vertreter der Bürokratie, die die Gesetze vorbereiteten, der ländlichen Bevölkerung nicht zu, die Verwaltung in die eigenen Hände zu nehmen.53 Außerdem herrschte eine gewisse Furcht, durch die Ausweitung der Selbstverwaltung könnten die Gemeinden in Unruhe gestürzt werden. Durch teils rigide Beschränkungen des Wahlrechts sollte das verhindert werden.54 So zeigt sich in Hinblick auf die Gouvernementalisierung der Landgemeinden, dass die Reformen einerseits eine starke Anbindung der Landgemeinden an die staatliche Ordnung bewirken sollten, denn die Verfassung der Dörfer wurde nicht mehr dem „Herkommen“, der Tradition oder patriarchalen Strukturen überlassen, sondern staatlich zentral geregelt. Andererseits galten die Landgemeinden weiterhin als speziell, und die Differenz zwischen Staat und Landgemeinde wurde betont. Das Durchregieren bis auf die lokale Ebene wurde lieber der untersten Ebene der staatlichen Verwaltung, in der Regel den Kreisen, überlassen; diese sollten auch

51 Vgl. Hartmann 1983, S. 239 f.; Gemeindeordnung für Elsaß-Lothringen 1895. 52 Begründung, in: Landesausschuss für Elsass-Lothringen (XIX. Session 1892). Vorlage No. 2: Entwurf einer Gemeindeordnung, 14.1.1892, S. 30; ADBR, 39 AL 166; Ernst v. Köller, in: Stenographischer Bericht, Landesausschuss für Elsaß-Lothringen, 19. Session, 4. Sitzung, 16.2.1892, S. 37; ADBR 39 AL 166. 53 Die Vorbehalte der Bürokratie gegenüber den ländlichen Selbstverwaltungsvertretern werden in Kap. 4 noch deutlich werden. 54 S. u., Kap. 6.

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dafür sorgen, dass die lokalen Verwalter ihre Aufgaben richtig erledigten. Patriarchale Herrschaftsbeziehungen prägten noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hindurch die lokalen Verhältnisse. Doch spätestens ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts trat eine neue Motivation hinzu: Es galt, die materiellen Ressourcen in den Landgemeinden zu mobilisieren und einzusetzen. Dafür bekam dann sogar das ostelbische Preußen eine Landgemeindeordnung. Doch mit diesen Reformen war es nicht getan. Einige Fragen blieben weiter ungeklärt, zum Beispiel der Dualismus von Gutsbezirk und Landgemeinde in Preußen. Die Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts, die Reannexion des „Reichslandes“ und vor allem die Revolution von 1918/19, machten neue Reformen notwendig.55 Doch in den Reformen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde etwas Wichtiges erreicht: Gemeinden wurden als Regierungsgegenstand etabliert. (Land-)Gemeindeordnungen waren Regierungstechniken zur Mobilisierung von Ressourcen, zur Stabilisierung von Staatsbürgerschaft, zur Disziplinierung von Untertanen. Die Ordnungen sollten Räume schaffen, in denen ein bestimmtes Verhalten der ländlichen Bevölkerung – etwa die angemessene Gestaltung des lokalen Lebens, die Einrichtung von Schulen oder die Unterstützung der Armen – wahrscheinlich wurde, ohne dass die staatliche Bürokratie diese Aufgaben alle selbst erledigen musste. Landgemeindeordnungen waren also ein wichtiges – vielleicht das wichtigste – Mittel der Gouvernementalisierung der Gemeinden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

3.2

Die Vertreter der Gemeinde

In den Dörfern gab es zwei wichtige Positionen innerhalb der kommunalen Selbstverwaltung: die Bürgermeister, Schulzen oder Gemeindevorsteher, die in Kapitel 4 genauer untersucht werden, und die Gemeindevertretungen, die die Mitsprache der (vor allem bäuerlichen) Bevölkerung sicherstellen sollten. Über die Gemeindevertreter in kleinen Gemeinden ist wenig bekannt. In zweierlei Hinsicht waren sie aber bedeutsam: Einerseits beeinflussten sie die Praxis der kommunalen Selbstverwaltung erheblich, indem sie der Institution Gemeinderat ihr Gepräge gaben. Andererseits trafen sie die Entscheidungen in vielen Alltagsbelangen; je weiter das 19. Jahrhundert voranschritt, umso zahlreicher wurden diese. In den folgenden drei Abschnitten werde ich mich konkret diesen Gemeindevertretungen zuwenden. In diesem Kapitel geht es zunächst um das Personal selbst. Wer waren diese

55 Zur (versuchten) Angleichung der elsässischen an die französische Gemeindeordnung s. u., Kap. 9.4; zur Reform der preußischen Landgemeindeordnung s. u., Kap. 10.2; zur Deutschen Gemeindeordnung (DGO) von 1935 s. u., Kap. 11.2.1.

Die Vertreter der Gemeinde

Gemeindevertreter? Und welche Schlüsse kann man aus der Zusammensetzung über die Funktionsweise von dorfgemeindlicher Repräsentation ziehen? Hierfür werde ich zunächst für jede Gemeinde einzeln die Konstituierungsphase der ländlichen Selbstverwaltung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie ihre erste Umbruchphase um 1900 untersuchen. Ich gehe auf Besonderheiten und Veränderungen ein; die Gemeindevertreter sind namentlich aufgeführt. Die Quellenlage zur Zusammensetzung der Gemeindevertretungen ist insgesamt sehr lückenhaft. Die Unterlagen zu den Gemeindewahlen sind nur punktuell überliefert. Eher noch verraten die Gemeinderatsprotokolle, wer an den Sitzungen teilgenommen hat, manchmal aber nicht einmal das. Daher werde ich auf die Quellengrundlage im Folgenden immer wieder genauer eingehen und diese mit den Schlussfolgerungen gemeinsam diskutieren. 3.2.1

Bernried

Nach der bayerischen Gemeindeordnung von 1869 war das wichtigste Organ für die lokale Partizipation in den Landgemeinden die Gemeindeversammlung. Doch faktisch fand lokale Politik im Gemeindeausschuss statt, den die Gemeindemitglieder – und das waren kaum zehn Prozent der Bevölkerung56 – auf sechs Jahre wählten. Er bestand aus dem Bürgermeister, dem Beigeordneten und im Fall von Bernried aus zunächst sechs Gemeindebevollmächtigten.57 Dem Gemeindeausschuss stand die Verwaltung der „eigentlichen Gemeindeangelegenheiten“ zu;58 er führte den Gemeindehaushalt und verwaltete das Gemeindevermögen. Außerdem durfte der Gemeindeausschuss ortspolizeiliche Vorschriften erlassen – also selbst verbindliche Regelungen für Sicherheit und Ordnung im Bereich der Gemeinde schaffen. Der Gemeindeausschuss repräsentierte qua Gesetz die Gemeinde mit all ihren Rechten. Entsprechend war der Ausschuss eine wichtige Institution der gemeindlichen Selbstverwaltung. Über den Bernrieder Gemeindeausschuss und seine Zusammensetzung im 19. Jahrhundert gibt es kaum Quellen. Bis 1878 wurden die Protokolle nur tabellarisch geführt und vom Bürgermeister unterzeichnet.59 Dann aber stellte die

56 Auf die Beschränkungen der lokalen Partizipationsrechte gehe ich in Kapitel 6.2 genauer ein. 57 Die Gemeindeordnung legte die Zahl der Gemeindebevollmächtigten für die Landgemeinden nach unterschiedlichen Größenklassen fest; Bernried fiel sehr lange in die Kategorie „300 bis zu 500 Seelen“, Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 124. 58 Ebd., Art. 130–137. 59 Die Protokollbücher sind im Gemeindearchiv Bernried archiviert: B2/0 (ab 1822) bis B2/9 (bis 1954) und (fast) lückenlos. Allerdings veränderte sich die Protokollierung über die Jahre sehr stark, sodass die Tätigkeit der Gemeindeausschüsse im Grunde erst ab den 1870er Jahren detaillierter nachvollzogen werden kann.

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Bernrieder Gemeindeverwaltung auf eine neue Form der Protokollbücher um, und nun unterzeichneten in der Regel die anwesenden Ausschussmitglieder. Lediglich für die Wahlen 1894 und 1899 sind Unterlagen überliefert, aus denen genauer hervorgeht, wer in welches Amt gewählt wurde. Für 1894 finden sich hier auch Berufsangaben. Angaben zum Alter fehlen allerdings. Die Auswertung der Unterschriften sowie der vorhandenen Wahlunterlagen ergeben eine Liste von 26 Personen, die dem Gemeindeausschuss zwischen 1878 und 1912 angehörten. Besonders auffällig ist, wie stark die Mitglieder in den ersten untersuchten Gemeindeausschüssen fluktuierten. Der Gemeindeausschuss der Wahlperiode 1876 bis 1882 unterschied sich fast vollständig von dem in der Wahlperiode 1882 bis 1888. Lediglich der Bürgermeister Josef Gröber und der Beigeordnete Lorenz Spensberger, der allerdings im Jahr 1882 dieses Amt an Peter Wörle abtrat, saßen in beiden Gemeindeausschüssen. Auch die Wahl von 1888 bescherte der Gemeinde Bernried einen fast vollständig neu zusammengesetzten Gemeindeausschuss. Dieser Trend schwächte sich aber in der Folge ab, und um die Jahrhundertwende hatte sich eine feste Gruppe von GemeindeausschussMitgliedern herausgebildet, die gemeinsam zwischen 1888 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs die Gemeindegeschäfte regelten: Anton Ziegler (bis 1906), Leonhard und Johann Hämmerl, Mathias Wörle und Andreas Pauli, der als langjähriger Bürgermeister eine besondere Kontinuität im Gemeindeausschuss darstellte. Er war 26 Jahre lang Mitglied im Gemeindeausschuss, davon zwanzig Jahre Bürgermeister. Insgesamt bestand der Gemeindeausschuss also um die Jahrhundertwende aus zwei Gruppen, einem harten Kern, der etwas mehr als die Hälfte der Mitglieder ausmachte, und einigen wechselnden sonstigen Mitgliedern. Interessant sind auch gewisse familiäre Häufungen: Immerhin drei Männer der Familie Grünwald/Greinwald, Bauerngutsbesitzer in Hapberg, waren über die Jahre hinweg Mitglieder im Gemeindeausschuss: Lorenz, August und Severin – sie waren nacheinander, aber praktisch lückenlos, im Gemeindeausschuss. Mathias und Peter Wörle stammten offenbar ebenfalls aus einer Familie; Mathias Wörle übernahm neben dem Posten als Gemeindebevollmächtigter auch andere Posten – er war Mitglied im Distriktsrat und außerdem im gemeindlichen Bauausschuss. Leonhard und Johann Hämmerl waren möglicherweise ebenfalls verwandt. Während übrigens die elsass-lothringische Gemeindeordnung die gleichzeitige Amtszeit von Verwandten verbot, war das in Bayern kein Problem. Was wissen wir über die soziale Basis des Bernrieder Gemeindeausschusses? In Kapitel 2 habe ich gezeigt, dass in Bernried Kleinbauern, Fischer und Landhandwerker lebten, dazu eine kleine Gruppe von bessergestellten Bauern außerhalb des engeren Dorfes. Die Gemeindevertretung, die 1894 ihre Tätigkeit aufnahm, bestand aus drei „Gütlern“, also (Klein-)Bauern, einem Fischermeister, einem Ober-

Die Vertreter der Gemeinde

schäffler, einem Schuhmachermeister, einem Bäckermeister und einem Bader.60 Sie lebten fast ausschließlich im Dorf selbst. Nur die Familie Grünwald/Greinwald aus Hapberg stellt eine Ausnahme dar. Die Bewohner der sonstigen Ortsteile waren nicht im Gemeindeausschuss vertreten. Fassen wir zusammen: Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Aufgaben im Gemeindeausschuss kontinuierlicher wahrgenommen. Nun verlängerten sich auch die Amtszeiten der Bürgermeister.61 Vor 1890 rotierten die Ämter offenbar innerhalb einer begrenzten Gruppe. Diese Gruppe war vom Sozialprofil her relativ homogen, es handelte sich um den dörflichen „Mittelstand“. Die großen Gutsbesitzer wie der Besitzer des „Schlosses“ im Dorf, August von Wendland, hielten sich aus der Kommunalpolitik heraus. Die gemeindliche Unterschicht war schon gesetzlich ausgeschlossen, da sie in der Regel nicht über das Gemeindebürgerrecht verfügte.62 Diese Hinweise müssen in den folgenden Kapiteln weiterverfolgt werden. Gibt es Hinweise darauf, dass die Gemeindeausschussmitglieder die spezifischen Interessen ihrer sozialen Gruppe vertraten? 3.2.2

Mahlow

Die Überlieferung zur Zusammensetzung der Mahlower Gemeindevertretung ist sehr schlecht, noch schlechter als für Bernried. Auch hier gibt es bis zum Ersten Weltkrieg keine Unterlagen zu den Gemeindewahlen; zudem fehlen die Protokolle der Gemeindevertretung für die Jahre 1909 bis 1916. Außerdem begann die kommunale Selbstverwaltung in größerem Maßstab ohnehin erst mit der Preußischen Landgemeindeordnung von 1891, sodass es aus früherer Zeit gar keine Protokolle der Gemeindevertretung geben kann. Die Mahlower Gemeindevertretung nahm erst im Jahr 1893 ihre Arbeit auf. Sie bestand aus dem Gemeindevorsteher, seinen zwei Stellvertretern (den Schöffen) und mindestens neun Gemeindeverordneten, also aus zwölf Personen. Gewählt wurden die Gemeindeverordneten eigentlich auf sechs Jahre. Weil aber die Gemeindeordnung vorsah, dass alle zwei Jahre ein Drittel der Gemeindevertretung ausscheiden und durch Neuwahlen ergänzt werden solle, mussten in den ersten Jahren ausgeloste Mitglieder ausscheiden. Die ersten Mitglieder der Gemeindevertretung waren also auf zwei, vier oder sechs Jahre gewählt. Das Wahlverfahren folgte dem Dreiklassenwahlrecht; die Einwohner wurden nach ihrer Steuerleistung

60 Vgl. Schreiben des Bezirksamts Weilheim an die Gemeindeverwaltung Bernried: Bestätigung der Wahl vom 6. November 1893, 28.12.1893; GAB A02/5. 61 S. u., Kap. 4 sowie den Anhang. 62 S. u., Kap. 6.2.

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in drei Klassen eingeteilt, die dann jeweils ein Drittel der Gemeindeverordneten wählten.63 Aus ihrer Mitte wählte die Gemeindevertretung den Vorsteher und die Schöffen (die dadurch freiwerdenden Plätze von Gemeindeverordneten wurden durch Nachrücker besetzt). Außerdem sollte die Gemeindevertretung „über alle Gemeindeangelegenheiten […] beschließen, soweit diese nicht durch das Gesetz dem Gemeindevorsteher (Gemeindevorstand) ausschließlich überwiesen sind.“64 Da der Vorsteher in Preußen mehr eigene Befugnisse hatte als etwa in Bayern, war die Position der Gemeindevertretung entsprechend schwächer. Die Vertretung hatte aber wie in Bayern die Aufgabe, das Budget festzulegen und die Gemeindeverwaltung zu überwachen, allerdings durfte sie nicht selbst aktiv werden, um Beschlüsse umzusetzen.65 Für die Gemeindevertretung vor dem Ersten Weltkrieg habe ich durch Auswertung der Protokolle, in denen die anwesenden Mitglieder jeweils notiert sind, 19 Mitglieder namentlich identifiziert. Eine starke Fluktuation wie in Bernried gab es in Mahlow nicht, allerdings setzt für Mahlow die Überlieferung erst zu dem Zeitpunkt ein, als auch in Bernried die Gemeindeausschuss-Mitglieder nicht mehr so stark wechselten. Von den zwölf Mahlower Bürgern, die 1893 die erste Gemeindevertretung stellten, hatte die Hälfte im Jahr 1908 noch immer ihren Sitz inne.66 Auch in Mahlow können familiäre Beziehungen in der Gemeindevertretung ausgemacht werden. Carl und Wilhelm Winkelmann waren beide Bauern in Mahlow und sehr wahrscheinlich miteinander verwandt. Weitere Namensdopplungen (Carl und Ludwig Krüger sowie Friedrich und Hermann Schulze) können auch Zufälle sein. Die preußische Landgemeindeordnung von 1891 verbot lediglich die gleichzeitige Amtsausübung von Vater und Sohn; waren beide gewählt worden, wurde qua Gesetz dem Vater der Vorzug gegeben, und der Sohn musste auf sein Amt verzichten.67 Interessant ist die berufliche Zusammensetzung des Mahlower Gremiums. Die erste Gemeindevertretung, die im Jahr 1893 ihre Arbeit aufnahm, bestand weitgehend aus den Vertretern des klassischen Bauerndorfes. Ludwig Krüger, der langjährige Gemeindevorsteher, wird in den meisten Quellen als „Besitzer“ aufgeführt, ebenso wie Wilhelm Winkelmann, der die gesamte hier dargestellte Zeit als Schöffe

63 64 65 66

Vgl. Landgemeindeordnung 1891, § 49 f., § 54. Ebd., § 102. Ebd., § 103. Ein „Problemfall“ ist Friedrich Schulze: Ein Mann dieses Namens war von 1893 bis 1899 Schöffe, ab 1908 gibt es wieder einen Gemeindeverordneten mit diesem Namen. Ob es sich um die gleiche Person handelt, ist unklar. 67 Landgemeindeordnung 1891, § 53.

Die Vertreter der Gemeinde

fungierte. Der zweite Schöffe war zu Beginn der verfassten Gemeindeverwaltung in Mahlow der Büdner Friedrich Schulze und damit ein Vertreter der kleineren Landbesitzer – aber eben auch ein Landbesitzer. Weitere drei Gemeindevertreter werden in den Quellen als Bauerngutsbesitzer charakterisiert. Dazu kam der Besitzer des Mahlower Guts. Die drei Vertreter der dritten Wählerklasse vertraten hingegen das Landhandwerk (Schmied und Maurermeister) und das dörfliche Gastgewerbe.68 Ein weiterer Gemeindevertreter (gewählt von der ersten Abteilung) war Rentier. Über ihn wissen wir nur, dass er bereits 1897 das Dorf und damit auch die Gemeindevertretung verließ. Die Gemeindevertretung war von formellen und informellen Hierarchien durchzogen. Schon das Dreiklassenwahlrecht bildete die sozialen Unterschiede der Gemeinde im Gremium ab. Dazu kamen weitere Machtverhältnisse, die ich hier am Beispiel des Gutsbesitzers und Rittmeisters Rudolf Richter illustrieren kann. Denn er wurde keineswegs als durchschnittlicher Gemeindevertreter behandelt. Zwar war er nur sehr unregelmäßig anwesend, doch wurde er im Protokoll sehr vorsichtig, beinahe ehrerbietig adressiert. Das war zum Beispiel bei der Ausweisung eines dörflichen Schuttabladeplatzes der Fall, welcher an der von Richter genutzten Sandgrube eingerichtet wurde.69 Ersichtlich ist dies ebenso bei der Planung des Zuwegs zum neuen Friedhof. Hier hieß es: „Herr Rittmeister Richter ist zu ersuchen, nach seiner Bestimmung einen geeigneten Tag zu wählen, um an Ort und Stelle zu berathen, wie und auf welche Weise der Zugang angelegt werden soll.“70 Galt diese soziale Distinktion auch spiegelbildlich für das andere Ende der sozialen Hierarchie? Es gibt einige wenige Hinweise darauf, dass die Vertreter der dritten Abteilung, die als Kleinbesitzer oder selbstständige Handwerker der örtlichen Mittelschicht zuzuordnen waren, als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeindevertretung agierten. Der Büdner Friedrich Schulze wurde 1904 als stellvertretender Schöffe wiedergewählt – auch als Vertreter der dritten Abteilung war er offenbar mehrheitsfähig, potenziell den Gemeindevorsteher vertreten zu dürfen. Und im Oktober 1903 wurden zwei Vertreter der dritten Abteilung als Wahlmänner für die Kreistagswahl abgeordnet.71 Bildete sich also durch die gemeinsame Arbeit in der Gemeindevertretung eine Kooperation über soziale Gruppen hinweg heraus? Spielte möglicherweise die Zuordnung zu den Abteilungen nach einigen Jahren keine große Rolle mehr, weil sich die Gemeindevertretung insgesamt als Repräsentation des Dorfes verstand? Das vorhandene Material ist zu lückenhaft, um eine

68 Interessanterweise wurde der Gemeindevertreter Scheuer 1901 im Amt vom anderen Mahlower Wirt, Eduard Kanitz, abgelöst. 69 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 28.12.1902; KrA-TF, XII.294. 70 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 4.2.1904; ebd. 71 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 28.10.1903; ebd.

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solche These mit Bestimmtheit zu vertreten, kann aber an weiteren Quellen geprüft werden. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg veränderte sich langsam die Zusammensetzung der Mahlower Gemeindevertretung. Nach und nach kamen Vertreter neuer Berufe hinzu – ein Prozess, der sich nach dem Ersten Weltkrieg noch verstärken sollte. Der erste Gemeindeverordnete, der einer nicht-dörflichen Berufsgruppe angehörte, war der Wirtschaftsinspektor Ballin, der 1902 in die Gemeindevertretung nachgewählt wurde. Wichtiger war die Wahl des Amtssekretärs Otto Brandt im Jahr 1905, der später Schöffe und im Jahr 1932 sogar Gemeindevorsteher wurde. Mit diesen Männern kamen andere Berufe jenseits der dörflichen Berufswelt und damit auch administratives Know-how in die Mahlower Gemeindevertretung. Das reflektierte den Wandel des Ortes im frühen 20. Jahrhundert, der vor allem durch den Bau von Siedlungshäusern ausgelöst wurde. Inwiefern diese veränderte Zusammensetzung von Bevölkerung und Gemeindevertretung auch die Praxis der Gemeindeverwaltung änderte, müssen die späteren Kapitel zeigen. 3.2.3

Wolxheim

Die Überlieferung zu den Mitgliedern des Gemeinderats (conseil municipal) ist für Wolxheim besser als für die anderen Gemeinden. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts existieren fast durchgängig Wahllisten oder Übersichten der gewählten Gemeinderäte, die an die Präfektur geschickt werden mussten.72 Die strikte Gemeindeaufsicht im französischen System ist also hier für mich als Historikerin sehr nützlich. In diesen Listen sind neben den Namen meist auch das Lebensalter, die Berufsbezeichnungen sowie die Konfession verzeichnet. Letzterer Punkt ist für Wolxheim zu vernachlässigen: Alle Gemeinderäte waren katholisch. Die Wolxheimer Gemeinderäte wurden in allgemeiner Wahl auf fünf, nach 1895 auf sechs Jahre gewählt.73 Die französische Gemeindeordnung regelte die Tätigkeit des conseil municipal sehr strikt. Ohne Ausnahmegenehmigung des Präfekten durfte er sich nur zu festgelegten Zeiten versammeln.74 Im Gegensatz zu den anderen Gemeindeordnungen legte die französische Gesetzgebung die Aufgaben und Befugnisse der Gemeinderäte abschließend fest – eine offenere Formulierung wie „die eigentlichen Gemeindeangelegenheiten“ gab es hier nicht. Neben dem Gemeindebudget zeichnete der Gemeinderat vor allem für die Unterhaltung und Vermietung der gemeindeeigenen Immobilien, kleinere Bauprojekte, die Festle-

72 ADBR, 8 E 554/50; ADBR, 8 E 554, Dépôt 2013, Boîte 4 b. 73 Loi du 5 Mai 1855, Art. 6–8. 74 Ebd., Art. 15.

Die Vertreter der Gemeinde

gung von Gebühren für Messen, Märkte und Friedhöfe und ähnliche Aufgaben verantwortlich.75 In den Jahren zwischen 1848 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der Gemeinderat 13 Mal gewählt.76 Aus den Listen ergibt sich ein sample von 65 Personen, das ich zunächst nach der Amtszeit ausgewertet habe. Diese streute sehr stark. Am kürzesten war der Winzer Karl Rangel Mitglied im Gemeinderat, der 1902 gewählt wurde und bereits 1904 wieder zurücktrat. Die längste Amtszeit hatte mit 38 Jahren Karl Joessel vorzuweisen, ebenfalls Winzer, der 1876 in den Gemeinderat eintrat, ab 1891 Bürgermeister war und bis 1914 dieses Amt innehatte. Betrachtet man den gesamten Zeitraum von 1848 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs, kann man die Gemeinderäte in drei Gruppen einteilen: Ein gutes Drittel nahm nur eine Amtszeit wahr, ein weiteres knappes Drittel war zwei Amtszeiten lang im Gemeinderat, ein letztes gutes Drittel war zwischen drei und sieben Amtszeiten Mitglied im Gemeinderat. Doch auch in Wolxheim veränderte sich das Ausmaß der Fluktuation über die Zeit. Betrachtet man nur das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, zeigt sich, dass es eine stabile Gruppe von rund 40 Prozent der Gemeinderäte gab, die länger als zwölf Jahre ihr Amt innehatte, während ein gutes Drittel nur eine Amtszeit oder weniger übernahm. Tabelle 4 Amtsdauer nach Häufigkeit, Conseil municipal der Gemeinde Wolxheim (1865–1914)

Amtsdauer 2–6 Jahre 8–12 Jahre 13–18 Jahre 20–23 Jahre 26–27 Jahre >30

1865–1914 (N = 41) Häufigkeiten absolut 15 10 3 6 5 2

Häufigkeiten relativ 36,59 % 24,39 % 7,32 % 14,63 % 12,2 % 4,88 %

61 %

39 %

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildete sich also in Wolxheim eine relativ stabile Gruppe heraus, die den Gemeinderat dominierte. Verstärkt wird dieser Befund durch eine weitere Beobachtung: In Wolxheim häuften sich die Angehörigen bestimmter Familien im Gemeinderat. Das wird schon anhand der Namensgleichheit deutlich.77 Zwischen 1848 und dem Ersten Weltkrieg waren allein neun

75 Loi du 24 juillet 1867, S. 1–5. 76 In den Jahren 1848, 1852, 1855, 1860, 1865, 1871, 1876, 1881, 1886, 1891, 1896, 1902, 1908 und 1911 (Ergänzungswahl). 77 Um auch Verschwägerungen sichtbar zu machen, müsste eine genauere Analyse der Bevölkerung über Eheschließungen durchgeführt werden. Der Mehrwert dieser sehr aufwendigen Analyse war

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verschiedene Mitglieder der Familie Scharsch Gemeinderäte, nicht selten auch mehrere gleichzeitig. Ähnlich dominant waren die Familien Joesel/Joessel und Widt. Das gilt besonders für die Gruppe der Gemeinderäte, die lange Zeit tätig waren. Von den Gemeinderäten, die mehr als zwei Amtszeiten übernahmen, gehörten gerade einmal drei nicht eindeutig einer solchen Familie an, nämlich François Ignace Christ, Johann Baptist Riss und Anton Vetter. Auffällige Brüche in der Zusammensetzung des Gemeinderates gibt es für den hier im Zentrum stehenden Zeitraum bis zum Ersten Weltkrieg zwei: zum einen 1852, zum anderen 1860. Bei beiden Wahlen wurden lediglich zwei Gemeinderäte wiedergewählt. Demgegenüber stellt das Jahr 1871, das den Wechsel der nationalen Zugehörigkeit für Wolxheim bedeutete, eine weniger scharf ausgeprägte Diskontinuität dar; immerhin fünf Gemeinderäte führten ihr Amt auch über die Annexion hinaus weiter. Die Auswertung der Berufe hält wenig Überraschungen bereit. Von den 71 Gemeinderäten für die Zeit bis 1925 trugen 52 eine Bezeichnung wie Winzer, Besitzer oder Eigentümer. Damit dominieren die Winzer nicht nur die Ökonomie der Gemeinde Wolxheim, sondern auch die kommunale Selbstverwaltungsstruktur. Dazu kommen einige wenige ländliche Gewerbe und Handwerke (Müller, Bäcker, Gastwirt, Fleischer/Metzger, Tabakhändler/buralist, Küfer); erst ab 1886 ist mit Anton Vetter auch der Berufsstand (und damit die Siedlung) der Kanalschiffer im Gemeinderat vertreten. Der Gemeinderat in Wolxheim zeigte einige interessante Konzentrationen: Es gab eine Gruppe sehr langjähriger Gemeinderäte; einige Familien und der Berufsstand der Winzer dominierten den Gemeinderat sehr stark. Was aber bedeutete das für das Regieren in Wolxheim? Bildete sich hier eine Gruppe heraus, die einträchtig die Geschicke des Dorfes regelte, oder war umgekehrt der Wolxheimer Gemeinderat ein Ort, wo sich die innerdörflichen Konflikte, etwa zwischen verschiedenen Familien und konkurrierenden Winzerbetrieben, abbildeten? Beides ist möglich, die Konzentration alleine verrät noch nicht, ob es sich eher um eine konsens- oder eine konfliktorientierte Führungsgruppe handelte. Dies werden wir also in den folgenden Abschnitten weiterverfolgen müssen. *** Trotz der vielen institutionellen Unterschiede können wir wichtige Gemeinsamkeiten zwischen den Gemeindevertretungen beobachten. Die Gemeinderäte bildeten in allen drei Gemeinden vor allem die Mittelschicht des Dorfes ab; die besonders

hier nicht gegeben. Zufallshinweise gibt es aber: Offenbar waren die Familien Rangel und Joessel/ Joesel verschwägert. Vgl. Zeitweilige Concession von Boden auf dem Kirchhofe von Wolxheim (21.7.1895); ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 1 b. Dort ist die Rede von der „Familie Joessel Rangel“.

Die Vertreter der Gemeinde

Armen waren nicht vertreten, die besonders Reichen nur in Ausnahmefällen, etwa der Gutsbesitzer Richter in Mahlow. Zudem ist eine parallele Entwicklung sichtbar: In allen drei Gemeinden verlängerten sich im Durchschnitt die Amtszeiten ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, und es etablierte sich zunehmend eine Gruppe innerhalb der Gemeindevertretungen, die die Arbeit dieses Gremiums über Jahre, zum Teil über Jahrzehnte hinweg prägte. Das ist eine wichtige Beobachtung für die Gouvernementalisierungsprozesse im Dorf. Daraus lassen sich drei vorläufige Thesen ableiten: Erstens können wir vermuten, dass die Bindung bestimmter dörflicher Akteure an die Institutionen der gemeindlichen (Selbst-)Verwaltung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wuchs, wodurch das Amt als Gemeindevertreter nicht mehr nur als ein ungeliebtes Pflicht-, sondern als ein Ehrenamt wahrgenommen wurde – oder als Möglichkeit, sich oder der eigenen sozialen Gruppe Vorteile zu verschaffen. Zweitens erwarben einige Gemeindevertreter Erfahrung in der Amtsausübung. So konnten sie die Handlungsspielräume, die die gemeindliche Selbstverwaltung bot, besser nutzen. Diese Erfahrung wurde möglicherweise innerhalb bestimmter Familien weitergegeben. Die These von Keely Stauter-Halsted, dass es sich bei den Institutionen der kommunalen Selbstverwaltung um den „training ground“ gehandelt habe, auf dem die bäuerliche Bevölkerung Galiziens mit dem „modern political life“ vertraut wurde, lässt sich als Arbeitshypothese auch auf die hier untersuchten Gemeinden übertragen.78 Woran aber lag die gewachsene Attraktivität des Amtes? War es die gestiegene Verantwortung der gemeindlichen Selbstverwaltung, die mit größerer Wirksamkeit der Tätigkeit einherging? Oder war es die klarere Einordnung der Gemeinden in den Staatsaufbau, die die Tätigkeit in der Gemeinde zu einem Dienst am Staate machte? Diese Fragen stellen sich auch bei der Analyse der Bürgermeister in Kapitel 4 – dort werde ich sie weiter diskutieren. Drittens sind nicht nur die Motivationen und Fähigkeiten der Einzelakteure von Interesse. Denn es gibt Hinweise darauf, dass sich durch die längerfristige Zusammenarbeit in den Gemeindevertretungen auch Gruppen herausbildeten – Gruppen von Vertretern einer relativ klar umrissenen Sozialgruppe, die als Repräsentanten des Dorfes insgesamt agierten. Dies könnte darauf hindeuten, dass sich hier politische Gesellschaften im Sinne von Pierre Rosanvallon herausbildeten79 – Imaginationen des Dorfes insgesamt, die aber von einer festen sozialen Gruppe getragen wurden.

78 Stauter-Halsted 2004, S. 78. 79 Rosanvallon 2011, S. 46. Vgl. Kap. 1.1.

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3.3

Wie, wo, wann – die Sitzungspraxis der Gemeindevertretungen

3.3.1

Wann und wie oft?

Das erste Protokollbuch der Mahlower Gemeindevertretung beginnt mit dem Eintrag vom 18. Juli 1893, dem Protokoll einer vorschriftsmäßig anberaumten Sitzung. An diesem Tag, einem Dienstag, hatten sich nun zwölf Männer versammelt (wo, darüber lässt sich kein Hinweis im Protokoll finden): der Gemeindevorsteher, die zwei Schöffen und neun Gemeindevertreter, je drei pro Wählerklasse. Die anwesenden Gemeindevertreter fassten Beschlüsse in sechs verschiedenen Angelegenheiten, von der Anschaffung von Doppelfenstern für den Schulraum bis hin zum Krankenkassenbeitrag für den Nachtwächter. Einer der Beschlüsse betraf die eigene Arbeitsweise: So beschloss man, sich in den Sommermonaten sonntags vormittags, in den Wintermonaten jedoch unter der Woche nachmittags zu treffen.80 Die Gemeindeverordneten waren also der Meinung, dass es notwendig sei, sich über die eigene Arbeitsweise zu verständigen. Dies spricht dafür, dass die gemeinsame Arbeit der Gemeindevertretung erst mit dieser Sitzung begann und es noch keine Tradition der Kooperation gab. Allerdings wurde die Absprache nicht durchgängig eingehalten. So tagte der Gemeinderat durchaus auch im Sommer mal an einem Wochentag oder im Winter an einem Sonntag. Überhaupt kann von großer Regelmäßigkeit hier nicht die Rede sein. In Bernried hingegen gibt es keine Spuren einer solchen Verständigung über die Arbeitsweise. Seit dem frühen 19. Jahrhundert tagte der Gemeindeausschuss überaus unregelmäßig, die Protokollbücher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weisen zum Teil jahrelange Lücken auf. Ob sich der Gemeindeausschuss in diesen Zeiten gar nicht traf oder ob einfach keine Eintragungen vorgenommen wurden, ist allerdings unklar.81 Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traf sich der Gemeindeausschuss nicht nach einem erkennbaren Schema. In einem Jahr traf er sich drei, in einem anderen 24 Mal. Auch wenn die Sitzungen im 20. Jahrhundert häufiger wurden, so blieben doch die Schwankungen groß.82 Manchmal tagte der Gemeindeausschuss mehrfach innerhalb weniger Wochen (so am 31. März, am 9. und am 13. April 1880), manchmal mehrere Monate gar nicht

80 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 18.7.1893; KrA-TF, XII.294. 81 Im Protokollbuch-Abschnitt, in dem die Streitschlichtungen protokolliert wurden, gibt es Hinweise darauf, dass einfach keine Protokolle angefertigt wurden, obwohl es Vergleiche gab: „Anmerkung. In den Jahren 1830/31 31/32 32/33, 1833/34 34/35 35/36 wurden Vergleiche nicht mehr in das Gemeindebuch eingetragen. Nachdem aber bei der Gemeindewahl 1835/36 die Fortsetzung im Gemeindebuche durch die Wahlkommission strengstens befohlen wurde, so beginnt diese mit dem Jahr 1836/37.“ Eintragung durch Vorsteher Pischetsrieder, 17.12.1836; GAB, B2/0, S. 19. 82 Eigene Auswertung aus GAB, B2/3–B2/6.

Wie, wo, wann – die Sitzungspraxis der Gemeindevertretungen

(so etwa zwischen dem 20. März und dem 12. Dezember 1881). Offenbar wurde der Gemeindeausschuss nur dann einberufen, wenn eine konkrete Entscheidung anstand. Dafür spricht auch, dass es meist nur eine einzige Sache war, in der ein Beschluss gefasst wurde. Oft ging es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um Verehelichungsgenehmigungen – und da konnte es durchaus sein, dass monatelang keine Notwendigkeit für eine Sitzung bestand, dann aber wieder mehrere Treffen in sehr kurzen Abständen nötig wurden. Die teilweise sehr kurzen Sitzungsabstände lassen vermuten, dass es keine Ladungsfristen gab. Der Bürgermeister konnte also offenbar sehr kurzfristig die Sitzungen einberufen. Die Sitzungen fanden an allen Wochentagen statt, ein Muster lässt sich nicht erkennen. Der Gemeindeausschuss traf sich also nicht beispielsweise nach der Messe, wenn ohnehin alle an einem Ort waren.83 Der Gemeinderat in Wolxheim hatte eine deutlich längere Tradition als die Mahlower Vertretung, und seine Tätigkeit war viel stärker formalisiert als die des Bernrieder Ausschusses. Die französische Gemeindeordnung von 1855 hatte vier Sitzungsperioden vorgegeben (nämlich Anfang Februar, Mai, August und November), die jeweils zehn Tage dauern durften. Nur in diesen Zeitfenstern durfte sich der Gemeinderat ohne Genehmigung des Präfekten versammeln. Nach der Einführung der neuen Gemeindeordnung 1895 durfte der Gemeinderat nun tagen, „so oft es die Geschäfte erfordern“.84 Tatsächlich wurden die Sitzungen häufiger. Statt durchschnittlich sechs tagte der Rat nun im Schnitt zehn Mal pro Jahr. Das war aber nicht besonders viel – während der Zweiten Republik hatte der Wolxheimer conseil municipal im Schnitt sogar zwölf Sitzungen im Jahr abgehalten.85 Ohnehin sollte die Zäsur der Gemeindeordnung von 1895 nicht überbewertet werden, haben doch neuere Forschungen gezeigt, dass die französischen Gemeinden im 19. Jahrhundert keineswegs so machtlos waren, wie man lange Zeit glaubte. Auch in französischen Landgemeinden war lokales Handeln auf Gemeindeebene durchaus möglich – und gängig.86 Der Gemeinderat von Wolxheim tagte nicht nur während der gesetzlich festgelegten Sessionen, sondern auch zu außerordentlichen Terminen. Während die Verwaltung des „Reichslandes“ glaubte, mit der neuen Gemeindeordnung das Gemeindeleben nachhaltig anzuregen,87 bietet das Beispiel

83 Eigene Auswertung aus ebd. 84 Halley 1894, S. 88. 85 Eigene Auswertungen von ADBR, 8 E 554/38, 8 E 554/39, 8 E 554/61; Registre des déliberations (1894–1946); Archives communales, Wolxheim (ACW). 86 Vgl. Brassart, Jessenne, Vivier 2012. 87 Die nähere Begründung der einzelnen Bestimmungen ergeben die nachfolgenden Erläuterungen, in: Landesaausschuss für Elsass-Lothringen (XIX. Session 1892). Vorlage No. 2: Entwurf einer Gemeindeordnung, Bd. 2, S. 39–79, hier: S. 57, 14.1.1892; ADBR, 39 AL 166. Vgl. auch Halley 1894, S. 30 f.

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Wolxheim dafür auf der quantitativen Ebene keine Belege. Die Gemeindeordnung von 1895 verschob eher die jahreszeitliche Dramaturgie, etwa indem das Haushaltsjahr verschoben wurde, sodass die gesamten Budgetberatungen nicht mehr im Frühsommer, sondern im Herbst, allerdings noch vor der Weinlese, stattfanden. Der Gemeinderat von Wolxheim hatte eigene Traditionen. Nicht nur die Themen kehrten immer wieder, sondern er tagte z. B. an einem festen Tag, in der Regel dem Sonntag. Im Gegensatz zu Bernried schien hier ein Konsens darüber zu herrschen, wann die Angelegenheiten der Gemeinde zu regeln waren. Welche Schlussfolgerungen kann man aus dieser Analyse ziehen? Würde man einen regelmäßig tagenden Gemeinderat mit einer rationalisierten, modernen Kommunalpolitik gleichsetzen, wäre die Schlussfolgerung einfach: Einen modernen Politikstil im Sinne einer Weber’schen Rationalisierungsthese könnte man hier nicht finden. Ist die Regelmäßigkeit der Sitzungen für sich genommen überhaupt bedeutsam? Allerdings ist mein Ansatz ein anderer. Im Sinne der Gouvernementalisierung der Gemeinden frage ich nicht nach einer einfachen Teleologie und nach dem Vorhandensein formalisierter Verfahren, sondern nach den konkreten Strategien und Handlungsweisen des Regierens im ländlichen Raum. Formalisierte Handlungsweisen oder hier eben: Tagungsgepflogenheiten des Gemeinderats bewerte ich nicht automatisch als besonders fortschrittlich. Sie können vielmehr auch pragmatische Strategien sein, um eine neue Institution zu strukturieren – so wie im Mahlower Fall. Der Grund dafür, dass die Mahlower Gemeindevertretung ihre eigene Tätigkeit so explizit regelte, liegt möglicherweise ganz woanders. Die sozial eher heterogene Mahlower Gemeindevertretung war am ehesten darauf angewiesen, formalisierte Handlungsroutinen zu schaffen, um das Zusammenarbeiten zu ermöglichen, während die Bernrieder Vertretung, die sich aus einer kleinen Gruppe von Nachbarn rekrutierte, feste Absprachen über den Tagungsturnus gar nicht brauchte und der Wolxheimer Gemeinderat schon eine feste Struktur hatte. So erscheint die Formalisierung der Sitzungspraxis als eine Strategie zur Lösung eines Problems, das sich in Bernried und Wolxheim gar nicht erst stellte. 3.3.2

Anwesenheit, Protokolle und Öffentlichkeit

Nicht nur der Turnus der Sitzungen kann in diesem Sinne interpretiert werden. Die Gemeinderatsprotokolle geben über noch mehr formale Aspekte der Gemeinderäte Aufschluss, die als Praktiken der Gouvernementalisierung analysiert werden müssen. So ist sehr aufschlussreich, welche Mitglieder überhaupt zu den Sitzungen erschienen und wie mit unregelmäßiger Anwesenheit umgegangen wurde. Wer hatte jenseits der gewählten Mitglieder Zugang zu den Gemeinderatssitzungen, und was wissen wir über die konkreten Abläufe der Sitzung? Auch die Praxis des Protokollierens müssen wir noch einmal genauer ansehen, denn auch in dieser

Wie, wo, wann – die Sitzungspraxis der Gemeindevertretungen

Hinsicht verraten die Protokolle mehr über das ländliche Regieren, als der erste Augenschein nahelegt. Zunächst zur Anwesenheit: Interessanterweise ist ausgerechnet die Gemeinde, deren Sitzungspraxis am wenigsten einem nachvollziehbaren Muster folgte, diejenige mit der höchsten Anwesenheitsquote. Zumindest in den Jahrzehnten, in denen die Mitglieder die Protokolle abzeichneten, war häufig der gesamte Bernrieder Gemeindeausschuss versammelt. In Wolxheim hingegen, wo die Sitzungen viel regelmäßiger stattfanden und die Gemeinderäte ebenso wie in Bernried weitgehend einer Sozialgruppe entstammten, waren in der Regel nur etwa zwei Drittel der Gemeinderäte anwesend. Eine Auswertung der ersten Jahre der Mahlower Gemeindevertretung zeigt, dass sich auch in dieser Hinsicht die Arbeit erst einspielen musste. Bei der ersten Sitzung waren noch alle Gemeindevertreter anwesend, während schon in der zweiten Sitzung nur noch sieben Personen, in der dritten Sitzung sogar nur noch vier der zwölf Gemeindeverordneten zugegen waren.88 Bald aber erreichten die Sitzungen ähnliche Anwesenheitsquoten wie in Wolxheim mit etwa zwei Dritteln der Gemeindeverordneten. Man könnte vermuten, dass es vor allem die Vertreter der dritten Wählerklasse waren, die nicht zu den Sitzungen erschienen. Denn in der Literatur wird die geringe Wahlbeteiligung der dritten Klasse bei den Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus als Zeichen dafür interpretiert, dass diese Wähler ihre eigene Beteiligung für irrelevant hielten.89 Doch für Mahlow ist das nicht zutreffend. Maurermeister Franz Wegener als Vertreter der dritten Wählerklasse war einer der beiden Gemeindeverordneten, der an allen Sitzungen teilnahm – außer ihm war das nur noch der Gemeindevorsteher Krüger. Der Rittergutsbesitzer Richter hingegen war nur in sechs von 14 Sitzungen der ersten Wahlperiode anwesend. Die Tätigkeit als Gemeindeverordneter hatte für ihn offenbar keine hohe Bedeutung, möglicherweise gingen andere Termine vor. Und Otto Steeger, Vertreter der zweiten Klasse, der 1898 zum Schöffen gewählt wurde, hatte bislang ein eher durchschnittliches Interesse an den Sitzungen des Gemeinderats gezeigt; von den 14 Sitzungen, die bis zu seiner Wahl als Schöffe im Jahr 1899 vergingen, hatte er nur an sechs Sitzungen teilgenommen. In Wolxheim griff der Bürgermeister zu Beginn des 20. Jahrhunderts hart gegen den Schlendrian im Gemeinderat durch: Am 25. Januar 1902 vermerkte Karl Joessel im Protokollbuch: Die Gemeinderatsmitglieder Riss Johann Baptist, Hohl Joseph, Scharsch Joseph und Scharsch Emil haben fünf aufeinander folgende Sitzungen ohne Entschuldigung ver-

88 Vgl. Protokolle der Mahlower Gemeindevertretung, 18.7.1893, 8.10.1893, 31.12.1893; KrA-TF, XII.294. 89 Vgl. Kühne 1994, S. 165–170.

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säumt. Nach § 62 Absatz 2 der Gemeindeordnung haben sie aufgehört, Mitglieder des Gemeinderates zu sein. Die Betroffenen sind unter dem heutigen [sic!] von dieser Ausschließung von mir schriftlich benachrichtigt worden. Eine entsprechende Anzeige wurde der Kais. Kreisdirektion heute erstattet.90

Der Grund für diesen Rauswurf war vermutlich nicht nur die mangelnde Anwesenheit der Gemeinderäte – wie erwähnt stand es mit der Anwesenheit der meisten Wolxheimer Gemeinderäte nicht zum Besten. Es ist eher zu vermuten, dass Bürgermeister Joessel damit andere Probleme zu lösen versuchte, etwa Stimmverteilungen nach seinem Gutdünken zu verändern. Aber formal stand ihm das Recht zu, dauerhaft fehlende Gemeinderatsmitglieder des Gremiums zu verweisen. Das Amt als Gemeinderatsmitglied hatte für einige Gemeindevertreter in Wolxheim und Mahlow offensichtlich eine eher untergeordnete Bedeutung, was sich an den schwankenden Anwesenheitsquoten gut zeigen lässt. Wie wichtig aber waren die Sitzungen für die anderen, nicht gewählten Dorfbewohner:innen? Hatten sie überhaupt eine Relevanz für die Dorföffentlichkeit (oder gab es so etwas gar nicht)? Die rechtlichen Regelungen in dieser Frage unterschieden sich. In Bayern tagte der Gemeindeausschuss zum Beispiel seit 1848 öffentlich, während die Öffentlichkeit in den beiden anderen Untersuchungsgemeinden eingeschränkt war.91 In den Motiven zur Gemeindeordnung für Elsass-Lothringen hieß es noch im Jahr 1892 lapidar: „Die Oeffentlichkeit der Sitzungen des Gemeinderaths würde zur Zeit den Interessen der Gemeinden nicht entsprechen“.92 Ernst Bruck ging in seinem Kommentar zur Gemeindeordnung ausdrücklich auf die kleineren Gemeinden ein: Es ist sicherlich nicht zu verkennen, daß insbesondere in kleineren Gemeinden mit ihren eng begrenzten Interessen und bei der steten und nahen Berührung ihrer Einwohner aus der öffentlichen Behandlung der Gemeindeangelegenheiten im Gemeinderate sehr erhebliche Nachteile für eine ruhige und friedliche Entwickelung der Gemeinde entstehen können, welche die Vorteile der Oeffentlichkeit der Sitzungen mehr als aufwiegen.93

90 Vermerk, 25.1.1902; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 105. 91 Vgl. Gemeindeordnung für Elsaß-Lothringen 1895, § 48. Auch nach Art. 22 des Gesetzes vom 5.5.1855 (Loi municipale) tagte der Gemeinderat grundsätzlich nicht-öffentlich. Die Protokolle der Sitzungen durften nur mit Genehmigung der Aufsichtsbehörden veröffentlicht werden. Im Fall des Verstoßes wurden Verleger, Journalisten oder Drucker hart bestraft. Vgl. Halley 1894, S. 30, 90. 92 Erläuterungen zum Entwurf der Gemeindeordnung, in: Landesausschuss für Elsass-Lothringen (19. Session 1892). Vorlage No. 2: Entwurf einer Gemeindeordnung, Bd. 2, 14.1.1892, S. 39–79, hier: S. 57; ADBR, 39 AL 166. 93 Bruck 1905, S. 194.

Wie, wo, wann – die Sitzungspraxis der Gemeindevertretungen

Offenbar sollten nur diejenigen Gemeindebürger für die gemeinsame Sache aktiviert werden, die bereits gewählt worden waren. Öffentliche Gemeinderatssitzungen hingegen standen im Verdacht, Unruhe ins Dorf zu bringen. In der preußischen Landgemeindeordnung von 1891 wurde für die ostelbischen Gemeindeversammlungen und Gemeindevertretersitzungen eine „beschränkte Öffentlichkeit“ festgesetzt. Als Öffentlichkeit zugelassen wurden demnach „alle zu den Gemeindeabgaben herangezogenen männlichen großjährigen Personen […], welche sich im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte befinden und Gemeindeangehörige […] oder Stimmberechtigte […] oder Vertreter von Stimmberechtigten […] sind.“94 Damit waren sogar manche Personen ausgeschlossen, die eigentlich über Bürgerrechte in der Gemeinde verfügten, insbesondere Frauen.95 Die rechtliche Festlegung sagte aber noch nichts über die lokalen Praktiken aus. Die Gemeindeordnung sah vor, dass die Sitzungstermine „in ortsüblicher Weise“ bekannt gemacht würden. Das konnte alles Mögliche bedeuten: etwa Boten, die die Gemeindevertreter direkt informierten, schriftliche Einladungen, die unter den Gemeindevertretern weitergegeben wurden, das Ausschellen mittels Glocke oder Aushänge (und sicherlich noch mehr). Im Einzelfall schloss gerade diese ortsübliche Weise Teile des Dorfes von vornherein aus. In Mahlow wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „ortsübliche Weise“ – wir wissen leider nicht, wie diese konkret aussah – infrage gestellt. Gemeindebürger Krug stellte den Antrag, dass die Tagesordnung vor der Sitzung veröffentlicht werden sollte. Doch die Gemeindevertretung entschied kurzerhand: „Eine Veröffentlichung der Tagesordnung der Gemeindevertretersitzungen findet auch in Zukunft nicht statt.“96 Offenbar hatte der Gemeinderat selbst auch kein Interesse daran, dass die restlichen Gemeindebürger zu viel über die Sitzungen erfuhren. Einen Vorteil hatte es aber, dass die Sitzungen offiziell öffentlich waren. Denn das ermöglichte es, situativ bestimmte Personen in die Sitzung zu holen. Das konnte z. B. punktuell geschehen, indem etwa zufällig anwesende Bauunternehmer im Laufe einer Sitzung um Korrekturen des Angebots gebeten wurden97 oder indem Betroffene direkt eingeladen wurden, etwa wenn es um die Abtretung von Grundstücken ging.98 Keine der untersuchten Gemeindevertretungen machte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch irgendwelche Anstrengungen, sich gegenüber der Gemeinde zu öffnen. Die Gemeindepolitik war die Sache des Gemeinderats, nicht der Gemeinde insgesamt. Man könnte sagen: Es existierte keine Vorstellung einer Dorföffentlichkeit. 94 95 96 97 98

Landgemeindeordnung 1891, § 109. S. u., Kap. 6.2. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 19.10.1904; KrA-TF, XII.294. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 4.6.1882; GAB, B2/3. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 20.6.1894; KrA-TF, XII.294.

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Regierung durch Selbstverwaltung

Zwei regionale Besonderheiten liegen etwas quer zu dieser Beobachtung. Die französische Gemeindeordnung sah vor, dass die größten Steuerzahler zum Gemeinderat hinzugezogen werden mussten, wenn es um bestimmte (finanzielle) Fragen ging, etwa bei größeren Investitionen.99 Diese Höchstbesteuerten waren bei der Festlegung des Datums der Weinlese ebenso wie bei der Bewilligung des Lohns der Feldwachen (gardes-champêtres) anwesend und zeichneten die Entscheidungen mit ab. Außerdem waren sie bei der Sondersitzung des conseil municipal am 18. August 1870 geladen. In großer Runde, mit fast allen Gemeinderäten und immerhin 13 Höchstbesteuerten, regelte der conseil municipal die Gemeindeverwaltung in Kriegszeiten.100 Mit der Unterschrift der Gemeinderäte und der (finanziell) einflussreichsten Bürger der Gemeinde wurde diese Erklärung enorm aufgewertet. In bayerischen Landgemeinden gab es neben dem Gemeindeausschuss die Gemeindeversammlung, auch Gesamtgemeinde genannt. Diese Versammlung aller Bürger musste die Entscheidungen des Gemeindeausschusses bestätigen, vor allem dann, wenn es sich um finanzielle Fragen, beispielsweise größere Investitionen, handelte.101 Die Protokolle verraten leider nicht, wie diese Gemeindeversammlungen abliefen. Neben der Zahl der Anwesenden (die auch manchmal fehlt) ist nur der Beschluss im Wortlaut zu finden. Die Verzahnung der beiden Gremien legt jedoch nahe, dass die in größeren Abständen stattfindenden Gemeindeversammlungen die Einbindung der Gemeindebürger in die gemeindlichen Aufgaben zumindest ermöglichte – anders als das in den zwei anderen Untersuchungsgemeinden der Fall war. Allerdings: Mitglieder in der Gemeindeversammlung waren eben nur die Gemeindebürger, und das waren in Bayern deutlich weniger Personen als in Preußen oder dem Elsass.102 Die Gemeindevertretungen waren nach außen also weitgehend abgeschlossen. Als Ersatz für die Anwesenheit bei den Sitzungen hätten die Protokolle der Ratssitzungen dienen können, vorausgesetzt, sie wären innerhalb des Dorfes veröffentlicht worden. Im Elsass waren alle Wahlberechtigten und auch alle Steuerpflichtigen der Gemeinde explizit dazu berechtigt, die Protokolle einzusehen und Abschriften zu verlangen. Zudem konnte der Gemeinderat, so er denn wollte, die Protokolle selbst veröffentlichen. Obwohl im Elsass der Gemeinderat grundsätzlich nichtöffentlich tagte, waren die Protokolle also potenziell öffentlich, sodass die lokale Bevölkerung die Arbeit des Rats hätte kontrollieren können. Doch ob es solche Fälle jemals gab, ist nicht überliefert. Die Protokolle der Gemeindevertretungen hatten vor allem eine andere, eher bürokratische Funktion. Die face-to-face-Situationen der Gemeindevertretung muss99 100 101 102

S. u., Kap. 6.2. S. u., Kap. 3.4. Vgl. Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 146–149. S. u., Kap. 6.2.

Wie, wo, wann – die Sitzungspraxis der Gemeindevertretungen

ten in schriftliche Formen überführt werden. Nur so konnten die Beschlüsse beglaubigt, die Kontrolle durch die vorgesetzten Behörden ermöglicht und die Entscheidungen über die Zeit hinweg nachvollzogen werden. Nur mit schriftlichen Aufzeichnungen konnte die Tätigkeit der Gemeindevertretungen nach Monaten oder Jahren noch geklärt werden, konnten Entscheidungen revidiert oder bestätigt werden. Die Gemeindeordnung im Elsass enthielt explizit den Passus, dass ein Beschluss, der nicht schriftlich fixiert war, als nicht getroffen galt.103 Auch wenn die Protokolle nur Ergebnisprotokolle waren und in aller Regel die Konflikt- und Aushandlungsdimension dörflichen Regierens ausblenden, können sie doch Aufschluss über andere Prozesse geben, die für die Gouvernementalisierung der Gemeinden von Bedeutung sind. Interessant ist bereits, wie sich die Formen der Niederschrift über die Zeit veränderten. In Bayern wurden die Protokolle früh formalisiert, die Gemeinden dazu aufgefordert, spezielle Bücher anzuschaffen, in denen Vordrucke die Art des Protokolls vorgaben. Doch die Formalia – Zahl der Anwesenden, Abstimmungsverhältnisse etc. – wurden in Bernried oft gar nicht ausgefüllt. In Mahlow gab es solche Formulare nicht, ebenso wenig in Wolxheim. Hier wurden die Protokolle in linierte Bücher eingetragen, doch bildeten sich auch hier feste Formen heraus. Neben der Auflistung der anwesenden Gemeinderatsmitglieder fand sich eine provisorische Tagesordnung mit den zu verhandelnden Punkten in numerischer Reihenfolge; das Protokoll folgte dann dieser Auflistung, indem zu den einzelnen Punkten kurz das Ergebnis festgehalten wurde. Häufig sind die Entscheidungen inhaltlich kaum nachzuvollziehen, wenn nur die Beschlüsse verzeichnet wurden: „Die heute vorgelegte Ordnung wurde einstimmig angenommen“.104 Die Protokolle dienten also in der Regel nicht dazu, Außenstehende über Inhalte der Sitzungen zu informieren, sondern sie beglaubigten die gefassten Beschlüsse für die Anwesenden – und die Verwaltungsaufsicht. Schon diese Analyse der eher formalen Aspekte der Gemeindevertretungen zeigt, wie unterschiedlich dieses Herzstück der gemeindlichen Selbstverwaltung in den jeweiligen Dörfern ausgestaltet wurde, und welche Aspekte die Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung in der Landgemeinde beeinflussten. So fehlte die Einbindung der Gemeinderatssitzungen in breitere dörfliche Kreise. Und es gibt zumindest für Mahlow und Wolxheim deutliche Hinweise, dass nicht einmal die Gemeinderäte selbst ihrem Amt große Bedeutung beimaßen. Denn die Sitzungen waren unregelmäßig, die Teilnahme wenig bindend und die Tagungen selbst möglicherweise zu unspektakulär. Und doch bildeten sich nach und nach festere Formen aus, die Anwesenheit wie schon die Amtsdauer verstetigte sich, Abläufe spielten sich ein.

103 Vgl. Bruck 1905, S. 202. 104 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 21.10.1906; KrA-TF, XII.294.

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Regierung durch Selbstverwaltung

3.4

Dorfpolitik konkret: Wie agierten die Gemeindevertretungen?

Doch wie agierten die Vertretungen denn nun konkret? In welchen Situationen hatten sie welche Handlungsspielräume, und welche Problemlösungsstrategien nutzten sie? Diese Fragen spielen auch in den folgenden Kapiteln eine große Rolle, doch hier soll es nun zunächst darum gehen, anhand einiger Beispiele darzustellen, welche Handlungsmodi den Gemeindevertretungen zur Verfügung standen. Nur so kann auch beurteilt werden, welche Rolle die Gemeindevertretungen für die Gouvernementalisierung der Gemeinden spielten. 3.4.1

Einschränkungen des Handlungsfelds

Im Gegensatz zum Gemeindevorsteher waren die Gemeindevertretungen keine Organe der Staats-, sondern nur der Selbstverwaltung. Daher waren ihre Befugnisse beschränkt auf diejenigen Aufgaben, die entweder rein gemeindliche Aufgaben waren (etwa die Verwaltung des Gemeindevermögens), oder die explizit per Gesetz oder Verordnung an sie delegiert waren. Jedwede allgemeinpolitische Tätigkeit war den Gemeindevertretungen verboten. In Preußen erging im Juni 1863, im Zuge des preußischen Verfassungskonflikts, eine Ministerialverfügung, weil Stadtverordnetenversammlungen in den Augen des Ministeriums ihre Befugnisse überschritten hatten, als sie über allgemeinpolitische Probleme beraten und Beschlüsse gefasst hatten. Das Ministerium betonte nun, dass [d]ergleichen Gegenstände […] nicht zum Gebiete der Gemeinde-Angelegenheiten [gehören]. […] Es sollen daher Berathungen und Beschlußnahmen der Gemeinde-Vertretungen über Angelegenheiten der gedachten Art nicht ferner geduldet, jedenfalls aber die Ausführung derartiger Beschlüsse verhindert werden.105

Nach der Einführung der Gemeindeordnung galt diese Regelung auch für die Landgemeinden.106 Die Gemeindevertretungen sollten also explizit unpolitisch sein und sich nur um Gemeindeangelegenheiten kümmern. Politische Stellungnahmen oder Beschäftigung mit Themen, die sie nicht selbst zu bestimmen hatten, waren ihnen verboten. Für die französischen Gemeinden galt das besonders, waren sie doch – aller kleinen Spielräume zum Trotz, die im Alltag genutzt werden konnten – Teil der

105 Cirkular-Erlaß vom 6.6.1863, betr. den Geschäftskreis der Stadtverordneten-Versammlungen, in: Ministerialblatt für die gesamte preußische innere Verwaltung 1863, S. 118; zitiert nach Koffler 1868, S. 457. 106 Vgl. Friedrich 1919, S. 533.

Dorfpolitik konkret: Wie agierten die Gemeindevertretungen?

stark zentralisierten französischen Verwaltung und hatten wenig eigene Rechte. Sogar in der Situation, als diese institutionelle Ordnung insgesamt infrage gestellt wurde, änderte sich an der Praxis des Wolxheimer Gemeinderats nichts. Wolxheim und der ganze Kanton Molsheim waren zwar kein Schauplatz des Kriegs gegen Preußen. Doch könnte man vermuten, dass sich der Rückzug der französischen Staatsgewalt aus dem Elsass Anfang August 1870 und die Besetzung durch das preußische Militär auch auf die Gemeindeverwaltung ausgewirkt haben müssten. Doch in den Protokollen des Gemeinderats schlug sich das kaum nieder. Zwar gibt es zwei Protokolle über außerordentliche Sitzungen des Wolxheimer Gemeinderats in jenem August. Doch die Handlungsweisen des conseil municipal blieben weitgehend im Rahmen der französischen Gemeindeordnung von 1855. Die bereits erwähnte Sitzung am 18. August fand außerhalb der Sitzungsperiode des Rats und auch ohne Zustimmung des Präfekten statt, aber solche Fälle hatte es auch zuvor gegeben. Der versammelte Gemeinderat gab gemeinsam mit den anwesenden Höchstbesteuerten eine Erklärung ab: Die außergewöhnlichen Umstände des Krieges, vor allem die Ablieferungspflichten an das preußische Militär sowie der Abbruch jedweder Kommunikation mit der bisherigen Landesverwaltung, machten es notwendig, den maire mit allen Vollmachten auszustatten, um die Interessen der Gemeinde zu vertreten. Alle Entscheidungen, die er getroffen habe oder treffen werde, unterstützten Rat und Höchstbesteuerte voll und ganz.107 Bereits eine Woche später traf sich der gleiche Kreis von Gemeindevertretern und Höchstbesteuerten erneut zu einer außerordentlichen Sitzung. Der maire bat die Versammelten angesichts der Kontributionslasten händeringend um Unterstützung. Auf seine Bitte hin bildete die Versammlung eine Kommission, bestehend aus Mitgliedern des Gemeinderats und der Höchstbesteuerten, um ihn zu unterstützen.108 In der Sondersituation des Krieges und der deutschen Besatzung arbeiteten die Gemeinderäte, der Bürgermeister und die reichsten Bürger der Gemeinde offenbar gut zusammen und versuchten, unter schwierigen Bedingungen und ohne die vorgesetzte Behördenebene die Verwaltung aufrechtzuerhalten. Doch neue Rechte reklamierte der Rat nicht für sich, auch langfristig sind keine Folgen dieser Krisensituation zu beobachten, etwa ein gewachsenes Selbstbewusstsein der kommunalen Akteure. Zumindest wurde temporär die Position des maire aufgewertet, der ohnehin im französischen System ein deutlich stärkeres Gewicht als der Rat hatte. Und obwohl der maire nach der Gemeindeordnung von 1855 nicht von der Gemeinde gewählt, sondern vom Präfekten eingesetzt wurde, wurde er hier als Vertreter der Gemeinde, nicht als Repräsentant des französischen Staates adressiert. Das deutet

107 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 18.8.1870; ADBR 8 E 554/39, fol. 131 RS–132. 108 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 23.8.1870; ebd., fol. 132.

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Regierung durch Selbstverwaltung

darauf hin, dass die Stellung des Bürgermeisters komplexer war, als es die Wahlund Ernennungsregelungen vermuten lassen.109 3.4.2

Die Realisierung eines Großprojekts

Ebenfalls eine Sondersituation stellt der nächste Fall dar; allerdings waren die Umstände vollkommen andere. In Bernried wurde in den frühen 1880er Jahren ein neues Schul-, Gemeinde- und Feuerwehrhaus gebaut. An der Realisierung dieses Großprojekts lässt sich sehr schön zeigen, wie der Gemeindeausschuss unterschiedlichste Handlungsmöglichkeiten kombinierte, um dieses aufwendige Projekt, das eine kleine bäuerliche Gemeinde durchaus finanziell und logistisch herausforderte, zu realisieren. Zunächst zur Ressourcenmobilisierung:110 Der Bau des Schulhauses, das neben Unterrichtsräumen auch Platz für die Feuerwehrutensilien und für die Gemeindeverwaltung und -registratur bieten sollte, war für einen Ort von knapp fünfhundert Einwohnern, die weitgehend Kleinbauern oder kleine Handwerker waren, eine gewaltige finanzielle Anstrengung, und bereits zu Beginn der Verhandlungen hatten einige Gemeindemitglieder darauf bestanden, dass der Bau „einfach u. so billig als möglich ausgeführt“ werden möge.111 Das Grundstück wurde für 650 Mark erworben; der erste Kostenvoranschlag für den Bau belief sich auf 2000 Mark.112 Ein Teil des Kapitals sollte über einen Kredit bei der Hypothek- und Wechselbank akquiriert werden. Wie aber an den Rest kommen? Die Gemeinde hätte einen Lokalmalzaufschlag einführen können, der den einzig ökonomisch potenten Dorfbewohner, den Brauerei- und Gutsbesitzer Baron von Wendland, getroffen hätte. Doch die Gemeindeverwaltung entschied sich dagegen, um stattdessen mit dem reichen Gutsbesitzer eine kooperative Übereinkunft zu schließen, die an klassische Formen der Spende und Patronage erinnern: Baron von Wendland wurde dazu gebracht, die Einrichtungsgegenstände für das Schul- und Gemeindehaus zu finanzieren, ebenso die notwendige Wasserleitung. Außerdem sollte er die Baustelle mit dem notwendigen Sand beliefern.113 Die Gemeindeverwaltung kombinierte unterschiedliche Strategien der Ressourcenmobilisierung. Auch wenn sie aus der Rückschau als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ erscheinen mögen, waren sie doch für die Akteure pragmatische Strategien, um in einem durch persönliche und institutionelle Abhängigkeiten

109 Vgl. Kap. 4.1. 110 Den Prozess der Durchstaatlichung und der Ausweitung der Kommunalaufgaben hat insbesondere mit Blick auf die gemeindlichen Ressourcen Norbert Franz (2006) untersucht. 111 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 14.8.1881; GAB, B2/3, S. 39 f. 112 Vgl. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 12.12.1881; GAB, B2/3, S. 47 f. 113 Vgl. ebd.

Dorfpolitik konkret: Wie agierten die Gemeindevertretungen?

geprägten lokalen Raum ein Problem zu lösen. Die Kombination aus personalen und formalisierten Strategien ermöglichte der Gemeinde, ein neues Schul- und Gemeindehaus zu bauen. Bei der Auftragsvergabe zeigte sich ein ähnliches Muster. Auch hier kombinierte der Gemeindeausschuss eher formalisierte Verfahren mit eher personalen Handlungsweisen. Nachdem der erste Kostenvoranschlag der Gemeindeverwaltung zu hoch erschienen war, entschied sich das Gremium, die unterschiedlichen Gewerke einzeln zu beauftragen und dafür Submissionen einzufordern. Der Schulhausbau wurde also öffentlich ausgeschrieben; Handwerker aus Bernried sollten besonders berücksichtigt werden.114 Ein halbes Jahr später waren 42 Submissionen bei der Gemeindeverwaltung eingegangen. Das war nun aber doch zu viel, sodass der Gemeindeausschuss schließlich eine Gesamtbauausführung favorisierte. Der Maurermeister Eberhart aus der Kreisstadt Weilheim wurde in die engere Wahl gezogen, und da er gerade in Bernried war (vielleicht im Wirtshaus?), wurde er kurzerhand in die Sitzung geholt. Dort gewährte er einen weiteren Rabatt auf sein Angebot. Das und die (möglicherweise) persönliche Nähe zum Maurermeister gaben nun den Ausschlag, obwohl er sein Geschäft in der Kreisstadt betrieb. [D]a nun derselbe ein tüchtiger Baumeister ist, u. man von ihm die richtige Ausführung des Plans sowie die Caution Beachtung am sichersten erwarten kann, so wurde von der unterzeichneten Gemeindeverwaltung u. vom Bauausschuß Maurermeister Eberhart in Weilheim einstimmig als Bauübernehmer für den ganzen Schulhausbau erwählt.115

Auch hier finden wir also kein rein bürokratisch-regelhaftes Handeln, sondern eines, das durch personale Strategien ergänzt und erweitert wurde. Und das gilt insgesamt: Wir sehen, wie die Gemeindeverwaltungen sehr unterschiedliche Handlungsstrategien einsetzten, um die konkreten Probleme zu lösen. Was wir nicht sehen, ist eine stetige Veränderung dieser Praktiken in eine bestimmte Richtung oder eine permanente Ausweitung von Handlungsspielräumen.116 Interessant ist jedoch ein kurzer Vergleich mit einer Entscheidung der Gemeindevertretung in Mahlow zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gut zwanzig Jahre später agierte die Mahlower Gemeindevertretung doch deutlich anders als die Bernrieder. Der Pfarrhof in Lichtenrade musste renoviert werden, und da die Kirchengemeinde Mahlow nicht selbstständig, sondern Filiale derjenigen in Lichtenrade war, musste sich die politische Gemeinde an den Kosten beteiligen. In der Sitzung am 10. August 1905 prüfte also nun die Gemeindevertretung die Unterlagen und kam zu einer

114 Vgl. ebd. 115 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 4.6.1882; GAB B2/3, S. 64. 116 Vgl. dazu Schlimm 2017b.

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Regierung durch Selbstverwaltung

kritischen Haltung. Detailliert führt das Protokoll auf, unter welchen Bedingungen die Gemeindevertretung die Kosten zu übernehmen bereit sei: Mit Rücksicht auf die, laut fachmännischen Urteils teilweise sehr hoch veranschlagten Baukosten, insbesondere der Pos. 1 auf Seite 2, und der Pos. 3 auf Seite 7 vermögen wir nur dann die anteilige Zahlung der Baukosten zu bewilligen, nachdem nachstehende Bedingungen erfüllt sind: 1. die Ausführung der Arbeiten und die Lieferungen der Materialien, auf Seite 2 bis 8 der Anlagen, sind in sogenannter engerer Submission an den Mindestfordernden zu vergeben, indem von 3 Unternehmern die Preise einzufordern sind. Gegen die Ausführung des Fliesenbelages zu den offerirten Preisen auf Seite 10 haben wir nichts einzuwenden. 2. Indem wir noch die enorme Höhe der Summe für die sogenannte Bauleitung bemängeln (jeder einfache Techniker hätte diese Arbeiten bedeutend billiger und ebenso korrect angefertigt) müssen in dem Kostenverteilungsplan die Patronatsbeiträge in Abzug gebracht worden sein. 3. Bevor die Gemeinde Mahlow Zahlung leistet, müssen derselben außer dem Kostenverteilungsplan alle Anlagen und Vorgänge zur Nachprüfung übersandt werden.117

Hier zeigt sich, wie vertraut offenbar zumindest Teile der Gemeindevertretung mit solchen Schriftstücken und dem Abfassen von Einsprüchen waren: Bis hinein in die Sprachverwendung hatte der Mahlower Gemeinderat die administrative Umgangsweise mit Bauvorhaben übernommen – zumindest der Protokollant. Denn wie genau die Gemeinderatssitzung ablief, ob nicht einige Einsprüche im Kreis der Gemeindeverordneten ganz anders formuliert wurden, muss offenbleiben. Zumindest wird deutlich, dass die Gemeindeverwaltung die „Sprache der Verwaltung“ sprach – ein Zustand, der Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Berliner Vorortgemeinde nicht mehr außergewöhnlich war, aber keinesfalls auf das 19. Jahrhundert übertragen werden sollte.118 3.4.3

Das Vermittlungsamt

Im 19. Jahrhundert waren gerade die Landgemeinden nicht nur unterste Instanzen des entstehenden Interventionsstaates oder an ihn angekoppelte Korporationen. Sie waren auch immer noch ein besonders enger Personenverband, und manche Aufgaben, die durch die Gemeindevertretungen oder den Gemeindevorsteher ausgeführt wurden, trugen dem Rechnung. Die Rede ist hier vom gemeindlichen

117 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 10.8.1905; KrA-TF XII.294. 118 Vgl. Raphael 1999b.

Dorfpolitik konkret: Wie agierten die Gemeindevertretungen?

Vermittlungsamt, also einer gemeindlichen Schiedsstelle, die in Bayern bis in die Zwischenkriegszeit existierte.119 Eingeführt wurde das Vermittlungsamt mit der Ausführungsbestimmung für das Gemeindeedikt von 1808 nur für die Landgemeinden. Wenn in einer Dorfsgemeinde Streitigkeiten unter den Gemeindegliedern entstehen, von welcher Art sie seyn mögen, über Unbilden, Schulden, liegende Gründe oder Dienstbarkeiten, zwischen Herren und Dienstboten, Nachbarn oder Familiengliedern, – so muß der Gemeinderat sich der Vermittlung unterziehen. […] Die Landgerichte sollen keine Klagen und Prozesse zwischen Gemeindegliedern und ihren Familien annehmen, bevor die Theile nicht das Zeugnis beibringen, daß sie ihre Angelegenheit dem Gemeinderathe vorgelegt, und dieser sich vergebens, sie durch Vergleich beizulegen, bemühet habe.120

Der Gemeinderat durfte keine schriftlichen Unterlagen bei solchen Schlichtungsversuchen anlegen. Diese Vorschrift zeigt, dass es sich nicht um ein Verfahren handelte, das rein der administrativen Logik folgte, sondern um ein merkwürdiges Zwischending. In Instruktionen und Verordnungen thematisiert und der Gemeindeverwaltung zur Pflicht gemacht, gleichzeitig rein mündlich, handelte es sich um den Versuch, innerhalb einer Gemeinde Konflikte nicht erst „offiziell“, also gerichtsfähig zu machen.121 Zu diesem Eindruck trägt auch bei, dass die Streitschlichtung durch den Gemeindevorsteher und die Gemeindevertreter nur in den Fällen verpflichtend war, in denen der Konflikt keine Gemeindegrenzen überschritt. Solange also nur Einwohner der gleichen Gemeinde, als Mitglieder einer face-to-face-Gesellschaft, von dem Streit betroffen waren, sollte der Konflikt auch innerhalb eben jener Gruppe beigelegt werden.122 Dass dies allerdings durch ein königliches Edikt festgelegt wurde, deutet auf die merkwürdige Zwischenstellung dieser Institution hin. War das Vermittlungsamt zunächst noch ein Spezifikum für die Landgemeinden, wurde es durch das revidierte Gemeindeedikt von 1834 auch auf die Stadtund Marktgemeinden übertragen. Der bayerische Innenminister, Ludwig von Oettingen-Wallerstein, lobte das Vermittlungsamt, handle es sich doch dabei um „gerade diese Institution mit der wahren Bestimmung der Gemeindeorgane, [die] mit dem eigentlichsten Interessen der Gemeinde am Innigsten verwebt und in ihr der sicherste Ableiter animoser Prozesse und innerer Spaltungen“ sei.123

119 120 121 122 123

Vgl. Probst 1975, S. 142; Schlimm 2021b. Instruction der Gemeindevorsteher vom 24.9.1808, §§ 29, 31, S. 94. Allgemeine Verordnung, 6.6.1810, Sp. 442. Vgl. Verordnung vom 20.10.1810, Sp. 1091. Ludwig von Oettingen-Wallerstein, zitiert nach: Debes 1838, S. 100.

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Regierung durch Selbstverwaltung

So viel zur Idee des Vermittlungsamts. Was aber erfahren wir über die Praxis in Bernried? Zum Glück für uns sind trotz der Maßgabe, die Vermittlung mündlich zu führen, in Bernried für einige Jahre Kurzprotokolle der Schlichtungen überliefert. Diese zeichnen sich durch besondere Banalität aus. Bei den meisten Fällen handelt es sich um Beleidigungen oder Schlägereien. So auch am 29. Mai 1854, als vor dem Vermittlungsamt, bestehend aus dem Gemeindevorsteher Fuchs und drei Gemeindeausschuss-Mitgliedern, die beiden Streitenden Thomas Härtl, Rechenmacher, und Leonhard Ramsmayer, Söldner (also Kleinstellenbesitzer), erschienen waren. Härtl beklagte sich, dass Ramsmayer seinen, Härtls, zehnjährigen Sohn so geschlagen habe, dass er es mit der Angst zu tun bekommen habe, er könne bleibende Schäden davontragen. Daher habe er ihn in den Nachbarort Seeshaupt gebracht, wo ein Arzt ihn untersucht habe. Dieser habe zwar Entwarnung geben können, empfahl Härtl aber eine Salbe zum Einreiben, der die Kosten dafür von Ramsmayer erstattet haben wollte. Darauf ließ sich der Beschuldigte ein. Damit war der Fall erledigt, und die beiden Kontrahenten unterschrieben das Protokoll als Zeichen, dass sie die Schlichtung akzeptierten.124 Das gemeindliche Vermittlungsamt war eine Instanz, vor der alltägliche Konflikte beigelegt werden konnten, die auf der rein zwischenmenschlichen Ebene nicht gelöst werden konnten. Oft bestand die Konfliktlösung darin, dass die eine Seite der anderen Kosten erstattete, in anderen Fällen wurden vorangegangene Beleidigungen durch eine offizielle Entschuldigung beigelegt. In beiden Fällen war vermutlich die als neutral wahrgenommene Instanz der Gemeindeverwaltung nützlich, um die Entschuldigung oder den Ausgleich zu beglaubigen. Die Protokolle berichten sicherlich nicht über all das, was in den Streitschlichtungen verhandelt wurde. Sie deuten aber darauf hin, dass es nicht so sehr darum ging, die Ursprünge der Konflikte aufzuarbeiten, sondern eher darum, die entstandenen Unwuchten auszugleichen – ob finanziell oder moralisch. Mit der Gemeindeordnung von 1869 wurde das gemeindliche Vermittlungsamt, das bislang dem Gemeindeausschuss zugeteilt worden war, zu einer Kompetenz gemacht, die alleine dem Bürgermeister zukam. Damit wurde das Vermittlungsamt eher den polizeilichen Pflichten des Bürgermeisters zugewiesen und dem genossenschaftlichen Bereich des Gemeindeausschusses entzogen. *** Die Gemeindevertretungen waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert. Manche waren außergewöhnlich – Krieg und Annexion waren Ausnahmesituationen, die auch die Gemeindeverwaltungen vor vollkommen neue Voraussetzungen stellten. Auch die Realisierung von Bauprojekten gehörte eher zu den Ausnahmen. Andere waren eher alltäglich,

124 Protokoll des gemeindlichen Vermittlungsamts Bernried, 29.5.1854; GAB, B2/0, S. 31 f.

Schlussfolgerungen: Selbstverwaltung im ländlichen Raum als Regierungstechnik?

wie die Schlichtung von kleinen Konflikten zwischen Dorfbewohner:innen. Die kurze und lediglich exemplarische Durchsicht verschiedener dieser Situationen hat gezeigt, dass die Gemeindevertreter sehr langsam neue Handlungsmöglichkeiten entwickelten und viele Praktiken stark dem vertrauten Repertoire lokalen Handelns entsprachen. Doch die Gemeindegremien wirkten als „training grounds“: Neue Formen des administrativen Handelns wurden langsam und schrittweise institutionell eingeübt.125

3.5

Schlussfolgerungen: Selbstverwaltung im ländlichen Raum als Regierungstechnik?

„An absoluten Maßstäben gemessen“, so argumentiert Wolfgang Kaschuba in Bezug auf die ländliche Gemeinde Kiebingen im 19. und 20. Jahrhundert, „war der kommunalpolitische Handlungsspielraum […] ausgesprochen eng.“ Wenig Geld und strikte behördliche Aufsicht schränkten das Handeln des Gemeinderats ein. Hauptsächlich konnte der Kiebinger Gemeinderat „die innerdörfliche ‚Verfassungsrealität‘“126 formen. Damit meint Kaschuba die Möglichkeit, den Kreis der Berechtigten, etwa an den Gemeindenutzungen127 oder für die innergemeindliche Partizipation überhaupt,128 klein zu halten. Für diejenigen, deren soziale und ökonomische Möglichkeiten eingeschränkt wurden, war der Gemeinderat also durchaus eine mächtige Institution. Kaschuba beurteilt die relative Machtlosigkeit anhand des Outputs der gemeindlichen Politik. Doch das ist nicht die einzig mögliche Perspektive auf die Regierung im Dorf. Alleine die Erfahrung, dass bestimmte Themen in den eigenen Zuständigkeitsbereich fielen, erweiterte die individuelle und kollektive politische Handlungsfähigkeit. Michael Th. Greven hält diese Erfahrung, dass die soziale Ordnung durch Handeln veränderbar ist, für ein zentrales Charakteristikum von moderner Politik: Dort, wo die […] Erfahrungen besonders drastische Veränderungen des Alltags bewirken, indem sie in die Gestaltung der sozialen Beziehungen oder der wirtschaftlichen Aktivitäten oder das Alltagsleben generell verändernd eingreifen, lassen sie auch in der breiteren Bevölkerung das für jede politische Gesellschaft notwendige Kontingenzbewußtsein nach und nach zumindest rudimentär entstehen. Was durch eine Entscheidung, zunächst noch

125 126 127 128

Vgl. Stauter-Halsted 2004, S. 78. Kaschuba, Lipp 1982, S. 84. S. u., Kap. 5.2. S. u., Kap. 6.2.

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Regierung durch Selbstverwaltung

der fernen Herrschaft und später der sie repräsentierenden lokalen Behörden und Ämter, einmal und zunächst anscheinend so überraschend geändert werden konnte, obwohl es vorher so erscheinen mußte, als ob das Bestehende ganz ‚natürlich‘ oder ‚immer schon so gewesen‘ und deshalb ganz unabänderlich sei – das verliert mit dieser Erfahrung ein für alle Mal seinen selbstverständlichen Charakter und wird kontingent, es wird kritisierbar und auch in der weiteren Zukunft nochmals änderbar. Das muß und wird für eine ganze Reihe von Menschen keineswegs immer nur eine negative Erfahrung gewessen [sic] sein […].129

Auch dorfgemeindliche Politik mag eine Quelle solcher Kontingenzerfahrung gewesen sein. Daher ist die Beschäftigung mit lokaler Selbstverwaltung im ländlichen Raum nicht nur für eine Verwaltungs-, sondern auch für eine Erfahrungsgeschichte relevant. Denn die Gouvernementalisierung der Gemeinden nahm zwar mit der gesetzgeberischen Tätigkeit ihren Anfang, war aber damit keineswegs abgeschlossen. Institutionelle Lernprozesse und Annährungen von lokaler und staatlicher Ebene brauchten ihre Zeit. Von den ersten Gemeindereformen im frühen 19. Jahrhundert bis hin zu den Gemeinderäten, die selbstbewusst die lokalen Geschicke in die eigene Hand nahmen, verging beinahe ein Jahrhundert. Die Problematisierung der Landgemeinden in den Gesetzgebungsprozessen hat gezeigt, dass lokale Verwaltung im 19. Jahrhundert hochgradig umstritten war. Selbstverwaltung konnte sehr unterschiedlich verstanden werden, und mit dem Konzept verknüpften verschiedene Akteure ganz unterschiedliche administrative und gesellschaftspolitische Ziele. Während eher liberale Politiker die kleine Gruppe der Staatsbürger in ihrer lokalen Umgebung mobilisieren und zu rationalen Akteuren ihrer eigenen Verwaltung machen wollten, verknüpften konservative Politiker und juristische Experten die (ländliche) Selbstverwaltung damit, eine stabile Gruppe von verlässlichen Gemeindebürgern zu schaffen, die die soziale Ordnung auf dem Lande sicherstellen sollten. Die Gouvernementalisierung der Gemeinden als autonome wie als staatliche Gebilde ist maßgeblich auf diese Zuerkennung von Selbstverwaltungsrechten zurückzuführen. Diese Rechte kann man von Institutionen der Vormoderne ableiten;130 aus der Perspektive der Gouvernementalisierung der Gemeinden im 19. Jahrhundert ist es aber von Vorteil, nicht die Kontinuität, sondern gerade die Diskontinuität zu betonen. Nicht die älteren Überreste der frühneuzeitlichen Gemeinde zeigten ihre Beharrungskraft, sondern die Gemeinden wurden gouvernementalisiert und damit in ihrem Doppelcharakter neu hervorgebracht. Die beiden Charakteristika

129 Greven 2000, S. 54. 130 Vgl. zum Beispiel Enders 1993; Kümin 2013; Wunder 1986.

Schlussfolgerungen: Selbstverwaltung im ländlichen Raum als Regierungstechnik?

der Gemeinde als selbstständig und staatlich waren nicht „ungleichzeitig“, das eine älter und traditionell, das andere neu und aufgestülpt. Vielmehr stammten beide Attribute gerade aus diesem Reformprozess des 19. Jahrhunderts, den ich in diesem Kapitel umrissen habe. Die lokalen Akteure in den Gemeinden mussten sich diesen Doppelcharakter über ihre Praktiken aneignen. Obwohl die drei Gemeinden sehr unterschiedliche Startbedingungen hatten, sind doch ähnliche Entwicklungen sichtbar: So professionalisierten sich die Gemeindevertretungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insofern, als dass die Amtszeiten länger wurden und die Gemeindevertreter offenbar das Amt nicht mehr als notwendige Pflicht ansahen, sondern diese Aufgabe (mehr oder weniger) bereitwillig übernahmen. Die Gemeindevertretungen agierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer eigentümlichen Mischung aus formalisierten Verfahren und informellen Praktiken. Auch hier scheint es nicht sinnvoll zu sein, eine „traditionelle“ Praxis einer „modernen“ Norm standardisierter Gemeindepolitik entgegenzusetzen. Gerade die Mischung machte oftmals das Charakteristikum ländlicher Selbstverwaltung im 19. (und auch noch im 20.) Jahrhundert aus. Den Gemeindevertretungen gelang es erstaunlich oft, kompetent zwischen lokalen Bedürfnissen und formalisierten Sprachen zu agieren. Selbstverwaltung bedeutete auch das: die Aneignung von unterschiedlichen Praktiken, um lokale Probleme lösen zu können. Und damit war eine gewisse Widerständigkeit stets möglich. Gouvernementalisierung der Gemeinden bedeutete also keineswegs die umstandslose Unterordnung der Gemeinden unter eine staatliche oder bürokratische Logik. Insgesamt zeigt bereits dieser erste Blick auf die Selbstverwaltung der Gemeinden, wie eng die strukturellen Wandlungen, ihre Deutungen und die lokalen Praktiken miteinander verflochten waren. Alle drei Ebenen – die strukturelle Ebene der Staatsexpansion, die Deutungsebene mit den Auseinandersetzungen darüber, was Selbstverwaltung im ländlichen Raum bedeuten sollte, und die Ebene der lokalen Praxis von der Rekrutierung der lokalen Gemeindevertreter bis hin zu den Modi ihres Arbeitens – schufen gouvernementalisierte Räume, in denen ländliche Gesellschaften regiert werden konnten, indem sie sich selbst regierten. Damit erweist sich Selbstverwaltung als ein spezifisch modernes Instrument der Regierung.

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4.

Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es vor allem eine Gruppe von Akteuren, die beinahe täglich mit der Verschiebung des Gefüges von ländlicher Gesellschaft, Landgemeinde und Staat konfrontiert war: die Vorsteher der Landgemeinden. In der Forschung ist immer wieder die enorme Bedeutung der lokalen Akteure für Verstaatlichungsprozesse, die Ausbreitung des Staates in die Fläche und die Politisierung des ländlichen Raums unterstrichen worden.1 Häufig werden diese Vermittlungspositionen aber eine Ebene über den von mir fokussierten Gemeindevorstehern angesiedelt: Patrick Wagner hat die sich wandelnde Rolle der ostelbischen Landräte analysiert, Stefan Brakensiek die niederhessischen Ortsbeamten im frühen 19. Jahrhundert untersucht und Joachim Eibach in den badischen Amtmännern des 19. Jahrhunderts den „Staat vor Ort“ erblickt. All diesen lokalen Verwaltungsakteuren war gemeinsam, dass sie nicht der bäuerlichen Bevölkerung angehörten. Die Landräte in Ostelbien kamen zunächst aus der Gruppe der Gutsbesitzer, dann rekrutierten sie sich aus der Bürokratie; die kleinen Beamten in Hessen und Baden hatten zumindest eine grundlegende juristische und administrative Ausbildung und kamen entsprechend „von außen“ in die lokalen Gesellschaften.2 Doch diese Ausbildung war es nicht primär, die über Erfolg oder Misserfolg ihres Amtes entschied. Ihre „‚Management-Qualitäten‘ […], ihre Fähigkeit, als ‚Makler der Macht‘ Aushandlungsprozesse zu steuern und divergierende Interessen auszutarieren“, waren, so Stefan Brakensiek, maßgeblich für den Erfolg von (frühneuzeitlicher) Staatlichkeit im lokalen Raum.3 In der Forschung werden die Personen, die zwischen unterschiedlichen Welten angesiedelt sind, als broker bezeichnet. Sie stellen das verknüpfende Glied dar, müssen übersetzen, vermitteln, Kontakte herstellen. Eine solche Position, so betonen unterschiedliche Forscher:innen, ist höchst konfliktträchtig.4 Im Gegensatz zu den von Brakensiek und anderen untersuchten Gruppen waren die Gemeindevorsteher, Schulzen, maires oder Bürgermeister keine Fremden, die von außen in die bäuerliche Gesellschaft hineintraten, sondern sie wurden aus dem Kreis der bäuerlichen Gesellschaften ausgewählt und sollten diese nach außen vertreten. Für die Gouvernementalisierung der Gemeinden sind sie von enormer 1 Vgl. Ganzenmüller, Tönsmeyer 2016b; Nellen, Stockinger 2017 sowie die weiteren Beiträge in Administory 2 (2017) zum Thema „Staat, Verwaltung und Raum im langen 19. Jahrhundert“. 2 Brakensiek 1999; Eibach 1994; Wagner 2005; Wagner 2004. 3 Brakensiek 2005, S. 50. 4 Vgl. Holzer 2013, S. 257–260. In den peasant studies weist Shanin den externen brokern ebenfalls eine besonders wichtige Rolle zu: Shanin 1971, S. 297.

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Bedeutung; daher werden sie im Folgenden im Zentrum meines Interesses stehen. Sie waren im besten Falle nicht nur die Bindeglieder zwischen den Verwaltungsebenen, sondern auch zwischen sehr unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten, verschiedenen Sprachgemeinschaften,5 beruflichen communities oder Bildungsmilieus.6 Diese Position machte sie zu bedeutenden Akteuren in einem machtdurchzogenen Kräftefeld. Wie kam es, dass Bauern oder kleine Handwerker mit wenig Schulbildung den Staat im Dorf und gleichzeitig das Dorf gegenüber dem Staat repräsentieren konnten? Dass die Vorsteher diesen überaus komplexen Anforderungen genügen konnten, war keine Selbstverständlichkeit. Dies geschah nicht von einem Tag auf den anderen, sondern war ein länger andauernder Prozess, den Maurice Agulhon als „un siècle de tâtonnements“, also als ein Jahrhundert des Herantastens, beschreibt.7 In der unübersichtlichen Situation zwischen steigenden Anforderungen, dynamischer Gesellschaftsentwicklung und Gouvernementalisierungsprozessen mussten sich die Gemeindevorsteher an ihre Rolle in Gemeinde und Staat herantasten. Die Vokabel des tâtonnement ist besonders passend für diesen Prozess, transportiert sie doch das Ausprobieren, Scheitern, das Zurücknehmen und Vorwagen, insgesamt den sehr wenig zielgerichteten und unsicheren Charakter des Gewöhnungs- und Professionalisierungsprozesses der Gemeindevorsteher.8 Zudem bleibt das Subjekt des Tastens zunächst offen. Denn nicht nur die Vorsteher, sondern auch die anderen beteiligten Personen und Institutionen mussten sich immer wieder neu in die Situation einfinden. Das Herantasten war schwierig, denn die Situation, in welche sich die Gemeindevorsteher einordnen mussten, war nicht stabil. So wandelte sich der moderne Staat gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorm, die öffentliche Verwaltung wurde professionalisiert und verrechtlicht. Dadurch vertiefte sich die Distanz zwischen den nicht ausgebildeten Gemeindevorstehern und den vorgesetzten Behörden. Gleichzeitig veränderten sich im Dorf die sozialen Beziehungen. Sozialhistorische Forschungen haben wiederholt darauf hingewiesen, dass für das 19. Jahrhundert kaum von einer Dorfgesellschaft aus einem Guss gesprochen werden kann, zu sehr verschärften sich die Konflikte zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen auch innerhalb des Dorfes. In dieser Situation mussten sich Gemeindevorsteher in lokalen Konflikten positionieren – und das taten sie oft,

5 6 7 8

Vgl. Raphael 1999b; Mayaud 2000, S. 167. Vgl. Schlimm 2017c. Agulhon 1984, S. 168. Je nach Gemeindeordnung hatten die Vorsteher der Gemeinden andere Bezeichnungen. Als Oberbegriff verwende ich in dieser Arbeit die Bezeichnung „Gemeindevorsteher“.

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indem sie ihre eigene soziale Gruppe privilegierten.9 Spätestens ab der Wende zum 20. Jahrhundert kamen neue Gruppen ins Dorf (zum Beispiel aus nahegelegenen Städten), die ebenfalls ihre Ansprüche gegenüber dem Gemeindevorsteher formulierten oder sogar den Anspruch auf den Vorsteherposten für sich reklamierten. In diesem sozialen Kräftefeld sollte der Gemeindevorsteher eine ausgleichende und vermittelnde Funktion übernehmen – zumindest wurden ihm in Debatten darüber, wie ein Gemeindevorseher zu sein hatte, diese Funktionen zugewiesen. Gerade ländliche Gemeindevorsteher sind in der deutschsprachigen Forschung recht selten zum Gegenstand gemacht worden. Für das ostelbische Preußen untersucht Patrick Wagner den Blick der preußischen Bürokratie auf die Dorfschulzen.10 Christine Mayr klopft außerdem für eine Reihe von Dörfern im französischluxemburgisch-preußischen Grenzgebiet an Rhein und Maas die Amtsausübung von Landbürgermeistern auf typische Amtsstile ab.11 Ansonsten sind die meisten Forschungen zu ländlichen Gemeindevorstehern im 19. Jahrhundert eher lokalgeschichtlicher Natur und gehen nur in den seltensten Fällen auf allgemeinhistorische Probleme ein.12 In Frankreich gibt es hingegen grundlegende Studien zu den Bürgermeistern in den rund 36.000 municipalités des Landes. Eine quantitative Großuntersuchung hat in den 1980er Jahren die Grundlagen für qualitativere Forschungen geschaffen, dabei aber vor allem nach den sozialhistorischen Zusammenhängen gesucht und demgegenüber Fragen der Amtsführung und der Praktiken der Bürgermeisterwerdung wenig beachtet.13 Ich selbst habe an anderer Stelle die Lernprozesse von ländlichen Gemeindevorstehern zum Thema gemacht. Dabei habe ich die These vertreten, dass die ländlichen Gemeinden in den Regionen mit längerer Tradition von Selbstverwaltung stärker an die staatlichen Verhaltensweisen heranrückten und dass ein wichtiger Faktor dafür der Lernprozess war, durch den Gemeindevorsteher zu kompetenten „Mitspielern“ gemacht wurden.14 Auf den ersten Blick passt die dünne Forschung zur problematischen Quellenlage. Denn gerade Dorfbürgermeister hinterließen nur selten Ego-Dokumente, und die unsystematische lokale Aktenführung war schon den zeitgenössischen

9 Auf den konfrontativen Charakter dörflicher Gesellschaften im 18. und 19. Jahrhundert verweist Mooser mit seinem Begriff der „ländlichen Klassengesellschaft“. Vgl. Mooser 1984; vgl.auch Wagner 2004, S. 125–135. Niels Grüne hebt hingegen hervor, dass es unter wirtschaftlich günstigen Bedingungen vor allem in Gebieten mit Sonderkulturen (hier: der badischen Rheinpfalz) möglich war, die „ländliche Zwei-Drittel-Gesellschaft“ zu reintegrieren. Grüne 2011, S. 69–202. 10 Wagner 2001. 11 Mayr 2006. 12 Eine Ausnahme: Mahlerwein 2001. 13 Vgl. Severin-Barboutie 2018; Agulhon 1986; außerdem eher qualitativ und chronologisch, dabei stark auf die Befunde des Großprojekts zurückgreifend: George 1989. 14 Schlimm 2017c.

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Aufsichtsbehörden ein Dorn im Auge. Das trifft auch auf meine Untersuchungsgemeinden zu, aus deren Aktenbeständen sich häufig kaum mehr als der Name der jeweiligen Vorsteher rekonstruieren lässt.15 Immerhin existiert für Bernried ein Amtsjournal, das über Ein- und Ausgänge von Schriftstücken zwischen 1872 und 1876 informiert. Dennoch lässt sich das Themenfeld der ländlichen Gemeindevorsteher gewinnbringend bearbeiten. Denn die Aufsichtsakten aus den Präfekturen, Bezirks- und Landratsämtern sind überaus ergiebig, auch wenn sie zunächst nur die Perspektive der Bürokratie sichtbar machen. Aus ihnen lassen sich aber auch typische Herausforderungen von und mit Gemeindevorstehern aus anderen als meinen Untersuchungsgemeinden rekonstruieren, die dabei helfen, das Problem der ländlichen Gemeindevorsteher genauer zu konturieren. Zusätzlich verwende ich gedruckte Quellen. Neben Gesetzen und Ausführungsbestimmungen, die das Arbeitsfeld der Gemeindevorsteher ebenso wie Qualifikationen und Wahl- oder Ernennungsmodi definierten, sind es vor allem die gedruckten Leitfäden, die im 19. Jahrhundert in großer Zahl produziert wurden und eine wichtige Quelle für die „Verhaltenslehren“ der Gemeindevorsteher darstellen.16 Dieses Kapitel widmet sich im Folgenden also unterschiedlichen Problemen rund um die Figur, die Position und die Praxis des ländlichen Gemeindevorstehers. Um die einzelnen Personen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Amt innehatten, wird es hingegen kaum gehen; Biogramme werden meine Leser:innen vergeblich suchen. Denn es geht mir nicht um die Personen selbst, sondern um die prekäre Stellung der Gemeindevorsteher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie war das Ergebnis der Gouvernementalisierung der Gemeinden, die wiederum aus diversen Basisprozessen, Ordnungsmustern und lokalen Praktiken resultierte. Diese werde ich mit Blick auf die Position der Gemeindevorsteher analysieren. Dabei wird deutlich, wie sehr es sich beim ganzen Prozess der Gouvernementalisierung um ein „Herantasten“ handelte, und zwar ein Tasten sowohl der lokalen Amtsinhaber als auch der vorgesetzten Behörden.

4.1

Zwischen Gemeinde und Staat

Die Gemeindevorsteher hatten eine Position im „Dazwischen“. Verfassungsrechtlich wurde ihnen im Zuge der Gouvernementalisierung der Gemeinden eine doppelte Rolle zugewiesen: Sie sollten Repräsentanten des Dorfes und Sprecher ihrer lokalen community, gleichzeitig aber auch unterste ausführende Stelle der Bürokratie und

15 Im Anhang sind die Amtsinhaber mit ihren Amtszeiten aufgeführt. 16 Vgl. Luks 2019, S. 13 f.

Zwischen Gemeinde und Staat

Vorposten des Staates im dörflichen Raum sein. Statt aber eine doppelte Legitimierung und eine doppelte Handlungsfähigkeit aus dieser Stellung gewinnen zu können, waren die Gemeindevorsteher vielmehr im Zwischenraum dieser beiden Welten eingeordnet, die sich im 19. Jahrhundert noch sehr stark voneinander unterschieden. Aus heutiger Perspektive ist diese Zwischenstellung mit ihren Fallstricken kaum nachzuvollziehen. Verständlicher wird sie, wenn wir genauer beobachten, wie die Gemeindevorsteher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Amt kamen, welche Anforderungen an sie gestellt wurden und welche Verfahrensschritte sie zu durchlaufen hatten. Denn dann wird sichtbar, wie eng das Machtgeflecht war, in das sie eingepasst wurden – fast wie in eine Zwangsjacke. 4.1.1

Wahl und Ernennung

In Bayern wurden die Gemeindevorsteher bereits seit dem Gemeindeedikt von 1818 durch die Gemeinde, also die kleine Gruppe der vollberechtigten Gemeindebürger, gewählt. Sie hatten eine doppelte Rolle innerhalb der lokalen Verwaltung. Als Vorsitzende des Gemeindeausschusses koordinierten sie die Selbstverwaltungsangelegenheiten der Gemeinden, also die Verwaltung des kommunalen Stiftungsund Gemeindevermögens, die Aufnahme der Bürger:innen17 und die Mitwirkung bei Kirchen- und Schulverwaltung. In dieser Hinsicht war der Vorsteher nur primus inter pares, hatte die Sitzungen vorzubereiten, zu leiten und die Beschlüsse des Ausschusses umzusetzen. Gleichzeitig jedoch waren ihm durch die Gemeindeordnung bestimmte Aufgaben der staatlichen Verwaltung übertragen, etwa beschränkte Befugnisse der Ortspolizei. Diese Aufgaben übernahm der Bürgermeister allein, wie die Gemeindeordnung betonte.18 Durch diese staatlichen Aufgaben wurde der Bürgermeister aus dem Gemeindeausschuss herausgehoben; die Ausschussmitglieder hatten dabei kein Mitspracherecht und durften den Vorsteher auch nicht vertreten.19 Auf der rein normativen Ebene des Gesetzes veränderte sich die Stellung des Bürgermeisters mit der Gemeindeordnung von 1869, denn nun erhielt die Gemeindeversammlung stärkere Kontrollrechte über den Vorsteher. Die Versammlung beriet nicht mehr nur, sondern konnte nun auch für den Bürgermeister bindende Beschlüsse fassen. Vor allem setzte die Gemeindeversammlung die Amtsentschädigung für die Bürgermeister fest.20 Doch auch staatliche Behörden hatten ihre

17 In sehr seltenen Fällen konnten auch Frauen zur Gemeindebürgerin werden. Genauer gehe ich in Kap. 6 auf die geschlechtliche Ordnung der Citizenship ein. 18 Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 138. 19 Vgl. Mages 11.5.2006. 20 Vgl. Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 146 f.

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Möglichkeiten, den Bürgermeister zu kontrollieren und zu disziplinieren. Das Bezirksamt musste den Bürgermeister bestätigen und ins Amt einführen, außerdem in regelmäßigen Abständen seine Amtsführung in Visitationen überprüfen.21 Die bayerischen Bürgermeister wurden durch die Gemeinde gewählt und kontrolliert, von der Bürokratie aber ernannt und beaufsichtigt. Der Bürgermeister nahm also eine intermediäre Position zwischen zwei (zumindest potenziell) machtvollen Polen ein. In Preußen und dem Elsass hatten die Gemeinden selbst weniger Rechte; entsprechend war auch der Gemeindevorsteher viel stärker an die staatliche Bürokratie angebunden und von ihr abhängig. An der Oberfläche war das Verhältnis von Staat und Gemeinde, wie es sich in der Position des Gemeindevorstehers ausprägte, zwar anders als in Bayern; doch darunter waren die Ähnlichkeiten erheblich. In Preußen wurden die Gemeindevorsteher flächendeckend erst ab der Einführung der Kreisordnung im Jahr 1872 gewählt. Vorher existierte, wenn auch nicht in allen Dörfern, im ostelbischen Preußen noch eine Institution, die den Gemeindevorsteher an den Gutsherrn band: die sogenannten Schulzengüter.22 Wer ein solches Gut bewirtschaftete, war in der entsprechenden Gemeinde gleichzeitig Schulze, also Gemeindevorsteher. Auch in Mahlow gab es ein solches Gut, das von der Familie Steeger bewirtschaftet wurde und nach den Separationen zu Beginn der 1850er Jahren etwa 63 Morgen umfasste.23 Mit der Bewirtschaftung dieser Hofstelle ging auch die Verwaltung des Schulzenamts vom Vater auf den Sohn über. Während meines Untersuchungszeitraums geschah das in Mahlow zwei Mal: 1853 übernahm Johann Ludwig Steeger das Amt von seinem Vater Carl, der mindestens 25 Jahre das Amt innegehabt hatte;24 1870 wiederum trat Carl Steeger, der Enkel des letzten Vorstehers, in die Fußstapfen seines Vaters Johann Ludwig.25 Über das Gut war der Schulze in ein Machtgeflecht eingebunden, denn einige weitere Beteiligte hatten Besitz- und sonstige Verfügungsrechte über das Land – und damit auch über den Schulzen. Doch im Mahlower Fall war gar nicht genau klar, wer diese Beteiligten eigentlich waren. Heinrich Koblanck hatte das Mahlower Gut vom

21 Ebd., Art. 125 f. 22 Diese Institutionen gab es auch in einigen anderen Territorien, nicht aber in Bayern und im Elsass. 23 Vgl. Kammergerichts-Assessor Koppin an die Regierung in Potsdam, 5.9.1852; BLHA, Rep. 2a II D 9853. Genau waren es 63 Morgen 62 Quadratruten, also etwa 15,8 ha. Zum Vergleich: Der Mindestbesitz für eine selbstständige bäuerliche Wirtschaft bei den Agrarreformen in der Mitte des 19. Jahrhunderts lag bei 30 Morgen. Vgl. Berthold 1978, S. 18. Die Schulzenhufe war an diesem Maßstab gemessen also großzügig. Zudem besaß Steeger offenbar noch andere Flächen in Mahlow, wie aus dem Schreiben von Koppin hervorgeht. 24 Domainen-Polizei-Amt Mühlenhof an die Königliche Regierung zu Potsdam: Die Schulzenhufe zu Mahlow, 15.8.1853; BLHA, Rep. 2a III D 9599. 25 Vgl. Teltower Kreisblatt, 15. Jg., Nr. 6, 9.2.1870, S. 1.

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preußischen Staat gepachtet,26 und er war der Auffassung, das Schulzengut gehöre dazu, entsprechend sei der Schulze Steeger ihm gegenüber verantwortlich. Das staatliche Rentamt, das mit den Staatsbesitzungen befasst war, reklamierte hingegen dieses Recht für sich.27 Und auch der Bauer Winkelmann erhob Ansprüche auf die Schulzenhufe.28 Ob die Frage geklärt wurde, bleibt unklar, denn eine konsistente Überlieferung zur Frage der Schulzenhufe in Mahlow gibt es nicht. Deutlich wird aber, dass bis zur Abschaffung der Schulzengüter 1872 der Amtsinhaber nicht nur von staatlicher Bürokratie und Gemeinde abhängig war, sondern zusätzlich auch noch von denjenigen, die Besitzrechte an dem von ihm bewirtschafteten Land hatten. Diese Macht qua Besitz wurde im Zuge der Gouvernementalisierung des ländlichen Raums zurückgedrängt, was aber nicht bedeutet, dass sie mit der Einführung einer neuen Rechtsordnung sofort ihre Wirkung verlor. Für die Gemeinden, in denen es keine Schulzengüter gab, existierte keine eindeutige Regelung, vielmehr war die Bestellung der Gemeindevorsteher dem Gewohnheitsrecht oder örtlichen Satzungen überlassen. Häufig ernannte der örtliche Gutsherr die Gemeindevorsteher, mal mit, mal ohne Beteiligung der berechtigten Gemeindemitglieder. Die Kreisordnung von 1872, die vor allem die Amtsvorsteher und Landräte in den Staat einordnete,29 legte schließlich fest, dass der Gemeindevorsteher von den Gemeindebürgern gewählt und durch die Amtsvorsteher und Landräte bestätigt werden musste. In Frankreich waren die maires bereits seit der Revolution 1789 formal von der regionalen agrarischen Machstruktur abgekoppelt und in die bürokratische Hierarchie eingeordnet. Der Präfekt ernannte in der Regel einen der gewählten Gemeinderäte zum maire; nur während der kurzen Phase der Zweiten Republik wählte der Gemeinderat selbst den Vorsteher. Dieses Vorrecht des Präfekten wurde damit begründet, dass der maire der doppelten Legitimation durch lokale Gesellschaft und staatliche Bürokratie bedürfe, die aus einer „double baptême donné par le pouvoir exécutiv et par le suffrage universel“ herrühren sollte.30 Die Legitimation des französischen maire speiste sich also aus zwei Legitimationsquellen, der dörflichen durch seine Wahl zum Gemeinderat und der staatlichen durch seine Ernennung durch die Bürokratie. Im Idealfall war es also einfach: Die (männlichen und volljährigen) Gemeindebürger wählten den Gemeinderat, und aus diesem Kreis ernannte der Präfekt

26 Vgl. Kopie der Regulierungsverhandlung vom 30.8.1836; BLHA, Rep. 2a II D 9853. 27 Vgl. Domainen-Polizei-Amt Mühlenhof an die Königliche Regierung zu Potsdam: Die Schulzenhufe zu Mahlow, 15.8.1853; BLHA, Rep. 2a III D 9599. 28 Kammergerichts-Assessor Koppin an die Regierung in Potsdam, 5.9.1852; BLHA, Rep. 2a II D 9853; Winkelmann an die Regierung Potsdam [1850]; ebd. 29 Vgl. Wagner 2005, S. 291–375. 30 Taillefer 1868, S. 11.

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den maire und seinen Stellvertreter, den adjoint, den Beigeordneten. Doch die Entscheidung, welchen Gemeinderat der Präfekt ernannte, war keineswegs trivial. Im Juni 1861 trat der bisherige maire François Joseph Scharsch offenbar nach langem Hader zurück. Der Gemeinderat hatte bereits zwei Monate zuvor den Präfekten darum gebeten, Charles Prost als neuen maire einzusetzen. „Nous sommes convaincus que Monsieur Prost seul puisse réussir dans une mission si difficile.“31 Prost kann als typischer Vertreter der Gruppe der Notabeln gelten: Er bezog Macht und Ansehen nicht aus lokalen Quellen, sondern daraus, dass er einer überregionalen Führungsgruppe angehörte. Er war reich, ein örtlicher Wohltäter, Mitglied im conseil general des departement und Friedensrichter im Kanton Molsheim.32 Und er genoss offenbar großes Ansehen im Dorf. In seinem Rücktrittsgesuch bat Scharsch selbst um Prost als Nachfolger, sein eigener Sohn Xavier Scharsch sollte adjoint werden. Dies sei in der gegebenen Situation die einzige Möglichkeit: „C’est là, l’unique combinaison possible dans les circonstances actuelles. Elle aurait l’avantage de rallier autant que possible les divers parties qui jusqu’à ce jour ont divisé la commune.“33 Die lokalen Vertreter der Gemeinde konnten also durchaus versuchen, Einfluss auf die Besetzung des Amts zu nehmen. Hörte die Präfektur darauf, verbesserte das die Legitimität der Gemeindevorsteher im Dorf. Vier Jahre später beendete Prost sein Amt als maire, und nun hatte der Präfekt Mühe, einen neuen maire zu finden – oder besser: ein Gespann, das beide Ämter übernehmen konnte. Da Prost als neutraler Kandidat jenseits der dörflichen Fraktionen nicht mehr zur Verfügung stand, musste nun ein Tandem gefunden werden, dass gut zusammenarbeitete und trotzdem die offenbar stark zerstrittenen Einwohner des Dorfes repräsentierte. Denn sonst hätte eine Seite die Arbeit von maire und adjoint blockieren können. Prosts Nachfolger sollte der bisherige adjoint, Xavier Scharsch, werden. Er hatte in den letzten Jahren Verwaltungserfahrung gesammelt und zeichnete sich auch durch andere Qualitäten aus: „son intelligence des affaires, son honorabilité, son influence de sa famille“.34 Doch Scharsch war gar nicht Mitglied im Gemeinderat. Er hatte zwar kandidiert und war auch gewählt worden. Da sein Schwager aber mehr

31 Conseil municipal de Wolxheim an den Präfekten in Strasbourg, 2.4.1861; ADBR, 1 M 301. 32 Vgl. Notices individuelles des membres du Conseil général avant le renouvellement triennal de juin 1870, Arrondissement de Strasbourg: Prost, Charles; ADBR, 15 M 18. 33 Rücktrittsgesuch von François Joseph Scharsch an den Präfekten in Strasbourg, 1.6.1861; ADBR, 1 M 301. 34 So hieß es zumindest in der tabellarischen Einschätzung Scharschs: Renouvellement quinquennal des maires et adjoints en 1865 (Tabelle); ADBR, 1 M 315. Das scheint ganz typisch zu sein für das Zweite Kaiserreich in Frankreich. „Les préfets choisissent aussi pour être maires des ‚gens bien‘, connus pour la solidité de leur richesse, le prestige de leur situation et la certitude de leur conservatisme.“ George 1989, S. 150.

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Stimmen bekommen hatte, hatte er auf die Wahl verzichten müssen, denn direkt Verschwägerte durften nicht gleichzeitig Mitglied im Gemeinderat sein. Maire konnte Scharsch also nicht werden, und auch als adjoint kam er nicht mehr infrage, weil es für ihn keinen Partner gab, mit dem er im Gespann funktioniert hätte. Daher wurde nun eine andere Paarung bevorzugt: Ernannt wurde nun Xaviers besagter Schwager Louis Scharsch (zumindest der familiäre Einfluss blieb so erhalten); adjoint wurde Etienne Hohl. Beide waren gewählte Mitglieder im Gemeinderat; Scharsch hatte die meisten Stimmen bei der vergangenen Wahl erhalten, Hohl war auf dem dritten Rang gelandet.35 Der Präfekt musste, das zeigt dieser Fall, bei der Ernennung starke Rücksicht auf die örtlichen Gegebenheiten nehmen, wollte er nicht riskieren, dass die lokale Verwaltung durch ständigen Streit und Hader gelähmt wurde. Nach der Annexion des Elsass blieb die starke Einbindung der Bürgermeister in die staatliche Bürokratie erhalten. Denn die deutsche Verwaltung hegte offenbar ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der örtlichen Wählerschaft. Der Bürgermeister sei nun einmal mehr als der Präsident eines Gesangs- oder Turnvereins; als Vertreter auch der staatlichen Gewalt könne er nicht vom Wählervotum abhängig gemacht werden, argumentierte Unterstaatssekretär Ernst von Köller 1892 in der Verhandlung des Landesausschusses über die erste Fassung der Gemeindeordnung.36 In der Regel wurden die Bürgermeister in den Landgemeinden weiterhin aus dem Kreis der Gemeinderäte bestimmt.37 Ausnahmen wurden zugelassen, um die Ernennung des Bürgermeisters nicht zu sehr vom volatilen Wählerwillen abhängig zu machen. So hieß es in den Motiven zur Gesetzesvorlage von 1892: Bei […] Persönlichkeiten, die sich als unabhängig von dem Getriebe der gemeindlichen Parteiungen und als deutschfeindlichen Einflüssen unzugänglich bewährt hatten, mußte nach Ablauf der Amtsperiode von einer Wiederernennung abgesehen werden, weil sie wegen ihrer sachgemäßen Thätigkeit bei Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten und ihres Entgegenkommens gegenüber der Regierung ihr Mandat bei den Gemeinderathswahlen eingebüßt hatten.38

Während in der Dritten Französischen Republik die maires inzwischen gewählt wurden und auch in Preußen die Vorsteher der Landgemeinden längst durchgängig

35 Vgl. Charles Prost (?) an die Präfektur in Strasbourg [1865]; ADBR, 1 M 315. 36 Stenographischer Bericht des Landesausschusses von Elsass-Lothringen, XIX. Session, 5. Sitzung, 17.2.1892, S. 57 f.; ADBR, 39 AL 166. 37 Vgl. Bürgermeister und Beigeordnete 1896, S. 18. 38 Die nähere Begründung der einzelnen Bestimmungen ergeben die nachfolgenden Erläuterungen, in: Landesausschuss für Elsass-Lothringen (XIX. Session 1892). Vorlage No. 2: Entwurf einer Gemeindeordnung, Bd. 2, 14.1.1892, S. 39–79, hier: S. 44; ADBR, 39 AL 166.

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von der lokalen Bevölkerung gewählt wurden, behielt sich die reichsländische Verwaltung die Ernennung der Bürgermeister weiterhin vor; zu fragil erschien noch immer die Lage im annektierten Reichsland. Die unterschiedlichen Gemeindeordnungen sahen jeweils unterschiedliche Varianten vor, wie die Gemeindevorsteher zwischen lokaler Gesellschaft und der Bürokratie, in Preußen bis 1872 auch der patrimonialen Macht, eingepasst wurden. Für die Amtsinhaber und die lokale Gesellschaft wurde das durch die Prozeduren erfahrbar, mit denen die Vorsteher ins Amt kamen. 4.1.2

Der Weg ins Amt

In Preußen (ab 1872) und in Bayern (seit 1818) wurden die Gemeindevorsteher also gewählt. Allerdings gibt es über diese Wahlen praktisch keine Unterlagen. In Preußen scheint die Wählbarkeit der Vorsteher zumindest einen Unterschied gemacht zu haben. Patrick Wagner hat ermittelt, dass mit der Einführung der Bürgermeisterwahl etwa die Hälfte der Gemeindevorsteherposten neu besetzt wurde; dort, wo bislang Lehn- oder Erbschulzen das Amt versehen hatten, waren es sogar mehr als 70 Prozent.39 Hieß das, dass es nun andere Kandidaten gab, die bereitwillig für das Gemeindevorsteheramt kandidierten? Oder bedeutet diese Fluktuation im Amt, dass die bisherigen Amtsinhaber nun die Gelegenheit witterten, sich von dem ungeliebten Amt zu verabschieden? In Mahlow blieb der bisherige Lehnschulze Steeger zumindest noch bis 1880 im Amt; hier änderte sich durch die Wählbarkeit also nichts an der Gemeindespitze. Wenn schon die Quellen zu den Kandidaten für die Wahlen fehlen, so erst recht diejenigen, die Hinweise auf Wahlkämpfe geben könnten. Es ist auch nur schwer vorstellbar, wo solche Hinweise überliefert sein sollten. Die zeitgenössische humoristische Dorfgeschichte des belgischen Schriftstellers Jan Renier Snieders, „Wie man Bürgermeister wird“, griff dieses Thema auf und überzeichnete es stark. Hier versuchte der Kandidat nicht nur, den Redakteur des Lokalblattes auf seine Seite zu ziehen, indem er ihm eine große Menge Abonnements abkaufte, sondern er schmeichelte sich auch bei den Gemeindegenossen ein, indem er möglichst vielen lokalen Vereinen beitrat.40 Jenseits solcher Dorfgeschichten dürften die Wahlkämpfe eher unauffällig abgelaufen sein, wenn es sie überhaupt gab. Immerhin ordnete das bayerische Staatsministerium des Innern im Jahr 1908 an, dass besonders darauf geachtet werden solle, ob „bei den Gemeindewahlen eine Wahlbeeinflußung durch Gewährung von Zechfreiheit an die Wähler geübt“ werde, wie es vor allem in der

39 Vgl. Wagner 2001, S. 270. 40 Snieders 1874, S. 31–47.

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Pfalz und in Unterfranken – also in Weinbauregionen – immer wieder vorkomme.41 Und auch Franz X. Wagner wies in seinem „Bürgermeisterbüchlein“ von 1893 darauf hin, dass dem Spendieren eines Bierfasses nichts entgegenstehe – aber doch bitte erst nach der vollzogenen und gewonnenen Wahl.42 Die Regel waren Wahlkämpfe jedoch nicht, schon alleine deshalb, weil die Kandidaten für das Amt kaum je Schlange standen. Darauf weisen die gesetzlichen Regelungen hin, die in allen untersuchten Ländern genau festlegten, unter welchen Umständen man das Amt ausschlagen durfte. Die preußische Kreisordnung sah eine Reihe von Entschuldigungsgründen vor, etwa Krankheit, die Vollendung des 60. Lebensjahres, häufige geschäftliche Abwesenheit vom Heimatort oder die bereits erfolgte Übernahme eines Staatsamtes.43 Wer sich ohne einen solchen Grund dem Amt entziehen wollte, musste mit Sanktionen rechnen. Die Kreisordnung sah kleinere Strafzahlungen, aber auch den Ausschluss von den gemeindlichen Mitwirkungsrechten oder eine Erhöhung der gemeindlichen Zahlungsverpflichtungen für die Verweigerer vor.44 Die Autoren der Landgemeindeordnung von 1891 hielten diese Zwangsmaßnahmen offenbar weiterhin für notwendig. Erich von Saucken moralisierte dieses Problem in seinem Instruktionsbüchlein für Bürgermeister: Es wäre zu wünschen, daß Niemand es hierauf [auf die Zwangsmittel, AS] ankommen lasse. Möge Jeder, dem ein Amt übertragen wird, diejenige Zeit, welche ihm sein sonstiger Beruf und seine Familie übrig läßt, zu dauernder ersprießlicher Thätigkeit im Dienste der Gemeinde verwenden!45

Dort, wo nicht gewählt wurde, war es besonders schwierig, einen Kandidaten zu finden. Was die Wahl als Technik leisten konnte, musste im Elsass der Präfekt übernehmen. Er musste lokale Verhältnisse ergründen, den lokalen Rückhalt einzelner Kandidaten einschätzen und spätere Probleme antizipieren. Im letzten Abschnitt

41 Rundschreiben des k. Staatsministerium des Innern an die königlichen Regierungen, 24.9.1908, betr.: Gemeindewahlen, hier: unzulässige Wahlbeeinflussung; StAM, LRA 627. 42 Wagner 1893, S. 5. 43 Kreisordnung 1872, § 8 bzw. § 25. Auch die Landgemeindeordnung von 1891 sah diese Regelungen noch vor, ergänzt durch die Verpflichtung, ein solches Amt mindestens drei Jahre lang zu übernehmen. Damit sollte der starken Fluktuation ein Riegel vorgeschoben werden. Landgemeindeordnung 1891, § 65. Auch in Bayern gab es die Möglichkeit, das Amt niederzulegen oder erst gar nicht zu übernehmen, wenn auch nur aus gesundheitlichen oder Altersgründen. Allerdings verfügte die Gemeindeordnung explizit, dass der Rücktritt sofort bei Eintritt dieser Hinderungsgründe erfolgen müsse, und nicht etwa nach Lust und Laune oder erst im Konfliktfalle: Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 127. 44 Kreisordnung 1872, § 8 u. 25; Landgemeindeordnung 1891, § 65. 45 Saucken 1892, S. 31.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

habe ich gezeigt, dass dieser Prozess Zeit kostete und Wissen über die lokalen Verhältnisse erforderte. Der Präfekt musste also lokale Akteure in seine Entscheidung einbeziehen. Für die sich an die Wahl anschließende offizielle Ernennung musste die Bürokratie, das bayerische Bezirksamt, der preußische Landrat oder die DepartmentsVerwaltung, überprüfen, ob der Kandidat den Mindestanforderungen genügte. Die ökonomischen Anforderungen waren in der Regel mit der Wahl bereits erledigt, denn der Kandidat musste ja die passive Wählbarkeit besitzen, er musste also in Bayern Gemeindebürger sein und entsprechend wirtschaftlich selbstständig sein, in Preußen die Mindeststeuer entrichten, um das kommunale Wahlrecht zu haben. Ähnliche Voraussetzungen mussten die französischen Gemeindevorsteher bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erfüllen.46 In den meisten Fällen stammte der Gemeindevorsteher daher aus der dörflichen Ober- oder Mittelschicht.47 In Preußen mussten die Landräte allerdings manchmal auch auf Kleinbauern zurückgreifen, weil sich die anderen Kandidaten dem Amt entzogen.48 Die meisten Gemeindevorsteher in ländlichen Gemeinden waren Landwirte. Das lag zum einen daran, dass die Bauern in den Dörfern die Mehrheit der Mittel- und Oberschicht ausmachten. Zum anderen aber waren auch einige Berufe explizit ausgeschlossen: In Frankreich waren das die Beamten,49 aber auch Vertreter anderer Berufsgruppen: In Wolxheim wurde 1852 Ignace Widt kaum ein halbes Jahr nach seiner Ernennung zum maire wieder abberufen, weil seine Tätigkeit als buralist, also als Tabakhändler, mit dem Amt des maire nicht vereinbar sei; dabei ging es offenbar um die Aufgaben des Tabakhändlers bei der Abführung von Tabaksteuern.50 In Preußen war der Betrieb eines Schankgewerbes ein Ausschlussgrund,51 und wer die Steuern einzog (was in kleinen Landgemeinden in Preußen häufig der

46 In Frankreich wurden allerdings bereits im 19. Jahrhundert die steuerlichen Voraussetzungen für die Übernahme des Gemeindevorsteheramtes abgeschmolzen. Im Gesetz von 1855 war zumindest noch vorgesehen, dass der Maire für die direkten Staatssteuern in der Gemeinde angelegt war; 1885 reichte es dann aus, wenn er „inscri[t] sur la liste municipale de la commune“ war, also einen festen Wohnsitz in der entsprechenden Kommune hatte: „Un conseiller municipal peut donc être maire ou adjoint dans une commune où il ne paye aucune des contributions directes, pourvu qu’il y soit électeur.“ Dubarry 1882, S. 448. 47 In Frankreich gehörten das ganze 19. Jahrhundert über die meisten Bürgermeister der Mittelschicht an; die Vertreter der Oberschicht waren noch seltener als die der Unterschicht. Vgl. Agulhon, Serman, Robert 1986, bes. Tabelle 20, S. 78. 48 Vgl. Wagner 2005, S. 136. 49 Vgl. Dubarry 1882, S. 448. 50 Vgl. Präfektur Strasbourg an den maire von Wolxheim, Ignace Widt, 28.7.1852; ADBR, 1 M 258. 51 Vgl. Schreiben des Landrats des Kreises Teltow an die Regierung in Potsdam: Besetzung des Schulzenamtes in Sperenberg, 26.10.1870; BLHA, Rep. 2a I Kom 2333, fol. 88.

Zwischen Gemeinde und Staat

Gemeindevorsteher war), sollte keinen Handel treiben – wohl eine Maßnahme, um Veruntreuung zu verhindern.52 Darüber hinaus existierten aber auch soziale, moralische und intellektuelle Anforderungen. In der ersten bayerischen Instruktion für Gemeindevorsteher aus dem Jahr 1808 waren sie ausformuliert; sie blieben ein wichtiger Bezugspunkt für das 19. Jahrhundert. Zur Stelle des Gemeindevorstehers soll ein solches Gemeindeglied gewählt werden, welches zu den Geschäften brauchbar ist; lesen, schreiben und rechnen versteht; einen ordentlichen Lebenswandel führt, als ein guter Hauswirth bekannt ist; Erfahrung und Bescheidenheit besitzt und das Geschäft selbst nicht mit solcher Abneigung antritt, von welcher sich auch in der Folge keine genaue Erfüllung der damit verbundenen Obliegenheiten erwarten läßt.53

Wer also keinen ordentlichen Lebenswandel vorzuweisen hatte, konnte von den Aufsichtsbehörden ausgeschlossen werden, besonders dann, wenn von staatlicher Seite noch andere Gründe gegen diesen Kandidaten sprachen. Das galt auch für Preußen. Zeitweise war die preußische Verwaltung sehr streng, Gemeindevorsteher durften nicht das kleinste Vergehen begangen haben. Das war vor allem in Hinblick auf den Holzdiebstahl ein schwerwiegendes Problem.54 Daneben waren Trunkoder Streitsucht regelmäßige Ausschlussgründe. Je weiter das 19. Jahrhundert voranschritt, umso stärker wurden die moralischen Ausschlussgründe politisch ausbuchstabiert. War es nicht ein Zeichen von moralischer Verkommenheit, die falsche Partei zu unterstützen? Dafür ist vor allem die preußische Bürokratie bekannt. Hier machten die Landräte regen Gebrauch von der Möglichkeit, Kandidaten nicht zu ernennen, die ihnen ein Dorn im Auge waren. Kam kein Kompromiss zwischen Gemeinde und Landrat zustande, war der Landrat sogar ermächtigt, bis zu einer erneuten Wahl einen Interims-Vorsteher zu

52 Vgl. Parey 1875, S. 10. 53 Instruction der Gemeindevorsteher vom 24.9.1808, § 1, S. 90. Ganz ähnlich, wenn auch deutlich knapper, die Formulierung im Allgemeinen Landrecht: „Wer zum Schulzenamte bestellt werden soll, muß des Lesens und Schreibens nothdürftig kundig, und von untadelhaften Sitten seyn.“ Allgemeines Landrecht von 1794, 2. Abteilung, 7. Titel, 2. Abschnitt, § 51. 54 Im Falle des (bereits interimistischen!) Schulzen von Töpchin urteilte die Bezirksregierung in Potsdam, dass auch ein einmaliger Holzdiebstahl, der noch dazu zeitlich vor der Übernahme des Schulzenamtes lag, nicht zu akzeptieren sei und der Dorfschulze daher aus dem Amt genommen werden müsse. Er habe sich „des Vertrauens und der Achtung, die sein Beruf erfordert, unwürdig gezeigt“. Marginalverfügung der Bezirksregierung in Potsdam, zurück an das Rentamt Zossen, 25.9.1852; BLHA, Rep. 2a I Kom 2329, fol. 172 f., Zitat fol. 172 u. RS. Laut Kesper-Biermann wurde in Preußen in der ersten Hälfte der 1860er Jahre jeder vierzigste bis fünfzigste Einwohner wegen Holzdiebstahls verurteilt. Kesper-Biermann 2009, S. 39.

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bestimmen.55 Die Gemeinden waren also in der Regel gut beraten, einen Kandidaten zu wählen, der Chancen auf Bestätigung durch die konservative Bürokratie hatte, sofern sie nicht gewillt waren, von einem durch den Landrat (von außen) eingesetzten Amtsinhaber verwaltet zu werden. Im Landkreis Teltow war das der Auslöser für einen Machtkampf zwischen der Berliner Vorortgemeinde Tempelhof und dem Landrat, der nicht zuletzt davon zeugt, welch große Bedeutung dem Recht auf Wahl des eigenen Vorstehers von Seiten der Gemeinde zugeschrieben wurde. Während der Landrat die Gemeindeverwaltung der stark wachsenden Vorortgemeinde professionalisieren wollte, stellte sich die Gemeinde quer. Es brauchte insgesamt sechs Wahlgänge in den Jahren 1886 und 1887, bis die Tempelhofer einen Mann wählten, der die Bestätigung des Landrats bekam. Nachdem sie lange Zeit darauf beharrt hatten, einen Bauern zu wählen, den aber der Landrat für nicht ausreichend qualifiziert hielt, wurde es nun Heinrich Eduard Greve, der zwar Arzt (und damit zumindest Akademiker) war, seine politische Erfahrung aber als linksliberaler Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag gesammelt hatte.56 Fraglich ist, ob es sich hierbei tatsächlich um den Wunschkandidaten der bäuerlichen Bevölkerung handelte oder ob inzwischen so viele nicht-bäuerliche Einwohner Tempelhofs das Stimmrecht hatten, dass sie einen Liberalen zum Vorsteher machen konnten. In Bayern waren die Möglichkeiten der Behörden, gewählte Vorsteher nicht zu bestätigen, seit der Gemeindeordnung von 1869 hingegen recht stark eingeschränkt.57 Aus den Akten des Münchner Staatsarchivs geht hervor, dass die Bestätigung eigentlich nur Sozialdemokraten versagt wurde. Diese Fälle kamen im späten 19. Jahrhundert in Oberbayern allerdings nicht allzu häufig vor, und auch dann sollte keineswegs automatisch die Bestätigung versagt werden. Es hieß vielmehr, dass die Bestätigung nur dann erteilt werden [solle], wenn die Bestätigungsbehörde aus ihrer Kenntnis der Persönlichkeit des Gewählten im Zusammenhalte mit den besonderen Verhältnissen seines Wirkungskreises die Überzeugung zu gewinnen vermöchte, daß der Gewählte im Stande und auch gewillt ist, in jeder Lage die Pflichten des Amtes über die Anforderungen zu stellen, die aus dem Verhältnisse zu seiner Partei sich ergeben.58

55 Vgl. Kreisordnung 1872, § 26; Landgemeindeordnung, § 84. 56 Die Angelegenheit in Tempelhof ist auch deshalb interessant, weil sich einige, auch überregionale Zeitungen dafür interessierten. Die Wahl des Gemeindevorstehers der Gemeinde Tempelhof wurde Anlass, um über die Rolle der Selbstverwaltung der Gemeinden für die Demokratisierung der Gesellschaft auf der einen, über die notwendige Professionalisierung der Lokalverwaltung auf der anderen Seite zu diskutieren. Vgl. BLHA, Rep. 2a I Kom 2334, fol. 39 ff. 57 Bayer. Gemeindeordnung 1869, § 126. 58 Entschließung des k. Ministerium d. Innern an die Königliche Regierung der Pfalz, Kammer des Innern: Gemeindewahl in Lambrecht [Abschrift], 15.7.1909; StAM, LRA 627. In Preußen hingegen

Zwischen Gemeinde und Staat

Waren die Wahl und die Prüfung des Kandidaten durch Bezirksamt oder Landrat erledigt, stand der letzte Schritt auf dem Weg ins Gemeindevorsteheramt an. Die Amtseinsetzung und Vereidigung wurden in Preußen in der Regel vom Landrat selbst vor der versammelten Gemeinde vollzogen. Auch wenn theoretisch die Gemeinde anwesend war und die Amtseinsetzung beglaubigte – welche Rolle dieser öffentliche Ritus wirklich spielte, wissen wir nicht, denn abermals fehlen die Quellen dafür –, handelte es sich doch hierbei faktisch um die Einordnung des Vorstehers in die staatliche Hierarchie, nicht um die Erhebung ins dörfliche Ehrenamt. Denn der Eid, den der neue Vorsteher zu sprechen hatte, war der Amtseid, der auch für andere staatliche Ämter galt; auf die Loyalität zur Gemeinde wurde der Vorsteher nicht eingeschworen: Ich N. N. schwöre […], daß Seiner Königlichen Majestät von Preußen, meinem allergnädigsten Herrn, ich unterthänig, treu und gehorsam sein und alle mir vermöge meines Amtes obliegenden Pflichten nach meinem besten Wissen und Gewissen genau erfüllen, auch die Verfassung gewissenhaft beobachten will, so wahr mir Gott helfe.59

Auch wenn die Gemeindevorsteher in Bayern, Preußen und dem Elsass recht unterschiedliche Hürden nehmen mussten, bis sie schließlich im Amt waren, werden doch unter dieser Oberfläche sehr große Ähnlichkeiten sichtbar: Die Vorsteher mussten sowohl von den lokalen Gemeindebürgern als auch von der regionalen Bürokratie akzeptiert oder gar gewünscht werden. Eine Vielzahl von Kriterien sollten diese Wahl stützen, vom Gemeindebürgerrecht über berufliche Ausschlussgründe bis hin zur politischen Zuverlässigkeit: Gemeindevorsteher durfte nicht jeder werden. In diesem Geflecht aus Abhängigkeiten und Spielregeln wirkt der einzelne Bürgermeister machtlos und wie ein Spielball zwischen Gemeinde und Bürokratie. Das ist jedoch ein Effekt der hier verwendeten Quellen, in denen die Bürgermeister selbst kaum zu Wort kamen. Im weiteren Zuge der Arbeit wird sich zeigen, dass die Vorsteher nicht in eine Machthierarchie zwischen Bürokratie und Dorf eingeordnet waren, sondern selbst eine Position innerhalb eines Machtdreiecks innehatten. Durch die gesetzlichen Veränderungen, etwa die Einführung der Wählbarkeit oder die Grenzen des bürokratischen Einspruchsrechts, verschoben sich die Kräfteverhältnisse innerhalb dieses Dreiecks. Die unterschiedlichen Machtressourcen, auf die der Vorsteher zurückgreifen konnte, etwa die Zustimmung der Gemeindemitglieder oder den Schutz durch den Landrat, machten ihn war auch nur die lose Verbindung zur sozialdemokratischen Partei ein absolutes K.o.-Kriterium für einen Gemeindevorsteher. Vgl. Urteil gegen den Gemeindevorsteher Franz August Schulze zu Nahmitz, des königlichen Verwaltungsgerichts, Disziplinar-Senat, Sitzung vom 11.4.1899 (Abschrift); BLHA, Rep. 2a I Kom 79, fol. 7. 59 Brandt 1888, S. 44.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

zu mehr als nur einem Spielball zwischen Staat und Gemeinde.60 Solange aber Gemeinde und Staat als unterschiedliche, oft polare Akteure in diesem Spiel galten, solange verschiedene, oft widersprüchliche Praktiken die Gemeindevorsteher an Dorf oder Staat banden, solange agierte der Vorsteher zwischen diesen beiden Welten. Die Analyse der Vorsteherposition zeigt deutlich, dass die gemeindliche Gouvernementalisierung nicht dazu führte, dass die Gemeinden einfach in den Staat integriert wurden. Die Unterschiede zwischen Staat und Dorf wurden sogar besonders sichtbar. Und in diesem sich ständig verschiebenden Kräftefeld war der Gemeindevorsteher positioniert.

4.2

Einübung in der Praxis

Das Agieren in diesem Kräftefeld war herausfordernd. Ebenso herausfordernd waren die praktischen Tätigkeiten, die ein Gemeindevorsteher ausführen musste. Vor allem Schreibarbeiten der verschiedensten Art machten das Amt für viele zu einer Bürde. Als in Galizien, damals Teil des Habsburgerreichs, die kommunale Selbstverwaltung eingeführt wurde, waren immerhin rund 80 Prozent der ländlichen Bewohner des Lesens und Schreibens nicht mächtig, und trotzdem mussten sie die alltäglichen Anforderungen bewältigen.61 In den von mir untersuchten Regionen waren Lese- und Schreibfähigkeiten zwar weiter verbreitet, aber keineswegs durchgängig vorhanden.62 Im Elsass kam eine weitere Schwierigkeit hinzu: Sprach und schrieb der maire denn auch Französisch, um mit der Verwaltung kommunizieren zu können? Offenbar war das nicht immer der Fall; so beschwerte sich ein Teil der Gemeindebürger über den 1852 eingesetzten maire François Joseph Scharsch: Dieser könne weder lesen noch schreiben und auch kein Französisch sprechen. Entsprechend sei er darauf angewiesen, alle bürokratischen Arbeiten von jemand anderem erledigen zu lassen – aber könne er sich denn dann sicher sein, dass die Arbeiten fach- und sachkundig ausgeführt wurden?63 Auch in offiziellen

60 Vgl. Wagner 2005, S. 574. Forschungen zum Reformabsolutismus haben gezeigt, dass im Zuge der Machtkonzentration die Gemeindevorsteher eher profitierten, als intermediäre Machtinstanzen ausgeschaltet wurden. Vgl. Mahlerwein 2001, S. 428; Zimmermann 1996, S. 35 u. 42. 61 Vgl. Judson 2017, S. 436. 62 Vgl. Wagner 2005, S. 86–90 zum Volksschulbesuch und den Lücken der Schulpflicht. Wehler ist optimistischer, was die Analphabetenrate in Preußen angeht: Laut der preußischen Volkszählung von 1871 waren in ganz Preußen 13,7 Prozent der Bevölkerung des Lesens und Schreibens nicht mächtig; in Brandenburg waren es nur 6,8 Prozent. Doch weist er auf eine gravierende Stadt-Land-Differenz hin, sodass diese Zahlen nicht für die Landgemeinden Brandenburgs gelten dürften; Wehler 1995, S. 400. 63 Protestbrief Wolxheimer Einwohner an die Präfektur in Strasbourg, 16.8.1852; ADBR, 1 M 258.

Einübung in der Praxis

Ernennungsunterlagen wird Scharsch eher als ungebildet dargestellt: Seine Intelligenz sei entwickelt, aber seine Ausbildung doch eher „peu cultivée“.64 Zehn Jahre später bekam der neue maire, Louis Scharsch, ein besseres Zeugnis ausgestellt: „une instruction très solide, parle et écrit parfaitement le français“.65 Auch in Preußen mussten die Behörden häufig Kompromisse machen. Denn oft war es kaum möglich, einen Kandidaten für den Schulzenposten zu finden, der die notwendigen Fähigkeiten mitbrachte. Das betraf auch den Mahlower Lehnschulzen: Im Jahr 1866 entdeckte der Landrat, dass Johann Ludwig Steeger sich selbst bei der Zahlung der direkten Staatssteuern zu niedrig veranlagt hatte. Diese Steuerhinterziehung sei aber, so der Landrat, wahrscheinlich dem geringen Bildungsstand des Schulzen geschuldet; vermutlich habe er den Fehler nicht absichtlich begangen. Da Steeger sich weigerte, von sich aus zurückzutreten, ließ der Landrat es dabei bewenden, ihn ausdrücklich zu rügen. Er musste aber eine Strafe für die Steuerhinterziehung zahlen (immerhin 24 Taler), und allein das, so der Landrat, werde dazu führen, dass Steeger in Zukunft mehr Sorgfalt bei seiner Tätigkeit walten lasse.66 Die permanenten Klagen vor allem der preußischen Verwaltung über die Inkompetenz der Gemeindevorsteher hatte vielleicht nicht nur etwas damit zu tun, dass die Schulzen für ihre Tätigkeiten zu wenig Fähigkeiten mitbrachten. Möglicherweise, so vermutet Patrick Wagner, stärkten die Landräte so ihre eigene Position gegenüber den ihnen vorgesetzten Stellen.67 Sie verteidigten die Gemeindevorsteher zum Teil in Konflikten damit, dass sie nun einmal keine professionellen Beamten, sondern „im Schreibwerk unerfahren[e] Bauer[n]“ und entsprechend auf die Unterstützung durch sie, die professionellen Bürokraten, angewiesen seien.68 Anweisungen lesen und verstehen, Briefe schreiben und sonstige Schriftstücke aufsetzen, administrative Akten führen – das waren die praktischen Tätigkeiten, mit denen die Gemeindevorsteher jeden Tag konfrontiert waren. Das galt für alle Regionen und alle Gemeinden. Wie aber sollten die bäuerlichen Laien diese vielfältigen Aufgaben erledigen können, wenn sie dafür nicht ausgebildet waren? Aus der Perspektive der Bürokratie dürften es die schriftlichen Instruktionen und mündlichen Unterweisungen gewesen sein, die die Vorsteher mehr schlecht als recht (aber immerhin) in die Lage versetzten, die Aufgaben auszuführen, die die Verwaltung ihnen aufgab. Blicke ich aber auf die Vorsteher selbst und das, was

64 Renseignements confidentiels sur M. Scharsch, Maire à Wolxheim [1855]; ADBR, 1 M 295. 65 Charles Prost (?) an die Präfektur in Strasbourg [1865]; ADBR, 1 M 315. 66 Schreiben des Landrats des Kreises Teltow an die kgl. Regierung in Potsdam, 17.6.1866; BLHA, Rep. 2a I Kom 2332, fol. 9 u. RS. 67 Wagner 2005, S. 123. 68 Bericht des Landrats des Kreises Teltow an die Königliche Regierung, Abteilung I, zu Potsdam, betrifft die Erhöhung der Remuneration für die Verwaltung des Schulzen-Amtes zu Rudow [1861]; BLHA Rep. 2a I Kom 2331, fol. 11–13, hier: fol. 11 RS–12.

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sie tagtäglich erledigten, so erscheinen neben den Instruktionen die praktischen Tätigkeiten selbst als vielleicht wichtigere Gelegenheiten, um zu lernen, wie Verwaltung funktionierte, wie Staatlichkeit funktionierte. Beide Einübungsformen, die Instruktionen und das Erlernen durch die ständige Praxis, griffen ineinander und widersprachen sich im Alltag oft. Die Lernprozesse waren nie vollständig; die Gemeindevorsteher blieben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein aus Sicht der Bürokratie defizitär. Das kennzeichnete ihre Stellung gegenüber der Bürokratie, mit der die Vorsteher interagieren mussten. Die Gemeinde als Ort von Selbst- und damit der Laienverwaltung, die strikt von der professionellen (oder sich gerade professionalisierenden) Bürokratie geschieden war, musste eine defizitäre Amtsausübung hervorbringen. Das war der gouvernementalisierten Gemeinde eingeschrieben. 4.2.1

Petrus Wörles Amtsjournal

Für Bernried verfügen wir über ein Amtsjournal, das Bürgermeister Petrus Wörle in den 1870er Jahren mehr oder weniger sorgfältig führte. Dieses gibt über die Spannbreite und Anzahl seiner Tätigkeiten Aufschluss. Allerdings deckt ein solches Amtsjournal nur einen Ausschnitt seiner Tätigkeit ab, denn hier dokumentierte Wörle seine schriftlichen Arbeiten, die er auf Anfragen, Anordnungen oder Anweisungen hin zu erledigen hatte. Vornehmlich tauchen hier also diejenigen Arbeiten auf, die über die Grenzen des Dorfes hinauswiesen, vor allem die, die er im Auftrag der vorgesetzten Behörden erledigte. Außerdem gehe ich davon aus, dass dieses Buch nicht vollständig ist, denn es wurde nicht ganz einwandfrei geführt, einige Dinge wurden beispielsweise vor- oder zurückdatiert.69 Es handelt sich dabei um einen tabellarischen Vordruck, der handschriftlich ausgefüllt werden sollte. Eingetragen wurden das „Datum des Einlaufs“ eines Schreibens, sein Betreff und ggf. eine Bemerkung, etwa zu Anlagen; anschließend wurden „Beschaffenheit und Datum der Verfügung“ notiert – Petrus Wörle trug hier ein, was genau er erledigt hatte. Anschließend wurde noch das Datum des Ausgangs oder der Erledigung notiert. Ein Feld für sonstige Bemerkungen schloss sich an, wurde aber von Wörle nur selten benutzt. Vom Jahresbeginn 1872 bis Dezember 1876 dokumentierte der Bürgermeister auf diese Weise Hunderte von administrativen Vorgängen. Dieses Journal gewährt uns also Einblicke in die Amts- und Schreibpraxis eines Bürgermeisters, über den wir sonst sehr wenig wissen.70 Abgesehen vom Jahr 1874, das mit nur 73 Einträgen zu Buche schlug, finden sich in

69 Geschäftsjournal des Bernrieder Bürgermeisters, 1872–1876; GAB, B1/1. 70 Petrus Wörle, Bürgermeister in Bernried zwischen 1869 und 1875. Über seinen Beruf etc. wissen wir praktisch nichts. Es tauchen lediglich seine Unterschriften in den Protokollbüchern auf; im Bildband „Bernrieder Bilderbogen“ wird sein Vorname mit Petrus angegeben, aber auch hier gibt es keine Informationen über seinen Beruf. Scherbaum 2017, S. 9.

Einübung in der Praxis

den restlichen Jahren gleichmäßig viele Einträge: 104, 108, 112 und 127 Vorgänge hatte Petrus Wörle notiert. Über die Monate war der Arbeitsanfall sehr ungleich verteilt; im Jahr 1872 zum Beispiel nahm er im Oktober 18 und im Februar neun Eintragungen, im Dezember nur vier und im Juli und August jeweils fünf. Für den exemplarisch ausgewählten März 1872 habe ich nicht nur das Amtsjournal, sondern auch die sonstigen Unterlagen (vor allem Protokolle) ausgewertet. Wörle leitete eine Gemeindeausschusssitzung, bei der beschlossen wurde, einen Zimmermann nicht nur als Gemeindebürger aufzunehmen, nachdem er die Gebühr von zwölf Gulden bezahlt hatte, sondern ihm auch die Verehelichung zu gestatten. Es dürfte sich um eine kurze Gemeindeausschusssitzung gehandelt haben.71 Einige weitere Aufgaben erledigte Wörle im Auftrag des Gemeindeausschusses oder aus eigenem Antrieb. Einmal ging es darum, dass die Gemeinde mit dem Jagdpächter und Besitzer des ehemaligen Klosterguts Probleme hatte und dieser Konflikt an das Bezirksamt überwiesen werden musste. Auch der Ausbau der dörflichen „Infrastruktur“ beschäftigte ihn, denn die Debatten um den Neubau des Schul-, Feuerwehr- und Gemeindehauses begannen ebenfalls 1872, zogen sich aber noch eine ganze Weile hin (s. o., Kap. 3.4). Zusätzlich war ein ganzer Schwung von Schreibarbeiten zu erledigen, im Amtsbuch sind für März 1872 zwölf Einträge vermerkt. So musste Wörle das Bezirksamt oder andere Behörden über Vorgänge in der Gemeinde informieren, etwa über den Verbleib eines Mädchens aus dem Gemeindeteil Karra sowie über die Anwesenheit eines Landwehrsoldaten, über den Gewinn des Gutes Höhenried, den Tod eines Gemeindemitglieds, die ortsübliche Bauweise einer Schiffshütte, die Namen der Geschworenen sowie des Beauftragten für die Hebung der Rinderzucht. Ebenso musste er die Gemeinde über verschiedene Dinge in Kenntnis setzen, so über neue Regelungen bezüglich der gewerblichen Fortbildungsschule und über die Heirat von Gemeindemitgliedern. Schlussendlich übernahm er auch Kommunikationsaufgaben für Gemeindemitglieder, wenn er etwa die nötigen Unterlagen für die Eheschließung an andere Gemeindeverwaltungen sandte oder einen Geldtransfer von der Gutsverwaltung an einen in Not geratenen Brauer übernahm.72 Immerhin wurde das gemeindliche Vermittlungsamt im gesamten Quartal nicht gebraucht, sodass Wörle nicht auch noch Streitigkeiten zwischen den Dorfbewohnern schlichten musste; zumindest fertigte er kein Protokoll darüber an.73 Die zusammengetragenen Tätigkeiten zeigen den Bürgermeister vor allem als örtliche Servicestelle, sowohl für die Einwohner:innen der Gemeinde als auch für andere Gemeinden, in erster Linie aber für staatliche Stellen, denen er verschiedene 71 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 6.3.1872; GAB, B2/2. 72 Eigene Auswertung des Monats März 1872 im Geschäftsjournal des Bernrieder Bürgermeisters; GAB, B1/1. 73 Protokollbuch des Vermittlungsamtes der Gemeinde Bärnried 1855–1882; GAB, B9/1.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

Auskünfte geben musste. Diese Auskünfte über Gemeindemitglieder machten den überwiegenden Teil der Schreibarbeiten aus, insofern kann der Gemeindevorsteher eindeutig als ein kommunikatives Bindeglied zwischen der lokalen Bevölkerung und anderen Behörden verstanden werden. Nicht einmal die Militärentlassungsscheine wurden den jeweiligen Personen selbst zugeschickt; sie wurden über den lokalen Gemeindevorsteher zugestellt. Dieser diente als Vermittler zu den Einwohner:innen des Dorfes und musste zudem die erfolgten Vermittlungen schriftlich bestätigen – nicht nur im Amtsjournal, sondern auch gegenüber den Auftrag gebenden Behörden. Viele Eintragungen im Amtsjournal bezeugen auch lediglich, dass Wörle gegenüber den Behörden „Fehlanzeige“ erstattet habe. Das klingt nach wenig Arbeit, die schnell abzuhaken war. Aber faktisch musste Wörle einen Brief aufsetzen, der den formalen Anforderungen genügte, diesen Brief versenden und den Vorgang im Amtsjournal dokumentieren. Dass der Brieftext in der Regel dann wirklich nur das Wort „Fehlanzeige“ umfasste, erleichterte zwar das Schreiben des Briefs, doch reduzierte das den restlichen Aufwand um den Brief herum nicht. Insgesamt erforderten die schriftlichen Arbeiten des Gemeindevorstehers zwar möglicherweise keine tiefergehenden Kenntnisse in Verwaltungsabläufen oder gar in rechtlichen Zusammenhängen, aber sie machten doch eine ständige Sorgfalt und das Agieren im Medium der Schriftlichkeit notwendig. In den wenigen Jahren, für die das Amtsjournal überliefert ist, können immerhin 525 administrative Vorgänge festgestellt werden – durchschnittlich zwei pro Woche. So gewann der Bürgermeister eine gewisse Praxis im administrativen Handwerk. 4.2.2

Informationserhebung

Das Amtsjournal von Petrus Wörle gibt uns Auskunft über die tatsächlich dokumentierten Dienstaufgaben des Bernrieder Bürgermeisters. Für andere Gemeinden oder Zeiträume fehlen uns solche Quellen. Doch es existieren weitere Dokumente, die uns Aufschluss darüber geben können, was die Bürgermeister erledigen mussten. Manche Handbücher oder Periodika, die sich an ländliche Gemeindevorsteher wandten, gaben den Dorfbürgermeistern sogenannte Dienstkalender an die Hand. Hier konnten die Vorsteher nachsehen, welche Aufgaben sie wann zu erledigen hatten.74 Sie sind eine interessante Quelle, um die Ansprüche an den Gemeindevorsteher genauer zu analysieren. Im Gegensatz zum Amtsjournal wurden hier nur die regelmäßigen Aufgaben verzeichnet; Einzelfälle und besondere Vorkommnisse fanden keinen Niederschlag.

74 Beispielsweise: Tableau des travaux des maires 1856; Eichner 1895, S. 267–280; Geschäftskalender in Vigelius 1916, o.S.

Einübung in der Praxis

Im „Bayerischen Landbürgermeister“ von 1895 sind immerhin 163 Positionen aufgeführt, die der Gemeindevorsteher im Laufe des Jahres zu erledigen hatte: von der Nachbestellung der Amtsblätter über die Pflege der Wählerlisten und Stammrollen bis hin zu Berichten über den Sittlichkeitszustand in der Gemeinde, die es abzufassen galt. Bei den hier aufgeführten Aufgaben handelte es sich ausschließlich um solche, die den Bürgermeister ins Verhältnis zu anderen Behörden setzten.75 Von diesen 163 Aufgaben, die der Kalender aufführte, gehörte der absolut überwiegende Teil, nämlich 111, in den Bereich der Informationserhebung. Viele davon waren regelmäßig zu erledigen: So mussten etwa am 3. Januar, am 1. April, am 2. Juli und am 2. Oktober eines jeden Jahres eine Aufstellung an das Rentamt mit den Ab- und Zugängen der Einkommens- und Kapitalrentensteuer geschickt werden. Am 26. Mai war das Anbauverzeichnis für die Hagelversicherungsanstalt fällig, und am 26. Juli sollten die Verzeichnisse mit Zu- und Abgängen in Sachen Exporthandel mit Gartenbauerzeugnissen fertiggestellt werden – dies diente der Bekämpfung der Reblauskrankheit. So ließe sich diese Aufzählung ewig fortsetzen. In Form von Tabellen, Zählkarten, Berichten und Listen mussten die unterschiedlichsten Stellen über Vorkommnisse im Dorf informiert werden. Die Gemeindevorsteher erhoben also das im 19. Jahrhundert so wichtige staatliche Wissen – nicht alleine, aber doch in erheblichem Ausmaß.76 Bourdieu nennt dies das „informationelle Kapital“ des Staates, das im 19. Jahrhundert zusammengezogen wurde: „Der Staat konzentriert die Information, verarbeitet sie und verteilt sie wieder.“77 Patrick Wagner hat herausgestellt, wie stark der preußische Staat zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Wissenstransfer vom lokalen in den staatlichen Raum angewiesen war. Viele ostelbische Gebiete waren für die Bürokratie faktisch eine terra incognita – so war beispielsweise über die lokalen Ordnungen, Stimmrechtsverteilungen oder Besitzrechte außerhalb der Dörfer selbst kaum etwas bekannt. Da die Verwaltung zunehmend auf diese lokalen Wissensbestände zugreifen musste, um den ländlichen Raum zu durchdringen und zu regieren, war die Akkumulation des „informationellen Kapitals“ eine existenzielle Frage für die Bürokratie.78 Ein zusätzlicher Aspekt ist bei den Überlegungen zum informationellen Kapitel von Bedeutung. Denn Bourdieus Staat standardisierte gleichzeitig das zu erhebende Wissen – und damit auch die Erhebung durch die lokalen Akteure wie die Gemeindevorsteher:

75 76 77 78

Eichner 1895, S. 267–281. Vgl. Wagner 2005, S. 35; Collin, Horstmann 2004; Rosanvallon 2000, S. 29–35; Felten, Oertzen 2017. Bourdieu 1998, S. 106. Wagner 2005, S. 23.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

Da er [der Staat, AS] sich auf den Standpunkt des Ganzen stellt, der Gesellschaft als Ganzer, ist er für alle Vorgänge verantwortlich, die eine Summierung beinhalten, vor allem durch Volkszählung und Statistik oder volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, eine Objektivierung, etwa durch die Kartographie als einheitliche, übersichtliche Darstellung des Raums oder ganz einfach durch die Schrift als Instrument der Wissensakkumulation (Beispiel: Archive), und eine Kodifizierung, also eine kognitive Vereinheitlichung, die eine Zentralisierung und Monopolbildung zugunsten der Kanzlisten oder der Gebildeten impliziert.79

Dazu, so weiter Bourdieu, trug nicht zuletzt die Vereinheitlichung kommunikativer Medien bei – Recht, Maße und Gewichte, auch Sprache, aber eben auch Formulare und Vordrucke. Damit, immer noch Bourdieu, habe der Staat die „mentalen Strukturen“ geformt, „gemeinsame Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien durch[gesetzt].“80 Und so war es auch bei den (meisten) Vorstehern der kleinen ländlichen Gemeinden, zumindest bei denjenigen, die nicht zur Gruppe der Notabeln gehörten wie der Wolxheimer Interimsbürgermeister Charles Prost, sondern zur Gruppe der Bauern, Fischer oder Handwerker. Sie mussten sich einüben in die Formen der staatlichen Wissenserzeugung, sie mussten die staatlichen Kriterien verinnerlichen, und sie mussten den äußeren Formen folgen, die die Bürokratie vorgab. Wissenserhebung fand in der Regel als Tabelle, schriftlicher Bericht oder sauber geführte Liste statt. Aber auch die innere Form, die Qualität der Information und die Unterscheidungen, die durch die Erhebung getroffen wurden, mussten den staatlichen (objektivierten) Kriterien entsprechen, quantifizierbar sein oder auf klare Merkmalsunterscheidungen abheben. Neben der reinen Informationserhebung listete der Dienstkalender des „Bayerischen Bürgermeisters“ noch andere Tätigkeiten auf, die ganz ähnlich interpretiert werden können. So mussten die Gemeindevorsteher zum Beispiel Kontrollen und Überprüfungen im Dorf durchführen, etwa die monatlichen Viktualienvisitationen oder die Kontrollen von Maßen und Gewichten bei den Händlern im Dorf. Auch offizielle Bekanntmachungen gehörten zu ihren regelmäßigen Pflichten, wie die Aufforderung der Militärpflichtigen und ihrer Angehörigen zur Eintragung in die Militärstammrolle (10. Januar) oder die Bekanntgabe des Termins zur Einschließung der Feldtauben (6. März). Auch diese Termine und Aufgaben trugen dazu bei, zuallererst den Vorsteher selbst in die staatliche Ordnung mit festen Terminen, Fristen und Kriterien einzuüben. Die Gemeindevorsteher mussten sich ständig mit diesen Aufgaben befassen, das habe ich gezeigt. Dadurch eigneten sie sich nicht nur die Gepflogenheiten der

79 Bourdieu 1998, S. 106. 80 Ebd.

Einübung in der Praxis

schriftlichen Kommunikation an, sondern auch die Denkart und Wissensorganisation des bürokratischen Staates, möglicherweise ohne es selbst zu merken. Sie lernten, welche Faktoren aus staatlicher Perspektive für die Regierung des Dorfes relevant waren, während andere Formen lokalen Wissens, die nicht in den Tabellen Platz fanden (z. B. über familiäre Netzwerke oder alte Rechte), irrelevant wurden. Das gelang nicht immer, vor allem nicht auf Anhieb. Denn die Vorsteher mussten diese Art der Informationserhebung, die nicht den dörflichen, sondern den bürokratischen Anforderungen zu entsprechen hatte, erst einüben. 4.2.3

Instruktionen

Diese Lernprozesse brauchten Zeit, auch deshalb, weil die Normen, wie sie etwa von den Dienstkalendern gesetzt wurden, lokal keineswegs immer ganz buchstabengetreu umgesetzt wurden. Die Amtsinhaber mussten erst einmal darüber aufgeklärt werden, was genau ihre Pflichten waren und wie sie diesen nachkommen konnten. Dafür waren zwei Dinge notwendig: eine nicht zu kurze Amtszeit und Hilfe von außen. Gerade weil die Einarbeitung der Gemeindevorsteher vor allem über learning by doing funktionierte, wurde in den Reformprozessen darauf Wert gelegt, die Amtszeit des Gemeindevorstehers nicht zu kurz zu bemessen. Um 1850 war in Bayern eine neue Gemeindeordnung in Planung, die nur noch eine dreijährige Amtszeit der Bürgermeister vorsah. Dies sei jedoch viel zu kurz, denn so lange bräuchten die Betreffenden schon, „um sich für den Dienst einzuschulen“, wie der Landrichter aus Bruck in seiner Stellungnahme an die Regierung von Oberbayern schrieb.81 Und auch die Reformen in Preußen zielten darauf ab, die Fluktuationen im Amt so gering wie möglich zu halten. Vor 1872 hatten in manchen Orten die Vorsteher ständig gewechselt, in einigen Gemeinden rotierte das Amt sogar jährlich unter den Berechtigten (oder Verpflichteten). Solche Praktiken waren für die professionalisierte Bürokratie unhaltbar.82 Neben dem learning by doing waren verschiedene Hilfsmittel wichtig, in denen die Gemeindevorsteher nachlesen sollten, wie sie ihre Geschäfte zu führen hatten. Einige habe ich schon angesprochen; die Dienstkalender gehörten beispielsweise auch dazu. Die Grundlage aber waren die Instruktionen im engeren Sinne, die als Ausführungsbestimmungen zu den jeweiligen Gemeindegesetzen von den Ministerien erarbeitet wurden und keinen Empfehlungs-, sondern Anordnungscharakter hatten. Sie wurden entweder als separate Drucksachen an die Gemeinden ausgegeben

81 Bericht des Bezirksamts Bruck an die Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern: die Revision des Gemeinde-Edikts, 17.9.1850; StAM, RA 64981. 82 Wagner 2005, S. 137 f.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

(häufig gegen Druckkostenerstattung), oder die Gemeinden wurden angehalten, Verordnungssammlungen wie den bayerischen „Döllinger“83 anzuschaffen. Zudem mussten die Gemeinden die regulären Amtsblätter abonnieren und Gesetzessammlungen vorhalten.84 Hierfür war der Gemeindevorsteher verantwortlich. In Mahlow war der Jahrgang 1901 für alle notwendigen Amtsblätter – genannt werden das Kreis-, das Amts-, das Gesetz- und das Reichsgesetzblatt – „abhanden“ gekommen. Als das zwei Jahre später auffiel, beschloss die Gemeindevertretung, dass der Gemeindevorsteher auf eigene Kosten die Unterlagen neu beschaffen müsse.85 Die Pflege dieser Dokumentensammlung, die regelmäßige Durchsicht der eingehenden Amtsblätter, das Verkünden der Verordnungen sowie die Anpassung der eigenen administrativen Praxis an die sich ständig ändernden Verwaltungsvorschriften waren hohe Anforderungen, die an die Gemeindevorsteher gestellt wurden. Viele dürften bereits von der schieren Menge der Verordnungen und der ungewohnten rechtlich-administrativen Sprache überfordert gewesen sein. Der „Döllinger“ beispielsweise war eine seit den 1830er Jahren vom Geheimen Hausarchivar in München, Georg Ferdinand Döllinger, erarbeitete Dokumentensammlung. Zwischen 1835 und 1839 wurden zwanzig Bände publiziert, die wiederum in unzählige Teilbände unterteilt waren; ab 1853 erschien eine erweiterte Sammlung in dieser Tradition, die die Jahre 1835 bis 1852 abdeckte. Der Band, der das Gemeinde- und Stiftungswesen betraf (und das war nicht der einzige, der für die Gemeindevorsteher wichtig war), umfasste in der ersten Fassung alleine 1174 Seiten; der Ergänzungsband aus dem Jahr 1853 fügte weitere 339 Seiten hinzu. Dabei handelte es sich lediglich um die unkommentierten Gesetze und Verordnungen, die in der Regel ungekürzt, aber immerhin thematisch geordnet waren. Der einzelne Gemeindevorsteher musste schon sehr genau wissen, wonach er suchte, um hier fündig zu werden. Auf diese Fülle von gesetzlichen Grundlagen reagierten für Gemeindevorsteher ländlicher Gemeinden abgefasste Instruktionsbücher, die nicht nur in Bayern und Preußen im 19. Jahrhundert immer häufiger publiziert wurden.86 Sie formulierten alle ein ähnliches Defizit. Die Vorsteher ländlicher Gemeinden, meist Bauern, verfügten nicht über das notwendige Wissen und die Erfahrung, um die vielfältigen Anforderungen an die Führung einer lokalen Behörde zu erfüllen. Daher

83 Döllinger 1835–1839. 84 Schema nach welchem die Gemeindevisitationen im Bezirksamts-Sprengel Friedberg pro 1874 vorgenommen worden sind (Abschrift), 11 Blatt [sic!], ca. 1875; StAM, RA 65034. 85 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 13.9.1903; KrA-TF, XII.294. 86 In Frankreich gab es bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele dieser Instruktionen, wie beispielsweise das offizielle Periodikum „Répertoire administratif des maires et des conseillers municipaux“ (Grenoble 1834 ff.). Immerhin 400 Seiten umfasst das kleinformatige Büchlein Cère 1852.

Einübung in der Praxis

müssten sie für diese Aufgaben fit gemacht werden. Häufig wurden diese Bücher von bürokratischen Praktikern geschrieben, die damit vornehmlich den Beamten in den Behörden das Leben erleichtern wollten. Der Bezirksamtmann Wilhelm Stadelmann, der ein bekanntes Instruktionsbuch geschrieben hatte und dieses auch regelmäßig überarbeitete, erläuterte seine Motivation folgendermaßen: Durch dasselbe [das Buch] hofft der Verfasser sich auch den Distrikts-Verwaltungsbehörden nützlich zu machen, welche keinen geringen Theil ihrer Geschäftslast dem Umstande zuzuschreiben haben, daß die Gemeindebehörden aus Unkenntniß der einschlägigen Bestimmungen häufig Zwischen-Verfügungen veranlassen, welche erspart werden können, wenn die Letzteren in den Stand gesetzt sind, sich mit dem ihnen außerdem schwer zugänglichen Material vertraut zu machen und für die Behandlung ihrer Berufsgeschäfte eine passende Form zu finden.87

Das „Bürgermeisterbüchlein“ von Fr. X. Wagner dagegen richtete sich einerseits an „Landbürgermeister und solche, die es werden wollen“, andererseits an „deren Wähler“; Wagner gab zum Beispiel Ratschläge, woran ein geeigneter Kandidat zu erkennen sei. Dieses Buch legte allerdings besondere Schwerpunkte, denn Wagner war kein Bürokrat, sondern Geistlicher – er bezog sich vor allem auf moralische Herausforderungen des Verwaltens und Verwaltet-Werdens.88 Zum Teil warben die Verlage über die Aufsichtsbehörden für ihre Bücher, sandten Leseproben oder Anzeigen ein, um von den Landräten oder Bezirksamtsvorstehern an die lokalen Behörden weiterempfohlen zu werden. Einigen gelang das auch; der oben zitierte „Stadelmann“ etwa wurde seit 1870 vom Ministerium des Innern für bayerische Gemeinden und Kirchenverwaltungen zur Anschaffung empfohlen. Besonders hilfreich dürften die zahlreichen Beilagen im Stadelmann gewesen sein. Denn dabei handelte es sich um Vorlagen für bestimmte Aufgaben: vom Gemeindeetat bis hin zur Tabelle über Jagdverpachtungen, über die Statuten einer Landfeuerwehr bis zur Meldung zur Rekrutierungsstammrolle beinhaltete beispielsweise die achte Auflage 118 Beilagen aller Art.89 Diese Instruktionsbücher sind nicht nur eine Quelle für die Lernprozesse der Gemeindevorsteher. Für die Erforschung der ländlichen Regierung haben sie auch einen weiteren Nutzen, dienten sie doch auch mir immer wieder als nützliche Nachschlagewerke und Kompendien. Insofern war ich selbst in den letzten Jahren eine Lernende via Instruktionen, auch wenn es mir heute mindestens genauso

87 Stadelmann 1870, S. III. 88 Wagner 1893. 89 Stadelmann 1878, S. 458–630.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

schwer wie einem Bauern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fallen würde, eine Gemeindeverwaltung sach- und fachgerecht zu führen. 4.2.4

Gemeindevisitationen

Vor allem in Bayern spielten außerdem die periodischen Gemeindevisitationen durch die Bezirksrichter, später die Bezirksamtmänner, eine wichtige Rolle für die Einübung der richtigen Amtspraxis.90 In welcher Form diese Visitationen allerdings durchgeführt wurden, hing sehr stark von der jeweiligen Person des vorgesetzten Beamten ab; manche waren überfordert, andere nahmen offenbar ihr Amt nicht ernst oder versuchten lediglich, so mutmaßte die Regierung von Oberbayern, einen privaten Nutzen aus ihrem Amt zu ziehen.91 Schrittweise wurde die Visitationspflicht der Landgerichte von zunächst zweimal jährlich auf einmal in drei Jahren herabgestuft; dennoch sollten die Landrichter oder (ab 1862) die Beamten des Bezirksamts jede Gelegenheit nutzen, um mit dem Gemeindevorsteher zu sprechen und in der Gemeinde nach dem Rechten zu sehen. In der Neufassung der bayerischen Visitationsordnung von 1863 wurde der Nutzen der Gemeindevisitationen unterstrichen und mit einem Appell an die Bezirksamtsvorsteher verbunden: Gründlich vollzogene Gemeinde-Visitationen werden den Verwaltungsbeamten mit den Zuständen und Bedürfnissen der Gemeinden und Gemeinde-Verwaltungen völlig vertraut machen; auf dem kürzesten Wege zur Beseitigung von Mißverständnissen, Unregelmäßigkeiten oder Uebelständen führen; die Gemeinde und ihre Organe in geordneten Zuständen erhalten oder zu solchen erheben. Die unterzeichneten k. Staatsministerien geben sich daher dem Vertrauen hin, daß sämmtliche Verwaltungsbeamte die GemeindeVisitationen mit jenem lebhaften Interesse und mit jener Umsicht vollziehen werden, wie solches der Wichtigkeit der Sache und dem Berufe des Verwaltungsbeamten entspricht.92

In einer weiteren Anpassung, die wohl der tatsächlichen Amtspraxis entsprach und weitere Erleichterungen für die Bezirksämter vorsah, hieß es, die Visitationen sollten auf wenige Bereiche beschränkt werden. Die Aufzählung zeigt allerdings, wie umfangreich der Verwaltungsbereich der Landgemeinden inzwischen geworden war:

90 Vgl. auch Krosigk 2018; Näther 2018. 91 Das zog eine ausführliche Kontrolle der kontrollierenden Behörden durch ihre jeweiligen Vorgesetzten nach sich. Vgl. Verfügung des königlichen Ministeriums des Innern an die kgl. Regierung, Kammer des Innern von Oberbayern, die Visitation der Gemeinden betreffend, 2.7.1853; StAM, RA 65034. 92 Rescript 1863, S. 1312.

Einübung in der Praxis

Die Visitation hat sich namentlich auf das Kassen- und Rechnungswesen der Gemeinde, der gemeindlichen Stiftungen und der Kirchenstiftungen, auf die Beschaffenheit der gesetzlich erforderlichen Gemeindeanstalten, insbesondere der Anstalten für Erziehung und Unterricht, Gottesdienst, Armen-, Kranken-, Gesundheitspflege, Verkehrs- und Feuerlöschwesen, auf die Handhabung der Orts- und Feldpolizei, die Unterstützung der Hilfsbedürftigen, die inneren Schulverhältnisse, Schulbesuch, Schuldisziplin p. p. zu erstrecken.93

Im Jahr 1875 fand eine ausführliche Visitation der Gemeindeverwaltung in Bernried statt; es ging vor allem um die Kassenverwaltung und die Gemeindeakten, aber auch um Nachtwache, Feldwache und Feuerwehreinrichtungen. Diese Visitation ist aus mehreren Gründen sehr interessant: Es zeigte sich, dass die Bernrieder Gemeindeverwaltung einige Schwachstellen hatte, an anderer Stelle aber gut funktionierte. Der gesamte Bereich der öffentlichen Ordnung etwa gab keinerlei Anlass zur Kritik; die Feldwache, die vom Gemeindediener übernommen wurde, funktionierte ordentlich, ebenso wie die Nachtwache, die unter den Dorfbewohnern rotierte. Auch die Feuerwehreinrichtungen schienen auf den ersten Blick allen Ansprüchen zu genügen: „Pflichtfeuerwehr angeblich sehr gut organisiert (spezielle Inspektion bleibt vorbehalten). Löschgeräthe genügend vorhanden u. gut aufbewahrt.“94 In anderen Bereichen der Gemeindeverwaltung hingegen blickte der Bezirksamtmann Frank in wahre Abgründe. Das betraf vor allem die Führung der Gemeindekasse durch den Gemeindekassier Jakob Feßenmaier: Ein Kassenbestand ist nicht vorhanden. Im Gegentheile hat der Kassier nach seiner Angabe, welche vom Bürgermeister u. vom Gem.Schreiber Dobler bestätigt wird, aus eigenen Mitteln einen beträchtlichen Vorschuß geleistet, dessen Größe jedoch im Augenblick nicht genau angegeben werden kann, da die ganze Buchführung der unbedingt nöthigen Klarheit entbehrt.95

Auch der Bürgermeister, obwohl dieser von der Kassenführung durch die Gemeindeordnung explizit ausgeschlossen war, habe seinen Anteil an dem Chaos, weil er zugelassen habe, dass Feßenmaier eigene Mittel zum Ausgleich der Kasse

93 Entschließung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern beider Abtheilungen. Betreff: die Gemeindevisitationen, 23.4.1876; StAM, RA 65034. 94 Frank, königl. Bezirksamtmann: Tagebuch über die Visitation der Landgemeinde Bernried, 23.4.1875; GAB, A02/25. Interessant ist allerdings, dass keine fünf Jahre später die Pflichtfeuerwehr in Bernried in eine Freiwillige Feuerwehr umgewandelt wurde – wegen gravierender Mängel! S. u., Kap. 7.4. 95 Frank, königl. Bezirksamtmann: Tagebuch über die Visitation der Landgemeinde Bernried, 23.4.1875; GAB, A02/25.

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verwandte und weil er bei der Abzeichnung der Auszahlungsquittungen die nötige Sorgfalt habe vermissen lassen. Die anderen Kassen – die Armenkasse, die Schulkasse und die der Kirchenstiftung – waren in nicht ganz so desaströsem Zustand, doch auch hier hatte Bezirksamtmann Franz einige Kritik zu üben. Bürgermeister Wörle musste auch Kritik für seine eigene Amtsführung einstecken. Das betraf vor allem die Führung der Verzeichnisse über Gemeindebürger, Heimatberechtigte und ständig anwesende Fremde, die der Bürgermeister nicht den Vorschriften gemäß in Ordnung gehalten hatte. Das monierte der Bezirksamtsmann nicht zum ersten Mal, aber Wörle hatte daraus offenbar nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen.96 Auch die sonstigen Gemeindepapiere waren nicht in einer Ordnung, die dem Amtmann gefiel: Das Reichsgesetzblatt war nicht vorhanden, und der Registraturschrank, der in der Schule untergebracht war, war unordentlich und vollgestopft mit Papieren, die nicht hineingehörten. Insgesamt war die Gemeindeverwaltung also in einem disparaten Zustand. Der Amtmann versuchte nun, mit Anordnungen die lokalen Akteure auf Linie zu bringen. Er setzte eine Liste mit Dingen auf, die geändert oder erledigt werden sollten. Dabei kam der Gemeindekassier glimpflich davon. Hier zeigte sich der Amtmann vor allem besorgt: Die Praktiken der Kassenführung würden nicht nur eine totale „Verwirrung der Buchführung“ nach sich ziehen, sondern vor allem zu „Haftungen und Verlusten des Kassiers“ führen. Daher gelte es, ihn noch einmal über die Regeln der Kassenführung aufzuklären: „Dem Gemeindekassier Jakob Fesenmaier [sic] sind die in der Ministerial-Entschließung vom 12. Oktober 1869 enthaltenen Vorschriften über die Buch [sic] und Kassenführung […] zur künftigen genauesten Darnachachtung einzuschärfen.“97 Und in dieser Hinsicht meldete Bürgermeister Wörle rasch Vollzug: „Dem Gemeindekassier Jakob Fesenmaier wurden die […] Vorschriften und Anordnungen wortwörtlich vorgelesen und derselbe zur Darnachachtung angewiesen.“98 Damit war die Angelegenheit der Kassenführung offenbar erledigt; ob jedoch die einfache Verlesung der Ausführungsbestimmungen den gewünschten Effekt auf die gemeindliche Buchhaltung hatte, lässt sich bezweifeln. Auch der Bürgermeister bekam Auflagen und zwar nicht nur einmal: Die Reichsgesetzblätter sollten noch einmal bestellt und einsortiert werden – dies war offenbar relativ schnell geschehen. Und er sollte den Registraturschrank aufräumen. Nachdem Wörle in seinem Bericht lediglich kundgetan hatte, dies sei für die nächste

96 „Die bei früheren Visitationen hiewegen ertheilten Aufträge wurden nur theilweise vollzogen.“; ebd. 97 Erlass des kgl. Bezirksamts Weilheim, 29.5.1875, Gemeindevisitation betr. (Abschrift); ebd. 98 Bericht der Gemeindeverwaltung Bärnried [sic], 19.6.1875; ebd.

Einübung in der Praxis

Zeit geplant, hakte der Amtmann noch einmal nach und verlangte, der Vollzug möge innerhalb von vier Wochen gemeldet werden.99 Am längsten zog sich aber die Berichtigung der Gemeindebürgerverzeichnisse hin. Zunächst hatte Bürgermeister Wörle betont, die Verzeichnisse seien längst auf den neuesten Stand gebracht, er habe nur vergessen, sie bei der Visitation vorzulegen. Diese Ausrede akzeptierte das Bezirksamt nicht, verlangte die Einsendung der aktuellen Bögen und kritisierte nach der Prüfung weiterhin die Ausführung. Für jeden Bürger müsse ein einzelner Bogen angelegt werden, und dieser müsse genau ausgefüllt werden. „Die einschlägige Bemerkung auf der Vorderseite des Formulars ist zu lesen und genau zu beachten“,100 hieß es am 8. Juli, und im August erging noch einmal die Aufforderung, die Formulare erneut zu überarbeiten: Sie „erscheinen noch keineswegs gehörig geordnet“.101 So zog sich die Belehrung des Bürgermeisters über einen langen Zeitraum hin. Immer wieder gab es Pausen zwischen den einzelnen Unterweisungen, die sich aus der räumlichen Distanz zwischen Bezirksamt und Gemeindeverwaltung ergaben. Der Bezirksamtmann musste schriftlich erklären, was genau geändert werden sollte, was sicher für beide Seiten schwierig war. Bemerkenswert ist jedoch, dass das Bezirksamt nicht lockerließ und immer wieder die Ausführung dieser wichtigen Unterlagen kontrollierte; ging es doch bei den Verzeichnissen der Gemeindebürger und Heimatberechtigten nicht nur um die Stimmrechte in der Gemeinde, sondern auch um das Anrecht auf Armenunterstützung im Bedarfsfall.102 Durch Instruktionen und Kontrollen einerseits, durch die regelmäßige Interaktion mit unterschiedlichen Behörden und die dabei notwendige schriftliche Korrespondenz andererseits lernten die Gemeindevorsteher nach und nach, wie sie mit der staatlichen Verwaltung umgehen mussten und ihren Teil zur Staatsverwaltung beitragen konnten. Je mehr Aufgaben ihnen zur Pflicht gemacht wurden, umso weniger konnten sie die vielfältigen Anforderungen an ihr Amt einfach ignorieren. Aber sie blieben Laien auf dem Gebiet der Verwaltung, und die Medien des Lernens, von den schriftlichen Instruktionen bis hin zu den konkreten schriftlichen und mündlichen Ermahnungen durch die vorgesetzten Verwaltungsstellen, betonten das immer und immer wieder. Auch wenn die Gemeindevorsteher Schritt für Schritt hinzulernten, blieben sie in der Verwaltung Fehlerquellen und Störfaktoren. Das prägte den Umgang der Behörden mit den Gemeinden.

99 Erlass des kgl. Bezirksamts Weilheim, 29.5.1875, Gemeindevisitation betr. (Abschrift); Bericht der Gemeindeverwaltung Bärnried [sic], 19.6.1875; Erlass des kgl. Bezirksamts Weilheim, 29.6.1875; alle Schriftstücke ebd. 100 Erlass des kgl. Bezirksamts Weilheim, 8.7.1875; ebd. 101 Erlass des kgl. Bezirksamts Weilheim, 10.8.1875; ebd. 102 S. u., Kap. 6.1 und 7.1.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

4.3

Das Amt als Ehre

Die ländlichen Gemeindevorsteher in Preußen, Bayern und dem Elsass versahen ihr Amt in der Regel ehrenamtlich. Auch wenn oft von dieser Ehre die Rede war, war das Amt häufig eher Last und Pflicht, das ist bis hierhin schon sehr deutlich geworden. Denn die Tätigkeit war anstrengend und nicht ganz trivial, dabei aber eintönig. Der Gemeindevorsteher fungierte vor allem als Vermittlungsstelle zwischen verschiedenen Ämtern und der lokalen Bevölkerung beziehungsweise der Gemeinde als Trägerin bestimmter öffentlicher Aufgaben; viel Gestaltungsfreiraum hatte der Vorsteher dabei nicht. In den ersten hier untersuchten Jahrzehnten spielten die Zwangsmittel offenbar noch eine gewisse Rolle, die verdeutlichten, dass es keine freiwillige Aufgabe war, die der Vorsteher übernahm. Und doch lohnt es sich, den Charakter des Vorsteheramts als Ehrenamt aus verschiedenen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Denn nur so kann erstens noch einmal verdeutlicht werden, wie problematisch die Stellung des Vorstehers zwischen Gemeinde und Staat im Gefolge der Gouvernementalisierung der Gemeinden war. Zweitens werden aber auch Dynamiken deutlich, die um die Wende zum 20. Jahrhundert zu einer gewissen Stabilisierung des Amts führten. 4.3.1

Entschädigungszahlungen

Wer ein Ehrenamt versieht, wird in der Regel dafür nicht bezahlt. Das galt auch für ländliche Gemeindevorsteher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eigentlich. Denn uneigentlich gab es zumindest in Preußen und Bayern durchaus Entschädigungszahlungen für die Gemeindevorsteher, die von den Gemeinden aufgebracht wurden. Nur in Frankreich, später dann im Reichsland Elsass-Lothringen, erhielten die Gemeindevorsteher grundsätzlich kein Geld, nur der Gemeindeschreiber bekam in den 1860er Jahren 250 Francs aus der Wolxheimer Gemeindekasse.103 Die bayerische Gemeindeordnung sah vor, dass der Bürgermeister einen „angemessenen Functionsbezug“104 erhalten solle. Doch eine lückenlose Überlieferung für die Gemeinde Bernried fehlt. Wir wissen nur, dass der Gemeindeausschuss im Jahr 1858 die Entschädigung für den Vorsteher auf 22 Gulden jährlich festlegte, während der Gemeindeschreiber acht Gulden 30 Kreuzer erhalten sollte, wovon allerdings zwei Gulden 30 Kreuzer für Materialien veranschlagt waren. Im Jahr

103 Vgl. etwa Compte administratif 1865, Gemeinde Wolxheim, vom 13.5.1866; ADBR, 8 E 554/53. Hier wurden 250 Francs für die Kosten der Mairie eingestellt, die – nur das gab das Formular vor – vollständig auf den Posten „traitement du secrétaire“ entfielen. 104 Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 125.

Das Amt als Ehre

1894 wurde die Amtsentschädigung für den Bürgermeister auf 300 Mark im Jahr festgelegt, der Gemeindeschreiber bekam 130 Mark.105 In Preußen haben wir eine interessante Quellenreihe, die Aufschluss über die Entschädigung der ländlichen Gemeindevorsteher gibt. Denn nach der gescheiterten Gemeindeordnung von 1850 wurden nicht nur die lokalen Partizipationsordnungen verschriftlicht und standardisiert, sondern die Landräte bemühten sich auch darum, die Schulzen-Remuneration zu organisieren. Bislang hatten die Schulzen ihre Aufwandsentschädigungen meist noch in Form von Naturalien oder Bodennutzungen erhalten (auch die Schulzengüter fielen in diese Kategorie); nun sollten sie in Geldzahlungen umgewandelt werden. Diese Remunerationsverhandlungen, die ihre schriftlichen Spuren in den Akten der Gemeindeaufsichtsbehörden hinterlassen haben, waren deshalb schwierig, weil jeweils individuell geklärt werden musste, wie hoch der Aufwand für die Amtsverwaltung war und wer für die Vergütung des Schulzen aufkommen musste – die Gemeinde oder die Gutsherrschaft (vgl. Kap. 3.1). Vor allem aber wurde immer wieder betont, dass die Entschädigungen erhöht werden müssten, weil die Mühen der Amtsverwaltung so stark gewachsen seien: So seien es „die gesteigerten Ansprüche, welche sowohl in communaler, wie in polizeilicher Beziehung an den Schulzen von der Ortsobrigkeit und dem Landraths-Amt, sowie auch von den Einwohnern gemacht werden und täglich sich mehren“, die eine erhöhte Entschädigung für die Gemeindevorsteher nötig machten.106 Das galt vor allem für die Berliner Vorortgemeinden, wo die Amtsverwaltung des Schulzen so zeitraubend sei, „daß er neben der Amtsverwaltung so gut, wie gar nicht, daran denken kann, irgend wie ein Geschäft zu betreiben“, wie der Landrat betonte.107 Die Entschädigung für den Gemeindevorsteher sollte also auch Einkommensverluste ausgleichen. Je nach Größe der Gemeinde und besonderen Herausforderungen der Verwaltung sollten die Gemeinden zwischen 15 und 60 Taler an die Gemeindevorsteher zahlen – für viele Gemeinden waren das erhebliche

105 Vgl. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 1.6.1858; GAB B2/1; Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 6.1.1894; GAB B2/3, S. 260 f., hier S. 260. 106 Bericht des Landrats des Kreises Teltow an die Königliche Regierung, Abteilung des Innern: die Erhöhung der Schulzenamts-Remuneration zu Gr. Kienitz, Verfügung vom 5. Mai, 1.6.1860; BLHA, Rep. 2a I Kom 2330, fol. 409–410, hier: fol. 409 RS–410. Ein weiterer Faktor, der in den Remunerationsverhandlungen häufig zur Sprache kam, war die oft weite Entfernung zwischen Gemeinde und Landratsamt bzw. Gutsherrschaft. 107 Schreiben des Landrats des Kreises Teltow an die Königliche Regierung, Abtheilung des Inneren zu Potsdam: die Erhöhung der Schulzenamts-Remuneration in Neu Schöneberg vom 4.8.1859, 23.12.1859; ebd., fol. 338 f., hier: fol. 338 RS–339.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

Summen, für die Amtsinhaber allerdings eher eine geringe Entschädigung.108 In den Mahlower Unterlagen gibt es erst für das frühe 20. Jahrhundert einen ersten Hinweis darauf, was der dortige Gemeindevorsteher als Entschädigung bekam: Ab dem 1. Oktober rückwirkend wurde Vorsteher Krüger eine jährliche Entschädigung von 250 Mark zugebilligt. Die Begründung dafür war, dass die schriftlichen Arbeiten so sehr angewachsen seien, dass der Vorsteher sich eine Schreibhilfe halten müsse. Diese musste er privat von dieser Entschädigung bezahlen.109 Der Charakter des Ehrenamts blieb also auch durch die geringen Entschädigungen unangetastet. Die prekäre Stellung des Vorstehers zwischen Gemeinde und Staat wird noch einmal deutlich, wenn man die Entschädigungszahlungen aus einer anderen Perspektive betrachtet: Gezahlt werden musste die Entschädigung zwar von der Gemeinde (bzw. vor 1872 in Preußen manchmal auch von der Gutsherrschaft), aber der Staat legte fest, dass es eine Entschädigung geben musste (wie in der bayerischen Gemeindeordnung) oder standardisierte sie sogar (wie in Preußen durch den Landrat). 4.3.2

Ehre und Symbole

Ein Ehrenamt bemisst sich jedoch nicht nur an der mangelnden finanziellen Entlohnung, sondern auch an der symbolischen Aufladung, die mit dem Amt einherging. Besonders in den französischen Landgemeinden wurde der maire, der ja als Vertreter des Staates im Dorf interpretiert wurde, durch Symbole mit staatlicher Autorität ausgestattet. Bereits die französische mairie, also das Amtsgebäude des maire, stellte eine zentrale Institution des französischen Staates und damit auch seine Versinnbildlichung in jedem Ort dar.110 Die mairie in Wolxheim bestand schon in den 1860er Jahren aus zwei Räumen, dem Sekretariat und dem Bürgermeisterzimmer. Eine Inventarliste verrät, dass sie nicht nur üppig möbliert war, sondern auch über staatliche Insignien des Second Empire verfügte: eine Büste des Kaisers, ein Bild der kaiserlichen Familie, drei Tricolore-Fahnen und zwei Bürgermeisterschärpen aus Seide.111 Die symbolische Ausstattung der anderen Vorsteher war weniger großzügig, und sie war weniger eindeutig staatlich konnotiert. Die bayerischen Bürgermeister konnten bei hohen Anlässen eine Bürgermeistermedaille tragen, die allerdings durch die Gemeinde kostenpflichtig beschafft werden musste. Es handelte sich um

108 Vgl. die diversen Akten zu den Remunerationsverhandlungen in BLHA, Rep. 2a I Kom 2330 u. 2332; Zum Vergleich: Im Jahr 1860 verdiente ein preußischer Gendarm zwischen 270 und 290 Taler. Vgl. Fischer, Krengel, Wietog 1982, S. 165. 109 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 5.10.1902; KrA-TF, XII.294. 110 Vgl. Agulhon 1984, S. 167–193. 111 Vgl. Mobilier de la Mairie, 4.9.1865 (fortgeführt); ADBR 8 E 554/41.

Das Amt als Ehre

eine silberne Medaille an einem blauen Band, auf der Vorderseite mit einem Bild des jeweils regierenden Königs versehen. Auf der Rückseite waren der Name und gegebenenfalls das Wappen der jeweiligen Landgemeinde eingraviert.112 Ob es in Bernried eine solche Bürgermeistermedaille gab, verraten die Quellen allerdings nicht. Der preußische Staat gab eine solche einheitliche Kennzeichnung der ländlichen Gemeindevorsteher nicht vor. Offenbar gab es aber in einigen Gemeinden Amtsstäbe, die auf die alte Funktion des Schulzen als Gerichtsperson verwiesen. Auch der Mahlower Vorsteher hatte so einen Stab. Ob er ihn allerdings benutzte, ist sehr unklar, denn der einzige Hinweis auf seine Existenz ist eine Notiz, welche besagt, dass er in den 1920er Jahren ans Heimatmuseum übergeben wurde. Zu diesem Zeitpunkt spielte er also spätestens keine Rolle mehr als symbolische Kennzeichnung des Gemeindevorstehers.113 Aus einer anderen Gemeinde ist jedoch eine Anekdote mit einem Amtsstab überliefert. Der Ortsschulze von Stolpe, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Potsdam, schrieb im Sommer 1880 ein Gesuch an den Kaiser, den er bei einem Aufenthalt auf der Pfaueninsel in der Havel getroffen hatte. Dabei hätte er seinen „dieses Ehrenamt kennzeichnenden Stabe“ mit silbernem Knauf mit sich geführt und wollte diesen nun mit einer Gedenkplatte versehen, um sich und seine Nachfolger immer an dieses Treffen zu erinnern.114 Zumindest dieser Schulze scheint also seinen Stab benutzt zu haben – allerdings ganz offensichtlich als Spazierstock (und Statussymbol) beim privaten Sonntagsspaziergang. 4.3.3

Auszeichnungen

Die Akten der Kommunalaufsicht, die im Brandenburgischen Landeshauptarchiv liegen, verändern sich im frühen 20. Jahrhundert plötzlich erheblich. In den Jahrzehnten zuvor hatten diverse Vorgänge über widerspenstige und unfähige Gemeindevorsteher die Bürokratie beschäftigt. Nun wurden ganz andere Schreiben abgeheftet. Ab dem Krönungs- und Ordensfest 1906115 sollten auch dörfliche Amtsträger für ihre Verdienste am Staat ausgezeichnet werden – nicht (nur) bei besonderen

112 Vgl. Eichner 1895, S. 5; geregelt war das Dienstzeichen nicht in der Gemeindeverfassung selbst, sondern in einer gesonderten Verordnung vom 4.8.1869. 113 Vgl. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 30.9.1927; KrA-TF, XII.297. 114 Eingabe des Ortsschulzen von Stolpe an den deutschen Kaiser (Abschrift) [1880]; BLHA, Rep. 2a I Kom 2333, fol. 281. 115 Dieses Fest wurde zum 35. Jahrestag der Kaiserkrönung sowie zum 205. Jahrestag der preußischen Ordensstiftung gefeiert; anlässlich dieser Feier wurden 2.800 Orden und Ehrenzeichen an verdienstvolle Persönlichkeiten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens verliehen. Vgl. Krenn 2017, S. 135. Das Krönungs- und Ordensfest war lt. Vossischer Zeitung das „demokratischste aller Hoffeste“. Zit. n. Lindenberger 1995, S. 62.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

Leistungen, sondern für ihre ganz normale, aber langjährige Amtsführung. Der Regierungspräsident des Bezirks Potsdam bat die Landräte der Kreise um Stellungnahmen zu dieser Idee, und er bekam vor allem wohlwollende Antworten. Der Landrat des Kreises Beeskow-Storkow berichtete: Daß derartige Auszeichnungen hier schon längst als Bedürfnis empfunden worden sind, beweist der Umstand, daß der Kreis-Ausschuß bereits vor Jahren beschlossen hat, den Gemeindevorstehern und Ortssteuer-Erhebern, welche eine 25jährige ehrenamtliche Tätigkeit hinter sich haben, ein schön gerahmtes Kaiserbild mit entsprechender Widmung zu überreichen. Diese Einrichtung, welche allgemein Anklang gefunden hat, hat bisher in vielen Fällen zur Anwendung gebracht werden können.116

Auch die anderen Kreise reagierten positiv. So sei eine solche Auszeichnung eine Möglichkeit, die arg gebeutelten Gemeindevorsteher zu würdigen und damit auch für das Amt zu begeistern. „Es liegt meines Erachtens direkt im staatlichen Interesse“, so der Landrat des Kreises Osthavelland, „die Stellung der Gemeinde- und Amtsvorsteher nach Möglichkeit zu heben, da es schon jetzt vielfach schwer fällt, Persönlichkeiten zur Annahme dieser Ämter zu bewegen.“117 Und auch im Kreis Jüterbog versprach man sich von einer solchen Auszeichnung die Stärkung der Position der Gemeindevorsteher im Dorf – oder zumindest einen Ausgleich dafür, dass die Vorsteher eine schwere Stellung in ihrer Gemeinde hatten: Die dienstlichen Obliegenheiten des Gemeindevorstehers sind so vielfältig und nehmen die Zeit des Beamten oft so in Anspruch, daß es in manchen Gemeinden schwer ist, eine für das Amt geeignete und zur Übernahme bereite Persönlichkeit zu finden. Andererseits sind die Gemeindevorsteher durch ihre Stellung als gewählte Beamte mancherlei Widerwärtigkeiten ausgesetzt; oft verlangen die Wähler unter Androhung der Nichtwiederwahl vom Gemeindevorsteher, daß er dies oder jenes tun soll, was er selbst nicht für gut oder zweckmäßig hält, oder daß er dies oder jenes unterlassen soll, was ihm von der Aufsichtsbehörde aufgegeben oder empfohlen worden ist.118

Der Landrat des Kreises Teltow, in dem auch Mahlow lag, betonte, hier habe man ohnehin schon immer Orden und Auszeichnungen für seine Amts- und Gemeindevorsteher beantragt. Die Neuschaffung eines Erinnerungszeichens, wie sie dem 116 Bericht des Landrats des Kreises Beeskow-Storkow an den Regierungspräsidenten in Potsdam, 10.9.1906; BLHA, Rep. 2a I Kom 81, fol. 38 u. RS. 117 Bericht des Landrats des Kreises Osthavelland an den Regierungspräsidenten in Potsdam, 15.9.1906; ebd., fol. 39 u. RS. 118 Bericht des Landrats des Kreises Jüterbog an den Regierungspräsidenten in Potsdam, 13.9.1906; ebd., fol. 41 u. RS.

Das Amt als Ehre

Regierungspräsidenten vorschwebte, sei aber, so der Teltower Landrat, „in anderen Kreisen, vor allen in denen mit rein ländlichen Verhältnissen […] sehr angebracht“.119 Im Jahr 1902 hatte der Landrat über den Regierungspräsidenten bereits einen ganzen Schwung Orden und Auszeichnungen beim Ministerium des Innern beantragt, unter anderem auch für den Schulzen Krüger in Mahlow. Begründet hatte er die Auszeichnung folgendermaßen: Krüger verwaltet seit einundzwanzig Jahren das Ehrenamt eines Gemeindevorstehers der 400 Einwohner umfassenden Landgemeinde Mahlow mit großer Hingabe und Pflichttreue. Seine einwandfreie Amtsführung sowie sein schlichter, braver Charakter haben ihm die Achtung seiner vorgesetzten Behörde sowie die der Einwohner seines Heimathsortes erworben. Seit zehn Jahren versieht g. Krüger auch das Amt eines StandesbeamtenStellvertreters. Er hält in durchaus königstreuer Gesinnung zu seinem Herrscherhause und hat es verstanden, die Liebe zu Kaiser und Reich auch in seiner Gemeinde wach zu halten. Soldat ist g. Krüger nicht gewesen. Er lebt in geordneten Verhältnissen.120

In ähnlichem, beinahe gleichem Wortlaut wurden auch Ehrenzeichen für viele andere Gemeindevorsteher kleiner Landgemeinden beantragt. Argumente für die Auszeichnungen waren keine besonderen Heldentaten, sondern langjährige Dienste sowie unbedingte Loyalität gegenüber der Monarchie. Das Amt des Gemeindevorstehers war so zumindest partiell zu etwas geworden, das als Ehre galt und als solche sichtbar gemacht werden sollte. Das war die bürokratische Perspektive. Wie die Vorsteher selbst ihr Amt sahen, ob eher als Bürde oder Ehre, ob sie möglicherweise sogar am Amt klebten, weil sie sich mehr als nur Ehre davon erhofften, das wissen wir nicht. Zu wenige Quellen geben uns Einblick in die Selbstsicht der Amtsinhaber. Trotzdem: Die Quellen, die es gibt, können gewinnbringend gegen den Strich gelesen werden.

119 Bericht des Landrats des Kreises Teltow an den Regierungspräsidenten in Potsdam, 12.9.1906; ebd., fol. 48 RS. 120 Antrag des Regierungspräsidenten des Bezirks Potsdam an das Preußische Ministerium des Innern, betr. Verleihung des Allgemeinen Ehrenzeichens, 1.3.1902; BLHA, Rep. 2a I Kom 2335, fol. 26 f., hier: fol. 27.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

4.4

Objekte oder Subjekte der Gouvernementalisierung?

Christine Mayr unterscheidet in ihrer Untersuchung über Bürgermeister im deutsch-französischen Grenzgebiet im 19. Jahrhundert drei verschiedene Amtsstile: den verwaltungs- und staatsnahen Bürgermeister, den an privaten (wirtschaftlichen) Interessen orientierten Vorsteher und den Hüter der Gemeindeinteressen. Am häufigsten, so Mayr, sei allerdings der Vorsteher gewesen, der keinen expliziten Amtsstil an den Tag legte.121 Dass diese Vorsteher passiv erschienen, mag allerdings auch dem hier geschilderten Quellenproblem geschuldet sein: Wer nur wenig Material hinterließ, erscheint schnell als passiv oder untätig, muss es aber gar nicht gewesen sein. Um eine solche Typologie zur Anwendung zu bringen, braucht es vor allem eine gute Quellenüberlieferung. Ein weiteres Problem mit einer solchen Typisierung liegt darin, dass viele Dokumente über Gemeindevorsteher einen eindeutigen bürokratischen bias haben. Durch die Brille von Landräten, Bezirksamtmännern oder Präfekten betrachtet, waren Gemeindevorsteher oft ein Problem: Sie konnten zu wenig, oder sie wollten nicht so wie die Bürokraten. Für die Volkszählung musste der Schulze im brandenburgischen Freidorf Listen und Tabellen ausfüllen. Als er diese ans Rentamt übersandte, zeigte sich aber, dass er nicht verstanden hatte, was er damit machen sollte. Die Listen wurden zurückgegeben – nicht an ihn, sondern an den Dorflehrer, der seine Aufgabe offenbar gut erledigte. Dem Schulzen sei letztlich die mangelhafte Ausführung deshalb nicht anzulasten, da „er an übergroßem Mangel geistiger Fähigkeiten leidet. Eine andere zum Schulzen mehr geeignete Persönlichkeit ist trotzdem in Freidorf nicht zu finden“, urteilte der Landrat in einem Schreiben an die Regierung in Potsdam.122 Eine solche beinahe fatalistische Haltung der Bürokratie gegenüber den Gemeindevorstehern hat Patrick Wagner als typische Haltung für das mittlere 19. Jahrhundert im ostelbischen Preußen herausgestellt. Die Klagen über die Unfähigkeit der Schulzen seien „ebenso stereotyp wie negativ“ gewesen; die Fähigkeiten der Schulzen, den schriftlichen Kommunikationsgepflogenheiten des bürokratischen Staates zu genügen, seien generell als nicht existent beschrieben worden.123 Aus dieser Perspektive wirken die Gemeindevorsteher wie Widerstände der Gouvernementalisierung. Den Gemeindevorstehern war in diesem Prozess der Platz zugedacht, als Bindeglied zwischen der professionalisierten Bürokratie und den 121 Mayr 2006, S. 275. 122 Schreiben des Landrats an die Regierung in Potsdam, betrifft die Erledigung der Erinnerungen gegen die statistischen Aufnahmen des Jahres 1858, 30.4.1860; BLHA, Rep. 2a I Kom 2330, fol. 439 RS. 123 Wagner 2005, S. 122 f.

Objekte oder Subjekte der Gouvernementalisierung?

lokalen Gesellschaften zu dienen. Sie sollten vermitteln, aber auch ganz praktisch die staatliche Verwaltung ins kleinste Dorf hineintragen. Aufgrund ihrer geringen bürokratischen Fähigkeiten schienen sie aber diese Aufgaben nicht erfüllen zu können, sodass der ganze Prozess ins Stocken geriet. Doch es gab auch andere Idealbilder von Gemeindevorstehern. Eines diktierte der Autor des „Bürgermeisterbüchleins“, Fr. X. Wagner, einem anonym bleibenden Gemeindemitglied in die Feder: Wer nun Bürgermeister sei, Ist mir so ziemlich einerlei, Nur soll er im Gewissen rein, Vernünftig, treu und ehrlich sein, Soll redlich denken, menschlich fühlen, G’en Bürger nicht den Großhans spielen, Soll Ordnung lieben, Tugend pflegen, Nicht Feindschaft schüren, Lumpen hegen, Soll sorgen, sparen insgemein, Und Jedem Freund und Vater sein, Verträglich, freundlich, gutgesinnt, Wie wack’re Bürgermeister sind.124

Hier, in dieser Idealisierung, war der Gemeindevorsteher auf der Ebene des Dorfes angesiedelt. Andere Qualitäten waren hier gefragt, vor allem aber war der Bürgermeister aus Wagners Bürgermeisterbüchlein aktiv. Doch auch hier sprach nicht der Gemeindevorsteher selbst, sondern ein Geistlicher, der das Ideal eines Vorstehers imaginierte. Nur sehr selten gab es in diesem Kapitel Hinweise auf die aktive Selbstpositionierung der Vorsteher. Doch wenn ich die Entwicklungen, die ich in diesem Kapitel feststellen konnte, noch einmal zusammenfasse, dann wird doch eine Veränderung deutlich. So wurden die Probleme mit unfähigen Gemeindevorstehern weniger; die (preußische) Bürokratie veränderte den Fokus auf die Vorsteher hin zu einer aktiven Bestärkung und Auszeichnung; die Gemeindevorsteher weigerten sich seltener, das Amt zu übernehmen und die Aufgaben auch auszuführen. Dazu kommt eine weitere Beobachtung. Ähnlich wie im vorangegangenen Kapitel kann ich auch hier noch einmal zeigen, dass die Amtsdauer der Gemeindevorsteher tendenziell zum Ende des Jahrhunderts hin anwuchs:

124 Wagner 1893, S. 13 f.

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Gemeindevorsteher zwischen Dorf und Staat

Abb. 4 Amtszeiten der Gemeindevorsteher, 1850 ff.

Objekte oder Subjekte der Gouvernementalisierung?

Während im dritten Jahrhundertviertel in Bernried und in Wolxheim125 die Fluktuation der Gemeindevorsteher relativ hoch war, waren die Vorsteher, die im Jahr 1900 im Amt waren, dies für eine lange Zeit: Andreas Pauli in Bernried war 20 Jahre lang Vorsteher, Ludwig Krüger in Mahlow elf Jahre und Karl Joessel in Wolxheim sogar 21 Jahre lang. Nimmt man diese Hinweise ernst und verknüpft sie mit den sonstigen Ergebnissen dieses Kapitels, wird deutlich, dass die Rolle der Gemeindevorsteher nicht so passiv war. Vielmehr konnten die Vorsteher im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Position so stabilisieren, dass sie nicht ausschließlich eine Bürde war, sondern ausreichend Ehre mit sich brachte, um über längere Zeit attraktiv zu sein. Eine veränderte Haltung der vorgesetzten Behörden dürfte dazu beigetragen haben. Dennoch habe ich in diesem Kapitel auch gezeigt, dass die Stellung der Gemeindevorsteher über den gesamten Untersuchungszeitraum prekär war. Die Vorsteher waren zwischen den Anforderungen der Bürokratie und der Loyalität, die der Staat von ihnen verlangte, einerseits und den lokalen Gegebenheiten und Machtverhältnissen andererseits eingespannt und mussten innerhalb dieses Machtgeflechts ihre Position finden. Doch sowohl der Staat als auch das Dorf waren großen Wandlungen unterworfen, sodass die Vorsteher ständig ausgleichen mussten, um ihre Position relativ stabil zu halten. Diese erzwungene Dynamik war im Prozess der Gouvernementalisierung der Gemeinden angelegt.

125 Mahlow stellt insofern eine Ausnahme dar, dass bis 1872 die Bewirtschaftung des Schulzenguts die Übernahme des Gemeindevorsteheramts einschloss.

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5.

Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft

Als der Preußische Landtag im Jahr 1850 im Zuge der Schaffung einer Gemeindeordnung debattierte, welche Aufgaben eine Gemeinde denn nun habe, argumentierte der Liberale Julius Pinder, daß sie [die Gemeinde, AS] alle diejenigen Bedürfnisse zu erfüllen habe, welche über die Kräfte der einzelnen Familie hinausgehen, aber noch nicht bis zu der Höhe reichen, daß sie zum allgemeinen Staats-Interesse erhoben werden könnten.1

Die Gemeinde war in Pinders Augen eine Versorgungsinstanz zwischen dem familiären Haushalt und dem Staat. Damit war sie einerseits klar vom Staat abgegrenzt, also eine Institution eigenen Rechts, und andererseits eine Institution, die der Bedürfnisbefriedigung diente – also eine ökonomische. Diese Vorstellung teilten viele Zeitgenossen, vor allem konservative, so auch der bereits zitierte Mitbegründer der Bayerischen Patriotenpartei, Wilhelm von Thüngen: Der Gemeindeverband dient viel weniger zu politischen als zu wirthschaftlichen Zwecken […]. Ein gutes Gemeindegesetz muß ein gemeinsames Zusammenwirken zu gemeinsam nützlichen Zwecken nicht nur ermöglichen, sondern auch erleichtern.2

Einerseits dienten solche Beteuerungen einem konkreten Zweck, nämlich den Zugriff der reformwilligen Bürokratie auf die ländlichen Gesellschaften einzuschränken. Andererseits weisen sie uns heute auf einen wichtigen Aspekt landgemeindlichen Regierens im 19. Jahrhundert hin, darauf nämlich, dass es für dieses Regieren wichtig war, wie Gemeinden und Gemeindemitglieder wirtschafteten. Diesem Zusammenhang widme ich mich in diesem Kapitel. Gemeinden, so betont Daniel Schläppi aus der Perspektive der frühneuzeitlichen Schweiz, waren und sind nicht in erster Linie politische, sondern ökonomische Körperschaften. Aus dieser Haltung, die durchaus mit der Interpretation des 19. Jahrhunderts übereinstimmt, leitet er ein Forschungsprogramm ab und fordert, Gemeinden sollten nicht im Rahmen der Verwaltungsgeschichte erforscht werden, sondern vor allem mit Blick auf Ressourcenaustausch und ökonomische Verflechtungen.3 Allerdings seien ökonomische Beziehungen immer originär sozia-

1 Julius Pinder, zitiert nach: Fischer 1850, S. 87. 2 Thüngen 1869, S. 291 f. 3 Schläppi 2011, S. 42.

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Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft

le Beziehungen und als solche von der Politik nicht zu trennen.4 Diese ambivalente Position der Gemeinden zwischen Ökonomie und Politik war auch im 19. Jahrhundert zu spüren, wenn auch mit anderen Schwerpunkten. Auch wenn die Zeit der bäuerlichen Gemeinden, die vorrangig über ihren genossenschaftlichen Charakter bestimmt wurden, seit der Epochenschwelle um 1800 beendet war,5 so spielte diese Idee doch auch als Praxis im 19. Jahrhundert noch eine wichtige Rolle – nicht nur in parlamentarischen Debatten, sondern auch in der landgemeindlichen Regierungsund damit Alltagspraxis.6 Die Gemeindevertretungen agierten auch als Koordinatorinnen für die lokale Landwirtschaft – ob sie nun den jährlichen Beschluss über den Beginn der Weinlese fassten oder ein Stück des Gemeindelandes dem Lehrer zur Nutzung (und zur Reduktion des in bar auszuzahlenden Gemeindegehalts) überließen.7 Entweder traten die Gemeinden selbst als wirtschaftliche Subjekte auf, etwa wenn es um die Nutzung von Gemeindebesitz ging, oder sie schufen den Rahmen, innerhalb dessen die Gemeindemitglieder miteinander wirtschaftlich kooperieren konnten. Die historische Forschung hat diesem Zusammenhang von Ökonomie und Regierung der Landgemeinden noch keine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Doch es gibt Anregungen aus angrenzenden Feldern, auf die ich hier zurückgreifen kann. Mit Spezifika bäuerlicher Mentalität beschäftigen sich die peasant studies. Ihre Vertreter betonen, dass sich bäuerliches Wirtschaften (und Handeln generell) stark von den Formen ökonomischen Handelns unterscheiden, die wir aus der kapitalistischen Industriemoderne kennen und wie sie idealtypisch im homo oeconomicus verkörpert wird. Ein Charakteristikum sei die große Bedeutung, die dem Dorf als Aktionsrahmen der bäuerlichen (Familien-)Wirtschaften zukomme. Nachbarschaft spiele in informellen oder institutionalisierten Formen eine große Rolle für bestimmte Formen der Produktion und Reproduktion; hier organisiere die Gemeinde als Körperschaft die Nutzung bestimmter Ressourcen.8 Auch wenn einige Annahmen der peasant studies problematisch sind, wenn sie beispielsweise die peasants unnötig essentialisieren, so lenken sie doch den Blick darauf, dass bäuerliches Wirtschaften sich von anderen zeitgenössischen Formen des Wirtschaftens unterschied

4 Ders. 2015, S. 41. 5 Vgl. Wunder 1986, S. 114. Am stärksten betont wohl Blickle die Diskontinuität zum Alten Reich: Blickle 1991, S. 25 f. 6 Vgl. Kaschuba 1991; Wunder 1986, S. 21. 7 Beispielsweise Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 8.10.1854; ADBR, 8 E 554/39; Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 6.10.1878; ADBR, 8 E 554/61, S. 20; Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 10.6.1900; KrA-TF, XII.294. In dieser Sitzung der Mahlower Gemeindevertretung wurde diese Landnutzung beendet, da das Grundstück für die Erweiterung des Friedhofs benötigt wurde. 8 Shanin 1973, S. 72 f.

Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft

und auch das Handeln von bäuerlichen Akteur:innen beeinflusste. Darauf werde ich noch zurückkommen. Ein weiterer interessanter Ansatzpunkt sind die Überlegungen von Marc Bloch zum Agrarindividualismus. Er verdeutlichte, dass es sich bei diesem Phänomen über weite Strecken des 19. Jahrhunderts eher um ein Programm als um ein tatsächlich verwirklichtes Faktum gehandelt habe. Der Übergang zum Agrarindividualismus, bei dem eine Kooperation zwischen den bäuerlichen Wirten nicht mehr überlebensnotwendig war, verlief viel langsamer und weniger gerichtet, als bürgerliche Reformer es gerne gehabt hätten.9 Entsprechend waren auch bis weit ins 19. Jahrhundert gemeinschaftliche Formen des Wirtschaftens notwendig und sinnvoll. Bäuerliches Wirtschaften war auf Kooperation und Koordination angewiesen – das ist auch für die Geschichte des landgemeindlichen Regierens ein wichtiger Hinweis. Eine andere Anregung stammt aus den Forschungen zum Management von Gemeingütern, vor allem zurückgehend auf die Arbeiten Elinor Ostroms, die auch der agrarhistorischen Forschung neue Impulse gegeben haben. Sie lenken den Blick darauf, wie das Mikro-Management ländlicher Gemeingüter betrieben wurde und welche Praktiken der Inklusion, vor allem aber auch der sozialen Hierarchisierung und der Ausschlüsse damit einhergingen.10 Ein letzter methodischer Ansatzpunkt ist die Studie von Olwen Hufton zu den Armen im Frankreich des 18. Jahrhunderts, die viele andere Untersuchungen zur Geschichte der Armut angeregt hat. Hufton stellt die Handlungsfähigkeit der Menschen in den Vordergrund. Sie hätten über langjährige Lernprozesse und in einer ständigen existenziellen Bedrohungssituation „Ökonomien des Notbehelfs“ (economies of makeshifts) entwickelt: „an accumulation of innumerable forms of subsidiary income or means whereby the family did not have to support some of its members“.11 Hufton geht vor allem auf Strategien wie Schmuggel, Bettel, Prostitution oder auch Migration ein, die Gemeinden in der Regel nicht zur Verfügung standen. Aber sie entwickelten andere Strategien, die man in ihrer Heterogenität mit der Idee einer gemeindlichen Ökonomie des Notbehelfs sichtbar machen kann. Diese Anregungen aus ganz unterschiedlichen Forschungskontexten bieten mir die Möglichkeit, die ökonomische Seite bäuerlicher Gemeinden als einen wichtigen Motor für die Ausbildung politischer Formen sowie die Etablierung und Transformation von Regierungsweisen zu untersuchen. Inwieweit waren Spezifika bäuerlichen Wirtschaftens wie der Zwang zur Kooperation, die Ökonomie des Notbehelfs und die Regulierung sozialer Ungleichheit durch Ressourcenzugänge prägend für die Ausbildung des Regierens im ländlichen Raum?

9 Bloch 1930; vgl. auch Brakensiek 1991. 10 Vgl. Grüne, Hübner, Siegl 2016; Ostrom 1990. 11 Hufton 1974, S. 16.

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Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft

Um diese Zusammenhänge zu beleuchten, gehe ich in vier Schritten vor. Zunächst untersuche ich ein interessantes Phänomen landgemeindlichen Regierens des 19. Jahrhunderts, die Haltung des kommunalen Zuchtstiers. Hier zeigt sich, wie die Kommunalisierung von gemeinsamem wirtschaftlichem Handeln stattfand. In einem zweiten Schritt untersuche ich die Nutzung der Gesamtheit der gemeindlichen Ressourcen. Auch hier sind Kommunalisierungsprozesse zu beobachten. Interessanter aber sind die Motive der agierenden Gemeinden, denn sie versuchten, mehr als nur direkte finanzielle Vorteile aus der Nutzung ihrer Ressourcen zu ziehen. Anschließend untersuche ich zunächst die Einnahme-, dann die Ausgabeseite der gemeindlichen Haushalte. Hier zeige ich, wie eng die gemeindlichen Spielräume waren und welche Möglichkeiten des Regierens unter angespannten finanziellen Bedingungen doch möglich waren.

5.1

Der kommunale Zuchtstier

Viele Aspekte des gemeinsamen Wirtschaftens in den Landgemeinden wurden im Laufe des 19. Jahrhundert kommunalisiert – von den letzten Gemeingütern, die zu Gemeindegütern wurden, über bestimmte Verfahren zur Sicherung der Kooperation unter den landwirtschaftlich Tätigen bis hin zu monitoring-Aufgaben im Bereich der Landwirtschaft.12 Diese Kommunalisierungsprozesse sind eng verbunden mit der Gouvernementalisierung der Gemeinden. Ein besonderes plastisches Beispiel für diesen komplexen Vorgang ist die Geschichte der gemeindlichen Zuchtstierhaltung. 5.1.1

Eine neue Gemeindeaufgabe

Im Juni 1891 erklärte der Teltower Kreisausschuss, dass die Rindviehzucht im Kreise in einem desaströsen Zustand sei. Die Lage sei so katastrophal, dass „das Geld für die Anschaffung brauchbaren Viehes aus dem Kreise heraus nach Gegenden getragen werden muß, in denen diesem wichtigen Erwerbszweige eine größere Fürsorge zugewendet wird“. Daher werde der Kreisausschuss nun Maßnahmen ergreifen, um geeignetes Zuchtvieh im Kreis zu verbreiten. Erstens sollten Zuchtstiere gekört werden und nur positiv beurteilte Zuchtstiere für die Deckung von Kühen jenseits des eigenen Betriebs verwendet werden dürfen. Zweitens legte der Kreisausschuss ein Programm auf, um Zuchtstiere anzuschaffen beziehungsweise deren Anschaffung finanziell zu unterstützen. Besonders erfahrene Rindviehhalter sollten einen Teil des Kaufpreises erstattet bekommen, um im Auftrag der Gemeinde einen

12 Vgl. Grüne, Hübner, Siegl 2016, S. 286.

Der kommunale Zuchtstier

Stier zu halten. Diese Förderung sollte auch Gemeinden und Genossenschaften gewährt werden, die kollektiv einen Stier zu halten gedachten. Das Geld stammte einerseits vom Kreis selbst, andererseits vom halböffentlichen landwirtschaftlichen Provinzial-Verein für die Mark Brandenburg und die Niederlausitz.13 Die Haltung von Zuchtstieren durch Gruppen von Landwirten oder durch die Gemeinden ist für die meisten Regionen in Deutschland nachgewiesen. In Bayern regelten etwa Gesetze und Verordnungen von 1857 und 1888 die gemeindliche Zuchtstierhaltung, für das Reichsland Elsass-Lothringen wurden im Jahr 1890 und 1900 Gesetze zur Zuchtstierhaltung erlassen. Gleichzeitig mit der zitierten Bekanntmachung des Kreisausschusses erließ der Landrat Stubenrauch eine PolizeiOrdnung, die nicht nur die Körung von Zuchtstieren, sondern auch deren Haltung durch Gemeinden und Genossenschaften betraf.14 Es handelte sich bei der kommunalen Zuchtstierhaltung also nicht um eine lang etablierte Tradition ländlicher Gemeinden. Vielmehr ist in allen Untersuchungsregionen festzustellen, dass diese Aufgabe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neu gefasst und staatlich standardisiert wurde. Das heißt allerdings nicht, dass es vor diesen Neuregelungen keine Zuchtstierhaltung in den Gemeinden gegeben hätte, wie wir gleich noch sehen werden. Denn das Problem war alt: Die Haltung eines Zuchtstiers war für die meist kleinen Einzelwirtschaften schlicht nicht rentabel. In Wolxheim und Bernried wurden kommunale Zuchtstiere gehalten; für Mahlow ist lediglich nachweisbar, dass nach dem Ersten Weltkrieg erwogen wurde, einen kommunalen Ziegenbock zu halten.15 In den Bernrieder Quellen stammt der erste Hinweis auf die gemeindliche Zuchtstierhaltung aus dem Jahr 1879: Der Gemeindeausschuss wählte die Sachverständigen für die Zuchtstierprüfkommission neu – offenbar existierte die Kommission bereits seit längerer Zeit, denn der Ausschuss bestätigte die beiden bisherigen Mitglieder, die Gütler Johann Fischer und Johann Demmel, per Akklamation.16 Im folgenden Jahr, als Fischers und Demmels Amtszeit erneut verlängert wurde, wurde auch der Halter des Zuchtstiers „zur Benutzung durch die Gemeinde“ erwähnt: Es war der Gütler Zach in Hapberg; er erhielt eine jährlich Entschädigung von 77 Mark von der Gemeinde.17 Zwei Jahre später, also 1882, war noch immer Johann Zach aus Hapberg der Halter des Gemeindezuchtstiers. Nun verlangte er achtzig Mark für die Haltung und zusätzlich Sprunggelder in Höhe von insgesamt siebzig Mark – fünfzig Mark reguläre Sprunggelder und zwanzig Mark fürs Nachspringen. Die

13 14 15 16 17

Bekanntmachung 26.5.1891. Ebd. Vgl. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 19.10.1921; KrA-TF, XII.295, S. 110. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 15.3.1879; GAB, B2/3, S. 3. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 7.3.1880; ebd., S. 11 f.

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Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft

Gemeindeverwaltung stimmte zähneknirschend zu, „behält sich jedoch vor, bei etwaiger Gelegenheit der [sic!] Haltung des Zuchtstieres zu versteigern“.18 5.1.2

Regelungen bis ins Detail

Der früheste Beleg für die Zuchtstierhaltung stammt jedoch aus Wolxheim: Im Oktober 1848 tagte der conseil municipal und ermächtigte den maire, auf dem demnächst stattfindenden Viehmarkt in Albé, rund 35 Kilometer entfernt, einen neuen Zuchtstier der Rasse Simmenthaler zu kaufen. Der bisherige Zuchtstier sollte dafür verkauft werden.19 Auch für die folgenden Jahrzehnte sind vielfältige Unterlagen zur gemeindlichen Zuchtstierhaltung überliefert. Im Jahr 1863 war der Zuchtstier für vier Jahre an den Hirten Joseph Schira vergeben worden. Dieser wurde verpflichtet, den Zuchtstier gut zu füttern und ihn selbst zu jedem Sprung zu führen; einheimische Kühe durften nicht abgewiesen werden, aber das Decken von auswärtigen Kühen wurde ausdrücklich verboten, solange die lokale Verwaltung dem nicht zugestimmt hatte. Schira musste einen Bürgen stellen, der mit ihm gemeinsam dafür haftete, dass der Stier in einem guten Zustand blieb und nicht an Wert verlor. Dafür erhielt Schira jährlich 350 Francs, ausgezahlt in zwei Halbjahresraten. Die Summe mussten die Viehhalter der Gemeinde aufbringen, aber die Gemeinde zahlte sie aus.20 Erneuert wurde der Pachtvertrag nicht; auf Anordnung des Präfekten wurde der Zuchtstier vier Jahre später verkauft, und zwar an den Hirten Joseph Schira selbst.21 Unter deutscher Verwaltung kam einige Zeit später das Thema wieder auf. Im Jahr 1887 schien es abermals einen gemeindlichen Zuchtstier zu geben, denn nun entschied der Gemeinderat, dass ein zweiter Zuchtstier zu halten sei, weil die Zahl der Kühe in Wolxheim so stark zugenommen habe. Entsprechend sollte der Zuchtstierhalter, der hier nicht namentlich genannt wurde, statt 320 nun 400 Mark Unterhaltskosten erhalten.22 Vermutlich ebenfalls aus den 1880er Jahren stammt eine Drucksache der Kreisdirektion in Molsheim, die die Gemeindeverwaltungen darüber in Kenntnis setzte, wie die Zuchtstierhaltung im Kreis zu regeln sei. Die Kreisdirektion mahnte:

18 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 26.2.1882; ebd., S. 57 f., hier: S. 58. Allerdings war die Versteigerung an einen Mindestbietenden in Bayern später nicht mehr zugelassen; vgl. Art. Zuchtstierhaltung 1894, S. 494. 19 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 15.10.1848; ADBR, 8 E 554/38, S. 87. 20 Bail pour taureau communal, 1.1.1863–31.12.1866, 30.12.1862; ADBR 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 f. 21 Vente du Tareau Communal (Procès-Verbal), 4.1.1867; ebd. 22 Auszug aus dem Register der Berathungen des Gemeinderaths, Gemeinde Wolxheim, Sitzung vom 10.2.1887, in: Bail pour taureau communal, 1.1.1863–31.12.1866, 30.12.1862; ebd.

Der kommunale Zuchtstier

Bei dem hohen Werthe, welchen die Rindviehzucht für alle Landwirthe erreicht hat, ist es überall als eine der wichtigsten Aufgaben der Gemeinde-Verwaltung zu betrachten, für eine möglichst vollkommene Zuchtstierhaltung zu sorgen. […] Am besten geschieht die Zuchtstierhaltung durch die Gemeinde selbst, indem sie die Zuchtstiere ankauft und durch einen tüchtigen Wärter auf ihre Kosten in einem eigenen oder gemietheten Stalle füttern und pflegen läßt.23

Zur Verbesserung der Zuchtqualität sollte die „wilde“ Zuchtstierhaltung ein Ende haben, „welche es dem Zufall und dem Belieben einzelner Viehzüchter überläßt, ob, wie viele und welcher Art Stiere gehalten werden“.24 Die Gemeinde möge nicht sparen, sondern dem Stierhalter reichliche Vergütung zahlen, „sei es in Gemeindegut oder Geld“.25 Im Jahr 1900 regelte das Ministerium für Elsass-Lothringen die Zuchtstierhaltung schließlich gesetzlich und gab bis ins Detail vor, was für die Vergabe und Haltung der Zuchtstiere zu bedenken war. In der Dienstanweisung für den Gemeindestierwärter wurde sogar festgelegt, wieviel Kilogramm Heu und geschroteten oder gequetschten Hafer das Tier täglich erhalten solle.26 Aus den bisherigen Belegen wird vor allem deutlich, dass die Verwaltung die Haltung von Zuchtstieren forcierte und förderte, um die Qualität der Viehzucht zu verbessern. Weder die Kreisverwaltungen noch das Ministerium hätten auf die einzelnen Landwirte direkt einwirken und vorschreiben können, wie sie einen Stier zu halten hatten. Aber die Gemeinden konnten in die Pflicht genommen werden. Die Regelungen im Elsass zeigen, dass die Verwaltung bereit war, bis ins kleinste Detail hinein zu regeln, wie die Stierhaltung aussehen sollte. Es handelt sich also um ein sehr interessantes Beispiel für die Verregelung und staatliche Standardisierung eines genossenschaftlichen Problembereichs. 5.1.3

Gemeinde oder Genossenschaft?

Die Zuchtstierhaltung wurde also sukzessive staatlicherseits geregelt. Das Problem wird allerdings etwas komplexer, wenn man genauer untersucht, wie die Zuchtstierhaltung finanziert wurde. Denn dann zeigt sich, dass wir es hier wieder einmal nicht mit einer einfachen Verstaatlichung, sondern einer langandauernden Verflechtung unterschiedlicher Instanzen zu tun haben, in diesem Fall von der politischen Gemeinde und der Gemeinschaft der Viehhalter:innen.

23 Allgemeine Vorschriften über die Zuchtstierhaltung im Kreise Molsheim, o. D. [1880er Jahre?], S. 1, in: Bail pour taureau communal, 1.1.1863–31.12.1866, vom 30.12.1862; ebd. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Die Haltung der Zuchtstiere in Elsaß-Lothringen (Drucksache), 1901; ebd.

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Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft

Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde in Wolxheim eine Mischfinanzierung der Zuchtstierhaltung praktiziert: Der Hirte, der den Stier bei sich unterbrachte, erhielt Grundstücke aus Gemeindeeigentum zur Nutzung überlassen, zudem drei Mark Sprunggeld für die erfolgten Deckungen – bei 136 deckfähigen Kühen in Wolxheim waren das immerhin 408 Mark. Auch die Deckung von Kühen aus anderen Orten war gegen eine Gebühr von drei Mark möglich.27 Einerseits bezahlten also die Viehhalter:innen die Sprunggelder, deren Höhe über die Gemeinde geregelt war, direkt an den Hirten, andererseits erhielt er gemeindliche Ressourcen zur Nutzung. Noch in der Zwischenkriegszeit galten ähnliche Konditionen für die Stierhaltung.28 Im Jahr 1937 gab es Auseinandersetzungen darüber, wer die Nebenkosten der Zuchtstierverwaltung – vor allem die Aufwendungen für den Gemeinderechner und den Sekretär – zu zahlen habe. Das Finanzamt von Molsheim bezog zugunsten des Hirten Stellung: Keinesfalls dürften diese Gebühren dem Stierhalter selbst in Rechnung gestellt werden: „Ihr Stierhalter ist sehr schlecht bezahlt in Bezug auf andere Gemeinden.“29 Aus der Gemeindekasse sollten sie aber auch nicht bezahlt, sondern auf die Viehhalter umgelegt werden. Der Vertrag, der 1945 über die Zuchtstierhaltung abgeschlossen wurde, sah eine Summe von 18.000 Francs jährlich vor, die aus der Gemeindekasse vorgestreckt, dann aber von den Viehbesitzern der Gemeinde eingezogen werden sollten.30 Die bayerische Gemeindeordnung von 1869 legte strikt fest, dass die Unterhaltung der Zuchtstiere nicht zu den Gemeindeausgaben gehöre. Allerdings gehöre es durchaus zu ihren Aufgaben, sich um die Anschaffung und Unterhaltung des Zuchtviehs zu kümmern, wenn die Beteiligten sich nicht selbst organisierten.31 Musste die Gemeinde eingreifen, so hatte sie eine ganze Menge Aufgaben zu erledigen: Der Bürgermeister musste Listen über das fasel-, also zuchtfähige Rindvieh sowie die Absprachen mit den Viehhaltern führen und die entsprechende Buchführung

27 Vertrag betr. die Beschaffung und Unterhaltung der Zuchtstiere während der Zeit vom 1. Juni 1901 bis 1. Juni 1907, 30.5.1901; ebd. 28 Stierhalter war noch immer Philippe Schaeffer; er nutzte noch immer die gleichen Grundstücke aus Gemeindeeigentum. Dazu kamen 30 Francs pro Sprung, die per Umlage von den Viehhaltern erhoben wurden. Nun aber garantierte die Gemeinde eine Summe von 4000 Francs pro Jahr; sollten weniger Sprunggelder zusammenkommen, zahlte die Gemeindeverwaltung die Differenz. Contrat, concernant l’acquisition et l’entretien des taureaux reproducteurs pour la periode du 1.1.1938 au 1.1.1944, Wolxheim 1.1.1938; ACW, Boîte N. 29 Schreiben vom Finanzamt in Molsheim (perception de Molsheim) an den maire der Gemeinde Wolxheim, 22.1.1937; ebd. 30 Contrat, concernant l’acquisition et l’entretien des taureaux reproducteurs pour la periode du 1.4.1945 au 31.12.1950, 4.2.1946 [sic]; ebd. 31 Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 55. Ähnlich nahm auch das Gesetz von 1888 sowohl die Viehhalter als auch die Gemeinden in die Pflicht. Gesetz, die Haltung und Körung der Zuchtstiere betr. 1888, Art. 1. Vgl. auch Königliches Staatsministerien des Innern und der Finanzen 1888.

Die Nutzung gemeindlicher Ressourcen und die Regulierung der dörflichen Sozialbeziehungen

machen, also die Rechnung legen. Was die staatliche Aufsicht anbelangte, wurden diese Aufgaben analog zu den „eigentlichen Gemeindeaufgaben“ behandelt.32 So wurde zwar einerseits die politische Landgemeinde von der bäuerlichen Genossenschaft unterschieden; andererseits wurde, über den Umweg der Aufsicht und der subsidiären Regelung, die Zuchtstierhaltung trotzdem kommunalisiert. Die Haltung des Zuchtstiers wurde allerlei gesetzlichen Regelungen unterworfen und damit standardisiert und verrechtlicht. Allerdings tauchte der Gemeindestier in der Regel nicht in den gemeindlichen Budgets auf, denn für ihn wurde eine gesonderte Rechnung erstellt, die nicht aus den regulären Gemeindeeinnahmen, sondern über ein Umlageverfahren gedeckt wurde. Blickt man vergleichend in andere Regionen, ist die Situation überall ähnlich: Eine eindeutige Zuordnung fällt schwer, die Zuchtstierhaltung war auf der Grenze zwischen kommunaler und genossenschaftlicher Sphäre angesiedelt.33 Die Zuchtstierhaltung durch die Gemeinde und über die Gemeinde ist für die Regierungsweisen des Landes ein gutes Beispiel; sie zeigt, wie das nachbarschaftliche Pooling landwirtschaftlicher Ressourcen auf die Gemeinde als administrative Einheit übertragen, durch staatliche Vorschriften standardisiert und damit verregelt wurde. Es handelt sich hierbei also um einen Aspekt dorfgemeindlichen Regierens, wobei sowohl der Gemeinde als auch der übergeordneten Bürokratie Gestaltungsmacht zukam. Gleichwohl blieb die Genossenschaft der Viehhalter:innen sichtbar und wurde nicht mit der Landgemeinde gleichgesetzt.

5.2

Die Nutzung gemeindlicher Ressourcen und die Regulierung der dörflichen Sozialbeziehungen

Wie die Landgemeinden in Europa als Institutionen funktionierten, hing maßgeblich von den gemeindlichen Ressourcen – vor allem dem Besitz oder den Nutzungsrechten an Wald und Wiesen – ab. Seit der Gemeindebildung im Spätmittelalter bildeten diese Güter den Kern der Gemeinden. Sie banden die Einwohner:innen

32 Königliches Staatsministerien des Innern und der Finanzen 1888, S. 494. 33 Beispielsweise für Niederösterreich Rubik 2007, S. 100 (der Stierhalter wurde von der Gemeinde entlohnt und erhielt eine gemeindeeigene Wiese zur Nutzung); in Großnottersdorf in Oberbayern (heute: Landkreis Eichstätt) gab es auch das Umlagenprinzip, zusätzlich erhielt der Stierhalter Gemeindeland; vgl. Hofmeier 2014, S. 181; in Hambuch in der Eifel mussten die Viehhalter Futter an den Stierhalter abliefern, zusätzlicher erhielt er Gemeindeland zur Nutzung und ein sog. „Stiergeld“: vgl. N.N. 2010, S. 108–110. In Alsdorf in der Eifel wurde hingegen der Stier weitgehend aus Gemeindemitteln angeschafft, dann dem Stierhalter als Eigentum zur Verfügung gestellt; vgl. Rodens 2010; in Waldberg in Bayerisch-Schwaben schaffte die Gemeinde den Stier an, die Unterhaltungskosten zahlten aber die Viehhalter per Umlage an den Stierhalter; vgl. Wahl 1995/96.

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aneinander. Ihretwegen mussten und konnten die Gemeindemitglieder gemeinsam handeln. Vereinfacht ausgedrückt: Wo es kein Gemeindegut gab, brauchte es auch keine Gemeindeversammlung, die über den Umgang mit diesen Gemeindegütern entschied.34 Und wo es keine gemeindlichen Ressourcen gab, gab es auch keine finanziellen Spielräume, um eine gemeinsame Aufgabe stemmen zu können. Auch nach 1800 brauchten Landgemeinden oft den Gemeindebesitz, um handlungsfähig zu bleiben. Nadine Vivier hat auf einen engen Zusammenhang zwischen Gemeindeautonomie und Gemeindegütern für die Frühphase der französischen Gemeindegesetzgebung hingewiesen. Das Gesetz des Jahres III hatte verfügt, dass alle Gemeinden zu Kantonalgemeinden zusammengelegt werden sollten, dass also die lokale Autonomie der bisherigen lokalen Verbände beseitigt werden sollte. Das Festhalten am gemeinsamen Besitz stellte für die Gemeinden die Möglichkeit dar, eigene Verwaltungsstrukturen zu verteidigen.35 Gemeindebesitz war also vielschichtig. Er diente den Kommunen als Garant ihrer (beschränkten) Selbstständigkeit, war Einkommensquelle für die Gemeinden oder ihre Mitglieder (oder beides). Außerdem konnte Gemeindebesitz dazu beitragen, die finanziellen Verpflichtungen der Gemeinden (und damit ihrer zahlungspflichtigen Mitglieder) für die Armen in der Gemeinde gering zu halten. Feuerholz für arme Familien konnte aus dem Gemeindewald bereitgestellt werden, die Ziege oder Gans der Dorfarmen an den Wegrändern geweidet werden, sodass eine klägliche Existenz möglich blieb. Die gemeindlichen Besitztümer und Ressourcen hatten viele Funktionen. Nicht zuletzt konnten soziale Beziehungen im Dorf über sie ausgehandelt werden. Handlungsspielräume hatten nicht nur die Vorsteher und Räte in den Gemeinden, sondern auch die staatliche Bürokratie, die im 19. Jahrhundert die ländlichen Gemeingüter stark regulierte.36 5.2.1

Jagdverpachtung gegen Geld und Wohlwollen

Die Gemeinde Bernried verpachtete in regelmäßigen Abständen die Jagdrechte auf ihrem Territorium. Die Wälder selbst, die bis zur Säkularisation dem Augustinerchorherrenstift Bernried gehört hatten, wurden bei der Versteigerung des Klosterguts nicht mit einbezogen, sondern gingen an den Staat.37 Doch gejagt wurde nicht nur im Wald, sondern auch auf der Gemeindeflur. Mit der Revolution von 1848 war das Jagdrecht vom adligen Privileg zum gemeindlichen Regelungsfeld geworden. Denn auch jetzt durfte nicht jeder auf seinem eigenen Grund und Boden jagen. Das Jagdgesetz sah vielmehr vor, dass, von Ausnahmen abgesehen, die jeweilige 34 35 36 37

Vgl. Kümin 2013, S. 66 f.; außerdem: Zimmermann 1996. Vgl. Vivier 2002. Vgl. ebd., S. 164. Besonders gilt das für Wald als Gemeindebesitz; vgl. Grewe 2004. Vgl. Scherbaum 1997b, S. 127.

Die Nutzung gemeindlicher Ressourcen und die Regulierung der dörflichen Sozialbeziehungen

Gemeinde für die Vergabe des Jagdrechts zuständig war.38 Also wurde es verpachtet und der Pachtschilling in die Gemeindekasse einbezahlt. Da es ja aber letztlich das Jagdrecht der Grundbesitzer:innen war, das hier verpachtet wurde, musste es rückwirkend mit deren Zahlungsverpflichtungen verrechnet werden. Hier war also wieder die Landgemeinde mit dem Kollektiv der Grundbesitzer:innen verflochten, aber nicht gleichgesetzt. Nach dem Fall des Jagdprivilegs 1848 änderte sich in Bernried zunächst nicht viel: Die Besitzerin des Guts, die Gräfin Montecuccoli, pachtete im Jahr 1850 die Gemeindejagd, die sie zuvor als Adelsprivileg hatte ausüben dürfen. Mit dem Verkauf des Guts an den Freiherrn August von Wendland ging auch der Pachtvertrag an ihn über.39 Jeweils für zehn Jahre wurde nun die Jagd an von Wendland verpachtet. Im Jahr 1880 entschloss sich die Gemeindeverwaltung schließlich, von der Versteigerung der Jagdpacht abzurücken und eine Ausnahmeregelung im Jagdgesetz zu nutzen, um die Jagd ohne vorherige Versteigerung direkt an Maximilian von Wendland, den Erben des Familienbesitzes, zu vergeben.40 Bürgermeister Josef Gröber begründete das gegenüber der Grundbesitzerversammlung mit mehreren Argumenten. Die Gemeindejagd liege ungünstig und sei nicht besonders groß,41 weshalb nicht damit zu rechnen sei, dass man einen ähnlichen Preis per Versteigerung erreichen könne. Bei einer Versteigerung an einen anderen Bieter müsse die Gemeinde außerdem damit rechnen, dass der Zustand der Gemeindejagd leiden werde und eine Neuverpachtung nach Ablauf des jetzigen Vertrags nur noch zu einem geringeren Betrag möglich sei. Zudem sei die Gemeinde dem Gutsherrn persönlich verbunden: „Außerdem haben viele hiesige Gemeindebürger bei Freih. v. Wendland ihren Verdienst, u. wollen durch diesen Modus der Jagdverpachtung ihre Dankbarkeit bezeugen.“42 Diese Begründungen waren offenbar ausreichend; von den 31 stimmberechtigten Grundbesitzern stimmten 29 der Änderung zu.43 Dieses neue Verfahren hatte nicht Gröber selbst ersonnen, sondern es war offenbar ein Wunsch der Gutsverwaltung gewesen. Die Gemeinde kam also dem Gutsbesitzer entgegen. Allerdings stellte die Gemeindeverwaltung nun auch neue

38 Vgl. Vollwein 1885, Art. 1 bzw. S. 5–11. 39 Zertifikat [über die Jagdpacht], 18.11.1850; GAB, A75/2; Tabellarische Übersicht über die Gemeindejagd, 13.3.1857; ebd. (zur Übernahme des Pachtvertrags durch v. Wendland). Das Gleiche geschah 1914, als Maximilian von Wendland das Gut an Eduard Scharrer und seine Ehefrau Wilhelmina Busch-Scharrer verkaufte. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 1.6.1914, S. 13 f.; ebd. 40 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 28.11.1880; GAB, B2/3, S. 25 f. 41 Sie umfasste 850 Tagwerk, das entspricht knapp 290 ha. 42 Protokoll der Versammlung der Grundbesitzer der Gemeinde Bernried, 15.12.1880; GAB, B2/3, 2. Hälfte, S. 1 f., hier: S. 2. 43 Protokoll der Versammlung der Grundbesitzer der Gemeinde Bernried, 15.12.1880; ebd., S. 1 f.

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Bedingungen gegenüber dem Pachtvertrag von 1861. Eine Bedingung der Gemeinde bezog sich auf den Zahlungsmodus: Die Hälfte des Gesamtbetrags sollte direkt zu Beginn der Vertragslaufzeit fest angelegt werden. Was mit diesem Geld und vor allem mit den Zinserträgen passierte, ob sie auch auf die Grundbesitzer umgelegt wurden oder in den Gemeindehaushalt flossen, ist nicht nachvollziehbar. Doch es hatte sich noch mehr verändert: Die Gemeindejagd war inzwischen mehr als nur ein Recht, sie war zu einem Ordnungsbereich geworden, der mit bestimmten Pflichten einherging. Seit der königlichen Verordnung von 1863 musste der Jagdpächter nun dafür sorgen, dass sich der Wildbestand in der Jagd nicht zu stark vermehrte.44 Die Distriktspolizeibehörde (wenn auch nicht die Ortspolizeibehörde, denn das wäre die Gemeindeverwaltung selbst gewesen) hatte sogar das Recht, dem Jagdpächter Auflagen zu machen, bis wann er das Wild zu schießen hatte. Traten besondere Wildschäden auf, musste der Jagdpächter Schadensersatz leisten.45 Diese Bedingungen waren nun zwischen Gemeindeverwaltung und Gutsverwaltung im Pachtvertrag eindeutig festgelegt.46 Die Verpachtung der Gemeindejagd in Bernried ist ein Beispiel dafür, wie die Gemeindeverwaltung die wenigen Ressourcen, über die sie verfügte, möglichst sinnvoll zu nutzen versuchte. Allerdings verfolgte sie nicht ausschließlich das Ziel, möglichst hohe Erträge daraus zu ziehen. Das war sicher eine wichtige Motivation, der Verpachtung zuzustimmen, ebenso wie die Umwandlung des Pachtschillings in eine feste Kapitalanlage für die Gemeinde. Doch gleichzeitig sorgte die Gemeinde dafür, dass mit der Jagdverpachtung lokale Beziehungen gepflegt wurden. So mag es durchaus sein, dass der Bürgermeister und die Grundbesitzer tatsächlich der Meinung waren, dass ein lokaler Pächter am ehesten dafür garantiere, dass die Gemeindejagd in ihrem guten Zustand erhalten bleibe. Vor allem aber ging es offenbar darum, die Verbundenheit der Gemeinde mit dem Gutsbesitzer unter Beweis zu stellen. Anfang der 1880er Jahre gab es eine ganze Reihe von gemeinsamen Unternehmungen von Gemeinde- und Gutsverwaltung; dazu gehörte neben dem Schulhausbau (s. o. Kap. 3.4) auch der Neubau des Armenhauses (s. u., Kap. 7.1). In dieser Situation, da die Gemeindeverwaltung auf die gute Zusammenarbeit und 44 „Der Wildstand darf jedoch in keinem Jagdbezirke eine der Land- oder Forstwirtschaft schädliche Ausdehnung gewinnen“ (§1), zum anderen „Ergibt sich in einem Jagdbezirke ein der Land- oder Forstwirtschaft nachteiliger Wildbestand, so hat der zur Jagdausübung Berechtigte denselben in der von der Distriktspolizeibehörde vorgeschriebenen Zeit und in dem von ihr bestimmten Maße abzumildern“ (§18, Abs.1); Königlich allerhöchste Verordnung [1863], S. 78 u. 85. 45 Vgl. Pachtvertrag über die Ausübung des Jagdrechtes auf der [sic] zur Gemeinde Bernried gehörigen Grundstücken, 28.12.1880; GAB A75/2. Dies entsprach dem Gesetz, den Ersatz des Wildschadens betreffend [1850]. 46 „Wenn der Stand der Rehe zu hoch sei, so wird die Zahl der Rehe abgeschlossen. Ein Wildschaden wird laut einer unparteiischen Commission entschädigt.“ Protokoll der Versammlung der Grundbesitzer der Gemeinde Bernried, 15.12.1880; GAB, B2/3, 2. Hälfte, S. 1 f., hier: S. 2.

Die Nutzung gemeindlicher Ressourcen und die Regulierung der dörflichen Sozialbeziehungen

das freiwillige Engagement des Gutsherrn angewiesen war, lohnte es sich, ihm in Sachen Jagd entgegenzukommen. Neben dem ökonomischen Kapital, das sich bei der Jagdverpachtung erzielen ließ, hatte die Gemeinde also auch noch andere Arten von Kapital im Auge, die durch die Vergabe der gemeindlichen Ressourcen generiert werden konnten – das soziale beispielsweise, also soziale Beziehungen, die sich hoffentlich wieder in ökonomischen Nutzen übersetzen ließen.47 5.2.2

Die kommunale Ökonomie des Notbehelfs

Auch die Gemeinde Wolxheim verfügte nicht über große Ressourcen, mit denen sie die Gemeindekasse füllen konnte. Sie besaß ebenso wenig wie Bernried oder Mahlow einen Gemeindewald, der in anderen Gemeinden Europas zuverlässig für einen bequemen Grundstock an Gemeindeeinnahmen sorgte.48 In Wolxheim galt vielmehr: Kleinvieh macht auch Mist. Die Gemeinde verpachtete zugunsten der Gemeindekasse die unterschiedlichsten Güter. Das begann bei der Allmende, die in 36 Teilstücke aufgeteilt war, und hörte beim Straßenkehricht noch lange nicht auf. Insgesamt sind für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts folgende Verpachtungen gemeindlicher Ressourcen überliefert, die keineswegs alle zur Kategorie der klassischen Gemeingüter gehörten:49 - Die Vermietung des Gemeindespeichers über der Lehrerinnenwohnung,50 - die Vermietung des Kellers im Gemeindehaus, - die (punktuelle) Vermietung des Gemeindesaals an Notare, z. B. für Versteigerungen, - die Verpachtung der Teilstücke der Allmende, - die Verpachtung von Wiesen an der Bruche an Schäfer,51 - die Verpachtung des Ladeplatzes an der Bruche, - die Versteigerung des Gemeinde-Zuchtstiers (vor 1870), - die Verpachtung der Fischereirechte in der Bruche,52 - die Versteigerung des Straßenkehrichts, - die Versteigerung der Jauche aus den Gemeinde-Aborten, - die Versteigerung des Grunds aus den Gemeindewegen (offenbar aus den Straßengräben). 47 Die Dimension des Kapitaltauschs deutet sich hier nur an. Vgl. Bourdieu 1983. 48 Vgl. Franz 2006. 49 Die meisten dieser Verpachtungen kann ich für die Zeit um 1900 nachweisen, es gibt allerdings auch vereinzelte Hinweise auf ältere Verpachtungen, bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein. Der allergrößte Teil der Pflichtenhefte findet sich in ADBR, 8 E 554, Dépôt 2013, Boîte 2 g. 50 Pflichtenhefte der Jahre 1878 bis 1900; ACW, Boîte N. 51 Vgl. die Unterlagen ebd., die allerdings nicht die Pflichtenhefte umfassen, sondern nur Schriftwechsel im Zuge von kleineren Problemen in den Jahren 1901 und 1909. 52 Fischerei-Verpachtungen von 1885 und 1891; ADBR, 8 E 554, Dépot 2013, Boîte 2 d.

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Keine dieser Verpachtungen oder Vermietungen brachte große Summen ein. Trotzdem ist die Praxis des Vermietens und Verpachtens gemeindlicher Ressourcen von besonderem Interesse für dieses Thema. Denn sie zeigt, zu welchem Grad die Gemeinden über das Management ihrer Ressourcen soziale Verhältnisse vor Ort aushandeln und regeln konnten. Dieses Mikro-Management lässt sich in fünf Gesichtspunkte unterteilen: Erstens wird an diesen Versteigerungen gut sichtbar, wie die Nutzung verrechtlicht und bürokratisiert wurde. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich ein fester Ablauf der Vergabe herausgebildet. Die Güter, so klein und geringfügig sie auch waren, wurden im Rahmen einer offiziellen Versteigerung an den Meistbietenden vergeben, der dazu einen Mitsteigerer oder solventen Bürgen stellen musste, sodass in der Regel zwei Wolxheimer Bürger über die jeweils ersteigerte Ressource verfügen konnten. Die Laufzeit der Verpachtung variierte sehr stark – während zum Beispiel die Fischereirechte und auch die Nutzung der Allmendestücke langfristig vergeben wurden (in der Regel für neun Jahre), lief der Pachtvertrag über die Nutzung des Straßenkehrichts nur über ein Jahr. Zu den Unterlagen der Verpachtung gehörten das Protokoll, das in mehreren Exemplaren ausgefertigt wurde, und das Lastenheft, das die Bedingungen der Pacht vorgab. Diese Hefte zeigen, in welchen Bereichen die Gemeinde Regelungsbedarf sah und die Regelungshoheit für sich reklamierte. Immer waren in den Heften die Pachtdauer und die Modalitäten der Pachtzahlungen sowie die Nebenkosten vermerkt. Die Rechte und Pflichten, die hier festgehalten wurden, zeugen aber vom breiten Spektrum des gemeindlichen Regelungswillens. Das Lastenheft zur Vermietung des Gemeindespeichers klärte vor allem Haftungsfragen: Dem Pächter war es nicht gestattet, bauliche Veränderungen vorzunehmen oder den Speicher unterzuvermieten; vor allem aber war es ihm strengstens untersagt, brennbare Materialien wie Stroh oder Futtermittel dort zu lagern.53 Das Lastenheft für die Fischereirechte sollte die Gemeinde vor Schadensersatzansprüchen bewahren: Die Gemeinde schloss kategorisch aus, bei Eisgang, Niedrigwasser oder baulichen Veränderungen durch die Wasserbauverwaltung Entschädigungen zu zahlen.54 Schließlich dienten die Lastenhefte auch dazu, Nutzungsvorschriften zu machen. So sah das Lastenheft für die Verpachtung der Allmende zum Beispiel vor, dass

53 Pflichtenheft vom 2.8.1900: Vermietung eines Gemeindespeichers; ACW, Boîte N. 54 Bedingungen für die Verpachtung der Fischerei in der Breusch innerhalb der Gemarkung von Wolxheim, 10.1.1891; ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 d. Dennoch beantragte der Pächter der Fischereirechte, Ignatz Sigrist, im Jahr 1899 eine Ermäßigung seiner Pachtgebühren im Zuge der Bruche-Regulierungen. Der Gemeinderat verhandelte das Problem noch einmal, zog sich aber auf die Position zurück, dass die Gemeinde nicht haftbar zu machen sei. Auszug aus dem Register der Berathungen des Gemeinderaths, Sitzung vom 29.1.1899; ebd.

Die Nutzung gemeindlicher Ressourcen und die Regulierung der dörflichen Sozialbeziehungen

die Pächter die Grundstücke in gutem Zustand halten mussten und gegebenenfalls auch Verbesserungen an der Substanz durchzuführen hatten, die dann der Gemeinde zugutekamen.55 Auch die Fischereipächter mussten nachhaltig wirtschaften: Sie mussten regelmäßig Jungfische in die Bruche einsetzen, sodass sie nicht die Bestände vollständig leerfischten, ohne gleichzeitig für Nachschub zu sorgen.56 Im Lastenheft für die Verpachtung des Straßenkehrichts wurden wirklich sehr konkrete Vorschriften gemacht: „Die Steigerer dürfen den Dünger auf den Gemeindewegen aufheben nur nach sechs Uhr vormittags vom 15 März bis zum 15. September und nur nach acht Uhr die sechs anderen Monate und nie nach Sonnenuntergang.“ Zudem durften sie lediglich hölzernes Gerät verwenden und hatten für Beschädigungen an den Gemeindewegen selbst aufzukommen. Die Bedingungen, unter denen der Grund der Gemeindewege vergeben wurde, erinnern an die Verpachtung der Bernrieder Gemeindejagd, denn auch hier handelte es sich offenbar nicht nur um ein Recht, sondern zugleich um eine Pflicht, der die Pächter nachzukommen hatten: „Die Steigerer müssen den Grund bis spätestens den 1. April 1898 von den Gemeindewegen enthoben haben, widrigenfalls derselbe auf Kosten der Steigerer wird abgetragen werden.“57 Die Versteigerung des Straßenschmutzes war also gleichzeitig eine günstige Variante für die Gemeinden, die Straßen stets sauber zu halten. Wir haben es hier also mit einer Formalisierung und Bürokratisierung eines Verfahrens zur Vergabe der gemeindlichen Ressourcen zu tun. Die Bürokratisierung war auch mit Kosten verbunden: Die Lastenhefte sahen jeweils vor, dass mit der ersten Pachtzinszahlung auch eine Stempelgebühr in Höhe von zwanzig Prozent des Gesamtbetrags fällig wurde, für die Ausfertigung der notwendigen Schriftstücke. Zweitens waren die dörflichen Ressourcen vollständig kommunalisiert.58 Sie waren also nicht mehr genossenschaftliches Gut, das heißt der Erlös floss nicht den einzelnen Genossen zu, sondern ging an die Gemeindekasse. Die zumindest theoretisch kollektiv nutzbaren Ressourcen waren zudem in kleine Stücke unterteilt und mit einem Preis versehen, sie waren also zusätzlich monetarisiert. Über die Versteigerungen wurden sie auch tatsächlich eingesetzt, um der Gemeinde finanzielle Einkünfte zu verschaffen. Nur in einem Fall gibt es einen Beleg dafür, dass eine gemeindliche Aufgabe direkt in Nutzung eines Stücks Gemeindebesitz aufgewogen

55 Verpachtung der Grundstücke in der Gewann Allmend (1920–1929); ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 g. 56 Bedingungen für die Verpachtung der Fischerei in der Breusch innerhalb der Gemarkung von Wolxheim, 10.1.1891; ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 d. 57 Grund aus den Gemeindewegen 1898; ADBR, 8 E554, Depôt 2013, Boîte 2 g. 58 Die Kommunalisierung von Kollektivgütern war eine typische Umgangsweise mit den Gemeinheiten in der Neuzeit, vor allem in Frankreich; vgl. Grüne, Hübner, Siegl 2016, S. 286.

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wurde. Ein Los der Allmende wurde 1920 nicht versteigert, sondern dem Zuchtstierhalter unentgeltlich zur Nutzung übergeben, als Anteil der Gemeinde an der Aufgabe der Haltung des Stiers.59 Am Ende des 19. Jahrhunderts machten die vielen kleinen Beträge in Wolxheim einen erheblichen Anteil an den Einnahmen der Gemeinde aus. Für das Rechnungsjahr 1895/96 liegen uns die Belege der Gemeinderechnung vor, woraus eine erkleckliche Summe von finanziellen Einkünften aus Gemeinderessourcen errechnet werden kann: Tabelle 5 Einnahmen der Gemeinde Wolxheim aus gemeindlichen Ressourcen, Rechnungsjahr 1895/96 (Beträge in Mark) Miete für Gemeindegebäude Miete für den Gemeindesaal Pachtzins für Gemeindeländereien Versteigerung des Grases an den Gemeindewegen Verkauf von Straßenkot Entschädigung für Jauche (aus den Schulaborten) Jagdpacht Verpachtung des Ladeplatzes Fischereipacht Nutzung von Grund und Weiden (Bäume) an den Gemeindewegen

124,00 21,60 493,20 144,00 21,00 40,00 140,00 40,00 80,00 40,00 1143,80

Die Einnahmen der Gemeinde beliefen sich in jenem Rechnungsjahr auf 7322,64 Mark; damit lag der Anteil der Gemeinderessourcen an dieser Gesamtsumme bei immerhin gut 15 Prozent. Gunther Mahlerwein hat für die Gemeinde Eich in Rheinhessen, allerdings im Jahr 1766, errechnet, dass sie rund 35 Prozent der Gemeindeeinnahmen durch die Versteigerung von Fischereirechten sowie den Nutzungsrechten für Gras, Schilfrohr, Holz, Obst und Weiden decken konnte; insgesamt kam ein Betrag von 784 Gulden zusammen.60 Demgegenüber waren die Einkünfte der Gemeinde Wolxheim bescheidener, allerdings verfügte die Gemeinde mit den kommunalen Umlagen auch über weitere stabile Einkünfte. Die entscheidende Frage war dabei gar nicht so sehr, welchen Anteil an den Gemeindeeinnahmen insgesamt die Versteigerung der Ressourcen ausmachte,61

59 Vgl. Lastenheft zur Verpachtung der Grundstücke in der Gewann Allmend der Gemarkung Wolxheim, 8.12.1920; ABDR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 g. 60 Mahlerwein 2004, S. 84. 61 Denn die Gemeindeeinnahmen wurden erheblich erhöht durch staatliche Zuschüsse und Gebühren aller Art. Diese waren aber nicht von den Gemeindebürgern, zumindest nicht von allen gleichermaßen, aufzubringen. S. u., Kap. 5.3.

Die Nutzung gemeindlicher Ressourcen und die Regulierung der dörflichen Sozialbeziehungen

sondern eher, in welchem Maße dies die gemeindlichen Umlagen der Einwohner:innen reduzieren konnte. Diese lagen im entsprechenden Rechnungsjahr bei 2696,86 Mark; der von der Gemeinde insgesamt aufzubringende Betrag für den Haushalt konnte zu einem Drittel aus der Verpachtung der Gemeinderessourcen gedeckt werden.62 Zur Kommunalisierung der Ressourcen gehörte also auch, dass die Gemeindeeinnahmen die Umlagepflichtigen entlasteten, die dadurch geringere Beträge zahlen mussten. Auch die kommunalisierten und gegen Geldzahlungen versteigerten Kollektivressourcen dienten letztlich wieder dem Zweck, die individuellen finanziellen Spielräume zu vergrößern (oder zumindest nicht weiter zu begrenzen).63 Allerdings handelte es sich bei der Kommunalisierung und Monetarisierung der gemeindlichen Ressourcen nicht um ein Nullsummenspiel. Gerade in Frankreich drängte die staatliche Verwaltung bereits seit dem 18. Jahrhundert auf die gemeindliche Verpachtung, etwa der Allmende. Die Einnahmen sollten unter anderem dazu dienen, dass die Gemeinden ihre wachsenden Aufgaben besser schultern konnten.64 Entsprechend steht diese Form des Managements kollektiver Ressourcen in einem engen Zusammenhang mit der Gouvernementalisierung der Gemeinden und der Ausweitung der Kommunalaufgaben (und damit der Belastung der kommunalen Haushalte) seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Drittens gibt es eine wichtige Parallele zwischen der gemeindlichen Wirtschaft, wie ich sie hier am Beispiel Wolxheims dargestellt habe, und den Strategien (kleinund unter-)bäuerlicher Wirtschaftsweise, wie sie in den letzten Jahren immer wieder charakterisiert worden sind. Mit dem Begriff der „Ökonomie des Notbehelfs“ lässt sich diese Wirtschaftsweise gut beschreiben; dies hat beispielsweise Rita Gudermann vorgeschlagen, um die vielfältigen Nutzungen der kollektiven Ressourcen durch die ländlichen Unterschichten zu beschreiben.65 Während der Begriff der economy of makeshift die (existenzielle) Not sehr stark in den Vordergrund rückt und jedwede, auch sehr kurzfristige Taktik zur Sicherung des Überlebens in den Blick nimmt, existiert in der französischen Forschung zum ländlichen Raum ein anderer Begriff, der vor allem längerfristige, strategische Entscheidungen von bäuerlichen Betrieben bezeichnet: die pluriactivité. Bäuerliche Familienbetriebe in Frankreich (und darüber hinaus) zeigten, so die Forschung seit den 1980er Jahren,

62 Hypothetisch wird der Gesamtbetrag als die Summe aus der Verpachtung der gemeindlichen Ressourcen und den Umlagen angenommen; diese beträgt 1143,80 Mark + 2696,86 Mark = 3480,66 Mark. Entsprechend lag der Anteil der Vermietungs- und Verpachtungserlöse bei knapp 33 Prozent der hypothetischen Gesamtsumme. 63 Vgl. Mahlerwein 2004, S. 82. 64 Vgl. Vivier 2002, S. 163. 65 Gudermann 2004.

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eine durchaus modern zu nennende Flexibilität und strategische Offenheit, um das wirtschaftliche Überleben zu sichern.66 War also der gemeindliche Umgang mit den Ressourcen nur ein Spiegelbild der betrieblichen Logik der kleinen Winzer in Wolxheim? Machte die Gemeinde deshalb auch noch die kleinste Ressource zu Geld, weil auch die ländlichen Haushalte häufig auf eine Strategie der pluriactivité setzten, setzen mussten, um ihr Haushaltseinkommen zu sichern? Sicherlich war das ein Faktor, aber nur einer unter mehreren. Im Zuge der Analyse werden wir sehen, dass es auch andere, nicht nur rein ökonomische Faktoren waren, die eine kommunale Ökonomie des Notbehelfs, wie ich sie vorläufig nennen möchte, nahelegten. Die Gemeinde achtete darauf, dass keine Ressource verschwendet wurde. Hierin ähnelte die gemeindliche der bäuerlichen Wirtschaftslogik.67 Somit dürften die gemeindlichen Akteure der Einschätzung des Wasserbauingenieurs Peitary aus Straßburg kaum zugestimmt haben. Dieser hatte nach der Regulierung der Bruche festgestellt, dass die Flussufer nun in das Eigentum des Flussbauverbandes übergegangen seien; daher könne die Gemeinde die Fischereirechte nicht mehr versteigern. Doch sei der Erlös ja ohnehin gering gewesen, und der Hauptnutzen der Versteigerung liege doch darin, im Falle einer Beschädigung der Ufer den Pächter haftbar machen zu können.68 Für die Gemeinde brach damit jedoch eine der vielen kleinen Einnahmen weg, auf denen die gemeindliche Ökonomie des Notbehelfs basierte. Doch nicht alle Möglichkeiten der Ressourcennutzung verschlechterten sich mit der Zeit. Im Jahr 1929 stand eine Neuverpachtung der Allmendelose an. Der Bürgermeister schlug vor, zehn Teilstücke nicht mehr zu verpachten, sondern durch die Gemeinde selbst zu bewirtschaften. Diese Grundstücke waren keine reinen Wiesen, sondern es wuchsen Erlen darauf. Die Gemeinde versprach sich davon die Möglichkeit, Holz zu verkaufen und so die Gemeindekasse zu füllen. Denn ausgerechnet diese Grundstücke wurden sehr günstig verpachtet, weil sie als Weide nicht besonders gut geeignet waren. Der Pachtzins lag mit nur zwei oder drei Francs pro Jahr viel niedriger als mögliche Erlöse aus dem Holzverkauf.69

66 Als Überblick dazu: Mayaud 2004; Mayaud 1999; Beck 2004; Medick 1996; Mooser 1984. 67 Vgl. dazu auch die Wirtschaftslogik prekärer Existenzen im 19. Jahrhundert, die Timo Luks (2016) mit einem Begriff von Alison Light als penny capitalism beschreibt. 68 Peitary (Meliorationsbauinspektor) an den Kreisdirektor in Molsheim, 18.12.1899; ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 d. Ignatz Sigrist hatte die Fischereirechte in der Bruche zu einem Preis von achtzig Mark pro Jahr auf neun Jahre ersteigert; offenbar war diese Ressource beliebt und es hatte mehrere Interessenten gegeben, denn das Startgebot wurde mit nur zwanzig Mark angegeben; vgl. Protokoll der Versteigerung der Fischereirechte in der Breusch, 29.1.1891; ebd. 69 Vgl. Lastenheft zur Verpachtung der Grundstücke in der Gewann Allmend der Gemarkung Wolxheim, 8.12.1920; ABDR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 g.

Die Nutzung gemeindlicher Ressourcen und die Regulierung der dörflichen Sozialbeziehungen

Möglicherweise hatte der Gemeinderat auch die Hoffnung, dass die Einnahmen durch eigene Bewirtschaftung besser steuerbar waren – keine fixe Summe pro Jahr, sondern bei Bedarf größere oder kleinere Beträge, die durch Holzschlag und -verkauf erzielt werden konnten. Der Gemeinderat stimmte dem Antrag des Bürgermeisters einstimmig zu.70 Viertens verhandelte die Gemeinde Wolxheim über die Nutzung der kollektiven Ressourcen auch die Problematik der sozialen Ungleichheit in der Gemeinde. Wie bereits herausgestellt worden ist, spielten in der Frühen Neuzeit die Gemeingüter eine wichtige Rolle für das Wirtschaften der dörflichen Bewohner, nicht nur für das der Unterschichten.71 Mit der Kommunalisierung der Gemeingüter veränderte sich dieses System – nicht ausschließlich zum Nachteil für die armen Bewohner des Dorfes. Ein Beispiel dafür ist die Parzellierung der Allmende. Im Elsass war dieses Vorgehen typisch; die Allmende wurde in kleine Parzellen aufgeteilt, die anschließend öffentlich zur zeitweisen Nutzung versteigert wurden.72 Im 18. und frühen 19. Jahrhundert hatte die Bürokratie darauf gedrungen, dass nicht nur die Besitzer im Dorf die Allmende nutzen konnten, sondern gerade auch die besitzlosen Gruppen bei der Vergabe der Allmendelose berücksichtigt werden sollten. Daher waren die Grundstücke sehr klein und wurden für sehr geringe Beträge verpachtet. Zudem sollten die Einnahmen aus der Verpachtung der Allmende auch dazu genutzt werden, die Armenkasse zu füllen, offenbar um die Abwanderung der dörflichen Unterschichten in die Städte zu verhindern.73 Die Aufteilung der Allmende in kleine Parzellen funktionierte in Wolxheim offenbar zumindest insofern, dass auch – nicht nur – Angehörige der ländlichen Unterschichten mit einem kleinen Stück Land versorgt werden konnten. Von den insgesamt 28 Pächtern der Allmende im Jahr 1839 konnten 19 mittels einer späteren Einwohnerliste identifiziert werden; von diesen 19 Personen hatten mindestens zwölf Berufe, die sie als Angehörige der dörflichen Unter- oder höchstens Mittelschicht auswiesen: Tagelöhner, Schiffer, Fuhrmann, Weber und Zimmermann. Die restlichen sieben Steigerer waren zwar Winzer, doch muss das keineswegs

70 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 8.12.1929; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 510 f. 71 Regional wurde die Integration der besitzlosen Gruppen des Dorfes sehr unterschiedlich gehandhabt. Mal erschlossen sich die landlosen und landarmen Bewohner der Dörfer vor allem über Nutzungsund Sammelrechte wichtige Einnahme- und Versorgungsquellen für ihre Haushaltungen. Doch genauso gab es die Fälle, in denen der Anteil an der Nutzung der Gemeingüter über den Besitz an Grund und Boden bestimmt wurde. Wer also bereits viel Boden zur Nutzung besaß, konnte auch einen größeren Anteil an der Allmende nutzen. Vgl. Brakensiek 1991; Grüne 2011. 72 Vgl. Vivier 2002, S. 148; Boehler 1994, S. 70–75. 73 Vgl. Vivier 2002, S. 148.

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heißen, dass sie wirtschaftlich gut gestellt waren.74 Für das Jahr 1886 liegt lediglich das Versteigerungsprotokoll für einige wenige Teile der Allmende vor; von diesen Steigerern, die nicht einzelnen Berufen zuzuordnen sind, gehörte keiner zu den Familien, die die Leitung der Gemeinde unter sich ausmachten. Und auch im Jahr 1920 scheint die Streuung über unterschiedliche Familien in der Gemeinde gut funktioniert zu haben. Die versteigerten 35 Allmendegrundstücke gingen immerhin an 22 verschiedene Bieter; die meisten von ihnen ersteigerten entsprechend lediglich ein Stück, nur in drei Fällen gelang es, drei Grundstücke in einer Hand zu vereinigen. Auch hier war nicht ein einziger erfolgreicher Bieter gleichzeitig Mitglied im Gemeinderat. Da für die Zwischenkriegszeit keine Einwohner- oder Steuerlisten überliefert sind, kann ich keine Aussage darüber treffen, zu welcher sozialen Gruppe die Bieter innerhalb der Gemeinde gehörten, doch rekrutieren sich die meisten von ihnen nicht aus dem Kreis der Familien, die den Gemeinderat dominierten. Von den Jungbluths, Joessels, Scharschs und Widts war lediglich Joseph Widt unter den erfolgreichen Bietern.75 Auch bei anderen Gemeinderessourcen waren es offenbar vor allem die Vertreter der Unterschichten, die sich an der Versteigerung beteiligten, z. B. für die Nutzung des Grases entlang der Gemeindewege. Dies deutet darauf hin, dass die Tagelöhner und Schiffer, die im Verpachtungsprotokoll auftauchten, ansonsten keine Wiesen besaßen, mittels derer sie ihr Vieh – vielleicht Ziegen oder Gänse – hätten ernähren können. Und sie hatten offenbar keine Rinder, denn diese wurden vermutlich vom Gemeindehirten, der gleichzeitig der Halter des Gemeindestiers war, gemeinsam gehütet. Die Gemeinde ermöglichte und beschränkte gleichermaßen die Nutzung der öffentlichen Ressourcen durch individuelle Einwohner:innen. Mit der Verpachtung in klar umgrenzten Abschnitten wurde die gemeinsame und ungeregelte Nutzung unterbunden, und auch die ärmsten Dorfbewohner mussten zumindest sehr kleine Beträge aufwenden, um an der Gemeindeökonomie noch partizipieren zu können. Ob die individuellen Nutzer diese Ressourcen dann zur Subsistenz oder zur Produktion für einen Markt nutzten, bleibt Mutmaßung; zu vermuten ist allerdings eher, dass die Ressourcen wie Gras, Weiden, Grund aus den Gräben und Mist von den Straßen in die Eigenwirtschaft flossen und nicht weiterverkauft wurden. Lediglich wirtschaftlich interessante Ressourcen – etwa der Keller und der Speicher des Gemeindehauses, auch der Ladeplatz –, die zur Unterstützung des Handels der Dorfbewohner dienen konnten, waren auch für die führenden Mitglieder der Gemeinde von Interesse. So diente die Versteigerung der gemeindlichen Ressourcen tatsächlich der Abpufferung sozialer Härten im Dorf; allerdings 74 Eigene Auswertung der Volkszählungsunterlagen von 1851; ADBR, 8 E 554/43 sowie des Verpachtungsprotokolls der Allmende in Wolxheim, 5.12.1839; ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 g. 75 Lastenheft zur Verpachtung der Grundstücke in der Gewann Allmend der Gemarkung Wolxheim, 8.12.1920; ebd.

Die Nutzung gemeindlicher Ressourcen und die Regulierung der dörflichen Sozialbeziehungen

betraf das lediglich diejenigen Wolxheimer, die zumindest einen eigenen Haushalt führten und geschäftsfähig waren – nur sie beteiligten sich an den Versteigerungen, denn nur sie konnten die entsprechenden Verträge unterschreiben.76 Fünftens und damit als abschließende Beobachtung zu diesem Komplex wirkt die gemeindliche Ökonomie des Notbehelfs auf den ersten Blick statisch, ist aber doch ein Phänomen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die gemeindliche Ressourcennutzung reichte zwar ins 20. Jahrhundert hinein, verlor aber deutlich an Bedeutung. Zwar sind für die Zwischenkriegszeit noch ganz ähnliche Lastenhefte überliefert, doch nach und nach bröckelten die kleinen Einnahmequellen der Gemeinde weg, denn dörfliche Ressourcen wurden uninteressant für Steigerer oder erhielten andere Funktionen. Einige gemeindliche Ressourcen gingen an andere Körperschaften, zum Beispiel an die Wässerungsgenossenschaft. Andere Gemeindegüter wurden nicht mehr innerhalb des Dorfes versteigert, sondern an Externe, etwa der Ladeplatz am Bruchekanal, den 1909 die Wolxheimer Spar- und Darlehenskasse pachtete.77 Nach dem Auslaufen dieses Mietvertrags wurde 1918 ein neuerlicher Versuch der Versteigerung gemacht – ohne Erfolg. „1918 fanden sich für den Ladeplatz keine Liebhaber mehr“, ist mit Bleistift auf dem Vertrag von 1909 vermerkt.78 Die Zeit der kommunalen Ökonomie des Notbehelfs schien langsam an ihr Ende zu kommen. *** Dieser Abschnitt hat an zwei Beispielen – der Gemeindejagd in Bernried und den zahlreichen Versteigerungen von kommunalen Ressourcen in Wolxheim – gezeigt, dass die Gemeinden ihre Ressourcen für viel mehr nutzten als nur für die Füllung der Gemeindekasse. Sie waren finanziell wichtig, doch auch andere Faktoren sind in der Analyse sichtbar geworden. Die gemeindlichen Ressourcen stellten längst nicht nur materielle, sondern auch soziale Güter dar, in dem Sinne, dass über diese Ressourcen Beziehungen hergestellt und gesteuert wurden. Ich habe gezeigt, dass die Gemeindeverwaltungen in den beiden hier untersuchten Gemeinden über die Gemeingüter Beziehungen zu reichen ebenso wie zu armen Gemeindemitgliedern strukturierten. Außerdem habe ich gezeigt, dass die Verteilung der Ressourcen auf der Prozessebene sehr unterschiedliche Formen annahm. Sie konnte sehr verrechtlicht und bürokratisiert ablaufen, so wie in Wolxheim mit den ausführlichen Pflichtenheften und sehr festgelegten Abläufen der Versteigerung. Oder sie nahm eher personale Formen an, so wie bei der Vergabe der Gemeindejagd an den Freiherrn von Wendland. Dabei spielten nicht nur unterschiedliche rechtliche Vorgaben 76 Entsprechend waren offenbar Frauen, auch wenn sie einen Haushalt führten, vom Zugriff auf die gemeindlichen Ressourcen ausgeschlossen. Zumindest brauchten sie in jedem Fall einen Mann, etwa ein männliches Familienmitglied, der sie beim Steigern und als Pächter vertrat. 77 Vermietung eines Ladeplatzes (Protokoll), 11.8.1909; ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 g. 78 Ebd.

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Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft

eine Rolle, sondern auch die Frage, mit wem die Gemeindeverwaltung interagierte. Gerade mit dem reichsten Mitglied der Gemeinde, der noch dazu der einzige bedeutende Arbeitgeber im Dorf war, mussten eben auch andere Formen der Interaktion jenseits der formalisierten Vergabe gefunden werden.

5.3

Aufschläge und andere Gemeindeeinnahmen

„Als ein wesentliches Element kommunaler Selbstbestimmung wird immer die Befugniß selbständiger Steuerbewilligung gelten müssen“, hieß es in den Motiven zur Gemeindeordnung für Elsass-Lothringen, die 1892 als Entwurf dem Landesausschuss vorgelegt wurde.79 Nicht nur die Höhe der Einnahmen, über die eine Gemeinde verfügen konnte, war bedeutend für die gemeindliche Selbstverwaltung. Ein wichtiger Faktor für die Handlungsfähigkeit des Gemeinderats war auch die Möglichkeit, nach Bedarf die Einnahmen an gestiegene Ausgaben anzupassen, etwa wenn größere Projekte anstanden. Denn in aller Regel handelte es sich bei Kommunalhaushalten um ausgabenorientierte Haushalte, die also ihre Einnahmen an die ständig steigenden Ausgaben anpassen mussten, und nicht um einnahmenorientierte, die ihre Aktivitäten an die Einnahmesituation anpassen konnten.80 Während im Laufe des 19. Jahrhunderts die Aufgaben auch der Landgemeinden stetig wuchsen, schlug sich das nicht im gleichen Maße in einer verbesserten Einnahmesituation nieder. Die Gemeindeeinnahmen waren Stückwerk, bestanden aus vielen kleinen und mittleren Posten, die die Kasse füllten – von Zuschlägen auf direkte Staatssteuern und kommunale Umlagen oder Verbrauchssteuern bis hin zu Gebühren, Zuschüssen und Spenden sowie den bereits erläuterten Einkünften aus dem Gemeindebesitz. Der Forschungsstand zu Gemeindefinanzen ist überschaubar. Neben der Arbeit von Norbert Franz zur finanziellen Seite der Durchstaatlichungsgeschichte gibt es praktisch keine Untersuchungen zur kommunalen Finanzpolitik für das 19. Jahrhundert, schon gar nicht für ländliche Gemeinden. Das ist insofern ein Problem, als dass es sich bei den kommunalen Finanzen um ein durchaus komplexes, aber auch lohnendes Forschungsobjekt handelt, wie zuletzt die Untersuchung von Paul-Moritz Rabe zur kommunalen Finanzpolitik Münchens während des Nationalsozialismus gezeigt hat.81 Norbert Franz hat deutlich gemacht, dass die Auswertung von Haushaltsplänen Aufschluss über die Gemeindeaufgaben geben kann, wenn

79 Begründung, in: Landesausschuss für Elsass-Lothringen (XIX. Session 1892). Vorlage No. 2: Entwurf einer Gemeindeordnung, Bd. 2, 14.1.1892, S. 26–38, hier: S. 28; ADBR, 39 AL 166. 80 Vgl. Rabe 2017, S. 29. 81 Ebd.

Aufschläge und andere Gemeindeeinnahmen

andere Quellen nur ausschnittweise vorliegen; jedoch hat sich Franz ausschließlich der Ausgabenseite, nicht aber den kommunalen Einnahmen gewidmet.82 5.3.1

Gemeindeeinnahmen und der Staat

Viele zeitgenössische Fachleute wollten die Gemeindeeinnahmen von denen des Staates scharf getrennt sehen. Ein Beispiel dafür ist wieder einmal Wilhelm von Thüngen, der bayerische Reichsrat und Sachverständige für die Reform der Gemeindeordnung 1869. Er machte sich gegen das Prinzip der gemeindlichen Zuschläge auf die direkten Staatssteuern stark, weil diese in unzulässiger Weise Gemeinde und Staat parallelisierten: Faßt man aber die Zwecke, für welche die Staatssteuer entrichtet wird, als öffentliche, die, für welche die Gemeindesteuer dient[,] als genossenschaftliche auf, so ist selbstverständlich die ganze Bedeutung dieser Lasten eine verschiedene, und es können die Gemeindelasten nicht als solche betrachtet werden, für welche die Vertheilungsgrundsätze in Anwendung gebracht werden können, die dem öffentlichen Charakter der Staatslasten entsprechen.83

Stattdessen wollte er die traditionellen Gemeindedienste gestärkt sehen. Sie wurden vor allem für die Ausführung von kommunalen Grundbedürfnissen, etwa im Straßenbau, angeordnet und durchgesetzt. Thüngen betonte den genossenschaftlichen Charakter dieser Dienste: Das Prinzip, auf dem die Gemeindedienste ruhen, besteht nämlich offenbar darin, daß jeder Einwohner einer Gemeinde mit aller ihm zur Verfügung stehenden Arbeitskraft zur Erreichung eines gemeinsamen Zweckes mitwirke.84

Obwohl also Aufschläge auf die staatlichen Steuern der Vorstellung entgegenstanden, die Gemeinde sei klar vom Staat verschieden, ging es offenbar nicht mehr ohne diese kommunalen Einnahmen. In allen drei Territorien bekamen die Gemeinden das Recht, innerhalb bestimmter Grenzen Aufschläge auf staatliche Steuern zu erheben. In Preußen konnten die Gemeinden sie auf die direkten Staatssteuern, die Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer, erheben. Die Einkommenssteuer sollte aber nur in Ausnahmefällen belastet werden, denn die Gemeinden sollten die Rea-

82 Franz 2006. 83 Thüngen 1869, S. 347. 84 Ebd., S. 375.

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lien, nicht die Einkommen, besteuern.85 Die Gemeinden beschlossen die Art und Höhe der Aufschläge im Zuge der Verhandlungen über den Haushalt; sie hatten aber unterschiedliche Freiheitsgrade, die Höhe unabhängig von der vorgesetzten Verwaltung festzulegen. Unter Steuerexperten – also nicht im Dorf selbst – gab es sogar theoretische Debatten darüber, weshalb die Zuschläge zu direkten Staatssteuern nun die bessere Variante für die Finanzierung der Gemeinden waren. Der Steuerexperte Georg Strutz argumentierte folgendermaßen: In der Steuertheorie gebe es zwei verschiedene grundlegende Theorien, wie die Steuerverteilung vorgenommen werden könne: die Opfer- und die Äquivalenztheorie. Während die Opfertheorie die steuerliche Leistungsfähigkeit der Besteuerten in Rechnung stellte, entsprach die Besteuerung nach der Äquivalenztheorie dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung oder nach dem „Interesse“ der einzelnen Steuerpflichten. Jene Theorie [die Opfertheorie, AS] entspricht der Auffassung der Gemeinwesen als der von dem Willen der einzelnen unabhängigen, unumgänglichen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, diese [die Äquivalenztheorie, AS] der Auffassung der Gemeinwesen als durch das Interesse der einzelnen diktierter vertragsmäßiger Vereinigungen. […] Deshalb ist die Äquivalenztheorie am Platze in Verbänden, deren Aufgabe wesentlich auf wirtschaftlichem Gebiet liegen und in dieser Hinsicht engere Beziehungen zwischen Gemeinwirtschaft und Einzelwirtschaften aufweisen, die Opfertheorie in Verbänden mit vorzugsweise dem Macht- und Rechtszwecke dienenden Aufgaben und loseren wirtschaftlichen Beziehungen zum einzelnen.86

Entsprechend sei also das Äquivalenzprinzip in Gemeinden, das Opferprinzip in Staaten recht am Platze. Das preußische Kommunalsteuerrecht, das 1893 über das Kommunalabgabengesetz neu geregelt wurde, kombinierte zwar beide Prinzipien, gab aber dem Äquivalenzprinzip das größere Gewicht. Hier wird einmal mehr deutlich, dass im 19. Jahrhundert die Gemeinde nicht umstandslos als ein Teil des Staates verstanden wurde, sondern über eine spezifische Differenz zum Staat gouvernementalisiert wurde. Die Vorstellung, die Gemeinde sei in erster Linie eine Vereinigung wirtschaftlicher Individuen zu wirtschaftlichen Zwecken, fand sogar Eingang in die Steuerpolitik. „Deshalb“, so weiter Strutz, gehört die Aufbringung der öffentlichen Lasten nach dem Grundsatze von Leistung und Gegenleistung und gehören die zu einer solchen geeigneten Realsteuern in erster Linie in

85 Vgl. Nöll, Freund 1919, S. 3. 86 Strutz 1917, S. 214 f.

Aufschläge und andere Gemeindeeinnahmen

die Gemeinde. Denn sie ist das engste, die unmittelbarsten Beziehungen zu seinen Angehörigen schaffende steuerberechtigte Gemeinwesen und wesentlich ein wirtschaftlicher Verband, der an erster Stelle diejenigen Vorbedingungen zu erfüllen hat, auf denen das nachbarliche, wirtschaftliche Zusammenleben und die Erwerbstätigkeit der einzelnen beruht.87

So wurde also in der Besteuerungstheorie erneut eine Grenze zwischen den Gemeinden und dem Staat gezogen. Doch gerade anhand der Praxis der Gemeinden werde ich in den folgenden Abschnitten zeigen, wie sehr die Gemeinden auf die Aufschläge auf die direkten Staatssteuern angewiesen waren. Das hatte den Effekt, dass Gemeinden und Staat trotz allem im Finanzsystem eng aufeinander bezogen waren. Dieser Bezug verstärkte sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sogar noch. 5.3.2

Spielräume der Gemeinden

Im Folgenden werden wir uns vor allem den Einnahmen der Gemeinde Wolxheim widmen, denn hier ist die Überlieferung für die finanziellen Aspekte der Gemeindegeschichte am besten. In Frankreich wurden Aufschläge auf die vier direkten Staatssteuern erhoben, auf die Grundsteuer (contribution foncière), die Personen- und Mobiliarsteuer (contribution personnelle et mobilière), die Fensterund Türensteuer (contribution des portes et fenêtres) sowie die Gewerbesteuer (contribution des patentes). Die regulären centimes additionnelles (die zusätzlich zu zahlenden Centimes pro Franc) lagen in der Regel bei etwa fünf Centimes, dazu kamen noch einmal fünf für die Vizinalstraßen88 und drei für die Schule. Insgesamt lagen die Zuschläge in Wolxheim bei 13 Prozent auf die direkten Staatssteuern – im Vergleich zu den beiden anderen Gemeinden waren das geringe Zuschläge. Schon hier wird ersichtlich, dass die kommunale Handlungsfähigkeit im französischen Gemeinderecht deutlich geringer ausgeprägt war. Eine Sonderrolle spielten die Umlagen, die der Finanzierung der gardes champêtres, also der Bannwarte, dienten, die für die Sicherheit vor allem in den Weinbergen sorgten. Auch sie waren ausgabenorientiert, sie wurden also so festgelegt, dass mit den Erlösen genau der Lohn der Bannwarte erzielt werden konnte. Vor allem aber wurden diese Umlagen nur von denjenigen Gemeindemitgliedern erhoben, die auch als Grundbesitzer:innen von dieser Umlage profitierten, denn

87 Ebd., S. 289. 88 Gesetz über die Vizinalwege [1836], Art. 2.

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sie war ein Aufschlag auf die Grundsteuer.89 Diese Umlage ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Gemeinden als Institutionen für bestimmte Gruppen, hier die Landbesitzer:innen und Landwirt:innen, gemeinsame Aufgaben koordinierten. Die Ausrichtung der Landgemeinden auf diese Gruppe von Einwohner:innen war ein wichtiges Kennzeichen des ländlichen Regierens in der Hochmoderne. Vergleichbare Zahlen über die gemeindlichen Aufschläge gibt es für die anderen Gemeinden erst um die Jahrhundertwende. Die erste Erwähnung der Zuschläge in Mahlow ist von 1899; in den Jahren seit 1892 sei ein Zuschlag von 120 Prozent auf die Staatseinkommenssteuer erhoben worden, also eigentlich auf eine Steuer, die in der Theorie nur im Notfall seitens der Gemeinden belastet werden sollte.90 Erst ab dem Jahr 1904 sind die Beschlüsse über die gemeindlichen Zuschläge für Mahlow systematisch überliefert. In jenem Jahr beliefen sich die Hebesätze auf: - 100 Prozent der Staats- und der fingierten Einkommensteuer,91 - 150 Prozent der Grund- und Gebäudesteuer, - 150 Prozent der Gewerbesteuer, - 100 Prozent der Betriebssteuer.92 Interessant ist hier, dass tatsächlich unterschiedliche Hebesätze für die unterschiedlichen Steuern angesetzt wurden. Mit den höheren Aufschlägen auf Grund- und Gebäudesteuer bzw. Gewerbesteuer wurden also tatsächlich die Besitzer:innen von Immobilien und Gewerbetreibende stärker zu den Gemeindeeinahmen herangezogen als die restlichen Bewohner:innen der Gemeinde. Anders als in Wolxheim gingen diese zusätzlichen Einnahmen aber in den allgemeinen Gemeindehaushalt ein. Bernried lag bei der Umlagenerhebung im Mittelfeld: Im Jahr 1880 erhob die Gemeinde eine Umlage von dreißig Prozent auf alle Steuern; bis 1890 sind die Beschlüsse der Gemeindeverwaltung zur Umlageerhebung weitgehend überliefert,

89 Das änderte sich allerdings mit der Ausweitung der Aufgaben der Bannwarte, woraufhin auch diese Zuschläge nun auf die vier direkten Steuern erhoben wurden. Vgl. Bruck 1905, S. 277. 90 Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 30.12.1899; KrA-TF, XII.294. In diesem Protokoll ging es darum, dass ein Gemeindemitglied über die vergangenen Jahre zu wenig Staatseinkommenssteuer gezahlt hatte und nun nicht nur diese, sondern auch die gemeindlichen Zuschläge dazu nachzahlen sollte. Interessant war das auch deshalb, weil der säumige Steuerzahler gleichzeitig Mitglied im Gemeinderat war – es handelte sich um Carl Winkelmann, der allerdings bei der Sitzung selbst nicht anwesend war. 91 Dabei handelte es sich um virtuelle Steuerbeträge derjenigen, die unter der Steuerfreigrenze lagen. Die Gemeinden hatten jedoch die Möglichkeit, selbst festzulegen, ob diese kleinen Einkommen zu den kommunalen Abgaben herangezogen werden sollten; im Umkehrschluss erhielten diese Abgabepflichten dann das Stimmrecht in der Gemeinde. S. u., Kap. 6.2. 92 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 4.2.1904; KrA-TF, XII.294.

Aufschläge und andere Gemeindeeinnahmen

und man kann eine sukzessive Anhebung der Beträge auf bis zu 75 Prozent beobachten; allerdings sanken die Umlagen dann für die folgenden Jahre auch wieder auf sechzig bis siebzig Prozent.93 1906 erreichten die Gemeindeumlagen schließlich hundert Prozent, zusätzlich wurde eine Ortsumlage von vierzig Prozent erhoben.94 Im Jahr 1921 lag die Gemeindeumlage dann bereits bei 300 Prozent. Die Gemeinden kamen an die Grenze ihrer finanziellen Belastbarkeit, die gemeindlichen Hebesätze konnten mit der Inflation nicht mehr Schritt halten.95 Der Finanzbedarf der Kommunen stieg also seit dem 19. Jahrhundert stetig an. Die Gemeindeumlagen entwickelten sich in die gleiche Richtung, denn sie wurden jedes Jahr an die Finanzplanung angepasst. Wenn im Haushalt für das kommende Jahr Ausgaben noch nicht gedeckt waren, mussten die Umlagen angepasst werden. Der Bernrieder Gemeindeausschuss beschloss im Jahr 1887: „[S]o ergibt sich ein Defizit von 2.546,28 Mark welches durch Umlagen von 60 Pf. pro Steuermark gedeckt werden soll.“96 Die Zuschläge auf die Steuern waren das unproblematischste Mittel, um die gemeindlichen Einnahmen den Ausgaben anzupassen. Auch wenn in der Theorie über die Differenz zwischen Gemeinden und Staat debattiert worden war und die Unterschiede in der Finanzierung dazu dienen sollten, diese Unterscheidung sichtbar zu halten, koppelten die Gemeinden in der Praxis ihre Einnahmen selbst eng an die des Staates. Denn andere Möglichkeiten blieben ihnen kaum. Allerdings gab es – wie eingangs erwähnt – auch noch andere Möglichkeiten der Gemeinden, an Geld zu kommen. Nach und nach nutzten die Gemeinden unterschiedliche kommunale Gebühren und Steuern. Bis heute ist eine besonders bekannte kommunale Steuer die Hundesteuer. Diese erhoben auch die Gemeinden Mahlow und Wolxheim; Wolxheim bereits seit den 1850er Jahren, Mahlow erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie brachte nur kleine Beträge ein, erhöhte aber zumindest etwas den gemeindlichen Finanzspielraum. Zudem gab es die Möglichkeit, Verbrauchssteuern auf bestimmte Produkte des täglichen Konsums, etwa auf Fleisch, Getreide, Brot oder Malz, zu erheben.97 In Bernried wurde im späten 19. Jahrhundert ein Fleischaufschlag erhoben.98 93 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 7.3.1880; GAB, B2/3, S. 12. In den Jahren 1881 und 1882 betrugen die Umlagen 33,3 Prozent, im Jahr 1883 schon 50, im Jahr 1886 dann 70 bzw. 75 Prozent. Im Jahr 1888 sanken sie wieder auf 60 Prozent; ebd., S. 29, 51, 77, 108, 114, 132 f. 94 Protokoll der Bernrieder Gemeindeversammlung, 25.11.1906; GAB, B2/4. 95 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 5.11.1921; GAB, B2/7, S. 85. 96 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 11.12.1887; GAB, B2/3, S. 133. 97 Ähnliches gab es auch in französischen Gemeinden – den sog. Octroi, der allerdings städtischen Gemeinden vorbehalten blieb, für Wolxheim also keine Möglichkeit zur Erhöhung der eigenen finanziellen Spielräume darstellte. 98 Über die Einführung dieses Lokalfleischaufschlags gibt es keine Unterlagen. Erst im Jahr 1891 gibt es einen Beschluss, durch den die Hebesätze angepasst wurden. Für in Bernried geschlachtetes Vieh

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Umstrittener war der Lokalmalzaufschlag. Im Zuge des Schulhausbaus hatte sich die Gemeinde in den 1880er Jahren gegen die Erhebung eines solchen Zuschlags entschieden, nicht zuletzt um sich die Kooperationsbereitschaft des Brauereibetreibers von Wendland zu sichern.99 Bis ins frühe 20. Jahrhundert hatte sich die Finanzlage der Gemeinde allerdings so zugespitzt, dass die Gemeindeverwaltung im Jahr 1907 beschloss: Infolge der von Jahr zu Jahr sich mehrenden Ausgaben, hervorgerufen durch die in Aussicht stehenden [sic] Errichtung einer 2. Lehrkraft und durch Tilgung eines bedeutenden Schuldenstandes, und um eine wiederholte Erhöhung der Gemeindeumlagen von 100 auf 120 % zu vermeiden und sich eine neue Einnahmequelle zu eröffnen, sieht sich die Gemeinde Bernried gezwungen, den Lokalmalzaufschlag zu erheben.100

Die Einkünfte aus dem Lokalmalz- und Bieraufschlag – eine Mark pro Hektoliter Malz und 60 Pfennige pro Hektoliter Bier – sollten zur Tilgung der Schulden aus dem Schulhausbau sowie der Schulden für die Renovierung der Friedhofskirche genutzt werden.101 Warum änderte die Gemeinde nun ihre Strategie? Ein wichtiger Grund war sicher, dass sich die Finanzlage der Gemeinde verschlechtert hatte. Die Erhebung des Malz- und Bieraufschlags war aber auch deshalb jetzt eine Möglichkeit, weil sich andere Dinge ebenfalls verändert hatten. In den Jahren vor der Entscheidung war es immer wieder zu Konflikten mit dem Guts- und Brauereibesitzer von Wendland gekommen. Möglicherweise ging der Gemeinderat davon aus, dass die Erhebung eines Malzzuschlags jetzt auch nicht mehr viel am Verhältnis verschlechtern könne. Vielleicht war auch 1907 bereits absehbar, dass sich die Brauerei nicht mehr lange in Bernried halten würde – 1909 schloss sie dann tatsächlich ihre Produktion.102 Außerdem verfügten die Gemeinden über weitere Einkünfte. Die Finanzlage von Wolxheim ist vergleichsweise gut überliefert. Die Budgets und Gemeinderechnungen für die französische Zeit im 19. Jahrhundert liegen gesammelt vor und erschließen damit einen Zeitraum, der für die anderen beiden Gemeinden kaum mit Quellen abgedeckt ist.

99 100 101

102

wurden Gebühren pro Tier, nicht pro Metzger, erhoben. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 6.12.1891; GAB, B2/3, S. 206. S. o., Kap. 3.4. Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 30.11.1907; GAB, B2/5. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 8.12.1907; ebd. Ausführliche Statuten für den Lokalmalz- und Bieraufschlag wurden im folgenden Jahr beschlossen. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses 13.4.1908; ebd. Vgl. Scherbaum 1997a, S. 6.

Aufschläge und andere Gemeindeeinnahmen

5.3.3

Die Wolxheimer Gemeindeeinnahmen vor 1870

Die Rechnungsunterlagen aus Wolxheim sind sehr strukturiert. Das hatte vor allem etwas mit der schon länger einheitlichen Gemeindegesetzgebung in Frankreich zu tun, die für alle Gemeinden, ob Stadt, ob Land, ob groß, ob klein, ähnliche Vorgaben machte, sodass auch die kleinen Landgemeinden in ihrer Budgetierung und Buchhaltung klaren Vorgaben folgen mussten. Entsprechend wurden die Budgets, also die Haushaltspläne, ebenso wie die Comptes, die Rechnungen, in umfangreiche Vordrucke eingetragen. Die Haushaltsplanvordrucke unterteilten sie entsprechend des Gesetzes in ordentliche und außerordentliche Einnahmen (recettes ordinaires et extraordinaires) und innerhalb dieser Kategorien wieder in unzählige Unterkategorien. Die ordentlichen Einnahmen setzten sich aus unterschiedlichen Quellen zusammen, zum Beispiel aus den Erträgen der Gemeindegüter, den gemeindlichen Anteilen und Aufschlägen an den Staatssteuern, aus einer Vielzahl von kommunalen Gebühren, für Märkte und Messen ebenso wie für Wegerechte, Friedhofsnutzungen, kommunale Einrichtungen oder Verwaltungsakte.103 Die außerordentlichen Einnahmen lesen sich demgegenüber knapp, sind hier aber besonders interessant, denn es handelt sich dabei um die Möglichkeiten, die eine Gemeinde hatte, kurzfristig zusätzliche Geldmittel etwa für außerordentliche Ausgaben, Investitionen und besondere Bauvorhaben verfügbar zu machen. Dabei handelte es sich – laut Gesetz – vor allem um außerordentliche Umlagen, die von den Gemeinden unter bestimmten Umständen erhoben werden konnten; außerdem Verkaufserlöse aus gemeindlichem Besitz, Spenden und Stiftungen, die Auflösung fest angelegter Kapitalien, außerordentliche Holzschläge in Gemeindewaldungen oder Erträge aus Anleihen.104 Gerade den französischen Gemeinden waren sehr enge Grenzen der Einflussnahme auf den Gemeindehaushalt auferlegt. Die Gemeinden, die wie Wolxheim über sehr wenig bis gar keine eigenen Einkünfte aus Gemeindevermögen verfügten, hatten kaum offizielle Spielräume, um ihre Einnahmesituation zu verbessern. Allerdings bedeutet das nicht, dass sie vollkommen passiv bleiben mussten; denn je nach Strategie der lokalen Gemeindeverwaltung konnten auch geringe eigene Mittel gewinnbringend eingesetzt werden; die Gemeindeverwaltungen konnten außerdem „alle Ebenen der Staatsorganisation in Bewegung setzen, um Projekte zu verwirklichen“.105 In einem späteren Kapitel werde ich genau zeigen, wie die Gemeinde Wolxheim solche Spielräume nutzte.106

103 104 105 106

Loi sur l’Administration municipale 1837, Art. 31. Ebd., Art. 32. Franz 2006, S. 372. Vgl. Kap. 7.2.

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Doch im Bereich der recettes ordinaires waren den Gemeinden praktisch die Hände gebunden. Sie hingen maßgeblich von der Höhe der gezahlten Steuern selbst ab, und auf die ökonomische Situation ihrer Einwohner:innen hatte die Gemeinde nur wenig Einfluss.107 Sicherlich lag die Entscheidung darüber, wie hoch die centimes additionnelles waren, beim Gemeinderat selbst. Aber das war eine Entscheidung rein formaler Natur. Denn die Gemeinden waren dazu angehalten, sich an den Empfehlungen des Präfekten zu orientieren, was die Gemeinde Wolxheim auch tat. Das Gleiche galt für eine Einkunftsart, die bislang noch nicht angesprochen worden ist, nämlich die Zahlung der in Geldleistung umgewandelten Dienstpflichten der Gemeindeangehörigen für die Instandhaltung der Gemeindewege. Hier folgte der Gemeinderat den jeweiligen Beschlüssen des conseil général über die Umwandlung der Dienste in Geldleistungen.108 Auch die kommunalen Gebühren und Steuern konnten zwar durch die Gemeinden selbst bestimmt werden, jedoch in geringem Ausmaß. Die Versteigerungsgebühren, die im ersten Jahr der Ersteigerung eines Gemeindeguts gezahlt werden mussten (und ohnehin gesetzlich geregelt waren), und die Hundesteuer fielen in diese Kategorie. Sonderumlagen ermöglichten den französischen Gemeinden, außerordentliche Vorhaben zu realisieren. Sie konnten aber nicht für die normale Ausbalancierung des Haushalts genutzt werden, sondern wurden z. B. für besondere Baumaßnahmen erhoben. Die gesetzlichen Vorgaben bezogen sich auf die Höhe und die Laufzeit dieser Umlagen, also auch eine Reglementierung. Aber im Grunde handelte es sich hierbei um das wichtigste Instrument der Gemeinden, spezifische und zeitlich begrenzte Projekte umzusetzen. Diese Projekte unterstützten Dritte, wenn es für die Gemeinde gut lief, durch Zuschüsse und Spenden. Dieser Posten war einerseits sehr flexibel, andererseits durch die Gemeinde selbst nur schlecht steuerbar. Dennoch war es durchaus möglich, die gemeindliche Investitionstätigkeit davon abhängig zu machen, ob Spenden etwa von reichen Gemeindemitgliedern zu erwarten oder gar bereits zugesagt waren. Der Vollständigkeit halber ist ein letzter Posten formaler Natur der gemeindlichen Einnahmen zu nennen: Rückzahlungen von Außenständen, Überträge aus den Vorjahren und so weiter – dabei handelte es sich nicht um echte Einnahmen, sondern um Posten eher technischer Natur, die durch die Mechanismen der Buchhaltung bedingt waren.

107 Allerdings weist Norbert Franz auf den Sonderfall der französischen Gemeinde Mognéville hin, für die er nachweist, dass diese sehr reiche Gemeinde ihre Ressourcen für die weitere Stabilisierung der wirtschaftlichen Basis einsetzen konnte und dies auch tat; Franz 2006, S. 369 f. 108 Vgl. die jährlichen Protokolle zu dieser Frage, etwa Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 9.2.1868; ADBR, 8 E 554/39.

Aufschläge und andere Gemeindeeinnahmen

Diese Kategorisierung ermöglicht es, die Quellen der Einnahmen zu differenzieren. Das folgende Schaubild zeigt die unterschiedlichen Einnahmequellen für ausgewählte Haushaltsjahre zwischen 1850 und 1868:

Abb. 5 Entwicklung und Zusammensetzung der Gemeindeeinnahmen in Francs, Wolxheim, 1850–1868.

Diese Übersicht zeigt, dass die Wolxheimer Gemeindekasse sich aus einer Vielzahl von Einkünften speiste. Sie hatten zudem sehr unterschiedliche Bedeutungen. Die kommunalen Umlagen und Aufschläge hatten in Wolxheim nur einen geringen Stellenwert, gleichwohl lieferten sie stabile Einnahmen über alle untersuchten Haushaltsjahre hinweg. Die in Geldleistung umgewandelten Dienste ebenso wie die kommunalen Umlagen für konkrete Zwecke waren zwar wichtige Einkommensquellen, doch handelte es sich nicht um frei verfügbares Geld, sondern um Durchlaufposten für den Straßenbau und die Straßenunterhaltung sowie für die Schule. Die Einkünfte aus Gemeindebesitz und Kapitalerträgen bildeten letztlich die Basis für den gemeindlichen Haushalt. Sehr schwankend waren hingegen die

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außergewöhnlichen Einkünfte, also die staatlichen Zuschüsse zu besonderen Investitionen, und die Spenden – das erklärte sich allerdings schon aus der Art der Einnahmen. *** Die Analyse der Gemeindeeinnahmen (nicht nur in Wolxheim) fördert mehrere Einsichten zutage: So wurde erstens zwar zeitgenössisch eine grundlegende Differenz zwischen Staat und Gemeinden behauptet, auch und gerade mit Blick auf Ökonomie und Finanzen, doch änderte das nichts an der Tatsache, dass die Einnahmen der Gemeinden stark „durchstaatlicht“, also auf den Staat ausgerichtet, waren. Eine wichtige Basis der gemeindlichen Einnahmen waren die Aufschläge auf die Staatssteuern, weshalb die Steuerpolitik des Staates direkte Auswirkungen auf die Finanzsituation der Gemeinden hatte. Auch für andere Einnahmen, die die Gemeinde erheben konnte, waren staatliche Regelungen oft ausschlaggebend, regulierte doch der Staat über Gesetze und Verordnungen, wie und in welchem Ausmaß seine Einwohner:innen durch die Gemeinden belastet werden durften oder sollten. Auch die Beschlüsse übergeordneter Vertretungsebenen, etwa des conseil général bzw. des Präfekten in Frankreich, hatte Auswirkungen auf die Füllung der Gemeindekasse; mussten sich die Gemeinderäte doch in der Regel an den Empfehlungen der Gremien orientieren. Das galt nicht nur für die preußischen und elsässischen Gemeinden, sondern eben auch für die bayerischen Gemeinden, trotz der freieren Gemeindeverfassung. Zweitens zeigt die detaillierte Auswertung der Gemeindeeinkünfte, dass die Kommunen trotzdem auf eine Vielzahl unterschiedlichster Einnahmen angewiesen waren, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Nur das Vertrauen in das Umlagensystem reichte nicht. Auch hier kann also durchaus eine Analogie zwischen der Landgemeinde und den bäuerlichen Einzelwirtschaften gezogen werden: Beide kombinierten allerlei verschiedene Einnahmequellen miteinander, um wirtschaftliche Risiken zu streuen und Mängel auszugleichen. Auch in Bezug auf die Haushalte der Landgemeinden insgesamt kann man also von einer pluriactivité sprechen. Das Beispiel Wolxheim hat gezeigt, dass die französischen Gemeinden, die über wenig Gemeindevermögen verfügten, nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten hatten, zusätzliche Sondereinnahmen zu generieren. Vor allem solche Gemeinden, die keine großen Wälder besaßen, mit denen sie kurzfristig die Gemeindekassen füllen konnten, waren ausgesprochen unflexibel. Die einzige Möglichkeit, um die Einnahmesituation zu verbessern, bestand in der Mehrbelastung der eigenen Einwohner:innen. Dies war gerade in ländlichen Kommunen kein einfacher Schritt, denn erstens waren die Gemeinderäte selbst von der Mehrbelastung in erheblichem Maße betroffen, zweitens führten solche Mehrbelastungen nicht selten zu Streit in möglicherweise ohnehin schon durch Spannungen gekennzeichneten lokalen

Gemeindliche Ausgaben analysieren

Gesellschaften.109 Davor stand immer noch die Möglichkeit, auf die Spendenbereitschaft begüterter Einwohner:innen zu setzen. Erinnern wir uns an Bernried: Es war ein zweischneidiges Schwert, sich von der Wohltätigkeit einzelner Einwohner:innen abhängig zu machen. Denn das reduzierte wiederum an anderen Stellen die finanzpolitische Flexibilität, wenn beispielsweise kein Lokalmalzaufschlag erhoben werden konnte. Denn potenzielle Wohltäter:innen sollten nicht über Gebühr mit Sonderabgaben belastet werden.

5.4

Gemeindliche Ausgaben analysieren

Untersucht man demgegenüber die kommunalen Ausgaben, zeigt sich erneut, wie knapp der Haushalt der Landgemeinden im Untersuchungszeitraum bemessen war und wie wenig freie Mittel es für eigene Projekte oder Schwerpunktsetzungen der Gemeinden gab. Doch eine Untersuchung der Kommunalfinanzen kann über mehr Aufschluss geben als nur über die gemeindliche Finanzlage. Rabe schlägt vor, den Haushalt auch als Ergebnis politischer Auseinandersetzungen (im Sinne der politics, der Konfliktdimension von Politik) zu untersuchen, als Indikator für Planungsdenken und Planungshandeln der gemeindlichen Akteure und als Teil symbolischer und politischer Kommunikation in den Gemeinden. Schlussendlich sei der kommunale Haushalt auch Ansatzpunkt, um eine Kulturtechnik, hier die kameralistische Buchhaltung, untersuchen zu können.110 Für Landgemeinden – zumindest für die hier untersuchten – fehlen jedoch die Quellen, die Rabe heranzieht, etwa die Protokolle über die Haushaltsdebatten oder die ausführlichen Redemanuskripte von Bürgermeister und Kämmerer (den es in den Landgemeinden nicht gab) bei der Vorstellung des Haushaltsplans. Aber auch ohne diese flankierenden Quellen sind die Ausgaben der Gemeinde ein interessanter Untersuchungsgegenstand, gerade für meine Fragestellung. Auf der einen Seite ist der Haushalt ein wichtiger Teil der gemeindlichen Selbstverwaltung. Denn auch auf der lokalen Ebene gilt, was Aaron Wildavsky für den amerikanischen Bundeshaushalt schreibt: „[T]he budget lies at the heart of the political process“.111 Gleichzeitig war er jedoch der Bereich landgemeindlichen Handelns, der mit am stärksten staatlich reglementiert, diktiert und kontrolliert

109 Vgl. Franz 2006, S. 371 f. 110 Rabe 2017, S. 27–41. 111 Wildavsky 1979, S. 5. Wildavsky versteht Haushaltspolitik als einen eminent politischen Prozess, der die Handlungs- und Konfliktdimension von Politik offenlegt. „A budget thus becomes a web of social as well as of legal relationships in which commitments are made by all the parties, and where sanctions may be invoked (though not necessarily equally) by all“; ebd., S. 3.

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war.112 Entsprechend kann ich hier noch einmal die Gouvernementalisierungsprozesse verfolgen. Denn ich lese den landgemeindlichen Haushalt auch als Ergebnis der Erwartungen der Bürokratie beziehungsweise des modernen Staates an die Gemeinden. Bei einem Großteil der gemeindlichen Ausgaben ging es darum, öffentliche Aufgaben, die von der staatlichen Politik als notwendig erachtet wurden, in die lokale Realität umzusetzen. Insofern handelte es sich bei landgemeindlicher Haushaltsplanung und -führung nicht nur um den „Ausdruck der Aufgaben, die sich ein Gemeinwesen setzte“, wie Goldscheid argumentiert.113 Die Ausgaben der Landgemeinden waren auch, vielleicht sogar vorrangig, Ausdruck der Aufgaben, die dem lokalen Gemeinwesen gesetzt wurden. 5.4.1

Kommunale Pflichtausgaben

Auch für dieses Kapitel sind die Budgets der Wolxheimer Gemeindeverwaltung wieder die wichtigste Quellenbasis. Bevor wir aber genauer in diese Quellen hineinschauen, müssen wir noch klären, welche Ansprüche der Staat, hier der französische, an die Gemeinden in der Mitte des 19. Jahrhunderts stellte. Zu welchen Aufgaben waren die Gemeinden verpflichtet, welche mussten sie selbst bezahlen? Das Gemeindegesetz von 1837 führte folgende Pflichtausgaben für die Gemeinden auf: - die Unterhaltung des Rathausgebäudes, - allgemeine Verwaltungskosten, inklusive Druckkosten, Stempelgebühren und Abonnements der diversen Gesetzesblätter, - die Kosten der Volkszählungen, der Pflege der Zivilstandsregister etc., - die Entlohnung des Gemeindeeinnehmers, - die Entlohnung von Wald- und Bannwarten, - die Kosten der Polizei (sowohl die Unterhaltung der Gebäude als auch die Zahlung der Löhne für die Polizeidiener), - die Zahlung der Pensionslasten für kommunale Angestellte und Polizeidiener, - Ausgaben für die Nationalgarde und Friedensrichter, - die Kosten der Volksschule, - Unterbringungskosten für die Ortspfarrer, - Zuschüsse zu den Haushalten der Kirchengemeinden, - Fürsorgekosten für Findelkinder und Waisen, - Bau- und Unterhaltungskosten der kommunalen Gebäude und Friedhöfe, - die Kosten der Baulinienpläne,

112 Vgl. Franz 2006, S. 56–62. 113 Vgl. Rabe 2017, S. 27, hier eine Äußerung Goldscheids (1976) paraphrasierend.

Gemeindliche Ausgaben analysieren

-

die Abgaben auf die kommunalen Güter und Einnahmequellen, die Tilgung fälliger Schulden.114

Aus dieser Auflistung geht hervor, wie umfangreich die gemeindlichen Aufgaben waren und dass die französischen Gemeinden viele staatliche Projekte – hervorgehoben seien nur die Kosten für die Volkszählungen – aus eigenen Mitteln bestreiten mussten. Sogar Gemeinden ohne jegliche eigenen Ressourcen mussten eine Vielzahl kleinerer und größerer Posten finanzieren, was ohne gemeindliche Umlagen, also gemeindliche Steuererhebung, nicht möglich war. Die Länge der Auflistung legt bereits nahe, dass von den nicht gerade üppigen Gemeindeeinnahmen kaum etwas übriggeblieben sein dürfte, selbst wenn man unterstellt, dass nicht alle Pflichtausgaben für jede Gemeinde in jedem Rechnungsjahr anfielen. Das Wolxheimer Gemeindebudget umfasste im Jahr 1865 insgesamt 7275,14 Francs. Aufgeschlüsselt nach verschiedenen Kategorien ergibt sich folgendes Bild:

Abb. 6 Zusammensetzung der Gemeindeausgaben, Wolxheim 1865 (Angaben in Prozent).

Ein sehr großer Teil des Wolxheimer Gemeindebudgets von 1865 war bereits für nicht kurzfristig gestaltbare Ausgaben verplant. Dazu gehörten zum Beispiel die Lohnkosten für das Personal (38,61 Prozent). Selbst in einer kleinen Gemeinde wie

114 Loi sur l’Administration municipale 1837, Art. 30.

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Wolxheim waren das einige Posten, denn die Gemeinde beteiligte sich obligatorisch auch an den Kosten für den Kantonsarzt sowie die Hebamme. Auch die Lohnkosten für die Lehrer:innen, die Zuschüsse zum Gehalt des Priesters und die Kosten für Nachtwache und Bannwarte sowie die Entlohnung des Gemeindeschreibers sind in dieser Kategorie enthalten. Am Personal ließ sich wenig einsparen, denn die Gehälter waren zwar nicht vollständig standardisiert, aber doch häufig durch Verwaltungsvorschriften festgelegt, insbesondere bei den Ärzten, Lehrer:innen und Pfarrern. Vor allem ließen sich kaum wirkliche Personaleinsparungen machen, indem man Personal entließ. Die von mir untersuchten Gemeinden unterhielten ohnehin nur das notwendigste Personal für ihre Pflichtaufgaben, also den Gemeindeschreiber, die Schullehrer:innen und den Nachtwächter bzw. Bannwart. Die gemeindlichen Umlagen für das Kantonspersonal konnte die Gemeinde selbst nicht beeinflussen. Auch die Unterhaltung der Vizinalstraßen, also der Straßen des vorrangig örtlichen Verkehrs, war ein enormer Posten im gemeindlichen Etat, der im Gesetz über die Vizinalwege von 1836 als Pflichtausgabe vorgesehen war: Die Vizinalwege waren Gemeindelast und schlugen immerhin mit 28,91 Prozent des Budgets zu Buche.115 Die Verwaltungsnebenkosten (6,74 Prozent) umfassten verschiedenste Posten, unter anderem die Anteile des Gemeindeeinnehmers an den kassierten Steuern und Gebühren (der Gemeindeeinnehmer erhielt keinen festen Lohn, sondern einen Anteil an den von ihm eingenommenen Steuern und Umlagen; daher wurde dieser Posten nicht unter die Lohnkosten subsummiert), aber auch die Stempelgebühren oder die Unkosten für Versteigerungen aller Art, nicht zuletzt auch die Abonnements der Gesetzesblätter und Ähnliches. Die Gemeindegebäude mussten unterhalten, versichert und geheizt werden – dies fällt unter die laufenden Kosten für die Gemeindegebäude (6,81 Prozent). Fasst man diese Ausgabenbereiche, auf die die Gemeinde praktisch keinen Einfluss hatte – Lohnkosten, Straßenunterhaltung, Verwaltungsnebenkosten und die Pflichtunterhaltung der Gemeindegebäude – mit dem Posten „Sonstiges“ zusammen,116 so kommt man bereits auf die stattliche Summe von 5937,29 Francs oder auf gut 81,5 Prozent des gemeindlichen Budgets. So blieben weniger als zwanzig Prozent des Haushaltes, die durch das Handeln der Gemeindeverwaltung beeinflusst werden konnten. Die Sozial- und Unterstützungsleistungen (0,45 Prozent) machten nur einen sehr geringen Anteil des gemeindlichen Budgets aus. Das lag jedoch daran, dass die Gemeinden in Frankreich nicht wie in Deutschland zur Unterstützung der Armen verpflichtet waren, sondern nur für besondere Aufgaben bei der Unterstützung von verarmten Personen

115 Vgl. Gesetz über die Vizinalwege [1836], Art. 1. 116 Der Bereich „Sonstiges“ umfasst 39,54 Francs und wurde in der Gemeinderechnung nicht näher aufgeschlüsselt.

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herangezogen wurden. Diese kleinen Beträge, die in der Gemeinderechnung ausgewiesen wurden, setzten sich lediglich aus den Medikamentenkosten für Bedürftige, den Schulbüchern für arme Kinder und den Schulstipendien zusammen. Zwar war gesetzlich festgeschrieben, dass die Gemeinden diese Posten auf Antrag bezuschussen mussten, doch wurde im Einzelfall über eine gemeindliche Unterstützung entschieden – offenbar aber durch den maire selbst bzw. durch die Schulverwaltung, nicht aber durch den Gemeinderat. Daher gibt es keine Quellen, die Auskunft darüber geben, wie rigide die Gemeinde bei solchen Unterstützungsleistungen agierte. Allerdings gibt es ausreichend dokumentierte Fälle aus den anderen Dörfern, aus denen deutlich hervorgeht, dass die Gemeinden alles andere als großzügig bei der individuellen Bemessung der Unterstützung waren (s. u., Kap. 7.1). Ein großer Posten in der Rechnung des Jahres 1865 war der unvorhergesehene Schuldendienst. Die Gemeinde musste kurzfristig Schulden der Kirchengemeinde in Höhe von 800 Francs ablösen. Dieser Betrag wurde unter anderem über eine Sonderumlage mit mehrjähriger Laufzeit gedeckt, musste aber zunächst vorfinanziert werden. Auch hier konnte die Gemeinde nur sehr wenig Einfluss nehmen, denn sie musste den Schuldendienst übernehmen. 5.4.2

Freiwillige Ausgaben

Interessant sind nun vor allem die fakultativen Ausgaben, die mit knapp sieben Prozent oder 505,15 Francs nur einen geringen Teil der Gemeindeausgaben ausmachten. Was verbarg sich im Jahr 1865 in Wolxheim dahinter? Es handelte sich um drei verschiedene Posten: 20 Francs waren für die fêtes publiques bestimmt, und in etwa der gleiche Betrag (19,15 Francs) wurde für Buchanschaffungen für die Gemeindebibliothek ausgegeben – ein Posten, der im Kapitel zur Schule auftauchte; vermutlich handelte es sich also nicht um Bücher, die in der mairie verwendet wurden, sondern um solche, die für die Schüler:innen gedacht waren. Der größte Posten waren jedoch „Investitionen“ – in diesem Fall in zwei Waschhäuser der Gemeinde, eines bei der Mühle, etwas außerhalb gelegen, das andere im Dorfkern neben der Kirche. Dafür gab die Gemeinde 466 Francs aus, ein hoher Betrag, immerhin rund 6,5 Prozent des Haushaltsvolumens insgesamt. Diese fakultativen Ausgaben zeigen, dass die Gemeinde durchaus Spielräume im laufenden Haushaltsjahr hatte und diese nutzte, um Investitionen zu tätigen. Das Finanzvolumen war nicht vollständig durch die Pflichtausgaben ausgeschöpft. Fakultativ war jedoch relativ – oder besser: Die Unterscheidung zwischen fakultativen und obligatorischen Ausgaben war eine, die sich aus den Gesetzen und der Gemeindeaufsicht ergab. Sie war also aus der Logik der Staatsverwaltung abgeleitet. Ob diese Unterscheidung so auch für die Gemeindemitglieder und die lokale Verwaltung eine Rolle spielte oder ob dort andere Grenzen zwischen den freiwilligen und zwingend notwendigen Ausgaben gezogen wurden, wissen wir nicht. Dies ist

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wichtig zu bedenken. Insgesamt aber war der Teil des Budgets sehr klein, über den die Gemeindeverwaltungen selbst entscheiden und mit dem sie eigene Schwerpunkte in der Gemeindepolitik setzen konnten. Aber wir wissen auch zu wenig, wie die Gemeinderatsmitglieder agierten. Wägten sie tatsächlich aktiv ab, welche Ausgaben sinnvoll, welche verschwenderisch waren? Die Gemeinderatsprotokolle verraten wenig über die Entscheidungsprozesse, die zur Genehmigung oder Ablehnung eines finanziell relevanten Antrags führten. Für Wolxheim ist die Quellenlage für diese Fragestellung besonders schlecht, für Bernried etwas besser. Der Gemeinderat war in bestimmten Situationen durchaus finanziell großzügig. Zwei unterschiedliche Typen von finanziellen Zugeständnissen können hier unterschieden werden: dauerhafte und punktuelle. Ein Beispiel für eine dauerhafte finanzielle Verbindlichkeit der Gemeinde ging auf einen Antrag des Schullehrers Ludwig Schafitel vom 20. Juli 1887 zurück. In der GemeindeausschussSitzung, der er als Gemeindeschreiber ohnehin beiwohnte, beantragte der Lehrer eine Neuregelung des Schulgelds: Die Beiträge, die bislang die Eltern der Schulkinder bezahlt hatten, sollten nun aus der Gemeindekasse bezahlt werden. Der Gemeindeausschuss folgte diesem Antrag nicht vollständig, handelte es sich doch um einen erheblichen Betrag. Aber immerhin bewilligte er 300 Mark für die Senkung der Schulgebühren.117 Das war ein signifikanter Anteil – immerhin knapp 7,5 Prozent – am Bernrieder Budget, das für das Jahr 1887 ein Gesamtausgabevolumen von 4105,28 Mark hatte. Statt die Schulgebühren komplett abzuschaffen, wurden sie mithilfe der gemeindlichen Unterstützungszahlung halbiert. Die Eltern der Schulkinder mussten in der Folge seit Oktober 1887 nur noch fünf statt zehn Mark Schulgebühren pro Kind bezahlen.118 Diese Entscheidung des Bernrieder Gemeindeausschusses hatte dauerhafte Konsequenzen, erhielt doch der Haushalt für die nächsten Jahre einen erheblichen Dauerposten. Das deutet darauf hin, dass einerseits die Finanzlage in der kleinen bayerischen Gemeinde nicht vollständig angespannt war. Andererseits macht es auch klar, dass die Gemeindeausschussmitglieder die Schule als wichtige Institution des Dorfes begriffen, die maßgeblich zu den Aufgaben der Gemeinde gehörte. Zumindest in Bernried lehnten die Gemeindeausschuss-Mitglieder also die Dorfschule nicht komplett ab, wie Wolf für die bayerische Dorfbevölkerung in toto argumentiert.119 Neben solchen langfristigen finanziellen Entscheidungen gab es auch kurzfristige Zuschüsse aus der Gemeindekasse, wenn Feste und Feiern im Dorf anstanden. 117 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 20.7.1887; GAB, B2/3, S. 124 f. Die grundsätzliche Idee, statt der Bezahlung einer wöchentlichen Schulgebühr eine Umlage zu erheben, die in der Betreffzeile des Protokolls noch aufscheint, scheint dann abgelehnt worden zu sein. 118 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 11.12.1887; ebd., S. 132 f. 119 Wolf 1992, S. 285. S. u., Kap. 7.2.

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Und wieder war es der Lehrer Schafitel, auf den das gemeindliche Engagement zurückging. Er veranstaltete im Juli 1883 zum Königsfest ein Kinderfest. Die Gemeindekasse spendierte 15 Mark, um die „hiesigen Musiker“ für ihre Beteiligung zu entlohnen.120 Im November 1888 beschloss der Gemeindeausschuss außerdem, den beteiligten Chorsängern bei Gemeindeämtern (also gesungenen Messen) besondere Zahlungen zu gewähren.121 Auch für die Feier zum 70. Geburtstag des Prinzregenten Luitpold gewährte der Gemeindeausschuss 40 Mark aus der Gemeindekasse.122 Und als sich der deutsch-französische Krieg zum 25. Mal jährte, ließ der Gemeindeausschuss für die örtlichen Veteranen, die Mitglied im Veteranenverein waren, für fast 60 Mark Gedenkmünzen anfertigen.123 Bei diesen Ausgaben für Feierlichkeiten unterschiedlichster Art handelte es sich nicht um große Beträge, und sie kamen auch nicht in jedem Rechnungsjahr vor. Gleichwohl unterstreicht dies den Eindruck, dass der Bernrieder Gemeindeausschuss durchaus seine Finanzhoheit ausübte und selbst Entscheidungen darüber traf, welche Ausgaben gerechtfertigt erschienen. Und dazu gehörten offenbar solche gemeindlichen Repräsentationskosten, die zur Ausbildung einer dörflichen Festkultur beitrugen. Ein ähnliches Ausmaß an gemeindlichen Repräsentationsmitteln ist für Mahlow nicht auszumachen. Hier zeigt sich auch eine ganz andere Strategie des Gemeinderats. Egal von wem ein Antrag an die Gemeinde gestellt wurde: Der Gemeinderat betonte zunächst, dass er eine finanzielle Belastung (oder Mehrbelastung) der Gemeinde entschieden ablehne. Dies war beispielsweise der Fall, als im Dezember 1893 die Gemeinde Mahlow, die als Filiale an die Kirchengemeinde Lichtenrade angeschlossen war, über die Beiträge zur Feuerversicherung für die Pfarrgebäude in Lichtenrade abstimmen sollte. Das war eigentlich ein jährlicher Posten; nun hatte sich aber eine Änderung ergeben, weil die Gemeinde Buckow, ebenfalls Filiale von Lichtenrade, sich weigerte, diese Beiträge weiterhin zu entrichten. Der Mahlower Gemeinderat musste sich dazu irgendwie positionieren. Zwar beschloss er, weiterhin die Mahlower Beiträge regelmäßig zu entrichten, eine „Mehrbelastung wird jedoch von der Gemeinde-Vertretung ganz entschieden abgelehnt“.124 Die Untersuchung von finanziellen Entscheidungen und der Gestaltung der Haushalte kann also einen wichtigen Einblick in die Entwicklung der Gemeinden als Instanzen lokalen Regierens geben. Allerdings ist diese Perspektive nicht

120 121 122 123 124

Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 1.7.1883; GAB, B2/3, S. 84 f., hier: S. 85. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 18.11.1888; ebd., S. 148 f., hier: S. 148. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 1.2.1891; ebd., S. 192. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 28.7.1895; ebd., S. 288. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung vom 21.12.1893; KrA-TF, XII.294. So ähnlich beschloss der Gemeinderat auch in der folgenden Sitzung, als es um eine Änderung der Ortskrankenkasse für die Gemeindemitglieder ging. Dies sei in Ordnung, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Beiträge nicht stiegen. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 7.2.1894; ebd.

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Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft

umfassend. Es wäre zu einfach, landgemeindliche Politik und Regierung nur in den engen Grenzen zu fassen, die sich in den jährlichen Finanzplänen und Rechnungen niederschlugen.125 Insbesondere zeigte sich auch in diesem Kapitel, dass die bloßen Zahlen noch recht wenig über die Hintergründe des gemeindlichen Handelns berichten, dass es neben der rein finanziellen noch viele weitere Ebenen auch des wirtschaftlichen Agierens der Gemeinden gab. Zudem wird ein späteres Kapitel (7.1) zeigen, dass es in Ausnahmefällen sogar möglich war, in gemeindliche Infrastruktur, hier in den Bau eines Armenhauses, zu investieren, ohne dafür eine Mark selbst in die Hand nehmen zu müssen. Die Gemeinden waren also nicht nur handlungsfähig, wenn sie selbst Geld ausgaben. Ihnen standen auch andere Möglichkeiten offen, zum Beispiel indem sie geschickt gegenüber reichen Gemeindemitgliedern auftraten und versuchten, mit ihnen in Tauschbeziehungen einzutreten.

5.5

Wirtschaftliche Strategien und die Regierung des Dorfes

Die ländlichen Gemeinden, die ich untersuche, hatten im 19. Jahrhundert eine Gemeinsamkeit: Wirtschaftlich gesehen waren sie durchaus stabil, was den Kern der bäuerlichen oder kleinbäuerlichen Bevölkerung anging – es handelte sich nicht um verarmte Gemeinden, wie man sie aus Regionen wie der Eifel kennt, die noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durch den dauernden Mangel am Allernotwendigsten gekennzeichnet waren.126 Gleichwohl waren die Praktiken des gemeinsamen Wirtschaftens – von der gemeinsamen Zuchtstierhaltung bis hin zum kommunalen Haushalt – durch extreme Sparsamkeit gekennzeichnet. Denn das Geld, das zur Verfügung stand, war knapp. Das galt für die Gemeinden und ihre Einnahmen aus Gemeindegütern oder Umlagen ebenso wie für die einzelnen Gemeindemitglieder, die daran interessiert waren, die Zahlungen an die Gemeinden gering zu halten. Diese Sparsamkeit führte auch dazu, dass jede noch so kleine Ressource genutzt werden musste. Die Untersuchung unterschiedlicher Formen des gemeinsamen Wirtschaftens hat gezeigt, dass das eine spezifische Form der kollektiven Ökonomie ergab, die

125 Dies ist meine grundsätzliche Kritik an der ansonsten verdienstvollen Arbeit von Norbert Franz zur Ausweitung der Kommunalaufgaben in französischen und luxemburgischen Gemeinden im 19. Jahrhundert. Franz untersucht die Gemeindetätigkeit, die Ausweitung der einzelnen Gemeindeaufgabenbereiche, die er nach finanzwirtschaftlicher Forschung in hoheitliche Aufgaben, Soziales, Verkehr und Kultur differenziert, nach ihrem jeweiligen finanziellen Gewicht. Dies ist eine wichtige Grundlage für die Erforschung der Praxis der Gemeindeverwaltungen, aber nicht die einzige, wie diese Arbeit insgesamt zeigen will. Franz 2006, S. 38 u. 42. 126 Vgl. Doering-Manteuffel 1995.

Wirtschaftliche Strategien und die Regierung des Dorfes

aus der Not, aber auch aus einer spezifischen ökonomischen Strategie heraus, jede noch so kleine Ressource zu nutzen verstand. Vor allem das Wolxheimer Beispiel legt diesen Schluss nahe, denn hier habe ich gezeigt, wie buchstäblich der Dreck auf der Straße zu Geld gemacht wurde. Doch es gab auch andere Rationalitäten des gemeindlichen ökonomischen Handelns, es ging nicht immer um finanzielle Mittel bei der Nutzung des Gemeindebesitzes. Genauso spielte die Verregelung eine Rolle – durch die Versteigerung des Straßenkehrichts etwa konnte in Wolxheim schon früh die Straßenreinigung geregelt werden. Auch soziales Kapital konnte über den Gemeindebesitz aktiviert werden, was an der Bernrieder Jagd deutlich wurde. So wurden Beziehungen gepflegt, die sich später wieder in ökonomisches Kapital transferieren ließen – oder zumindest die Hoffnung darauf nährten. Das ökonomische Handeln der Gemeinden ist also ein wichtiger Kreuzungspunkt unterschiedlicher Praktiken des landgemeindlichen (Selbst-)Regierens. Gleichzeitig war die Ökonomie der Landgemeinde aber auch ein Ansatzpunkt, um die Landgemeinden auf eine spezifische Art und Weise zu regieren, nämlich indem die Landgemeinden bis in die Gesetze hinein und in weitaus stärkerem Maße als städtische Gemeinden als wirtschaftliche Körperschaften entworfen wurden. Bis ins frühe 20. Jahrhundert galten die Gemeinden als Räume, die durch andere Charakteristika bestimmt wurden als der nationale Raum. Gemeinsame wirtschaftliche Interessen, soziale Überschaubarkeit und Deckungsgleichheit von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Praktiken waren die Charakteristika, die ihnen in politischen, zum Teil aber auch wissenschaftlichen Debatten zugeschrieben wurden. Diese Zuschreibungen hatten Folgen auf konkrete rechtliche Regelungen in den Gemeinden. Viele davon verloren erst im 20. Jahrhundert ihre Bedeutung. Die Vorstellung des gemeinsamen Wirtschaftens in der Gemeinde und die damit verbundenen Praktiken stellten also einen wichtigen Aspekt landgemeindlichen Regierens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar; die Gouvernementalisierung der Gemeinden war eng mit dieser Position der Gemeinden auf der Grenze zwischen Politik und Ökonomie verbunden. Doch nicht nur das Verhältnis der Gemeinden zum Staat wurde durch die gemeindliche Ökonomie des Notbehelfs strukturiert. Auch innergemeindliche Beziehungen waren dadurch geprägt. Wo die Landwirte die Machtposition im Ort hatten, konnten sie auch bestimmte Interessen durchsetzen, zum Beispiel die gemeindlichen Abgaben gering halten oder dafür sorgen, dass gemeindliche Institutionen wie der kommunale Zuchtstier vorhanden waren. Gleichwohl sollten die bäuerlichen Interessen nicht als zu homogen und harmonisch verstanden werden. Utz Jeggle hat bereits vor Jahrzehnten davor gewarnt, die dörfliche Gemeinschaft zu romantisieren. Auch die bäuerliche Genossenschaft sei alles andere als eine romantische Angelegenheit gewesen, sondern sollte einfach als pragmatische Institution verstanden werden:

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Gemeinsam wirtschaften – Gemeindewirtschaft

[D]ie ganze Gemeinschaft besteht darin, daß zentrale Bereiche der Lebensgestaltung an die Genossenschaft abgegeben wurden, um eine geregelte, möglichst ergiebige Nutzung von Wald und Flur zu erreichen. Diese Gemeinschaft hatte nichts mit Emotionen zu tun, sie hat wohl auch nichts mit Gemeinschaft in unserem Sinn zu tun, sie war die Verkehrsform eines bestimmten wirtschaftlichen Verhältnisses.127

Zudem basierte die Vorstellung davon, dass die bäuerlichen Interessen mit den Interessen der Gemeinde insgesamt deckungsgleich seien, darauf, dass ganze Gruppen aus der Gemeinde herausdefiniert wurden. Sie wurden ausgeschlossen aus den gemeindlichen Entscheidungsstrukturen, sodass sie ihre Interessen nicht vorbringen und durchsetzen konnten. Der Ausschluss der nicht-bäuerlichen, besitzlosen Gruppen innerhalb der Gemeinde war die notwendige Folge der Vorstellung, dass eine Gemeinde die Genossenschaft Gleicher sei. Gemeinden in diesem Sinne waren homogenisiert nach innen, streng abgeschlossen nach außen. Doch das ist der Gegenstand des nächsten Kapitels.

127 Jeggle 1977, S. 114.

Rural modern 1875–1925

6.

Die Bewohner des Dorfes oder: Local Citizenships

Wer gehörte zum Dorf? Und wer nicht? Diese eigentlich sehr simplen Fragen ließen sich in der Praxis häufig nicht so einfach beantworten. Zum einen müsste geklärt werden, was diese Zugehörigkeit eigentlich bedeuten sollte. Worauf kam es bei der Zugehörigkeit an? Auf den Wohnort? Auf den Anteil an gemeindlichen Besitztümern wie in Kapitel 5 ausgeführt? Auf das Recht, im Falle von Krankheit oder Armut durch die Dorfgemeinschaft versorgt und nicht etwa ausgewiesen zu werden? Auf die Mitsprache bei gemeindlichen Entscheidungen oder bei staatlichen Wahlen? Diese keineswegs vollständige Aufzählung von Fragen zielt auf ganz unterschiedliche Teilaspekte von Zugehörigkeit ab, die für die historischen Subjekte (nicht nur) auf dem Land als Rechte und Pflichten bedeutsam waren. Manche von ihnen prägten das alltägliche Leben dieser Menschen, andere nur außergewöhnliche Situationen. Die lokalen Gemeindeverwaltungen beschäftigten sich häufig mit den unterschiedlichen administrativen Akten, die mit diesen Zugehörigkeiten verbunden waren. Sie mussten Wählerverzeichnisse führen, über Heimatzugehörigkeiten beschließen oder bei der Zu- oder Aberkennung nationaler Zugehörigkeiten Auskünfte erteilen. Als Forschungsbegriff beschreibt Citizenship die unterschiedlichen Facetten von Zugehörigkeit und die sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten eines Subjekts. Der Begründer des Konzepts, Thomas S. Marshall, formulierte zwar allgemein, dass Citizenship sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (community) ergebe.1 Doch faktisch wird Citizenship in der Regel auf die Zugehörigkeit zu einem Staat und damit auf staatliche Rechte, seien es bürgerliche, politische oder soziale, bezogen.2 Doch auch die Zugehörigkeit zu lokalen Gemeinschaften ging mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten einher. Gerade in der dynamischen Phase um die Wende zum 20. Jahrhundert gerieten staatliche und lokale Zugehörigkeiten, die vormals mehr oder weniger problemlos miteinander koexistiert hatten, miteinander in Konflikt. Denn einerseits wurden gemeinde- und staatsbürgerliche Rechte zunehmend in der gleichen politischen Sprache beschrieben und damit vergleichbar, andererseits war es jedoch weder die alltägliche Rechtsrealität noch gesellschaftlicher Konsens, dass lokale und nationale Rechte deckungsgleich sein sollten.3 In Deutschland stellte die Revolution von 1918/19 eine Kongruenz zwischen lokalen

1 Marshall 1992, S. 18. 2 Vgl. ebd., S. 8 f.; Fahrmeir 2007, S. 2. 3 Vgl. Rehm 1892, S. 248. Teleologisch argumentiert allerdings Schennach 2016, S. 42.

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und nationalen Rechten her, doch sie blieb umstritten. Um diese Reibung zwischen unterschiedlichen Rechtsbündeln und die daraus resultierenden Konflikte besser sichtbar zu machen, werde ich im Folgenden von Citizenships im Plural schreiben. Gerade während der Periode um 1900 waren Citizenships vielfältig und zunehmend fragwürdig. Nicht nur die politische Sprache, die eine Vergleichbarkeit zwischen lokalen und nationalen Rechten nahelegte, sondern auch soziale Verschiebungen im Dorfgefüge führten dazu, dass die Rechte und Pflichten ausgehandelt, verteidigt, zugestanden und aberkannt wurden. Häufig verstanden sich diese Rechte nicht von selbst, denn sie basierten auf alten, längst vergangenen sozialen Ordnungen der Gemeinden, auf fixierten Besitztümern und statischen Lebensläufen. Wenn man Citizenships nicht als feste juristische Normen, sondern als „set of practices – juridical, political, economic, and cultural“4 – versteht, dann geraten diese Konflikte und Aushandlungsprozesse in den Blick. Vor allem die Gemeinden und die staatliche Bürokratie rangen darum, Zugehörigkeiten zuzuerkennen oder zu verwehren, während die Betroffenen selbst als Träger:innen dieser Rechte in den Auseinandersetzungen erstaunlich wenig in Erscheinung traten.5 Die Gemeindeverwaltungen bestanden darauf, über die Zugehörigkeiten in ihrer Gemeinde selbst entscheiden zu können. Dieses machtvolle Instrument wollten sie nicht abgeben, doch im Zuge der erweiterten Jahrhundertwende wurden immer mehr Regelungen der lokalen Citizenships staatlicherseits reguliert und standardisiert. Dennoch blieb die Zu- oder Aberkennung von Zugehörigkeit ein wichtiges Mittel für das landgemeindliche Regieren um 1900, auch wenn die Gemeindeverwaltungen am Ende häufig gegenüber den staatlichen Verwaltungsstellen klein beigeben mussten. Zunächst werde ich mich im Folgenden mit dem bayerischen Konzept des Heimatrechts auseinandersetzen. Diese höchst existenzielle Form der Zugehörigkeit war in Bayern, anders als in den beiden anderen Untersuchungsregionen, bis ins 20. Jahrhundert hinein relevant. Wer in seinem Wohnort kein Heimatrecht besaß, konnte im Fall von Armut und Krankheit von der Zahlung lokaler Armenunterstützung ausgeschlossen werden, im Extremfall wurde er oder sie sogar ausgewiesen. Die Gemeindeverwaltungen werden bei der Zuerkennung des Heimatrechts als restriktive gatekeeper sichtbar. In einem zweiten Schritt werden die feinen Abstufungen politischer Partizipationsrechte in ländlichen Gemeinden analysiert. In allen drei Untersuchungsorten wurde lokale politische Teilhabe in bestimmter Weise an ökonomische Kriterien geknüpft. Die politische Ordnung der Gemeinde war die Ordnung der „dörflichen Klassengesellschaft“.6 Migration, Besitzveränder4 Canning in einem unveröffentlichten paper, zitiert nach Eley 2003, S. 30. 5 Im Gegensatz zu solchen administrativen Praktiken können Selbstverortungen sinnvoller mit fluideren Konzepten wie „belonging“ gefasst werden. Vgl. Brockmeyer, Harders 2016. 6 Vgl. dazu Mooser 1984.

Heimat

ungen und die ökonomischen Umschichtungsprozesse in den Gemeinden machten lokale Rechte zu einem wichtigen Distinktions- und Machtmittel, um neben der politischen auch die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Drittens geht es um Zentralereignisse politischer Citizenship: um Wahlen. Sie machten das Verhältnis zwischen den Bürgern (später auch Bürgerinnen) und dem Staat sichtbar und waren damit wichtiger Bestandteil ländlicher Gouvernementalität. Viertens kommt auch in der Untersuchung der lokalen Citizenship die nationale Zugehörigkeit zum Tragen. Besonders im Elsass war die Frage der Staatsbürgerschaft zentral, und zumindest vermittelt mussten sich auch die ländlichen Gesellschaften damit auseinandersetzen.

6.1

Heimat

Lokale Zugehörigkeit war eine existenzielle Frage, zumindest für diejenigen Bewohner:innen des Dorfes, die dauerhaft oder punktuell Unterstützung benötigten. Unter welchen Voraussetzungen erhielt eine Person oder eine Familie von öffentlichen Stellen – in diesem Fall von einer Gemeinde – Unterstützung bei Bedürftigkeit, und zwar nicht als (freiwillige) Wohltätigkeit, sondern im Sinne eines verbrieften Rechts? Diese Frage war im 19. Jahrhundert keineswegs immer einfach zu beantworten, wie wieder einmal der Blick auf die bayerische Gemeinde Bernried zeigt. Als Mutter von acht zum größten Teil noch unversorgten Kindern ist es bei einem Monatsgehalt von 86 M[ark], welches mein Mann als Bahnwärter bezieht, unmöglich, für die Unterkunft und das fernere Fortkommen unseres 14jährigen seit 2 Jahren an einer, sich allmonatlich wiederholenden Krankheit leidenden Sohnes zu sorgen,

so schrieb Margarethe K.7 aus Bernried im August 1908 an „Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Ludwig von Bayern“.8 Sie schilderte, dass sie und ihr Mann bereits alle Ersparnisse für Medikamente und Ärzte ausgegeben hätten, um den offenbar an Epilepsie erkrankten Sohn behandeln zu lassen. Nun sollte dieser in einer Anstalt untergebracht werden. Solange seine Eltern aber das Geld dafür nicht hätten, weise jede Versorgungseinrichtung den Jungen ab. So schloss Margarethe K. mit einem Appell an die Prinzessin, der Familie aus dieser Notlage zu helfen: 7 In bestimmten Kontexten, nämlich insbesondere bei Bittgesuchen und ähnlichen Fällen, werde ich die Namen der Betroffenen abkürzen, auch wenn das rechtlich nicht notwendig ist. Vgl. Harders 2019; Schlimm 2019. 8 Die Adressatin war Marie Therese (1849–1919), Ehefrau des letzten bayerischen Königs Ludwig III. (1845–1921; Regierungszeit von 1912/1913–1918).

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Vielleicht erbarmen sich Ihre Kgl. Hoheit über unsere unverschuldete Notlage und sind uns bei Unterbringung unseres hilfsbedürftigen Sohnes in irgend einer Versorgungsanstalt behilflich, wofür im Voraus aufrichtiger herzlicher Vergelt’s Gott sagen Ehrfurchtsvollst Margarethe [K.] nebst ihren 8 Kindern.9

Dieses Schreiben setzte eine ganze Kaskade von Verwaltungskorrespondenz und -entscheidungen in Gang, denn der für den Schriftverkehr der Prinzessin zuständige Hofmarschall verwies den Fall an die reguläre Verwaltung zurück.10 Dies rief, über die jeweiligen Bezirksämter, die für die Familie zuständigen Gemeinden auf den Plan, neben Bernried war das auch die kleine Landgemeinde Reinhardsrieth in der Oberpfalz.11 Die Gemeindeverwaltung Bernried fühlte sich nämlich nicht zuständig, da der Familienvater aus ihrer Sicht gar nicht hier ansässig sei. In Reinhardsrieth, der ursprünglichen Heimatgemeinde des Vaters Georg K., fühlte man sich allerdings auch nicht zuständig. Man habe festgestellt, daß sich der Bahnwärter Georg [K.] laut angestellter Erhebungen seit 18 Jahren in der Gemeinde Bernried aufhält. Er wird deswegen nach Bernried überwiesen werden. Auch wäre die Gemeinde Reinhardsrieth ohnedies nicht in der Lage für Unterbringung des Knaben [K.] auch nur teilweise zu sorgen.12

Die Verwaltungen beschäftigten sich also nicht zuerst mit der Frage, welche Formen der Unterstützung für die Familie zur Verfügung standen. Zunächst hatten die Gemeinden ein Interesse daran zu klären, ob es überhaupt sie waren, die für diese Unterstützung sorgen mussten – oder nicht vielleicht eine ganz andere Gemeinde. Solche Verfahren gab es auch in anderen Regionen, und sie waren normaler Bestandteil der Armenfürsorge-Verwaltung des 19. Jahrhunderts. In den anderen Staaten des Deutschen Reichs galt seit 1870 das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz, sodass automatisch die Wohngemeinde für die Fürsorge zuständig war.13 In Bayern war das anders. Hier wurden bis in den Ersten Weltkrieg hinein elementare Rechte, unter anderem die Unterstützung im Armutsfall, über das Heimatrecht geregelt. Die zuständige Gemeinde „urteilte darüber, ob sie jemanden zu versorgen

9 Hilfegesuch der Margarethe K. an Prinzessin Ludwig von Bayern, [Juli/August 1908]; StAM, LRA 4445. 10 Marginalverfügung des Frhr. Laßberg (?) an das Bezirksamt Starnberg, 3.8.1908; ebd. 11 Bis jedoch herausgefunden war, welche Gemeinden überhaupt zuständig waren, vergingen schon einmal sechs Wochen. Vgl. dazu Schlimm 2018. 12 Bericht der Gemeindeverwaltung Reinhardsrieth an das Bezirksamt Vohenstrauß, 15.9.1908; StAM, LRA 4445. 13 Vgl. Sachße, Tennstedt 1980, S. 199–205.

Heimat

hatte“, so Ines Zissel.14 Die Gemeinden waren also machtvolle Akteurinnen, doch war es ihnen tatsächlich überlassen, wen sie unterstützen mussten und wen nicht? Untersucht man das bayerische Heimatrecht genauer, zeigt sich, dass hier sehr komplexe Auseinandersetzungen über Zugehörigkeit stattfanden, in denen die Heimatgemeinde nur eine Akteurin unter vielen war. 6.1.1

Heimatrecht

Jeder bayerische Staatsbürger, so sah es das Gesetz vor, verfügte über eine Heimatgemeinde, die im Fall der Fälle für die Unterstützung zuständig war. Dieses Heimatrecht war noch kein Bürgerrecht – es ergaben sich daraus keine Mitwirkungsrechte in der Gemeinde. Das Heimatrecht (oder im Bayerischen: die Heimat) verknüpfte das Recht auf ständigen Aufenthalt mit dem Recht auf Unterstützung im Notfall.15 Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein hatte etwa die Hälfte der bayerischen Einwohner:innen an ihrem Wohnort kein Heimatrecht,16 sondern behielten ihre „ursprüngliche Heimat“, die bei der Geburt erworben wurde. Bei ehelichen Geburten galt die Heimatgemeinde des Vaters, bei unehelichen die der Mutter. Meist fand ein Heimatswechsel lediglich bei der Heirat statt. Stellte ein Mann in seiner Gemeinde den Antrag auf Verehelichung, so beantragte er gleichzeitig die „erworbene“ Heimat für sich, seine Frau und seine zukünftigen ehelichen Kinder. Ledige beantragten nur selten eine neue Heimat – auch deshalb, weil sie nachweisen mussten, dass sie ökonomisch unabhängig waren, und das waren sie meist nicht. Eine Zeit lang waren solche Anträge auf Zuerkennung des Heimatrechts das ganz überwiegende Tagesgeschäft des Bernrieder Gemeinderats. Im Jahr 1897 standen von 22 Gemeindeausschuss-Beschlüssen ganze 13 in Zusammenhang mit Heimatrechtsverleihungen. In aller Regel wurden diese Anträge genehmigt. Oder genauer: Der Beschluss lautete in der Regel, dass der Ausschuss keine Einsprüche geltend mache – und dass der Antragsteller die übliche Heimatgebühr zu entrichten habe.17 Für die Heimatgemeinde war die Unterstützung im Umkehrschluss eine Pflicht, wie das für Reinhardsrieth zuständige Bezirksamt Vohenstrauß betonte:

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Zissel 1999, S. 225. Reger 1908. Vgl. Heydenreuter 2013, S. 120. So beispielsweise im Falle des Schlossergehilfen Lorenz E., der zwar in Bernried beheimatet war, aber in München lebte, und eine Münchner Metzgermeisterstochter zu ehelichen gedachte. Protokoll des Gemeindeausschusses Bernried, 18.10.1897; GAB, B2/4, S. 63.

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Solange die Familie [K.] nicht tatsächlich der Gemeinde Bernrieth [sic!] überwiesen ist, ist selbstverständlich die Heimatgemeinde des [K.] zu einer etwa notwendigen Unterstützung desselben bezw. seiner Familie verpflichtet.18

Für die Gemeinden konnte die Verleihung des Heimatrechts eine finanzielle Belastung bedeuten. In einem anderen Fall hatte der Bernrieder Gemeindeausschuss zähneknirschend das Heimatrecht verliehen, den Beschluss aber mit dem Nachsatz versehen, Kosten dürften aus der Entscheidung für die Gemeinde nicht erwachsen.19 Daraufhin schritt das Bezirksamt ein. Dieser Nachsatz müsse aus dem Beschluss gestrichen werden, da […] der Inhalt des Heimatrechtes gerade in dem Anspruch auf Unterstützung für den Fall der Hilfsbedürftigkeit besteht u. dieser Anspruch durch keinerlei Klauseln der Gemeinde beseitigt werden kann und auch die Verleihung an keine Bedingungen geknüpft werden kann.20

Der Rechtsbegriff „Heimat“ war ein wichtiges Instrument für die Regierung der Bevölkerung; daher wurde er das 19. Jahrhundert über ständig reformiert und ausgehandelt. Drei unterschiedliche Zielsetzungen kamen in der Heimatgesetzgebung zusammen und rieben sich aneinander: erstens die Herstellung von Freizügigkeit, vor allem um Gewerbe und Industrie zu fördern; zweitens die Stärkung gemeindlicher Selbstverwaltungsrechte, die nicht zuletzt in der Entscheidung über die eigenen Mitglieder gesehen wurden; und drittens die Standardisierung von Verwaltungsentscheidungen, auch derjenigen über die Heimataufnahme. So mussten also Regelungen gefunden werden, die die freie Bewegung der Bevölkerung so wenig wie möglich einschränkten, den Gemeinden aber trotzdem die Hoheit über die Zulassung ihrer Mitglieder und Angehörigen ermöglichte, wobei einheitliche Kriterien die Grundlage der Entscheidung bilden sollten. Seit dem Gemeindeedikt von 1808 versuchte der Gesetzgeber, diese unterschiedlichen Zielsetzungen miteinander in Einklang zu bringen.21 Seit der ersten Reform 1818 wurde den Gemeinden die Rolle als gatekeeper zugesprochen.22 Sie agierten möglichst restriktiv, denn jede:r Armenfürsorge-

18 Anordnung des Bezirksamts Vohenstrauß an die Gemeindeverwaltung Reinhardsrieth, 19.9.1908; StAM, LRA 4445. 19 Protokoll des Gemeindeausschusses Bernried, 10.7.1904; GAB, B2/5, S. 17: „Die Gemeindeverwaltung Bernried setzt voraus, daß ihr aus dieser Heimatrechtsverleihung keinerlei Kosten erwachsen.“ 20 Anordnung des Bezirksamts Weilheim an die Gemeindeverwaltung Bernried (Doppel), 16.7.1904; StAM, LRA 4473. 21 Vgl. Riedel 1868. 22 Das galt auch für andere Staaten. Vgl. Grüne 2011, S. 278.

Heimat

empfänger:in war eine:r zu viel für das knappe gemeindliche Budget. Daher existierte ein starkes Machtgefälle zwischen gemeindlichen Funktionsträgern und den Antragsteller:innen. Doch die Gemeinden waren nicht vollkommen frei in ihren Entscheidungen. Denn im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Verwaltungsabläufe standardisiert. Das sollte Rechtssicherheit schaffen, vor allem für die betroffenen Gemeinden. Ab 1896 konnten auch Gemeinden als Antragsteller für das Heimatrecht auftreten. Das taten sie in den Fällen, in denen sie Heimatberechtigte an deren aktuelle Wohnorte übergeben wollten, also in erster Linie dann, wenn sie zu Fürsorgefällen wurden. Oder, wie es in der Begründung des Gesetzesentwurfs hieß: Durch diese Bestimmung soll den Gemeinden ein wirksames Mittel an die Hand gegeben werden, um das rechtliche Band der Heimat zwischen ihnen und Personen zu lösen, welche ihnen tatsächlich fremd geworden sind und Anspruch auf Heimaterwerbung in einer andern Gemeinde haben, von diesem Anspruche aber aus Gleichgültigkeit oder anderen Gründen keinen Gebrauch machen.23

Wenn also jemand wie Familie K. in finanzielle Schwierigkeiten geriet, begannen die Heimatgemeinde und die Wohnortgemeinde miteinander zu streiten. Die Heimatgemeinde stellte einen Antrag auf Überweisung der in Not Geratenen an die Aufenthaltsgemeinde, und diese versuchte verzweifelt, Argumente gegen die eigentlich verpflichtende Aufnahme zu finden. Interessant ist also, dass aller Gesetzesreformen zum Trotz die Gemeinden stets die entscheidenden Subjekte in diesen Streitigkeiten blieben. Auch in den Begründungen und Kommentaren waren die entscheidenden Fragen, wie schädliche Auswirkungen von den Gemeinden ferngehalten werden könnten. Hermann Rehm argumentierte in seinem groß angelegten Überblick über die GemeindeAngehörigkeit, dass vor allem der Wechsel der Gemeindemitgliedschaft „den Gemeindeinteressen schädlich“ sei. Daher sei das Heimatrecht im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker formalisiert worden, um zwischen der reinen Niederlassung und der Gemeindezugehörigkeit differenzieren zu können. So sei die Mobilität nicht eingeschränkt worden, gleichzeitig aber das Steuerungsinstrument Heimatrecht für die Gemeinden gestärkt worden.24 Die Gemeindeautonomie war im 19. Jahrhundert wichtiger als die Möglichkeit der Individuen, ihre lokale Zugehörigkeit

23 Begründung des Gesetzentwurfes, Verhandlung der Bayerischen Kammer der Abgeordneten, 1895/96, Beil. Bd. 8, hier zitiert nach Reger 1908, S. 38 (Hervorhebung im Original); vgl. Seydel 1896. 24 Rehm 1892, S. 238, 241.

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selbst zu steuern. Das Heimatrecht war laut Heydenreuther „in Bayern zu einer Art Grundpfeiler der Macht der Gemeinden über die Menschen“25 geworden. 6.1.2

Wenn die Ausgrenzung nicht gelang

Familie K. geriet also zwischen die Gemeinden Bernried und Reinhartsrieth, die sich gegenseitig den unterstützungsbedürftigen Sohn der Familie zuzuschieben versuchten. Bereits am 16. September 1908, also nur einen Tag nachdem die Gemeinde erstmals an das Bezirksamt Bericht in dieser Sache erstattet hatte, beschloss der Gemeindeausschuss von Reinhardsrieth, die Familie nach Bernried zu überweisen, da sich Georg K. als Familienoberhaupt dort seit mehr als sieben Jahren freiwillig und ununterbrochen aufhalte.26 Bernried wiederum war nicht bereit, die bedürftige Familie aufzunehmen. Zunächst verschleppte Bürgermeister Andreas Pauli die Angelegenheit bis in den November. Dann argumentierte er, eine Verpflichtung zur Aufnahme bestehe schon deshalb nicht, weil die Familie ja bereits vor der Überweisung durch die bisherige Heimatgemeinde hilfsbedürftig geworden sei. Denn das Gesetz sah vor, dass die Heimat nicht geändert werden musste, wenn öffentliche Armenunterstützung ausgezahlt oder beantragt worden war. Pauli argumentierte allerdings übers Hörensagen: Wenn auch [K.] Armenunterstützung nicht beansprucht hat so ist die Familie nach Schilderung der Frau des [K.] in einer Lage die öffentliche Hilfe beansprucht und dazu ist an erster Stelle die Heimathsgemeinde verpflichtet. Georg [K.] hat dem Bürgermeister Pauli gegenüber angegeben er will schon etwas leisten aber ohne Hilfe der Gemeinde ist es ihm nicht möglich für den Knaben zu sorgen. Demnach war [K.] bei Geltendmachung des Heimathanspruches Armenunterstützungsbedürftig. Die Gemeinde Reinhardsrieth kam erst dann zu dem Antrag als sie sich zur Hilfe verpflichtet sah.27

Nach einigen Monaten behielt die Gemeinde Reinhardsrieth die Oberhand – nicht zuletzt mit der Begründung, durch das Bittschreiben sei keine öffentliche Armen-

25 Heydenreuter 2013, S. 124. 26 Bei der Niederschrift des Beschlusses handelt es sich um einen Vordruck; lediglich die Namen und die entsprechenden Gemeinden mussten eingetragen werden. Auch die Begründung war durch das Formular vorgegeben. Protokoll des Gemeindeausschusses Reinhardsrieth: Heimat des Georg [K.], Bahnwärters in Bernried wohnhaft in Bernried bei Schleißheim [sic!], 16.9.1908; StAM, LRA 4445. 27 Protokoll des Gemeindeausschusses Bernried: Heimatsverleihungsantrag der Gemeinde Reinhardsrieth für den hier wohnhaften Bahnwärter Georg [K.] (Abschrift), 8.11.1908; ebd.

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unterstützung beantragt, sondern nur um private Wohltätigkeit gebeten worden.28 So nahm der Bernrieder Gemeindeausschuss schließlich Georg K. und seine Kinder als heimatberechtigte Einwohner in die Gemeinde auf – allerdings widerwillig und nicht ohne zu betonen: „Die Wirksamkeit dieses Beschlusses [wird] von der Bezahlung […] der Heimatrechtsgebühr im Betrage von 10 M abhängig gemacht.“29 Nach einem halben Jahr und unzähligen Briefwechseln zwischen den unterschiedlichen Instanzen war nun also geklärt, dass die Gemeinde Bernried für die Unterstützung des Bahnwärtersohns aufkommen musste, und die Akte des Bezirksamts Weilheim, die Staatsangehörigkeit und Heimat Georg K.s betreffend, konnte geschlossen werden. Interessant sind an dieser Aushandlung zwei Aspekte: Zum einen wird deutlich, dass die eigentlich Betroffenen an der administrativen Aushandlung von Zugehörigkeit erstaunlich wenig beteiligt waren. Ihre Stimme ist in den überlieferten Quellen nicht zu vernehmen, wenn man von dem Bittschreiben absieht, das alles ins Rollen brachte. Allerdings ging es in dieser Aushandlung auch in erster Linie um den administrativen Akt des Heimatrechts, nicht um individuelle Verortungen oder die Integration in eine Dorfgesellschaft.30 Diese Verwaltungsvorgänge hatten jedoch für die betroffene Familie existenzielle Auswirkungen. Zum anderen hat die Analyse des Falls K. gezeigt, dass neben den Gemeinden auch die Bezirksämter an der Aushandlung beteiligt waren. Sie wachten über die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen, während die Gemeinden vor allem eigene Interesse verfolgten, und das bedeutete oft: Sie versuchten, sich nach außen abzuschließen. Das erschwerten aber die Bezirksämter als Vertreter der staatlichen Verwaltung. Das Bezirksamt Weilheim zwang die Gemeinde Bernried zum Einlenken, während das Bezirksamt Vohenstrauß der Gemeinde Reinhardsrieth anfangs nachdrücklich klarmachte, dass sie zur Unterstützung verpflichtet sei, bis die Zugehörigkeit der Familie geklärt war. Die engen finanziellen Spielräume der Gemeinden verschärften die Auseinandersetzungen, denn in der Regel mussten die Armenpflegekosten aus der gemeindlichen Armenkasse bestritten werden, die kaum für die vielen Notleidenden ausreichte (vgl. Kap. 7.1). Daher versuchten die Gemeinden, Ausschlussgründe zu finden, wo es eigentlich keine mehr gab. Denn selbstständige Einwohner, die seit

28 Beschluss des Gemeindeausschusses Reinhardsrieth (Abschrift), 16.12.1908; ebd. Die Gemeinde hatte diese Begründung allerdings nicht selbst formuliert, sondern übernahm den Wortlaut des Bezirksamts Vohenstrauß. Vgl. Anordnung des Bezirksamts Vohenstrauß an die Gemeinde Reinhardsrieth, 11.12.1908; ebd. 29 Beschluss des Gemeindeausschusses Bernried (Abschrift), 17.1.1909; ebd. 30 Vgl. zu diesen Aspekten der Zugehörigkeit Harders 2016.

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mindestens sieben Jahren in der Gemeinde lebten, mussten aufgenommen werden. Doch die Bernrieder Gemeindeverwaltung versuchte, diese Regel zu umgehen.31 Im Falle des Sägers Johann L. weigerte sich der Gemeindeausschuss Bernried, den Antrag der bisherigen Heimatgemeinde Haid zu bewilligen, denn L. sei nicht selbstständig, sondern nur ein Gehilfe der Wendland’schen Gutsverwaltung. Dagegen wandte sich die Gemeindeverwaltung Haid, da genannter nicht […] in Betracht genommen werden kann als Gewerbsgehilfe, indem derselbe nicht in die häusliche Gemeinschaft des Dienstherrn aufgenommen ist, und auch keine Verköstigung bezieht. Johann [L.] ist als selbstständig zu erachten in dem er mit seiner Familie einen eigenen Haushalt führt und direkte Steuern bezahlt.32

Bernried weigerte sich weiterhin, denn der Säger könne unentgeltlich in einer Wohnung seines Dienstherrn wohnen, und die Steuer, die er zahle, sei ohnehin nur „die ihn als Gewerbsgehilfe treffende Einkommensteuer, wie eine solche jeder Taglöhner und Gewerbsgehilfe zu bezahlen hat“.33 Daraus könne man noch keine Selbstständigkeit ableiten. Für die Gemeinde Bernried war nur selbstständig, wer über ein eigenes Gewerbe oder eigene Immobilien verfügte; der Selbstständigkeitsbegriff des Gesetzes, der vor allem auf eigene Haushaltsführung abhob, wurde – möglicherweise absichtlich – missverstanden. Die Gemeindeverwaltung kam mit ihrer eigenwilligen Auslegung der Gesetzeslage auch nicht durch. Wieder schritt das Bezirksamt ein und kassierte die Entscheidung der Gemeinde: [W]ollte man der Erwägung dieses Beschlusses folgen, so wäre der Direktor der Löwenbrauerei in München, der auch nur Einkommens- und keine Gewerbesteuer zahlt, ebenfalls nicht selbständig, ebensowenig wie der Gutsverwalter oder der Bräumeister des Baron von Wendland.34

31 Hierzu bspw. StAM, LRA 4473 (Staatsangehörigkeit & Heimat: Michael H. [1904]) mit einer längeren Auseinandersetzung darüber, ob nun der wenige Tage dauernde Aufenthalt H.s in einer anderen Gemeinde als Unterbrechung gelten müsste, da H. zumindest einen Teil seines Hab und Guts in einem Koffer mit sich geführt hatte; vgl. StAM, LRA 4497 (Staatsangehörigkeit & Heimat: Johann Z. [1906]). 32 Schreiben der Gemeindeverwaltung Haid, 1.2.1910, an das k. Bezirksamt Weilheim, betr.: Verleihung des Heimatrechts in der Aufenthaltsgemeinde; StAM, LRA 4483. 33 Protokoll des Gemeindeausschusses Bernried, 10.2.1910; GAB, B2/6, S. 7 f. 34 Anordnung des Bezirksamts Weilheim an die Gemeindeverwaltung Bernried, 14.10.1910 (Doppel); StAM, LRA 4483.

Die politische Ordnung dörflicher Ungleichheit

Die Zugehörigkeit zur Gemeinde war in Hinblick auf das Heimatrecht vor allem eine Frage des wirtschaftlichen Status’ des Bewerbers. Sichtbar wird aber auch, dass dieser Status nicht nur damit zusammenhing, ob jemand Geld verdiente, sondern auch, wie er das tat. Für die Gemeindeverwaltung Bernried, die durch kleine Landwirte und Handwerker geprägt war, war wirtschaftliche Selbstständigkeit mehr als ein eigener Haushalt. Vor allem aber musste klar sein, dass man jederzeit (und nicht nur im Moment der Aufnahme in die Gemeinde) für seine Familie sorgen konnte. Wäre es nach der Gemeindeverwaltung gegangen, wären alle anderen außen vor geblieben. Doch durch die gesetzlichen Vorgaben, die Kontrolle des Bezirksamts und vor allem die anderen Gemeinden, die ihrerseits ihre armen Heimatberechtigten loswerden wollten, blieb auch einer restriktiven Gemeindeverwaltung wie Bernried manchmal nichts anderes übrig, als neue Heimatberechtigte ohne finanzielle Ressourcen aufzunehmen. Dies geschah zähneknirschend und unter Verschleppung des Vorgangs. Für die Situation der Berechtigten interessierte sich in der Regel niemand. Im Zentrum standen die Interessen der Gemeinden. Lokale Zugehörigkeit war ein vielschichtiges Problem. Das hat man schon an den verschiedenen Zielsetzungen der Heimatgesetzgebung in Bayern ablesen können. Zugehörigkeit wurde nicht nur von einem Akteur, sondern von vielen verschiedenen verhandelt, die jeweils unterschiedliche Interessen vertraten. Während die Bezirksämter für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen hatten und daher die Gemeinden in ihre Schranken wiesen, werden die Gemeinden hier als Akteurinnen mit eigener Agenda sichtbar. Ihnen ging es vor allem darum, sich nach unten abzuschließen – nach außen waren ihre Grenzen so lange recht durchlässig, bis die neu aufzunehmenden Gemeindemitglieder den Anschein erweckten, Forderungen finanzieller Art zu stellen.

6.2

Die politische Ordnung dörflicher Ungleichheit

Bis ins 20. Jahrhundert, ja eigentlich bis in die Gegenwart, ist eine politische Gemeinde nie deckungsgleich mit ihrer Einwohnerschaft gewesen. Sind es heute vor allem die Minderjährigen und unterschiedliche Gruppen von Migrant:innen, die von der politischen Teilhabe vor Ort ausgeschlossen sind, so waren es vor dem Ersten Weltkrieg in aller Regel auch Frauen sowie große besitzlose Gruppen, die kein Stimmrecht in den Gemeinden hatten. In allen drei untersuchten Regionen wurden Gruppen von der Partizipation ausgeschlossen, während andere bevorzugt wurden. Während es heute meist Fragen der Staatsangehörigkeit sind, die den Ausschlag geben, wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert häufig aufgrund ökonomischer Kriterien entschieden, wem welche lokalen Mitwirkungsrechte zustanden. Ökonomische Unterschiede innerhalb der Dorfgesellschaft fanden so

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Die Bewohner des Dorfes oder: Local Citizenships

ihren Widerhall in der politischen Partizipationsordnung. Ausschlaggebend dafür waren gesetzliche Regelungen ebenso wie lokale Praktiken. Im Zuge des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Vorstellung davon, wie das Stimmrecht mit der Person des Wählenden zusammenhing. Denn im frühen 19. Jahrhundert war es vieler Orten das Domizilprinzip, an dem das Stimmrecht orientiert war. In diesen Fällen war das Recht zur lokalen Partizipation mit dem Boden verbunden und wurde durch den Besitzer des Bodens ausgeübt; erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts löste es sich vom Besitz ab und ging als persönliche Qualität auf die Person des Wählenden über.35 Diese Veränderung vollzog sich selten schlagartig. Beide Begründungen, die persönliche und die räumliche, standen noch sehr lange nebeneinander.36 In Mahlow war es das preußische Dreiklassenwahlrecht, das die ökonomische Ordnung zur Blaupause für die politische machte. Die Wahlberechtigten wurden in der Reihenfolge ihrer Steuerleistung in drei Klassen eingeteilt: Die erste bestand aus denjenigen, die mit ihren sehr hohen Steuerbeträgen ein Drittel der Gesamtsteuerleistung aufbrachten, die zweite bestand dann aus denjenigen, die das mittlere Drittel der Steuerlast aufbrachten, und schließlich kam die dritte Klasse mit all den kleinen Steuerzahlern, die gemeinsam noch einmal ein Drittel der steuerlichen Last trugen.37 Jede dieser Klassen wählte die gleiche Anzahl an Gemeindeverordneten. In der ersten Klasse waren oft nur zwei oder drei Wähler, die gemeinsam drei Vertreter in den Gemeinderat entsandten, während es in der dritten Wählerklasse gerne die zehn- oder zwanzigfache Anzahl an Wählern war – in den größeren Gemeinden war das Verhältnis für die kleinen Steuerzahler oft noch ungünstiger.38 In Mahlow kam das Dreiklassenwahlrecht seit 1892, seit dem Inkrafttreten der Gemeindeordnung, zum Tragen. Leider gibt es aus dieser Zeit keine überlieferten

35 Vgl. Sammartino 2009, S. 585. 36 Vgl. ebd. 37 Dieses Verfahren war sehr arbeitsaufwendig und dürfte viele Fehler produziert haben. Eine ausführliche Anleitung mit Beispiellisten findet sich in Saucken 1892; vgl. zu den Formfehlern auch Kühne 1994, S. 138. 38 Zum Vergleich: Im Jahr 1893 waren in ganz Preußen 85,6 Prozent der Wähler in der dritten Abteilung, 10,8 in der zweiten und nur 3,6 Prozent in der ersten eingeordnet. In Berlin war die Spreizung noch stärker ausgeprägt: 90,0 Prozent in der dritten, 8,1 Prozent in der zweiten, 1,9 Prozent der Wähler in der ersten Abteilung. Vgl. Kühne 1994, S. 423. Ritter und Niehuss schätzen die unterschiedlichen Stimmgewichte folgendermaßen ein: Die Stimme eines Wählers der I. Abteilung sei „etwa das 16–26fache, die Stimme eines in der II. Abteilung Wählenden etwa das 5–8fache der Stimme eines Wählers der III. Abteilung“ wert gewesen. Ritter, Niehuss 1980, S. 134. Häufig genanntes Beispiel für die absolute Dominanz einer einzelnen Person auf lokaler Ebene ist Alfred Krupp, der bei einigen städtischen Wahlen in Essen ganz alleine die I. Abteilung stellte. Krupp war aber nicht das einzige Beispiel. Vgl. Anderson 2009, S. 269.

Die politische Ordnung dörflicher Ungleichheit

Wählerlisten, sodass die genaue Verteilung über die drei Klassen nicht nachvollzogen werden kann. Da aber in Mahlow der Gutsbezirk 1875 mit der Gemeinde zusammengelegt worden war, existierte ohnehin eine große ökonomische Spreizung innerhalb der Einwohnerschaft des Dorfes, mit dem Gutsbesitzer auf der einen und Kleinstellenbesitzern oder Arbeitern auf der anderen Seite. In Wolxheim galt wie in anderen französischen Gemeinden seit 1848 das allgemeine Männerwahlrecht auch auf lokaler Ebene. Ganz gleich waren die lokalen Mitsprachemöglichkeiten aber auch hier nicht verteilt. Ja, jeder Gemeindebürger wählte mit jeweils einer Stimme den conseil municipal, doch in bestimmten Situationen wurde das Gremium um die höchsten Steuerzahler der Gemeinde erweitert, die dadurch ein zusätzliches Stimmrecht bekamen. Sie entschieden bei Fragen von finanzieller Tragweite mit und legten gemeinsam mit dem Gemeinderat fest, wann die Weinlese beginnen sollte. Auch in besonderen Situationen – etwa bei der Besetzung des Elsass durch die deutsche Armee 1870 – verstärkten die plus imposés die Gemeinderäte und sollten damit dem gemeindlichen Handeln besonderes Gewicht geben (vgl. Kap. 3.4). In Bayern waren es mehrere Modi, die die ökonomische in die politische Ordnung überführten. Die Gruppe derjenigen, die überhaupt über politische Rechte in der Gemeinde verfügten, war sehr klein. Sie stellte nur einen Bruchteil der Einwohnerschaft dar. Im Jahr 1884 etwa hatte die Gemeinde Bernried ungefähr 450 Einwohner:innen,39 davon waren 43 bzw. 44 Personen stimmberechtigte Bürger.40 Das Bürgerrecht erhielt man nur durch Verleihung und die Zahlung einer erheblichen Gebühr an die Gemeinde. Die eigentlichen Voraussetzungen waren wiederum nicht besonders hoch: Man musste volljährig sein, in der Gemeinde wohnen, ökonomisch selbstständig sein, die bayerische Staatsangehörigkeit besitzen und für eine direkte Steuer in der Gemeinde veranlagt sein. Ausnahmen waren möglich, sowohl für Ausländer als auch für Frauen, wenn auch unter besonders strengen Bedingungen.41 Die Gemeindebürger, also diese knapp zehn Prozent der Bevölkerung, hatten bei den Gemeindewahlen und in der Gemeindeversammlung jeweils eine Stimme, es sei denn, es wurde über Themen von finanzieller Tragweite abgestimmt, zum Beispiel, wenn eine Erhöhung der Ortsumlagen die Folge sein konnte. Ähnlich

39 Bei der Volkszählung 1880 waren es 461, bei der Volkszählung 1885 nur noch 426 Einwohner:innen Historisches Gemeindeverzeichnis 1953, S. 45. 40 Protokoll der Gemeindeversammlung Bernried, 13.1.1884; GAB, B2/3, 2. Buchhälfte: Gemeindeversammlungen, S. 10; ein gesondertes Protokoll, das auch die Stimmverteilung bei dieser Gemeindeversammlung ausweist, nennt allerdings 44 Stimmberechtigte. Für den am 13ten Januar gefaßten u. nachträglich ergänzten Gesammtgemeindebeschluß stimmen mit ‚Ja‘ etc.; GAB, B2/3, loses Blatt, einliegend. 41 Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 10 bis 25.

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wie in Frankreich mussten in diesem Fall die Höchstbesteuerten auch zum Gemeindeausschuss eingeladen werden. Ging es in der Gemeindeversammlung um finanzielle Fragen, hatten die Mitglieder entsprechend ihrer Steuerleistung unterschiedlich viele Stimmen; diese waren nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern wurden jeweils nach den aktuellen Steuerleistungen vergeben. Im Jahr 1884 gab es eine Gemeindeversammlung, für die die Stimmverteilung überliefert ist. Während zwei Bürger über je 14 Stimmen verfügten, brachte es mehr als die Hälfte der Gemeindemitglieder, nämlich 23, nur auf je eine Stimme. Tabelle 6 Stimmverteilung und Stimmgewicht, Gemeindeversammlung Bernried 1884 Anzahl Stimmberechtigte 2 1 1 1 1 15 23 Mitglieder insg.: 44

Stimmenzahl 14 6 5 4 3 2 1

Summe Stimmen 28 6 5 4 3 30 23 Stimmen insg.: 99

In allen drei Gemeinden waren die Partizipationsordnungen also an die ökonomischen Verhältnisse gekoppelt – mal enger und mal weniger eng. Es gab das Prinzip der ungleichen Stimmgewichtung beim preußischen Dreiklassenwahlrecht, das Prinzip der Vertretung qua Steuerleistung bei der Einbeziehung der Höchstbesteuerten in Wolxheim und Bernried, außerdem das Prinzip der Pluralstimmen, das in den bayerischen Gemeindeversammlungen zum Einsatz kam.42 Bei dieser Verzahnung von ökonomischer und politischer lokaler Ungleichheit handelte sich keineswegs um Residuen alter Ordnungen, sondern Verfahren, die im 19. Jahrhundert eingeführt und in der dynamischen Phase zwischen 1870 und 1910 nicht infrage gestellt, sondern neu festgeschrieben wurden.43

42 Pluralstimmen gab es auch in den kleineren ostelbischen Landgemeinden nach der Einführung der Landgemeindeordnung, die weiterhin über eine Gemeindeversammlung verfügten, nicht über eine Gemeindevertretung wie in Mahlow. Das betraf Gemeinden mit weniger als 40 Gemeindebürgern. Vgl. Saucken 1892, S. 7. 43 Besonders bekannt ist hier auch das Beispiel Sachsen, wo Ende des 19. Jahrhunderts ein Dreiklassensystem, zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann ein Pluralstimmrecht eingeführt wurde, das nicht nur Besitz, sondern auch Bildung und Alter mit zusätzlichen Stimmen honorierte. Vgl. Ritter, Niehuss 1980, S. 166 f.; Lässig 1996.

Die politische Ordnung dörflicher Ungleichheit

6.2.1

Reformen der ländlichen Partizipationsordnungen

Mehrere Problemwahrnehmungen machten eine Reform der Stimmverteilung in den (Land-)Gemeinden im 19. Jahrhundert notwendig. Bürokratisierung und die Entstehung des Rechtsstaats waren Entwicklungen, die dafür sorgten, dass nur noch solche Entscheidungen, die entsprechend einer festgelegten Ordnung getroffen wurden, auch Bestand haben konnten. Daher waren unklare Stimmverteilungen, die sich nur auf eine althergebrachte Ordnung beriefen, den Aufsichtsbehörden ein Dorn im Auge. Die Stimmverteilungen sollten an die ökonomische Ordnung in den Gemeinden gebunden sein. Doch die vorhandenen Regelungen zum Stimmrecht waren oft schon viele Jahrzehnte alt und bezogen sich auf ökonomische Strukturen, die es in dieser Form gar nicht mehr gab. So berichtet Patrick Wagner über eine Gemeinde in Westpreußen, in der laut einer Observanz aus dem 18. Jahrhundert nur 13 Bauern das Stimmrecht hatten, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Abfassung volle Hofstellen besessen hatten. Alle anderen Einwohner:innen des Ortes waren vom Wahl- und Stimmrecht ausgeschlossen. Durch die Agrarreformen und die Entstehung des Bodenmarkts hatten sich bis ins späte 19. Jahrhundert die Besitzverteilungen so stark verschoben, dass die Nachkommen der Kleinstellenbesitzer aus dem 18. Jahrhundert zum Teil mehr und besseres Land besaßen als die ehemaligen Vollbauern und entsprechend auch höhere Steuern zahlten, trotzdem aber kein Stimmrecht in der Gemeinde hatten. Als dieses Ungleichgewicht auffiel, bemühte sich der Landrat, das Stimmrecht nach einer standardisierten Vorlage neu zu ordnen.44 Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse in den Gemeinden hatten sich verändert und veränderten sich weiter; das sollte sich auch in den Stimmverteilungen niederschlagen. Sie mussten also gleichzeitig flexibel genug sein, um Veränderungen abzubilden; doch der grundlegende Zusammenhang von (Boden-)Besitz und Stimmrecht sollte erhalten bleiben. Bei der Reform der Bayerischen Gemeindeordnung ging es unter anderem um das Stimmrecht der Forensen, also derjenigen, die Besitz, aber nicht ihren Wohnsitz in einer Gemeinde hatten und entsprechend ihr Bürgerrecht an anderem Ort ausübten. Der liberale Abgeordnete Carl Edel forderte, dass nicht nur diejenigen, die ein besteuertes Wohnhaus in einer Gemeinde hatten, dort ein Stimmrecht bekommen sollten, sondern auch weitere Personen: Es kann nämlich nicht blos ein Hausbesitzer, sondern auch der Besitzer eines ansehnlichen Grundvermögens, z. B. eines Waldes, eines bedeutenden Wiesen- oder Weinbergcomplexes oder der Inhaber einer größeren gewerblichen Unternehmung ein erhebliches

44 Wagner 2014, S. 252.

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Interesse haben in Angelegenheiten der Gemeinde, insbesondere in jenen, welche die Zahlung von Gemeindeumlagen betreffen, mitsprechen zu dürfen.45

Dieses Argument tauchte auch in anderen Debatten über das kommunale Stimmrecht auf. Lokale Partizipationsrechte wurden nicht als gleiche, sondern als Rechte entsprechend der individuellen Betroffenheit verhandelt. Wer viel zahlte, sollte auch viel mitsprechen können, da waren sich konservative und liberale Politiker weitgehend einig.46 Vor allem Abgeordnete aus ländlichen Wahlkreisen setzten sich für die Stärkung der Rechte der Großbesitzer ein. In einer Situation, in der sich soziale Unterschiede immer stärker ausprägten, kämpften die Vertreter der ländlichen Oberschicht dafür, ihre politische Dominanz auch im lokalen Raum zu sichern.47 Die preußische Landgemeindeordnung von 1891 sah einen geringen Zensus für die Zulassung zum Wahlrecht vor, der je nach Steuerart unterschiedlich hoch lag. Besaß man ein Wohnhaus, musste man mindestens drei Mark Grund- und Gebäudesteuer bezahlen. Besaß man keine Immobilie im Gemeindebezirk, so musste man ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von mehr als 660 bzw. 900 Mark nachweisen.48 So wurden die Bezieher geringer Lohneinkommen von der Wahl ferngehalten, zum Beispiel die Landarbeiter.49 Auf einer Versammlung des Nationalliberalen Vereins im Dezember 1891 lobte der Abgeordnete Max Dürre das ausdrücklich:

45 46 47 48

Edel 1869, S. 111 f. Vgl. Evans 2018, S. 16; Rosanvallon 2013, S. 85 f. Vgl. Rössel 2000, S. 350; Kühne 1994, S. 377–569. Saucken 1892, S. 3–5: Von Saucken riet nachdrücklich dazu, diejenigen Einwohner der Gemeinde, die unter 900 Mark steuerpflichtiges Einkommen hatten, vom Stimmrecht auszuschließen: „Der Einfluß des Grundbesitzes ist zwar dadurch gewahrt, daß die Angesessenen immer zu zwei Dritteln in der Gemeindeversammlung vertreten sein sollen, indaß kann auch das Drittel der Nichtangesessenen durch dauernde Unzufriedenheit die Verhandlungen erschweren, wenn es sich z. B. aus Arbeitern zusammensetzt, welche kein Interesse an einem gedeihlichen Gemeindeleben haben. Um solche Möglichkeiten zu verhüten, werden viele Gemeinden beschließen, die Personen mit einem Einkommen von nicht mehr als 900 Mark von den Gemeindeabgaben freizulassen.“ Saucken 1892, S. 4. Lag der Zensus bei 900 Mark, wurden damit am Ende des 19. Jahrhunderts rund 75 Prozent der steuerzahlenden Bevölkerung bereits von den lokalen Rechten ausgeschlossen – wenn man auf die Gesamtbevölkerung geht. Im Jahr 1896 hatten etwa 750 von 1000 grundsätzlich steuerpflichtigen Einwohnern Preußens ein Einkommen von weniger als 900 Mark. Im Jahr 1909 verdiente ein durchschnittlicher Arbeiter etwa 1500 Mark im Jahr, allerdings sind in der Statistik Landarbeiter nicht erfasst. Vgl. Hohorst, Kocka, Ritter 1978, S. 106 u. 112. 49 Zudem bekamen viele Landarbeiter ihren Lohn nicht nur bar, sondern auch in Naturalien ausgezahlt, was sich aber nicht auf das zu versteuernde Jahreseinkommen niederschlug.

Die politische Ordnung dörflicher Ungleichheit

Immerhin ist aber das Gemeindeleben auf dem Lande im Wesentlichen wirthschaftlicher Natur; die wirthschaftlichen Interessen müssen deshalb einen größeren Einfluß haben und gegen Majorisirung geschützt werden. Dies ist geschehen dadurch, daß das Wahlrecht an einen, wenn auch niedrigen Census geknüpft und das Dreiklassen-Wahlsystem Geltung erhalten wird.50

Die Angst vor der Majorisierung der Landgemeinde durch die „Geringbemittelten“ trieb auch Wilhelm von Thüngen um. Daher setzte auch er sich für ein stärkeres Stimmgewicht der Höchstbesteuerten ein. Nur so könne „unnöthige Verschwendung“ in der Gemeinde vermieden werden. Denn sonst würden die ärmeren Einwohner in der Gemeindeversammlung kostspielige Bauten befürworten, die sie selbst nicht bezahlen müssten, die ihnen aber „Arbeit und Verdienst gewährt[en]“.51 Vor allem schien das Problem der „Majorisierung“ das Land zu betreffen, weshalb es besondere Regelungen für die Landgemeinden brauchte. An dieser Frage scheiterte beinahe die Gemeindeordnung in Elsass-Lothringen, weil viele Abgeordnete sich dagegen wehrten, im Gesetz zwischen Stadt- und Landgemeinden zu unterscheiden. Doch letztlich setzten sich die Befürworter der Regelung durch.52 Die Debatten über das Stimmrecht zeigen, dass die Zeitgenossen ein erhebliches Problem der (Land-)Gemeinden wahrnahmen, nämlich die sich immer stärker ausprägende soziale Ungleichheit. Durch die Regelungen sollte sie nicht abgebaut werden. Im Gegenteil: Die Verfahren zur Abstufung der Stimmrechte im lokalen Raum dienten dazu, den Einfluss der zahlenmäßig Unter-, ökonomisch aber Überlegenen zu sichern, gleichzeitig aber die Stimmverteilung ausreichend flexibel zu gestalten, um soziale Auf- und Abstiege abzubilden. 6.2.2

Lokale Aushandlungen

Um 1900 waren die Vorstellungen davon, wer in welchen Kontexten stimmberechtigt sein sollte, keineswegs festgefügt. Die lange anhaltende Vorstellung davon, dass Besitz zum Stimmrecht befähige, hatte eine wichtige Auswirkung: In bestimmten Situationen hatten besitzende Frauen Bürgerrechte, auch wenn sie diese in der Regel nur über einen Stellvertreter ausüben durften. Andreas Fahrmeir schätzt, dass um 1900 in Deutschland etwa 2000 alleinstehende besitzende Frauen lokale Wahl- oder Stimmrechte hatten.53

50 Magdeburgische Zeitung, 9.12.1891; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 10, adh. 1, Bd. 2; Kahr 1896, S. 575. 51 Thüngen 1869, S. 366. 52 Vgl. Preibusch 2006. 53 Fahrmeir 2007, S. 138. Fischer nennt in seinem Überblick neun Territorien, in denen unter bestimmten Umständen Frauen Trägerinnen von Bürgerrechten waren. Fischer 1919, S. 103 f.

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In Bayern hatten Witwen oder unverheiratete Frauen, die in der Gemeinde ein Wohnhaus besaßen und mindestens so viel direkte Steuern zahlten wie die drei höchstbesteuerten Einwohner der Gemeinde, Stimmrecht in der Gemeindeversammlung, das sie allerdings nur über Stellvertreter ausüben durften.54 Dieser Passus war auf Druck der Kammer der Reichsräte in die Gemeindeordnung aufgenommen worden;55 er dürfte der Sicherung ständischer, vor allem adliger Interessen gedient haben.56 In Bernried gab es nur eine Frau, die Gemeindebürgerin war, und das war genau ein solcher Fall: Louise Freiin von Wendland, der Witwe von August von Wendland, wurde am 5. November 1889 das Bürgerrecht in der Gemeinde Bernried verliehen.57 Besitz und Herkunft waren hier wichtiger als das persönliche Kriterium Geschlecht. Während diese Zuerkennung des Bürgerrechts sang- und klanglos vollzogen wurde, gab es immer dann Konflikte über das Wahlrecht, wenn unterschiedliche Begründungen für lokale Partizipationsrechte miteinander in Konflikt gerieten. Ein Beispiel aus Preußen verdeutlicht das. Mit der Kreisordnung, die im ostelbischen Preußen 1872 in Kraft trat, wurde erstmals festgelegt, dass die Schulzen und Schöffen in den Gemeinden gewählt werden mussten. Wie diese Wahl aber vonstattengehen sollte, legte der Gesetzgeber nicht fest. In ortsüblicher Weise sollten die neuen Amtsträger gewählt werden, also mit dem Stimmrecht und der Stimmverteilung, die auch bislang in den Gemeindeversammlungen praktiziert worden war.58 Nun bestand aber das Grundproblem darin, dass es in vielen Gemeinden gar keine Gemeindeversammlung mit einer festgelegten Stimmverteilung gab. Und auch dort, wo eine geschriebene Ordnung existierte, war diese nicht immer unumstritten.

54 Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 15. 55 Heydenreuter 2013, S. 132, der diesen Passus als besonders progressive Politik der Kammer der Reichsräte interpretiert. 56 Eine ähnliche Regelung zur Sicherung adliger Rechte gab es im Habsburgerreich. Vgl. Bader-Zaar 2014. 57 Protokoll der Gemeindeausschusssitzung Bernried, 25.10.1893; GAB, B2/3, S. 154. August von Wendland war allerdings bereits im Jahr 1884 verstorben. Leider sind keinerlei Unterlagen über diese Bürgerrechtsverleihung überliefert, nicht einmal das Protokoll der Gemeindeausschuss-Sitzung, in der darüber entschieden wurde. 58 Cirkular-Verfügung an die Herren Regierungs-Präsidenten und Regierungs-Vice-Präsidenten zu Gumbinnen, Königsberg, Danzig, Marienwerder, Potsdam, Frankfurt a./O., Stettin, Cöslin, Stralsund, Breslau, Liegnitz, Oppeln, Magdeburg, Merseburg und Erfurt, die Instruktion zur Ausführung der, die die Zusammensetzung des Kreistags betreffenden Vorschriften des ersten Abschnitts, dritten Titels der Kreis-Ordnung für die östlichen Provinzen vom 13. Dezember 1872 betreffend, 10.3.1873, in: Ministerialblatt für die gesammte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten, 22.4.1873, Nr. 4, S. 95.

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So war es auch im kleinen Dorf Neulietzegöricke im Kreis Königsberg in der Neumark. In der Gemeinde wurde unterschieden zwischen denjenigen Grundbesitzern, die eine Kolonistenstelle innehatten, also einen Bauernhof, der sich historisch bis in die Zeit der Kolonisation im Mittelalter zurückverfolgen ließ, und den anderen Einwohner:innen. Das waren häufig Kleinstellenbesitzer, Büdner. Diese Unterscheidung war offenbar für alle Einwohner:innen in Neulietzegöricke geläufig. Umstritten war allerdings, ob sich aus diesem unterschiedlichen Besitzstatus auch unterschiedliche lokale Rechte ableiten ließen. Im Jahr 1880 wandten sich einige von diesen Büdnern an den Kreisausschuss, um gegen den Ablauf der Vorsteherwahl in der Gemeinde zu protestieren. Sie seien (zum wiederholten Male) vom Stimmrecht ausgeschlossen worden. Wie einliegender Bogen nachweist, sind wir vom Herrn Schulzen Vetter, in willkürlicher Weise und ohne einen gesetzlichen Grund, dafür anzugeben, von dem uns bisher ortsüblich zugestandenen Wahl und Stimmrecht ausgeschlossen. […] Wir können noch nicht annehmen das [sic] es dem Herrn Schulzen Vetter freisteht, je nach Belieben, die ihm nur passende Gemeindemitglieder Stimmrecht zu nehmen und zu geben.59

Auch 1874 seien sie im letzten Moment aus der Wahlversammlung ausgeschlossen worden und hätten daraufhin gefordert, dass das lokale Wahlrecht geregelt werden müsse. Diese Forderung wiederholten sie jetzt, nicht zuletzt deshalb, weil die Beschwerdeführer „unsere Ortsübliche [sic] Kommunalbeiträge zur Gemeindekasse [hätten] zahlen müßen“.60 Interessant sind nun die Begründungen, die von den Kontrahenten ins Feld geführt wurden. Einerseits bezogen sich die Büdner auf die Geschichte: Ihnen habe schon immer das Stimmrecht in der Gemeinde zugestanden. Andererseits aber betonten sie, dass sie auch wegen ihrer Abgaben an der Verwaltung beteiligt werden müssten. Auch der Gemeindeschulze, der dem Kreisausschuss über die Sache berichten musste, begründete seine Entscheidung doppelt: Einerseits habe er mit dem Ausschluss der Büdner die Ruhe im Dorf wiederherstellen wollen. In der Kirchengemeindeverwaltung, in der die Büdner und Tagelöhner abstimmen durften, komme es regelmäßig zu „Partheilichkeiten“, da die soziale Unterschicht im Dorf gemeinsam gegen die wenigen größeren Besitzer stimme.61 Andererseits argumentierte auch Vetter historisch. Stimmrecht in der Gemeinde hätten nur diejenigen, 59 Beschwerde von einer Reihe von Büdnern an den Kreis-Ausschuss Königsberg/Neumark, 19.5.1880; GStA-PK, X. HA Rep. 6C, Nr. 49, hier: fol. 45 RS (meine Hervorhebungen). 60 Ebd. 61 Das wird deutlich aus dem Schreiben des Gemeindevorstehers Neulietzegöricke an den Landrat des Kreises Königsberg/Neumark, 22.9.1877; GStA-PK, X. HA, Rep. 6C, Nr. 49, fol. 23 f.

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die eine Kolonistenstelle besäßen.62 Hier wird deutlich: Das Stimmrecht sollte sich immer noch vom Boden ableiten; und es musste ein bestimmter Boden sein, den man besaß, um daraus Stimmrechte in der Gemeinde ableiten zu können. Dieser historischen Argumentation schloss sich der Kreisausschuss an. Doch damit wurden nicht alle Büdner vom Stimmrecht ausgeschlossen. Denn diejenigen Kleinstellenbesitzer, deren Grundbesitz ursprünglich zu einer Kolonistenstelle gehört habe, müssten ebenfalls stimmberechtigt sein.63 Auch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, zu einem Zeitpunkt, als das Dreiklassenwahlrecht zum preußischen Landtag ebenso etabliert war wie das allgemeine Männerwahlrecht zum deutschen Reichstag, konnten also lokale Partizipationsordnungen noch immer über Bodenbesitz und Geschichte verhandelt werden. Allerdings zeigt sich, dass zusammen mit dem Bodenbesitz auch die Ordnung der Landgemeinden in Bewegung geraten war. Neben die historische Partizipationsordnung traten andere Kriterien. Und die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen und Verfahren wurde ein immer wichtigerer Maßstab für die lokale Ordnung. Bei der Neuabfassung der Wählerliste, bei der nun auch diejenigen Kleinstellenbesitzer berücksichtigt werden sollten, die auf von Kolonistenstellen abgetrennten Stellen saßen, zeigte sich endgültig, dass die Herleitung des Stimmrechts aus dem historischen Charakter des jeweils bewirtschafteten Bodens nicht mehr funktionierte: In Neulietzegöricke gab es kein Grundbuch, das verlässlich Aufschluss über die tatsächlichen Besitzgeschichten hätte geben können. Offenbar ließ sich das Stimmrecht aber ohnehin auch anders begründen. Der Schulze berichtete, er habe den Besitzer Herrlich bereits auf Druck des Amtsvorstehers in die Wählerliste aufgenommen, obwohl dieser kein Kolonistenland besaß. Aber mit 15 Morgen Ackerland gehörte er zu den größeren Grundbesitzern in der Gemeinde, und er zahlte erhebliche Abgaben. Daher habe der Amtsvorsteher dafür gesorgt, dass Herrlich das lokale Stimmrecht zuerkannt werde.64 Die unterschiedlichen Fälle, in denen die lokalen Stimmrechte problematisch wurden, zeigen, wie wenig lokale Citizenship sich auch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf einen eindeutigen Nenner bringen ließ. Das Konzept des Bürgers als (männlicher) Person mit persönlichem Stimmrecht war auch auf lokaler Ebene einflussreich. Jedoch waren Besitz, Steuerleistung, besondere Leistung und besonderes Interesse für die Gemeinde weiterhin wichtige Faktoren, nach denen das Bürgerrecht nicht nur gesetzlich geregelt, sondern auch praktisch ausgehandelt

62 Bericht des Gemeindevorstehers von Neulietzegöricke an den Landrat des Kreises Königsberg/ Neumark, 27.4.1878; ebd., fol. 39. Vgl. Enders 1993. 63 Einspruch des Büdners Christoph an den Kreisausschuss Königsberg/Neumark, 4.6.1880; GStA-PK, X. HA Rep. 6C, Nr. 49, fol. 48. 64 Bericht des Gemeindevorstehers Neulietzegöricke an den Landrat des Kreises Königsberg/Neumark, 22.5.1880; ebd., fol. 49.

Die politische Ordnung dörflicher Ungleichheit

wurde. Konflikte um die Ausübung des gemeindlichen Stimmrechts waren nicht selten, und sie deuten darauf hin, wie konfliktbeladen insgesamt die kommunalen Verhältnisse im späten 19. Jahrhundert waren. Die einzelnen Streitfälle zeigen aber, dass die enge Kopplung von Besitz und politischen Partizipationsrechten im lokalen Raum stark anschlussfähig war. Es verstand sich für viele lokale Akteure von selbst, dass die bodenbesitzenden Einwohner:innen Rechte hatten, die den nicht-besitzenden Dorfbewohner:innen verwehrt wurden. Doch die Frage, wie Besitz und Stimmrecht konkret miteinander verknüpft waren, war Gegenstand der Auseinandersetzungen. 6.2.3

Eine neue Ordnung

Mit der Revolution von 1918 änderte sich zumindest die gesetzliche Lage. Zwar regelte die Weimarer Reichsverfassung die Wahlprozeduren für die Einzelstaaten nicht en détail, schon gar nicht für die jeweiligen Gemeinden, aber sie verfügte das allgemeine Wahlrecht für Männer wie für Frauen auf allen Ebenen.65 Damit wurde auch der Zensus abgeschafft. Für die Gemeinden in Preußen und Bayern kam die Erweiterung des Wahlrechts nicht aus heiterem Himmel. In Bayern war bereits kurz vor der Revolution das Bürgerrecht als besonders zu verleihendes Recht abgeschafft worden, ein Zensus war allerdings genauso bestehen geblieben wie der Ausschluss der meisten Frauen.66 In Preußen war das Dreiklassenwahlrecht bereits seit Längerem in der Diskussion, seit 1917 lief ein konkreter Reformprozess. Ein Landesgesetz des neuen Freistaats Preußen regelte im Jahr 1919 bereits vor der Weimarer Reichsverfassung das Gemeindewahlrecht analog zum Reichstagswahlrecht.67 Die Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts auch auf die Gemeinden war allerdings in der Weimarer Nationalversammlung durchaus umstritten. Während die SPD das allgemeine und gleiche kommunale Wahlrecht bereits seit Langem forciert hatte68 und auch das Zentrum alle Einschränkungen und Stimmgewichtungen abschaffen wollte, war der Liberale Hugo Preuß als „Vater der Weimarer Reichsverfassung“ kein engagierter Fürsprecher des allgemeinen kommunalen

65 Weimarer Reichsverfassung, Art. 17. 66 Vgl. Fischer 1919, S. 18. 67 Dies betraf allerdings nicht das kommunale Wahlrecht in den Gutsbezirken; hier waren weiterhin die Einwohner:innen von der kommunalen Partizipation ausgeschlossen. Das änderte sich erst mit der endgültigen Auflösung der Gutsbezirke 1927. Vgl. Wehler 2003, S. 326. 68 Vgl. Rebentisch 1985, S. 15.

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Wahlrechts.69 Vehemente Kritik kam von rechts: Die Deutsche Volkspartei (DVP) und die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) argumentierten, es dürfe im Namen der Demokratie keine „Schablonisierung“70 betrieben werden. Die Länder selbst sollten das Recht haben, über das Gemeindewahlrecht zu entscheiden. Wilhelm Kahl (DVP) argumentierte wieder einmal mit einem Wesensunterschied zwischen Staat und Gemeinden: „Für eine gesunde Zusammensetzung von Gemeindekörpern müssen in Wirklichkeit ganz andere Grundsätze geltend und maßgebend sein als für Volksvertretungen.“71 Auch Adelbert Düringer (DNVP) wollte den Unterschied zwischen Staat und Gemeinde gewahrt wissen. Bei der staatlichen Wahl gehe es um die eigenen, bei der kommunalen Wahl um die Gemeindeinteressen: In der Volksvertretung wähle ich die Frau oder den Mann, der mein Vertrauen als Politiker genießt, von dem ich annehme, daß er meine Weltanschauung, meine politischen Anschauungen am besten in der Volksvertretung zum Ausdruck bringt. […] Bei den Wahlen zur Gemeindevertretung dagegen, wo ich das Wohl und Wehe der Gemeinde im Auge habe, wähle ich diejenigen, von denen ich annehmen kann und auf Grund meiner Erfahrung annehmen muß, daß sie das Wohl und Wehe der Gemeinde am besten beurteilen können und daß sie die Tüchtigsten sind, für die Entwicklung der Gemeinde zu sorgen.72

Noch vehementer setzte sich der „Bayerische Bürgermeister“, die Zeitschrift des bayerischen Verbandes der Landgemeinden, gegen das allgemeine Gemeindewahlrecht zur Wehr. Nach den neuen Bestimmungen sei jede:r bayerische Staatsbürger:in, die:er mindestens zwanzig Jahre alt war, wahlberechtigt: [J]eder Dienstbote, z. B. der ein Jahr lang in der Gemeinde sich aufhält, auch wenn er sogar keine Steuern bezahlt, ist wahlberechtigt. Die hier geschaffenen Wahlbestimmungen stürzen die bisherige gemeindliche Verwaltung vollständig um und sie werden Verhältnisse in die [sic] Gemeinden schaffen, welche die gedeihliche Entwicklung der Gemeinden ganz entschieden schädigen.73

69 „Man mag schon Bedenken haben über die Ausdehnung auf das Gemeindewahlrecht; aber das geht.“ Hugo Preuß (Reichskommissar), in: Stenographische Berichte der Verhandlungen der Deutschen Nationalversammlung, 3.7.1919, Bd. 327 (1919/20), Sp. 1256 D. 70 Wilhelm Kahl (DVP), in: ebd., Sp. 1256 B. 71 Ebd. 72 Adelbert Düringer (DNVP), in: ebd., Sp. 1257 D. 73 Gemeindewahlen, in: Der bayerische Bürgermeister. Verwaltungsblatt für die Stadt- und Landgemeinden Bayerns 8, Nr. 4 (1919), S. 27–28, hier: S. 27 (Hervorh. im Orig.).

Bürger und Staat – Wahlen als Beziehungsmomente

Das war das Problem, das die konservativen Kräfte mit der Ausweitung des Wahlrechts auf dem Dorf hatten: dass die (weiterhin vorhandene) starke soziale Ungleichheit nicht mehr in der politischen Ungleichheit ihre Entsprechung finden sollte. Und tatsächlich: Der Ausschluss vor allem des landwirtschaftlichen Hilfsund Hauspersonals von der politischen Partizipation ging ihrem Ende entgegen. Auch die Empfänger:innen von Sozialleistungen erhielten nun das Stimmrecht. Diese Verschiebungen sind in der Literatur zum Wahlrecht bislang noch nicht in ihrer ganzen Bedeutung wahrgenommen worden – vielleicht auch deshalb, weil es auf Reichsebene vor allem das Frauenwahlrecht war, das den ganz großen Unterschied zum Kaiserreich ausmachte.74 Doch für die Landgemeinden war das anders. Die enge Verzahnung der ökonomischen Ungleichheit mit dem Partizipationsregime war nun auf gesetzlichem Wege beseitigt. Lokale politische Citizenship war ab sofort an die staatliche Citizenship angekoppelt, während sich bislang unterschiedliche Qualitäten – vom Besitz über Geschlecht bis hin zu Alter und Ehre – überlagert hatten, um den lokalen Bürger zu formen.

6.3

Bürger und Staat – Wahlen als Beziehungsmomente

Das Wahlrecht wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts in immer mehr Staaten das „politischste“ der Rechte, die der Staatsbürger ausüben konnte.75 Auch wenn es nur in großen zeitlichen Abständen in nationalen bzw. einzelstaatlichen Wahlen praktiziert wurde,76 kam ihm eine zentrale Bedeutung für die Prägung der (männlichen) Bürger als Staatsbürger zu.77 Das gilt, obwohl das Wahlrecht in der Regel nicht von der großen Menge der Staatsangehörigen, sondern von kleinen Gruppen eingefordert und erkämpft wurde.78 In der historischen Forschung wurden Wahlen in den letzten Jahren nicht mehr nur unter dem Blickwinkel der jeweiligen Berechtigungen oder ihrer Ergebnisse analysiert, sondern als Ereignisse eigenen Rangs.79 Diesen Studien ist gemeinsam,

74 Zum Wahlalter knapp Schanbacher 1982, S. 54, der ansonsten sehr ausführlich auf die Einführung des Verhältniswahlrechts eingeht. Zum deutschen Frauenwahlrecht im europäischen Kontext vgl. Richter, Wolff 2018. 75 Vgl. Balibar 2015. 76 Die Legislaturperiode des Reichstags betrug zunächst drei, ab 1893 dann fünf Jahre; ähnlich war es in Preußen, wo die Wahlperiode 1888 auf fünf Jahre verlängert worden war. Die bayerische Kammer der Abgeordneten wurde auf sechs Jahre gewählt. 77 Vgl. Anderson 2009. 78 Vgl. Richter 2017, S. 39–134. Zur Geschichte des allgemeinen Wahlrechts Rosanvallon 1992. 79 Zum Forschungsstand Gatzka, Richter, Schröder 2013; Kühne 1993.

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dass sie Wahlen in ihrer Vielschichtigkeit analysieren, zum Beispiel als performative politische Ereignisse mit hohem Symbolcharakter, aber auch als soziale Situationen, die beispielsweise durch Männlichkeit, soziale Distinktion oder kulturelle Besonderheiten geprägt wurden.80 Wahlen waren nicht zuletzt Ereignisse, die die Verbindung zwischen dem „Wahlvolk“ und dem Staat sicht- und erfahrbar machte. Diese Beziehung sollte auch die Untertanen des 19. Jahrhunderts beeinflussen, sollte sie zu staatsbürgerlichem Verhalten disziplinieren.81 Doch man sollte diese Beziehung nicht auf ihre repressiven Effekte reduzieren. Wie andere Regierungstechniken auch müssen auch die Wirkungen in den Blick genommen werden, die über die staatlichen Intentionen hinauswiesen, die nicht kontrollierbar waren und dauerhaft das Verhältnis von Staat und Untertanen verändern konnten. Wie das vonstattenging und welche Akteure dabei welche Rollen spielten, werde ich im folgenden Kapitel zeigen. 6.3.1

Die bayerische Landtagswahl von 1875

Das Wahlrecht zum bayerischen Landtag war – zumindest aus heutiger Perspektive – kompliziert (im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Wahlrechten wie dem preußischen Dreiklassenwahlrecht eher nicht). Die Wahl war eine indirekte. In regionalen Wahlversammlungen wurden nicht die Abgeordneten, sondern Wahlmänner gewählt, die dann in einer erneuten Versammlung über die Zusammensetzung des Landtags entschieden. Um als Urwähler an diesen Wahlversammlungen teilzunehmen, musste man in ein Wahlregister eingetragen sein; das passierte nicht automatisch. Und dafür war zunächst ein wichtiger Schritt erforderlich: Am 3. Juli 1875 wurde in der Rubrik „Amtliches“ des „Starnberger See-Boten“,82 einer wöchentlich erscheinenden Zeitung für Starnberg und Umgebung, bekannt gegeben, dass am kommenden Dienstag im Landgerichtslokal in Starnberg ein Sondertermin anberaumt sei, an dem man den Verfassungseid ablegen könne. Denn die Landtagswahl stand bevor. „Wahlfähig ist jeder volljährige Staatsangehörige, welcher dem Staate eine directe Steuer entrichtet, soferne er nicht wegen Verurtheilung der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig ist“, und der eben diesen Eid auf die Verfassung abgelegt hatte.83

80 Vgl. Gatzka 2019; Schröder 2019; Stockinger 2012. 81 Richter macht diesen Punkt besonders stark, der mir aber als Movens für die steigende Bedeutung von Wahlen in der Moderne etwas überstrapaziert zu sein scheint; vgl. Richter 2017, S. 10. 82 Vgl. zur Zeitung Baur, Schmidt-Fischbach 1990. 83 Starnberger See-Bote Nr. 10, 3.7.1875, S. 1. Zum Wahlrecht außerdem Eichner 1895, S. 34. Erst ab 1881 verloren Empfänger von Armenunterstützung (im Jahr vor der Auslegung der Wählerlisten) ihr Wahlrecht. Vgl. Ritter, Niehuss 1980, S. 151.

Bürger und Staat – Wahlen als Beziehungsmomente

Der Verfassungseid, den alle Urwähler in Bayern nachweislich abgelegt haben mussten, bewies die besondere Verbindung zwischen dem Staat und dem einzelnen Untertan. Er lautete: „Ich schwöre Treue dem Könige, Gehorsam dem Gesetze und Beobachtung der Staats-Verfassung, so wahr mir Gott helfe und sein heiliges Evangelium.“84 Er war nicht beschränkt auf die Eintragung ins Wählerverzeichnis; grundsätzlich sollten alle Bayern diesen Eid ablegen. Doch dafür brauchte es besondere Gelegenheiten. Neben der Beantragung des Heimatrechts war die Eintragung als Wähler ein solches Ereignis. Damit stand die Wahl selbst unter dem Eindruck, dass der Wähler bei diesem Akt dem König, der Verfassung und Gott gleichermaßen gegenüber verantwortlich war.85 Das Angebot, noch schnell vor der Wahl den Verfassungseid abzulegen, stieß offenbar auf viel Interesse. Die Zeitungen berichteten über einen großen Andrang, zumindest in den Städten.86 Ein Grund dafür war, dass die Landtagswahl von 1875 in einem sehr aufgeheizten politischen Klima stattfand und stark zur Polarisierung zwischen der liberalen Partei und der katholischen Patriotenpartei beitrug. Politische Gräben zwischen Stadt und Land, zwischen Bayern und dem Reich, zwischen dem katholischen Milieu und dem liberalen waren die Folge.87 Insofern ist diese Wahl ein interessanter Untersuchungsgegenstand, um die Beziehungen zwischen den lokalen Wählern einerseits und dem Staat beziehungsweise den konkurrierenden Parteien andererseits zu analysieren. Wahlen im 19. Jahrhundert waren keine Momente individueller Geschmacksentscheidungen auf einem „politischen Massenmarkt“.88 Wahlkämpfe adressierten keine Konsumsubjekte, sondern soziale Gruppen und Milieus. Die Verortung der Wählenden in diesen sozialen Kontexten einerseits und die Positionierung der Parteien zu bestimmten Milieus oder Gruppen andererseits ist der Hintergrund, vor dem solche Wahlen und Wahlkämpfe analysiert werden müssen.89 Nun ist es nicht so leicht, die Positionierung der lokalen Wähler – vor allem im ländlichen Raum – sichtbar zu machen, denn es fehlen die Quellen dafür, welche Rolle der Wahlkampf in den Dörfern spielte, ob der Pfarrer wirklich von der Kanzel Wahlempfehlungen aussprach oder ob das ein Klischee ist. Ein Hilfsmittel

84 Verfassungs-Urkunde des Königreichs Baiern 1818, Abschn. X, Art. 3. 85 Vgl. Weichlein 2015. 86 Das Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land berichtete von dem enormen Andrang in München, wo der Verfassungseid an mehreren Tagen vor der Wahl noch abgelegt werden konnte, wo täglich mehr als 1000 Menschen beim Magistrat erschienen seien. Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 157, 15.7.1875, S. 619. 87 Vgl. Hartmannsgruber 1986; Albrecht 2003, S. 378–380; Kraus 1988, S. 556. 88 Rosenberg 1967, S. 123. 89 Vgl. Anderson 2009, S. 499; zur Rolle der „Brotherren“ bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag genauer dies. 1993.

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für die Erforschung der politischen Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung ist die Kleinstadtpresse, wie es sie auch im Umkreis von Bernried gab: der eben erwähnte „Starnberger See-Bote“ und das „Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land“. Beide waren privatwirtschaftliche Unternehmen und damit Konkurrenzprodukte zur amtlichen Presse, die es zusätzlich in den jeweiligen Orten gab.90 In vielen Klein- und Landstädten entstanden nach 1848 solche Zeitungen, die mit ihrer lokalen oder regionalen Ausrichtung in den Dörfern eine zunehmende Leserschaft fanden, aber bislang kaum erforscht sind.91 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die Angaben in der Forschung schwanken zwischen den 1860er Jahren und den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg – verbreiterte sich die Leserschaft dieser kleinstädtischen Blätter in die ländlichen Gesellschaften hinein,92 während großstädtische Presseerzeugnisse auf dem Dorf kaum eine Rolle spielten.93 Die kleinstädtische Lokalpresse war es also, die die „Landbevölkerung zu Zeitungslesern“ machte,94 und sie leistete einen erheblichen Beitrag zur politischen Polarisierung, gerade zur Landtagswahl 1875. Die Parteien publizierten in den Zeitungen Wahlaufrufe. Auch wenn es sich bei den Parteien noch nicht um stabile Massenorganisationen handelte, wurden sie für die Durchführung der Wahlen zunehmend wichtig. Sie nominierten im Vorfeld ihre Kandidaten und mobilisierten die Wähler – über die Presse, aber auch über Wahlkampfveranstaltungen. Noch am Tag der Wahl warb die liberale Partei mit folgenden Worten um ihre Anhänger in Weilheim: Wer unter dem starken Schutze des Gesetzes Frieden will, wer die Freiheit des Gewissens hochhält und den Glauben Anderer ehrt, wer das Vaterland wie des Volkes Wohl aufrichtig liebt, den Verrath am Vaterlande aber haßt, wem die Wahrheit über alles geht, wer will, daß Bayern in seiner Selbstständigkeit die schönste Perle in der deutschen Kaiserkrone bildet,95

der sollte die liberalen Wahlmänner wählen. Die Patriotenpartei hatte ihren Wahlaufruf bereits am Tag zuvor drucken lassen; dieser landete aber nicht auf der Titelseite des Blattes, sondern auf der Rückseite – ob das der politischen Präferenz des Verlegers oder der jeweils investierten Geldsumme

90 In Weilheim (und Werdenfels) war das in den 1870er Jahren das Weilheim-Werdenfelser Wochenblatt; Starnberg hingegen wurde über das Bezirksamt München links der Isar (bzw. dessen Wochenblatt) abgedeckt. 91 Vgl. Rösener 2000; Zimmermann, Mahlerwein, Maldener 2018. 92 Vgl. Koszyk 2007, S. 511; Zimmermann 2010, S. 17 f. 93 Vgl. Zimmermann 2010, S. 17 u. 21. 94 Ders. 2006, S. 228. 95 Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land, Nr. 157, 15.7.1875, S. 619 (Hervorh. im Orig.).

Bürger und Staat – Wahlen als Beziehungsmomente

zu verdanken war, lässt sich leider nicht nachprüfen. Im Wahlaufruf der Patrioten hieß es: Die jetzigen Ereignisse erheischen Männer, welche mit aller Charakterfestigkeit gegen Kirchenverfolgung, gegen Preisgabe unseres theueren bayerischen Landes, gegen Unterjochung, Aussaugung und Verarmung des Volkes entschieden eintreten.96

Die beiden konkurrierenden Parteien beriefen sich auf Staat und Vaterland, um die Wähler für sich zu gewinnen. Doch die Moralisierung des Wahlakts wurde nicht nur durch die Parteien vorangetrieben. Sogar eine so stark involvierte Zeitung wie das „Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land“, die immer wieder offen Partei für die Liberalen ergriff, forderte kurz vor der Wahl: Wenn nun aber auch der Wahlkampf diesmal hart werden wird und es sich noch nicht einmal annähernd bestimmen läßt, welcher Partei das schwankende Zünglein der Waage den Sieg zuwenden wird, so ist es umsomehr Pflicht eines jeden Staatsbürgers, der es wohl mit seinem Vaterlande meint, den gesetzlichen Sinn für Ordnung und Recht nicht außer Auge zu lassen und die politische Anschauung seines Mitbürgers zu achten, damit der Wahlkampf seine unheilvollen Früchte nicht in das gesellschaftliche Leben überträgt. Wähle daher Jeder am kommenden Donnerstag nach seiner Ueberzeugung; der Lenker der Geschicke aller Völker aber gebe, daß die bevorstehenden Landtagswahlen zu Bayerns und Deutschlands Wohlfahrt ausfallen mögen!97

Die lokale Presse trug also sowohl zur Polarisierung der Milieus als auch zur Subjektivierung des Wählers als verantwortungsbewusstem und vernunftbegabtem Staatsbürger bei, der vor allem dem Vaterland gegenüber verantwortlich war. Durch die Wahlen und das große öffentliche Drumherum – von der Zeitungsberichterstattung über die Sondertermine zur Ablegung des Verfassungseids bis hin zu den Wahlakten selbst – wurden die Bürger in den (hier: bayerischen) Staat, in die monarchische Ordnung, eingebunden. 6.3.2

Wählen, praktisch betrachtet

Jenseits dieser ideellen Aufladung war die Wahl auch ein ganz konkreter Akt, durch den der einzelne Wähler direkt mit dem „Staat“, verkörpert zum Beispiel durch den Wahlvorsteher, in Kontakt kam. Das Wählen trug also dazu bei, „den Staat“

96 Ebd., Nr. 156, 14.7.1875, S. 618. 97 Ebd., Nr. 155, 13.7.1875, S. 609 (meine Hervorhebung).

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im Leben des einzelnen Wählers erfahrbar zu machen.98 Doch wie genau sah der Kontakt zwischen dem Staat und der lokalen ländlichen Bevölkerung aus? Was waren die Rahmenbedingungen des Wählens im späten 19. Jahrhundert? Die Landtagswahl 1875 in Bayern, genauer gesagt die Urwahl der Wahlmänner, fand an einem Donnerstagvormittag statt. Das Weilheimer Wahllokal wird in der Zeitung nicht genauer bezeichnet, in Starnberg wurde in einer Gastwirtschaft, im Tutzingerhof, gewählt. Die Bernrieder Urwähler mussten nach Pähl am Ammersee gehen oder fahren, das rund zwölf Kilometer entfernt war.99 Für Wähler, die nicht wirtschaftlich selbstständig waren, dürfte die Teilnahme an der Wahl durchaus ein Problem dargestellt haben, mussten doch lohnabhängig Beschäftigte in der Regel am Donnerstagvormittag arbeiten und konnten sich nicht für längere Zeit von ihrer Arbeitsstelle entfernen.100 Manche Berufsgruppen wurden aber für die Teilnahme an den Wahlen freigestellt: So gab das Weilheimer Tagblatt bekannt, dass laut Verordnung der Schulunterricht am Wahltag ausfalle, um den Lehrern die Abstimmung zu ermöglichen.101 In Bayern gab es für die Wahlen keine ausführlichen Bestimmungen, aus denen wir den Ablauf des konkreten Akts rekonstruieren könnten.102 Aber das Gesetz und die Berichterstattung in der Lokalpresse ermöglichen doch einige Einblicke, denn besonders das Weilheimer Tagblatt informierte seine Leser darüber, was sie beachten mussten. Die Wahlversammlung wählte zunächst einen siebenköpfigen Vorstand, der über Einsprüche gegen die Wahl entschied103 und darauf achtete, dass es in der Wahlversammlung wirklich nur um die Wahl, nicht aber um andere Themen ging.104 Gewählt wurde in Bayern mit Wahlzetteln, während in Preußen noch mündlich gewählt wurde. Allerdings mussten die Wähler dabei einiges beachten:

98 Vgl. Retallack 1995, S. 37. 99 Die Urwahlbezirke wurden so geschnitten, dass jeweils etwa 2000 Einwohner dazugehörten – Einwohner (oder gar Einwohner:innen?) wohlgemerkt, nicht Wahlberechtigte. Gesetz, die Wahl der Landtags-Abgeordneten betr., S. 78–88, 10.6.1848, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 11, hier Art. 11. Die Zuweisung Bernrieds zum Stimmbezirk Pähl geht nur aus dem Bericht über die Wahlergebnisse hervor. Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 160, 18./19.7.1875, S. 630. 100 Dass die Frage des Wahlorts keine banale Frage ohne politische Bedeutung war, zeigt Dormal (2017) am luxemburgischen Beispiel. 101 Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 157, 15.7.1875, S. 619. 102 Zum Wahlrecht in Bayern Ritter, Niehuss 1980, S. 150–154. 103 Gesetz über die Wahl der Landtags-Abgeordneten betr., 10.6.1848, in: Gesetz-Blatt für das Königreich Bayern, Nr. 11, S. 78–88, Art. 23. 104 Ebd., Art. 27; einen ähnlichen Passus gab es in Preußen auch, der zudem regelte, dass nur geschäftsmäßige Kommunikation während der Wahlhandlung zugelassen war.

Bürger und Staat – Wahlen als Beziehungsmomente

Wir machen hiedurch die Urwähler Weilheims noch besonders aufmerksam, daß jeder Wahlzettel den Vor- und Zunamen, sowie den Charakter des zu Wählenden enthalten soll und vom Wähler eigenhändig unterschrieben sein muß, außerdem derselbe keine Gültigkeit hat. Die Namen der Wahlmänner jedoch können auch von einer andern Person geschrieben werden. Bei Urwählern, welche des Schreibens unkundig sind, hat ein Mitglied des Wahlausschusses die ihm vom Wähler bezeichneten Namen in den Zettel einzuschreiben und das Handzeichen des Urwählers zu beglaubigen. Fälschung der Unterschrift wird schwer bestraft.105

Andere Wahlbeeinflussungen waren ebenfalls streng verboten: „Jede Beschränkung der Freiheit der Wahl und jede Benützung eines obrigkeitlichen Einflusses auf die Wähler wird strenge geahndet, und nach Umständen mit der Dienstes-Entlassung bestraft.“ Auch finanzielle Beeinflussung sollte unterbleiben: „Die Bestechung der Wähler soll die Ungültigkeit der Wahl und den Verlust der activen und passiven Wahlfähigkeit für den Bestecher und den Bestochenen als Strafe zur Folge haben“.106 Bis zur Wahlreform von 1906107 war die Wahl nicht geheim, und die Stimmzettel waren nicht standardisiert.108 Jeder mit den notwendigen Informationen beschriebene Zettel konnte als Stimmzettel angenommen werden. In München bereiteten die Parteien die Stimmzettel für die Urwahl vor und verteilten sie an die jeweiligen Anhänger. So konnten sie sicherstellen, dass die Wahlvorschläge auch durchkamen und etwaige Schreibfehler oder mehrdeutige Angaben den Stimmzettel nicht ungültig machten. Das „Weilheimer Tagblatt“ lobte diese Vorarbeiten ausdrücklich: Diese Vorbereitung so vieler Tausende von Wahlzetteln, deren jeder den Vor- und Zunamen und den Stand der zu wählenden 4–6 Wahlmänner zu tragen hatte, nahm große Zeit und Mühe in Anspruch, allein es wurde dadurch auch das Wahlgeschäft sehr erleichtert und abgekürzt und zu einem völlig geregelten Gang desselben beigetragen. Beide

105 Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 156, 14.7.1875, S. 614. 106 In Bayern sind offene Beeinflussungen der Stimmabgabe kaum dokumentiert, auch wenn das Weilheimer Tagblatt Wahlbeeinflussungen durch „bischöfliche Generale“ witterte. Vgl. Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 155, 13.7.1875, S. 609. Für die Steuerung des Wahlergebnisses war die Wahlkreiseinteilung allerdings ein wichtiges Instrument. Vgl. Thränhardt 1973, S. 113–117. In Preußen hingegen gelten Wahlbeeinflussungen in den ländlichen Regionen als häufig; die Landräte sorgten über die Bürgermeister und Volksschullehrer dafür, dass die Land- und Reichstagswahlen zugunsten der Konservativen ausgingen. Vgl. Kühne 1994, S. 64 u. 80. Ziblatt 2009, S. 3. 107 Vgl. Thränhardt 1973, S. 118–122. 108 Erst seit 1924 existieren in Deutschland standardisierte amtliche Wahlzettel. Vgl. Mergel 2016, S. 341.

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Parteien waren auch so gut disziplinirt, daß von keinem der 16.688 Urwähler andere Personen als die vorgeschlagenen zu Wahlmännern gewählt wurden.109

Anders als heute fanden die Landtags-Urwahlen als Terminswahlen, also in Form einer geschlossenen Versammlung, statt. Diese hatten im Gegensatz zu Fristwahlen, bei denen innerhalb einer festgelegten Zeitspanne Stimmzettel in eine Urne geworfen werden, einen deutlicheren theatralischen Charakter.110 Vor allem aber dauerten sie; davon zeugen die Berichte in den Zeitungen. Das Weilheimer Tagblatt berichtete, dass in manchen besonders umkämpften Bezirken die Versammlungen viele Stunden, zum Teil sogar mehrere Tage in Anspruch genommen hätten. In Würzburg hätten die Wahlen angeblich ganze drei Tage gedauert, und auch in Regensburg habe das Wahlergebnis, das knapp für die Liberalen ausfiel, bis nachts um halb zwei auf sich warten lassen.111 Im Vergleich zu diesen recht wenig standardisierten Wahlverhandlungen, deren Ablauf offenbar in erster Linie den Wahlvorständen in die Hände gelegt war, folgten die Wahlen in Preußen, die nach dem Dreiklassenwahlrecht abgehalten wurden, einem strikt festgelegten Ablauf. Hier wurde in der Teilöffentlichkeit der Wahlversammlung die soziale – heißt: fiskalische – Hierarchie eindeutig zum Ausdruck gebracht. Denn die Wähler wurden als Teil ihrer jeweiligen Wählerklasse nach vorne gerufen; dort hatte er seine Wahlentscheidung mündlich mitzuteilen. Außerdem waren die Verhaltensregeln für die Wahlversammlung besonders streng. Es durfte zum Beispiel nur das für die Wahlhandlung Notwendigste gesprochen werden. Erinnert sei an die These Retallacks, dass das Ereignis Wahl ein wichtiger Berührungspunkt zwischen lokaler Bevölkerung und „dem Staat“ darstellte: In diesem Sinne zeigte sich der preußische Staat hier besonders strikt.112 Der „See-Bote“ berichtete am 17. Juli schließlich über den Verlauf der Wahl in Starnberg.113 „Ruhig und entschlossen“ seien die Starnberger zur Wahl geschritten; „[s]owohl vor wie auch nach der Wahl herrschte an diesem Tage hier die größte Ordnung und Ruhe“.114 Ähnlich in Weilheim: „Die heutige Wahlmänner-Wahl nahm einen ganz ruhigen Verlauf.“115 In anderen Orten hingegen sei die Stimmung angespannter gewesen, habe es sogar Ausschreitungen gegeben: „In Zell (bei Würzburg) machten vorkommende Exzesse die Herbeirufung von Militär nothwendig; auch in Leonberg und in Guttenberg (Oberfranken) verlief der Wahltag nicht

109 110 111 112 113 114 115

Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 163, 22.7.1875, S. 641. Kühne 1994, S. 128 f. Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 161, 20.7.1875, S. 633. Vgl. Kühne 1994, S. 129–132. Starnberger See-Bote Nr. 12, 17.7.1875, S. 1. Ebd. Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 158, 16.7.1875, S. 622.

Bürger und Staat – Wahlen als Beziehungsmomente

ohne blutige Prügeleien.“116 Während die Wahlversammlungen in den eigenen Heimatorten als ruhig und gesittet beschrieben wurden, mithin die eigene lokale Gesellschaft als geordnet und der Wahlhandlung würdig erschien, war dies offenbar nicht überall der Fall, wie die Zeitungen zu berichten wussten. Gewalttätige Ausschreitungen am Rande von Wahlhandlungen waren in der Geschichte moderner Wahlen sicher keine exotischen Ausnahmen, wenn auch nicht die Regel.117 Durch die Berichterstattung in den lokalen Zeitungen aber wurde das Eigene, Geordnete mit dem Fremden und Chaotischen kontrastiert, also die eigene Ordnung durch die Wahl bestätigt. Ob mit diesen Berichten über die Zwischenfälle in Ober- und Unterfranken die Differenz zwischen den Altbayern und den Franken wieder einmal unterstrichen werden sollte, ist unklar. Die eigene Ordnung des Wählens stellte das „Weilheimer Tagblatt“ zumindest als vorbildlich dar; die Wähler in Weilheim und Umgebung bestärkte die Zeitung in ihrer Rolle als moralische Staatsbürger. Gegenüber diesen Ereignissen waren die Ergebnisse schnell berichtet. Die Starnberger wählten liberal – gewählt wurden Sigmund von Schab, Leiter der Versammlung, und Xaver Friedl, der Ökonom (also Landwirt) und Bürgermeister der Gemeinde Percha (heute ein Ortsteil von Starnberg). In Weilheim hingegen siegten die Patrioten deutlich; während ihr Spitzenkandidat 289 Stimmen auf sich vereinigen konnte, bekam der Kandidat der Liberalen nur 137 Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag knapp über 50 Prozent,118 für Starnberg möglicherweise etwas höher.119 Im Wahlbezirk Pähl scheint die Wahl auf den ersten Blick noch nicht parteipolitisch geprägt gewesen zu sein. Während das „Weilheimer Wochenblatt“ für viele, auch entfernt gelegene Wahlbezirke die siegreiche Partei angab, war das für Pähl nicht der Fall. Aber aus den gewählten Wahlmännern lässt sich doch schließen, dass sich auch hier die Patriotenpartei mit den katholischen Kräften durchsetzte. Denn die meisten Stimmen entfielen auf den Bernrieder Ortspfarrer Leichtweis.120

116 117 118 119

Ebd., Nr. 161, 20.7.1875, S. 633. Zur Gewalt bei Wahlen vgl. Berg 2017; Richter 2017, 193–208. Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 159, 17.7.1875, S. 627. In Starnberg wurden insgesamt 248 Stimmzettel abgegeben. Vgl. Starnberger See-Bote Nr. 12, 17.7.1875, S. 1. Albrecht (2003) rechnet vor, dass Anfang der 1880er Jahre etwa 67 Prozent der volljährigen männlichen Bevölkerung wahlberechtigt waren. Legt man diese Zahlen zugrunde, lag die Wahlbeteiligung in Starnberg bei ca. 66 Prozent. Gesamtzahlen für die bayerische Landtagswahl 1875 liegen nicht vor. 1869 lag die Wahlbeteiligung bei 50,8 Prozent, 1881 dann nur noch bei 32,9 Prozent. Vgl. Ritter, Niehuss 1980, S. 157. 120 Weilheimer Tagblatt für Stadt und Land Nr. 160, 18./19.7.1875, S. 630.

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Die Bewohner des Dorfes oder: Local Citizenships

6.3.3

Wahlen, ein „Danaergeschenk“?

Wahlen ermöglichten eine wichtige Erfahrung mit „dem Staat“, obwohl sie nur alle paar Jahre stattfanden. Andere Institutionen wie Schule und Militärdienst waren sicherlich prägender für die individuellen und auch kollektiven Sozialisierungen. Doch die Wahlen fügten dem Untertanen-Subjekt andere, auch widersprüchliche, Facetten hinzu. Einerseits hatte der Wähler als Subjekt politische Handlungsmacht, wenn die eigene Stimme zu einer veränderten Zusammensetzung des Parlaments beitrug. Diese agency wurde umso stärker erfahrbar, je klarer der einzelne Wähler auf der Seite der Gewinner stand bzw. einen eigenen Einfluss seiner Stimme zumindest einschätzen konnte – ein Grund dafür, dass die Wahlbeteiligung unter den Mitgliedern der dritten Wählerklasse in Preußen gering ausgeprägt war, war wohl das Wissen um den geringen Einfluss der eigenen Stimme.121 Die Anlässe für Wahlen wurden nun immer häufiger. Immer mehr Körperschaften galt es zu wählen – vom Gemeinderat und dem Pfarrgemeinderat bis hin zum Land- oder Reichstag. Zudem kam es immer wieder vor, dass gewählte Körperschaften vorzeitig aufgelöst wurden und entsprechend neu abgestimmt werden musste. Dabei waren Wahlen politisch keineswegs unumstritten: Viele Politiker und Bürokraten waren der festen Überzeugung, dass sie Unruhe produzierten, und wieder einmal war es vor allem das Land, das vor dieser gefährlichen politischen Entwicklung bewahrt werden sollte.122 Besonders deutlich wird das im Reichsland Elsass-Lothringen. In Frankreich war 1848 das allgemeine Männer-Wahlrecht eingeführt worden, das im Zweiten Kaiserreich als Instrument des bonapartistischen Regierungssystems genutzt worden war. Trotz der fehlenden demokratischen Strukturen führten die Wahlen im Zweiten Kaiserreich zu einer Gewöhnung der Bürger an die Praxis des Wählens, wie Crook und Dunne herausgearbeitet haben.123 Auch in den Gemeinden wurde seit der Revolution von 1848 nach diesem Wahlrecht gewählt. Im Jahr 1892 ging es aber um die Neufassung der Verwaltungsgeographie; die vorhandenen Arrondissements sollten nach preußischem Vorbild in Kreise umgebaut werden. Unterstaatssekretär Ernst von Köller warnte davor, nach der Reform auch auf dieser Ebene das allgemeine Wahlrecht einzuführen: [W]enn ich nun sage, dieses gefährliche Danaergeschenk, welches wir hier haben, will ich nicht in die neuen Institutionen mit hinübernehmen, in die Kreisordnung hinein,

121 Vgl. Kühne 1994, S. 168 u. 179 f. 122 Vgl. Gemeindewahlen, in: Der bayerische Bürgermeister. Verwaltungsblatt für die Stadt- und Landgemeinden Bayerns 8, Nr. 4 (1919), S. 27–28. 123 Vgl. Crook, Dunne 2017.

Nationale Zugehörigkeiten und das Dorf

in den Kreistag, welcher viele und ganz andere Geschäfte wie heute zu führen haben wird, und welcher nicht eine politische Körperschaft ist, sondern gewissermaßen ein erweiterter Gemeinderath, welcher sich vielmehr mit wirthschaftlichen und finanziellen Fragen der Gemeinden zu beschäftigen hat. Dort hinein noch das allgemeine direkte Wahlrecht einzuführen, sehe ich keinen Grund.124

Wieder einmal wurde also die Differenz zwischen politischen Körperschaften und der lokalen Ebene bemüht, die eben nicht politisch, sondern wirtschaftlich sei und daher nach anderen Mechanismen funktioniere als „der Staat“. Lokales Regieren und staatliches Regieren im 19. Jahrhundert funktionierten in der Wahrnehmung der Zeitgenossen unterschiedlich. Gleichzeitig fürchteten sie, dass diese Differenzen eingeebnet würden, zum Beispiel durch Automatismen bei der Wahlreform. Das allgemeine Wahlrecht war nicht unumstritten; trotzdem wurde es als Modell immer einflussreicher.125 Es führten immer weniger Wege an der Beteiligung der erwachsenen (männlichen) Bevölkerung vorbei. Wo es einmal eingeführt worden war, wurde es nicht mehr abgeschafft. Nach 1918 war das allgemeine Wahlrecht – für Männer wie für Frauen, ob Steuerzahler:in oder Fürsorgeempfänger:in – in Deutschland auf allen politischen Ebenen erreicht.126 Auch wenn es heute so wirkt: Dieser Weg war nicht vorgezeichnet und zwingend. Die Analyse lokaler Wahlen verdeutlicht, dass es sich bei Wahlen um vielschichtige historische Ereignisse handelte, die sich nicht auf eine Geschichte der unaufhaltsamen Wahlrechtsausweitung reduzieren lassen.

6.4

Nationale Zugehörigkeiten und das Dorf

Auch wenn ich eingangs betont habe, dass neben der Staatsangehörigkeit die lokalen Formen der Citizenship beachtet werden müssten, so hatte doch in bestimmten Situationen auch die Staatsangehörigkeit, noch fundamentaler: die Nationalität, für das lokale Regieren wichtige Effekte. Das ist besonders gut am Beispiel des Elsass herauszuarbeiten. Nationalität war eine existenzielle Kategorie, vor allem zu den Zeitpunkten, als das Elsass die nationale Zugehörigkeit wechselte. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Aushandlung von Zugehörigkeit in den Übergangsperioden 1870/71 und 1918/19. Zu Beginn und zum Ende der „Reichsland“-Zeit

124 Stenographische Berichte des Landesausschusses von Elsass-Lothringen, XIX. Session, 5. Sitzung, 17.2.1892, S. 57; ADBR, 39 AL 166. 125 Vgl. Rosanvallon 1992, S. 445–448. Vgl. außerdem Rauh 1977, S. 365–369; zeitgenössisch Weber 1984a. 126 In Frankreich – und damit auch in Wolxheim – galt hingegen bis 1944 das allgemeine Männerwahlrecht.

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wurden die Zugehörigkeiten in spezifischen Verfahren ausgehandelt und geklärt; für die Betroffenen hatte das gravierende individuelle Folgen, denn es ging darum, ob sie an ihrem Wohnort bleiben durften oder zwangsweise das Land verlassen mussten. Außerdem, aber das sei hier nur erwähnt, spielte Elsass-Lothringen sowohl für Deutschland als auch für Frankreich eine wichtige Rolle in der Debatte darüber, wie Staatsangehörigkeit überhaupt zu definieren war – eine Diskussion, die bekanntermaßen in den beiden Ländern zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führte.127 Doch gerade in den Übergangsperioden von 1870/71 und 1918/19 wurden Zugehörigkeit und Staatsangehörigkeit kaum entlang der Differenz von ius sanguinis und ius soli verhandelt. Zwar handelte es sich bei der Grenzziehung zwischen Zugehörigen und Fremden nicht originär um Gemeindeangelegenheiten, doch die Gemeinden waren auf sehr unterschiedlichen Ebenen an diesen Verfahren beteiligt. Im Wolxheimer Gemeindearchiv gibt es praktisch keine Überlieferung zu diesem Problem. Daher werde ich im Folgenden punktuell auf die Fälle eingehen, die in meinem Quellenkorpus auftauchen. So kann ich zeigen, inwiefern die Gemeinden in die Aushandlung von Zugehörigkeit einbezogen wurden. 6.4.1

Die Option als Nicht-Zugehörigkeitserklärung

Bei der Besetzung und der anschließenden Annexion der elsässisch-lothringischen Gebiete durch das Deutsche Reich stellte die Staatsangehörigkeit der Einwohner:innen ein wichtiges zu lösendes Problem dar. Entsprechend ist es auch kein Wunder, dass es sowohl im vorläufigen als auch im endgültigen Friedensvertrag vom Mai 1871 zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich eine große Rolle spielte: Den aus den abgetretenen Gebieten herstammenden, gegenwärtig in diesem Gebiete wohnhaften französischen Untertanen, welche beabsichtigen, die französische Nationalität zu behalten, steht bis zum 1. Oktober 1872 und vermöge einer vorgängigen Erklärung an die zuständige Behörde die Befugniß zu, ihren Wohnsitz nach Frankreich zu verlegen und sich dort niederzulassen […]. Es steht ihnen frei, ihren auf den mit Deutschland vereinigten Gebieten belegenen Grundbesitz zu behalten.128

Der Friedensvertrag sah also vor, dass nach Abschluss einer Optionsperiode die ins Deutsche Reich eingegliederten, früher französischen Gebiete von einer nun rein 127 Vgl. Harvey 1999, S. 539. Idealtypisch erscheinen Deutschland und Frankreich als die beiden extremen Pole des Staatsangehörigkeitsrechts – Frankreich mit dem Prinzip des ius soli, Deutschland mit dem des ius sanguinis. Die idealtypische Gegenüberstellung verschleiert aber möglicherweise mehr als sie verdeutlicht. Vgl. Brubaker 1992; kritisch dazu Sammartino 2009. 128 Frankfurter Friedensvertrag [1871], Art. 2.

Nationale Zugehörigkeiten und das Dorf

deutschen Bevölkerung bewohnt sein sollten. Dazu wurde eine sowohl territoriale als auch voluntaristische Konstruktion von nationaler Zugehörigkeit aufgerufen: einerseits mussten die Bewohner, um die es hier ging „aus den abgetretenen Gebieten herstamm[en]“ und dort auch entsprechend wohnen, andererseits war es aber ihre jeweilige Entscheidung, für die eine oder die andere Nationalität zu optieren. Diese Optionslösung war zeitgenössisch nicht ganz unbekannt, aber in ihrer konkreten Bedeutung durchaus umstritten. Die autonomistische „Ligue d’Alsace“ argumentierte, bei der Option handle es sich um eine Art Ersatz-Plebiszit, mit dem die Bevölkerung ihre Ablehnung der Annexion artikulieren könne.129 Zunächst war die Optionsregelung ein Auslöser für große Unruhe im Gebiet des eben gegründeten „Reichslandes“. Rund zehn Prozent der Bevölkerung optierten für Frankreich. Alfred Wahl beschreibt die Stimmung als ein „Fieber“,130 und insbesondere im Kreis Molsheim muss es hoch hergegangen sein, wenn auch eher in den westlichen Teilen und nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft von Wolxheim. Doch je länger sich die Optionsperiode hinzog, umso stärker griff die aufgeheizte Stimmung auch von den (Klein-)Städten auf die Landgemeinden über.131 Insgesamt wies der Kreis Molsheim die höchsten Optionsraten im ganzen Unterelsass auf – immerhin 16,6 Prozent der Bevölkerung oder 12.504 Personen optierten hier für die französische Staatsbürgerschaft.132 In manchen Gemeinden kamen so exorbitante Optionsquoten zustande wie in Gresswiller, wo 61 Prozent der Bevölkerung für Frankreich optierten.133 Hier könne man, so Wahl, die Kombination verschiedener Motive für die Option beobachten. Grundsätzlich – und nicht nur im Kreis Molsheim – war die Furcht vor dem preußischen Militärdienst ein wichtiger Faktor, der junge Männer gemeinsam mit ihren Eltern optieren ließ.134 Dazu kam insbesondere im Kreis Molsheim die stark katholische Prägung der Bevölkerung, die zur Abwehr gegen die deutsche Annexion führte.135 Ein besonders wichtiges Motiv für Teile der Bevölkerung im Kreis Molsheim dürfte aber gewesen sein, dass sie französischsprachig waren. In diesen Gemeinden lag der Schwerpunkt der Option, hier verbanden sich sprachlich-nationale und religiöse Motivlagen zu einer starken Ablehnung der preußisch-deutschen (und damit protestantischen) Annexion des Elsass.136 Für den nordöstlichen (deutschsprachigen) Teil des Kreises war die Quote der Optant:innen deutlich geringer als in den Vogesen-Gemeinden,

129 130 131 132 133 134 135 136

Vgl. Gosewinkel 2001, S. 195. Wahl 1974, S. 66–74. Vgl. Gosewinkel 2001, S. 196. Vgl. Wahl 1974, S. 108. Vgl. ebd., S. 119. Vgl. Gosewinkel 2001, S. 196; Wahl 1974, S. 121. Vgl. Gosewinkel 2001, S. 196; Wahl 1974, S. 120. Vgl. Wahl 1974, S. 119–121.

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weshalb man auch für Wolxheim mit einer niedrigen einstelligen Optionsquote rechnen kann.137 Auch die starke Kontinuität des Wolxheimer Gemeinderats weist darauf hin, dass die Optant:innenquote hier gering war. Doch heißt das nicht, dass die politische Aufregung des Jahres 1872 nicht auch die Gemeinde Wolxheim in Bewegung versetzte. Viele der Optant:innen waren männlich und im militärfähigen Alter; viele stammten aus einer bürgerlich-städtischen Mittelschicht, wie überhaupt das Optieren weitgehend ein städtisches Phänomen war. Insgesamt entschieden sich 160.000 Einwohner:innen in den annektierten Gebieten für die französische Staatsangehörigkeit; dazu kamen noch einmal 388.000 Personen, die ihre Option für Frankreich außerhalb des „Reichslandes“ vor französischen Behörden erklärten. Von den 160.000 Optant:innen innerhalb des „Reichslandes“ verließ allerdings nur ein gutes Drittel die Region, um nach Frankreich zu ziehen. Die anderen blieben, wo sie waren.138 Zudem kehrten offenbar auch viele Optant:innen in ihre elsässischen oder lothringischen Heimatregionen zurück. War die deutsche Administration insbesondere in der Anfangszeit noch sehr rigide und reagierte mit Ausweisungen, wie es der Friedensvertrag von Frankfurt ermöglichte,139 lockerte sich der Umgang mit den Optant:innen zunächst beim Übergang von der militärischen zur zivilen Verwaltung unter Oberpräsident Eduard von Moeller im September 1871. Es sei „nur v. Moellers verständnisvoller Einstellung zu verdanken“ gewesen, dass viele Rückkehrer die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen durften und trotzdem von der militärischen Dienstpflicht ausgenommen blieben.140 Während es für den Optionszeitraum selbst keine lokale Überlieferung gibt, so weisen doch zwei Fundstücke darauf hin, dass in den späteren Jahren mit den Optant:innen im Einzelfall durchaus pragmatisch umgegangen wurde. Im Oktober 1895 setzte der Wolxheimer Gemeinderat den Fall Emil Jungbluth auf die Tagesordnung. Jungbluth hatte einen Antrag auf Wiederaufnahme in den deutschen Staatsverband gestellt, wünschte also, wieder im Elsass leben zu dürfen. Er war der Sohn eines Wolxheimer Bürgers; ansonsten fehlen alle Unterlagen zu ihm. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er im Zusammenhang mit der Option das Elsass verlassen hatte und nun, fast 25 Jahre später, wieder zurückkehren wollte. Zwar wurde hier im Gemeinderat das Anliegen als „Wiederaufnahme“ in den deutschen Staatsverband verhandelt; möglicherweise hat das hier aber lediglich etwas mit der etwas verworrenen Situation zu tun, dass Jungbluth zwar nach Wolxheim zurückkehrte, aber doch erstmals deutscher Staatsangehöriger werden sollte. Ganz wie es das Gesetz über den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit des 137 138 139 140

Vgl. ebd., S. 120. Vgl. Wehler 1979, S. 33. Vgl. Nipperdey 1998, S. 283 f. Wehler 1979, S. 32 f.

Nationale Zugehörigkeiten und das Dorf

Deutschen Reiches141 vorsah, musste nun die Gemeinde angehört werden. Diese urteilte pragmatisch und unaufgeregt: Gegen die Naturalisation habe die Gemeinde nichts einzuwenden, da Jungbluth 1. einen unbescholtenen Lebenswandel geführt, 2. bei seinem Vater ein Unterkommen findet, 3. und er sich bei demselben zu ernähren im Stande ist.142

Aber nicht nur die Gemeinde, die Jungbluth oder seine Familie offensichtlich kannte, reagierte ohne jede Aufregung auf diese Herausforderung. Auch die deutsche Verwaltung im Elsass reagierte um die Jahrhundertwende nicht mehr in erster Linie repressiv, sondern vor allem pragmatisch und abwägend auf den Fall eines ehemaligen Optanten. So wurde beispielsweise in der Gemeinde Russ, die wie Wolxheim zum Kreis Molsheim gehörte, ein ehemaliger Optant zum Bürgermeister ernannt. Russ war mit 41 Prozent Optionsquote eine der Gemeinden, die den Wert im Kreis Molsheim enorm in die Höhe getrieben hatte.143 Es war ein französischsprachiges Dorf, und in den 1890er Jahren gab es große Schwierigkeiten, überhaupt einen geeigneten Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters zu finden, da der Gemeinderat, wie der Kreisdirektor schrieb, „welcher ausschließlich der franz. Partei und Deutschopposition angehört“, keinen geeigneten Kandidaten aufweise.144 Auch Bürgermeister Beloni Dillenseger sprach kein Deutsch,145 und nach einigen Eskapaden, die wohl seinem hohen Alkoholkonsum geschuldet waren, legte ihm die Verwaltung den Rücktritt nahe.146 Um das sich länger hinziehende Problem des Bürgermeisterpostens in Russ endlich zu klären, schlug der Kreisdirektor vor, den Schreiner Josef Eugen Wenger zum Bürgermeister zu ernennen. Dieser sei viele Jahre Mitglied im Gemeinderat gewesen, was für ihn spreche. Kompliziert sei die Situation lediglich deswegen, weil Wenger im Jahr 1872 außerhalb des Elsass für Frankreich optiert habe, seinen Wohnsitz in Russ jedoch nie aufgegeben hatte.

141 Gesetz über die Bundes- und Staatsangehörigkeit 1.6.1870. 142 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 6.10.1895; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 11. 143 Vgl. Wahl 1974, S. 119. 144 Vorschlags-Liste zur Ernennung eines Bürgermeisters und Beigeordneten für die Gemeinde Russ, 29.2.1892; ADBR, 4 D 593/4. 145 Bezirkspräsident an das Ministerium für Elsass-Lothringen, 7.4.1892; ebd. 146 Kreisdirektor Molsheim an den Bezirkspräsidenten des Unterelsass, betr. Entlassung des Bürgermeisters Dillenseger in Russ aus dem Amte, 24.1.1893; ebd.

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Die Bewohner des Dorfes oder: Local Citizenships

Die Option Wengers mußte daher, nachdem seine Staatsangehörigkeit fraglich geworden war, formell als gültig angesehen und er als Franzose betrachtet werden, während er selbst sich stets als vollbürtigen Elsaß-Lothringer angesehen hat.147

Hier wird deutlich, wie schwierig die eindeutige Zuordnung zu einem Staat, zu einer Nation für die Bewohner:innen von Elsass-Lothringen sein konnte. Zwanzig Jahre zuvor hatte der Angesprochene für die Zugehörigkeit zu Frankreich optiert. Doch identifizierte er sich als Franzose statt als Deutscher? Offenbar waren diese nationalen Zugehörigkeiten für den Schreiner aus Russ wie für so viele andere eher nebensächlich, die sich in diesem „Zwischenraum“ Elsass in erster Linie ihrer Region zugehörig fühlten.148 Auch hier wurde das Problem durch die Bürokratie wieder pragmatisch gelöst: Nachdem Wenger immerhin 16 Jahre im Gemeinderat gesessen hatte, fiel also auf, dass er offiziell kein politisches Amt in der Gemeinde bekleiden durfte. Daraufhin wurde ihm im Februar 1893 die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen.149 In der Begründung für den Bezirkspräsidenten, der die Ernennung zum Bürgermeister bestätigen musste, betonte der Kreisdirektor noch einmal, dass die Option für Frankreich, die zwanzig Jahre zurücklag, sicher kein Grund sein könne, Wenger vom Amt auszuschließen: Wenger ist von jeher mit Unrecht als der große Franzosenfreund verdächtigt wurden. Das Gegentheil geht gerade aus dem Umstand hervor, daß er seinen einzigen Sohn auf Gewerbeschulen nach Altdeutschland schickte, von wo derselbe, der deutschen Sprache in Wort und Schrift mächtig, hierher zurückkehrte um dem Vater im Handwerk zu helfen.150

Am Fall des Bürgermeisters Wenger zeigt sich, wie unterschiedlich die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich trotz der eindeutigen Gesetzeslage gehandhabt werden konnte. Es kam auf den Kontext an, und der war in Russ für die Bürokratie vor allem der, dass es hier niemanden gab, der den Posten des Bürgermeisters übernehmen konnte oder wollte. Offenbar gab es hier immer wieder große Probleme, weil der Bürgermeister für seine Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden von der lokalen Bevölkerung stark angefeindet wurde.151 Nun hatte sich trotz dieser

147 Kreisdirektor Molsheim an den Bezirkspräsidenten des Unterelsass, betr. Ernennung eines Bürgermeisters für Ruß, 4.8.1893; ebd. 148 Vgl. Ther 2003. 149 Kreisdirektor Molsheim an den Bezirkspräsidenten des Unterelsass, betr. Ernennung eines Bürgermeisters für Russ, 4.8.1893; ADBR, 4 D 593/4. 150 Ebd. 151 So hieß es in dem Bericht des Kreisdirektors an den Bezirkspräsidenten: „Er hat sich unschwer entschlossen, das Amt anzunehmen, da er sich wohl der ihm bevorstehenden Anfeindungen und Verdächtigungen bewußt ist“; ebd.

Nationale Zugehörigkeiten und das Dorf

widrigen Umstände jemand bereitgefunden, den Posten zu übernehmen, woraufhin die Bürokratie alle Hindernisse für seine Ernennung aus dem Weg räumte. Trotz seiner Option für Frankreich, trotz der nicht vorhandenen Deutschkenntnisse, trotz der Gerüchte, Wenger sei ein „Franzosenfreund“ plädierte der Kreisdirektor dafür, diesen Kandidaten zum Bürgermeister zu machen. Und tatsächlich wurde Wenger zum Repräsentanten des „Reichslandes“ im Dorf. Aus den hier vorgestellten Fällen lassen sich einige Gemeinsamkeiten ableiten. Die Gemeinden waren bei den Fragen rund um die Option nur sehr mittelbar beteiligt, ging es doch nicht in erster Linie um die Zugehörigkeit zur Gemeinde, sondern um die zum Staat. Der Gemeinde ging es vor allem darum, keine zusätzlichen Fürsorgefälle aufzunehmen, wie bei Emil Jungbluth deutlich geworden ist. Und die reichsländische Bürokratie zeigte sich beeindruckend flexibel bei der Handhabung der Optionsregelungen, sodass sogar ein ehemaliger Optant in einer „renitenten“ Gemeinde zum Bürgermeister gemacht werden konnte. 6.4.2

Commissions de Triage

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die nationale Zugehörigkeit der elsasslothringischen Bevölkerung erneut relevant.152 Das „Reichsland“ gab es nicht mehr, die seit 1870 deutsch verwalteten Gebiete fielen wieder zurück an die Republik Frankreich. Die französische Verwaltung war nun mit dem Problem konfrontiert, wie mit den deutschen Zuwanderern in Elsass-Lothringen umzugehen sei, also vor allem jenen „Altdeutschen“, die während der Reichslandzeit aus dem restlichen Deutschen Reich zugewandert waren, oftmals als Beschäftigte in der deutschen Verwaltung oder bei der Eisenbahn. Allerdings war die Unterscheidung zwischen denjenigen, die als autochthon elsässisch, und denjenigen, die als deutsch begriffen wurden, gar nicht so einfach herbeizuführen. Alison Carrol weist nachdrücklich darauf hin, dass sich der Charakter des Elsass als Grenzregion auch in der engen Verflechtung von „deutschen“ und „elsässischen“ Biographien zeigte.153 Die französische Verwaltung der reannektierten Gebiete zielte auf die möglichst lückenlose Französisierung (vgl. Kap. 9.4 und 10.1). In einigen Fällen spielte wohl auch Rache eine Rolle.154 Doch für dieses Kapitel der Geschichte von Zugehörigkeit fehlt erneut die Wolxheimer Überlieferung. Das liegt sicher daran, dass die Zuwanderung von „Altdeutschen“ in den kleinen Winzerort während der „Reichsland“-Zeit gering gewesen war. Die personellen Diskontinuitäten in Wolxheim waren ohnehin nicht sehr ausgeprägt.

152 Vgl. Boswell 2000; Carrol 2018, S. 57–65; Harvey 1999; Zarah 2008. 153 Carrol 2018, S. 52 u. 57. 154 Vgl. ebd., S. 57.

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Die Bewohner des Dorfes oder: Local Citizenships

Das Verfahren war nun folgendes: Die gesamte Bevölkerung im Elsass und in Lothringen wurde zunächst in vier Kategorien eingeteilt, die in erster Linie auf Abstammung basierten: Zur Kategorie A gehörten diejenigen, die vor 1871 die französische Staatsangehörigkeit hatten, dann aber über den Friedensvertrag von Frankfurt zu deutschen Staatsangehörigen geworden waren, und ihre Nachfahren. Zur Kategorie B zählten diejenigen, die nur ein Elternteil in der Kategorie A hatten. Wer aus einem Land stammte, das am Ersten Weltkrieg als Teil der entente teilgenommen oder neutral geblieben waren, gehörte in die Kategorie C. Schließlich blieb noch die Kategorie D mit Angehörigen der Mittelmächte.155 Zusätzlich zu dieser Kategorisierung wurden sogenannte commissions de triage ins Leben gerufen, die die Fälle derjenigen entscheiden sollten, deren Loyalität gegenüber dem französischen Staat zweifelhaft erschien. Diese Kommissionen hatten weitreichende Befugnisse, bis hin zur direkten Ausweisung. Sie bestanden größtenteils aus Militärangehörigen, lediglich zwei Sitze pro Kommission (die in den ehemaligen Kreisen installiert wurden) waren für lokale Akteure vorgesehen, hier meist Angehörige einer französisch-freundlichen Elite.156 Die Militärangehörigen mussten in der Regel elsässisch können, das war eine durchaus hohe Hürde. So kam es dazu, dass nun Mitglieder von Familien, die 1870/71 aus dem Elsass emigriert waren, als Vorsitzende der triage-Kommissionen zurückkehrten – mit dem gesamten bias, der sich aus dieser Herkunft und Erfahrung speiste.157 Die Kommissionen nahmen noch in den letzten Wochen des Jahres 1918 ihre Arbeit auf, und sie füllten ihre Funktion sehr unterschiedlich aus. Vor allem wurden sie primär auf Anzeige hin aktiv. Die einschlägige Forschung hat belegen können, dass viele Denunziationen ihren Grund nicht in mangelnder Loyalität gegenüber der französischen Nation, sondern in konkreten lokalen und persönlichen Konflikten hatten. Die Masse an Denunziationen zeigte, so argumentiert Harvey, welche enormen Spannungen und Spaltungen nicht nur die „Reichsland“-Zeit, sondern vor allem auch der Erste Weltkrieg im Elsass hinterlassen hatten.158 Auch die Aushandlung von Zugehörigkeit im Elsass nach dem Ersten Weltkrieg war also letztlich vor allem eine lokale Angelegenheit, auch wenn sie nicht innerhalb der etablierten kommunalen Strukturen verhandelt wurde. Die detaillierte Auswertung von solchen Aushandlungsprozessen der Zugehörigkeit, idealiter unterschieden nach Stadt und Land, steht derweil noch aus.

155 156 157 158

Vgl. Harvey 1999, S. 548; Carrol 2018, 57 f. Vgl. Harvey 1999, S. 542. Vgl. ebd. Ebd., S. 544.

Zugehörigkeiten in der Hochmoderne

6.5

Zugehörigkeiten in der Hochmoderne

Die Themen dieses Kapitels waren weit gespannt – von den Armen im Dorf Bernried bis hin zu den Versuchen im Elsass nach 1918, Staatsbürgerschaft und Loyalität zur französischen Republik unter den Bedingungen der Reannexion zu ermitteln. Gemeinsam war all diesen Beispielen, dass es um Zugehörigkeiten mit ihren Auswirkungen im lokalen Raum ging und dass diese Zugehörigkeiten sehr uneindeutig gestaltet waren. In der Zeit der erweiterten Jahrhundertwende zwischen ca. 1870 und 1920 wurde Zugehörigkeit auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen historischen Kontexten verhandelt. Es ist kaum zu bestimmen, welche Dimension der Zugehörigkeit hier die entscheidende war: die Heimatberechtigung oder das Recht, an nationalen Wahlen teilzunehmen, die Zugehörigkeit zu einer regionalen oder zu einer staatlich verbürgten Gemeinschaft? Egal welche Ebene von Zugehörigkeit angesprochen war: In fast allen untersuchten Fällen wurden Fragen nach der ökonomischen Leistungsfähigkeit oder dem Besitz gestellt – ganz besonders dann, wenn die Gemeinden über Zugehörigkeiten (mit-)entscheiden konnten. Gerade dieses Neben-, zum Teil auch Gegeneinander unterschiedlicher Zugehörigkeiten und ihre unterschiedlichen Gewichtungen waren es, die Citizenships in der Hochmoderne kennzeichneten – und eben nicht ihre Eindeutigkeit. Unterschiedliche Akteure waren es, die über diesen Themenkomplex bestimmen konnten und damit ein wichtiges Instrument in der Hand hatten, um ländliche Gesellschaft zu regieren. Die triage-Kommissionen im Elsass etwa entschieden über festgestellte Zugehörigkeit, um eine scheinbar loyale Gesellschaft herzustellen; die Gemeinden im Falle des Heimatrechts versuchten, die Zahl der Armen in ihrem Zuständigkeitsbereich gering zu halten. Über politische Partizipationsrechte auf kommunaler und auf staatlicher Ebene wurden die Bürger:innen an den Staat oder die Gemeinde gebunden; gleichzeitig regelten verschiedene Wahlrechte den Grad an individueller Mitsprachemöglichkeit. Dass vielen dieser Regierungspraktiken eine ökonomische Komponente zugrunde lag, hatte zum einen etwas damit zu tun, dass auch in der Hochmoderne Gemeinden noch immer in erster Linie als wirtschaftliche Körperschaften verstanden wurden (vgl. Kap. 5.1). Inklusion und Exklusion sowie die vielen Graustufen, die zwischen diesen beiden Polen liegen, wurden also auch über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bürger:innen bestimmt. Ein anderer Aspekt der Regierung des ländlichen Raums, der in diesem Kapitel immer wieder mitschwang, ist der enorme Verwaltungsaufwand, der mit der gewaltigen Inkonsistenz der unterschiedlichen Typen von Citizenships einherging. Man denke nur an die unterschiedlichen Wählerlisten, die alle durch den örtlichen Gemeindevorsteher gepflegt werden mussten. Für die verschiedenen politischen Ebenen mussten stark voneinander abweichende Wählerlisten geführt

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Die Bewohner des Dorfes oder: Local Citizenships

werden. Die Zahlen, die für München für das frühe 20. Jahrhundert vorliegen, zeigen, wie stark die Wahlberechtigungen für die unterschiedlichen Ebenen auseinanderklafften: Von den ca. 550.000 Münchner:innen waren 133.000 als Wähler für den Reichstag qualifiziert, 89.000 für die Landtagswahlen und nur ca. 31.000 für die Gemeindewahlen.159 Die Wählerlisten, die unterschiedliche Klassen- oder Pluralstimmensysteme erforderten, waren zudem sehr schwierig zu erstellen. Demgemäß mochte sich die Angleichung der unterschiedlichen Rechte auch aus der Idee gespeist haben, man könne so die lokale, meist ehrenamtliche Verwaltung vereinfachen und weniger fehleranfällig gestalten. So argumentierte der Abgeordnete Max Quarck (SPD) in der Weimarer Nationalversammlung: Das Durchgehen des Wahlrechts von unten bis oben hat nun noch eine weitere sehr praktische Empfehlung für sich. Nur dadurch, daß wir von der Gemeinde durch das Land zum Reich das gleiche Wahlrecht haben, werden wir einen sehr wesentlichen und praktischen Wahlbehelf für die Vollziehung der doch häufiger werdenden Wahlen haben. Wir werden eine permanente Wählerliste einführen können, die wir bei der demokratischen Konstruktion unserer Verfassung brauchen wie das tägliche Brot.160

Und es blieb ja nicht bei den Wählerlisten: Da mussten auch noch die Heimatberechtigungen nachgehalten oder Berechtigungen für die Gemeindenutzungen verwaltet werden. Das späte 19. Jahrhundert stellte gerade in den ländlichen Gemeinden eine Phase der „Verwirrung aller Rechtsverhältnisse“ dar, da die unterschiedlichsten Rechtsbündel die verschiedensten Bevölkerungsgruppen betrafen.161 Die vielen unterschiedlichen Kriterien, an denen Zugehörigkeit oder NichtZugehörigkeit festgemacht wurden, führten zu Reibungen und Konflikten, die typisch für die erweiterte Jahrhundertwende sind. Denn hier trafen unterschiedliche Logiken als Gleichzeitigkeiten aufeinander. Citizenships waren in der Hochmoderne ein höchst komplexes Zusammenspiel von historisch begründeten Rechten und neuen Begehrlichkeiten – alles zur gleichen Zeit, und besonders ausgeprägt auf der lokalen Ebene.162

159 Allerdings war inzwischen das Wahlrecht zum Landtag noch einmal verändert worden; die Qualifikation durch Steuerzahlung blieb bestehen, während andere Voraussetzungen geringfügig verschärft wurden: Nun musste ein Wähler mindestens 25 (nicht mehr: 21) Jahre alt und seit mindestens einem Jahr (nicht mehr: einem Tag) bayerischer Staatsbürger sein. Vgl. Albrecht 2003, S. 369. Die Zahlen für die Gemeindewahlen nennt Niehuss (allerdings für das Jahr 1905); Niehuss 1989, S. 63. 160 Max Quarck (SPD), in: Stenographische Berichte der Verhandlungen der Deutschen Nationalversammlung, 3.7.1919, Bd. 327 (1919/20), S. 1260 A. 161 Schennach 2016. 162 Vgl. Landwehr 2012.

7.

Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

Durch die Herausbildung des Interventionsstaats veränderten sich ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auch die Dörfer, die hier untersucht werden. Denn der neue Staat, der sich herausbildete, entstand zunächst im Lokalen, in den Gemeinden selbst. Die Aufgaben der Gemeinden wuchsen nicht nur, sie wucherten. Dadurch veränderten sich die Kommunalverwaltungen und erweiterten ihre Handlungsspielräume, so Langewiesche: „[D]ie kommunale Politik in der zweiten Jahrhunderthälfte [trieb] dann den modernen Interventionsstaat voran […] – früher und effizienter als die Einzelstaaten und der nationale Staat.“1 Dadurch wurde es immer schwieriger, staatliche und kommunale Handlungsfelder voneinander zu unterschieden. Ein zeitgenössisches Rechtshandbuch argumentierte, die kommunalen Aufgaben ließen sich gar nicht endgültig abgrenzen, da kein preuß‘sches Gesetz der Wirksamkeit der Gemeinde feste Schranken zieht, und […] den Gemeinden die Pflege der sittlichen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Angehörigen allein zusteht, soweit nicht besondere Gesetze bestimmte Ausnahmen machen.2

Auch wenn bislang nur von „Kommunen“ die Rede war: Bei diesen Entwicklungen der Leistungsverwaltung3 handelte es sich um ein Phänomen der Städte, zum Teil der Großstädte. Die Entstehung der kommunalen Leistungsverwaltung war ein wichtiger Motor für die Herausbildung moderner Städte, die ohne Infrastrukturen, aber auch ohne ein ausgefeiltes System von Sachverwaltungen (von der Personalverwaltung über Gesundheits- und Sozialfürsorge bis hin zur Schulverwaltung) nicht zu denken sind.4 Deutsche Städte waren Vorreiter dieser Entwicklung, sodass die kommunalen Leistungen – von der Abwasserentsorgung bis hin zu den großstädtischen Massenverkehrsmitteln – oft auf ein spezifisch deutsches Konzept

1 Langewiesche 1998, S. 623. 2 Friedrich 1919, S. 534, eine Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts zitierend. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht versuchte sich Krabbe an der Differenzierung zwischen Staats- und Gemeindeaufgaben. In der Regel habe der Staat „jene Aufgaben, die innerhalb seines Gebietes gleichmäßig ausgeführt werden müssen, [übernommen], während die Gemeinde sich jener Aufgaben annimmt, die vor allem dem Wohl und den Interessen der lokalen Gemeinschaft dienen.“ Krabbe 1985, S. 12. 3 Die häufig synonym verwendeten Begriffen „Leistungsverwaltung“ und „kommunale Daseinsvorsorge“ sind Quellenbegriffe; beide gehen auf Forsthoff (1938 u. 1958) zurück und bedürfen der vorsichtigen Historisierung und Problematisierung. Dazu Irlinger 2018, S. 10–12. 4 Vgl. Lenger 2013, S. 149–202.

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Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

von kommunaler Selbstverwaltung zurückgeführt wurden, das den Kommunen Freiräume und Professionalisierungsmöglichkeiten bot.5 Diese Professionalisierung war den Landgemeinden größtenteils verwehrt. Die rechtliche Unterscheidung zwischen Land- und Stadtgemeinden beschränkte die Landgemeinden in vielen Bereichen. Ihre Bürgermeister blieben Laien, und auch sachkundige (das heißt zeitgenössisch: bezahlte) Gemeinderäte konnte es hier aufgrund des verpflichteten Ehrenamts nicht geben. Zudem waren sie einer rigiden Verwaltungsaufsicht unterstellt. Gerade im Bereich der kommunalen Finanzwirtschaft hatten sie deutlich schärfere Regeln zu befolgen als die Stadtgemeinden. Neben diesen rechtlichen Beschränkungen erschwerten noch weitere Faktoren die Möglichkeit der Landgemeinden, eine „dörfliche Leistungsverwaltung“ auszubilden. Im Gegensatz zu vielen Städten verfügten die Dörfer meist über keinerlei Vorläufer moderner Infrastrukturen: weder über Wasserleitungen noch über Kanalisation oder Nahverkehrssysteme.6 Zudem mangelte es den Landgemeinden ebenso an finanziellen Ressourcen, um die sehr teuren modernen Infrastrukturen aufzubauen, wie an ausreichend großen Nutzerkreisen, um die Investitionen zu amortisieren. Während also die Groß- und Mittelstädte in der Zeit um die Jahrhundertwende „Wohlfahrtsstädte“7 und „vernetzte Städte“ wurden,8 schienen die Landgemeinden zurückzubleiben. Die Differenz zwischen dem Leben auf dem Land und dem Leben in der Stadt wuchs – das entspricht unserem Bild von Großstadt- und Landleben.9 Doch bei der Durchsicht der Unterlagen der untersuchten Landgemeinden wird deutlich, wie stark diese Gemeinden insbesondere seit den 1880er Jahren mit Feldern der kommunalen Daseinsvorsorge befasst waren. Sie waren an den Expansionen des Interventionsstaats im Bereich Schul- und Sozialpolitik, Straßenbau und Hygiene beteiligt.10 Auch in den Landgemeinden veränderten sich die Lebemsumstände der Bevölkerung durch diese neuen oder neu interpretierten Felder landgemeindlichen Handelns, auch wenn die Geschwindigkeit der Veränderung mit den Großstädten nicht Schritt halten konnte. Daher ist dieses Kapitel den Möglichkeiten, Grenzen und konkreten Ausgestaltungen der kommunalen

5 6 7 8 9

Vgl. Reulecke 1997, S. 56–67. Nicht alle Städte hatten solche Einrichtungen. Vgl. Evans 1991; Münch 1993, S. 134. Vgl. Rudloff 1998a. Vgl. Schott 1999. Diese Vorstellung ließ vieles, insbesondere die Ländlichkeit in der Stadt, außen vor. Vgl. hierzu die gerade abgeschlossene Studie von Britta von Voithenberg (2022). 10 Gerade für das ostelbische Preußen wurde die Bedeutung der Landkreise stark hervorgehoben; tatsächlich lagen viele Bereiche des Infrastrukturausbaus – besonders im Bereich der Chausseen – bei den Kreisen. Aber auch hier waren die Gemeinden wichtige Akteure. Vgl. Mellies 2012; Müller 1999; Wagner 2005, S. 200–204.

Die Armen im Dorf

Leistungsverwaltung auf dem Lande gewidmet. Wie reagierten die Gemeinden auf neue Herausforderungen, auf gestiegene Ansprüche der Bevölkerung und auf konkrete, beispielsweise hygienische Probleme? Wurden sie aktiv oder setzten sie nur Vorgaben der Kreise und Bezirke um? Es geht also um die Motive der kommunalen Aktivität, aber auch um die konkreten Praktiken. Wie versuchten die Landgemeinden, die gestiegenen Anforderungen zu bewältigen, und das bei weiterhin stark beschränkten gemeindlichen Ressourcen? Die Gemeinden agierten selten für sich, sondern oft gemeinsam mit anderen Akteur:innen: den Vertretern der Kirchengemeinden, den Gutsverwaltungen, den übergeordneten Verwaltungsebenen. Wie funktionierten diese Kooperationen? Wo überlagerten sich die jeweiligen Zielsetzungen, wo konkurrierten sie? Die kommunale Leistungsverwaltung war keineswegs nur ein weiteres Feld dörflicher Administration. Hier zeigte sich vielmehr eine neue Form von Interventionismus auch im ländlichen Raum. Während die urbane Leistungsverwaltung oft als sozialintegrativ beschrieben wurde, da Infrastrukturen wie etwa die Kanalisation von allen auf gleiche Weise genutzt werden, unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Stand, war das im ländlichen Raum anders, wie ich argumentieren werde. Ländliche Gemeindeverwaltungen hatten – anders als großstädtische – in der Regel keine progressiven politischen Zielsetzungen.11 Die kommunale Leistungsverwaltung auf dem Land wirkte weniger integrativ, sondern stärker segregierend und konservierte die dörflichen Sozialstrukturen. Diese These verfolge ich im Folgenden durch die wichtigsten Felder der landgemeindlichen Leistungsverwaltung. Wie veränderte sich aber die Praxis der Armenpflege unter den Bedingungen der Gouvernementalisierung der Gemeinden? Bau, Unterhalt und Aufsicht der dörflichen Schule waren einerseits gemeindliche, andererseits zunehmend verstaatlichte Aufgabenbereiche. Auch hier veränderte sich die Praxis in den Gemeinden im Zuge der Gouvernementalisierung. Schlussendlich wird es um die klassischen Felder kommunaler Infrastruktur gehen: um Ver- und Entsorgung, um Verkehr und Sicherheit. Welche Ansätze für solche Infrastrukturmaßnahmen sind in den untersuchten Landgemeinden nachweisbar? Mit welchen Problemen hatten die Landgemeinden hier zu kämpfen?

7.1

Die Armen im Dorf

Arme Menschen waren im Dorf um die Wende zum 20. Jahrhundert allgegenwärtig, obwohl der Pauperismus bereits Geschichte war. Dies machte die Armenfürsorge zu einem zentralen kommunalen Feld, das in Deutschland auch qua Gesetz den

11 Vgl. Reulecke 1996.

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Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

Gemeinden zur Aufgabe (oder besser: zur Last) gemacht wurde.12 Denn die Betreuung der Bedürftigen belastete die kommunalen Kassen stark, weshalb viele Gemeinden wenig Engagement zeigten. Im November 1879 forderte das Bezirksamt die Gemeindeverwaltung Bernried auf, Marianna R.13 zu unterstützen, die bettlägerig sei. Doch die Bernrieder Gemeindeverwaltung weigerte sich und begründete das mit den enormen Zahlungen im Bereich der Armenfürsorge: Die Ausgaben für bedürftige Gemeindeangehörigen mehren sich binnen einem Monat in erschreckendem Maße, denn beinahe jede Woche erfolgt eine Zuschrift um Unterstützung. Die Gemeinde hat ständige Unterstützung an die irrsinnige Magd T. jährl. 20 M. zu leisten. An die […] Witwe Sch. in München, welche arbeitsfähig ist u. zudem Pension bezieht muß die Gemeinde Bernried 108 M. Logisgeld bezahlen u. trotzdem wurde die hiesige Gemeinde vom Magistrat München vor einigen Tagen aufgefordert, für deren Kinder tägl. 44 [Pfennig] Kostgeld, somit per Jahr circa 150 M. zu bezahlen. Weiters mußte die Gemeinde vor kurzem für den B. Sebastian Sohn der ehemaligen hiesigen Hebamme Witwe B., an Kurkosten vorläufig 300 M. bestreiten, weitere unabweisbare Ausgaben für den krüppelhaften Knaben Sebastian B. stehen in Aussicht. Für Marianna W. hat die Gemeinde jährl. 41 M. Unterstützung zu leisten. Vor mehreren Wochen mußte die Gemeinde Bernried für R. Georg, Ehemann der obigen Marianna R. nach München in das Krankenhaus 48 M. Kurkosten bezahlten. Wenn nun die hiesige Gemeinde Bernried genöthigt wird, für eine Person [, die] 1400 M. bara einnahm u. sonst öffentlich liederlich lebte eine Unterstützung zu leisten, so werden bald mehrere dem Beispiele folgen u. der Gemeinde sehr große Ausgaben verursachen.14

Die penible Auflistung zeigt einerseits die tatsächlichen Kosten der kleinen Gemeinde für die Armenunterstützung. Immerhin 319 Mark jährliche Armenunterstützung für die Genannten waren in den kommunalen Haushalt einzustellen; dazu kamen im Jahr 1879 noch 348 Mark als einmalige Unterstützungen für erkrankte Heimatberechtigte. Neben diesen konkreten Summen spricht aus dem Schreiben aber

12 In Frankreich war die Gesetzeslage anders; erst während des Zweiten Kaiserreichs wurden bestimmte Aspekte der Armenfürsorge zu obligatorischen kommunalen Aufgaben; dazu gehörte die Unterstützung von (schulpflichtigen) Kindern, insbesondere durch den Erlass der Schulgebühren, und die finanzielle Beihilfe für Medikamente für bedürftige Kranke. Vgl. Franz 2006, S. 181–185 f.; Vivier 2012, S. 116–118. Im Elsass wurde hingegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz eingeführt, die ländliche Armenpflege also an die im Reich (bis auf Bayern) gültigen Bedingungen angepasst. 13 Zur Anonymisierung bestimmter Quellen s. o., Kap. 6.1. 14 Gemeindeverwaltung Bernried an das kgl. Bezirksamt Weilheim, betr.: Unterstützung der Marianna R., 18.11.1879; StAM, LRA 5683a.

Die Armen im Dorf

auch die permanente Angst der Gemeindeverwaltung, es könnten weitere Anträge gestellt werden. Deshalb trat die Gemeinde möglichst rigide auf, um nicht noch mehr Arme zu ermutigen, um gemeindliche Fürsorge nachzusuchen. Zuständig für die Armenpflege, wie es hieß, war seit 1869 der Armenpflegschaftsrat, der sich aus den Amtsträgern der Landgemeinde (Bürgermeister, Beigeordnete und abgeordnete Mitglieder des Gemeindeausschusses), den Pfarrvorständen der im Ort angesiedelten Kirchengemeinden, dem Bezirksarzt (wenn er in der Gemeinde seinen Amtssitz hatte) und einer „Anzahl gewählter Armenpflegschaftsräthe“ zusammensetzte.15 Diese Zusammensetzung sollte sicherstellen, dass die Armenpflegschaftsräte über die wichtigste Ressource zur Verwaltung der lokalen Armut verfügte: über lokales Wissen. Denn laut Gesetz sollten nur solche Personen unterstützt werden, die „sich wegen Mangels eigener Mittel und Kräfte oder in Folge eines besonderen Nothstandes das zur Erhaltung des Lebens oder der Gesundheit Unentbehrliche nicht zu verschaffen vermögen.“16 Zusätzlich musste geprüft werden, ob es Angehörige gab, die die hilfsbedürftige Person unterstützen konnten, ob die freiwillige Armenpflege (also wohltätige Stiftungen oder Ähnliches) einspringen konnte oder die Person über eigenes Vermögen verfügte. Erst dann sollte die öffentliche Armenpflege zuständig sein. Über jeden einzelnen Fall eines oder einer Armen musste also individuell entschieden werden. Armut war im späten 19. Jahrhundert in Bernried (und den meisten anderen Städten und Gemeinden) eine normale Angelegenheit. Die Armen waren Teil des Dorfes, man kannte sie, man traf sie regelmäßig persönlich, man saß mit ihnen in der Kirche und im Wirtshaus.17 Private Stiftungen zur Abwendung akuter Notlagen wurden nicht nur von Dorfarmen, sondern sogar von Mitgliedern des Gemeindeausschusses in Anspruch genommen.18 Armut oder zumindest punktuelle wirtschaftliche Notlagen waren in Landgemeinden des 19. Jahrhunderts eher die Regel als die Ausnahme. Serge Paugam bezeichnet diesen Armutstypus als „integrierte Armut“: Die Armen seien kaum als eigene gesellschaftliche Gruppe sichtbar, sie blieben trotz ihres niedrigen Lebensstandards fest in Familie, Nachbarschaft

15 Vgl. Stadelmann 1870, S. 342–366, v. a. S. 352. 16 Ebd., S. 343. 17 Im Fall des Mathias R. wurde die Unterstützung abgelehnt, weil sich R. durch „langes Sitzenbleiben im Wirtshaus unmöglich gemacht“ habe. Protokoll des Armenpflegschaftsrats Bernried, 6.6.1897; GAB, B33/1. 18 Vgl. die Anträge auf Darlehen aus der v. Dall’Armi’schen Leih- und Hilfskasse, die im Jahr 1892 an die Bernrieder Gemeindeverwaltung gestellt wurden, etwa an das Mitglied der Gemeindeverwaltung Leonhard Hämmerl, der „im heurigen Jahre Unglück in seinem Stalle hatte“, weshalb ihm von seinem Darlehen von 200 Mark 150 auf ein weiteres Jahr erlassen wurde. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 12.10.1892; GAB, B2/3, S. 220; vgl. auch Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 20.2.1892; ebd., S. 214; Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 27.3.1892; ebd., S. 216.

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Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

und Dorfgemeinschaft integriert. Diese Art der Armut, so argumentiert Paugam weiter, sei in der Regel in „wenig industrialisierten traditionalen Gesellschaften“ anzutreffen.19 Von einer umfassenden Integration der Armen sollte man trotzdem nicht voreilig ausgehen. Das Bernrieder Beispiel zeigt, wie die Armen ökonomisch, aber auch moralisch an den Rand der lokalen Gesellschaft gedrängt wurden. Die ausgezahlten Unterstützungsbeträge der lokalen Armenfürsorge waren extrem niedrig und reichten kaum zum Überleben. Zudem wurden die Armen regelmäßig abqualifiziert. In den Unterlagen des Armenpflegschaftsrats finden sich viele negative Beurteilungen der Unterstützungsbedürftigen.20 Seine eigene „Unerträglichkeit“ sei es, die ihn in Armut gebracht habe, hieß es über Mathias R.21 Statt einem in Bernried beheimateten Armen in München Unterstützung zu zahlen, versuchte die Gemeinde, ihn zu entmündigen, da er es vorziehe, ein lasterhaftes Leben in der Stadt zu führen (inkl. unverheiratetem Zusammenleben mit einer Frau!), obwohl er in Bernried bei seinem Bruder unterkommen könnte.22 Marianna R. könne nicht unterstützt werden, weil sie einen besonders liederlichen Lebenswandel zeige und damit ein schlechtes Beispiel abgebe.23 Der Umgang mit Armen (und Fremden) zielt ins Zentrum des gesellschaftlichen Selbstverständnisses.24 Während die Geschichte der Armenfürsorge lange in erster Linie aus der Sicht der Städte geschrieben wurde und für die Hochmoderne die Industriearbeiterschaft und die urbane Verelendung im Zentrum der Betrachtung standen, hat sich dies in den letzten Jahren etwas gewandelt. Die Arbeiten von Inga Brandes, Katrin Marx-Jaskulski und Thomas Küster zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven, wie es um die Armenfürsorge im ausgehenden 19. Jahrhundert im ländlichen Raum in Europa bestellt war.25 Alle drei unterstreichen, wie wichtig die Gemeinden für die Versorgung der Armen auf dem Land waren. Im Zuge der Gouvernementalisierung der Gemeinden wurde auch die Armenfürsorge, die bislang stark von religiösen oder privaten Institutionen übernommen worden war, immer mehr kommunalisiert.26 Allerdings war dieser Prozess weder zielgerichtet noch vollständig; die ländliche Armenpflege blieb bis ins 20. Jahrhundert eine 19 Paugam 2008, S. 113 f. 20 Nicht nur Bedürftigkeit, sondern auch Würdigkeit der Betroffenen war ein Kriterium gemeindlicher Unterstützung; vgl. Marx-Jaskulski 2008, S. 418. 21 Protokoll des Armenpflegschaftsrats Bernried, 6.6.1897; GAB, B33/1. 22 Gemeindeverwaltung Bernried an das kgl. Bezirksamt Weilheim: Curatel über Sebastian St., 22.2.1887; StAM, LRA 5683a. 23 Gemeindeverwaltung Bernried an das kgl. Bezirksamt Weilheim, betr.: Unterstützung der Marianna R., 18.11.1879; StAM, LRA 5683a. 24 Vgl. Raphael 2008a, S. 16. 25 Vgl. Brandes, Marx-Jaskulski 2008; Brandes 2006; Küster 2015; ders. 2008; Marx-Jaskulski 2008. 26 Vgl. Küster 2008, S. 48–50.

Die Armen im Dorf

Mischung aus öffentlicher und privater Initiative. Die Kosten für Kleidung oder Schuhe und das Schulgeld für arme Kinder wurden häufig von lokalen Stiftungen übernommen.27 Die Gemeinden zeigten wenig Ambitionen, die Armenpflege zu professionalisieren. Insgesamt, so Katrin Marx-Jaskulski, könne den zeitgenössischen Urteilen über die Defizite der ländlichen Armenfürsorge nur zugestimmt werden.28 Auch in Frankreich waren die – ohnehin geringen – Anforderungen an das kommunale Armenwesen keineswegs in allen Gemeinden erfüllt. Während des Zweiten Kaiserreichs fehlte in knapp zwei Drittel der Gemeinden ein eigenes Bureau de Bienfaisance, also die Institution, über die das Armenwesen abgewickelt wurde.29 Wo die institutionellen Voraussetzungen für die Unterstützung von Armen im ländlichen Raum vorhanden waren, beschränkte sich diese jedoch meist auf sehr geringe Geldzahlungen, zum Teil auf die Nutzung bestimmter Ressourcen oder die direkte Bereitstellung von Naturalien (etwa Heizmaterial).30 7.1.1

Ein Haus für die Armen

Im 19. Jahrhundert war in vielen Regionen Europas das Armenhaus die wichtigste Institution der kommunalen Armenfürsorge. Es sollte „herbergslosen“ Personen dienen, die sich dort meist rigiden Regeln unterwerfen mussten. Anders als die Forschung suggeriert, waren sie keineswegs nur „Überreste“ der frühneuzeitlichen Hospitalisierung der Armen.31 Im Gegenteil, viele Armenhäuser wurden erst im 19. Jahrhundert geschaffen. Für die Gemeindekasse hatte das Vorteile, denn für die Unterbringung der Armen musste dann kein Bargeld aufgewendet werden. Doch zunächst musste auch ein Armenhaus gebaut oder gekauft werden, wofür wiederum große kommunale Investitionen notwendig waren. Kein Wunder, dass längst nicht jedes Dorf über eine entsprechende Einrichtung verfügte. In manchen Gemeinden konnten leerstehende Gebäude umgewidmet werden. Auch Mahlow

27 Etwa für Bernried die Stiftung der Rosalia von Dall’Armi, vgl. Fn. 34. In Frankreich bestanden enge Zusammenhänge zwischen der Regulierung sozialer Mildtätigkeit in Form von Stiftungen und der Ausweitung der Staatstätigkeit auf kommunaler Ebene; vgl. Franz 2008, S. 157. 28 Marx-Jaskulski macht dies nicht zuletzt am Zustand der Dokumente aus den dörflichen Armenfürsorgeverbänden fest, die sehr nachlässig geführt wurden. Diesem Befund kann ich mich aus der Perspektive „meiner“ Untersuchungsgemeinden nur anschließen. Marx-Jaskulski 2008, S. 416 f. 29 Vgl. Franz 2008, S. 228. 30 Vgl. Marx-Jaskulski 2008, S. 417. Wimmer (2014, S. 283) zeigt, dass die Unterstützung in Form von Naturalien auch in den 1930er Jahren noch (oder wieder) üblich war, allerdings vor allem sogenannte „Asoziale“ während des Nationalsozialismus betraf. 31 Vgl. Geremek 1988, S. 257–284; Lees 1998, S. 333 f.; Brandes 2006.

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funktionierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die alte Dorfschule im Bauerndorf, die durch den Umzug der Schule frei geworden war, in ein Armenhaus um.32 In Bernried gab es schon etwas früher ein Armenhaus, doch der Weg dorthin war steinig. Den ersten Versuch unternahm die Gemeinde im Jahr 1868. Damals sollte in einem besonders armen Gemeindeteil, in der Moorkolonie Gallafilz, ein Anwesen zwangsversteigert werden, in dem „15 Personen das Herbergsrecht [haben] und die Hälfte davon […] in kürzester Zeit dem Armenfonds zur Last fallen“ werde.33 Zudem gebe es weitere wohnungslose Personen in Bernried, die untergebracht werden sollten – warum dann nicht die Gelegenheit nutzen und das Gebäude ersteigern? Allerdings reichten die gemeindlichen Finanzreserven nicht für den Kauf aus. Der Gemeindeausschuss fasste den Plan, das Stiftungsvermögen der Rosalia von Dall’Armi für diesen Zweck einzusetzen. Diese Stiftung der 1864 verstorbenen Gutsbesitzer- und Landtagsabgeordnetenwitwe war bislang in Pfandbriefen angelegt; die Erträge waren zumindest teilweise für die Armenpflege, insbesondere für Kleidung für arme Schulkinder, bestimmt, andere konnten schon länger nicht sinnvoll ausgegeben werden.34 Deshalb, so argumentierte die Gemeinde nun, sei der Kauf des Armenhauses von diesem Geld besonders klug. In einem Anwesen mit großem Grundbesitz (immerhin 11,5 Hektar) sei das Stiftungsvermögen allemal besser und sicherer angelegt als in den Pfandbriefen, und das zukünftige Armenhaus samt Grund und Boden werde bestimmt genauso viele Zinsen abwerfen wie das Stiftungskapital.35 Doch die Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern, an die das Bezirksamt die Anfrage weitergeleitet hatte, lehnte den Antrag ab, „so anerkennenswerth auch der Entschluß der Gemeinde ist“, denn das Stiftungsver-

32 Vgl. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 28.2.1919; KrA-TF, XII.295, S. 31–33. 33 Gemeindevorsteher Gröber (Bernried) an das königl. Bezirksamt in Weilheim, Erwerbung eines Anwesens zu einem Armenhause betr., 24.2.1868; StAM, LRA 5683. 34 Die Gemeinde Bernried war im Testament der 1864 verstorbenen Gutsbesitzerwitwe Rosalia von Dall’Armi mit 1200 Gulden in Staatsobligationen bedacht worden. Die Zinsen dieses Vermögens wurden in einem höchst komplizierten Verfahren unterschiedlichen Zwecken gewidmet, nämlich der Anschaffung von Kleidern, Schuhen und Schulbüchern für arme Schulkinder, der Aufbesserung des Lehrergehalts und der Anschaffung und Reparatur von Paramenten für die alte Pfarrkirche in Bernried. Der Pfarrer (als Vorsitzender des Armenpflegschaftsrats) und die Gemeindeverwaltung versuchten mehrmals, diesen letzten Verwendungszweck zu verändern, denn es wurden überhaupt keine Paramente gebraucht, da kaum noch Messen in der alten Pfarrkirche gelesen wurden. Für den Armenfonds hingegen wären die Erträge der Stiftung hilfreich gewesen. Vgl. dazu: von Dall’Armi, Rosalie: Letztwillige Anordnung (beglaubigte Abschrift 1865), 4.12.1856; StAM, LRA 9770; Bericht der Gemeindeverwaltung Bernried an das kgl. Bezirksamt Weilheim, 20.3.1880; ebd.; Pfarramt Bernried an das Bezirksamt Weilheim, 29.7.1879; ebd. 35 Gemeindevorsteher Gröber (Bernried) an das königl. Bezirksamt in Weilheim, Erwerbung eines Anwesens zu einem Armenhause betr., 24.2.1868; StAM, LRA 5683.

Die Armen im Dorf

mögen dürfe keinesfalls angetastet werden.36 Damit war der Plan, in Bernried ein Armenhaus zu gründen, zunächst ad acta gelegt. Erst zwanzig Jahre später heftete ein Mitarbeiter im Bezirksamt wieder Schriftstücke zum Thema Bernrieder Armenhaus in die entsprechende Akte. Im Jahr 1884 kaufte die Gemeinde ein Haus mitten im Dorf und machte es zum Armenhaus (s. o., Kap. 5.2). Woher die Kaufsumme stammte, wird nicht klar. Drei Jahre später ergab sich für die Gemeinde die Möglichkeit, das Armenhaus zu verbessern und zu vergrößern. Der Gutsbesitzer Maximilian von Wendland hatte ein Auge auf das bisherige Armenhaus geworfen und wollte es gerne übernehmen. Er bot der Gemeinde an, im Tausch ein neues, großzügiges Armenhaus am Dorfrand zu erbauen,37 halb auf eigenem, halb auf Gemeindegrund: zwei Etagen à vier Zimmer, zwei davon mit Balkon, Küche, Holzlege und Brunnen mit Trinkwasser. Im Gegenzug verlangte er das alte Armenhaus, über dessen Lage und Ausstattung wir nichts wissen, samt Garten, den Gemeindegrund, auf dem das neue Armenhaus gebaut werden sollte, und die 1200 Mark, die im Gemeindehaushalt bereits für die Reparatur des alten Armenhauses reserviert worden waren. Die Gemeindeverwaltung begrüßte dieses Angebot „freudig“.38 Doch es dauerte weitere drei Jahre, bis das neue Armenhaus lasten- und schuldenfrei an die Gemeinde übergeben wurde. Es handelte sich auch nicht um einen Neubau auf dem einst projektierten Grundstück, sondern um ein Haus im alten Dorf, das bislang zum Gut gehört hatte. Es war kleiner und weniger gut ausgestattet als versprochen. Durch eine Stiftung, diesmal von Seiten der Witwe August von Wendlands und der Mutter des neuen Gutsbesitzers, war das Armenhaus immerhin möbliert worden.39 Doch die Gemeinde erhielt mehr als nur das neue Armenhaus im Tausch für das alte. So musste der Gutsbesitzer die 1200 Mark, die er ursprünglich aus dem Gemeindehaushalt für den Neubau in Anspruch genommen hatte,

36 Königliche Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern, an das Bezirksamt Weilheim, Ankauf eines Armenhauses durch die Gemeinde Bärnried [sic] betr., 6.4.1868; ebd. 37 Genannt wird im Gemeinderatsprotokoll die „Hausstatt“. Dabei handelt es sich sehr wahrscheinlich um das Gelände rund um den Hausstätter Weiher, der heute am nördlichen Rand des Dorfes liegt. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 6.1.1887; GAB, B2/3, S. 118. 38 Ebd., S. 117 f. Einzelne Mitglieder der Gemeindeverwaltung formulierten nun Wünsche und Vorschläge, etwa zur Lage des Armenhauses oder zur Weiternutzung des bisherigen Armenhauses. Auffällig ist, dass dieses Protokoll ein seltener Fall ist, in dem unterschiedliche Meinungen und Wortmeldungen einzeln protokolliert wurden, während die meisten anderen Protokolle nur das Ergebnis der Sitzung festhielten. 39 Die Witwe von Wendland machte eine Stiftung von 400 Mark; 200 Mark sollten bei Übernahme des Armenhauses für die Möblierung aufgewendet werden, die andere Hälfte als fest angelegte Stiftung Erträge für den Armenfonds liefern. Vgl. Armenpflegschaftsrath Bernried an das kgl. Bezirksamt Weilheim, Betr.: Schenkung der Frau Baron von Wendland, königl. Gesandens-Wittwe z. Z. in Bernried, 16.10.1889; StAM, LRA 5683a.

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an den Armenfonds weitergeben, ebenso wurde er verpflichtet, über zehn Jahre hinweg jeden Herbst weitere 100 Mark an den Armenfonds zu zahlen. Außerdem sicherte sich die Gemeinde auf zehn Jahre Kies aus den Gruben des Wendland’schen Besitzes zum Vorzugspreis, um sie für die Unterhaltung der kommunalen Wege einzusetzen.40 Wie war es zu diesen Veränderungen der Abmachung gekommen? Nach dem großzügigen Angebot von 1887 hatte der Gutsbesitzer schrittweise Rückzieher gemacht. Weder den Termin noch die großzügige Ausstattung wollte er nun garantieren. Doch die Gemeinde blieb hart und konnte in unzähligen Auseinandersetzungen mit der Gutsverwaltung zusätzlich zum Armenhaus einiges heraushandeln. Beinahe von Anfang an41 agierte die Gemeindeverwaltung misstrauisch gegenüber der Gutsverwaltung. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt bestand sie auf einer notariellen Fassung des Versprechens des Gutsbesitzers.42 Darauf konnte sich die Gemeinde berufen, um einen Ausgleich für das nun kleiner geratene Armenhaus zu erstreiten. Das Bezirksamt stärkte die Verhandlungsposition der Gemeinde. Beide ließen sich von der Gutsverwaltung nicht abspeisen, beide beharrten auf dem gemachten Versprechen oder doch zumindest auf einem gerechten Ausgleich. Für die Gemeinde handelte es sich bei der Stiftung des Armenhauses durch von Wendland keineswegs um eine Wohltat oder Spende,43 sondern ganz offensichtlich um ein Tauschgeschäft. Das ist die eine interessante Einsicht, die diese Episode bietet; die andere ist, dass die Gemeinde bei den Verhandlungen offensichtlich nicht in erster Linie die Armen der Gemeinde im Auge hatte. Zwar tauchten die Bewohner:innen des Armenhauses ab und an in den Verhandlungen auf. So forderte der Gemeindeausschuss im Frühjahr 1887, als das Thema erstmals auf der Tagesordnung stand, das alte Armenhaus möge bis zum Abschluss der Arbeiten erhalten bleiben.44 Dies war zwar nicht der Fall, doch verpflichtete sich der Gutsbesitzer, während der Übergangszeit für die

40 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 13.4.1890; GAB, B2/3, S. 168 f. 41 Bereits in der zweiten Gemeindeverwaltungssitzung, die sich mit dieser Frage beschäftigte, fasste die Gemeinde einen Beschluss, der nur der Sicherung der eigenen Interessen diente. Sie beharrte darauf, dass die Abtretung des Grundstücks, auf dem ursprünglich der Neubau geplant war, nur stattfinden werde, wenn auch tatsächlich dort gebaut werde. „Sollte jedoch das Armenhaus auf einem andern Grund zu stehen kommen, so ist die Gemeindeverwaltung gesonnen, keinen Grund abtreten zu wollen.“ Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 4.12.1887; ebd., S. 131. 42 Der Vertrag vom 7.12.1887 ist in den Akten leider nicht auffindbar; vgl. als Nachweis jedoch Kgl. Bezirksamt Weilheim an den k. Kämmerer u. Gutsbesitzer H. Max Frh. v. Wendland in Bernried: Bau eines Armenhauses in Bernried, 3.10.1888 (Entwurf); StAM, LRA 5683, sowie den sehr ausführlichen Bericht Freiherr. v. Wendland’sche Guts- und Brauerei-Verwaltung (Fleischmann, Verwalter) an das kgl. Bezirksamt Weilheim: Armenhaus, 25.4.1890; ebd. 43 Die klassische Zeit der adeligen Armenhausstiftungen endete durch die zunehmende Kommunalisierung der Armenhäuser. Vgl. Bernhardt 2008. 44 Vgl. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 6.1.1887; GAB, B2/3, S. 118.

Die Armen im Dorf

Unterbringung der Ortsarmen zu sorgen.45 Um eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ging es indes weder der Gemeinde noch der Gutsverwaltung. Das Armenhaus wurde schließlich erheblich kleiner, als zunächst durch von Wendland angeboten. In seltener Einmütigkeit waren Gemeinde und Gutsverwaltung übereingekommen, dass das in Aussicht gestellte Haus von 120 Quadratmetern etwas überproportioniert für die Bernrieder Armen sei. Wie der Gutsverwalter Fleischmann gegenüber dem Bezirksamt ausführte, gab es in Bernried außer dem Schloss und dem Pfarrhof kein größeres Gebäude, und selbst der Bernrieder Pfarrer habe in einer informellen Besprechung eine geringere Größe für angemessen gehalten. Für ein Dorf von 300 Seelen,46 so der Gutsverwalter Fleischmann, dürfte das nun projektierte Haus ausreichend sein, woran nicht einmal die Gemeindeverwaltung zweifelte.47 Das Interesse der Gemeinde, das in den Verhandlungen mit der Gutsverwaltung sichtbar wird, bestand offenbar darin, einerseits einen gerechten Ausgleich für das alte Armenhaus zu erhalten und andererseits diese Entschädigungen für verschiedene Gemeindeaufgaben nutzbar zu machen. Wieder wird deutlich, dass die Gemeinden im 19. Jahrhundert ihre Ressourcen zu streuen versuchten, um mit vielen kleinen Bausteinen ihre Aufgaben zu erfüllen. Das erschien den Vertretern der Gemeinde sinnvoller als ein großzügig gestaltetes Armenhaus. 7.1.2

Familie K. und der Ortsfürsorgeverband Bernried

Mit den politischen Zäsuren zu Beginn des 20. Jahrhunderts änderten sich die gesetzlichen Regelungen für die Armenfürsorge. Auch in Bayern galt nun das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz, und die Erwerbslosenfürsorge wurde stark erweitert.48 Doch in der Praxis vor Ort änderte sich nicht sehr viel. Die Gemeinde Bernried behandelte die Unterstützung der Armen weiterhin primär aus der Perspektive der eigenen begrenzten Ressourcen. Das zeigt der Fall der in wirtschaftliche Not geratenen Familie K., der besonders dicht überliefert ist, da sich die Familie immer wieder an Stellen jenseits des Ortsfürsorgeverbandes Bernried wandte und das Bezirksamt ebenso häufig bei der Gemeindeverwaltung Bernried intervenierte.

45 Vgl. Maximilian Frh. v. Wendland, Freiherrl. v. Wendland’sche Guts- und Brauerei-Verwaltung an das k. Bezirksamt Weilheim: Erbauung eines Armenhauses in Bernried, 25.7.1889; StAM, LRA 5683. 46 Interessanterweise nennt Fleischmann hier die Einwohnerschaft des Dorfes, nicht die der Gemeinde Bernried. Die beiden Zahlen weichen jedoch beträchtlich voneinander ab. Im Ortschaftsverzeichnis von 1888 wird die Gemeinde mit 426 Einwohner:innen angegeben, das Dorf Bernried (als Ortsteil der Gemeinde) mit 333 Einwohner:innen. Vgl. Rasp 1888, S. 354. 47 Vgl. Freiherr. v. Wendland’sche Guts- und Brauerei-Verwaltung (Fleischmann, Verwalter) an das kgl. Bezirksamt Weilheim: Armenhaus, 25.4.1890; StAM, LRA 5683. 48 Vgl. Frey 1996, S. 171–244.

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Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

Die Überlieferung beginnt, ähnlich wie im Fall des erkrankten Bahnwärtersohns K. (s. o., Kap. 6.1), mit einem Bittschreiben aus dem Jahr 1925, gerichtet an den frisch gewählten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Der Schneidermeister K. schilderte ausführlich die Umstände, durch die er mit seinen zwei Kindern und seiner Frau in Not geraten sei; nach einer Zeit in Ulm und einem längeren Aufenthalt in der Schweiz sei er über viele Zwischenstationen und Zufälle schließlich in Diemendorf untergekommen – und damit auf dem Gebiet der Gemeinde Bernried. Dort werde ihm aber ausreichende Unterstützung verwehrt. K. machte allerlei äußere Faktoren für seine Notlage verantwortlich: die problematischen gesetzlichen und sozialen Strukturen, übelwollende Mitmenschen, Krankheiten und so weiter. In den Schriftstücken der Verwaltungsstellen liest sich das komplett anders. Dort werden K. und seine Frau als Querulant:innen dargestellt, die sich zwar tatsächlich in einer Notsituation befanden, aber nichts taten, um sich daraus wieder zu befreien. Die problematischen Strukturen, in denen sich die Familie bewegte – besitzlos und ohne familiäres Netzwerk, mobil und entsprechend wenig integriert, als ländlicher Schneider ohnehin kaum in der Situation, ausreichend Geld für die Erhaltung einer (schließlich sechsköpfigen) Familie zu verdienen –, wurden von Seiten der Verwaltungsstellen, die sich mit dem Fall befassten, nicht thematisiert. Familie K. war seit Sommer 1925 ein Fürsorgefall für die Gemeinde Bernried, auf deren Gebiet sie um Unterstützung nachsuchte. Nachdem auch in Bayern, wie in anderen Ländern bereits lange zuvor, das Heimatrecht abgeschafft und der Unterstützungswohnsitz eingeführt worden war, waren die Gemeinden nun nicht mehr nur für ihre „eigenen“ Armen zuständig, sondern auch für diejenigen, die nicht aus dem Dorf selbst stammten.49 Die Gemeinde reagierte auf die Hilfsanträge der Familie K. sehr abwehrend – so wie sie es auch in früheren Fällen getan hatte und wie es die Forschung ebenso für andere Gemeinden herausgearbeitet hat.50 Charakteristisch dafür ist die Reaktion der Gemeinde Bernried im vorliegenden Fall, nachdem sie auf Anordnung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern über das Bezirksamt dazu aufgefordert wurde, Familie K. zu unterstützen. Der Bürgermeister, der inzwischen Vorsitzender des Ortsfürsorgeverbandes geworden war, hatte keinerlei Verständnis für die menschliche Dimension des Problems, sondern argumentierte lediglich als Fürsprecher seiner Gemeinde: sie solle nicht „die leidtragende Gemeinde Allein [sic]“ sein.51

49 Vgl. ebd., S. 156. 50 Marx-Jaskulski 2008, S. 420. 51 Ortsfürsorgeverband Bernried (Bürgermeister Schmid) an das Bezirksamt Weilheim, 2.8.1925; StAM, LRA 5683a. Tatsächlich lag der Fall so, dass die Familie K. ihren Unterstützungswohnsitz nicht in Bernried hatte – dafür wäre ein vorheriger Aufenthalt von einem Jahr notwendig gewesen. Die Gemeinde musste die Unterstützung nur auszahlen und konnte sich die Beträge vom Landesfürsorgeverband zurückholen – worauf die Gemeindeverwaltung seitens des Bezirksamts

Die Armen im Dorf

Auch gegenüber der armen Familie selbst trat die Gemeinde, in erster Linie in Person des Bürgermeisters, wohl in der Regel wenig hilfsbereit auf, was allerdings nicht bedeutete, dass die Familie keine finanzielle und materielle Unterstützung erhielt. Alleine im Dezember 1925 bekam Familie K. folgende Unterstützungen aus unterschiedlichen Quellen, wie aus einer Aufstellung des Bezirksamts hervorgeht: 1. Die Nähmaschine wurde mit 55 Mark ausgelöst und die Haftung für die noch weiteren fälligen Raten übernommen. […] 2. [K.] wurde vom Bürgermeister Bernried eine Anweisung auf 30 Mark gegeben, zum Einkauf von Futterstoffen. 3. Der Ofen in der Wohnung des [K.] wird repariert werden. 4. Der OFV [Ortsfürsorgeverband, AS] Bernried wird für Brennmaterial sorgen. 5. [K.] wird für 1 Woche Unterstützung in Höhe der Erwerbslosenunterstützung gewährt. 6. Ein von [K.] versetzter Kleiderstoff von 5,- Mark wurde ausgelöst. Ausserdem erhielt [K.] vom Roten Kreuz 2 Unterstützungen im Betrag von 3 und 5 Mark.52

Zudem wohnte die Familie K. weiterhin gegen geringe Miete in einer Wohnung53 des Torfstiches Diemendorf, die den K.s kurzfristig von den Besitzern zur Verfügung gestellt worden war.54 Hier wird erneut deutlich, dass die arme Bevölkerung (nicht nur) in ländlichen Gesellschaften auf eine Vielzahl an Hilfsquellen angewiesen war, wenn sie sich nicht selbst ernähren konnte. Die Erwerbslosenunterstützung allein sicherte die Existenz der Familie nicht.55 Zudem waren die Zahlungen und sonstigen Unterstützungen – abgesehen von der geringen Miete – allesamt punktueller Natur; längerfristige Unterstützung gab es nicht. Schneidermeister K. adressierte immer wieder „den Staat“ als Instanz, die ihm aus seiner Notlage heraushelfen sollte. Auch die Gemeinde war für ihn nur ein Teil des Staates. Seine Unterstützungsgesuche richtete er an das Sozialministerium in

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wiederholt hingewiesen wurde, sich aber nicht darum kümmerte. Schließlich stellte das Bezirksamt die entsprechenden Anträge beim Landesfürsorgeverband Oberbayern. Vgl. Bezirksamt Weilheim an den Landesfürsorgeverband Oberbayern, 28.5.1926; ebd. Aktennotiz Nr. 9002 des Bezirksamts Weilheim, 22.12.1925; ebd. „Was sind 2 Zimmer für eine 6köpfige Familie, da soll der Mann in einem dann noch sein Handwerk ausüben. Heizen kann man nur ein Zimmer.“ Beschwerde der Johanna K. an das Bezirksamt Weilheim, 10.10.1927; ebd. Tutzinger Immobiliengesellschaft m.b.H. an den Gemeinderat Bernried, 11.12.25; ebd.; Ortsfürsorgeverband Bernried (Bürgermeister J. Schmid) an das Bezirksamt Weilheim, 2.8.1925; ebd. Vgl. Sachße, Tennstedt 1988, S. 89, 98.

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München56 ebenso wie an das Bezirksamt, die Gemeinde oder den Reichspräsidenten. Und er beschuldigte den Staat, ungerecht zu sein: Wo bleibt da Gerechtigkeit? In Partenkirchen hat ein reicher Bahnhofrestauranteur [sic] einen Fremden erschossen, dieser wurde keine Stunde inhaftiert, sodass die ganze Bevölkerung davon spricht. Zum Austeilen von Strafen nun hat anscheinend der Staat Paragraphen, aber einer in alleräusserster Not befindlichen Familie an die Hand zu gehen, dafür gibt es anscheinend keine.57

Diese Adressierung des Staats als unfähig und ungerecht zieht sich durch die ganze Akte. K. beschwerte sich wiederholt mit starken Worten beim Bezirksamt – „Es ist eine himmelschreind [sic], zum verrücktwerden [sic] traurige Sache, wie die Angestellten u. Beamten der deutschen Behörden, die Angelegenheiten Armer behandeln u. mir [sic] abspeisen“.58 Mit dieser Anklage war auch der Bernrieder Bürgermeister Schmid gemeint. Bei seinen Forderungen und Beschuldigungen differenzierte August K. Mitte der 1920er Jahre also überhaupt nicht zwischen Gemeinde einerseits, Staat andererseits – eine Differenz, die in anderen Kontexten ja immer wieder bemüht wurde. Doch hier, als Bedürftiger, schien K. den Behörden der verschiedenen staatlichen Ebenen gleichermaßen gegenüberzustehen. Diese Behörden waren sich tatsächlich erstaunlich einig, vor allem darin, dass K. an seiner Notlage selbst die Schuld trage.59 Zudem verschärfte sich der Ton zunehmend. Im Entwurfsschreiben für einen Bericht an das Ministerium für soziale Fürsorge hieß es von Seiten des Bezirksamts ein halbes Jahr später: [K.] hat dann einige Monate gut getan, jetzt scheint er wieder auf dem Trocknen zu sitzen. Er hätte reichlich Gelegenheit, sich durch Arbeit ein Auskommen zu schaffen, ist aber kein Freund der Arbeit, lässt Aufträge lange Zeit unerledigt, versetzt sogar übergebene Stoffe. […] Lediglich die Rücksicht auf seine Familie (Frau und 3 kleine Kinder, ein 4. ist zu erwarten) war der Anlass, dass er überhaupt so lange unterstützt wurde. Verhandlungen wegen Unterbringung des [K.] in einem Arbeitshaus sind bereits eingeleitet.60

56 So schrieb er es zumindest in seinem Bittgesuch an den Reichspräsidenten. Schneidermeister August K. an Reichspräsident Hindenburg (Abschrift), 23.6.25; StAM, LRA 5683a. 57 Ebd. 58 August K. an den Oberamtmann b. Bezirksamt Weilheim, 20.8.1925; ebd. 59 Vgl. Aktennotiz Nr. 9002 des Bezirksamts Weilheim, 22.12.1925; ebd. 60 Bezirksamt Weilheim an das bayerische Ministerium für soziale Fürsorge (Entwurf): Fürsorge für den Schneider K. in Karra, 15.6.1926; ebd.

Die Schule und die Gemeinde

Lange Zeit nachdem Familie K. die Gemeinde Bernried verlassen hatte, schrieb das Bezirksamt noch einmal einen Bericht über den Vorgang. Aus diesem geht hervor, dass Bezirksamt und Gemeinde sich bei der Einschätzung des Schneidermeisters einig waren: [K.] ist fast 2 Jahre in der Gemeinde Bernried und lange Zeit vom Ortsfürsorgeverband unterstützt worden. Er hätte genug Gelegenheit gehabt, sich eine auskömmliche Existenz zu gründen, es fehlt ihm aber am Willen zu ernstlicher Arbeit. Wenn der OFV [Ortsfürsorgeverband, AS] jetzt mit der Begründung, dass [K.] ein Lump ist, mit der Unterstützung zurückhält, so ist ihm recht zu geben.61

Die Notlage der Familie wurde in erster Linie auf den schlechten Charakter des Ehemanns und Vaters und auf seine Arbeitsunwilligkeit zurückgeführt. Er habe sich der kommunalen Armenunterstützung als unwürdig erwiesen, was für die Gemeinde Grund genug war, die Unterstützung zu verweigern – und zwar mit Rückendeckung des Bezirksamts. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden Verwaltung und Unterstützung von armen Menschen in Deutschland zunehmend standardisiert und normiert. Doch im ländlichen Raum änderte das wenig daran, dass die omnipräsente Armut weiterhin durch Vertreter der Gemeinden bewältigt werden sollte, die in erster Linie die Gemeindekasse und die Belastungen der Gemeindemitglieder im Auge hatten.62 Gerade in den dörflichen Gesellschaften, in denen man einander kannte und die Gemeindeverwaltungen auch über den jeweiligen Lebenswandel der Betroffenen Bescheid wussten, wurde tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten schnell abgeurteilt. Nicht die Unterstützung von Armen oder gar die Prävention sozialer Notlagen63 war das Ziel der örtlichen Armenverwaltung, sondern die Sicherstellung der kommunalen Zahlungsfähigkeit.

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Die Schule und die Gemeinde

„The school, notably the village school, compulsory and free, has been credited with the ultimate acculturation process that made the French people French – finally

61 Schreiben des Bezirksamts Weilheim an das Bayerische Staatsministerium des Innern, 21.9.1927 (Auszug/Doppel); ebd. (meine Hervorhebung, AS). 62 Vgl. Raphael 2008a, S. 22. 63 Dabei bestand laut Gesetz von 1869 eine Aufgabe der Armenpflegschaftsräte darin, „über den Stand und die Ursachen der Armuth in der Gemeinde sich Kenntniß zu verschaffen“. Vgl. Stadelmann 1870, S. 354.

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civilized them, as many nineteenth-century educators liked to say.“64 Die Schule war eine zentrale Institution der inneren Nationsbildung, argumentiert Weber; sie war eine „Patriotenschmiede“, so Dörner.65 Betrachtet man die Schule unter diesen Vorzeichen, werden vor allem die Inhalte des Schulunterrichts wichtig – etwa die Sozialisation in Französisch statt in regionalen Dialekten über das didaktische Mittel des Diktats, wie Weber es beschreibt.66 Betrachtet man hingegen die Schule als Teil des „Vorrückens“ des Staates in die ländliche Fläche, so wird die Quantität interessant. Gerhard Henkel schätzt, dass um 1900 etwa 30.000 dörfliche Schulen auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands existiert haben. „Die flächendeckende Einrichtung der Schule“, so Henkel, „gehörte neben der kommunalen Selbstverwaltung, der Post und der Polizei zu den großen Infrastrukturleistungen des modernen Staates im 19. Jahrhundert, die dem ländlichen Raum zugutekamen.“67 Die Geschichte der Volksschule im 19. Jahrhundert ist weder vom inneren nation building noch von der Geschichte der Durchstaatlichung zu trennen, auch wenn weiterhin andere Akteur:innen, vor allem die Kirchengemeinden, eine große Rolle für die Schulen vor Ort spielten (s. u., Kap. 10.1).68 Während der Staat den Schulbetrieb standardisierte – oder es zumindest versuchte –, und die Kirche, also der Ortspfarrer, in der Regel die Aufsicht übernahm, mussten die Gemeinden die finanziellen Lasten der Schule tragen.69 Diese größeren Kontexte sind wichtig, um die Schule als Teil der ländlichen Leistungsverwaltung zu beurteilen; sie helfen vor allem dabei, die ambivalenten Einstellungen der lokalen Gesellschaft zu „ihrer“ Schule einzuschätzen. Im Folgenden zeige ich anhand der dicht überlieferten Vorgänge rund um den Schulumbau in Wolxheim, dass diese Gemeinde ihre Schule nicht engagiert förderte, aber auch nicht grundsätzlich ablehnte.70 Vielmehr zeigt sich hier die ganze Vielschichtigkeit von landgemeindlicher „Leistungsverwaltung“ um die Jahrhundertwende.

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Weber 1976, S. 303. Dörner 2006, S. 242. Weber 1976, S. 336. Henkel 2012, S. 152. Dieser Prozess setzte in Frankreich früher ein als in Deutschland. Dort war die „Loi Guizot“ von 1833 ein wichtiger Meilenstein, wodurch der Bürgermeister die lokale Schulaufsicht anstelle des Pfarrers übernahm. Vgl. Franz 2006, S. 290. 69 Vgl. Nipperdey 1983, S. 463 f.; ders. 1990, S. 531–537. Sehr knapp Wolf 1992. 70 Nipperdey (1990, S. 532) kontrastiert die hemmende ländliche Schulpolitik mit der städtischen, die eher die Schulen gefördert habe. Wolf (1992, S. 285) spricht sehr pauschal davon, dass die bäuerliche Bevölkerung „nichts von der Schule gehalten und den Ertrag kindlicher Arbeit höher […] als Schulkenntnisse [geschätzt habe]“.

Die Schule und die Gemeinde

7.2.1

Repräsentative Schulgebäude

Das ambivalente Verhältnis der Gemeinden zu ihren Dorfschulen zeigte sich besonders dann, wenn es um größere Investitionen ging, also vor allem bei Bauprojekten. Welche Mittel wurden bereitgestellt? Was wurde als angemessen erachtet? Welche Zielsetzungen und Deutungen verbanden sich mit den Vorhaben? Einblick in solche Aushandlungsprozesse gibt eine Akte im Archiv des départments Bas-Rhin im Depositum des Gemeindearchivs Wolxheim, die die verschiedensten Dokumente zum Umbau des Gemeinde- und Schulgebäudes vor dem Ersten Weltkrieg enthält.71 Hier sind nicht nur Entwürfe und Kostenvoranschläge, sondern auch Abschriften aus dem Protokollbuch des Gemeinderats und Korrespondenzen mit dem Architekten und der Bauaufsichtsbehörde archiviert.72 Solche Bauprojekte stellten die Gemeinden vor Probleme und Herausforderungen: Einerseits war ein solcher Neu- oder Umbau mit enormen Kosten verbunden, und die kleinen Landgemeinden verfügten in der Regel nicht über ausreichende Mittel für solch große Investitionen. Das hieß, dass sie sich auf lange Zeit verschulden und dafür die kommunalen Abgaben und Umlagen erhöhen mussten. Und nicht nur in finanzieller Hinsicht war ein so großes Bauprojekt schwierig zu stemmen: Die Gemeinden mussten Baupläne und Kostenvoranschläge, Kreditangebote und Tilgungspläne prüfen und den Bau überwachen. Die Gemeinden waren klein, die zeitlichen (und oft auch fachlichen) Ressourcen der Amtsträger begrenzt. So bedeutete der Um- oder Neubau eines Schulhauses über einen längeren Zeitraum eine große Kraftanstrengung für die gemeindliche Selbstverwaltung. Andererseits waren Investitionen dringend notwendig – nicht nur, weil in der Regel die Schulaufsicht den Gemeinden im Nacken saß und bauliche Verbesserungen forderte, sondern auch, weil die Gemeinden selbst wachsende Bedürfnisse hatten. Denn nicht selten wurden die Schulgebäude auch als Gemeindehäuser mit Räumen für die Verwaltung genutzt. Für die Kommunen waren die Gebäude also auch eine Frage der gemeindlichen Repräsentation. Die Schule war ein wichtiges Aushängeschild73 und fungierte als ein sichtbares, Stein gewordenes Sinnbild der Gemeinde, ihrer Eigenständigkeit ebenso wie ihres Wohlstands und ihrer Leistungsfähigkeit.74 Die Sinnstiftungen verdichteten sich insbesondere bei den feierlichen Anlässen, die die Baumaßnahmen begleiteten. Die Einweihungsfeiern fungierten als performative Akte, in denen die Gemeindeführung ihre Leistungen zu inszenieren

71 Die École-Mairie im Zentrum des Dorfes ist typisch für französische Landgemeinden. Vgl. Agulhon 1984. 72 Vgl. ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 3 i. 73 Henkel 2012, S. 152–158. 74 Geißler stellt den repräsentativen Charakter von Schulgebäuden, auch von Volksschulen, heraus, beschränkt diesen Befund aber auf (Groß-)Städte um 1900. Geißler 2011, S. 215.

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Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

suchte und die dörfliche Gemeinschaft zelebriert wurde. So war etwa in Bernried die gesamte Dorföffentlichkeit inklusive Freiwilliger Feuerwehr, Veteranenund Kriegerverein, Bezirksamtmann, Baumeister, Pfarrer und Gutsbesitzer an der feierlichen Eröffnung des neuen Schulhauses beteiligt.75 In historischer Perspektive lassen sich mehrere Schübe im kommunalen Schulhausbau ausmachen. Norbert Franz betont eine auffällige Konjunktur der Investitionen in die Primarschulen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wodurch die meisten ländlichen Gemeinden zumindest mit rudimentären Bildungsstrukturen ausgestattet wurden.76 Auf einen weiteren Schub im späten 19. Jahrhundert folgten enorme kommunale Investitionen in die Volksschulen um die Wende zum 20. Jahrhundert. Diese waren nicht zuletzt auf eine erneute politische, d. h. staatliche Dynamik in der Elementarschulpolitik zurückzuführen.77 In allen drei Untersuchungsgemeinden wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert die Schulgebäude erweitert oder neu gebaut. Ich habe bereits erwähnt, dass in Bernried in den 1880er Jahren ein neues Schulhaus gebaut wurde. Es beherbergte auch die Gerätschaften der Feuerwehr und die Gemeindeverwaltung. Auch dieses Bauvorhaben ging mit einigen Herausforderungen für die Gemeinde einher, insbesondere der Frage, wie der Bau zu finanzieren sei.78 Gut 25 Jahre nach der Einweihung des Schul- und Gemeindehauses musste das Gebäude 1908/1909 umgebaut und renoviert werden.79 Die Mahlower Schule im alten Dorfkern gab es seit 1820. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Bevölkerung von Mahlow so stark gewachsen, dass eine neue Schule notwendig wurde. Diese wurde nun nicht mehr im alten Bauerndorf, sondern an der Berliner Straße, also in der Nähe des neuen Siedlungskerns, errichtet. Auch wenn der Bau durchaus großzügig war, dauerte es nicht lange, bis der Platz erneut knapp wurde, weshalb nach dem Ersten Weltkrieg ein Teil der Schule in eine Baracke im Hof umzog.80 In Wolxheim zog sich der Umbau der Schule lange hin. Die ersten Schriftstücke, die in der Akte

75 Festfeier. Weilheim-Garmischer Wochenblatt, 28.10.1882, in: Bernried im Spiegel der Heimatzeitungen. Im 19. Jahrhundert (Pressespiegel); GAB, Bi 19/69, S. 10 f. 76 Franz 2006, S. 288–295. Franz’ Untersuchungszeitraum endet im Jahr 1890, dementsprechend untersucht er die folgenden, durchaus dynamischen Jahrzehnte im Schulhausbau nicht mehr. 77 Geißler betont aber, dass insbesondere auf dem Land die alten Schulgebäude noch sehr lange für den Unterricht herhalten mussten, und reduziert die Entwicklung der Volksschulen damit auf den urbanen Raum. Die Quellenbefunde aus den drei Untersuchungsgemeinden sprechen hingegen eine andere Sprache. Mit Recht konstatiert Geißler einen klaren Unterschied zwischen Stadt und Land, der sich nicht nur in der Qualität der Schulgebäude, sondern auch in der Qualifikation der Lehrer und der Klassengrößen niederschlug. Geißler 2011, S. 214–238, zur ländlichen Volksschule v. a. S. 223–226. 78 S. o., Kap. 3.3; vgl. Schlimm 2017b, S. 247–249. 79 Vgl. Scherbaum 2017, S. 33. 80 Vgl. Wölfle-Fischer 2011, S. 56 u. 73.

Die Schule und die Gemeinde

archiviert sind, stammen aus dem Jahr 1903; abgerechnet wurde der Bau kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mehr als zehn Jahre also war die Gemeinde mit der Planung, Finanzierung und Durchführung des Bauvorhabens beschäftigt. Denn das Projekt war nicht nur arbeitsaufwendig und teuer, sondern vor allem konfliktbeladen. Innerhalb der Gemeinde und zwischen Gemeinde und Aufsichtsbehörden gab es immer wieder Auseinandersetzungen. 7.2.2

Das Wolxheimer Bauprojekt

Der Schulumbau kam ins Rollen, als Hochbauinspektor Diefenbach in Straßburg am 8. Oktober 1903 ein Gutachten über den Zustand des Schulgebäudes in Wolxheim verfasste. Er konstatierte unhaltbare Zustände, die bei einer Besichtigung durch mehrere Experten81 offenkundig geworden seien. Weder der Schulsaal für die Jungen noch der für die Mädchen konnte ordentlich beleuchtet werden, und die Wohnungen für die Lehrkräfte waren unter einem sehr niedrigen, kaum isolierten Dachstuhl untergebracht. Auch die einzige Treppe im Schulhaus entsprach nicht den Vorschriften und musste dringend baulich verändert werden.82 Die einfachste Lösung sei, so der Hochbauinspektor, auf dem der Schule gegenüberliegenden Hühnerhof einen Neubau zu errichten, in dem zwei Schulsäle übereinander Platz finden sollten. Dann könnten im bisherigen Gebäude die Lehrerwohnung und der Archivraum der Gemeindeverwaltung vergrößert werden. Die Kosten dafür, so Diefenbach, würden sich auf etwa 15.000 bis 16.000 Mark belaufen. Die Gemeinde reagierte ablehnend. Bereits in einer Sitzung im November 1903 fasste der Gemeinderat einen ausführlichen Beschluss zur Frage des Schulhauses: So sei dem Gemeinderat zwar klar, dass die genannten Mängel existierten, doch sei es der Gemeinde schlichtweg nicht zuzumuten, einen größeren Neu- oder Umbau anzustrengen – zu schlecht gehe es der Gemeinde, zu schlecht ihren Einwohner:innen.83 So beschloss der Gemeinderat in seltener Einmütigkeit: „[I]n Anbetracht der vorerwähnten Gründe möchte die Regierung uns gegenwärtig mit einem kostspieligen Umbau verschonen. Wenn wir bessere Weinjahre erleben, können wir ja der Sache näher treten.“84

81 Im Gutachten wurden genannt: Geheimer Regierungsrat Killinger sowie der Regierungs- und Schulrat Stehle, beide vermutlich aus der Bezirksverwaltung für das Unter-Elsass. Hochbauinspektor Diefenbach: Gutachten betreffend: Schulgebäude in Wolxheim, 8.1.1903 (mit einem Nachtrag vom 4.2.1904); ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 3 i. 82 Ebd. 83 Der Beschluss des Gemeinderats ist sehr ausführlich, insbesondere in der Darlegung der wirtschaftlichen Not der Wolxheimer Winzer. Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 8.1.1903; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 123–127, hier: S. 126 f. 84 Ebd., S. 127.

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Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

Doch so vehement diese Ablehnung jeglicher Neu- oder Umbaupläne auch war, die Gemeinde Wolxheim konnte nicht darauf beharren. Der zitierte Passus des Gemeinderatsbeschlusses wurde von der Kommunalaufsicht kassiert. Im Protokollbuch des Gemeinderats ist der letzte Absatz ausgestrichen, und daneben ist notiert: „Dieser Passus musste durchgestrichen werden.“85 Die Gemeindeaufsicht im Elsass war auch nach der Einführung der neuen Gemeindeordnung noch sehr rigide, und so konnte die Gemeinde allem Widerstand zum Trotz den Umbau des Schulgebäudes nicht aufhalten. Beschlossen wurde der Bau nun schließlich im Juni 1904. Zähneknirschend und unter Protest ergab sich der Gemeinderat einer Anordnung, die der Bezirkspräsident des Unterelsasses bereits im März erlassen hatte.86 Auch in diesem Sitzungsprotokoll, das noch dazu offenbar nachgetragen wurde,87 finden sich Ausstreichungen. Zuerst hieß es: „Der Gemeinderat erkennt im Prinzip die Notwendigkeit eines Schulhausneubaus an“. Dieser Passus wurde ersetzt durch: „Der Gemeinderat beschließt notgedrungen, nachdem er von der Verfügung des Herrn Bezirkspräsidenten vom 5.3.1904 Kenntnis erhalten hat, den Bau eines neuen Schulhauses.“88 Der Beschluss war denkbar knapp: Von zwölf anwesenden Gemeinderäten stimmten nur sieben zu, und das auch nur unter der Bedingung, dass der Finanzrahmen eingehalten werde und die Regierung einen Zuschuss zum Umbau gewähre.89 Zudem kam der Beschluss in einer besonderen Situation zustande, denn es handelte sich nicht um eine reguläre Gemeinderatssitzung. Den Vorsitz der Sitzung führte nicht der Bürgermeister, sondern der Kreisdirektor als Repräsentant der kaiserlichen Verwaltung.90 Offenbar wehrte sich der Gemeinderat so vehement gegen die Beschlussfassung zum Neubau, dass die Aufsichtsbehörde zu einer Zwangsmaßnahme griff, die die Gemeindeordnung im Elsass vorsah: die Erzwingung von Sitzung und Beschluss durch den Kreisdirektor.91 Zwar übten auch in anderen

85 Ebd. 86 Interessanterweise ist ausgerechnet diese Anordnung in der (gemeindlichen!) Akte zum Schulhausbau nicht enthalten. Sie wird lediglich in der Gemeinderatssitzung vom 30.6.1904 erwähnt. 87 Der Eintrag steht im Protokollbuch des Gemeinderats erst nach der Sitzung vom 3.7.1904; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 131 f. 88 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 30.6.1904; ebd., S. 132. 89 Allerdings war diese Bedingung im Protokoll weicher formuliert. Hieß es zunächst, der Gemeinderat knüpfe den Beschluss an die feste „Überzeugung“, dass diese Bedingungen eingehalten würden, wurde dies später durch Ausstreichung in „Zuversicht“ geändert; ebd. 90 „Unter dem Vorsitz des Kaiserlichen Herrn Kreisdirektors von Molsheim“; ebd. 91 Gemeindeordnung für Elsass-Lothringen von 1893, Art. 72, Abs. 2: „Verweigert der Bürgermeister die Vornahme einer ihm gesetzlich obliegenden Amtshandlung, oder unterläßt derselbe diese Vornahme ungeachtet der an ihn seitens der Aufsichtsbehörde ergangenen Aufforderung, so kann die Aufsichtsbehörde die Amtshandlung selbst vornehmen oder durch einen Beauftragten vornehmen lassen.“ Vgl. Halley 1894, S. 121.

Die Schule und die Gemeinde

Staaten die bürokratischen Aufsichtsbehörden Druck auf die Gemeinden aus, aber sie waren doch zumindest bemüht, einen Anschein von Konsens zu erwecken, weil sie nicht wie in Wolxheim einen Beschluss direkt erzwingen konnten. Auch nach dem erzwungenen Beschluss versuchten Gemeindeverwaltung und Gemeinderat, sich der Verpflichtung zum Neubau zu entziehen. Der Gemeinderat bat die Bezirksverwaltung um Aufschub.92 Der Bürgermeister verschleppte die weitere Beschlussfassung über Entwürfe und Finanzierung.93 Gemeinderatsbeschlüsse wurden durch Sondervoten einiger Ratsmitglieder aufgeweicht,94 und schließlich verlegten sich einige Mitglieder des Gemeinderats darauf, als Zeichen des Protests den Sitzungssaal zu verlassen, wenn Beschlüsse zum Schulhausbau unterzeichnet wurden.95 Es nützte letztlich alles nichts, das Bauprojekt musste in Angriff genommen werden, war aber von Anfang an durch Konflikte und gemeindlichen Widerwillen, bürokratischen Zwang und hierarchische Anordnung geprägt. Zunächst lief der Planungsprozess an, und mit den fortschreitenden Entwürfen und Ideen, was alles umzubauen und zu optimieren sei, stiegen auch die Baukosten immer weiter. Der erste Entwurf des Hochbauinspektors hatte sich noch auf 15.000 bis 16.000 Mark belaufen, eine Korrektur dieses Vorschlags lag dann bereits bei 21.500 Mark. Diesem Betrag hatte die Gemeinde Wolxheim widerwillig zugestimmt. Das Vorprojekt, das im Februar 1905 vorlag, schätzte die Kosten ohne Architektenhonorar bereits auf 33.000 Mark, und zum Schluss lagen die Ausgaben für den Schulhausbau bei 42.188,14 Mark.96 Das hatte unterschiedliche Gründe. So kamen zum einen normale Preissteigerungen zustande, die über den relativ langen Zeitraum der Realisierung erwartbar waren, zum anderen ergaben sich während des Umbaus notwendige Mehrarbeiten. Schließlich war aber auch der Gemeinderat nicht ganz unschuldig an den enormen Kostensteigerungen. Bereits vor dem erzwungenen Beschluss zum Schulhausbau hatte die Gemeinde ihre ablehnende Haltung mit widersprüchlichen Zusatzwünschen garniert. So sei etwa der allererste Bauvorschlag von Hochbauinspektor Diefenbach – damals ging es darum, die Schulsäle auszuquartieren, um im ersten Stock Platz für eine adäquate Lehrerwohnung zu schaffen – unvollständig, „weil

92 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 24.3.1906; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 151 f. 93 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 3.2.1907; ebd., S. 164 f., hier: S. 164. 94 Ebd., S. 165. 95 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 15.12.1907; ebd., S. 172 (Joseph Scharsch und Zoeller); Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 7.2.1908; ebd., S. 174 (Zoeller; Sigrist und Joseph Scharsch waren erst gar nicht erschienen); Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 29.11.1908; ebd., S. 183 (Joseph Scharsch und Zoeller). 96 Auszug aus dem Register der Beratungen des Gemeinderats Wolxheim, Sitzung vom 13.4.1913; ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 3 i.

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wohl für eine Lehrerwohnung, die auch nicht ganz praktisch ausfiele, aber nicht für eine Lehrerinnenwohnung gesorgt wäre, und doch weist diese die nämlichen Mängel auf wie die Lehrerwohnung.“97 Und das Vorprojekt, das im Februar 1905 vorlag, wurde nicht nur wegen der gestiegenen Kosten kritisiert, sondern auch aus baulichen Gründen. Die Gemeinde begann, eigene Ansprüche zu formulieren: Der Umbau ist am bestehenden Hause derart vorzunehmen, daß im Erdgeschoß drei geräumige, helle Schulsäle an der Längsroute mit zwei getrennten Fluren, mit zwei getrennten Treppenaufgängen, mit einem Versteigerungssaal und einem Sitzungssaal für den Gemeinderat, der zugleich als Archivraum dienen könnte, und im Stockwerke genügende Wohnräume für das Lehrpersonal gewonnen werden.98

War zu Beginn des Projekts noch von einem billigen Neubau nur für die Schulsäle die Rede gewesen, wurde schlussendlich das bestehende Gebäude praktisch vollständig entkernt und neu aufgebaut. Noch während der Bauausführung formulierte der Gemeinderat immer wieder neue Begehrlichkeiten, die offenbar maßgeblich zu einer Baukostensteigerung von einem Drittel beitrugen – darauf weist zumindest der Bericht des Architekten vom Januar 1913 hin. Dieser betonte, dass die gemeindliche Baukommission eigene Wünsche durchsetzte, etwa: Nachdem der alte Stuhl [gemeint ist der Dachstuhl, AS] abgenommen war[,] hat die Gemeinde verschiedene Änderungen am Entwurf vorgeschlagen, die von Herrn Hochbaumeister nach vorgenommener Ortsbesichtigung gebilligt wurden. […] Die Untermauerung beim Mädchenaufgang ist auf Wunsch der Gemeinde anders als vorgesehen ausgeführt worden. […] Die Gaubenöffnungen wurden auf Wunsch der Gemeinde etwas verkleinert. Die ganzen Geschoßhöhen sind sämtliche etwas geändert. […] Im II. Obergeschoß mußte die Höhe aus demselben Grunde etwas vergrößert werden, weil die Gemeinde das vorgesehene Niedrigermachen der Fenster nicht wollte.99

Dabei trieben nicht alle Änderungswünsche die Baukosten in die Höhe, zum Teil setzte die Gemeinde auch sparsamere Lösungen durch. Allerdings handelte es sich dabei in der Regel um Veränderungen, die von außen nicht sichtbar waren. So entschied sich der Gemeinderat kurzerhand gegen die Gewölbedecke im Erdgeschoss und für eine normale Deckenkonstruktion. Dafür sollten aber „auf ausdrücklichen

97 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 8.1.1903; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 123–127, hier: S. 126 f. 98 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 26.2.1905; ebd., S. 138 f. 99 Architekt I. Hecken: Neubau eines Schul- und Gemeindehauses mit Nebenanlangen in Wolxheim i. Els.: Ausführungsbericht, Barr, 8.1.1913; ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 3 i.

Die Schule und die Gemeinde

Wunsch des Gemeinderates alle äußeren Öffnungen Hausteinrahmen erhalten“, während diese an den inneren Türen weggelassen wurden.100 Ebenfalls zur äußeren Repräsentativität trug ein neu hinzugekommenes Renovierungsprojekt bei: Ganz zum Schluss des Bauprozesses wurde kurzerhand auch noch das Wachtlokal neben dem Schulgebäude renoviert, „weil das verwahrloste Gebäude neben dem neuhergerichteten Gemeinde- und Schulhaus einen zu schlechten Eindruck machte“.101 Der Gemeinderat verfolgte also keineswegs nur das Interesse, die Kosten niedrig zu halten, sondern achtete auch darauf, dass der Bau von außen den ästhetischen und repräsentativen Ansprüchen an ein öffentliches Gebäude genügte, selbst wenn dadurch die Kosten stiegen. Zur gemeindlichen Tätigkeit beim Umbau des Schul- und Gemeindehauses gehörte neben der Überwachung der Baudetails auch, die nötigen finanziellen Mittel für das Bauvorhaben zu akquirieren. Ein erheblicher Teil musste von der Gemeinde selbst getragen werden, indem sie einen Kredit aufnahm. Zu der Sitzung, in der das beschlossen wurde, wurden nicht nur die Gemeinderatsmitglieder, sondern auch die zehn Höchstbesteuerten geladen; von diesen erschienen allerdings nur zwei, die gegen den Beschluss stimmten. Trotzdem wurde ein Kredit in Höhe von 22.650 Mark aufgenommen, der über 25 Jahre hinweg getilgt werden sollte. Für diese Jahre, in denen jeweils 1411,81 Mark abbezahlt werden sollten, musste eine Erhöhung der Steuerzuschläge um weitere 25 Prozentpunkte (auf dann insgesamt 90 Prozent Zuschlag zu den direkten Staatssteuern) bewilligt werden. Auch dieser Beschluss war schwer zu fassen, denn einige Mitglieder forderten eine erneute Änderung der Baupläne. Die Mehrheit war besonders knapp; der Bürgermeister musste seine entscheidende Stimme in die Waagschale werfen. Der Protokollant vermerkte neben den Unterschriften derjenigen Ratsmitglieder, die für den Beschluss stimmten: „Also Stimmenmehrheit!“102 Als die anvisierten Baukosten um ein gutes Viertel überschritten wurden, bemühte sich die Gemeinde darum, dass nicht alle von ihr selbst getragen werden mussten: Kaiserliche Kreisdirektion wird ergebenst gebeten, sich geneigtest bei der hohen Regierung dahin verwenden zu wollen, daß der fast ausschließlich Weinbau treibenden Gemeinde Wolxheim im Hinblick auf ihre bekannte ungünstige Finanzlage, namentlich aber unter Berücksichtigung ihrer zur Zeit aufs höchste gesteigerten wirtschaftlichen Notlage zu der fehlenden Summe von 10.237,29 M eine Landesbeihilfe von mindestens 4.000 M möge

100 Ebd., S. 3. 101 Architekt I. Hecken: Bericht betr. Entstehung der Überschreitung der Anschlagskosten beim Umbau des Schul- und Gemeindehauses in Wolxheim i. Els., Barr, 29.7.1914; ebd. 102 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 15.9.1909; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 188 f., hier: S. 189.

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bewilligt werden, da schon die Aufbringung des verbleibenden Restes, die im Wege einer neuen Anleihe erfolgen muß, für die bereits mit 90 % Steuerzuschlägen bedachte, in ihrer Existenz bedrohte Bevölkerung eine sehr empfindliche Neubelastung darstellt.103

Diesem Auszug aus dem Gemeindebeschlussbuch lag eine tabellarische Übersicht zur Finanzlage bei, aus der hervorging, dass die Einkünfte der Kommune fast ausschließlich aus Steuerzuschlägen bestanden. Sogar der Kreisdirektor folgerte nun: Die finanzielle Lage der Gemeinde ist z. Zt. kaum eine mittelmäßige, ebenso hat die Steuerkraft der weinbautreibenden Bevölkerung durch mehrere Maßnahmen stark nachgelassen. Ein möglichst hoher Zuschuß erscheint angezeigt.104

So gelang es mit Unterstützung des Kreisdirektors zwar, weitere öffentliche Gelder für die Finanzierung des Schulhausbaus zu akquirieren, doch insgesamt brachte das Projekt die Gemeinde an die nicht nur finanzielle Belastungsgrenze. Die Stimmung innerhalb des Gemeinderats war höchst angespannt. Sogar die Gemeinderatsprotokolle zeigten ausnahmsweise die internen Konflikte deutlich. Doch auch mit Akteuren von außen kam es zu Auseinandersetzungen, vor allem mit den Beamten auf Bezirks- und Kreisebene. Auch wenn der Kreisdirektor schließlich die Gemeinde bei der Akquise der Finanzbeihilfen unterstützte, war das Verhältnis zwischen Gemeinde und Kreis doch angespannt. Hier wird deutlich, dass der Kreisdirektor als „Broker“105 , der die für die Realisierung eines solchen Großprojekts notwendigen Vermittlungsleistungen zwischen Kommune und Staat übernahm, keineswegs eine neutrale Position einnahm. Oder anders formuliert: Er wurde von Seiten der Gemeinde keineswegs als neutrale Person wahrgenommen, war er es doch, der die Kooperation der kommunalen Akteure erzwingen musste. Der ausführlich geschilderte Fall des Schulumbaus in Wolxheim verdeutlicht die Unterschiede zur städtischen, vor allem großstädtischen Leistungsverwaltung. Die Städte – nach und nach auch die Kleinstädte106 – sahen im Ausbau der Leistungsverwaltung eine Möglichkeit, ihre Autonomie zu vergrößern. Bei den Landgemeinden war das offenbar genau umgekehrt. Hier musste die staatliche Verwaltung intervenieren, um die Gemeinden zu größeren Investitionen zu bewegen. Autonomie und Selbstverwaltungsrechte der Gemeinden dienten den lokalen Gesellschaften 103 Auszug aus dem Register der Beratungen des Gemeinderats der Gemeinde Wolxheim, betr.: Abrechnung über den Schulhausbau, 13.4.1913; ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 3 i. 104 Finanzlage der Gemeinde Wolxheim (Formular), 21.4.1913; ebd. 105 Vgl. zu den preußischen Landräten als Broker Wagner 2004. 106 Vgl. das Beispiel der westfälischen Kleinstadt Billerbeck: Sieger 2012, S. 139–144 (auch zum öffentlichen Bauen).

Die Schule und die Gemeinde

als Mittel, um sich gegen Vorgaben zur Wehr zu setzen, auch wenn sie dabei nicht zwingend erfolgreich waren. Und doch wäre es falsch, die Gemeinden lediglich als Getriebene darzustellen. Denn auch eine finanziell klamme Gemeinde wie Wolxheim hatte einen gewissen Ehrgeiz, das Projekt richtig und repräsentativ über die Bühne zu bringen. Zudem schien die Wolxheimer Gemeindeverwaltung auch einen gewissen Pragmatismus an den Tag zu legen: Wenn jetzt schon so eine große finanzielle Kraftanstrengung notwendig war, warum sollte man es dann nicht richtigmachen? Und war es nicht am einfachsten, alle Investitionen auf einen Schlag zu tätigen und dabei noch möglichst viel staatliche Förderung zu erhalten? Dies mag ein Beweggrund gewesen sein, mit dem Umbau neue Schulmöbel anzuschaffen, auch wenn die alten zumindest teilweise noch als brauchbar galten.107 Insgesamt aber handelte der Wolxheimer Gemeinderat nicht sehr aktiv. Das Schulhausprojekt hätte nicht von der Gemeinde selbst in die Wege geleitet und geschultert werden können, was nicht nur an der miserablen Finanzlage lag, sondern auch daran, dass sie intern zerstritten war. Ohne Einigkeit in den Führungsgremien waren Kommunen meist nicht imstande, ein größeres Projekt selbstständig zu schultern.108 7.2.3

Ambivalente Beziehungen

Die Beziehungen zwischen den Gemeinden und den lokalen Schulen waren vielschichtig und uneindeutig. Dies äußerte sich nicht nur am Verhalten bei den Bauprojekten. In den Unterlagen der Mahlower Gemeindevertretung zum Beispiel finden sich auch immer wieder die Spuren von Diskussionen über die richtige Ausstattung der örtlichen Schule. Meist beantragte der Lehrer finanzielle Unterstützung für Anschaffungen, etwa im Ersten Weltkrieg für den Kauf von Tinte.109 Die Gemeindevertretung war um die Wende zum 20. Jahrhundert noch sehr zurückhaltend und lehnte es zum Beispiel ab, auch nur ein Buch anzuschaffen, bevor der Lehrer nicht eine ordentliche Inventarliste angelegt hatte.110 Doch in den frü-

107 Architekt I. Hecken: Bericht betr. Entstehung der Überschreitung der Anschlagskosten beim Umbau des Schul- und Gemeindehauses in Wolxheim i. Els., Barr, 29.7.1914; ADBR 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 3 i. 108 Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht die behauptete Einigkeit der Gemeinde auch oft nur eine Zuschreibung war. Vgl. den Zeitungsartikel über die Eröffnung der Bernrieder Schule, verfasst von „einem Schulfreund“, in dem die Einigkeit der Gemeinde Bernried immer wieder erwähnt wurde; im gleichen Atemzug wurde die Eintracht mit allen anderen Beteiligten beschworen – so enorm, dass es sich möglicherweise auch um das Überschreiben von lokalen Konflikten gehandelt haben könnte. Festfeier. Weilheim-Garmischer Wochenblatt, 28.10.1882, in: Bernried im Spiegel der Heimatzeitungen. Im 19. Jahrhundert (Pressespiegel); GAB, Bi 19/69, S. 10 f. 109 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 3.7.1917; KrA-TF, XII.295, S. 4 f. 110 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 30.5.1905; KrA-TF, XII.294.

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Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

hen 1920er Jahren zeichneten sich bedeutende Veränderungen ab. Die Wünsche des Lehrers wurden größer: Nun sollte die Gemeinde auch eine Wandtafel, einen Filmprojektor und Verdunkelungsmittel anschaffen. Die Gemeinderatsmitglieder wurden gleichzeitig offener für solche Wünsche, auch wenn sich die endgültige Bewilligung der Mittel dann über mehrere Sitzungen hinzog.111 Das dürfte nicht an einer verbesserten Finanzlage der Gemeinde gelegen haben. Gerade Mahlow hatte sich in den Jahrzehnten seit der Wende zum 20. Jahrhundert stark verändert, war zu einem Vorort Berlins geworden. Und seit den Wahlrechtsänderungen bei der Republikgründung bildete sich die veränderte Zusammensetzung der Gemeinde auch im Gemeinderat ab. Das dürfte dazu beigetragen haben, dass die Schule einen veränderten Stellenwert in der Gemeinde erhielt und die Ausstattung mit zeitgemäßen Lernmitteln nicht mehr unbedingt als Luxus begriffen wurde. Die Dorflehrer112 waren in vielfältige Abhängigkeiten eingebunden. Neben der staatlichen Hierarchie gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs auch die kirchliche Schulaufsicht dazu.113 Doch auch das Verhältnis zwischen den Lehrern und den Gemeinden war vielschichtig, und entsprechend ist es interessant für die Untersuchung, welchen Stellenwert die Schulen für die Gemeinden hatten. Zwar waren die Abhängigkeiten zwischen Gemeinde und Lehrpersonal formal gering ausgeprägt, weil die staatliche Kultusverwaltung immer mehr Fragen der Ausbildung, der Lehrpläne und auch der Besoldung übernommen hatte. Die Praxis sah indes etwas anders aus, denn die Gemeinde bestimmte die Nebeneinkünfte der Lehrer.114 Typische Nebentätigkeiten, die die Schullehrer nutzten, um ihr karges Gehalt aufzubessern, waren der Gemeindeschreiberdienst oder die niederen Kirchendienste (Mesner oder Organist).115 Zu Jahresbeginn 1890 wechselte in Bernried der Schullehrer. Die Gemeindeverwaltung beschloss nun die Regelungen zu den Nebeneinkünften neu; entsprechend verfügen wir hier über eine gute Übersicht

111 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 14.11.1924, 23.1.1925, 13.3.1925, 30.4.1925; KrA-TF, XII.295, S. 163–166, S. 166–169, S. 169–174, S. 174–177. 112 Ab dem Ersten Weltkrieg gab es zunehmend auch Lehrerinnen; in Wolxheim waren es die Schulschwestern, die eine Rolle auch für den Umbau des Schulhauses spielten. Doch hier geht es um das Verhältnis zwischen den Gemeinden und den Lehrkräften, und da ging es ausschließlich um Männer. 113 Vgl. Dörner 2006, S. 243–248. 114 Zur Lehrerbesoldung in Preußen sehr anschaulich: Meyer 1976, S. 100–109. 115 In Bayern kam darüber hinaus noch der Aufschlagdienst dazu, also das Eintreiben des staatlichen Malzaufschlags. Zumindest in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernahm der Bernrieder Lehrer diese Funktion noch. Vgl. dazu das Vermächtnis der Rosalia von Dall’Armi: 500 Gulden wurden dafür angelegt, einen Zuschuss zum Lehrergehalt zu zahlen, ab dem Zeitpunkt, da der Lehrer den Aufschlagdienst nicht mehr versehen dürfe. Bis dahin sollten die Zinsen zu einem Sondervermögen für die Armenkasse gesammelt werden. Dall’Armi, Rosalie von: Letztwillige Anordnung (beglaubigte Abschrift 1865), 4.12.1856; StAM, LRA 9770.

Die Schule und die Gemeinde

der Finanzquellen des Lehrers. So sollte der neue Lehrer weiterhin Gemeindeschreiber sein und dafür 80 Mark jährlich erhalten.116 Dazu kam außerdem eine Aufbesserung des Gehalts aus der Gemeindekasse in Höhe von 70 Mark; für die Sonntagsschule sollte er 300 Mark bekommen.117 Es dauerte nur wenige Jahre, bis Lehrer Sedlmayr auf die Gemeinde zukam, um eine Erhöhung seiner Zulagen zu beantragen, die ihm auch gewährt wurde.118 Obwohl die wirtschaftliche Situation der Schullehrer auf dem Dorf um 1900 nicht mehr ganz so prekär war wie noch zur Mitte des vorangegangenen Jahrhunderts,119 konnte ein Lehrer doch kaum Ersparnisse anlegen. Das zeigte sich beispielsweise daran, dass die Lehrerwitwe Schafitel im Jahr 1893 als Mieterin des Bernrieder Armenhauses in den Akten auftaucht. Die Pension einer Lehrerwitwe reichte für ein standesgemäßes Auskommen offenbar nicht aus.120 Überhaupt war die Wohnungsfrage ein wichtiger Punkt, an dem das vielschichtige Verhältnis zwischen Gemeinden und Lehrern sichtbar wurde, stellten doch die Gemeinden in der Regel die Lehrerwohnungen zur Verfügung und waren entsprechend auch dafür verantwortlich, Reparaturen, vor allem aber Modernisierungen durchzuführen. Hier wurden die Lehrer wiederum zu Bittstellern gegenüber der Gemeinde, wenn sie versuchten, ihre Wohnsituation zu verbessern.121 Trotz dieser Abhängigkeit in materieller Hinsicht hatten die Lehrer eine hervorgehobene Rolle in den Landgemeinden inne. Als beispielsweise der Schullehrer Schafitel in Bernried zum Jahresbeginn 1890 in den Ruhestand versetzt wurde, richtete die „Pfarr- und Schulgemeinde“ Bernried eine große Feier zu seiner Pensionierung aus, über die sogar das Weilheimer Tagblatt ausführlich berichtete: Abends 7 Uhr wurde der Gefeierte durch den Kgl. Lokalschulinspektor und Pfarrer, Herrn Schattenhofer, und Herren Bürgermeister Pauli nebst den übrigen Mitgliedern der Gemeindeverwaltung von seiner Wohnung abgeholt und in das prächtig dekorierte Festlokal im Gasthaus „Zum alten Wirt“ geleitet. Ein Transparent mit der feurigen Inschrift „Dem Herrn Lehrer Ludwig Schafitel für seine ersprießliche Thätigkeit herzlichen Dank!

116 Wichtig war der Zusatz: „Sämtliche Fertigung der Rechnungen sind innbegriffen [sic].“ Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 20.12.1889; GAB, B2/3, S. 158. 117 Ebd. 118 Die Entschädigung für den Gemeindeschreiberdienst wurde von 80 auf 130 Mark erhöht. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 2.7.1893; ebd., S. 244. 119 Vgl. Dörner 2006, S. 243 f. 120 Protokoll des Armenpflegschaftsrats Bernried, 7.5.1893; GAB, B33/1. 121 In Zeiten knapper Kassen versuchten die Gemeinden zudem, die Kosten für die Lehrerwohnungen zu reduzieren – etwa 1920, als der Mahlower Gemeinderat beschloss, grundsätzlich hätten die Lehrer für ihre Heizkosten selbst aufzukommen. Vgl. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 2.8.1920; KrA-TF, XII.295, S. 72–74.

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Gemeinde Bernried.“ […] Das abgehaltene Fest aber gereicht der Gemeinde Bernried, die ihren tüchtigen Lehrer auf solch schöne Weise ehrte, gewiß auch zur größten Ehre.122

Es gab Schülervorträge sowie Reden von Pfarrer und Bürgermeister. Zudem wurde Schafitel zum ersten nachgewiesenen Ehrenbürger der Gemeinde Bernried ernannt.123 Es ist nicht leicht, die Bedeutung der Schule für die Landgemeinde zu bewerten. Einerseits war der Schulbetrieb eine gemeindliche Pflichtaufgabe, zu der die Landgemeinden gezwungen werden konnten. Andererseits nutzten die Gemeinden die Schulen auch zur eigenen Repräsentation. Die Hinweise aus den hier untersuchten Gemeinden weisen zudem darauf hin, dass sich das Verhältnis der Gemeinden zu den lokalen Schulen wandelte und die Gemeinden die Schulen zunehmend als ihre Schulen begriffen. Das zeigt sich sowohl an den Versuchen Wolxheims, das Schulgebäude doch einigermaßen repräsentativ zu gestalten, als auch an dem Verhältnis der Bernrieder zu ihrem Lehrer oder der zunehmenden Bereitschaft des Mahlower Gemeinderats, die Schule zeitgemäß auszustatten. Doch unabhängig davon war die gemeindliche Schulpolitik ein konfliktträchtiges Feld. Nicht immer trug sie dazu bei, die Gemeinden kooperativ in die staatliche Verwaltung einzubinden, wie es Norbert Franz für seine Untersuchungsgemeinden im Rhein-Maas-Raum festgestellt hat.124 Vielmehr konnte auch eine Polarisierung zwischen fordernder staatlicher Verwaltung einerseits und vermeintlich überforderter Gemeinde andererseits die Folge sein, wie das Wolxheimer Beispiel gezeigt hat. Die Gemeinden wählten ihren Weg, doch sie mussten sich flexibel zeigen. Denn während der Periode um 1900 wandelten sich die Anforderungen des Staates an die ländlichen Schulen erheblich, und die Gemeinden als Trägerinnen der Schulen mussten mit diesen Veränderungen umgehen. Wie sie das taten, war recht unterschiedlich.

122 Abschrift aus Weilheimer Tagblatt, 22.1.1890 (Pressespiegel); GAB, S1/5: Zeitung 1890–1899. Der nächste Eintrag in der Zeitungsdokumentation ist die Todesanzeige Schafitels, der bereits 1891 im Alter von 44 Jahren starb. 123 Zur Ehrenbürgerrechtsverleihung vgl. das Protokoll der Bernrieder Gemeindeversammlung, 15.1.1890; GAB, B2/4, S. 1; der Beschluss des Gemeindeausschusses, der lt. Protokoll der Gemeindeversammlung am 6.1.1890 gefasst worden war, ist hingegen nicht dokumentiert, zumindest nicht im Beschlussbuch. Dies mag daran gelegen haben, dass Schafitel selbst der Gemeindeschreiber war und nichts davon erfahren sollte. Das Protokoll der Gemeindeversammlung hat er zumindest nicht selbst geschrieben. 124 Franz 2006, S. 361.

Infrastrukturen. Die Vernetzung des Dorfes?

7.3

Infrastrukturen. Die Vernetzung des Dorfes?

Infrastrukturen, das hat Dirk van Laak bereits vor vielen Jahren festgestellt, sind ein lohnendes Forschungsthema, weil sie aufgrund ihrer vermeintlichen Neutralität und ihrer Langlebigkeit Einsichten in die „lange Dauer“ von öffentlicher Daseinsvorsorge, ihrer Dynamik und Eigenlogik versprechen. Zudem sind sie, so van Laak, unentbehrlich für das Nachdenken über die Herausbildung von Modernität, da der „Stand der Infrastrukturen als Maßstab für den Anschluss an die Moderne“ verstanden werden könne. Infrastrukturen seien erstens ein „Versprechen für die Zukunft“, andererseits böten sie einen Vergleichsmaßstab, um das eigene Versorgungsniveau mit dem andernorts zu vergleichen.125 Dass Infrastrukturen nicht nur technische, sondern zutiefst soziale Anlagen sind, sie sowohl gesellschaftliche Realitäten prägen als auch von ihnen hervorgebracht und transformiert werden, ist in der Infrastrukturforschung seit Langem bekannt.126 Sie verraten insofern nicht nur etwas über technische Möglichkeiten, sondern auch über (Selbst-)Deutungen von Gesellschaften und die Umsetzbarkeit von Planungen. Hier verknüpfen sich technische Entwicklungen mit kulturellen Deutungsmustern, politischen Entscheidungssituationen und sozialen Verhältnissen. Moderne Infrastrukturen wurden bislang weitgehend für städtische Räume untersucht. „Die Vernetzung der Stadt“, so argumentiert Dieter Schott, sei „eines der auffälligsten und folgenreichsten Momente des Urbanisierungsprozesses in der Hochindustrialisierungsphase.“127 Demgegenüber gelten ländliche Gemeinden als infrastrukturelle Nachzügler,128 der ländliche Raum nur als leerer, zu erschließender Raum.129 Im Laufe des 20. Jahrhunderts, so van Laak, hätten die Infrastrukturen eine maßgebliche Rolle bei der Einebnung des Stadt-Land-Gegensatzes gespielt, als städtische Infrastrukturen und damit Lebensweisen in den ländlichen, zunehmend suburbanen Raum Eingang fanden.130 Diese Engführung von Infrastrukturen und Stadt stelle ich im Folgenden infrage. War es tatsächlich so, dass ländliche Gemeinden nicht daran interessiert waren,

125 Laak 2018, S. 282 f. Vgl. zu diesem Kapitel insgesamt Irlinger 2018, dem ich trotz des sehr anderen Fokus wertvolle Einsichten und Anregungen verdanke – nicht nur dem Buch, auch dem Autor. 126 Vgl. Laak 2001, S. 375. 127 Schott 1999, S. 2. 128 Krabbe betont die Nachzüglerrolle der Landgemeinden: „Die Kleinstädte, Landkreise und Landgemeinden hinkten ihnen [den Großstädten, AS] jedoch regelrecht hinterher.“ Allerdings bemisst er den infrastrukturellen Entwicklungsstand der Gemeinden nur anhand des Vorhandenseins von Wasser-, Gas- und E-Werken, Straßenbahn und Schlachthöfen. Krabbe 1985, S. 84. 129 Vgl. Schott 1999, S. 34. Zur Erschließungsvorstellung des kolonialen Raums vgl. Laak 2004. 130 Laak 2004, S. 375.

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lokale Infrastrukturen auszubauen? Und wenn dem so war, was waren die Gründe dafür? Waren es die knappen (finanziellen) Ressourcen, war es die konservative Mentalität der lokalen Entscheidungsträger oder gar die mangelnde fachliche Kompetenz des Verwaltungspersonals? Möglicherweise gab es auch noch ganz andere Faktoren, die die Vernetzung der Dörfer behinderten. 7.3.1

Teure Verkehrswege

Die knappen Ressourcen waren für die Gemeinden zumindest immer ein wichtiges Argument gegen Neuerungen, das haben schon die letzten beiden Kapitel gezeigt. Neben der Armen- und der Schulpolitik war selbstverständlich auch die Infrastrukturpolitik ein Feld, auf dem sich die erzwungene Sparsamkeit der Landgemeinden als Hemmschuh erwies. Den Gemeinden waren zudem sehr enge Grenzen für größere Investitionen gesetzt. Selbst in Bayern – was eine vergleichsweise freie Gemeindeordnung besaß – musste eine Gemeinde wie Bernried bereits ab einer Summe von 500 Gulden eine Genehmigung des Bezirksamts einholen.131 Für zeitgenössische Beobachter waren die Straßen im ländlichen Raum ein großes Problem. Während die großen Straßen für den überörtlichen Verkehr frühzeitig von staatlichen Verwaltungen übernommen worden waren, mussten die kleineren Straßen, die vor allem dem Verkehr zwischen den ländlichen Gemeinden dienten, von diesen Gemeinden selbst gebaut und instandgehalten werden. Doch im 19. Jahrhundert wurden Straßenbau, -planung und -finanzierung zunehmend zentralisiert. In Frankreich wurden noch zur Zeit des Konsulats die soeben abgeschafften Fronen wieder eingeführt, um den Bau und die Instandhaltung des ländlichen Straßennetzes sicherzustellen.132 Sie wurden über das 19. Jahrhundert hinweg sogar immer wieder erhöht, denn andere Ressourcen als die Arbeitskraft der Landbewohner ließen sich aufgrund der ländlichen Armut im Elsass nicht mobilisieren.133 Wie die meisten Regelungen des Verwaltungsrechts blieben auch die Frontage sowie ihre Umwandlung in Stückarbeit und Geld nach 1870 im Reichsland erhalten. Abgeschafft wurden die Fronen für den Straßenbau erst nach dem Ersten Weltkrieg134 –

131 Bayer. Gemeindeordnung 1869, Art. 159. 132 In der zeitgenössischen Verwaltungssprache handelte es sich um die Vicinalstraßen und -wege – keine rein innerörtlichen Wege, sondern solche, die dem notwendigen Verkehr zwischen den Ortschaften dienten. Vgl. Gesetz, betreffend die Vizinalwege [1824]. 133 Vgl. Franz 2006, S. 231. 134 Vgl. Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 28.7.1918; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 283. Abgeschafft wurden die Frontage für die Vizinalstraßen, die Gemeinden selbst entschieden über die Fronen für die Vizinalwege – der Wolxheimer Gemeinderat entschied in seltener Einmütigkeit, die Fronen in Geld abzulösen.

Infrastrukturen. Die Vernetzung des Dorfes?

aller Kritik an der Zwangsarbeit zum Trotz, die bereits im Zuge der Revolution von 1848 deutlich artikuliert worden war.135 Die elsässischen Gemeinderäte beschlossen formal über die Fronen – zum einen darüber, wie viele Frontage für die Vizinalstraßen bzw. -wege jeweils eingepreist wurden, zum anderen darüber, wie die Fronen in Geld bzw. in Stückarbeiten umgewandelt werden konnten.136 Bei beiden Entscheidungen handelte es sich um pro-forma-Entscheidungen. Die Details regelten der Bezirkstag und die Straßenbauverwaltung nach gesetzlichen Vorgaben.137 Weitere Ressourcen für den Straßenbau zu mobilisieren, fiel den Gemeinden sehr schwer. Ob das nun daran lag, dass tatsächlich bei den steuerpflichtigen Einwohnern nichts mehr zu holen war, oder ob der Gemeinderat der Meinung war, mit den Fronen habe die Gemeinde genug zum Straßenbau beigetragen, mag eine Frage der Einschätzung sein, und vermutlich lag die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Beispielsweise sollte in den frühen 1880er Jahren die Vizinalstraße, die durch Wolxheim führte, verbreitert werden. Dafür musste auch die Brücke über den Mühlbach erweitert werden, wofür die Gemeinde Wolxheim nicht nur einen finanziellen Zuschuss von 1000 Mark, sondern auch Hand- und Spanndienste leisten musste.138 Der Gemeinderat sah zwar ein, dass die Baumaßnahme notwendig war, war aber nicht bereit, sich finanziell daran zu beteiligen: Der GemeindeRath […] erkennt die Nützlichkeit und die Nothwendigkeit der Erweiterung dieser Brücke und erklärt sich mit dem anliegenden Plane völlig einverstanden, bedauert jedoch sehr wegen Mangel an Einkünften (die freien Fonds sind null) zur Aufbringung der Kosten aus seinen Geldern keinen Beitrag leisten zu können.139

Im Jahr 1896 aber musste die Gemeinde selbst tätig werden: Bislang hatten die Wolxheimer einen Weg über ein Privatgrundstück zur nächsten Bahnstation im

135 In der Revolution war eine gesonderte Kommission eingerichtet worden, die die Fronen diskutieren sollte. Sie hatte geurteilt, dass die Fronen mit den Ideen der Revolution inkompatibel seien, abgeschafft wurden sie aber dennoch nicht – wohl weil sie alternativlos erschienen. Vgl. Franz 2006, S. 232. 136 Zur rechtlichen Regelung der Frontage für Straßenbau vgl. ebd., S. 228–232. 137 Gesetz über die Vizinalwege [1836]. Das schlug sich auch in den Protokollen nieder. Vgl. Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 2.7.1895; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 1. „In Erwägung des vom Bezirkstage gefaßten Beschlusses vom 24. August 1877“; vgl. auch Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 4.6.1905; ebd., S. 140 f.: „nimmt der Gemeinderat die durch Herrn Wegemeister Fischer am 15. Mai aufgestellte und am 22. desselben Monates revidirte Ausarbeitung an.“ 138 Vgl. Bezirkspräsident des Unterelsass an den Kreisdirektor in Molsheim (Abschrift), 12.12.1881; ADBR, 8 E 554/58. 139 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 16.1.1881; ADBR, 8 E 554/61.

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Nachbarort Sulzbad genutzt, doch nun hatte der Besitzer die „altherkömmlich[e] Passage“ gesperrt. Der Gemeinderat beschloss daraufhin, „[i]n Anbetracht der Nothwendigkeit eines Verkehrsweges zwischen der Gemeinde und der Station Sulzbad“ sich um einen neuen Weg zu kümmern, der aber nicht aus der Gemeindekasse finanziert werden sollte, sondern durch die „Interessenten“ selbst, also vor allem diejenigen, die die Anbindung an den Güterverkehr benötigten. Die Gemeinde war jedoch bereit, jährlich 15 Mark an den Besitzer des Geländes als Entschädigung für die Nutzung von Grund und Boden zu zahlen.140 Diese Zusicherung zog die Gemeinde jedoch sehr schnell zurück. Denn erstens hatte die Kreisverwaltung der Gemeinde zwischenzeitlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Baukosten für die notwendige Brücke über die Mossig auf dem Weg nach Sulzbad konnten keineswegs den „Interessenten“ aufgebürdet werden (die Wegekosten offenbar schon). Und zweitens hatte die Eisenbahnverwaltung beschlossen, in Avolsheim – einem anderen Nachbarort Wolxheims – einen neuen Haltepunkt für den Güterverkehr einzurichten. Daher entschied der Gemeinderat nun, den Weg nach Sulzbad nur als Fußgängerweg zu bauen. Und auch hierfür sollte nicht die Gemeinde bezahlen: „Die Kosten werden durch freiwillige Beiträge gedeckt werden.“141 7.3.2

Eine Frage der Mentalität?

Wolfgang R. Krabbe betont, dass die Herausbildung städtischer Leistungsverwaltungen mit der Etablierung eines neuen Typs städtischer Elite verknüpft gewesen sei: Es war eine neue Generation von Kommunalpolitikern, die nun […] allmählich die hausväterliche Sparsamkeitsideologie des frühliberalen, noch häufig kleinbürgerlichen Honoratiorentums überwand. Geprägt durch die Industrialisierung, dachten sie großzügiger und risikobereiter, planten weitblickender als ihre Vorgänger, ohne indes in der Kalkulation weniger streng zu verfahren. Sie verhielten sich offen gegenüber jeder Innovation, die die Entwicklung ihrer Stadt voranbringen konnte.142

Das Gegenteil dieser kapitalistisch sozialisierten Vertreter des städtischen Bürgertums vermutet man mit einigem Recht in den Vertretungskörperschaften der Landgemeinden, denn wir haben Sparsamkeit als eine notwendige Strategie der

140 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 11.8.1895; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 5 f. 141 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 2.8.1896; ebd., S. 21 f., Zitat S. 22. 142 Krabbe 1985, S. 367 (meine Hervorhebungen, AS).

Infrastrukturen. Die Vernetzung des Dorfes?

Landgemeinden kennengelernt. Allerdings muss möglicherweise auch differenziert werden, dass es doch nicht immer alle Gemeinderäte waren, die Innovationen negativ gegenüberstanden. Darauf weist eine kurze Begebenheit im Wolxheimer Gemeinderat im Jahr 1899 hin. Ein regionales Komitee wollte die Anbindung des nordöstlichen Teils des Kreises Molsheim an die Eisenbahn Richtung Hagenau vorantreiben. Auf dieser Strecke sollte auch Wolxheim einen eigenen Haltepunkt erhalten. Bürgermeister Joessel war schlichtweg begeistert, als er das Projekt dem Gemeinderat vortrug: Diese Bahn wäre eine große Wohlthat für unsere ganze Gegend und speziel [sic] für unsere Gemeinde, wir müssen deßhalb alles aufbieten um dieselbe zu Stand zu bringen, und ich ersuche den Gemeinderat über diese Frage zu berathen.143

Vor lauter Euphorie über die Möglichkeiten, die sich für seine Gemeinde (und möglicherweise seinen eigenen wirtschaftlichen Erfolg) ergeben konnten, hatte der Bürgermeister den Beschluss des Gemeinderats im Protokollbuch bereits vorformuliert: In Erwägung daß die projektirte Bahn sowie ein Anschluß an dieselbe von höchstem Interesse für unsere Gemeinde wäre, daß ihr dadurch die Möglichkeit geboten wäre den Verkehr zu erhalten von dem sie bis jetzt abgeschlossen ist, daß ihr neue Absatzgebiete für ihre Produkte erschlossen werden würde, faßt folgende Resolution: Namens der Gemeinde wird das Gesuch hierdurch an den hohen Landesausschuß gerichtet. Hoch derselbe wolle beschließen die Vorstudien einzuleiten, zur Erbauung einer Bahn von Molsheim nach Hagenau, über Truchtersheim und Mommenheim.144

Doch gelang es ihm nicht, den Funken seiner Begeisterung auf den restlichen Gemeinderat überspringen zu lassen. Dieser reagierte verhalten – und ersetzte den von Joessel vorformulierten Beschluss durch einen deutlich zurückhaltenderen: Nach Anhörung obigen Schreibens und nach eingehender Berathung, erkennt [der Gemeinderat, AS] die Nützlichkeit der projektirten Bahn und ist im Prinzip für deren Ausbau. Weitere Verbindlichkeiten jedoch kann die Gemeinde in Hinsicht auf ihre finanzielle Lage nicht eingehen.145

143 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 15.1.1899; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 61 (ausgestrichen). 144 Ebd. 145 Ebd.; vgl. auch Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 15.1.1899; ebd., S. 63.

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Scheiterte der Bürgermeister in einem ersten Anlauf mit dem Versuch, das Anschlussprojekt an die Bahn kommunal zu unterstützen, so gelang es ihm offenbar in einem zweiten Versuch. Keine drei Monate später unterschrieb der Gemeinderat den Beschluss, den Joessel im Januar 1899 bereits formuliert hatte. Was allerdings zum Meinungswandel des Gemeinderats beigetragen hatte, verschweigen die Quellen.146 Auch die Mahlower Gemeindevertretung war Neuerungen gegenüber nicht grundsätzlich aufgeschlossen. Im Juni 1906 stellte der Haus- und Grundbesitzerverein Mahlow den Antrag, eine gemeindliche Müll- und Latrinenabfuhr einzurichten.147 Bislang gab es lediglich einen Platz in der Sandgrube des Guts, wo Schutt, Müll und Scherben abgeladen werden konnten, aber die Abfuhr war jedem Haushalt selbst überlassen.148 Die Gemeindevertretung lehnte den Antrag ab, „[w]eil die Beteiligung bei der Errichtung einer Müll- und Latrinenabfuhr wegen der entstehenden voraussichtlich ziemlich hohen Kosten zu gering sein wird.“149 Offenbar wurde ein erneuter Versuch der gemeindlichen Müllabfuhr erst nach dem Ersten Weltkrieg unternommen. Im Jahr 1919 erklärte sich der Landwirt Hermann Schneider bereit, die Müllabfuhr für die Häuser in der Kolonie, einem suburbanen Neubaugebiet an der Grenze zu Lichtenrade (ab 1920 Groß-Berlin), zu übernehmen. Die Einziehung der Gebühren sollte über die Gemeindekasse abgewickelt werden.150 Die Gemeinde bereitete dafür eine eigene Ordnung, ein Gemeindestatut, vor.151 Auch in den nächsten Jahren war die Müllabfuhr in den verschiedenen Ortsteilen immer wieder Thema in der Gemeindevertretung, denn es gab ständig Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Unternehmern. Nie jedoch übernahm die Gemeinde selbst die Müllabfuhr, sondern agierte nur als Vermittlerin zwischen den Anwohner:innen und dem jeweiligen „Dienstleister“. 7.3.3

Dörfliche system builders und system managers

Infrastrukturen bauen und betreiben sich nicht von allein. In der Forschung zu großtechnischen Systemen werden zwei Akteursgruppen unterschieden, die system builders und die system managers.152 Auch wenn man nicht die Einrichtungen selbst (z. B. große Staudämme), sondern städtische Verwaltungen in den Blick nimmt,

146 147 148 149 150 151 152

Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 16.4.1899; ebd., S. 65 f. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 24.6.1906; KrA-TF, XII.294. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 3.7.1904; ebd. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 24.6.1906; ebd. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 21.3.1919; KrA-TF, XII.295, S. 34–36. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 13.12.1919; ebd., S. 55 f. Vgl. Hughes 1983.

Infrastrukturen. Die Vernetzung des Dorfes?

helfen diese Bezeichnungen in der historischen Analyse weiter.153 Im ländlichen Raum jedoch kann die Unterscheidung nicht durchgehalten werden. Die Gemeindeverwaltungen waren so klein, dass Bau und Betrieb kommunaler Infrastrukturen meist in einer Hand lagen und noch dazu im Ehrenamt geregelt werden mussten. In den 1920er Jahren wurde das Mahlower „Dreieck“, ein Neubaugebiet in der Nähe der Bahnhöfe, elektrifiziert. Federführend war dabei Fritz Richter, der Mahlower Gemeindevorsteher. Dieses Projekt erzeugte enorme Spannungen in der Gemeinde und endete letztlich mit dem Rücktritt Richters (s. u., Kap. 10.3). Das hatte viele Gründe; einer davon interessiert uns hier besonders: die strukturelle Überforderung der ländlichen Gemeindeverwaltungen mit einem komplexen Problem wie der Elektrifizierung, das hohe Anforderungen an die bauenden und die betreibenden Akteure stellte. Fritz Richter war nicht nur der Mahlower Gemeindevorsteher, sondern auch der Besitzer des Guts. Daher war er sehr daran interessiert, die Siedlungstätigkeit in der kleinen Berliner Vorortgemeinde zu unterstützen, denn er hoffte, Parzellen seines Guts als Baugrund zu verkaufen, wie es schon sein Vater seit dem späten 19. Jahrhundert getan hatte. Doch im Gegensatz zu den damaligen Käufer:innen hatten die Grundstücks-Interessent:innen nun höhere Ansprüche an die Erschließung des Baulands. Daher begann sich Richter im Jahr 1926 um die Anbindung der neuen Bauparzellen westlich der Bahn an das Elektrizitätsnetz zu kümmern. Die Berliner Städtische Elektrizitätswerke Aktiengesellschaft (Bewag) war aber nicht bereit, die Anlage auf eigene Kosten zu bauen.154 Da aber die Gemeindevertretung die Elektrifizierung des Geländes nur unter der Voraussetzung genehmigte, dass „der Gemeinde keine Kosten entstehen [dürfen]“,155 kam nur die „Selbsthilfe“ der Anwohner infrage, wie Richter sich ausdrückte.156 Der Gemeindevorsteher organisierte nun den Zusammenschluss von rund dreißig Anwohner:innen, um den Bau einer Hochleitung und die Aufstellung eines Transformators zu finanzieren. Ausführen sollte die Arbeiten der örtliche Installateur Salzsieder, einmal, weil es im Sinne der üblichen Auffassung der Gemeindevertretung war, ortsansääsige [sic] Handwerker zu bevorzugen, und zweitens weil die Herstellung durch Salzsieder

153 Vgl. Irlinger 2018, S. 29–73. 154 Bericht des Gemeindevorstehers F. Richter an den Vorsitzenden des Kreisausschusses des Kreises Teltow, 12.12.1931, S. 1; KrA-TF, XII.328. 155 Dringlichkeitsbeschluss der Mahlower Gemeindevertretung, 17.12.1926 (masch.schrftl. Ausfertigung, Sonderblatt); KrA-TF, XII.297, o. S. Interessanterweise war der Gemeindevorsteher selbst nicht zugegen; der Dringlichkeitsbeschluss wurde von drei Gemeindevertretern, darunter Schöffe Otto Brandt, gefasst. 156 Beschwerde des Vereins für Lichtversorgung Mahlow an den Landrat des Kreises Teltow, 28.12.1929; BLHA, Rep. 2a I Kom 2352.

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nach dessen vorläufigen Berechnungen sehr erheblich billiger erschien, als bei Herstellung durch die grösseren Werke.157

Eine Kommission sollte den Bau überwachen und begleiten, vor allem übernahm dies aber wohl der Gemeindevorsteher. Auch die finanziellen Dinge liefen über ihn bzw. über die Gemeindekasse, „[u]m den Teilnehmern die Schwierigkeiten und Kosten einer Genossenschaftsbildung, ferner die Verhandlungen mit den in Frage kommenden Behörden zu ersparen und weiter um für die Einzahlung der Teilnehmerbeträge eine halbamtliche Stelle zu schaffen“.158 Bald tauchten die ersten Probleme auf. Der Bau verzögerte sich, aber vor allem hatte sich der örtliche Handwerker offenbar technisch und organisatorisch übernommen. Er konnte sein Angebot, das die Grundlage für den Zusammenschluss der Anwohner:innen gewesen war, nicht halten, die Baukosten stiegen. Und nicht nur Salzsieder war offenbar überfordert, sondern auch Gemeindevorsteher Richter. In der Beschwerde der betroffenen Anlieger:innen an den Landrat hieß es, dass ein Teil der Mehrkosten bei ordnungsmässiger Geschäftsführung hätte vermieden werden können. […] Aus den der Prüfungskommission übergebenen Schriftstücken konnte festgestellt werden, dass Herr Gemeindevorsteher Richter […] unsere Bauangelegenheit mit einer Leichtfertigkeit bearbeitet hat, die nicht überboten werden kann.159

Einen ordnungsgemäßen Kostenvoranschlag gab es nicht, auch Vergleichsangebote hatte der Gemeindevorsteher offenbar nicht eingeholt. Die Einziehung der Gelder, überhaupt die ganze Buchhaltung, folgte nicht dem üblichen Geschäftsgang. Schlussendlich nahm der Gemeindevorsteher, ohne die beteiligten Anlieger:innen vorher zu fragen, zur Abwicklung des Projekts ein Darlehen auf, wofür er die eben gebaute Stromleitung verpfändete – in der festen Überzeugung, sie sei Gemeindeeigentum.160 Damit war für die Anlieger eine Grenze überschritten. Sie gründeten den Verein für Lichtversorgung Mahlow Ortsteil: Westlich der Eisenbahn e.V. und nahmen die Stromleitung selbst in Betrieb. Im Jahr 1934 wurde die Leitung schließlich an das Märkische Electrizitätswerk übergeben. Das Projekt, das als kommunale Initiative, aber formal als privater Zusammenschluss begonnen hatte, war nun

157 Bericht des Gemeindevorstehers F. Richter an den Vorsitzenden des Kreisausschusses des Kreises Teltow, 12.12.1931, S. 1; KrA-TF, XII.328. 158 Beschwerde des Vereins für Lichtversorgung Mahlow an den Landrat des Kreises Teltow, 28.12.1929, S. 2; BLHA, Rep. 2a I Kom 2352. 159 Ebd., S. 5. 160 Ebd., S. 7 f.

Infrastrukturen. Die Vernetzung des Dorfes?

endgültig an ein Versorgungsunternehmen übergeben worden, nachdem die Ausführung in der Gemeinde selbst gescheitert war. Der Verein, der letztlich nur als Notlösung gegründet worden war, wurde aufgelöst. Was aus den umfangreichen Unterlagen zum Bau und zur Abrechnung der Stromleitung im Mahlower „Dreieck“ mehr als deutlich wird, ist, dass sich der Gemeindevorsteher mit dem Projekt offenbar heillos übernommen hatte. Weder seine Arbeitskapazitäten noch seine Kompetenzen – im technischen, wirtschaftlichen und administrativen Bereich – schienen auszureichen, um dieses – wenn auch begrenzte – Projekt der kommunalen Infrastrukturentwicklung stemmen zu können. Während der Vorstand des Lichtvereins immer wieder betonte, er laste Richter eine „durch nichts zu entschuldigende[n] Leichtfertigkeit“161 an, schob dieser die Verantwortung für die Schwierigkeiten beim Bau auf den örtlichen Handwerker. Dieser sei „in solchen Dingen wenig bewandert“ gewesen und habe deshalb falsch kalkuliert. Im Laufe der Zeit habe der Handwerker dann aber vom Streit profitieren wollen: Salzsieder wollte aber diesen Fehler trotz aller Vorhaltungen nicht recht einsehen, weil er glaubte, bei dem sich entspinnenden Streit zwischen einem Teil der Anlieger einerseits, und der Gemeindevertretung andererseits, im Trüben fischen zu können.162

Schlussendlich waren mehrere Akteur:innen an der Elektrifizierung des „Dreiecks“ beteiligt, und möglicherweise war es die Kombination aus den Schwierigkeiten aller Beteiligten und der geringen technischen und wirtschaftlichen Expertise, die das Projekt so problematisch machte. Den system builders – dem Handwerker und dem Gemeindevorsteher – gelang es zumindest nicht, das Projekt für alle Seiten vertretbar zu einem Abschluss zu bringen, aber auch das system management, das erst der Gemeindevorsteher selbst, dann nach den Konflikten der eilends gegründete Verein übernommen hatte, funktionierte nicht. Nicht zuletzt waren neu hinzuziehende Mahlower:innen irritiert, dass sie sich für die Sicherstellung ihrer Stromversorgung nicht an einen Versorgungsdienstleister oder an die Gemeinde wenden sollten, sondern an einen (gemeinnützigen) Verein.163

161 Karl Hansen (Vorstand Lichtverein) an den Gemeindevorsteher Richter in Mahlow (Abschrift), 13.2.1929; ebd. 162 Bericht des Gemeindevorstehers F. Richter an den Vorsitzenden des Kreisausschusses des Kreises Teltow, 12.12.1931, S. 3 f.; KrA-TF, XII.328. 163 Teltower Landbundgenossenschaft e.G.m.b.H. an die Gemeindeverwaltung Mahlow, 28.12.1932; ebd. Dort heißt es: „Die Leute, an die wir Parzellen verkaufen, erklären uns, sie könnten Anschluss nur bekommen, wenn sie dem unter Führung der Herren Ball, La Haine und Splettstösser stehenden Lichtversorgungs-Verein beitreten. Das erscheint uns völlig unglaubhaft.“

271

272

Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

Die Elektrifizierung der Neubaugebiete in Mahlow wurde also letztlich dadurch erschwert und verzögert, dass die Akteure die Rolle der system builder und system manager nicht ausfüllen konnten. Die ehrenamtlichen Akteure in den Gemeindeverwaltungen hatten es schwer, komplexe Projekte, die sowohl technischen als auch wirtschaftlichen Sachverstand erforderten, zu initiieren, abzuwickeln und dabei auch noch die Interessen der Dorfbewohner:innen im Blick zu behalten. Die vorangegangenen Seiten haben gezeigt: Die Vernetzung des Dorfes ging tatsächlich sehr schleppend voran und blieb bis weit in die Zwischenkriegszeit Stückwerk. Doch woran lag das? Die finanziellen Ressourcen der Gemeinden waren begrenzt, ja. Und offenbar waren die lokalen Vertreter der Gemeinden neuen Projekten gegenüber oft – ich erinnere nur an die Müllabfuhr in Mahlow – nicht besonders aufgeschlossen. Fachlich waren sie offenbar ebenso überfordert mit großen Projekten. Alle diese Faktoren hemmten die Vernetzung der Dörfer. Dazu kommt ein klassisches ökonomisches Argument: Die Dörfer waren nicht groß genug für rentable kommunale Betriebe. In den Städten hingegen konnten Strom- und Gasversorgung, Wasseraufbereitung und Verkehrsbetriebe nicht nur neue Services anbieten, sondern vor allem die Stadtkasse füllen. Die Dörfer hingegen sollten investieren und administrieren, die Gewinne aber würden andere einstreichen: die Eisenbahn, das regionale Elektrizitätswerk oder der Abfuhrunternehmer. Unter diesen Bedingungen war die Bereitschaft der Gemeinden, den Ausbau der kommunalen Infrastruktur voranzutreiben, verständlicherweise gering ausgeprägt. Doch muss vielleicht auch die Frage umgedreht werden: Warum sollte die Gemeinde überhaupt auf diesem Feld besonders aktiv werden? Zeitgenössisch erschien das möglicherweise weniger zwingend als aus der heutigen Rückschau.

7.4

Veränderte Maßstäbe

Eine Stadt, die etwas auf sich hielt, entwickelte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommunale Infrastrukturen: Wasserver- und -entsorgung, Gas- und Elektrizitätsnetze, ein leistungsfähiges kommunales Verkehrssystem. Um 1900 wandelte sich das Leitbild der modernen Metropole. Die „Wohlfahrtsstadt“ galt nun als Idealtypus der fortschrittlichen Metropole, argumentiert Wilfried Rudloff.164 Und damit war eine Investition in Infrastruktur auch deshalb lohnend, weil sie der Repräsentation der Stadt diente. Zudem befanden sich die Städte, vor allem die Metropolen, in einem Wettbewerbssystem. Viele Städte (wenn auch nicht alle) spürten die „Anspornwirkung interurbaner Konkurrenz“ beim Infrastrukturausbau.165

164 Rudloff 1998, Bd. 1, S. 11. 165 Ders. 1998, Bd. 2, S. 975.

Veränderte Maßstäbe

Vergleichbare Faktoren, die die Gemeinden beim Infrastrukturausbau anspornten, gab es im ländlichen Raum dagegen nicht. Trotzdem wurden auch die Landgemeinden immer aktiver im Bereich des Ausbaus kommunaler Einrichtungen. Bewohner:innen der Landgemeinden, vor allem solche, die noch nicht ihr ganzes Leben im Dorf verbracht hatten, formulierten Ansprüche gegenüber den Gemeinden, und auch die vorgesetzten Behörden drängten auf Verbesserungen, ob es sich um Straßenverbreiterungen oder den Ausbau des Schulhauses handelte. Ja, die Gemeinden wurden nur selten von sich aus aktiv. Doch ich habe gezeigt, dass die Gemeindeverwaltungen und -vertretungen nicht nur passiv waren. Sie setzten in einem erheblichen Maße ihre eigenen Interessen durch und entwickelten entsprechend auch Eigeninitiative. Allerdings bedeutete das nicht zwingend, dass die Projekte in erster Linie dem Wohlergehen der Betroffenen – zum Beispiel im Fall des Bernrieder Armenhausbaues – dienten. Die Gemeinden folgten ihrem Eigeninteresse. Doch woraus speiste es sich? War es das Interesse der Steuer- und Abgabenzahler in der Gemeinde? Oder das aller Dorfbewohner im Gegensatz zu „Fremden“? Oder möglicherweise nur das Interesse der sozialen Gruppe, aus welcher der Großteil der politisch aktiven Akteure stammte? Auf jeden Fall wurden diese Gemeindeinteressen vom Interesse „des Staates“ einerseits und dem Interesse „Bedürftiger“ andererseits unterschieden. Gab es jedoch ganz konkrete ökonomische Interessen – zum Beispiel des Gutsbesitzers an erschlossenen Grundstücken, um weiteres Bauland verkaufen zu können oder der Winzer an einer guten Verbindung zum nächsten Haltepunkt des Güterverkehrs –, dann wurde die Gemeinde aktiv. Hier zeigt sich ein allgemeiner Trend: Soziale Differenzen in den Dörfern prägten sich um die Wende zum 20. Jahrhundert neu aus. Es entstanden neue Ungleichheiten. Misst man die Dörfer um die Wende zum 20. Jahrhundert nur an städtischen Maßstäben, erscheinen sie defizitär. Darüber vergisst man jedoch, dass die Gemeinden auf vielen anderen Gebieten kommunale Serviceleistungen anboten, die weniger der „Daseinsvorsorge“ der Metropolen entsprachen, sondern eher unter die alten Begriffe der kommunalen Policey fallen. Denn die Gemeinden sorgten für die Sicherheit im Dorf und auf den Feldern, indem sie Bannwarte und Nachtwächter beschäftigten. Sie statteten die Feuerwehr mit Ausrüstung aus und sorgten außerdem dafür, dass genügend Männer bereitstanden, um im Notfall Feuer zu löschen. Die Feuerwehr in Bernried wurde im Jahr 1879 in eine freiwillige Feuerwehr umgewandelt. Bisher hatten Pflichtdienste der Gemeindebürger gegolten, allerdings hatte sich die Pflichtfeuerwehr als nicht einsetzbar erwiesen. In einem kleineren Skandal um einen Brand auf dem Hof des Gutsbesitzers Ritter Hugo von Maffey in Unterholz im Jahr 1877 ging es unter anderem darum, ob die Bernrieder Pflichtfeuerwehr ausreichend gelöscht habe oder nicht. In einem ausführlichen Bericht in der „Zeitung für das Feuerlöschwesen“ war die Unfähigkeit und Untätigkeit der

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Die kommunale (Vor-)Sorge der Landgemeinden

Bernrieder Bevölkerung bis hinauf zum Bürgermeister skandalisiert worden. Die Feuerwehren aus Tutzing und Seeshaupt hätten „werkthätig“ die Löscharbeiten ausgeführt, während die Pflichtfeuerwehr der Gemeinde des Brandortes (Bernried) sich der Ablösung weigerte und es überhaupt [für] überflüssig hielt, löschen oder abräumen zu helfen. Der Bürgermeister war gar nicht sichtbar […], so war es nach der Abfahrt der Feuerwehr Seeshaupt besonders schwer, Ablösung zu erhalten, obwohl müssige Zuschauer in Menge zugegen waren.166

Auf diesen Artikel hin wurde das Bezirksamt aktiv und forschte in Bernried nach. Auch wenn sowohl der Bürgermeister Gröber als auch der Gutsverwalter Bippus betonten, dass alle Bernrieder bis hin zum Bürgermeister sehr wohl fleißig geholfen hätten, schlug der Bezirksamtmann vor, nun lieber eine freiwillige Feuerwehr zu gründen,167 denn diese galten gegenüber den Pflichtfeuerwehren, die auf meist recht alten Dorf-Feuerordnungen basierten, als zeitgemäßer.168 Bislang war der Feuerlöschdienst ein Pflichtdienst gewesen, der oft auf bestimmten Anwesen lastete, ganz ähnlich wie z. B. der Schulzendienst am Schulzengut gehaftet hatte. Bei einer freiwilligen Feuerwehr hingegen sollten sich junge, fähige und vor allem motivierte Männer freiwillig zum Feuerlöschdienst melden, die dann entsprechend ausgebildet und trainiert wurden. Dazu kam die Anlehnung an bürgerliche Formen der Vergesellschaftung, wurde doch eine freiwillige Feuerwehr in Form eines Vereins organisiert (s. u., Kap. 8.4): „Ehrgeiz, Opfermuth, Korpsgeist sind alles Eigenschaften der freiwilligen Feuerwehrmänner, die durch die besten Paragraphen einer Löschordnung der Pflichtfeuerwehr nicht ersetzt werden.“169 Also entschlossen sich die Bernrieder mehr oder weniger bereitwillig, eine freiwillige Feuerwehr zu gründen. Die üblichen engagierten Gemeindebürger übernahmen die Leitungsfunktionen im neuen Verein. Doch die Mannschaften wurden offenbar in erster Linie aus Tagelöhnern und Torfstechern zusammengestellt – von Freiwilligkeit konnte hier vermutlich keine Rede sein.170 Auch in der Folge blieb die Feuerwehr

166 Zeitung für Feuerlöschwesen Nr. 18, 15.9.1877 (Zeitungsausschnitt); StAM LRA 3536. 167 Vgl. Bericht des Bürgermeisters Gröber (Bernried) an das Bezirksamt Weilheim, 19.9.1877; Bericht des Verwalters Bippus an das Bezirksamt Weilheim, 24.10.1877; Schreiben des Bezirksamts Weilheim an die Gemeindeverwaltung Bernried, 25.9.1877; ebd. 168 Vgl. dazu Jung o. J. [1986]. 169 Ebd., S. 13. 170 Bericht der Gemeindeverwaltung Bernried an das Bezirksamt Weilheim über die Wahl der Posten bei der freiwilligen Feuerwehr [o. D., 1879]; StAM, LRA 3536.

Veränderte Maßstäbe

ein Problem, denn gerade die Mannschaften zeigten sich wenig interessiert und erschienen nur selten zu den Übungen.171 Auch andere Infrastrukturen und kommunale Serviceleistungen wurden von den Gemeinden eher weiterhin als neuerdings angeboten – Turmuhren etwa.172 Über Waschhäuser, Backstuben und den kommunalen Zuchtstier könnte man in diesem Zusammenhang ebenfalls sprechen (s. o., Kap. 4.1 u. 4.3). Defizitär wirken diese kommunalen Einrichtungen vor allem dann, wenn der Maßstab die Metropole ist. Bezieht man die vielen kleinen kommunalen Services hingegen mit ein, sieht man, dass die Gemeinden sehr viele Bereiche des alltäglichen Lebens ihrer Bewohner:innen durch gemeinsame Einrichtungen prägten. Was sich allerdings auch zeigt: Nicht nur unsere heutigen Ansprüche an die Aktivitäten der Gemeinden leiten wir aus den modernen Metropolen ab; auch die Zeitgenoss:innen, etwa die (zugezogenen) Bewohner:innen und die Aufsichtsbehörden, stellten zunehmend solche Ansprüche an die Landgemeinden. Und mit diesen steigenden Ansprüchen konnten die Gemeinden kaum mithalten. Zuletzt wird auch deutlich, dass die Gemeinden kein progressives Programm hatten, das sie mit Hilfe von lokalen Infrastrukturen oder Serviceangeboten verfolgten. Vielmehr blieben die einzelnen Maßnahmen unverbunden, ein Programm insgesamt lässt sich nicht erkennen. Und selbst wenn man ein solches unterstellen wollen würde, deutet nichts darauf hin, dass die Gemeinden sich darum bemühten, soziale Gegensätze abzufedern. Vielmehr haben die Analysen gezeigt, dass die Gemeinden die Bedürfnisse ihrer Einwohner:innen sehr unterschiedlich gewichteten und damit auch dazu beitrugen, dass soziale Differenzen erhalten blieben oder sich neu ausprägten.

171 Vgl. Übersicht, 13.5.1879; ebd. 172 Der ansonsten so sparsame Gemeinderat von Wolxheim ließ die örtliche Turmuhr 1925 ohne vorherige Diskussion über den Preis reparieren, „[i]n Anbetracht der Wichtigkeit einer tadellos funktionierenden Turmuhr“. Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 4.1.1925; ACW, Registre des déliberations (1894–1946).

275

8.

Ländlichkeit in the making

Bislang schwang es in meiner Darstellung nur mit: Was die Zeitgenossen meinten, wenn sie von „Landgemeinden“ oder vom „platten Land“ sprachen, war für die spezifischen Regierungsweisen von großer Bedeutung. Denn dadurch entstanden nicht nur mentale Konstruktionen von Ländlichkeit, sondern auch handfeste Strukturen, die wiederum auf das Sprechen und Denken über den ländlichen Raum zurückwirkten. Was als ländlich definiert wurde und welche Attribute dabei mitschwangen, war also gleichzeitig ein Ergebnis und eine Voraussetzung des Regierens im ländlichen Raum. Nicht nur die Vorstellungen von Ländlichkeit, sondern auch die Regulierungen, die damit einhergingen, veränderten sich um die Wende zum 20. Jahrhundert stark, ohne dass Ländlichkeit ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit verlor.1 Räume – ob nun städtische oder ländliche Räume – sind in den letzten zehn bis 15 Jahren in der Geschichtswissenschaft zunehmend als Gegenstand in den Blick geraten, nicht mehr nur als „Behälter“, in denen sich Geschichte abspielte, sondern als Räume, die historisch entstanden, angeeignet wurden und durch historische Akteur:innen verändert, genutzt und produziert wurden.2 Raum ist „die sinnlich wahrnehmbare Fläche, auf der sich die materiellen Folgen unseres alltäglichen Tuns eingeschrieben haben und einschreiben. […] Raum ist das Resultat komplexer sozialer Beziehungen“.3 Gleichwohl ist Raum aber nicht nur ein soziales Konstrukt, sondern eine grundlegende Vorbedingung „jeder menschlichen Geschichte“.4 Gerade für den ländlichen Raum ist in den letzten Jahren die Raumtheorie Henri Lefebvres5 produktiv aufgegriffen worden, die es ermöglicht, die sozialen, kulturellen und materiellen Bedingungen von Ländlichkeit analysierbar zu machen. Der ländliche Raum, so Halfacree, wird im Wechselspiel von drei Praxistypen produziert und konkretisiert:6 Localities sind bei Halfacree spezifische räumliche Praktiken, die aufs Engste mit Produktion oder Konsumtion verknüpft sind. Hier gerät vor allem die materielle Raumprägung durch die (land-)wirtschaftliche Nutzung in den Blick. Denn die Räume, in denen Wein angebaut wird, werden anders genutzt und materiell geprägt als solche, in denen Viehwirtschaft oder Tourismus vorherrschend sind. Während 1 2 3 4 5 6

Vgl. Cloke 2006, S. 18; Redepenning 2009, S. 46. Vgl. Löw 2001. Redepenning 2009, S. 55. Koselleck 2000a, S. 83. Vgl. Lefebvre 2006. Halfacree 2006, S. 52.

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Ländlichkeit in the making

Halfacree in Anlehnung an Lefebvre insbesondere die wirtschaftliche (Re-)Produktion in den Blick nimmt, ergänze ich vor allem die administrativen und rechtlichen Strukturen, die den ländlichen Raum mit hervorbringen. Die Gemeindeordnungen prägten den Raum in seiner spezifischen Ländlichkeit ebenso wie Erbrecht oder Verwaltungsvorschriften – jeweils in ihrer praktischen Ausprägung. Representations of the rural sind ideelle Konstrukte, die Halfacree auf der MakroEbene der Gesellschaft verortet: Welche Vorstellungen haben Politiker:innen, die Bürokratie und die kapitalistischen Interessen vom ländlichen Raum? Diese Konstrukte geben einen Bedeutungsrahmen vor, innerhalb dessen der ländliche Raum ideell verortet wird. Hierunter fallen zum Beispiel agrarromantische Vorstellungen oder heutige Konzepte von „Strukturschwäche“. Während diese Ideen über den ländlichen Raum in Halfacrees Modell relativ stark homogenisiert sind, zeigt sich in der historischen Perspektive, dass sie viel fragmentierter waren. Die Agrarromantik war zwar einflussreich, aber weit von einem festgefügten und hegemonialen Konzept entfernt. Die lives of the rural sind die vielen individuellen und alltäglichen Interpretationsund Aneignungspraktiken, die dem Raum einen Stempel aufdrücken – oder besser gesagt: viele Stempel. Denn diese alltäglichen und lokalen Interpretations- und Aneignungspraktiken sind individuell und vielfältig.7 Die konkreten Weisen, wie die Bewohner:innen des ländlichen Raums diesen angeeignet und abgewandelt haben, waren geprägt von gravierenden sozialen Unterschieden, ob zwischen den Geschlechtern, den verschiedenen ökonomischen Schichten oder zwischen Einheimischen und Fremden (um nur einige relevante Differenzen zu nennen). Dieser Ansatz, so modellhaft und starr er auf den ersten Blick erscheinen mag, hilft dabei, Ländlichkeit als Praxis zu untersuchen. Denn die drei Spitzen des trialektischen Dreiecks beeinflussten und dynamisierten sich gegenseitig.8 Ländlichkeit, das war mehr als nur ein Diskurs, aber eben auch ohne diesen Diskurs nicht zu denken. Man kann nicht zwischen einer „echten“ oder „physischen“ Ländlichkeit auf der einen Seite, einer kulturell konstruierten Ländlichkeit auf der anderen Seite unterscheiden. Die „Agrarromantik“ oder besser: die vielfältigen Idealisierungen und Ästhetisierungen, aber auch Problematisierungen von Ländlichkeit müssen einerseits in konkreten Praktiken untersucht werden, andererseits dürfen diese nicht nur in den Büros und Parlamenten der Städte, sondern müssen auch auf dem Land selbst analysiert werden. Darüber hinaus ist es wichtig, sie auch in ihrer historischen Dynamik zu betrachten. Im Folgenden werde ich mich vier durchaus bekannten Aspekten der Ländlichkeitsproduktion widmen, die vor allem in ihrer Neuzusammenstellung und der

7 Halfacree 2006, S. 51. 8 Ebd., S. 51–53.

Ländlichkeit, statistisch betrachtet

Analyse auf lokaler Ebene neue Erkenntnismöglichkeiten versprechen. Zunächst werde ich herausarbeiten, wie Ländlichkeit statistisch zu erfassen versucht wurde und damit nicht nur als idealisierter, sondern auch als problembehafteter Raum in den Blick kam. In einem zweiten Schritt wende ich mich den Wirkungen der Heimatschutzbewegung auf die Bauvorhaben in Bernried zu und zeige, wie die Gemeinde in diesem Feld des ländlichen Regierens aktiv wurde. Drittens greife ich „Ländlichkeit als Marke“ auf und zeige, wie Bernried und Mahlow ihre Ländlichkeit zum Argument machten, um Tourist:innen und Siedler:innen anzuziehen. Schlussendlich gehe ich auf die politischen Organisationsversuche ländlicher Interessen seit dem (späten) 19. Jahrhundert ein, die paradoxerweise das Bild des „unpolitischen“ Bauern weiter verstärkten. Diese Fallstudien zeigen, auf welch unterschiedliche Weisen Ländlichkeit im Handeln, im physischen Raum und im Sprechen über das Land hervorgebracht wurde, also welche unterschiedlichen Ausprägungen Ländlichkeit in der Phase rund um die Wende zum 20. Jahrhundert annehmen konnte. Ländlichkeit diente als ein zentraler Modus der Selbst- und Fremdbeschreibung von ländlichen Akteur:innen und formte (politische) Handlungsmöglichkeiten in ländlichen Gemeinden.

8.1

Ländlichkeit, statistisch betrachtet

Die Statistik ist ein wichtiges Werkzeug, um den Unterschied zwischen Stadt und Land zu machen – nicht nur, um diesen Unterschied festzustellen. Während lange Zeit ländliche Räume über einen statistischen Indikator (vor allem die Bevölkerungsdichte) definiert wurden, sind es gegenwärtig multifaktorielle statistische Verfahren, mit denen ein Ländlichkeitsindex errechnet wird.9 Die statistischen Indikatoren, mit deren Hilfe Stadt und Land voneinander unterschieden wurden und werden, sind historisch sehr wandelbar. Statistik war und ist eine Regierungstechnik zur Beschreibung und Produktion von politischen Problemfeldern. Die laufende statistische Berichterstattung, die im 19. Jahrhundert etabliert wurde, diente dazu, Handlungsfelder für die staatliche Politik zu identifizieren. Statistik ist allerdings keine neutrale Beschreibungstechnik, die die „Wirklichkeit“ einfach abbildet, sondern diese Art der Wissensproduktion etabliert eine spezifische Sichtweise auf ihren Gegenstand, in diesem Fall: auf den ländlichen Raum, der erst in statistischen Beschreibungen als solcher erkennbar wird. Nicht alle statistischen Beschreibungen des 19. Jahrhunderts entsprechen bereits dem, was wir als Statistik gewöhnt sind; manche sind auch eher qualitative

9 Vgl. Küpper 2020.

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Ländlichkeit in the making

Landesbeschreibungen. Dazu gehört die umfangreiche Landesbeschreibung des Departments Bas-Rhin, die unter dem Präfekten Jean-Baptiste Migneret erarbeitet wurde und zwischen 1858 und 1861 erschien.10 Sie bestand aus unterschiedlichen thematischen Kapiteln. Eines davon war der ländlichen Bevölkerung gewidmet, und sie wurde in blumigen Worten beschrieben: Le paysan de cette province est exempt de ces défauts [Faulheit und Nachlässigkeit, AS]; il se distingue par l’amour de son état, sa soumission à la vie laborieuse qu’il exige et par la patience infatigable avec laquelle il supporte les rudes privations qu’il impose. […] Bienveillant, sociable, paisible, avec un mélange de ruse, de soumission qui n’exclut pas des velléités d’indépendance, le paysan alsacien accuse son origine germanique; mais il n’en a pas conservé la pesanteur apathique.11

Auch in anderen Beschreibungen bäuerlicher Bevölkerungen, nicht nur der elsässischen, finden sich ähnliche Zuschreibungen: Fleiß, Ordnungswille, Fügsamkeit, eine starke Bindung an den eigenen Besitz und damit an den Boden. Auf beiden Seiten des Rheins waren diese Charakterisierungen für die bäuerliche Bevölkerung gängig.12 8.1.1

Der exode rural

In Frankreich war die quantitative Statistik etwas früher als Regierungsinstrument etabliert als in Deutschland.13 Parallel zu den qualitativen Beschreibungen der Departments wurden regelmäßige quantitative Erhebungen durchgeführt.14 Das so gewonnene, vermeintlich umfassende Wissen über das Land sollte dabei helfen, Frankreich möglichst optimal zu regieren.15 Doch die enorme Menge an Tabellen, Berichten und beschreibenden Texten dürfte kaum dazu beigetragen haben, dass dieses Wissen in den Pariser Ministerien überhaupt aufgenommen werden konnte.16 10 11 12 13 14 15 16

Description 1858–1861. Population agricole 1861, S. 25. Vgl. Münkel, Uekötter 2012. Vgl. Schmidt 2005, S. 26 f. Vgl. Desrosières 2005, S. 37. Vgl. ebd., S. 1. In den 1850er Jahren wurden flächendeckende statistische Kommissionen gegründet, die auf Gemeindeebene Daten zu Industrie, Landwirtschaft und Handel sammeln sollten. Diese Daten sollten in einem aufwendigen Verfahren nicht nur erhoben, sondern auch abgestimmt, korrigiert, der Öffentlichkeit vorgelegt und aggregiert werden; außerdem sollten die Kommissionen permanent über ihre Tätigkeit Bericht erstatten. All dieses schriftliche Material wurde dann ans Ministerium für Landwirtschaft, Handel und öffentliche Arbeiten gesandt. Es ist nicht zu vermuten, dass dort noch

Ländlichkeit, statistisch betrachtet

Eine Problemdiagnose war besonders prominent: der „exode rural“, die „Landflucht“.17 Das Problem der Abwanderung ländlicher Bewohner:innen in die Städte (und zum Teil nach Übersee) wurde bereits in den 1850er Jahren als Beschreibung etabliert und mit einer Vielzahl politischer Herausforderungen – von der Flurbereinigung bis zum „Wucherjudentum“ – verknüpft. In den Erhebungen, die diesem Problem gewidmet waren, wurde der ländliche Raum deutlich weniger idealisiert. Hier wurde das Land als ein Raum voller Probleme und Gefährdungen beschrieben. Ausgangspunkt für die Problemdiagnose, dass die ländliche Bevölkerung abnahm bzw. abwanderte, waren die Bevölkerungszählungen in der ersten Hälfte der 1850er Jahre – also zum Zeitpunkt, als auch die descriptions erarbeitet wurden, in denen die ländliche Bevölkerung des Elsass noch als besonders besitzverbunden galt. Doch die Bevölkerungszählungen der Jahre 1850 bis 1856 hatten offenbart, dass immer mehr Bewohner:innen des Landes abwanderten – entweder in die Städte oder sogar weiter, nach Algerien oder Amerika. Das betraf nicht nur das Elsass, sondern das gesamte Hexagon. Daher initiierte das Ministerium für Landwirtschaft, Handel und öffentliche Arbeiten eine Erhebung, die Aufschluss über das Problem der Landflucht, ihr Ausmaß, ihre Gründe und mögliche Gegenmaßnahmen geben sollte.18 Das vonseiten des Ministeriums formulierte Problem bestand nicht mehr nur darin, dass die männliche Bevölkerung saisonal in die (entstehenden) industriellen Zentren abwandere, sondern dass ganze Familien nun dauerhaft ihr Glück in den Städten suchten. Problematisch sei das vor allem deshalb, weil die Landwirtschaft Arbeitskräfte verlöre, die nicht mehr ersetzt werden könnten. Daher forderte das Ministerium die Präfekten im ganzen Land auf, über das Problem in ihrem Departement eine Erhebung anzustellen und gleichzeitig Methoden vorzuschlagen „pour rattacher les populations à l’agriculture“.19 Diese enquête ist auch deshalb interessant, weil sie eine starke Tiefenwirkung hatte: Nicht nur die Präfekten waren mit der Bearbeitung der Fragen beschäftigt, sondern sie beauftragten wiederum die maires, eine Erhebung über den jeweiligen Problemstand in ihren Gemeinden durchzuführen. Es handelte sich also spätestens

etwas anderes geschah, als die Papiere abzulegen. Vgl. Préfecture du Bas-Rhin: Circulaire de M. le Préfet du 8 Janvier 1853, concernant la création des commissions cantonales de statistique instituées par le décret du 1er juillet 1852/Cirkular des Hrn. Präfekten vom 8ten Januar 1853, betreffend die Errichtung der Statistik-Commissionen in den Cantonal-Hauptorten gemäß dem Dekret vom 1sten Juli 1852, hier: S. 3; ADBR, 15 M 381. 17 Vgl. Pitié [1980]. 18 Vgl. die Unterlagen in ADBR, 15 M 384. Vgl. außerdem Kuentzler 2016; Igersheim 1993, S. 338. 19 Anordnung des Ministeriums f. Landwirtschaft, Handel und öffentlichen Arbeiten an die Präfekten: Demande de renseignements sur l’emigration des habitants des campagnes vers les villes et les grandes centres industriels et sur les moyens d’y remédier, 20.12.1856; ADBR, 15 M 384.

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Ländlichkeit in the making

ab 1857 beim „exode rural“ nicht mehr nur um ein Höhenkammphänomen, um ein diskursives Ereignis in den Ministerien und Präfekturen, denn nun waren auch ländliche Akteure mit dem Problem befasst. Die Schlussfolgerungen der Präfekten waren sehr unterschiedlich. Während Jules Cambacérès, der Präfekt von Haut-Rhin, die Gründe für die Abwanderung der ländlichen Bevölkerung vor allem der jüdischen Bevölkerung des Oberelsass und der Praxis des „Wuchers“ anlastete, zog Migneret als Präfekt von Bas-Rhin ganz andere Schlussfolgerungen. In seinen Augen bestand das Grundproblem darin, dass die Besitzgrößen der elsässischen Bauern zu gering waren, entsprechend die Verdienstmöglichkeiten nicht ausreichten und daher die industriellen Zentren attraktiver seien.20 8.1.2

Unterschiedliche Deutungen

Auch in nachfolgenden Untersuchungen und Beschreibungen des Elsass nahm die Problematisierung der Betriebsgrößen immer wieder einen großen Raum ein. Allerdings gingen die Bewertungen der Betriebsgrößenstruktur deutlich auseinander. Daran zeigt sich, dass die Schlussfolgerungen, die aus statistischen Daten gezogen wurden, keineswegs durch die Daten selbst vorgegeben waren. Um die Wende zum 20. Jahrhundert erarbeitete das Statistische Bureau des Ministeriums für das Reichsland Elsass-Lothringen auf Erlass des Statthalters Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst eine neue umfassende Landesbeschreibung.21 Insgesamt stand dabei die positive Darstellung des „Reichslandes“ im Vordergrund; es wurde eher als positive Ressource denn als grundlegender Problemfall beschrieben. Die Landwirtschaft in Elsass-Lothringen trat gegenüber Wirtschaftszweigen wie Handel und Gewerbe zwar stark zurück, wurde jedoch als eine wichtige Ergänzung zur Landwirtschaft im restlichen Deutschen Reich dargestellt. So setzte bereits der erste Absatz des Aufsatzes den Ton für die folgenden Seiten: Das Reichsland Elsass-Lothringen ist neben seiner hochentwickelten Industrie ein in hervorragendem Masse der Bodenkultur gewidmeter Landstrich und leistet in landwirthschaftlicher Beziehung neben dem Grossherzogthum Baden das Höchste und interessanteste, was im deutschen Reiche aufzufinden ist.22

Diese herausragende Qualität machte der Autor an der Vielfalt der Landwirtschaft im Elsass fest. So kämen praktisch alle Formen der Bewirtschaftung und alle Bodenkulturen vor; die Besitzgrößen reichten von ganz klein bis ganz groß. Gerade die

20 Vgl. Kuentzler 2016, S. 117 u. 128. 21 Statistisches Bureau des Ministeriums für Elsass-Lothringen 1901–1903. 22 Hagmaier 1901, S. 175.

Ländlichkeit, statistisch betrachtet

große Streuung der Besitzgrößen wurde als Stärke hervorgehoben. Der Großgrundbesitz wurde als „Wiege der landwirthschaftlichen Betriebsfortschritte“ identifiziert, der mittlere Grundbesitz sei „in allen Landgemeinden in nicht zu kleiner Zahl vorhanden“, und die erhebliche Zahl von Kleinstbetrieben sei sogar positiv zu sehen, denn sie sei ein „Symptom dafür, dass für rein proletarische Existenzen auf dem flachen Lande noch kein Raum ist“.23 Dass allerdings die angefügte quantitative Aufstellung zeigte, dass rund sechzig Prozent aller Betriebe im Reichsland weniger als zwei Hektar Boden bewirtschafteten, während nur 0,25 Prozent aller Betriebe Großbetriebe waren, schien den Autor von seiner positiven Schilderung nicht abzuhalten.24 Während der Zwischenkriegszeit wurden zwei unterschiedliche Landesbeschreibungen von Elsass-Lothringen herausgegeben, die unterschiedliche politische Agenden verfolgten. Das sogenannte „Reichsland-Werk“, herausgegeben vom Wissenschaftlichen Institut der Elsass-Lothringer an der Universität Frankfurt, unterstrich die Zugehörigkeit des ehemaligen „Reichslandes“ zum Deutschen Reich, während das sogenannte Haegy-Werk der elsässischen Autonomie-Bewegung entstammte und entsprechend die kulturelle Eigenart des ehemaligen Reichslandes herauszustellen bemüht war. Auch hier zeigen sich recht unterschiedliche Problematisierungen des ländlichen Raums. Das Landwirtschaftskapitel des „Reichsland-Werks“ betonte zwar, dass die landwirtschaftliche Bevölkerung zum Teil nicht nur relativ, sondern auch absolut während der „Reichsland“-Zeit rückläufig gewesen sei, allerdings wurde dies nicht explizit auf Probleme in der Landwirtschaft zurückgeführt. Ausdrücklich kritisierte die Landesbeschreibung die Rolle der Großgrundbesitzer: Normalerweise seien große landwirtschaftliche Betriebe „Träger und Wegbahner des landwirtschaftlichen Fortschrittes“.25 Dies sei im „Reichsland“ nicht der Fall gewesen, da sich die Güter vornehmlich in der Hand von „Ausländern (Franzosen)“ befunden hätten, die „als Nichtlandwirte auch kein Verständnis für landwirtschaftliche Fortschritte, für Hebung der Landeskultur, Einführung von Bodenverbesserung und dergleichen mehr“ gehabt hätten.26 Nicht die Besitzgrößen selbst waren hier das Problem, sondern dass die Großgrundbesitzer ihre Funktion nicht ausfüllten und so das gesamte System ins Ungleichgewicht geriet. Noch dazu wurden die Großgrundbesitzer als ethnisch nicht zugehörig markiert, was zu ihrer Problematisierung beitrug. Dass sie in erheblichem Maß von der Option Gebrauch gemacht hatten und sich entsprechend gar nicht im Reichsland hätten aufhalten dürfen, wurde allerdings nicht erwähnt. 23 24 25 26

Ebd. Ebd. Krzymowski 1931, S. 343. Ebd., S. 343 f.

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Ländlichkeit in the making

Im „Haegy-Werk“ wurden die Probleme Landflucht und Kleinstbesitz deutlich schärfer angesprochen. Gerade der Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung sei ein großes Problem, das auch in der deutschen Zeit nicht hatte aufgehalten werden können. Das war aber weniger ein ökonomisches, als vielmehr ein kulturelles Problem. Denn gerade die Bauern bildeten „gleichsam den Rohstoff des elsässischen Volkes, indem sie massgebend sind für die Bildung des Volkscharakters und die Gestaltung der elsässischen Volksseele.“ Durch die zahlenmäßige Ausdünnung der elsässischen bäuerlichen Bevölkerung sei die elsässische Kultur insgesamt in Gefahr. „Die Städter können bei der ewigen Ab- und Zuwanderung nicht-elsässischen Blutes im Laufe der Zeiten niemals ein unverfälschtes Bild elsässischen Volkslebens und rein elsässischer Kultur abgeben. Das gibt nur das Dorf.“27 Die statistischen Beschreibungen waren keine neutralen Beschreibungen dessen, was war. Im Fall des Elsass wird das besonders deutlich. Sie trugen vielmehr dazu bei, bestimmte Perspektiven auf den ländlichen Raum zu entwickeln. Das Wissen über den ländlichen Raum, das im Zuge der Beschreibungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gesammelt, kompiliert und zugänglich gemacht wurde, war heterogen. Die Beschreibungen mischten in unterschiedlichen Anteilen eine idealisierende Perspektive auf Ländlichkeit, die sich vor allem auf die bäuerliche Bevölkerung sowie ihre bio- und kulturpolitische Rolle stützte, mit einer problematisierenden Perspektive, die den ländlichen Raum als problembehaftet und demnach den Raum und seine Bewohner:innen als gefährdet darstellte. Während die idealisierende Perspektive vor allem retrospektiv war, die lange Dauer in den Blick nahm und Geschichte und Tradition einschloss, war der problematisierende Blick auf das Land durch Gegenwart und die (von der Gegenwart aus extrapolierte) Zukunft gerichtet. Während die Retrospektive sich vor allem auf qualitative Schilderungen verließ, spielten bei der Extrapolation der Zukunft aus der Gegenwart heraus quantitative statistische Werte (Besitzgrößen, Bevölkerungsbewegungen und -dichte) eine größere Rolle. Diese Perspektiven auf den ländlichen Raum bewegten sich dabei nicht nur auf einem kulturellen Höhenkamm, auch wenn die Tendenzen grundsätzlich aus der bürgerlich geprägten Agrarromantik bekannt sind.28 Doch das statistische Wissen über den ländlichen Raum war eng mit den lokalen administrativen Vorgängen verknüpft. Lokale Amtsträger erhoben vor allem bei Enquêten und laufenden statistischen Berichten das lokale Wissen, und die Interpretationen dieser Daten bildeten die Grundlage für lokales administratives Handeln. Bei der statistischen Beschreibung und Produktion von Ländlichkeit zeigt sich besonders deutlich, wie stark sich vermeintlich unpersönliche Basisprozesse und

27 Rossé 1936, S. 10 f. 28 Vgl. Bergmann 1970.

Heimatschutz als Ländlichkeitsproduktion

kulturelle Ordnungsmuster gegenseitig verstärkten. Die demographischen und ökonomischen Prozesse liefen nicht unverbunden neben den kulturellen Deutungen und politischen Praktiken her, sondern wurden durch diese erst wahrnehmund beschreibbar. Die Regierungspraktiken, die sich auf das so produzierte Wissen stützten, beeinflussten nicht nur die kulturellen Deutungen, sondern auch die Basisprozesse selbst.

8.2

Heimatschutz als Ländlichkeitsproduktion

Am 21. Februar 1904 verabschiedete der Bernrieder Gemeindeausschuss eine ortspolizeiliche Vorschrift: §1 Veränderungen im Innern oder am Äußeren von Gebäuden u. sonstigen baulichen Anlagen, wie Feldkapellen u. Denkmalen, von künstlerischer oder geschichtlicher Bedeutung, namentlich auch Änderungen an Fassaden mit alter Bemalung unterliegen der baupolizeilichen Genehmigung, auch wenn sie sonst nach der allgemeinen Bauordnung nicht genehmigungspflichtig werden. §2 Bei allen Neubauten u. Umbauten ist darauf Bedacht zu nehmen, daß die Gebäude den heimischen Bauformen bzw. dem Charakter der Bauweise des Ortes angepaßt werden u. auf das Gesamtbild des Ortes und der nächsten Umgebung nicht störend wirken.29

Warum sorgte sich die Vertretung der Gemeinde um die „heimischen Bauformen“, sodass sie den Schritt unternahm, eine ortspolizeiliche Vorschrift aufzusetzen? Welche lokalen Probleme hatten dazu geführt? Auf der Suche nach den Auslösern für dieses gemeindliche Handlungsfeld zeigte sich schnell, dass es keine lokalen, sondern ministerielle Einflüsse waren, die hier wirkten. Die Gemeinde führte also nur aus, was ihr von „oben“ angeordnet worden war. Doch auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die lokale Sorge um die ästhetische Ländlichkeit doch komplexer war, als es diese Vorstellung einer top-down-Regelung nahelegt. 8.2.1

Heimatschutz in Bayern

Die baupolizeiliche Ordnung von 1904 steht im Kontext der Heimatschutzbewegung, die zu den modernen Reformbewegungen um die Wende zum 20. Jahrhundert gehörte; auch sie zeigte eindeutige reaktionäre Muster und war im völkisch-

29 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 21.2.1904; GAB, B2/5, S. 1 f.

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Ländlichkeit in the making

konservativen Lager sehr anschlussfähig.30 Unter der Bezeichnung Heimatschutz versammelten sich die unterschiedlichsten Initiativen, die sich dem Natur- oder Vogelschutz, der Volkskunde, dem Denkmalschutz oder der Regulierung von Bauordnungen verschrieben hatten. Ab 1904 übernahm der neu gegründete Bund Heimatschutz gewisse Funktionen als Dachverband, doch die beteiligten Organisationen behielten ihre Selbstständigkeit und entsprechend auch ihre Unterschiede. In Bayern war der Bayerische Verein für Volkskunst und Volkskunde besonders aktiv und einflussreich. Er hatte gute Verbindungen in die Bürokratie, sodass er effektive Maßnahmen zum Heimatschutz anstoßen konnte, die bis auf die lokale Ebene wirksam wurden. Dazu gehörten konkrete Maßnahmen zur Schaffung eines architektonischen Heimatstils.31 Ein wichtiger Akteur, nicht nur für die Gründung des Vereins, sondern auch für die administrative Implementierung der Bauvorschriften, war der spätere bayerische Ministerpräsident Gustav von Kahr. Er war seit 1902 als Referent für Bauwesen im Ministerium des Innern tätig und konnte so die Ambitionen als Mitglied des Bayerischen Vereins für Volkskunst und Volkskunde mit seinen bürokratischen Bemühungen um die Pflege heimischer Bauweise verbinden. Am 1. Januar 1904 gab er eine Ministerialentschließung an die untergeordneten Verwaltungsbehörden weiter, um auf Gemeindeebene ortspolizeilichen Vorschriften zu beschließen oder vorhandene Ordnungen zu ändern und einen erweiterten Denkmalschutz, vor allem den Ensembleschutz, zu implementieren.32 Die Kammer des Innern der Regierung von Oberbayern war sogar schneller gewesen: Bereits im November 1903 hatte sie an die Bezirksämter und die unmittelbaren Stadtmagistrate (bis auf München) die Order ausgegeben, die Gemeinden zur Abfassung von ortspolizeilichen Vorschriften aufzufordern.33 Dieser Anordnung lag eine Vorlage für ortspolizeiliche Vorschriften bei, die nicht nur in Bernried, sondern auch in den anderen Gemeinden des Bezirksamtes wortwörtlich verabschiedet wurde.34 Auch wenn die Bezirksämter den Gemeinden lediglich empfehlen, nicht aber vorschreiben konnten, diese Ordnungen zu beschließen, machte das in der Praxis keinen Unterschied.35

30 Vgl. Applegate 1990; Confino 1997; Klueting 1998. 31 Ausführlicher dazu Bommersbach 2002; Groß 2010. 32 Anlage zur Ministerialentschließung vom 1. Januar 1904, S. 33. Vgl. dazu Bommersbach 2002, S. 124. 33 Schreiben der k. Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern, an die sämtlichen Bezirksämter und unmittelbaren Stadtmagistrate des Regierungsbezirkes mit Ausnahme von München), 11.11.1903, S. 2; StAM, LRA 5482. 34 Vgl. diverse ortspolizeiliche Vorschriften; ebd. 35 Bommersbach betont, dass das Innenministerium, insbesondere Gustav von Kahr, auf das Verständnis der Gemeinden gesetzt habe. Bommersbach 2002, S. 125.

Heimatschutz als Ländlichkeitsproduktion

Die Verwaltung setzte nicht nur auf Bauvorschriften, sondern auch darauf, überhaupt einen Überblick über die vorhandenen schützenswerten Objekte zu bekommen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs liefen in Bayern Katalogisierungsprojekte: Im Jahr 1905 sollten die besonders „geschichtlich und architektonisch interessanten Baudenkmäler, Orts- und Straßenbilder“36 aufgeführt werden, in den Jahren 1910/11 sowie 1913 wurden Naturdenkmäler katalogisiert.37 Diese Kataloge dienten einerseits der Selbstvergewisserung über die Vielzahl historisch bedeutsamer Gebäude, andererseits aber auch der Sicherung dieser Gebäude in ganz praktischer Hinsicht, denn die aufgeführten Bau- und Naturdenkmäler sollten geschützt und erhalten werden. Zudem, so argumentiere ich hier, trugen die Katalogisierungen auch dazu bei, die lokalen Verwaltungen mit den Kriterien dafür vertraut zu machen, was schützenswerte Objekte waren. In diesem Zusammenhang ist das Verzeichnis über die baulichen Denkmäler interessant. Denn der Katalogisierungsarbeit lag die Frage zugrunde, was eigentlich als typisch gelten sollte, was ästhetisch schützenswert war. Die Unterlagen, die das Münchner Staatsarchiv über diese Katalogisierung verwahrt, deuten darauf hin, dass ganz unterschiedliche Akteure an der Zusammenstellung beteiligt waren. Zunächst schlug offenbar die Gemeindeverwaltung, in diesem Fall der Bernrieder Bürgermeister, Bauwerke vor; überarbeitet wurde die Liste dann vermutlich vom Landbauamt bzw. vom Bezirksamt, das auch dafür zuständig war, die Listen für alle Gemeinden in eine gemeinsame zu kompilieren. Insgesamt schienen recht unterschiedliche Kriterien für die Bedeutung der architektonischen Bauwerke zu existieren. Während einige Objekte fast notwendigerweise „gesetzt“ waren – die beiden Bernrieder Kirchen sowie das „Schloss“, das ehemalige Kloster –, standen auch einige einfachere Wohnhäuser mit auf der Liste. Während die Bedeutung der berühmteren Gebäude mittels Literatur nachgewiesen werden konnte (für die Kirchen wurde in der Spalte „Beschreibungen“ einfach auf die Schrift „Kunstdenkmäler in Bayern“ verwiesen), betonte Bürgermeister Pauli auf den typischen Charakter der Wohnhäuser: Sowohl das „Afrahaus“ als auch der „Stupper“,38 die sogar als erste Einträge auf der Liste auftauchten, erhielten das Prädikat „altes oberbayerisches Bauernhaus (Holzbau)“.

36 Verzeichnis der im Distriktsverwaltungsbezirke Weilheim vorhandenen geschichtlich und architektonisch interessanten Baudenkmäler, Orts- und Straßenbilder [1905]; StAM, LRA 5482b. 37 An „schutzwürdige[n] Naturgebilde[n]“ hatte die Bernrieder Gemeindeverwaltung lediglich den (von Carl Effner 1853–1863 gestalteten) Schlosspark aufzuführen, leitete daraus aber keine Handlungsnotwendigkeit ab: „Erhaltung des Parkes z. Z. tadellos, […] die fernere Erhaltung dürfte gesichert sein.“ Gemeindeverwaltung Bernried an das Bezirksamt Weilheim, Betr.: Aufzeichnung der schutzwürdigen Naturgebilde, 9.2.1911; StAM, LRA 5482. Vgl. zudem Aufstellung der Moore im Bezirksamt Weilheim [um 1913]; ebd. 38 Die Eintragungen finden sich in unterschiedlichen Listen in StAM, LRA 5482b.

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Ländlichkeit in the making

Abb. 7 Das Afra-Haus.

Abb. 8 Der „Strupper“.

Damit wählte jemand diese Häuser nicht nur jeweils für sich, sondern exemplarisch als Vertreter eines regionalen Bautyps aus. Dieser Jemand muss mit der Sprache der Heimatschutzbewegung vertraut gewesen sein. Denn hier wurde der Topos des regional Typischen aufgerufen, den die Heimatschutzbewegung sehr stark propagierte und der ironischerweise zur Standardisierung von Neubauten führte.39 Vielleicht kam Pauli nicht selbst auf die Idee, einfache Bauernhäuser auf die Liste zu setzen; vielleicht war es zum Beispiel der Lehrer als Gemeindeschreiber, der den Vorschlag gemacht hatte. Wie auch immer die Liste zustande gekommen war: Der Bürgermeister machte durch die Anfertigung der Liste die Erfahrung, dass auch einfache, alltägliche Gebäude in die Kategorie „schützenswert“ fallen konnten, ja sogar mussten. 8.2.2

Lokale Bauvorhaben

Wie aber handhabten die Gemeindeverwaltungen die Umsetzung der neuen Bauvorschriften? Die Auswertung der Baupläne, die zwischen 1904 und dem Ersten Weltkrieg für die Gemeinde Bernried genehmigt wurden, zeigen, dass die Pflege

39 Vgl. May 1999, S. 247.

Heimatschutz als Ländlichkeitsproduktion

heimischer Bauweise in Bernried kaum eine Rolle spielte. Die einheimische Bevölkerung baute ohnehin wenig, und wenn, dann handelte es sich eher um kleinere Umbauten an den bereits bestehenden Häusern, zum Beispiel um den Anbau eines Abortes an der Rückseite des Hauses. Und das städtische Bürgertum, das um die Wende zum 20. Jahrhundert Bernried nicht nur als Sommerfrische, sondern auch als Ort für einen Landsitz entdeckte, wurde praktisch nicht mit diesen Bauvorschriften behelligt. Diese Häuser sahen ganz anders aus als beispielsweise das Afrahaus, waren aber zum Teil vor der neuen Bauvorschrift gebaut worden.40 Das Haus etwa, das der Schriftsteller Karl Tanera 1893 in Bernried kaufte, war zu diesem Zeitpunkt schon im Stil der Starnberger Seenarchitektur umgebaut worden.41 Abb. 9 Villenarchitektur in Bernried: das Tanera-Haus.

Ausführlich dokumentiert sind allerdings die Auseinandersetzungen rund um ein eigentlich kleines Bauvorhaben: Eduard Scharrer und seine Frau Wilhelmina Busch, von denen später noch ausführlich die Rede sein wird, hatten im Jahr 1914 angefangen, größere Besitzungen in Bernried zu kaufen, unter anderem das Gut Adelsried, das Schlossgut und große Teile des Schlossparks.42 Scharrer und Busch wollten nun unter anderem eine kleine Brücke über den Verbindungsweg von Bernried nach Seeshaupt bauen, um die beiden Teile des Schlossparks miteinander zu verbinden. Die Gemeindeverwaltung gab ihr Placet zum Bauvorhaben, allerdings mit einem ungewöhnlichen Nachsatz: „Es sei gegen den Bauplan des Gutsbesitzers Scharrer in obigem Betreff keine Erinnerung zu erheben. Im Übrigen wird auf die ortspolizeilichen Vorschriften ‚die heimatliche Bauweise‘ betreffend, Bezug genommen.“43 So vermied die Gemeindeverwaltung einen offenen Konflikt mit den neuen Großbesitzern im Dorf, orientierte sich aber trotzdem an den geltenden Vorschriften. 40 Eigene Auswertung der Baupläne für Bernried zwischen 1901 und 1914, in: StAM, Baupläne Weilheim. 41 Vgl. Scherbaum [2012], S. 14. Vgl. auch Mahl 25.8.2008. 42 Vgl. Wiede 2002, S. 48. 43 Gemeindeverwaltungsbeschluss (Abschrift) vom 7.2.1915; StAM LRA 6831.

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Ländlichkeit in the making

Auseinandersetzungen gab es dann zwischen dem Gutsbesitzer-Ehepaar und dem Verein für Volkskunst und Volkskunde. Denn das Bezirksamt schaltete einen Gutachter des Vereins ein – durchaus ein gängiges Verfahren, das die enge Verbindung zwischen Verein und Verwaltung verdeutlicht.44 Dieser Gutachter war mit dem Bau der Brücke nicht einverstanden. Diese war ihm nicht ländlich, nicht einfach genug: Die ganze Ausstattung des Bauwerkes steht nicht im Verhältnis zu der einfachen Aufgabe […]. Schlicht und sachlich gehalten im Sinne alter kleiner Brücken würde der Bau eine viel befriedigendere, der Gegend entsprechende Lösung bedeuten als das Anspruchsvolle, Zweck und gegebenen örtlichen Verhältnissen keineswegs angepasste jetzige Projekt.45

Der Streit zog sich ziemlich lange hin, wurde aber praktisch an der Gemeindeverwaltung vorbeigeführt. Nur einmal bat das Bezirksamt den Bürgermeister, mit der Scharrer’schen Gutsverwaltung zu sprechen und darum zu bitten, das Bauprojekt im Sinne der heimischen Bauweise umzugestalten – offenbar wirkungslos. Der Architekt der Scharrers behauptete hingegen, die Gemeinde „wäre im Gegenteil über Erstellung der Brücke in seiner Eigenschaft als Schmuckstück für den Ort über dessen Ausführung erfreut.“46 Denn das Dorf profitiere nicht von einer möglichst einfachen Bauausführung im Sinne der heimischen Bauweise, sondern eher von besonders prunkvollen Bauten. Der Gutachter des Vereins hingegen betonte, das Dorf habe vor allem ein Interesse daran, dass der Park zugänglich bliebe, und die Brücke sei möglicherweise der erste Schritt, den Park für die Allgemeinheit zu sperren.47 Letztlich setzte sich das Gutsbesitzerpaar mit ihrem Architekten durch. Der Bezirksbaumeister entschied, dass es sich bei der Brücke um ein herrschaftliches, nicht um ein bäuerliches Bauwerk handle und dass entsprechend andere Maßstäbe gälten.48 Allerdings wurde die Brücke gar nicht mehr gebaut. Im Lauf des Kriegs ruhte das Vorhaben irgendwann, auf Nachfrage des Bezirksamts Weilheim bekundete die Scharrer’sche Gutsverwaltung schließlich im Dezember 1920: „Die

44 Ein Teil des Konflikts drehte sich genau darum: ob die Einschaltung des Vereins überhaupt rechtens sei. Karl Stadlinger (Stuttgart) an das Bezirksamt Weilheim, 12.5.1915; ebd. Vgl. auch Marginalverfügung des Bezirksbaumeisters Weilheim, 10.6.1915, auf jenem Schreiben. 45 Kurzgutachten des Vereins für Volkskunst und Volkskunde, 26.2.1915; ebd. 46 Karl Stadlinger (Stuttgart) an das Bezirksamt Weilheim, 12.5.1915; ebd. 47 Schreiben des Bayerischen Vereins für Volkskunst und Volkskunde an das Bezirksamt Weilheim, 25.4.1915; ebd. 48 Marginalverfügung des Bezirksbaumeisters Weilheim, 10.6.1915, auf: Karl Stadlinger (Stuttgart) an das Bezirksamt Weilheim, S. 3, 12.5.1915; ebd.

Heimatschutz als Ländlichkeitsproduktion

Erbauung fraglicher Brücke ist wegen der eingetretenen enormen Verteuerung des Bauens zunächst zurückgestellt.“49 Die Schriftwechsel legen nahe, dass es bei dem Konflikt gar nicht nur um die Bauausführung ging, sondern auch darum, dass der Park und das Gut ihren Besitzer gewechselt hatten. Während bislang die Familie von Wendland bei Bauvorhaben nie behelligt worden waren, konnte das Ehepaar Scharrer nicht einfach drauflos bauen. Ob das mit der amerikanischen Herkunft der Ehefrau zu tun hatte? Wilhelmina Scharrer, geborene Busch, machte als schillernde Persönlichkeit von sich reden und hatte andere Vorstellungen von ländlicher Ästhetik als die Heimatschützer. In der Zwischenkriegszeit lebte sie schließlich ihren Gestaltungswillen vollends aus, als sie das „Schloss“ Höhenried erbauen ließ – inklusive eines Parks mit Pfauen und weißen Hirschen.50 Das entsprach nun gar nicht den ästhetischen Idealen der Heimatschutzbewegung. Zudem basierte der Heimatschutz als Idee auf einem ausgeprägten Antiamerikanismus, bei dem die geographische „neue Welt“ mit einer abgelehnten Modernisierung parallelisiert wurde.51 Die Schaffung einer ästhetischen Ländlichkeit über die Pflege heimischer Bauweise war keine rein administrative Angelegenheit. Der Bayerische Verein für Volkskunst und Volkskunde war ein bedeutender Beteiligter in dieser Geschichte: Durch die personellen Überschneidungen zwischen Politik, Verwaltung und Verein wurde der Verein auch in die konkreten Verwaltungsakte einbezogen, wurde also ein wichtiger Akteur bei der Regierung des ländlichen Raums. Nicht nur in Bayern gab es die Verknüpfung von Heimatbewegung und (Staats-)Verwaltung, doch war sie hier besonders stark ausgeprägt.52 Die Heimatschutz-Bewegung trug mit Bauvorschriften, Bauberatungen und Katalogisierungsvorhaben zur Konstruktion regionaler Bautypen bei und damit zur Homogenisierung von ästhetischen Konzepten von Ländlichkeit. Gleichwohl gab es Auseinandersetzungen über die „richtige“ ländliche Ästhetik. Die Begebenheit rund um das Brückenbauprojekt des Ehepaars Scharrer zeigt, dass unterschiedliche Formen der ländlichen Ästhetik – bäuerlich vs. herrschaftlich, schlicht vs. prunkvoll – miteinander konkurrierten.

49 Kurzschreiben der Scharrer’schen Schlossgutsverwaltung Bernried und Adelsried (Starnbergersee – Oberbayern) an das Bezirksamt Weilheim, 2.12.1920; ebd. 50 Vgl. Neumann 2007, S. 22–32. 51 Vgl. Schlimm 2021a. 52 Speitkamp betont, dass gerade die Denkmalschutzpolitik im Kaiserreich nur in Hinblick auf die Entstehung des modernen Interventionsstaats verstanden werden kann. Speitkamp 1996, S. 19. Im Elsass wurde die Heimatbewegung vom Staat allerdings eher kritisch beäugt, denn ihre Protagonist:innen arbeiteten an einer elsässischen Partikularidentität, an der die reichsländische Verwaltung keinerlei Interesse hatte. Vgl. Carrol 2018, S. 40 f.; Fischer 2010, S. 20–52.

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Ländlichkeit in the making

In Fragen um die heimische Bauweise trat die Gemeindeverwaltung nicht aktiv hervor. Immerhin handelte es sich dabei auch um ein schwieriges Feld für die lokalen Verwaltungsakteure, denn es waren vor allem die reichen Einwohner:innen des Dorfes, die überhaupt mit den Bauvorschriften ins Gehege kommen konnten, denn die anderen Dorfbewohner:innen bauten um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht. Diese Bewohner:innen aber wollte man nicht verärgern. Die merkwürde Nachbemerkung bei der Genehmigung des Brückenprojekts deutet darauf hin, dass Bürgermeister Pauli sich der schwierigen Situation sehr bewusst war.

8.3

Ländlichkeit als pull factor

Ländlichkeit wurde, anders als das im vorherigen Kapitel den Eindruck machte, durchaus auch von lokalen Akteur:innen bewusst eingesetzt und gefördert. Besonders sichtbar wird das dort, wo sie versuchten, Tourist:innen oder sogar Siedler:innen ihren Ort schmackhaft zu machen, indem sie ihn ländlich-idyllisch gestalteten. Zwar wurde damit der Unterschied zwischen ländlichen Gemeinden und Städten expliziert und unterstrichen, doch gleichzeitig schufen die Akteure wie die Verschönerungsvereine oder Siedlungsgesellschaften enge Verbindungen zwischen Stadt und Land. Nur so war es möglich, Städter:innen davon zu überzeugen, aufs Land zu kommen. 8.3.1

Sommerfrische in Bernried

Blicken wir zunächst wieder nach Bernried. Bereits sehr früh, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurde Bernried von Künstlern und Musikern besucht.53 Ab den 1870er Jahren kamen dann nicht nur vereinzelte Künstler, sondern ganze bürgerliche Familien, um ihre Sommerfrische in Bernried zu verbringen. Bernried hatte vergleichsweise günstige Bedingungen für die Entwicklung des Fremdenverkehrs, denn das oberbayerische Seenland gehörte zu den frühen Urlaubsgebieten in Deutschland.54 Zudem verfügte Bernried sehr zeitig über gute Verkehrsanbindungen: Der Bahnhof wurde 1865 eröffnet, außerdem gab es eine Anlegestelle für Dampfschiffe, die auf dem Starnberger See verkehrten. Bedenkt man die geringe Größe des Ortes, war Bernried ein Besuchermagnet. Der Jahresbericht des Bernrieder Verschönerungsvereins zählte für die Gemeinde,

53 So soll bereits im Jahr 1856 der Komponist Franz Lachner in Bernried gewesen sein, im Sommer 1899 war die Münchner Künstlerkolonie (Lovis Corinth, Max Halbe) zu Gast in Bernried; vgl. Scherbaum 1997a, S. 6. 54 Vgl. Lobenhofer-Hirschbold 10.7.2006.

Ländlichkeit als pull factor

die ja selbst nur etwa 550 Einwohner:innen hatte, im Jahr 1913 rund 450 Sommergäste, die zu einem längeren Aufenthalt in Bernried gewesen waren. Dazu kamen 550 Durchreisende, die weniger als drei Tage in Bernried geblieben waren. Insgesamt seien so rund 6000 Aufenthaltstage zusammengekommen. Der Schwerpunkt lag in Bernried auf längeren Aufenthalten – auf den typischen Sommerfrischen, so ist zu vermuten. Denn die 450 Sommergäste, die länger als drei Tage im Ort blieben, brachten es auf insgesamt 5085 Übernachtungen im Jahr 1913. Im Durchschnitt dauerte ein Aufenthalt also 11,3 Tage.55 Als immer mehr bürgerliche Sommerfrische-Gäste nach Bernried kommen wollten, stellten sich die Bernrieder:innen auf diese Nachfrage ein. In fast allen Haushalten des Ortes waren Fremdenzimmer vorhanden. Außerdem gab es drei Gasthöfe, die nicht nur Zimmer, sondern auch Verköstigung für die Sommergäste boten.56 Die Gemeindeverwaltungen in der Region förderten den Fremdenverkehr durch Organisation, Werbung und die Schaffung von touristischer Infrastruktur. Sie unterstützten bei der Privatzimmervermittlung,57 und die Gemeindevertretungen mussten die Probleme regulieren, die im Zuge des wachsenden Fremdenverkehrs aufkamen. Offenbar bereits im späten 19. Jahrhundert58 gründeten Bernrieder Honoratioren einen örtlichen Verschönerungsverein. Vorsitzender des Vereins wurde der Pfarrer Johann Götz, sein Stellvertreter der Bürgermeister Andreas Pauli. Die anderen Gründungsmitglieder fanden sich größtenteils im Gemeinderat und seinem Umfeld.59 Und auch ansonsten war die Beziehung zwischen der Gemeinde und dem Verein eng, sodass man hier durchaus von einer Koproduktion von Staatlichkeit auf 55 Vgl. Jahresbericht 1913, Verein zur Förderung des Fremdenverkehrs in München u. im B. Hochland (e.V.), Gruppe Starnbergersee-Verband, Verschönerungsverein Bernried; GAB, A13/06. Die sehr glatten Zahlen scheinen allerdings Schätzungen oder großzügige Rundungen zu sein. Im Vergleich liegen die Zahlen sehr hoch für einen Ort dieser Größe. Vgl. die statistische Übersicht in LobenhoferHirschbold 10.7.2006. 56 Einen Nachweis über die Bettenzahl gibt es erst aus den 1930er Jahren. Die drei Gasthäuser wurden mit insgesamt 50 Betten angegeben, dazu kamen 200 Gästebetten in Privathäusern. Unterkunftsbetriebe am Starnberger See (Drucksache), [um 1935]; StAM, LRA 9654. 57 Auch die Gemeinde Bernried übernahm die Vermittlung von Privatzimmern, ebenfalls in den 1930er Jahren. Vgl. Bericht des Bezirksführers (NSDAP) an das Bezirksamt Weilheim, 7.8.1935; ebd. 58 Das älteste auffindbare Statut stammt aus dem Jahr 1905, doch im Jahresbericht 1913 wurde 1895 als Gründungsdatum angegeben. Auch in den Unterlagen zur Anlegung der Seepromenade wird der Verschönerungsverein bereits für 1904 erwähnt. 59 Im Gründungsstatut von 1905 werden neben Götz und Pauli noch aufgeführt: Silverius Sedlmayr als Protokollführer (er war auch der Gemeindeschreiber, vor allem aber der Bernrieder Lehrer), Xaver Metzner (ab 1906 im Gemeindeausschuss), Johann Hämmerl und Mathias Wörle (beide seit 1888 im Gemeindeausschuss) sowie ein vornamenloser Pischetsrieder, möglicherweise mit dem

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Ländlichkeit in the making

der lokalen Ebene durch den Verein sprechen kann.60 So sollte bei einer Auflösung des Vereins sein Vermögen an die Gemeinde fallen, unter der Auflage, dass die Gemeinde dann mit diesen Mitteln weiterhin die Vereinszwecke zu verfolgen hatte. Außerdem hatten der Bürgermeister und ein Mitglied des Gemeindeausschusses qua Amt Sitz und Stimme sowohl im Ausschuss als auch in der Mitgliederversammlung, solange die Gemeinde sich mit mindestens 100 Mark jährlich an dem Verein beteiligte.61 In seinem Statut, das für die Eintragung ins Vereinsregister im Jahr 1905 vorgelegt wurde, hieß es, der Zweck des Vereins solle die „Verschönerung des Ortes Bernried u. seiner Umgebung“ sein, die durch die Anlage von Fußwegen und Trottoirs sowie von Baumalleen erreicht werden sollte. Auch schattige Waldwege sollten geschaffen und Ruhebänke an Aussichtspunkten aufgestellt werden.62 Adressat:innen dieser Verschönerungen waren offenbar Sommergäste. Ein wichtiges Projekt des Verschönerungsvereins war seit 1904 der Versuch, einen Spazierweg am Seeufer anzulegen. Vermutlich wurde in diesem Zusammenhang der Verein offiziell eingetragen, um auch gegenüber der Staatsverwaltung als eigenständiger Akteur auftreten zu können. Denn die Interessen der Gemeindehonoratioren im Verschönerungsverein waren nicht vereinbar mit denen des Besitzers des Gutes Höhenried, Alexander von Wendland, der die Überwegungsrechte über seinen Grundbesitz nicht dauerhaft einräumen wollte, weil er fürchtete, „es verliere sein Gut an Wert durch die beabsichtigte Promenade“.63 Der Konflikt zog sich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs hin. Für den Großgrundbesitzer zählte der Wert seines Grund und Bodens mehr als die Attraktivität des Ortes für letztlich anonyme Städter:innen. Im Konflikt um die Seepromenade rieben sich unterschiedliche wirtschaftliche Nutzungen des ländlichen Raums aneinander, die heute durch den Begriff von produktivistischer und postproduktivistischer Ländlichkeit bezeichnet werden können: Für die Landwirtschaft war der konkrete Grund und Boden in seiner agrarischen Nutzbarkeit wichtig; für den Tourismus als Wirtschaftszweig waren ästhetische Qualitäten relevant. Neben der Seepromenade bemühte sich der Verschönerungsverein außerdem darum, die Anbindung Bernrieds an den Bahnverkehr zu verbessern und den Dampfersteg elektrisch zu beleuchten – sicherlich ein Prestigeprojekt, denn elektrische Beleuchtung stellte die Modernität und den Komfort des Sommerfrischeorts

60 61 62 63

Gemeindevorsteher aus dem frühen 19. Jahrhundert verwandt. Statut für den VerschönerungsVerein Bernried (e.V.) (Abschrift), um 1905; GAB A13/06. Vgl. Schuppert 2008. Vgl. Statut für den Verschönerungs-Verein Bernried (e.V.) (Abschrift 1908); GAB, A13/06, § 31. Ebd. Johann Götz, Vorsitzender des Bernrieder Verschönerungsvereins, an das Bezirksamt Weilheim, [um 1905]; StAM, LRA 3447.

Ländlichkeit als pull factor

unter Beweis und orientierte sich damit an großstädtischen Standards des frühen 20. Jahrhunderts. Nicht nur bei der Infrastruktur, sondern auch bei der öffentlichen Ordnung bemühte sich die Gemeindeverwaltung darum, den Ort für Tourist:innen attraktiv zu gestalten. Im Juli 1899 veränderte die Gemeindeverwaltung eine ortspolizeiliche Vorschrift dahingehend, dass „Kegelspiele oder sonstige geräuschvolle Unterhaltungen, welche im Innern der Ortschaften in Wirtschafts- oder Privatgärten […] abgehalten werden“, nicht mehr nach acht Uhr abends stattfinden durften. Das war aber keineswegs gegen die Sommergäste gerichtet, sondern im Gegenteil zur Verbesserung der touristischen Qualität, wie die Begründung des Beschlusses verrät: Bernried wird alljährlich von vielen Fremden als Sommeraufenthaltsort gewählt. Man ist nun der Ansicht, daß dieselben abends bei Zeiten Ruhe haben wollen, was jedoch nicht der Fall ist, wenn auf der Kegelbahn beim Altwirt später noch Kegel geschoben wird, da die Anlage der betr. Kegelbahn eine derartige ist, daß bei Ausführung von Kegelspielen viel Lärm verursacht wird.64

Auch hier antizipierte die Bernrieder Gemeindeverwaltung also eine ganz bestimmte Erwartung an einen Sommerfrischeort, der vor allem mit Ruhe, Natur und Erholung, nicht aber mit Vergnügen und Spiel assoziiert wurde. Vielmehr galt es, bestimmte dörfliche Gruppen – hier vermutlich junge Männer des Ortes – zu disziplinieren, um die Ruhe der Fremden nicht zu stören, und dabei Ländlichkeit als Idylle und Erholung zu bewahren. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurden bestimmte Auswirkungen des Fremdenverkehrs dann offenbar auch als störend oder problematisch wahrgenommen. Das „Oberländer Volksblatt“ berichtete über den Bezirkstag Weilheim im Jahr 1920. Ein katholischer Pfarrer beschwerte sich über die „Auswüchse, die sich mit Eröffnung des Fremdenverkehrs namentlich in den Orten an den Seen, wieder in verstärktem Maße fühlbar machen und in besonderer Weise im Interesse der Jugend zu bekämpfen sind“ – es ging offenbar um das Baden im See. Pfarrer Kohl forderte nach Geschlechtern getrennte Badegelegenheiten, und das Bezirksamt versicherte, sich um diese moralischen Probleme zu kümmern.65 Geregelt wurde das Freibaden dann allerdings erst im Jahr 1928; die Gemeinde übernahm einfach wortwörtlich die Regelung aus Starnberg. Nicht nur wurde jetzt das Baden in der Nähe von stark frequentierten Wegen und Straßen sowie bewohnten Häusern verboten, sondern auch die Bekleidung der Badenden geregelt:

64 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 16.7.1899; GAB, B2/4, S. 121. 65 Weilheim. Sitzung des Bezirkstags, in: Oberländer Volksblatt, 20.5.1920 (Pressespiegel), in: Zur neueren Geschichte Bernrieds in Lokalzeitungen; GAB, S1/5–3.

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Ländlichkeit in the making

Beim Freibaden müssen männliche Personen mit Badehosen mit Beinansatz oder Badeanzügen, weibliche Personen mit Badeanzügen bekleidet sein. […] Das Herumtreiben im Badeanzug auf öffentlichen Wegen, Strassen und Plätzen, auf den Dampfschiffstegen oder in unmittelbarer Nähe derselben, sowie in unmittelbarer Nähe von Wohnungen und in Gast- und Schankwirtschaften ist verboten.66

Trotz der guten Voraussetzungen war Bernried nicht von Natur aus ein attraktiver Urlaubsort. Aber bereits um 1900 gab es in dem kleinen Dorf Personen, die Bernried aktiv zum Sommerfrischeziel machten. Darum bemühten sich die lokalen Honoratioren, die Ländlichkeit in Bernried idyllisch darzustellen, um den antizipierten Erwartungen der städtischen Sommergäste zu genügen. 8.3.2

Mahlow und der Siedlungsbau

In demselben Maasse [sic], wie unsere Reichshauptstadt ins Riesenhafte anwächst, steigert sich das Streben der Bewohnerschaft, aus dem Innern des Häusermeeres hinauszukommen ins Freie; der dumpfen Atmosphäre, dem Lärm und Getöse, dem Hasten und Jagen des grossstädtischen Lebens zu entfliehen, um draussen in reiner Luft Atem zu schöpfen und in Gottes freier Natur Erholung zu suchen von den aufreibenden Zumutungen des modernen Tagewerkes.67

Mit diesen Zeilen beginnt ein Verkaufskatalog, mit dem die Villen- und LandhausBau-Gesellschaft „Heimstätten-Aktien-Gesellschaft“ im Jahr 1903 Käufer:innen für die aktuell geplanten Villenkolonien (heute würde man sagen: Einfamilienhaussiedlungen) vor den Toren Berlins anzulocken versuchte. Zu den Siedlungen gehörte – neben den Luxussiedlungen in Nikolassee oder Wannsee – auch die Villenkolonie in Mahlow, die rund um die heutige Heimstättenstraße am Bahnhof Mahlow entstand. Die Heimstätten-Aktien-Gesellschaft pries ihre Baugrundstücke dadurch an, dass sie einen klaren Gegensatz zwischen dem hektischen Berlin und den ruhigen Villenvororten kreierte. Da wurde die arbeitsame Großstadt mit dem „Frieden des Waldes unter den lauschigen Bäumen, den duften Blumen ihrer Gärten“ kontrastiert, die ungesunden Wohnverhältnisse mit den paradiesischen Zuständen auf dem Land verglichen. Dass zusätzlich die Großstadt allerlei Gefährdungen für die Jugend bereithalte, vor denen das Land schützen könne, dass das Land „von jeher der Jungbrunnen des Menschengeschlechts“ gewesen sei, trug zum Kontrast zwischen Stadt und Land weiter bei. Und schließlich sei nur auf dem Land möglich, wonach der Mensch

66 Ortspolizeiliche Vorschriften der Gemeinde Starnberg, 25.5.1926, Art. 2 u. 3; StAM, LRA 3797. 67 Heimstätten-Aktien-Gesellschaft 1903, S. 1.

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strebe: „die Sehnsucht nach einem eigenen Heim, einer festen Scholle, auf der man sich als Herr fühle“.68 Dabei bemühte die Heimstätten-Aktien-Gesellschaft durchaus nicht nur gegenmoderne Sehnsüchte, sondern ebenso höchst moderne: Denn nur auf dem Land sei ein Heim möglich, das „man bis ins Einzelne und Kleinste nach persönlichem Belieben und Geschmack ausgestalten, auf der sich die eigene Individualität frei und voll ausleben kann.“69 In dieser Werbebroschüre, die sich explizit an solvente bürgerliche Interessent:innen wandte,70 wurde das Wohnen vor den Toren der Stadt also mithilfe eines Kontrasts zwischen Stadt und ländlichem Siedlungsort angepriesen, gleichzeitig aber die gute Anbindung an die Stadt hervorgehoben: Das Siedlungsgelände in Mahlow sei innerhalb einer knappen halben Stunde vom Berliner Stadtzentrum aus erreichbar.71 Die Villen sollten in erster Linie für Gutverdiener aus der Stadt attraktiv sein, die auch im Werbetext angesprochen wurden: „Der Geschäftsmann, […] der Beamte, […] der Gelehrte, der Künstler“ wollten nach ihrem bedeutsamen, aber doch anstrengenden Arbeitstag in der Stadt die Ruhe des Landes genießen. Seit 1875, als Mahlow einen Bahnanschluss bekam und das Mahlower Gut in den Besitz des bisherigen Erbpächters Rudolf Richter überging, wurde Mahlow allmählich zum Berliner Vorort. Eine Karte, die Mahlow auf dem Stand der 1940er Jahre zeigt, verdeutlicht das, vor allem im Kontrast zur ersten Karte des frühen 19. Jahrhunderts (vgl. Kap. 2.1.2). Als Unternehmen wie die Heimstätten-AktienGesellschaft den Bau von Siedlungshäusern übernahmen,72 wurde der Zuzug für die Städter:innen einfacher, denn sie boten eine Lösung aus einer Hand: Kredit- und Lebensversicherungsfinanzierung sowie schlüsselfertiges Bauen. Damit fügte sich die Tätigkeit der Heimstätten-AG in die Siedlungspolitik und -ideologie ein, die ab dem späten 19. Jahrhundert Wohnen im ländlichen Raum mit gesellschaftlicher und politischer Stabilität verband: „Der Besitz einer schuldenfreien Scholle im Vaterland ist die beste Stütze jedes geordneten Staatswesens“, schrieb das Teltower Kreisblatt und informierte damit über die Tätigkeit der Heimstätten-AG.73

68 Ebd. 69 Ebd. 70 Das erklärt sich bereits aus den Beispielhäusern, die im Katalog vorgestellt werden, die häufig Portierswohnung, Dienerzimmer, Speiseaufzüge und ähnliche Einrichtungen aufwiesen. Ebd., z. B. S. 6 f. 71 „In 23 Minuten vom Militärbahnhof [in Schöneberg, AS], in 30 Minuten vom Potsdamer Bahnhof [in Berlin!, AS] zu erreichen.“ Ebd., S. 3. 72 Vgl. Fritz Richter an Regierungspräsidium Potsdam, 27.5.1936; BLHA, Rep. 2a I S 360, fol. 64–69, hier: fol. 65. 73 Alle Zitate aus: Nachrichten aus dem Kreise und der Provinz, in: Teltower Kreisblatt vom 22.3.1894, S. 2.

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Abb. 10 Mahlow 1942.

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Allerdings sollte Mahlow keine Luxus-Siedlung werden wie andere Bauprojekte der Heimstätten-AG. In Mahlow wurden auch Gartenbaubetriebe durch die Heimstätten-AG gebaut und verkauft, sodass Mahlow nicht nur Vor-, sondern auch Versorgungsort der wachsenden Großstadt werden konnte.74 Doch es zogen auch viele Städter, die der professional class entstammten, nach Mahlow. Die Interaktion dieser neuen Bewohner:innen mit der Gemeindeverwaltung ist sehr interessant zu analysieren. Denn hier zeigt sich, dass die Gemeindevertretung und der Gemeindevorsteher nicht an der Konstruktion Mahlows als idyllischländliche Vorortsiedlung beteiligt waren. Zumindest bis zur Zwischenkriegszeit gibt es keine Belege dafür, dass die Gemeindeverwaltung in irgendeiner Form das städtische Interesse an Mahlow aufgegriffen und gelenkt hätte. Doch die Gemeindevertreter befassten sich notgedrungen trotzdem mit den Veränderungen des Orts. Denn es kam ständig zu Konflikten zwischen den Neuzugezogenen und den Honoratioren in der Gemeindeverwaltung. Zunächst ging es um die Frage, wie die Straßen in der neuen Siedlung gebaut werden sollten. Die Gemeinde zog sich einerseits darauf zurück, dass die neuen Bewohner:innen die Pflasterung der Straßen selbst zu finanzieren hätten, andererseits aber auch darauf, dass die Heimstätten-AG dafür zu sorgen habe, dass die Straßen und auch die Kanäle ordnungsgemäß angelegt würden. Immer wieder wurde der Antrag gestellt, die Gemeinde solle die Straßen übernehmen, immer wieder lehnte die Gemeindevertretung diese Anträge ab, offenbar aus Angst, selbst auf den Kosten für die Instandsetzung sitzenzubleiben. Dies führte stets zu Konflikten. Nachdem einige Male diese Anträge hin und her gegangen waren, beschloss die Gemeindevertretung in einer eigens dafür anberaumten Sitzung am 1. Dezember 1903, welche Schritte die Heimstätten-AG zu tun habe, bis die Gemeinde überhaupt ein weiteres Mal darüber zu entscheiden bereit sei, wann sie die Straßen in ihr Eigentum und damit ihre Zuständigkeit übernehme. So wurden Kriterien für eine ordnungsgemäße Ausführung der Straßenbauarbeiten festgelegt; das Urteil darüber wurde zudem dem entsprechenden Baubeamten der Kreisverwaltung übertragen. Erst wenn dieser in einem schriftlichen Gutachten bestätigt habe, „daß Straße pp. und Vorfluth ohne irgend welche Mängel hergestellt sind“, komme eine Übernahme der Anlagen für die Gemeinde infrage. Und überhaupt sei es nun gut mit den ständigen Anträgen: Um dem fortwährenden und unnützen Schreibwerk in dieser Sache Einhalt zu tun, ist der Heimstätten-Aktien-Gesellschaft aufzugeben, bis zu der Uebernahme der Straßen die nachstehenden Bedingungen zu erfüllen: […] Wir ermächtigen den Gemeindevorstand, etwaige andere, von der Heimstätten-Actien-Gesellschaft vorgeschlagene Bedingungen,

74 Ebd.; Vgl. Heimstätten-Aktien-Gesellschaft 1903, S. 3.

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oder erhobene Einwendungen ganz für zwecklos zu erklären, ohne die Gemeindevertretung zu befragen; Die [sic] in letzter Zeit so häufig stattgefundenen Sitzungen namentlich nur in dieser Sache erscheinen lästig zu werden.75

Der genervte Unterton war wohl kein Zufall. Damit hatte der Konflikt allerdings noch längst kein Ende; ein gutes halbes Jahr später standen erneut Fragen des Straßenbaus und der Übernahme auf der Tagesordnung der Gemeindevertretung. Und diese reagierte äußerst kurz angebunden: Die entsprechende Polizeiverordnung die Anlage neuer Straßen betreffend werde keinesfalls erneut ausgehängt, denn diese sei längst bekannt gemacht. Und auf den neuerlichen Antrag der Heimstätten-AG auf Übernahme der Straßen wurde nur lapidar vermerkt: „Ist nicht beschlossen.“76 Die Konfliktserie riss nicht ab. Noch in der Zwischenkriegszeit kam es zu Spannungen zwischen den Neu-Mahlower:innen und der Gemeindeverwaltung (vgl. auch Kap. 10.3). Im Jahr 1929 wandte sich Max Prause als Sprecher der Siedler:innen, die über die Deutsch-Evangelische Heimstättengesellschaft ihre Häuser bauen wollten, an das Regierungspräsidium in Potsdam, um der Beschwerde gegen die offenbar untätige Gemeindeverwaltung Nachdruck zu verleihen: Wir haben diese Parzellen gekauft, um uns dort ein Eigenheimzu [sic] erbauen, da wir infolge der Wohnungsnot auf eine Neubauwohnung nicht rechnen können. Es werden uns jedoch von der Gemeinde Mahlow dauernd die grössten Schwierigkeiten gemacht. Wir werden damit vertröstet, dass der Strassenfluchtlinienplan zur Genehmigung in Potsdam bei der Regierung vorliegt. Da seit dieser Zeit bereits ein Jahr vergangen ist und jetzt wieder die Zeit heranrückt, wo wir unserem erstrebten Ziel näher kommen wollen, bitten wir um möglichste Beschleunigung unserer Angelegenheit.77

Was aus dieser Beschwerde wurde, bleibt im Dunkeln. Aber es wird deutlich: Während die Gemeindeverwaltung in Bernried aktiv die Attraktivität der Gemeinde als Sommerfrischeort förderte, war die Gemeindevertretung in Mahlow offenbar nicht daran interessiert, dass Städter nach Mahlow kamen, um zu bleiben. Lag es daran, dass die Gemeinde und auch die meisten Gemeindevertreter selbst kein Geld mit dem Zuzug verdienen konnten? Oder hatten sie grundsätzlich kein Interesse daran, dass sich ihr Dorf veränderte? Möglicherweise scheuten sie sich auch vor den großen Investitionen in Infrastrukturen, die die Bewohner:innen des alten Dorfes gar nicht nutzen würden. Welche Gründe auch immer dazu führten, dass die kommunale Verwaltung in Mahlow vor dem Ersten Weltkrieg so zurückhaltend

75 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 1.12.1903; KrA-TF, XII.294. 76 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 3.7.1904; ebd. 77 Max Prause an den Regierungspräsidenten in Potsdam, 7.2.1929; BLHA, Rep. 2a I S 360, fol. 12.

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auf den Zuzug reagierte, es änderte nichts daran, dass Mahlow allmählich zum Berliner Vorort wurde. Erst in den 1930er Jahren veränderte sich die Haltung der Gemeinde zur Siedlung im Ort offenbar. Ein werbender Zeitungsartikel aus dem Berliner Lokalanzeiger von 1936 stellte Mahlow als Domizil vor: Westlich der Bahn, vom Bahnhof aus in etwa 15 Minuten Fußmarsch, vorüber an neuen Siedlungshäusern, zu erreichen, liegt das alte Dorf mit seinem historischen Gut und seiner alten Kirche an der Dorfaue. […] Die Kirche wurde kürzlich schön ausgeschmückt. Ihre Wetterfahne stammt aus dem Jahre 1756, in dem Friedrich der Große das Gotteshaus reparieren ließ. Oestlich der Bahn erstreckt sich der neue Teil von Mahlow mit hübschen Villen in wohlgepflegten Gärten.

Hier wurde also gleichzeitig der dörfliche Charakter Mahlows mit dem alten Dorfkern als besonders pittoreske Anlage dargestellt und der inzwischen unübersehbare Doppelcharakter Mahlows als Bauerndorf und bürgerlicher Vorort hervorgehoben.78 Gegenstand des Artikels war die Planung, rund 1000 Morgen Gutsgelände als Bauland auszuweisen.79 Fritz Hagena, der NSDAP-Bürgermeister von Mahlow und selbst Bewohner des Siedlungsgeländes am Bahnhof, hatte sich dieses Projekt zu eigen gemacht, und er stellte die vorstädtische Infrastruktur vor.80 Rund 160 Schüler:innen besuchten die Dorfschule, die Hitler-Jugend verfügte über ein eigenes Haus, es gab eine Feuerwehr „mit einer modernen Feuerspritze“ und ein Strandbad, einen Schießstand und ein Gelände, das für Versammlungen und Feste hergerichtet werden sollte. Gleichzeitig plante Hagena, den ruhigen und ländlichen Charakter Mahlows stärker hervorzuheben, auch mit Blick auf die auswärtigen Besucher:innen, die erwartet wurden: Im Hinblick auf die bevorstehenden Olympischen Spiele hat auch Mahlow seine Plätze besonders sorgfältig in Ordnung gebracht. Auf der Dorfaue beispielsweise wurden 40

78 Tausend Morgen neues Siedlungsgelände. Großzügiger Plan für Mahlow – Wunsch an die Reichsbahn, (Berliner Lokalanzeiger, 15.7.1936); BLHA, Rep. 2a I S 360, fol. 105. 79 Im Zuge des Konkurses von Fritz Richter sollte das Gut aufgeteilt werden. Von den bisherigen 1470 Morgen (367,5 ha) sollten 350 Morgen (87,5 ha) als Erbhof für die Familie Richter erhalten bleiben, 1145 Morgen sollten parzelliert und an unterschiedliche Siedlungsgesellschaften verkauft werden. Nun sollten aber nicht mehr nur Vorstadtvillen, sondern u. a. auch Werkswohnungen für die Lufthansa gebaut werden. Vgl. Fritz Richter an Regierungspräsidium Potsdam, 27.5.1936; BLHA, Rep. 2a I S 360, fol. 64–69, hier fol. 64. 80 Tausend Morgen neues Siedlungsgelände. Großzügiger Plan für Mahlow – Wunsch an die Reichsbahn, (Berliner Lokalanzeiger, 15.7.1936); ebd., fol. 105.

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Nußbäume angepflanzt, und auf dem großen Platz im „Waldblick“ [gemeint war der Ortsteil Richtung Lichtenrade; AS] stellte man Ruhebänke auf.81

Die Produktion von Ländlichkeit für den Zweck der Siedlung war ein zweischneidiges Schwert. Denn einerseits mussten diejenigen, die die Siedlung förderten, den ländlichen Charakter von Mahlow hervorheben und zum Verkaufsargument machen, andererseits verlor Mahlow mit zunehmendem Zuzug seinen ländlichen Charakter. In der Zwischenkriegszeit war Mahlow längst vorstädtisch geworden: Rund um den Bahnhof waren eine Menge Häuser neu gebaut worden, und die Bewohner:innen hatten eine ganz andere soziale und Erwerbsstruktur als die Einwohner:innen des Bauerndorfs. In den 380 Haushalten in 170 Häusern (der Trend zum Mehrfamilienhaus war also auch in der Vorortsiedlung unaufhaltsam) wohnten inzwischen 1293 Einwohner:innen.82 Diese Veränderung war auch für die Zeitgenoss:innen greifbar. Sie verstanden offenbar Mahlow nicht mehr umstandslos als Landgemeinde, wie eine Anekdote aus dem Ersten Weltkrieg verdeutlicht. In der Kategorie „Armensachen“ befasste sich die Gemeindevertretung in ihrer Sitzung im Mai 1918 mit dem Antrag von Frau K. Aufgrund der schlechten Lebensmittelversorgung hatte diese Einwohnerin Mahlows den Antrag gestellt, ihr Kind möge auf Kosten der Gemeinde „in einem ländlichen Ort bei guter Verpflegung“ untergebracht werden, ein Ort ganz anders als Mahlow also.83 Die Geschichte der Siedlung in Mahlow ist ein Teil der Geschichte der Suburbanisierung, die häufig erst für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wird.84 Einerseits trieb die Suburbanisierung die diskursive Polarisierung von Stadt und Land voran, indem die ländlichen Siedlungsorte im Kontrast zur Großstadt beschrieben wurden, andererseits verkoppelten sich die ländlichen und die urbanen Räume im Zuge der Suburbanisierung. Mahlow wurde zunehmend zu einem Zwischen-Raum zwischen Stadt und Land. Damit wird auch deutlich, wie unterschiedlich die Ländlichkeiten in Mahlow und Bernried funktionierten, obwohl die Zielgruppe der Ländlichkeitskonstruktionen die gleiche war: der wohlsituierte städtische Mittelstand.

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Ebd. Vgl. Preußisches Statistisches Landesamt 1932, S. 103. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 21.5.1918; KrA-TF, XII.295, S. 17. Vgl. Zimmermann 2015, S. 60 f.

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Der Bernrieder Gemeindevorsteher Fuchs meldete im Dezember 1850 an das Landgericht Weilheim: Die gehorsamst unterzeichnete Gemeindeverwaltung bringt zur Anzeige, daß die Gemeinde Bärnried [sic] als ordentliches Mitglied bei dem Landwirthschaftlichen Vereine des Bezirkes Weilheim beitritt und sich bei den Verhandlungen durch ein noch zu wählendes Gemeindeglied wird vertreten lassen.85

Der bayerische Landwirtschaftliche Verein wurde in der Reformzeit 1810 gegründet. Er war wie andere Landwirtschaftsvereine eng mit dem Staat verflochten.86 Sie galten lange Zeit als unpolitisch – zu Unrecht87 , und aufgrund ihres sozialen Charakters als Honoratiorenvereine waren sie höchstens für die Entwicklung der Agrarwissenschaft relevant. Doch der Quellenhinweis zeugt davon, dass auch Kleinbauern wie die Bernrieder Gemeinderatsmitglieder um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen Nutzen in der landwirtschaftlichen Organisation erkannten, sodass sie kollektiv, über die Gemeinde, dem Verein beitraten. Damit erhielten sie das „Centralblatt des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern“, das über neue Erkenntnisse der Agrartechnik und -wissenschaft, ab 1866 aber auch wöchentlich über die Entwicklung der Marktpreise informierte.88 Vereine im 19. Jahrhundert gelten als Charakteristika bürgerlicher, und das heißt: städtischer Vergesellschaftung.89 Doch nicht nur in den urbanen Zentren, sondern auch in Landstädten und zunehmend auch in Dörfern etablierten sich Formen vereinsmäßiger Organisation, in denen die Beteiligten neue Kommunikations- und Handlungsweisen praktizierten. Denn ländliche Vereine trugen dazu bei, dass ihre Mitglieder eine recht konkrete Vorstellung davon bekamen, was es hieß, sich als Landbewohner gesellschaftlich zu organisieren. Die Vereine wie zum Beispiel die

85 Schreiben des Bernrieder Gemeindevorstehers Fuchs an das Königliche Landgericht Weilheim, 11.12.1850; StAM, LRA 6981. 86 Vgl. Uekötter 2010, S. 67 f.; Pelzer 2004. 87 Wiederum Pelzer betont, dass sich im Nordwesten die politische Ausrichtung der landwirtschaftlichen Vereine in der zweiten Jahrhunderthälfte stark gewandelt habe. Ein Generationenwechsel in der Zeit des deutschen Kaiserreichs habe dazu beigetragen, dass die zunächst eher liberal ausgerichteten Vereine konservativer, patriotischer, protektionistischer wurden. Pelzer 2002, S. 299. 88 Pelzer vermutet, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Nordwestdeutschland viele Mitglieder der landwirtschaftlichen Vereine vor allem an den Publikationen interessiert gewesen sein dürften – die Vereine waren also eine Art Lesezirkel. Ebd., S. 298. Wahrscheinlich trifft das auch für Bayern zu. 89 Vgl. Nipperdey 1972, S. 67 f.

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landwirtschaftlichen Gesellschaften boten die Möglichkeit, eine spezifisch ländliche Form der sociabilité einzuüben, also der Art und Weise, wie Menschen ihre interpersonellen Beziehungen in einem konkreten Umfeld gestalteten.90 In diesem Zusammenhang interessieren mich im Folgenden auch diejenigen Vereinigungen, die in anderem Kontext als Orte, an denen politische Interessengruppen formiert wurden, erforscht worden sind, also die landwirtschaftlichen pressure groups und Bauernparteien. Denn mit ihrer Programmatik, vor allem aber auch in der alltäglichen Kommunikation und der Organisation trugen sie dazu bei, dem „Land“ eine weitere, für die Zukunft höchst einflussreiche Facette hinzuzufügen: den unpolitischen Bauern. 8.4.1

Veteranenvereine

Doch zunächst zu einem anderen Vereinstypus, der für die lokale Organisationsund Festkultur besonders wichtig war. Krieger- und Veteranenvereine gelten gemeinhin als wichtiger patriotischer Unterbau im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie waren schon aus quantitativen Gründen von erheblicher Bedeutung für das kulturelle, soziale und politische Leben des Kaiserreichs, denn sie organisierten einen erheblichen Teil der (Reichstags-)Wähler.91 Es gab Bestrebungen, die lokalen Vereine miteinander zu vernetzen und in eine einheitliche Organisation zu überführen, um auch politischen Einfluss ausüben zu können. Diese Bemühungen scheiterten weitgehend, vor allem aber spielten sie auf lokaler Ebene kaum eine Rolle.92 Das soll aber nicht heißen, dass es sich bei den Veteranenvereinen um rein unpolitische Organisationen handelte, denn das waren sie nicht. Auf lokaler Ebene trugen die Krieger- und Veteranenvereine zur Aufführung der Nation im Dorf bei.93 Sie hatten eine eindeutige monarchistische und nationalistische Ausrichtung. Ein (vergleichsweise) ausführlicher Zeitungsbericht über eine Sitzung des Mahlower Kriegervereins im November 1903 weist darauf hin, dass das patriotisch-monarchistische symbolische Handeln der Kriegervereine auch über die Sitzungen hinauswirkte – nämlich in Zeitungsberichten, die in der Regel durch die Vereine selbst geschrieben wurden. Das Teltower Kreisblatt berichtete, dass die

90 Vgl. Mischi 2008. 91 Saul (1969) beziffert die Zahl der durch den Kyffhäuserbund im Jahr 1913 organisierten Mitglieder von Kriegervereinen auf 2.837.944 Männer, rund 400.000 mehr als die freien Gewerkschaften Mitglieder hatten. 92 Ausführlich zu den Verbandsstrukturen Rohkrämer 1990, S. 27–55. Der bayerische Veteranen-, Krieger- und Kampfgenossenbund blieb vergleichsweise gemäßigt und warnte lediglich vor der Wahl der Sozialdemokraten. Zur Reichstagswahl, in: Bayerische Kriegerzeitung 23 (15.1.1907), S. 17 f., hier: S. 18. 93 Vgl. Dörner 2006, S. 290–294; Sievers 1990.

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Sitzung „mit einem dreimaligen Hurrah auf Ihre Majestät die Kaiserin“ anlässlich ihres 45. Geburtstags begonnen habe. Während der Hauptzweck der Sitzung, die Vorbereitung des Stiftungsfests, sehr kurz abgehandelt wurde, verabschiedete man noch ausführlich ein „Huldigungs- und Glückwunsch-Telegramm des KreiskriegerVerbandes Teltow an Ihre Majestäten den Kaiser und König und die Kaiserin und Königin zu der Einsegnung der Prinzen August Wilhelm und Oskar“, und auch der Schluss der Sitzung war monarchisch gerahmt: „Der Vorsitzende schloß die Sitzung mit einem donnernden Hurrah für Se. Maajestät [sic] den obersten Kriegsherrn.“94 Anders allerdings der Bericht über das Stiftungsfest selbst, in dem die geselligen und lokalen Aspekte im Vordergrund standen: Zwar war auch hier die Rede von einer „kernige[n] Rede“ des ersten Vorsitzenden, „die in ein dreimaliges Hurra auf Se. Maj. Wilhelm II. ausklang, worauf von der Festversammlung stehend die Nationalhymne gesungen wurde“. Der weitere Bericht war aber eher von lokalem Belang – er erzählte von den hervorragenden Theaterstücken, die von verschiedenen Einwohner:innen des Ortes aufgeführt wurden, zudem verwies er auf die Anwesenheit des örtlichen Radfahrer-Vereins, dessen Alterspräsident noch eine kurze Ansprache hielt. Auch die Preise der Verlosung – „drei große russische Gänse und ein kräftiger französischer Hahn“ – fanden Erwähnung.95 Die lokale (nationale) Festkultur wurde also maßgeblich durch die Veteranenvereine beeinflusst, insbesondere in den Landgemeinden, in denen es wenig andere kulturelle Vereine gab. Die Krieger- und Veteranenvereine ermöglichten neue Formen der innerdörflichen Öffentlichkeit. Allerdings ist es fraglich, ob auch in den untersuchten Dörfern in erster Linie die dörflichen Unterschichten diese Möglichkeit nutzten, wie die Forschung festgestellt hat.96 Es sind keine Mitgliederlisten der lokalen Vereine überliefert, und zumindest die Funktionäre waren die lokalen Honoratioren.97 In den frühen Jahren des Vereins, um 1875, hatten wichtige Personen aus dem engsten Kreis der Bernrieder Gemeinde Funktionen im Verein übernommen, etwa Mathias Wörle oder Josef und Andreas Pischetsrieder.98 Später war Xaver Metzner, der Kaufmann des Dorfs, nicht nur Vorsitzender des Veteranenvereins, sondern auch Mitglied im Bernrieder Gemeindeausschuss. Er regte offenbar an, dass die Ehrung der Soldaten des Krieges von 1870/71, die zum 25-jährigen Jubiläum des Krieges vom Veteranenverein organisiert wurde, von der Gemeindeverwaltung bezahlt wurde. Jeder Veteran sollte

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Mahlow, 2. November, in: Teltower Kreisblatt 47 (3.11.1903), S. 1331. Mahlow, 11. November, in: Teltower Kreisblatt 47 (12.11.1903), S. 1363. Besonders explizit bei Rohkrämer 1990, S. 34 f. So auch ebd., S. 36. Anzeige, vermutlich aus dem Weilheimer Wochenblatt (1874), Zeitungsausschnitt; GAB, A35/2.

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eine silberne Gedenkmünze erhalten; die Kosten in Höhe von 50 bis 60 Mark trug die Gemeindekasse – eine erhebliche Summe.99 Der Kriegerverein war also ein wichtiges Element des gemeindlichen Lebens. Er war organisatorisch und personell eng mit der Gemeindeverwaltung verflochten, setzte aber andere Schwerpunkte im Dorf. Durch ihn wurde eine lokale Festkultur etabliert, die die Nation im Dorf erfahrbar machte. Und er wirkte auch als organisatorisches Vorbild. Im Oktober 1907 beantragten einige Angehörige der Bernrieder dörflichen Unterschicht, erwähnt sind Stallburschen, Schuhmachergehilfen und Tagelöhner, die Eintragung ihrer Stammtischgesellschaft „Gemütlichkeit“ als Verein. Sie hatten sich Statuten gegeben und die Vorstandsämter besetzt. Sie ließen ihre Neugründung von der Ortspolizeibehörde (dem Bürgermeister) und dem Bezirksamt genehmigen.100 Hier wird deutlich, wie stark das Modell des Vereins als Organisationsform Eingang auch in die ländliche Lebenswelt jenseits der lokalen Honoratioren gefunden hatte. 8.4.2

Parteien und politische Verbände

Schon alleine aufgrund der regelmäßigen Wahlen waren die Parteien Bestandteile der politischen Kultur des ländlichen Raums. Individuelle Wahlentscheidungen waren aber im 19. Jahrhundert wohl eher die Ausnahme. Andere Faktoren wie persönliche Abhängigkeitsverhältnisse von den „Brotherren“ (Anderson), lokale Machstrukturen und Wahlbeeinflussung, aber auch lokalistische Vorstellungen von Stimmrecht und Partizipation müssen hier in Rechnung gestellt werden. „Nicht der einzelne Wahlberechtigte wählte entsprechend seiner Präferenzen und Interessenlagen, sondern die Gemeinde, das parochiale Kollektiv als Ganzes, gab ein Votum ab“,101 wie Kühne klarstellt. Auch die hier untersuchten Gemeinden stimmten weitgehend homogen ab: Mahlow konservativ, Bernried und Wolxheim für das Zentrum – ganz so, wie es zu erwarten ist, wenn man nur die soziale und konfessionelle Struktur der Gemeinden zugrunde legt. Doch geht es bei der Geschichte der Parteien im ländlichen Raum um mehr, zum Beispiel darum, ob es überhaupt eine Verbindung zwischen „Dorfpolitik“ und „großer Politik“ gab.102 Schaut man mit der Brille der Modernisierungstheorie auf der Nase auf die dörfliche Politik, dann ist die Antwort eher nein. Dann wird die Geschichte der Politisierung des Landes als das Vordringen von Parteien und

99 Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 28.7.1895; GAB, B2/3, S. 288. 100 Ortspolizeibehörde Bernried an das Bezirksamt Weilheim, Stammtischgesellschaft Gemütlichkeit betr., 23.10.1907; StAM, LRA 3936; Ortspolizeibehörde Bernried an das Bezirksamt Weilheim, Stammtischgesellschaft Gemütlichkeit betr., 9.11.1907; ebd. 101 Kühne 1993, S. 189 f. 102 Vgl. Hobsbawm 1973.

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Verbänden auf das vermeintlich zuvor unpolitische Land beschrieben.103 Diese Forschungen basieren meist auf der Überlieferung der Verbände, etwa des Bundes der Landwirte, beschäftigen sich vor allem mit den Initiatoren und Funktionären und konzentrieren sich entsprechend auf die nationale Politik. Die bäuerliche Bevölkerung, wenn sie überhaupt sichtbar wird, erscheint in dieser Perspektive nicht nur als passiv, sondern auch als naiv, sie habe über zu wenig politisches Gespür verfügt und unwissentlich gegen die eigenen Interessen gearbeitet. Dennoch: Diese Studien zeigen, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Organisationen entstanden, die sich als politische Repräsentantinnen spezifisch ländlicher Interessen verstanden. Bereits seit geraumer Zeit wird versucht, mit einem breiteren, nicht nur nationalen Verständnis von Politik die Entwicklungen von politischen Organisationen und Verfahrensweisen auf dem Land sichtbar zu machen.104 Seit mehr als dreißig Jahren wird so zum Beispiel das sehr beständige Bild von Organisationen wie dem Bund der Landwirte revidiert. Auch die Bauern, nicht nur die ostelbischen Großgrundbesitzer, seien sehr wohl selbst Subjekte der historischen Transformationen der Landwirtschaft und der agrarischen Politik gewesen.105 Mich interessiert nun im Folgenden, ob diese Subjektivierung durch die politische Organisation eine spezifische Färbung hatte, ob also das bäuerliche politische Subjekt in der Praxis auf dem Dorf anders war als ein beispielsweise bürgerliches politisches Subjekt. Auf dem bayerischen Land waren im späten 19. Jahrhundert vor allem die Parteien des politischen Katholizismus – Patriotenpartei und bayerisches Zentrum – sowie die eng mit diesen Parteien verbundenen christlichen Bauernvereine einflussreich.106 Der Patriotenpartei sind wir in dieser Arbeit bereits mehrfach begegnet, unter anderem im Wahlkampf von 1869 beim Kampf gegen die liberale Gemeindeordnung. Die Partei wurde im Kulturkampf als Reaktion auf den liberalen Schulgesetzentwurf 1867 gegründet, und seitdem war eine grundlegende Konfliktlinie, die in der Parteipropaganda immer wieder aufgerufen wurde, der Gegensatz zwischen der liberal-säkularen Stadt und dem christlich-katholischen Land. Mit der Stadt wurden auch die Interventionen des bayerischen Staates in traditionelle ländliche Arbeits- und Lebensbedingungen identifiziert. So entstand ein Bild, in dem das Land durch städtisch-staatliche Einmischungen bedroht wurde. Die Patriotenpartei hatte in den patriotischen Bauernvereinen ihre soziale Basis auf dem Land. Sie waren, anders als der Landwirtschaftliche Verein, nicht eng an die Bürokratie gekoppelt, sondern standen ihr in bestimmten Aspekten der

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Vgl. Stockinger 2012, S. 37–77. Beispielsweise: Friedeburg 1997; Grüne 2011; Mooser 1984. Zur ausführlichen Kritik dieser Auffassung vgl. Blackbourn 1984. Vgl. Amann 2011; Hartmannsgruber 1986; zu den christlichen Bauernvereinen Braun 4.9.2006.

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staatlichen Landwirtschaftspolitik (und Gesellschaftspolitik) oppositionell gegenüber.107 Ausgehend von Tuntenhausen und Deggendorf gründeten sich in den späten 1860er Jahren in vielen ländlichen Regionen solche Vereine, die nicht immer dauerhaft existierten.108 Sie dienten in erster Linie der Mobilisierung von Wählern für die Patriotenpartei, auch wenn sie laut Satzung vorerst an ältere Traditionen der Agrarwissensvereinigungen andockten. Denn der Vereinzweck des bayerischpatriotischen Vereins Tuntenhausen war zunächst die „Förderung der Fortbildung und des Betriebes der Landwirthschaft durch Mittheilung gegenseitiger Erfahrungen, durch Belehrung und Besprechung der wirklich praktischen Erfindungen der Neuzeit.“ Doch die weiteren Vereinszwecke zeigten, dass es sich durchaus um einen politisch aktiven Verein handeln sollte, der sich etwa mit den einschlägigen Gesetzen auf dem „Gebiet der Landwirthschaft und socialen Ordnung“ befassen wollte, ebenso auch mit der „Besprechung socialer und politischer Tagesfragen auf dem Boden des Verfassungsrechtes“.109 Im Bereich des Bezirksamts Weilheim, zu dem auch Bernried gehörte, existierten drei Zweigvereine des christlichen Bauernvereins aus Deggendorf: in Wessobrunn, in Forst und in Schlehdorf, die auch die Statuten des Hauptvereins übernahmen. Vorsitzende der Zweigvereine waren in zwei Fällen die örtlichen Pfarrer, in einem Fall ein bekannter Bauer.110 Das Bezirksamt beobachtete diese Vereine mit Argusaugen, schienen sie doch erhebliche Unruhe in die Dörfer zu bringen. So berichtete das Bezirksamt Weilheim im Vorfeld einer Versammlung in Wessobrunn an die Kammer des Innern der Regierung von Oberbayern: Da ein großer Theil der Gemeindeglieder von Wessobrunn und Haid mit der Richtung des patriotischen Vereins nicht einverstanden ist, so wurde vom k. Bezirksamte eine genügende Anzahl Gendarmen zur Aufrechthaltung der Ordnung an den Versammlungsort beordert, wozu sich auf jedenfalls ein Beamter des k. Bezirksamts einfinden wird.111

107 Vgl. Hochberger 1991, S. 65. 108 Der Deggendorfer Verein etwa bestand zwar formal bis ins frühe 20. Jahrhundert, spielte aber offenbar seit 1883 keine Rolle mehr, was Hochberger vor allem damit in Verbindung bringt, dass er wenig spezifisch agrarische Fragestellungen verfolgt habe, sondern ein ganz und gar politischer Verein gewesen sei. Wo Hochberger allerdings die Abgrenzung zwischen agrarisch und politisch verortet, verrät er leider nicht. Der Tuntenhausener Verein blieb auch in den 1890er Jahren einflussreich, weil er noch enger mit der Patrioten- bzw. Zentrumspartei verflochten war. Ebd., S. 66. 109 Statuten des bayerisch-patriotischen Bauern-Vereins, Drucksache München 1869, § 1; StAM, RA 57826. 110 Vgl. Bericht des Bezirksamtes Weilheim an die Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern: Der Stand der politischen Vereine, 5.1.1871; StAM, RA 28876. 111 Bericht des Bezirksamts Weilheim an die Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern, betr.: der bayerisch patriotische Bauern-Verein, 14.5.1870; StAM, RA 57826.

Organisierte Ländlichkeit

Insgesamt sei die Versammlung wider Erwarten ruhig verlaufen, berichtete das Bezirksamt im Nachhinein, was „der Mäßigung der Gemeinden Wessobrunn und Haid, wovon der groeßte Theil mit den Anschauungen und dem Treiben der Patrioten nicht einverstanden ist und der von gehorsamst unterfertigter Behörde getroffenen Vorsichtsmaßregeln“ zu verdanken gewesen sei.112 Fraglos handelte es sich bei den bayerisch-patriotischen Vereinen um 1870 um Organisationen, die der Bürokratie ein Dorn im Auge waren (und umgekehrt). Insofern ist die abwehrende und abwertende Haltung der Verwaltung in den überlieferten Akten kein Zufall. Dennoch bleibt es ein feststehender Topos, dass parteipolitisches oder sonstiges politisches Agieren im ländlichen Raum als „Unruhe“ oder zumindest als unangemessen markiert wurde. Das wird ex negativo besonders im folgenden Beispiel anschaulich. Das „Weilheimer Tagblatt“ berichtete im Januar 1898 ausführlich über den 70. Geburtstag des Bernrieder Pfarrers Carl Schattenhofer.113 Schon im ersten Satz hieß es, der Ortspfarrer sei auch deshalb so geschätzt, weil „Herr Pfarrer Schattenhofer bereits 20 Jahre die Seelsorge dortselbst als Pfarrer politik- und parteilos vertritt.“ Auch Bürgermeister Pauli stellte in seiner Glückwunschrede während der Feier laut Weilheimer Tagblatt heraus, wie engagiert der Pfarrer im Ort sei, ohne dabei parteipolitische Strategien zu verfolgen: „[H]auptsächlich aber betonte er [also Pauli, AS] dessen [also Schattenhofers, AS] friedliebende Haltung in der Politik, in welch letzterer er die Kanzel nie mißbrauchte, weshalb das gute Einverständnis und die hohe Achtung gegen Hochw. Hrn. Jubilar erklärlich sei.“114 Die besondere Betonung von Schattenhofers unparteiischer Amtsführung verweist darauf, dass dies in der Region nicht überall so war. Erinnert sei daran, dass der Bernrieder Ortspfarrer Leichtweis in den 1870er Jahren als Wahlmann in der Landtagswahl gewählt worden war – vermutlich für die Patriotenpartei.115 Für Bernried sind zumindest zwei Parteiorganisationen für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verbürgt. Im Jahr 1896 wurde hier eine Sektion des Bayerischen Bauernbundes gegründet. Der Bauernbund war – anders als die Bauernvereine – eine politische Partei, trat also bei Wahlen selbst an. Die Organisation gilt als einzige „echte“ Bauernpartei im kaiserzeitlichen Deutschland.116 Sie hatte ihre Basis vornehmlich in Niederbayern, aber auch in Oberbayern wurde sie nach und

112 Bericht des Bezirksamts Weilheim an die Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern: Versammlung des bayr. petriotischen Bauern-Vereins zu Weßobrunn, 2.6.1870; ebd. (Hervorhebung im Original). 113 Weilheimer Wochenblatt, 4.1.1898, in: Bernried im Spiegel der Heimatzeitungen I. Im 19. Jahrhundert (Pressespiegel), S. 19 f.; GAB, Bi 19/69. 114 Ebd. 115 S. o., Kap. 6.3. 116 Vgl. Haushofer 1977; Hochberger 1991.

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Ländlichkeit in the making

nach stärker. Im Landkreis Weilheim trat sie ab 1898 als veritable Konkurrenz zum Bayerischen Zentrum auf, die Stimmanteile gingen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs allerdings wieder zurück.117 Der erste und der zweite Obmann des Bauernbundes in Bernried waren bekannte Vertreter der Gemeinde: Gemeindeverordneter Georg Rauch und Bürgermeister Andreas Pauli.118 Wenige Jahre später gründete sich in Bernried auch eine Obmannschaft des christlichen Bauernvereins. Pfarrer Johann Götz, der inzwischen die Nachfolge des „unpolitischen“ Schattenhofer angetreten hatte, fungierte als Gastgeber.119 Nun fanden sich also beide konkurrierenden Parteirichtungen in Bernried, und beide wurden von einflussreichen Persönlichkeiten vertreten. Nun wäre zu vermuten, dass diese Konstellation zu Konflikten führte, mussten doch Bürgermeister und Ortspfarrer in vielen Belangen gut zusammenarbeiten, bei der Schulaufsicht oder bei der Armenfürsorge etwa. Doch Spuren solcher Konflikte finden sich nicht in den Quellen. Wir werden später darauf zurückkommen, woran das möglicherweise lag. Die Quellen zur Politik und dem Einfluss politischer Organisationen im ländlichen Raum bemühen permanent den gleichen Topos: Das Land sei unpolitisch, die politischen Organisationen brächten Unruhe ins Dorf, die Bevölkerung selbst nähme die Angebote der politischen Organisationen auch nur unwillig auf. Ein Rechtspraktikant war vom Bezirksamt in Weilheim losgeschickt worden, um von einer Versammlung des Bundes der Landwirte in Diemendorf, einem Dörfchen in unmittelbarer Nähe von Bernried, zu berichten und den Grad der Gefährdung durch die politische Mobilisierung auf dem Land einzuschätzen. Der ganze Bericht war durchzogen von dem Topos, dass Land und Politik nicht zueinander gehörten. Der Redner war ein Münchner Redakteur gewesen, selbst also gar nicht vom Land. Er habe die Ziele des Bundes der Landwirte dargestellt und dabei sowohl die konfessionell geprägte Politik als auch die Orientierung an Börse und Industrie kritisiert. Zum Schluss habe der Redner betont, die Bauern müssten „sich gleich den Arbeiterparteien [...] organisieren. […] Der Versuch, Mitglieder durch Verteilung von Beitrittslisten zu werben, hatte aber anscheinend keinen oder wenig Erfolg.“120 Doch ob die ständige Betonung, die bäuerliche Bevölkerung habe wenig Interesse an diesen politischen Vereinigungen, nun der Wahrheit oder dem Wunsch der Bürokratie entsprach, lässt sich oft nur erahnen. In einem Bericht

117 Vgl. Reibel 2007, S. 983. 118 Vgl. Bericht des Bezirksamtsassessors N.N. an das Bezirksamt Weilheim: die Versammlung des bayerischen Bauernbundes in Bernried, 27.7.1896; StAM, LRA 3874. 119 Vgl. Pfarrer Johann Götz an die Ortspolizeibehörde Bernried: Versammlung, 21.11.1905; ebd. 120 Bericht des Rechtspraktikanten Karl Sepp (polizeilicher Delegierter) an das Bezirksamt Starnberg: Öffentliche Versammlung des Bundes der Landwirte, Mittwoch, 23. November 1904, 24.11.1904; StAM, RA 57825.

Organisierte Ländlichkeit

über eine Versammlung der Sozialdemokratischen Partei im Bernrieder Bahnhof hatte es beispielsweise geheißen, dass „unsere Landleute offenbar nichts“ mit dieser Partei zu tun haben wollten – andererseits war in dem Bericht von achtzig bis hundert Teilnehmenden die Rede. Auch eine Resolution gegen das Parlament hatte immerhin 25 Unterstützer gefunden; der Berichterstatter des Weilheimer Wochenblatts postulierte trotzdem, dass „nur ein geringer Teil an den vorgetragenen sozialdemokratischen Genüssen Geschmack finden“ konnte.121 Auch wenn es also Indizien dafür gab, dass es in der ländlichen Bevölkerung Interesse am Bund der Landwirte oder sogar an der Sozialdemokratie gab, lautete die Schlussfolgerung stets: Die Landbevölkerung hat an der Politik kein wirkliches Interesse. Ob das nur der Selbstimmunisierung der Berichterstatter geschuldet war oder ob die Berichte auch darauf abzielten, die Erwartungen der Lesenden an das unpolitische Land zu befriedigen, das Ergebnis war das Gleiche. In den vorliegenden Quellen sollte das Land nicht der Ort von politischen Grabenkämpfen sein. Auf Einladung des Fischermeisters Georg Rauch fand in Bernried eine große Versammlung des Bayerischen Bauernbundes statt. Hier wurde sogar explizit über die Frage gestritten, ob die Organisation politisch oder unpolitisch sein sollte. Zwei auswärtige Redner waren gekommen, um vor den knapp 150 Besuchern im vollbesetzten Saal zu sprechen. In einen gewissen Gegensatz gerieten die beiden Redner insofern, als Riebenach [der erste Redner, AS] mehrmals ausdrücklich betonte, daß der Bauernbund keine politische Partei bilde und nur wirtschaftliche Fragen in sein Programm aufnehmen wolle, während Schwab [der zweite Redner, AS] [sagte] daß die Aufstellung auch eines politischen Programmes unbedingt notwendig sei und auch demnächst erfolgen werde.122

Die allgemeinpolitischen Punkte, die Schwab ins Programm des Bauernbundes aufgenommen sehen wollte, waren vor allem das allgemeine Wahlrecht, die Aufrechterhaltung der bayerischen Selbstständigkeit im Reich und die Abschaffung des herrschenden Militarismus. Damit waren zentrale Punkte des politischen Programms des Bauernbundes angesprochen, das antiklerikal und partikularistisch ausgerichtet war, vornehmlich die Interessen von Kleinbauern vertrat und in vielen Punkten bereits während des Kaiserreichs Berührungspunkte mit dem Programm der Sozialdemokraten aufwies. Auch bei der genannten Versammlung war es ein

121 Weilheimer Tagblatt, 25.2.1896 (Pressespiegel), in: Bernried im Spiegel der Heimatzeitungen I. Im 19. Jahrhundert, S. 16; GAB Bi 19/69. 122 Bericht des Bezirksamtsassessors N.N. an das Bezirksamt Weilheim: die Versammlung des bayerischen Bauernbundes in Bernried, 27.7.1896; StAM, LRA 3874.

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Ländlichkeit in the making

Streitpunkt nicht nur zwischen den Rednern, sondern in der Versammlung insgesamt, wie sich der Bauernbund zur Sozialdemokratie verhalten solle. Beendet wurde die Versammlung interessanterweise mit einem Hoch auf Prinzregenten Luitpold, „in welches von der Versammlung lebhaft eingestimmt wurde.“123 Unpolitisch war diese Versammlung also ganz und gar nicht. Sogar im Bericht des anwesenden Bezirksamtsassessors zeigte sich, welch politische Auseinandersetzungen darüber geführt werden konnten, ob eine agrarische Organisation nun politisch oder unpolitisch zu sein hatte. Und es offenbarte sich, dass mit der Kritik an staatlicher Politik problemlos monarchische Ehrerbietungen einhergehen konnten. Die Quellenüberlieferung für die lokale Ebene der Politik verstärkt den Eindruck, dass es nicht ganz einfach einzuschätzen ist, wie stark die überregionale Politik tatsächlich in das Dorf hineinwirkte und hier auf Interesse stieß. Denn es gibt keine Quellen, in denen unabhängig von der einflussreichen Deutung vom unpolitischen Land über die Politisierung des Landes geschrieben wurde. Gerade in den lokalen Quellen finden politische Auseinandersetzungen nicht statt. So lässt sich auch erklären, warum die Vorstellung, auf dem Land habe Politik faktisch nicht stattgefunden, so einflussreich war. Doch Zufallsfunde zeigen zumindest schemenhaft auch ein anderes Bild und deuten darauf hin, dass zumindest zaghafte Ansätze von politischer Organisation, von der Anschlussfähigkeit unterschiedlichster politischer Strömungen vorhanden waren, aber durch die zeitgenössische Wahrnehmungsund Deutungsweise überdeckt wurden. Die Vorstellung, dass der ländliche Raum unpolitisch war und sein sollte, war nicht nur unter Parlamentariern verbreitet, die sich über Gemeindeordnungen stritten, sondern auch für die lokale Praxis des Politikmachens wichtig. Jedermann wusste zwar von den unterschiedlichen Parteizugehörigkeiten von Bürgermeister und Pfarrer, doch sie wurden nicht offen thematisiert. Solange Parteipolitik den Ruch des Partikularen hatte, also nicht im Namen einer Allgemeinheit gesprochen werden konnte, wurden Parteien in den dörflichen Institutionen nicht angesprochen und nicht markiert, etwa als Zusatz nach dem Namen des Bürgermeisters. Auch im Elsass wurden politische Bindungen im lokalen Raum nicht offen angesprochen. In der lokalen Überlieferung findet sich nichts zu politischen Organisationen. Allerdings war dies auch dem besonderen politischen Klima im Reichsland geschuldet. Die Konfessionalität im weitgehend katholischen Elsass spielte eine große Rolle, vor allem in Abgrenzung zur Verwaltung des Reichslands, die weitgehend aus protestantischen Preußen bestand. Vor allem aber waren es nationalitätenpolitische Differenzen, die die politische Stimmung im Elsass prägten, aber andererseits nicht allzu offen adressiert werden durften, denn die Zugehörig-

123 Ebd.

Organisierte Ländlichkeit

keit des Elsass zu Deutschland durfte in Berichten und ähnlichem administrativem Schriftgut keinesfalls infrage gestellt werden.124 Das betraf nicht nur die Landbevölkerung. Aber auch diese galt im Elsass als besonders unpolitisch und gleichzeitig bodenverbunden, wie ich am Beispiel der Landesbeschreibungen schon deutlich gemacht habe. Im dort bereits analysierten Haegy-Werk, das aus der autonomistischen Bewegung stammte, zeigt sich noch einmal in besonderem Maße die Ambivalenz zwischen dem vermeintlich unpolitischen Charakter der Landbevölkerung einerseits und der praktisch naturwüchsigen Hinwendung der ländlichen Einwohner:innen zur Elsässischen Volkspartei andererseits, nicht erst nach 1918: Der elsässische Bauer hat sich grundsätzlich mit jeder Staatsform und mit jeder Herrschaft über seine Heimat versöhnt. Wenn nur sein Boden, seine Heimat, seine Ruhe gerettet, seine Interessen und seine Unabhängigkeit sichergestellt blieben. So konnte er in der Vorund in der Nachkriegszeit gelegentlich auch Vertreter wählen, die seiner Heimat fremd waren, wenn sie nur seine landwirtschaftlichen Sonderinteressen zu fördern versprachen und den nötigen „langen Arm“ bei der Regierung hatten. Die wachsende politische Schulung hat diesen mancherorts zu treffenden Hang aber stark vermindert. In den Strudel des politischen Kampfes ging der elsässische Bauer nur hinein, weil er bei dem ihm entstammten und tief mit ihm verbundenen Klerus die Führung fand, und weil seine religiösen Traditionen und seine Heimat bedroht waren. Dafür verzichtete er selbst auf „seine Ruhe“. So fanden die Diktatur und der Kulturkampf Bismarcks, wie später der Kulturkampf Herriot’s, den elsässischen Bauer [sic] nicht allein in hitziger Debatte in der Dorfschmiede oder am sonntäglichen Biertisch, sondern sobald der Brauch dazu aufkam, auch in Scharen in den Versammlungslokalen bei Parteimanifestationen und Protestmeetings. Diese heimatlich und religiös orientierte Mentalität erklärt seine bis auf den heutigen Tag unentwegte Anhänglichkeit an die Elsässische Volkspartei und die ihr entsprechende Presse, die stets gegen hüben und drüben im Abwehrkampfe steht für die alt-angestammte Eigenart und die Freiheiten des Volkes.125

Sogar politische Organisationen bemühten den Topos des unpolitischen Landes und der unpolitischen Bauern, entweder um Einflüsse anderer politischer Richtungen als landfremd zu diskreditieren oder aber sich selbst zum praktisch natürlichen Verfechter ländlicher Interessen jenseits politischer Grabenkämpfe zu stilisieren. Solche Sprachregelungen sind deutlich sichtbar; was weniger sichtbar ist, sind die vielfältigen Konflikte, die erst gar nicht als solche adressiert wurden, eben weil das Denken in der Kategorie des unpolitischen Landes so einflussreich war. Auch das

124 Vgl. Hiery 1998. Ausführlicher zum Elsass und seiner Parteienstruktur: Ders. 1986. 125 Rossé 1936, S. 13.

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Ländlichkeit in the making

hatte erhebliche politische Wirkungen. Erst in der Zwischenkriegszeit änderten sich Sprachregeln und Deutungsweisen, auch wenn das Beharren auf dem eigentlich unpolitischen Charakter des Landes erhalten blieb. Doch die lokalen Konflikte wurden nun immer offener ausgetragen (vgl. Kap. 10).

8.5

Ästhetisierung und Politisierung von Ländlichkeit

Der ländliche Raum existierte nicht, auch nicht um 1900. Das gilt für diese Arbeit nicht nur, weil der ländliche Raum in Brandenburg sich grundlegend von dem in Bayern oder dem Elsass unterschied. Schon an einem Ort griffen unterschiedliche Raumbildungsprozesse ineinander, verstärkten sich gegenseitig oder brachten paradoxe Effekte hervor, sodass es kaum möglich ist zu klären, was um 1900 eigentlich ländlich war. Aber die Produktion von Ländlichkeit kann als ein wichtiger Prozess der erweiterten Jahrhundertwende sichtbar gemacht werden, auch wenn er auf verschiedenen Ebenen ablief und sehr unterschiedliche Effekte hatte: Erstens ging die spezifische Konstruktion von Ländlichkeit um 1900 mit enger werdenden Beziehungen zwischen Stadt und Land nicht nur einher, sondern war auch durch sie bedingt. Für Gemeinden, die für Stadtbewohner:innen attraktiv sein wollten, war es wichtig, den eigenen ländlichen Charakter besonders herauszustellen. Für die eigene Bevölkerung hingegen war die ästhetische Ländlichkeit offenbar nicht so wichtig. Das dörfliche Publikum hatte möglicherweise andere Probleme oder auch Interessen – das Beispiel der Seepromenade in Bernried hat gezeigt, dass es manchmal auch um handfeste Dinge wie den Wert von Grund und Boden ging. Die Ästhetisierung des Landes stand also durchaus in einem Spannungsverhältnis zur ländlichen Ökonomie (und das tut sie heute noch). Sebastian Strube unterstreicht in seiner Untersuchung über die Prämiierung von Dörfern im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik, dass auch während der NS-Zeit Ländlichkeit im Zuge dieser Dorfwettbewerbe ästhetisch, nicht agrarwirtschaftlich entworfen wurde. Auch hier ging es in erster Linie um die Kommodifizierung einer ländlichen Ästhetik, genauer gesagt um die Förderung des Fremdenverkehrs, nicht aber um die sonstigen Aspekte von Dörflichkeit, die ebenfalls unter die Konstruktion von Ländlichkeit subsummiert werden könnten.126 Zweitens kann man aus der Analyse ableiten, dass die Idealisierung von Ländlichkeit gerade nicht in Vorstellungen und Sehnsüchten einer urbanen bürgerlichen Klasse aufging. Zum einen war das Phänomen der idealisierten Ländlichkeit, wie es hier in unterschiedlichen Facetten gezeigt wurde, nicht rein bürgerlich. Auch viele andere Akteur:innen waren an der Hervorbringung dieses Ländlichkeitstypus aktiv

126 Vgl. Strube 2013, S. 54.

Ästhetisierung und Politisierung von Ländlichkeit

beteiligt. Zum anderen konnten hier sehr viele lokale Praktiken sichtbar gemacht werden, die ganz unterschiedlichen Bereichen zugeordnet werden können: diskursive und nichtdiskursive Praktiken, soziale Beziehungen, Erwartungsstrukturen etc. Idealisierte Ländlichkeit muss als mehr als ein kulturelles Artefakt verstanden werden, handelte es sich doch um ein Feld, das wirkungsmächtig war und blieb, das materielle Spuren bis heute hinterlassen hat. Ländlichkeit muss, auch in ihrer idealisierten Form, als ein Ineinandergreifen von sozialen, diskursiven und materiellen Bestandteilen begriffen werden. Drittens ist deutlich geworden, dass Ländlichkeit auch für bestimmte Zeitabschnitte nicht allzu homogen gedacht werden darf. Nicht alle Praktiken um die Jahrhundertwende zielten auf Idealisierung und Ästhetisierung von Ländlichkeit ab. Doch sind Versatzstücke dieses sehr einflussreichen Ideals von Ländlichkeit auch in politischen Konflikten und Polarisierungen nachzuweisen. Klar ist allerdings auch: Ländlichkeit gab es nicht nur in ihrer ästhetisierten Form. An unterschiedlichen Stellen sind Konflikte sichtbar geworden, die nicht nur im Bereich der Idealisierung oder Ästhetisierung angesiedelt waren. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Ländlichkeit war die defensive Ländlichkeit. Sie hatte ihre Hochphase etwas zeitversetzt zur ästhetisierten Ländlichkeit des Heimatschutzes und der bürgerlichen Sommerfrische. Sie begann in der Zeit der Agrarkrise um 1890, kulminierte aber erst in der Zwischenkriegszeit (s. u., Kapitel 10).

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Krisen und Konflikte 1900–1945

9.

Den Krieg, den Frieden regieren

28.7.1914 [sic]: Ermordung des Österreichischen Thronfolgerpaares in Serajewo [sic]. 26.7.1914: Beginn des serb.-öst. Krieges. Die Lage wird immer kritischer. Rußland mobilisiert. Die Franzosen nähern sich der deutschen Grenze. 2.8.1914: Deutschland mobilisiert. Hier wird die Mobilmachung abends 7 Uhr (1.8.1914) ausgeschellt.1

So begann der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan), im Tagebuch der Bernrieder Volksschule. In allen untersuchten Gemeinden wurde der Weltkrieg sehr rasch, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, spürbar. In jedem Ort wurden Männer zur Armee eingezogen, die als Familienmitglieder, als Arbeitskräfte im bäuerlichen Betrieb oder als Versorger im täglichen Leben fehlten.2 Wolxheim war schon geographisch am stärksten vom Ersten Weltkrieg betroffen. Die nahe Westfront hatte hier unmittelbare Wirkungen, so wurden beispielsweise Flächen, die bislang dem Weinbau vorbehalten waren, für fortifikatorische Maßnahmen genutzt, die Reben abgeschlagen – mit entsprechend gravierenden Auswirkungen auf die Gemeinde, in der der Weinbau faktisch der einzig relevante Wirtschaftszweig war.3 Bernried hielt am 21. Januar 1915 einen Trauergottesdienst für den Ersatzlehrer Lorenz Schönberger ab, der bei Ypern gefallen war. Das Schultagebuch dokumentiert die Einzelheiten: „Verweser Schönberger wurde im Schützengraben am Ypern-Kanal von einer Granate getroffen, die ihm den Kopf zerschmetterte. Seine Kameraden des 17. Bayr. Res.Inf.Reg. beerdigten ihn bei Messines.“4 Der Erste Weltkrieg veränderte ganz unmittelbar die dörflichen Lebensrealitäten, auch wenn die Auswirkungen auf die bäuerlichen Mentalitäten zumindest

1 Zunächst hatte der Lehrer den 15. Juli als Datum des Attentats angegeben, dies wurde ausgestrichen und auf den 28. geändert, an der Monatsziffer wurde hingegen nichts verändert. Schulgeschichtliche Aufzeichnungen für die Volksschule zu Bernried, K. Bezirksamt Weilheim, angelegt am 1.7.1913 von dem Hauptlehrer Felician Reiser; GAB, Bi 19. Zur Rolle der Schultagebücher im Ersten Weltkrieg vgl. Böck 2021. 2 Insgesamt dienten 13 Mio. Männer während des Ersten Weltkriegs in der deutschen Armee; im Sommer 1914 wurden zunächst 3,8 Mio. Männer mobilisiert. Vgl. Deist 2009, S. 870. 3 Vgl. Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 12.11.1915; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 257. Nun sollte die Gelegenheit genutzt werden, die Grundstücke neu zu verteilen, also eine Flurbereinigung durchzuführen. Dies wurde jedoch unter deutscher Verwaltung nicht zum Abschluss gebracht. 4 Eintragung vom 18.2.1915, in: Schulgeschichtliche Aufzeichnungen für die Volksschule zu Bernried; GAB, Bi 19.

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Den Krieg, den Frieden regieren

für bestimmte Regionen wie Oberbayern eher gering eingeschätzt werden.5 Jenseits der alltäglichen Erfahrungen war der Erste Weltkrieg aber ganz sicher ein tiefer Einschnitt für die Geschichte des Regierens im ländlichen Raum. Staatliche Eingriffe in wirtschaftliche und gemeindliche Handlungsfelder erreichten bislang unbekannte Ausmaße, und die lokalen Akteure, vor allem die Bürgermeister, waren gefragt, einerseits zu moderieren und um Verständnis zu werben, andererseits aber auch ganz konkret diese Eingriffe zu exekutieren. Vor allem am Beispiel der Mobilisierung im Sommer und Herbst 1914 kann das verdeutlicht werden (vgl. Kap. 9.1). Zudem veränderte sich die Rahmung des ländlichen Regierens, weil zur nationalen Frontstellung eine innere hinzutrat: Im Verlauf des Kriegs prägte sich der Konflikt zwischen Stadt und Land immer stärker aus; seine Dynamiken nahmen Einfluss auf die Praktiken des Regierens (vgl. Kap. 9.2). Mit dem Waffenstillstand Anfang November 1918 war diese Geschichte noch nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Die Transformationen des Regierens wurden durch die Revolution und die krisenhaften Erschütterungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre verstärkt (vgl. Kap. 9.3). Anders als in Mahlow und Bernried bedeutete das Kriegsende in Wolxheim auch gleichzeitig die erneute Veränderung der nationalen Zugehörigkeit; die Reannexion nach 1918 wirkte sich allerdings deutlich weniger stark auf die lokalen Regierungspraktiken aus, als das vielleicht zu erwarten wäre (vgl. Kap. 9.4).

9.1

Mobilisierung

Die Mobilmachung stand am Beginn des Krieges. Soldaten wurden eingezogen, notwendiges Kriegsmaterial wie Fahrzeuge oder Pferde akquiriert. Versteht man Mobilisierung aber breiter, dann lässt sich darunter auch fassen, wie die gesamte Bevölkerung an der sogenannten „Heimatfront“ mobilisiert und für den Krieg auf Linie gebracht wurde. Mobilisierung war also nicht im Sommer 1914 abgeschlossen, sondern dauerte bis zum Ende des Kriegs auf ganz unterschiedlichen Ebenen an.6 Roger Chickering argumentiert, dass durch die „Metapher ‚Mobilmachung‘“ Kriegsund Heimatfront semantisch miteinander verknüpft worden seien: „Im zivilen wie im militärischen Kontext verstand man nun unter Mobilmachung das Mobilisieren von Dingen, die zuvor nicht mobil gewesen waren oder sonst nichts mit Krieg zu tun gehabt hatten: die bewusste Entscheidung des Staates, materielle Objekte,

5 Vgl. Ziemann 1997, S. 469. 6 Vgl. Janz 2013, S. 225–279. Vgl. den umfassenderen Mobilisierungsbegriff bei Geyer, der für die städtische Gesellschaft Münchens auch die intellektuelle, politische und ökonomische Mobilisierungen mit erfasst; Geyer 1998, S. 28–58.

Mobilisierung

seien es Munitionskisten, Eisenerz oder Brezeln, für die großen Forderungen des Krieges einzusetzen.“7

Die praktische Mobilmachung lag zu weiten Teilen in den Händen der lokalen Gemeindeverwaltungen. Überhaupt wurde der Krieg zu einer „Bewährungszeit“ für die Kommunalverwaltungen in Deutschland.8 Was bislang in erster Linie für die städtische Leistungsverwaltung erforscht ist, galt in ähnlichem Maße für die Verwaltung der Landgemeinden, die auch den Einsatz der Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft und die Erfassung der erzeugten Lebensmittel zu organisieren hatte.9 9.1.1

Neue Vorschriften

Bereits die offizielle Verhängung des Kriegszustands in Bayern am 1. August 1914 übertrug die exekutive Gewalt auf die Militärbefehlshaber. Damit waren die Gemeindeverwaltungen in allen Kriegsangelegenheiten direkt der militärischen Verwaltung unterstellt.10 Vor allem aber erhielten die Gemeindeverwaltungen mit sofortiger Wirkung eine Fülle neuer Aufgaben. Über die Bezirksämter wurde angeordnet, dass die Gemeindeverwaltungen den Brieftaubenverkehr überwachen und die Telegraphenlinien sichern sollten.11 Die Bürgermeister hatten dafür zu sorgen, dass weder Pferde noch Kraftfahrzeuge oder gar Kriegs- und Verpflegungsmaterial über die Gemeindegrenzen geschafft wurden, sie sollten die Bevölkerung zur „Mäßigung im Genuß geistiger Getränke“ anhalten, über die Einhaltung des Verkaufsverbots von Kartenmaterial wachen, die „öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit“ aufrechterhalten und „[w]ichtige Vorkommnisse […] sofort, wenn möglich telephonisch oder telegraphisch“ ans Bezirksamt melden.12 In ihrer Eigenschaft als Standesbeamte sollten sie jederzeit erreichbar sein sollten, um die „Eheschließungen von Personen, die durch die Mobilmachung betroffen [waren,] mit größter Beschleunigung zu behandeln und auch außerhalb der festgesetzten Dienststunden, sowie an Sonntagen zu erledigen“.13 Darüber hinaus waren die Bürgermeister, zum Teil auch die Beigeordneten, in den Musterungsbetrieb mit eingeschaltet, sie mussten den Bedarf der Gemeinden an freiwilligen Erntehelfern

7 8 9 10 11 12 13

Chickering 2009, S. 153. Reulecke 1980, S. 115. Vgl. Roerkohl 1991. Bekanntmachung des kommandierenden Generals 1.8.1914. Ebd. Bekanntmachung des Kgl. Bezirksamts Weilheim 1.8.1914. Bekanntmachung des K. Staatsministeriums 4.8.1914.

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Den Krieg, den Frieden regieren

koordinieren und ggf. für Unterkünfte der (meist) Jugendlichen sorgen.14 Auch zur Gründung karitativer Organisationen wurden die Bürgermeister angehalten.15 Diese Liste ließe sich fast endlos fortsetzen. Gerade in den ersten Kriegstagen wurden die Gemeindevorsteher als lokale Vertreter der staatlichen Verwaltung explizit adressiert und an ihre große Verantwortung erinnert: Im Interesse einer schleunigen und wohlgeordneten Mobilmachung wird von allen damit beschäftigten Personen, insbesondere von den Herrn Bürgermeistern und deren Stellvertretern unbedingter Gehorsam, getreueste Pflichterfüllung in allen Situationen, Ruhe und Besonnenheit und, wenn nötig, Mut und Entschlossenheit erwartet.16

Die Arbeitslast stieg auch für die anderen untersuchten Gemeinden. In der Überlieferung der Gemeinde Wolxheim finden sich beispielsweise Aushänge aller Art, die verdeutlichen, welche Flut von Verordnungen und Bekanntmachungen im Ersten Weltkrieg auf die Gemeinden einprasselte.17 Die Bürgermeister mussten diese Verordnungen nicht nur umsetzen und kontrollieren, sondern auch zunächst einmal aushängen und damit bekannt machen. Um zu belegen, dass sie das auch erledigt hatten, mussten sie eigens „Verkündigungsbescheinigungen“ ausfüllen und an den Militärpolizeimeister in Straßburg senden. So sollte sichergestellt werden, dass die Bürgermeister ihren Verkündigungspflichten nachkamen – faktisch erhöhte es den Schreibaufwand vor Ort erheblich.18 Das galt auch für Glasow. Hier in der Nachbargemeinde Mahlows beantragte der Gemeindevorsteher im Frühjahr 1915 eine Erhöhung seiner Aufwandsentschädigung mit der Begründung, dass die Arbeitslast durch den Krieg stark angewachsen sei. Der Gemeinderat bewilligte zunächst eine Erhöhung um hundert Mark für das Jahr 1914. Einen guten Monat später bewilligte der Gemeinderat erneut eine

14 Vgl. Bekanntmachung des bayerischen Landwirtschaftsrats 6.8.1914. 15 Bekanntmachung an die Gemeindebehörden 11.8.1914, „mit der Weisung, im Benehmen mit allen geeigneten Kräften, insbesondere auch mit den in der Gemeinde bestehenden Frauenvereinen, mit Rat und Tat den weiteren Ausbau der nötigen Fürsorgeorganisationen im Sinne des in der genannten Entschließung bezeichneten Aufrufes zu fördern und über das, was zu diesem Zweck geschehen ist, bis zum 20. d. Mts. anhier Mitteilung zu machen, Weilheim, 10. August 1914.“ 16 Bekanntmachung des Kgl. Bezirksamts Weilheim 1.8.1914, S. 135. 17 Diese Aushänge betrafen die unterschiedlichsten Themen, etwa: den Verkauf von Waffen und anderen Kriegsbeutestücken (12.12.1914), das Verbot von schriftlichen Mitteilungen aller Art jenseits der Post (31.12.1914), die Meldung von inaktiven Offizieren und Unteroffizieren für die Ausbildung der Truppen (12.8.1914), Aufruf an die deutschen Landwirte (18.11.1916), Aufruf zum Verkauf von Goldsachen u. Juwelen (25.12.1916) u. v. a. m.; ADBR, 8 E 554, Dépôt 2013, Boîte 5 c. 18 Vgl. Bekanntmachung des Militärpolizeimeisters Straßburg an die Gemeinden des erweiterten Befehlsbereichs, 16.4.1915; ebd.

Mobilisierung

Erhöhung: Dem Vorsteher wurden für das laufende Jahr fünfhundert Mark für eine Schreibhilfe zuerkannt, die ihn bei den umfangreichen Arbeiten der Gemeindeverwaltung im Krieg unterstützen sollte.19 Der Wolxheimer Gemeindeschreiber erhielt im Jahr 1915 sogar eine Gehaltszulage in Höhe von 1000 Mark für die „Bearbeitung der sehr ausgedehnten Flurschäden in der Gemarkung Wolxheim“ durch die Fortifikation.20 Das zeugt davon, wie hoch die Arbeitsbelastung für das lokale Verwaltungspersonal war, denn Wolxheim war bisher nicht durch besondere finanzielle Großzügigkeit aufgefallen, und die gemeindliche Finanzlage war im Krieg noch einmal angespannter. Abgesehen von diesen – auch vor Kriegsbeginn bereits verbreiteten – Klagen über die stetig wachsenden Schreibaufgaben geben die gemeindlichen Akten selbst wenig Hinweise darauf, dass sich die lokalen Verwaltungspraktiken gravierend verändert hätten. Und die hier analysierten Amtsblätter sind vor allem für eines eine hervorragende Quelle: nämlich für den Willen des Staates und der (militärischen und zivilen) Verwaltung, neue Regierungsfelder vor Ort zu etablieren. Durch die vielfältigen Anordnungen und auch die Appelle an die lokalen Akteure, den gestiegenen Anforderungen zu genügen, formulierte der Staat den Anspruch darauf, auf alle Bereiche des lokalen Raums, die irgendwie die militärischen und ökonomischen Kriegsnotwendigkeiten berührten, einwirken zu können. Doch über das Ausmaß, wie diese Kontrolle tatsächlich ausgeübt wurde oder ob sie über weite Strecken imaginär blieb, wissen wir kaum etwas. In einem Bericht an das Innenministerium betonte die Regierung von Oberbayern im Sommer 1915, dass die Kriegsverwaltung seit Beginn des Krieges problemlos laufe: Die Mobilmachung ist […] gut und ohne nennenswerte Störungen verlaufen. Die Distriktsverwaltungsbehörden [die bayerischen Bezirksämter, AS] haben sich bei den umfangreichen und verantwortungsvollen Arbeiten durchweg bewährt und es haben sich auch die Gemeindebehörden ungeachtet der im Laufe des Kriegsjahres eingetretenen starken Personalminderungen den großen Anforderungen, welche die Durchführung der verschiedenen überaus zahlreichen Vorschriften an sie stellte, allgemein gewachsen gezeigt und die Dienstgeschäfte mit Arbeitsfreudigkeit und vaterländischer Begeisterung erledigt. […] Die während des Kriegsjahres im Anschlusse an die Mobilmachung für den Heeresbe-

19 Protokoll der Glasower Gemeindevertretung, 12.3.1915, 17.4.1915; KrA-TF, XII.296. 20 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 10.9.1916; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 264. Auch der Gemeinderechner, der Rechnungsrat Schumann aus Molsheim, erhielt mehr Geld, allerdings bewilligte die Gemeinde das erst auf Anordnung des Ministeriums.

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Den Krieg, den Frieden regieren

darf getroffenen weiteren Kriegsmaßnahmen fanden bei den Distriktsverwaltungs- und Gemeindebehörden jeder Zeit [sic] die entsprechende Beachtung.21

Allerdings war die Umfrage zu den Verwaltungsaufgaben des Krieges, die vom bayerischen Ministerium des Innern an alle Kreisregierungen verschickt worden war, in erster Linie ein Anlass für die regionalen Verwaltungen, ihre Leistungsfähigkeit auch unter widrigsten Bedingungen unter Beweis zu stellen. Problemanzeigen waren ohnehin nicht gefragt. Neben der reinen Mobilmachung war es ein anderes Regelungsbündel, das die Gemeindeverwaltungen im Deutschen Reich den Krieg über stark forderte, und das waren die unterschiedlichen Regulierungen der Nahrungsmittelproduktion. Die Landwirtschaft war durch den Krieg stark herausgefordert, zudem konnten aufgrund der Blockade keine Lebensmittel und Agrargüter (vor allem Düngemittel) mehr auf dem Weltmarkt beschafft werden. Um trotzdem die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen, wurden nach und nach immer mehr Regelungen erlassen, die die Landwirtschaft zu einer bürokratischen Herausforderung werden ließen. Bereits im August 1914 wurden Höchstpreise für den Kleinhandel verkündet, die im Oktober 1914 dann auch auf den Großhandel mit Brotgetreide übertragen wurden. Die Reichsgetreidegesellschaft sollte den Handel mit Getreide monopolisieren, später trat eine Reichskartoffelstelle an ihre Seite. Für die bäuerlichen Erzeuger:innen bedeutete das, dass ihre Produktion nun staatlicherseits erfasst und kontrolliert wurde, dass sie nur bestimmte Mengen zurückhalten und für den eigenen Verbrauch nutzen durften, dass Getreide nicht mehr als Viehfutter verwendet werden durfte und so weiter.22 Kontrolliert werden sollte das alles durch die Behörden – und das waren in der Regel die Gemeindevorsteher und Schöffen. Als Ortspolizeibehörden oder deren Organe mussten die Gemeindevorsteher die Ernteerträge kontrollieren, die verschiedensten Regelungen, die sich zum Teil in sehr kurzen Abständen veränderten, immer wieder neu ortsüblich bekannt geben und auf ihre Einhaltung achten.23

21 Bericht der Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern, an das bay. Innenministerium, betr. Die Verwaltungsaufgaben im Kriege [Frage 1], o. D. [1915] [Entwurf Reinschrift]; StAM, RA 76711 (meine Hervorhebung, AS). 22 Vgl. Wehler 2003, S. 57–64. 23 Vgl. zum Beispiel: Bekanntmachung Nr. 14461 10.3.1915, S. 36. Dort hieß es (meine Hervorhebungen, AS): „Vorstehende Bekanntmachung ist von den Ortspolizeibehörden ortsüblich sowie durch Anschlag in den Verkaufsräumen der Kartoffelhändler und auf den Marktplätzen bekannt zu geben. Die Ortspolizeibehörden haben den Verkehr in Kartoffeln geeignet zu überwachen. Zuwiderhandlungen gegen die vorstehenden Vorschriften sind unnachsichtlich anzuzeigen.“

Mobilisierung

9.1.2

Überforderte Gemeindevorsteher

Während die Regierung von Oberbayern ihre eigene Leistungsfähigkeit unterstrich, indem sie die geordnete Mobilmachung in den Gemeinden pries, liefen in Preußen die ersten Beschwerden über die hohe Arbeitsbelastung der Gemeindevorsteher auf. Bis zum Frühjahr 1915 waren im brandenburgischen Kreis Teltow, zu dem auch Mahlow gehörte, so viele Beschwerden der Gemeindevorsteher über die hohe Arbeitslast eingegangen, dass sich sogar der Kreisausschuss mit diesem Problem beschäftigt hatte. Anschließend berichtete der Teltower Landrat Adolf von Achenbach an den Regierungspräsidenten in Potsdam: In der jetzigen Kriegszeit ergehen von der [sic] verschiedensten vorgesetzten Behörden täglich so zahlreiche Verfügungen, dass die Gemeindevorsteher, wie mir wiederholt zu erkennen gegeben ist, sich darin nicht mehr zurecht finden können. Besondere Mühe verursachen auch die vielen statistischen Aufnahmen und die Regelung der Brot-, Getreideund Futterangelegenheiten.24

Um der Sache Nachdruck zu verleihen, schickte Achenbach Abschriften von Beschwerde- und Amtsniederlegungsschreiben aus den Gemeinden mit, zum Beispiel vom Gemeindevorsteher von Christinendorf: Teile ergebenst mit, dass ich von der Ortsliste über die Regelung des Verkehrs mit Brotgetreide und Mehl nichts entsenden kann. Bei den jetzt alle Tage kommenden Verfügungen weiss man nicht mehr was man machen soll und wäre es mir lieber wenn das Königliche Landratsamt mir [sic] meines Amtes entheben würde.25

Die häufig vorgebrachte Bitte, des Amtes enthoben zu werden, dürfte die einzige Waffe der Gemeindevorsteher gegen die hohe Arbeitsbelastung gewesen sein. Auch wenn kein einziger Fall belegt ist, in dem ein Landrat dieser Bitte nachgekomme wäre, reichte doch die Rücktrittsdrohung, um in der regionalen Verwaltung die Sorge um die Lage in den Gemeinden aufkommen zu lassen. Auch in der Gemeinde Jütchendorf gab es Schwierigkeiten. Hier hatte der Gemeinde- dem Amtsvorsteher sein Herz ausgeschüttet, der sich daraufhin

24 Bericht des Landrats des Kreises Teltow an den Herrn Regierungspräsidenten in Potsdam: Amtsniederlegung von Gemeindevorstehern und sonstigen Kommunalbeamten, 28.4.1915; BLHA, Rep. 2a I Kom 81, fol. 148 ff. 25 Bericht des Gemeindevorstehers L. aus Christinendorf an den Landrat des Kreises Teltow vom 10.4.1915 (Abschrift); BLHA, Rep. 2a I Kom 81, fol. 149.

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beim Landrat für den „ernste[n], pflichttreue[n] Mann, dem die gewissenhafte Führung seiner Amtes am Herzen liegt“, einsetzte.26 Der Gemeindevorsteher hatte über körperliche Beschwerden geklagt, über „Beklemmungen, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Unruhe und Angstgefühl“. Er sei nicht mehr dazu in der Lage, „die Fülle von Verfügungen und Anordnungen, welche täglich eintreffen, zu übersehen und die Arbeiten mit der Gewissenhaftigkeit durchzuführen, wie mein Pflichtgefühl es mir vorschreibt.“27 Zudem wies er darauf hin, dass er durch die staatlichen Anforderungen zunehmend zwischen die Stühle gerate: Es kommt hinzu, dass die Angehörigen meiner Gemeinde mir die Angaben, welche ich zur Aufstellung der verschiedenen Statistiken brauche, häufig nicht machen, und zwar nicht aus bösem Willen, sondern weil sie selbst nicht imstande sind, die Zahlen zu ermitteln. Wenn ich sie zur Anzeige brächte, um im Wege des Zwanges und der Strafe die nötigen Angaben zu erzielen, so würden m. E. richtige Ziffern auch nicht zu erhalten sein, ausserdem würde mir das Leben in Jütachendorf [sic] dadurch unmöglich gemacht werden.28

Schon vor dem Krieg waren die Gemeindevorsteher als Vermittler zwischen Staat und Dorf auch mal zwischen die Fronten geraten. Die Kriegsbedingungen verschärften diese Situation. Denn einerseits existierte der staatliche Anspruch, im nationalen Interesse in bäuerliche Einzelwirtschaften eingreifen zu dürfen, andererseits wurden harte Strafen angedroht für Verstöße gegen die staatlichen Vorschriften. Der Gemeindevorsteher von Jütchendorf zog aus dieser bedrängenden Situation nur die Schlussfolgerung, dass er, „wenn die Anforderungen in weiterem Masse [sic] weitergehen, nicht mehr in der Lage sein [werde], mein Amt als Gemeindevorsteher zu versehen.29 Der Amtsvorsteher, der diese Klage an den Landrat (und dieser an den Regierungspräsidenten) weiterleitete, betonte, dass es sich hier nicht um einen Einzelfall, sondern um ein strukturelles Problem handle. Aus der Klage dieses sehr gut geeigneten Gemeindevorstehers gehe hervor, dass „von den ländlichen Gemeindevorstehern, die doch nur Volksschulbildung genossen haben, jetzt mehr verlangt wird, als ihnen billigerweise zugemutet werden kann.“30 Hier zeigt sich noch einmal, dass sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Klagen über die Amtsführung der

26 Bericht des Amtsvorstehers in Siethen an den Landrat des Kreises Teltow vom 29.4.1915 (Abschrift); ebd., fol. 150 RS–151, hier 150 RS. 27 Protokoll einer Verhandlung in Siethen (Abschrift), 26.4.1915; ebd., fol. 150 u. RS. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Bericht des Amtsvorstehers in Siethen an den Landrat des Kreises Teltow vom 29.4.1915 (Abschrift); ebd., fol. 150 RS–151.

Mobilisierung

Gemeindevorsteher zum guten Ton in der Bürokratie gehörten, etwas verändert hatte (s. o., Kap. 4.2). Die Landräte und Amtsvorsteher fühlten sich nun für „ihre“ Vorsteher durchaus verantwortlich. Der Landrat des Kreises Teltow war zwar nicht bereit, die Gemeindevorsteher aus ihrem Amt zu entlassen, trat aber trotzdem gegenüber dem Regierungspräsidenten für eine Verbesserung ihrer Lage ein: Ich habe die betreffenden Beamten selbstverständlich darauf aufmerksam gemacht, dass sie wie jeder gute Patriot ihre Pflicht jetzt bis zum äussersten zu erfüllen hätten, und dass von einer Niederlegung ihrer Aemter – soweit diese überhaupt angängig sei – jetzt nicht die Rede sein dürfte. Trotzdem hielt ich es für meine Pflicht, Euer Hochwohlgeboren auf diese Tatsachen aufmerksam zu machen und daran die Bitte zu knüpfen, soweit irgend angängig – auch höheren Ortes – auf Erleichterungen – besonders im Schriftverkehr – hinzuwirken.31

9.1.3

Die Gemeindekasse als Ressource

Während die Anforderungen an die Gemeindeverwaltungen wuchsen und deshalb höhere Entschädigungen für die Schreibarbeiten gezahlt werden mussten, wurden die Gemeinden im Krieg zu absoluter Sparsamkeit angehalten. Das Bayerische Innenministerium stellte schon im August 1914 neue Regeln für die gemeindliche Kassenführung auf: Der Krieg stellt erhöhte Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Gemeinden. Diese müssen daher ihre Barbestände möglichst zu erhalten und zu vermehren suchen. […] Alle Ausgaben, die nicht zur Fortführung des Gemeindehaushalts, zu notwendigen Wohlfahrtseinrichtungen oder zur Beschaffung dringend nötiger Arbeitsgelegenheit unerläßlich sind, werden zu vermeiden oder zurückzustellen sein. Die Gemeinden müssen ihre Geldkraft für Fälle schwerer Not aufsparen.32

Zugleich wurden die Gemeindemittel von staatlicher Seite schnell als mobilisierbare Ressourcen wahrgenommen. Das betraf zum einen die diversen karitativen Zwecke: Die Gemeinden wurden immer wieder dazu aufgefordert, an unterschiedliche Organisationen zu spenden. Die Gemeinde Glasow beschloss noch im Oktober 1914 eine Spende von dreihundert Mark für Kriegszwecke: je hundert Mark für das Rote Kreuz, für warme Unterwäsche und für Kriegsleidende in Ostpreußen. Auch

31 Bericht des Landrats des Kreises Teltow an den Herrn Regierungspräsidenten in Potsdam: Amtsniederlegung von Gemeindevorstehern und sonstigen Kommunalbeamten, 28.4.1915; ebd., hier: fol. 148 u. RS (meine Hervorhebung, AS). 32 K. Staatsministerium des Innern beider Abteilungen 13.8.1914, S. 155.

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Den Krieg, den Frieden regieren

Organisationen wie der „Reichsverband zur Unterstützung deutscher Veteranen“ erhielten eine Spende aus der Gemeindekasse.33 Besonders wichtig – und vor allem langfristig relevant – waren aber in dieser Hinsicht die Kriegsanleihen. Bereits bei der ersten Anleihe, die im September 1914 aufgelegt wurde, forderte die bayerische Regierung die Gemeinden dazu auf, „alle in nächster Zeit zur verzinslichen Anlage bestimmten verfügbaren Mittel der Sparkasse und insbesondere der vermöglichen Stiftungen in dieser neuen 5% Kriegsanleihe des Reiches“ anzulegen.34 So beteiligten sich auch alle untersuchten Gemeinden an einer oder mehreren Kriegsanleihen. Bernried legte im März 1916 etwa die Hälfte des Armenfonds in der vierten Kriegsanleihe an.35 Mahlows Nachbargemeinde Glasow beteiligte sich im September 1915 an der dritten Kriegsanleihe,36 und die Gemeinde Wolxheim zeichnete die sechste bis neunte Kriegsanleihe.37 Insgesamt legte die Gemeinde Wolxheim in den Jahren 1917 und 1918 über 11.000 Mark in Kriegsanleihen an. Dazu kamen noch die Bezahlungen für die abgelieferten Kirchenglocken und Orgelpfeifen,38 die ebenfalls nur als Kriegsanleihscheine ausgegeben wurden. So belief sich die Gesamtsumme der gezeichneten Kriegsanleihen für die Gemeinde Wolxheim auf 15.375 Mark.39 Dafür ging der Gemeinderat an die Rücklagen der Gemeinde: Insgesamt 5800 Mark wurden durch den Verkauf von Wertpapieren mobilisiert. Die restlichen Gelder stammten aus Überschüssen der Vorjahre – Gelder, die eigentlich in den laufenden Gemeindehaushalt eingestellt wurden. Insgesamt zeigt sich folgendes Bild:

33 34 35 36

Protokoll der Glasower Gemeindevertretung, 12.3.1915; KrA-TF, XII.296. Bekanntmachung an die Gemeinde- und Kirchenverwaltungen 15.9.1914. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 2.3.1916; GAB, B2/7, S. 36. Protokoll der Glasower Gemeindevertretung, 21.9.1915; KrA-TF, XII.296. Aus dem Protokoll geht die Zeichnungssumme nicht hervor. 37 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 5.4.1917; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 268; Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 30.9.1917; ebd., S. 272; Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 31.3.1918; ebd., S. 279 f.; Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 6.10.1918; ebd., S. 287. 38 Zum Teil zeichnete die Gemeinde selbst Kriegsanleihen, zum Teil erhielt sie direkt Anteilsscheine von der Kriegsmetall-Aktien-Gesellschaft. Vgl. Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 14.11.1919; ebd., S. 299–301. 39 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 8.1.1922; ebd., S. 332 f.

Mobilisierung

Tabelle 7 Kriegsanleihen der Gemeinde Wolxheim (Beträge in Reichsmark) Verkauf von Wertpapieren 6. Kriegsanleihe (April 1917) 800 7. Kriegsanleihe (September 1917) 2000 8. Kriegsanleihe (März 1918) 3000 9. Kriegsanleihe (Oktober 1918) 6.–9. Kriegsanleihe insgesamt:

Aus Überschüssen des Vorjahres Sonstiges

insgesamt 800

1500

1400

420040

7700

93241

3932

1600

3000 15.432 bzw. 15.37542

Im Jahr 1917 machten die 4300 Mark Kriegsanleihen knapp die Hälfte des Ergänzungsbudgets aus, im Jahr 1918 waren es sogar zwei Drittel. Insgesamt entsprach die Gesamtsumme der gezeichneten Kriegsanleihen 90 Prozent der Ausgaben im Hauptbudget für 1914, also des letzten Hauptbudgets, das vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs festgelegt wurde.43 Es ist kaum festzustellen, ob die Gemeinden nur unter Zwang oder doch freiwillig Kriegsanleihen zeichneten. Nach der Wiedereingliederung 1918/19 forderte der Wolxheimer conseil municipal die in die Kriegsanleihen investierten Summen vom Deutschen Reich zurück, unter anderem mit der Begründung, „dass die Gemeinde Wolxheim nur einem von der deutschen Verwaltung ausgeübten moralischen Zwange folgend Kriegsanleihe [sic] gezeichnet hat“.44 Sozialer und moralischer Druck waren durchaus wichtige Triebkräfte für den Erfolg der Kriegsanleihen, aber das bedeutet nicht, dass es nicht auch patriotische Triebkräfte gegeben hätte, vor allem

40 Kriegsanleihe als Bezahlung für die abgelieferten Kirchenglocken. Vgl. Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 14.11.1919; ebd., S. 299–301. 41 Dieser Betrag wurde angegeben mit „Ertrag aus den Orgelpfeifen“. Dies entspricht auch dem Betrag, der für die abgelieferten Orgelpfeifen im Oktober 1917 gezahlt wurde. Vgl. Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 14.10.1917; ebd., S. 273. 42 Es ist aus den vorliegenden Quellen nicht nachzuvollziehen, wie die Differenz zwischen der rechnerischen Summe und derjenigen, die die Gemeinde im Jahr 1922 zurückverlangte, zustande kommt. 43 Das Hauptbudget für 1914 betrug 12.580 Mark (Einnahmen) bzw. 12.578,59 (Ausgaben). Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 25.1.1914; ebd., S. 241. Es ist nicht ganz einfach, den Anteil der Kriegsanleihen am Gemeindehaushalt zu errechnen. Die Verkäufe von Wertpapieren, die Erlöse aus abgelieferten Glocken und Orgelpfeifen etc. wurden im Haushalt als Einnahmen ins Ergänzungsbudget eingestellt, die Summen für die Kriegsanleihe jedoch als Ausgaben. So erhöhten sich die Einnahmen und Ausgaben der jeweiligen Ergänzungsbudgets durch die Zeichnung der Kriegsanleihen. 44 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 8.1.1922; ebd., S. 332 f.

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für die Gemeinden in Bayern und Preußen.45 Als Wolxheim nach dem Ende des Krieges wieder eine französische Gemeinde geworden war, war es auch angesichts der desolaten Finanzlage des Deutschen Reiches eine sinnvolle Handlungsstrategie für ehemals „reichsländische“ Gemeinden, auf den Druck und Zwang durch die deutsche Bürokratie hinzuweisen und so den eigenen Anteil an der gemeindlichen Mobilisierung herunterzuspielen. Das diente nicht nur der eigenen Exkulpation, sondern auch der Sicherung der finanziellen Interessen.46 Ganz unabhängig von den tatsächlichen Beweggründen ist aber hier noch ein anderer Faktor interessant: In den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg war immer betont worden, dass Gemeinde und Staat, dass kommunale und staatliche Finanzen streng getrennt bleiben müssten. Diese Grenzziehung hatte wichtige Funktionen für die Gouvernementalisierung der Gemeinden, die in diesem Prozess eben nicht nur zu Untereinheiten des Staates, sondern zu eigenständigen Körperschaften geworden waren. Unter den Bedingungen des Krieges verflochten sich jedoch die lokalen Finanzen mit der nationalen Sache. Für diesen Prozess ist es unwichtig, ob das freiwillig oder nur unter Druck geschah. Für die Entstehung einer neuen Form von Staatlichkeit, die als Fiskalstaat auch die Gemeinden einschloss, war das ein wichtiger Schritt. 9.1.4

Nicht nur bares Geld

Die Ablieferungen von Kirchenglocken und Orgelpfeifen stellt ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Mobilisierung (land-)gemeindlicher Ressourcen während des Ersten Weltkriegs dar.47 Mit der „Bekanntmachung betreffend Beschlagnahme, Bestandserhebung und Enteignung sowie freiwillige Ablieferung von Glocken aus Bronze“ vom 1. März 1917 ebnete der Bundesrat den Weg für die Beschlagnahmung von rund 70.000 Kirchenglocken, die nach 1860 gegossen worden waren.48 Von freiwilliger Ablieferung konnte in den meisten Fällen nicht die Rede sein. In der spärlichen Literatur, die es zur Geschichte der Kirchenglocken und Mobilisierung im Ersten Weltkrieg gibt, herrscht die Parallelisierung von Soldaten und Glocken als Opfer des Kriegs vor.49

45 Vgl. Bruendel 2015. 46 Vgl. auch die Bestände in den Archives nationales, Paris (AN) AJ 30/231 zur Rückforderung von Kriegsanleihen durch ehemals „reichsländische“ Gemeinden. 47 Auch in Bernried wurden die Kirchenglocken abgeliefert; vgl. die Presseberichterstattung über die neuen Kirchenglocken, die im Dezember 1929 geweiht wurden. Glockenweihe in Bernried, in: Weilheimer Tagblatt, 29.12.1929 (Pressespiegel); GAB, S1/5,4. 48 Vgl. Sillem 2006, S. 43. 49 Vgl. etwa Thümmel, Kreß, Schumann 2017.

Spannungen und Konflikte

Einige wenige Glocken wurden nach Kriegsende an die Gemeinden zurückgegeben. Die Schätzungen über die Anzahl gehen allerdings stark auseinander.50 Wolxheim erhielt zumindest eine der Glocken zurück. Schon der Wortwahl des Gemeindeschreibers ist anzumerken, welche Bedeutung diese Nachricht für den Gemeinderat hatte: Der maire gibt dem Rate Kenntnis von dem Schreiben des Herrn Inspecteur général des services d’Architecture d’Alsace et de Lorraine in Strassburg vom 12. April 1919, laut welchem von unsern zwei abgelieferten Kirchenglocken die eine, welche zur Zeit noch in Frankfurt lagert, zurückgegeben werden kann.51

Denn sonst schrieb der Protokollant nie „wir“ oder „unsere“, sondern schrieb nur über die „Gemeinde Wolxheim“. Im weiteren Protokoll hieß es, der Rat sei „erfreut über die in Aussicht gestellte Rückgabe“,52 und auch das ist eine eher untypisch emotionale Äußerung im Kontext der Wolxheimer Gemeinderatsprotokolle. Offenbar hatte die Rückgabe der Kirchenglocken also auch eine emotionale Bedeutung für den Wolxheimer Gemeinderat – ganz davon abgesehen, dass es sich bei den Glocken um bedeutsame (und auch teure!) Besitztümer der Gemeinde handelte. Auch hier ist eine Verflechtung noch einmal gesondert zu beachten: Sowohl bei der Ablieferung als auch bei der Wiedergabe der Glocken wurde die Gemeinde adressiert, die gleichzeitig politische und kirchliche Gemeinde war. Die Unabhängigkeit dieser beiden Institutionen, die im Prozess der Gouvernementalisierung der Gemeinden während des 19. Jahrhunderts stets unterstellt und nie gesondert thematisiert worden war, existierte hier nun plötzlich nicht mehr. Und niemanden schien es zu irritieren.

9.2

Spannungen und Konflikte

Ab Kriegsbeginn wurde das Elsass, so König und Julien, sowohl von französischer wie auch von deutscher Seite wie Kriegsbeute behandelt. Beide Regierungen formulierten klare Ansprüche auf das Elsass und Lothringen, und es zeichnete sich bereits ab, dass die zukünftige staatliche Ordnung dort nur wenig mit den Vorstellungen

50 Vgl. Thümmel, Kreß, Schumann 2017, bes. S. 130–133; Sillem (2006) geht von 250 rückgeführten Glocken aus. Diese Zahl dürfte allerdings deutlich zu niedrig sein, insbesondere wenn man sie mit Zahlen in Thümmel, Kreß, Schumann (2017) vergleicht. 51 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 17.4.1919; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 291 f. (meine Hervorhebung, AS). 52 Ebd., S. 292.

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Den Krieg, den Frieden regieren

der Bewohner:innen zu tun haben würde.53 Das galt insbesondere für die Konzepte der politisch zunehmend einflussreichen elsässischen Autonomiebewegung. Doch zunächst einmal befand sich das Elsass unmittelbar im Krieg. Hier, direkt an der Westfront, hatte die Militärverwaltung die zivile Verwaltung abgelöst und regierte zunehmend repressiv.54 Jeder Verweis auf die französische Geschichte des Elsass, auf die Verwendung der französischen Sprache, wurde als unpatriotischer Akt gebrandmarkt. Sogar die Beschriftungstäfelchen in elsässischen Museen mussten nun ausschließlich in deutscher Sprache verfasst sein, und der Schulunterricht wurde deutlich stärker als zuvor nationalisiert – Felicitas von Aretin hat herausgearbeitet, dass der Schulunterricht im Elsass erst mit Kriegsausbruch „in das nationale Fahrwasser“ geraten sei.55 Die Versammlungs- und Pressefreiheit wurden rigoros eingeschränkt;56 vermeintlich illoyale Elsässer:innen wurden verhaftet, was, so König und Julien, von der deutschen Angst vor Spionen „im Innern“ zeugte.57 Auch im Militär wurden elsässische Soldaten diskriminiert, galten sie doch als nicht vertrauenswürdig.58 Diese repressive Politik gegenüber den Elsässer:innen und die unmittelbaren Kriegsbelastungen in den Regionen nahe der Front trugen dazu bei, dass die patriotische Mobilisierung nicht verfing.59 Im Gegenteil, immer mehr, auch ursprünglich pro-deutsch eingestellte Einwohner:innen des „Reichslands“ gingen zur deutschen Verwaltung auf Distanz. Die regionale Identität als Elsässer:innen wurde einflussreicher, der Wunsch nach regionaler Autonomie stärker. Auch auf der Ebene der lokalen Verwaltungen, zumal in den weitgehend elsässisch-deutschsprachigen Landgemeinden wie Wolxheim, schlugen sich diese Spannungen allerdings nicht in den Quellen nieder. Das gilt ebenso für die beiden anderen Untersuchungsgemeinden; auch hier zeugen die lokalen Quellen kaum von den andernorts dokumentierten Konflikten. So gab es, gerade zu Beginn des Krieges, vielfältige Reibungen zwischen unterschiedlichen Verwaltungsinstanzen, die als „Stilfrage“ bezeichnet werden könnten. In dem oben erwähnten ausführlichen Bericht der Regierung von Oberbayern zu den Verwaltungsleistungen im Krieg scheint trotz der grundsätzlich optimistischen Berichtsfärbung durch, dass

53 Vgl. König, Julien 2019, S. 254. 54 Vgl. Carrol 2018, S. 45–47; König, Julien 2019, S. 253. 55 Aretin 1998; ausführlicher zur Germanisierungspolitik während des Ersten Weltkriegs Fischer 2010, S. 106 f. 56 Vgl. Fischer 2010, S. 107. 57 Vgl. König, Julien 2019, S. 253. 58 Allerdings müssen hier auch längerdauernde Prozesse, insbesondere seit der Zabern-Affäre, beachtet werden; vgl. Kramer 1997, S. 105 f.; Fischer 2010, S. 110, wo Fischer vom „vicious cycle of Alsatian ambivalence, German suspicion, German repression, and further Alsatian demoralization“ spricht. 59 Vgl. Kramer 1997.

Spannungen und Konflikte

auch Konflikte zwischen zivilen und militärischen Verwaltungsstellen auftraten. Hier sei es zunächst durch „den in manchen Fällen anfänglich angewendeten Befehlston“ zu Spannungen gekommen; dies widerspreche aber nicht der „Tatsache, daß ein gutes Einvernehmen zwischen den Militär- und Verwaltungsbehörden jederzeit angestrebt wurde.“60 Angeblich beruhigten sich diese Streitereien aber nach den ersten Kriegswochen wieder. Woran aber lag es, dass diese vielfältigen Anlässe für Unzufriedenheit, Streit und Widerstand in den Landgemeinden keinen Eingang in die Quellen fanden? So gab es kaum Orte, wo diese negativen Stimmungen schriftlich hätten artikuliert werden können. Möglicherweise wurden sie auch zu Beginn des Krieges gar nicht, auch nicht mündlich, ausgesprochen. Die Burgfriedensrhetorik der ersten Kriegsjahre trug ebenso wie die enge Bindung der ländlichen Gesellschaften an die nationale und monarchische Ordnung, die in den letzten Jahrzehnten aufgebaut worden war, dazu bei, dass im lokalen Raum die Konflikte nicht offen ausgetragen wurden – zumindest nicht so, dass sie in den lokalen administrativen Quellen ihren Niederschlag gefunden hätten. Erst in den 1920er Jahren, in einem ohnehin viel stärker konflikthaften politischen Klima, wurde das anders. Vorreiter dafür waren bereits während des Ersten Weltkriegs die Organisationen der ländlichen Interessensartikulation, die bereits im 19. Jahrhundert entstanden waren. Sie begannen bereits in den ersten Kriegsjahren, sehr laut die (vermeintlichen) Interessen der ländlichen Bevölkerung zu artikulieren. Allerdings unterschieden sie sich im Stil. So argumentiert beispielsweise Ziemann, dass die christlichen Bauernvereine in Bayern das Protestpotenzial der bäuerlichen Bevölkerung nicht ausgeschöpft hätten, weil sie einerseits zu eng an den monarchischen Staat gebunden, andererseits intensiv in die Zwangsbewirtschaftung der Landwirtschaft eingebunden gewesen seien. Sie waren also keine unabhängige Instanz, die die Politik gegenüber den ländlichen Regionen hätte kritisiere können.61 9.2.1

Ernährungsgewohnheiten

Ein erstes Feld, auf dem die Spannungen zwischen dem Staat und dem ländlichen Raum greifbar wurde, war die Lebensmittelversorgung. In der bereits zitierten Untersuchung über den Gang der Mobilmachung, die in Bayern im Sommer 1915 durchgeführt wurde, konnte die Regierung von Oberbayern bei der Frage der

60 Bericht der Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern, an das Staatsministerium des Innern, hier Frage 11 (Entwurf) (o. D., Herbst 1915); StAM, RA 76711. 61 Dies habe aber nicht zu einer größeren Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung geführt, sondern nur dazu, dass die christlichen Bauernvereine nach dem Krieg keinen Mitgliederzuwachs verzeichnen konnten. Vgl. Ziemann 1997, S. 329.

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Lebensmittelversorgung ihre Überheblichkeit gegenüber der Landbevölkerung nicht verstecken: Die Eingewöhnung der landwirtschaftlichen Bevölkerung in die durch die Einschränkung des Mehlverbrauches geschaffene Lage ist auf Schwierigkeiten gestoßen, wie das bei der Beschränkung der landwirtschaftlichen Kost in Südbayern auf Mehlspeisen und Fleisch und bei den bescheidenen Leistungen unserer Bäuerinnen in der Küche nicht anders zu erwarten war. Nach dem Kriege wird an eine bessere wirtschaftliche Erziehung unserer landwirtschaftlichen Bevölkerung mit allem Nachdruck hinzuwirken sein.62

Bereits während des Kriegs habe die Arbeit zur „gründlichen Belehrung der Bevölkerung über die Volksernährungsfragen“ begonnen, insbesondere „Distriktsverwaltungsbehörden, die Landwirtschaftslehrer und Bezirksgärtner, die Geistlichen und Lehrer und zahlreiche andere Personen“ hätten sich engagiert, etwa indem sie „Vorträge und praktische Anleitungen über den Anbau von Frühgemüsen und Frühkartoffeln, ferner zahlreiche Kochkurse“ abgehalten hatten.63 Wie begeistert die ländliche Bevölkerung über eine solche Belehrung war, insbesondere mit der überheblichen Einstellung, die Bäuerinnen hätten ohnehin nur „bescheidene“ Kochkenntnisse, kann nur vermutet werden. Doch es war nicht nur der herablassende Stil dieser Interventionen, der auf längere Sicht zu unüberbrückbaren Spannungen führte: Es waren auch und vor allem die Intervention von staatlichen Stellen in höchst private Gewohnheiten wie den Speiseplan, die in der ländlichen Bevölkerung die Distanz zum Staat als Regierungsinstanz vergrößerte. An einem ähnlichen Punkt, nämlich den Ess- und damit Lebensgewohnheiten der ländlichen Bevölkerung, setzte auch der Verband der Landgemeinden Bayerns an, wendete die Beobachtungen aber, um die Differenz zwischen Stadt und Land in Spiel zu bringen. Als im Januar 1915 vom Bundesrat eine allgemeine, auch die Produzent:innen betreffende Rationierung von Mehl und Getreide beschlossen wurde, wandte sich der Verband im Februar 1915 an das bayerische Innenministerium mit der Bitte, bei diesen Verteilungsschlüsseln die unterschiedlichen Gewohnheiten in Stadt und Land zu berücksichtigen. Auf dem Land stünden Mehlspeisen traditionell häufig auf dem Speiseplan, während dieser in der Stadt ganz anders aussehe:

62 Bericht der Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern, an das Staatsministerium des Innern, hier: Frage 13 (Entwurf) (o. D., Herbst 1915); StAM, RA 76711. 63 Ebd., Frage 7.

Spannungen und Konflikte

In der Stadt leben die Familien hauptsächlich von Fleisch und Wurstwaren. […] Brot wird von der städtischen Bevölkerung wesentlich weniger als von der Landbevölkerung konsumiert.64

Daher sei ganz klar: „Die erwähnte Anordnung ist für die städtische Bevölkerung vollständig berechtigt“, während für die ländliche Bevölkerung andere Maßstäbe zu gelten hätten. Der Verband der Landgemeinden war hier noch recht zurückhaltend bei der Unterscheidung von Stadt und Land, doch erinnerte er an klassische Ressentiments gegenüber der Stadt: Die Städter, die jederzeit und zu jeder erdenklichen Gelegenheit Fleisch äßen, wurden als dekadent, die bäuerliche Bevölkerung indessen als traditionsgebunden und anspruchslos dargestellt. Solche polarisierenden Kontrastierungen finden sich in vielen administrativen Quellen der Kriegszeit. Da wurden Land und Stadt, unten und oben, das Eigene und das Fremde, einander gegenübergestellt. So unterliefen auch Verbände wie der bayerische Landgemeindeverband die Integrationsrhetorik von Nation und Vaterland, um stattdessen gesellschaftliche Differenzen zu heraufzubeschwören. 9.2.2

Stadt und Land – oben und unten

Nicht nur Stadt und Land wurden hier zum Gegensatz, sondern auch Dorf und Staat. Diese Konfliktlinien verflochten sich auch deshalb im Ersten Weltkrieg besonders stark, weil die staatliche Verwaltung zunehmend eine an den Konsuminteressen orientierte Versorgungspolitik betrieb, statt die Orientierung an den Interessen der agrarischen Produzent:innen weiterzuführen, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem die Landwirtschaftspolitik bestimmt hatte.65 Auch der bereits zitierte bayerische Landgemeindeverband forcierte bereits im ersten Kriegsmonat diese Konfrontation zwischen Land und Nicht-Land, und zwar durchaus aggressiv im Tonfall. In einem Artikel, der sich um die Sammlungen drehte, kritisierte der Verband vor allem, dass diejenigen, die ohnehin schon wenig hätten, wie „arme Arbeiter oder Arbeitersfrauen [sic] […] ihren letzten Pfennig, sogar ihre Eheringe hergeben“. Doch müssten nicht zunächst einmal diejenigen zur Kriegsanstrengung beitragen, die ohnehin mehr als genug hätten? „In Deutschland gibt es viele Tausende gut situierte Einwohner, die in erster Reihe die Hand öffnen sollen, ehe die kleinen Leute zu schwere Opfer bringen.“ „Raucher und Trinker“, „reiche Aktionäre“, „begüterte Reichs- und Kommerzienräte“ und „Damen der

64 Festsetzung von Höchstpreisen und das Ausmahlen des Brotgetreides, in: Der bayerische Bürgermeister 4 (5.2.1915), Nr. 4, S. 42 f. 65 Vgl. Ullmann 1988, S. 144; Ziemann 1997, S. 310; Geyer 1998, S. 46.

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Großstädte“ seien zuerst gefragt, ihren Teil zur Kriegsanstrengung beizutragen – nicht nur mit höheren Abgaben, sondern auch mit einer Veränderung ihrer Konsumgewohnheiten.66 Am Beispiel der Sammlungen trug der Verband zur Polarisierung von Oben und Unten bei. Interessanterweise verortete er die Landbevölkerung gemeinsam mit den Arbeiter:innen auf der moralisch überlegenen Seite. Das war nur einer der Versuche, während des Krieges die „arbeitenden“ Bevölkerungsgruppen zu vereinen.67 9.2.3

Produzent:innen in der Defensive

Die Konfrontation von Konsument:innen und Produzent:innen von Lebensmitteln ist ein wichtiger Aspekt der Geschichte des Ersten Weltkriegs. Landwirte und Lebensmittelhändler, so berichtet Roger Chickering aus Freiburg, waren binnen weniger Wochen nach Beginn der Preisregulierung diejenigen, die am häufigsten vor örtlichen Gerichten angeklagt wurden, weil sie sich nicht an die amtlich festgesetzten Höchstpreise gehalten hatten.68 Das führte zu einer massiven Konfrontation zwischen der staatlichen Verwaltung und den Produzent:innen von Lebensmitteln. In den Landgemeinden selbst realisierte sich dieser Konflikt auf der Ebene zwischen den Händler:innen bzw. Landwirt:innen und der Gemeindeverwaltung, die als unterste Ebene der staatlichen Verwaltung für die Einhaltung der bezirksamtlich festgesetzten Preise zuständig war. Gerade in der öffentlichen Debatte erhoben die agrarischen Interessenvereinigungen ihre Stimme. Der Bayerische Bauernverein etwa fasste bereits im November 1915 in einer Versammlung in München eine Resolution an den Reichskanzler, der die Interessen der deutschen (nicht nur der bayerischen) Landwirtschaft vertreten und erläutern sollte. Die Landwirtschaft werde ungerechtfertigt angegriffen, es werde „eine förmliche Hetze betrieben“. Der Bauernverein beharrte auf seiner patriotischen und unparteiischen Position und trug doch fraglos zur Konfrontation zwischen Erzeuger:innen und Konsument:innen, aber auch zwischen Staat und bäuerlicher Bevölkerung bei:

66 Verbandsmitteilungen, in: Der Bayerische Bürgermeister 3 (25.8.1914), Nr. 24, S. 255–257, hier: S. 255 (Hervorhebungen im Original). 67 Ein anderes schönes Beispiel ist ein Plakat, das in Wolxheim ausgehängt werden musste und das einen Bauern und einen Arbeiter beim Handschlag zeigte. Plakat: Aufruf an die deutschen Landwirte u. Landwirtschaftsfrauen. Vorstand des Deutschen Landwirtschaftsrats, 18.11.1916 (gehangen); ADBR, 8 E 554, Dépôt 2013, Boîte 5 c. 68 Chickering 2009, S. 157.

Spannungen und Konflikte

Wenn es [gemeint ist die vermeintlich ungerechtfertigte Kritik an der Landwirtschaft, AS] fortgesetzt wird, wird es die schlimmsten Folgen tragen. Nicht nur, daß durch die unwahre Darstellung der Verhältnisse eine Verhetzung der Stände sondersgleichen Platz greift, zeitigt sie die überaus große Gefahr, die Arbeitsfreudigkeit der Zurückgebliebenen zu lähmen, und Mutlosigkeit und Verzagtheit hervorzurufen.69

Aufschlussreich ist hier die Selbststilisierung als Opfer – nicht nur als Opfer der üblen Nachrede durch „Hetzartikel“ (im weiteren Verlauf der Resolution wird deutlich, dass sich die Vereine gegen Artikel aus dem „Vorwärts“, der Zeitung der Sozialdemokratie, positionierten), sondern auch als Opfer der Kriegssituation. Im weiteren Verlauf des Krieges kamen zusätzliche Konfliktlinien hinzu. So heizte Georg Heim, einer der wichtigsten Vertreter des Bayerischen Bauernvereins, bereits im Ersten Weltkrieg den Konflikt zwischen Nord- und Süddeutschland an – nach dem Ende des Krieges sollte Heim zu den radikaleren Vertretern des bayerischen Separatismus gehören. Bei ihm überschnitten sich die Abgrenzung von Stadt und Land mit der von Preußen und Bayern: Das Mißverhältnis zwischen Nord und Süd bewies Redner [Georg Heim, AS] an der Tatsache, daß Bayern eine Fleischkarte hat, Preußen keine, daß man in preußischen Städten Geflügel und Eier essen kann, soviel man will, wenn man nur das nötige Geld hat. Wer aber heute mehr verzehrt, als er darf, der schädigt einen anderen, der dadurch weniger bekommt. Das ist nicht die Gleichheit, die wir brauchen.70

Die schwierige Lebensmittelversorgung im Ersten Weltkrieg überschnitt sich nun mit bereits vorhandenen Spannungsverhältnissen: zwischen Bayern und Preußen, zwischen Stadt und Land, zwischen katholischem Milieu und Sozialdemokratie. Auch die Burgfriedensrhetorik konnte diese Konfliktlinien nicht dauerhaft überdecken. So war der Erste Weltkrieg nicht nur eine besondere Krisensituation aufgrund vorhandener Versorgungsengpässe, wegen der bislang beispiellosen Mobilisierung von Menschen und materiellen Ressourcen, sondern auch eine Zeit gesellschaftlicher Konflikte. Die agrarischen Interessenvereinigungen verstanden es in dieser Situation, die ökonomischen und sozialen Konflikte eingängig zu kommunizieren. Nun stand Land gegen Stadt. Dabei waren auch im Ersten Weltkrieg keineswegs alle Produzent:innen von Lebensmitteln im ländlichen Raum angesiedelt und alle Konsument:innen in der Stadt. Doch durch die politische Zuspitzung wurde der Interes-

69 Resolution der Bayerischen Bauernvereine, 22.11.1915 (Abdruck); StAM, RA 57825. 70 Der Christliche Bauernverein zur Lage, in: Neues Münchner Tagblatt Nr. 189, 7.7.1916; ebd. (meine Hervorhebung, AS).

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sengegensatz zwischen verschiedenen sozialen Gruppen sozialräumlich generalisiert und damit zum Stadt-Land-Konflikt gemacht. Das war eng mit Fragen des ländlichen Regierens verbunden. Denn es waren ja nicht nur die Verteilungskämpfe aufgrund knapper Ressourcen, die die Konflikte anheizten, sondern auch die Regierungspraktiken selbst, die zu Abwehr führten. Der Staat mischte sich plötzlich in den Speiseplan ländlicher Haushalte ein oder in die Geschäftspraktiken von Landwirten. Das intensivierte Regieren in der Kriegssituation trug also dazu bei, Konflikte anzufachen.71 Zudem verschoben sich nun bereits die Akteur:innen. Die Gemeindeverwaltungen hielten sich zunächst noch zurück, während die Verbände, die im späten 19. Jahrhundert entstanden waren und sich die Artikulation ländlicher Interessen auf die Fahnen geschrieben hatten, die Gelegenheit nutzten, sich als Kritiker des staatlichen Handelns in Stellung zu bringen. Diese Konfrontationen endeten nicht mit dem Ende des Krieges – im Gegenteil. Sie verstärkten sich über Kriegsende, Revolution und Nachkriegszeit weiter.

9.3

Kriegsende, Revolution und Nachkriegszeit

Am 9. November 1918 riefen Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht kurz nacheinander die Republik aus. Das Deutsche Kaiserreich war damit Geschichte. Und am 11. November unterzeichneten Matthias Erzberger und Ferdinand Foch gemeinsam für Deutschland das Waffenstillstandsabkommen von Compiègne. Nun war auch der Erste Weltkrieg beendet. Binnen weniger Tage waren wichtige Rahmenbedingungen des lokalen Regierens beseitigt. Doch welche Auswirkungen hatten Revolution und Kriegsende auf die Landbevölkerungen in Deutschland? Bösch argumentiert, dass sich die Landbevölkerung hervorragend gegen die revolutionären Arbeiter:innen habe mobilisieren lassen – quasi als Ersatz für den verloren gegangenen äußeren Feind des Krieges. Entsprechend sei für die nächsten Jahre eine innere Front zwischen der Landbevölkerung und den vermeintlich „roten“ Städten entstanden.72 Während dies auf lange Sicht vollkommen zutreffend ist, wie ich im nächsten Kapitel genauer herausarbeiten werde, trifft diese Analyse die unmittelbare Nachkriegszeit im ländlichen Raum höchstens teilweise. Denn nicht alle Landbewohner:innen wehrten die Revolution sofort ab. Gerade in Bayern, so Ziemann, habe die Landbevölkerung die Revolution zunächst durchaus begrüßt, vor allem, weil mit ihr auch der Krieg beendet war.73 Damit sei aber, so Wilhelm

71 Vgl. Moeller 1981. 72 Vgl. Bösch 2000, S. 230 f. 73 Vgl. Ziemann 1997, S. 330.

Kriegsende, Revolution und Nachkriegszeit

Mattes 1921, für viele Landbewohner:innen das Ziel der Revolution bereits erreicht gewesen, eine Systemveränderung strebten die wenigsten an, vor allem die Bäuer:innen nicht. Die Zustimmung zur Revolution speiste sich also in erster Linie aus einer (vom Krieg genährten) Bürokratie- und Monarchieverdrossenheit, nicht aus einer „allgemeine[n] revolutionäre[n] Stimmung“.74 9.3.1

Ruhe und Ordnung

Quellen zur unmittelbaren postrevolutionären Zeit sind für meine Untersuchungsgemeinden kaum vorhanden. Der Gemeindeausschuss in Bernried trat offenbar zwischen September 1918 und März 1919 gar nicht zusammen;75 die Gemeindevertretung von Mahlow arbeitete zwar weiter, doch überdeckten die Inhalte der Sitzungen alle revolutionären Geschehnisse. Am 21. November 1918 standen Punkte wie die Veränderung einer Bauordnung, die Gründung einer Siedlungsgesellschaft und die Erhebung eines Teuerungszuschlages der Berliner Städtischen Elektrizitätswerke auf der Tagesordnung.76 Am 18. Dezember tauchte im Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung allerdings ein neuer Name auf. Der Obmann des Arbeiterrats, Ernst Bonsels, nahm erstmals an einer Sitzung teil.77 Vorerst bleibt das aber der einzige Hinweis auf die neue Ordnung. Zunächst scheint der Schluss, dass die Revolution im ländlichen Raum „kaum stattgefunden habe“, also richtig zu sein.78 Auf der Verwaltungsebene war das so gewollt. Die staatlichen Behörden bemühten sich um Kontinuität und appellierten an die lokalen Amtsträger, auf dem Posten zu bleiben, um die Situation in den Städten und Gemeinden nicht zu verschärfen. Vor allem sorgten sich die Beamten um die Lebensmittelversorgung: Die Bezirksämter und Gemeindeverwaltungen haben [...] die Pflicht, jeden einzelnen darauf hinzuweisen, daß nur hingebungsvollste Arbeit Land und Volk retten kann. Diese Arbeit hat mit der politischen Anschauung des einzelnen nichts zu schaffen. Jeder einzelne hat darunter zu leiden, wenn die Kartoffeln im Erdboden verfaulen, die Wintersaat nicht bestellt, die Lieferungspflicht nicht peinlich erfüllt wird.79

74 Mattes 1921, S. 61–64. 75 Zumindest sind für diese Zeit keinerlei Protokolle im entsprechenden Buch enthalten: Vgl. GAB, B2/7. 76 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 21.11.1918; KrA-TF, XII.295, S. 22 f. 77 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 18.12.1918; ebd., S. 23–26. 78 Bösch 2000, S. 227. 79 Regierung des Freistaats Bayern, Aufruf, in: Amtsblatt des Königlichen Bezirksamtes Weilheim 51 (20.11.1918), S. 191.

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Auch die sozialdemokratische Regierung bemühte hier den bekannten Topos vom apolitischen Bauern. Landwirtschaftliche Arbeit und Politik, das sollten zwei getrennte Welten bleiben. Auch an anderen Stellen zeigen sich Parallelen zu den Aufrufen zu Kriegsbeginn. Bezirksämter und Gemeindeverwaltungen sollten vor Ort für Sicherheit und Ordnung sorgen: Bezirksämter und Gemeindeverwaltungen dürfen nicht warten, bis Anordnungen der Regierung kommen, sondern müssen diesen Schutz sofort selbst in die Hand nehmen. Es ist notwendig, daß die Vorkehrungen schon getroffen sind, ehe die Gefahr eintritt; sie können nicht in letzter Minute geschaffen werden.80

Die Regierung warnte vor Plünderungen und Aufständen angesichts einer ungeordneten Demobilmachung. Auch der Verband der Landgemeinden appellierte an seine Mitglieder in den Dörfern, „das Schrecklichste zu vermeiden: das allgemeine Chaos“.81 Dieses Ziel hatten auch zwei neue Institutionen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit geschaffen wurden: die Einwohnerwehren und die Bauernräte. Das Weilheimer Tagblatt berichtete am 20. November 1918 darüber, dass in Bernried eine Bürgerwehr gegründet worden sei82 – sogar noch vor dem offiziellen Aufruf des Freistaats, solche Wehren ins Leben zu rufen.83 Wie lange es diese Einwohnerwehr gab, wer ihr angehörte und wie sie tätig wurde – darüber gibt es weder in der gemeindlichen noch in der staatlichen Überlieferung irgendwelche Quellen. Doch trotzdem wissen wir einiges über diese Organisationen. Der Freistaat forcierte die Gründung von Bürgerwehren, um Sicherheit und Ordnung auf dem Lande zu gewährleisten. Einerseits sollten die Wehren abschreckend auf mögliche Unruhestifter wirken, andererseits die lokale Bevölkerung beruhigen, indem signalisiert wurde, dass sie möglichen Gewalttaten nicht schutzlos ausgeliefert wäre. Die staatlichen Stellen setzten darauf, dass die Bürger- oder Einwohnerwehren möglichst schnell normalisiert und in die staatliche Ordnung integriert werden sollten. Im offiziellen Aufruf im Amtsblatt des Bezirksamts Weilheim wurden praktische Umsetzungstipps gegeben: Die Feldzeugmeisterei sollte bei der Bewaffnung der Wehren helfen, und das Amt riet den Gemeindeverwaltungen

80 Ebd. 81 Die Vorstandschaft des Verbandes der Landgemeinden Bayerns, An die Verbandsmitglieder, in: Der bayerische Bürgermeister. Verwaltungsblatt für die Stadt- und Landgemeinden Bayerns 7 (1918), S. 246. 82 Vgl. Weilheimer Tagblatt, 20.11.1918, in: Zur neueren Geschichte Bernrieds. Was die Zeitungen berichteten (Pressespiegel); GAB, S 1/5,3. 83 Bekanntmachung 27.11.1918.

Kriegsende, Revolution und Nachkriegszeit

dazu, für die Angehörigen der Einwohnerwehren kollektive Unfallversicherungen abzuschließen.84 In vielen Gemeinden war es schwer, Mitglieder für die Einwohnerwehren zu rekrutieren. Zwar riet das Ministerium dazu, der Einfachheit halber die zurückgekehrten Soldaten, die Feuerwehrmänner und die Mitglieder der Krieger- und Veteranenvereine in den Bürgerwehren zusammenzuschließen. Doch vor allem die gerade demobilisierten Soldaten hatten offenbar wenig Lust, sich direkt in die nächste militärähnliche Struktur einzufügen.85 Das Bezirksamt riet den Gemeinden, die keine Freiwilligen fanden, dazu, Gemeindedienste anzuordnen, um „lichtscheues und plünderungslustiges Volk von der Gemeindemarkung fernzuhalten.“86 Nach gewissen Anlaufschwierigkeiten verbreiteten sich die Einwohnerwehren in Bayern stark, vor allem im ländlichen Raum. Kurz vor der Auflösung der Einwohnerwehren im Frühjahr 1921 wurden fast 350.000 Wehrmänner gezählt. Sie waren eine konservative Machtressource in den Kämpfen der Frühzeit des Freistaats Bayern.87 In den Dörfern hatten sie offenbar einigen Einfluss, da sie sich in der Regel aus den besitzenden Gruppen des Dorfes rekrutierten und deren Interessen vertraten.88 Während es in den meisten bayerischen Gemeinden einen Bauernrat gab, der auf Anordnung von oben gebildet und meist aus dem Gemeindeausschuss oder dem Christlichen Bauernverein besetzt wurde, gab es offenbar in Bernried einen Arbeiter- und Soldatenrat – zumindest ist in der Meldung im Weilheimer Tagblatt, in dem auch über die Einwohnerwehr berichtet wurde, von einem solchen die Rede. Doch darüber hinaus gibt es keinerlei Nachweise, die dessen Existenz belegen oder gar genauer darüber Auskunft geben, wer Mitglied in diesem Gremium war, wie lange es existierte und Ähnliches. Auch in Mahlow gab es einen Arbeiterrat,89 über den wir nur wenig besser unterrichtet sind. Ernst Bonsels nahm als Mitglied des Arbeiterrats an den Sitzungen der Gemeindevertretung teil.90 Die Kooperation war offenbar problemlos; so bewilligte die Gemeindevertretung sogar Tagegelder für die Mitglieder des Arbeiterrats, wenn diese außerhalb Mahlows ihre Aufgaben 84 Ebd. 85 Auch die freiwilligen Feuerwehren kämpften in der Nachkriegszeit mit diesem Problem. Vgl. Ziemann 1997, S. 403. 86 Recht, E., Im Volksstaat Bayern, in: Der bayerische Bürgermeister. Verwaltungsblatt für die Stadtund Landgemeinden Bayerns 7–8 (25.11.1918; 15.12.1918; 25.12.1918; 5.1.1919; 15.1.1919), 259–262; 271–273; 279–280; 7–8; 14, hier: S. 279. 87 Vgl. Ziemann 1997, S. 405. 88 Vgl. ebd., S. 408 f. 89 Ob der Mahlower Rat ein Landarbeiter- oder ein Arbeiterrat war, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Zur Problematik der Landarbeiterräte gegenüber den Bauernräten vgl. Muth 1973, S. 15–19. 90 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 31.1.1919; KrA-TF, XII.295, S. 29 f.

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wahrnehmen mussten.91 Bonsels als Obmann wurde aktiv in die Sitzungen der Gemeindevertretung einbezogen, und er brachte Themen von allgemeinem Belang auf die Tagesordnung. Er wurde offenbar schnell als normales Mitglied der Gemeindevertretung anerkannt, wurde er doch in eine Ad-hoc-Kommission gewählt, um mit der Gemeindeverwaltung Lichtenrade zu verhandeln.92 Er war aber auch derjenige, der die Schaffung eines kommunalen Sicherheitsdienstes anregte.93 Bonsels blieb über die Nachkriegszeit hinaus in der Gemeindevertretung, vermutlich bereits ab der Gemeindevertretungswahl 1919 als Verordneter für die SPD. Dies spricht für eine unbürokratische und unproblematische Integration in die Gruppe derjenigen, die die Gemeindepolitik unter sich ausmachten. 9.3.2

Eine neue politische Sprache?

Kaum etwas deutet darauf hin, dass sich mit Kriegsende und Revolution die Regierungsweisen im ländlichen Raum merklich verschoben hätten. Lediglich ein Quellenfund verlangt etwas genaueres Hinschauen: Ein Landarbeiter aus Bernried bat den lokalen Armenrat im Januar 1921 um Unterstützung. Er und seine Frau seien krank und deshalb arbeitsunfähig. Eine einmalige Hilfe von hundert Mark werde die ärgste Not seiner sechsköpfigen Familie lindern. Doch der Armenrat war nicht bereit, diese Summe zu bezahlen – so weit, so erwartbar, hatte sich doch auch in der Vergangenheit der lokale Armenrat nur selten unmittelbar großzügig gezeigt.94 Ungewöhnlich wurde die Angelegenheit durch die Begründung und das (geplante) weitere Vorgehen. In beinahe revolutionärer Diktion beschloss der Armenrat, der immer noch aus den gleichen Personen bestand – dem Pfarrer Johann Götz, dem Bürgermeister Johann Schmid, dem Beigeordneten Mathias Wörle etc. – sich sofort an die Scharrer’sche Gutsverwaltung zu wenden mit dem Appell, diese müsse sich um den erkrankten Arbeiter W. kümmern: Die Söldner v. Bernried u. die übrigen nicht begüterten Einwohner unseres kleinen Dorfes dürfen wir nicht verpflichten, die kranken, ausgedienten Arbeiter der Großgrundbesitzer zu ernähren.95

Eine solche Wortwahl, vor allem aber eine solch explizite Grenzziehung zwischen den „Großgrundbesitzern“ und den Einwohnern Bernrieds habe ich weder vorher 91 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 18.12.1918; ebd., S. 23–26. 92 Ebd. 93 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 8.1.1919; ebd., S. 27–29. Auch in Mahlow war also die Schaffung einer Einwohnerwehr eng mit dem lokalen Arbeiterrat verbunden. 94 Vgl. Kap. 7.1. 95 Protokoll des Bernrieder Armenrats, 30.1.1921; GAB, B33/1.

Kriegsende, Revolution und Nachkriegszeit

noch nachher im Beschlussbuch des Armenrats gefunden, auch nicht in anderen Unterlagen der Wohlfahrtspflege. Allerdings speiste sich diese Taktik des Armenrats möglicherweise gar nicht aus der Revolution und ihrer neuen politischen Sprache. Denn der Armenrat zog eine Grenze zwischen den „kleinen Leuten“, den Söldnern und sonstigen nicht begüterten Einwohnern Bernrieds auf der einen Seite, den „Großgrundbesitzern“ auf der anderen Seite. Eine Solidarisierung der „einfachen“ Einwohner Bernrieds mit der armen Familie war das jedoch nicht. Der antragstellende Landarbeiter selbst blieb außen vor, denn ihm wurde weiterhin nicht geholfen. Die Abgrenzung der Gemeinde „nach oben“ war, so vermute ich, weniger eine Wirkung der Revolution als vielmehr des Krieges mit seinen sozialen Polarisierungen. Auch eine andere Erklärung für das Verhalten des Armenrats lässt sich lediglich herleiten, nicht aber beweisen. Das Gut gehörte seit 1914 nicht mehr der Familie von Wendland, sondern dem Ehepaar Scharrer-Busch. Die beiden gehörte zwar zu den großen Gönnern der Gemeinde, behielten aber trotzdem eine randständige Position in der Gemeinde (s. u., Kap. 10.4). Meinte der Bernrieder Armenrat nun, die „Fremden“, besonders die Amerikanerin, die ihren Reichtum ungebremst zur Schau zu stellen pflegte, sollten sich selbst um „ihre“ Armen kümmern? Zumindest ist fraglich, ob der Armenrat auch gegenüber der Wendland’schen Gutsverwaltung so wenig respektvoll gehandelt hätte. Allerdings blieb der Beschluss des Armenrats folgenlos. Drei Wochen später trat die Ehefrau des erkrankten Tagelöhners W. vor den Armenrat und bat erneut um Hilfe, die diesmal ohne weitere Umstände gewährt wurde.96 Das Protokoll lässt an keiner Stelle erkennen, dass es sich bereits um die zweite Befassung mit dieser Familie handelte. Sie wurden nun behandelt wie jede andere arme Familie auch.97 9.3.3

Inflationszeiten

Die Erfahrung der Revolution und des Kriegsendes scheinen also an den politischen Praktiken im ländlichen Raum nicht merklich etwas geändert zu haben. Längerfristig führten die neuen Gemeinderatsmitglieder und das veränderte Wahlrecht zu einem neuen Stil im Lokalen (vgl. Kap. 10). Und möglicherweise war es zudem die Krisenperiode zu Beginn der 1920er Jahre, die in der Hyperinflation gipfelte, die die Gemeindepolitik besonders prägte.98

96 Protokoll des Bernrieder Armenrats, 20.2.1921; ebd. 97 Möglicherweise gelang die „Überweisung“ an die Gutsverwaltung auch deshalb nicht, weil W. nie Tagelöhner dort gewesen war; spätere Einträge lassen den Schluss zu, dass W. erkrankte, als er noch in Tutzing arbeitete. Protokoll des Bernrieder Armenrats, 12.11.1922; ebd. 98 Grundlegend dazu Geyer 1998.

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In diesen Jahren konnten sich diejenigen Gemeinden glücklich schätzen, die noch über gemeindliche Ressourcen jenseits von Finanzmitteln verfügten. Mahlow gehörte nicht dazu. Zudem war die Gemeinde inzwischen gewachsen und hatte in Infrastrukturen investiert, die erhalten werden mussten. Die Gemeinde beschäftigte außerdem diverse Mitarbeiter:innen – die Sekretärin und einen Lehrling im Gemeindebüro, den Gemeindediener, außerdem drei Lehrer:innen und die Handarbeitslehrerin der Volksschule sowie eine Putzkraft. Dazu kamen noch die Entschädigungszahlungen für den Gemeindevorsteher und den Kassierer. Die Hyperinflation wurde zu einem ernsthaften kommunalen Problem, das mehr schlecht als recht mit ständigen kommunalen Steuererhöhungen, dem Zwang zur Vorschuss-Steuerzahlung sowie Anleihen bei der Kreissparkasse bewältigt werden konnte. Die Rückkehr zu Tausch- oder Naturalwirtschaft war in der Währungskrise für die Gemeinden nicht zu bewerkstelligen. Dafür waren sie zu stark in die administrative Geldwirtschaft eingebunden. Sie mussten bare Geldbeträge an diverse Stellen abführen und waren Zahlungsverpflichtungen eingegangen. Auch die sozialen Lasten der Gemeinde stiegen deutlich an, denn viele Einwohner:innen konnten sich, zumal in einer Vorortgemeinde wie Mahlow, kaum noch auf Strategien wie Selbstversorgung und Tauschwirtschaft zurückziehen.99 Neben den steigenden Soziallasten und Lohnkosten war auch die ständige Erhöhung des Gaspreises ein präsentes Thema in der Gemeindevertretung. Denn das Gas brauchte die Gemeinde, um damit die Straßen und die Schule zu beleuchten. Die Gemeindevertretung suchte Sparpotenziale. In mondhellen Nächten sollte die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet werden; die Gemeindeverwaltung, sprich der Gemeindevorsteher, sollte darüber entscheiden, wann eine Nacht „mondhell“ war.100 Die Abendveranstaltungen in der Schule wurden eingestellt oder die Gaskosten den Teilnehmer:innen in Rechnung gestellt. So wurde sogar der Unterricht der ländlichen Fortbildungsschule, der sonst in der Woche abends stattfand, auf Sonntagvormittag zwischen acht und zwölf – immerhin parallel zum Gottesdienst – verlegt, um Gas zu sparen.101 Außerdem mobilisierte die Gemeinde alle nicht-monetären Ressourcen, die es noch gab. So hatte die Gemeinde noch aus der unmittelbaren Nachkriegszeit Hülsenfrüchte eingelagert, die nicht mehr verteilt worden waren, die nun zu einer milden Spende für den „Ruhrkampf “ wurde.102 Und nachdem die Putzkraft der

99 Vgl. Büttner 2010, S. 394. 100 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 29.12.1922; KrA-TF, XII.295, S. 136 f. 101 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 27.10.1923; ebd., S. 150 f. Diese Sparmaßnahmen lese ich im Herbst 2022 während der Überarbeitung dieses Textes noch einmal mit ganz anderer Aufmerksamkeit, denn auch derzeit werden solche Maßnahmen aufgrund der Energiekrise eingeführt. 102 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 5.2.1923; ebd., S. 138 f.

Vom „Reichsland“ zur République française

Schule schon vier Lohnerhöhungen bekommen hatte, beschloss die Gemeindevertretung kurzerhand, ihr mietfreies Wohnen im alten Schulhaus anzubieten.103 Auch die Entschädigung des Gemeindekassierers Otto Brandt wurde von einer baren in eine naturale Entschädigung umgewandelt: Für seine Dienste, die sicher in der Inflationszeit noch einmal erheblich umfangreicher geworden waren, überließ die Gemeindevertretung ihm nun ein zwei Morgen großes Stück des verbliebenen Gemeindelandes.104 Auch die Bernrieder waren in den ersten Jahren der Weimarer Republik voll und ganz von den Problemen der Geldentwertung in Anspruch genommen. So trat im Jahr 1923 die Gemeindevertretung von Bernried ganze 16 Mal zusammen, um über 19 Angelegenheiten zu beschließen. Alleine sechs Mal ging es um Mieterhöhung in gemeindlichen Wohnungen, um die Zahlungen der Geldentwertung anzupassen, und auch diverse andere Abgaben und Gebühren mussten permanent erhöht werden. Andere Themen rückten demgegenüber in den Hintergrund.105 Während die Gemeinden Mahlow und Bernried also vor allem mit der Bewältigung des Übergangs vom Krieg zum Frieden zu kämpfen hatten, war die Situation in Wolxheim noch einmal anders. Denn hier stand eine größere Veränderung an.

9.4

Vom „Reichsland“ zur République française

Seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs war in Paris darüber nachgedacht worden, wie das Elsass in Zukunft regiert werden sollte. Denn dass das „Reichsland Elsass-Lothringen“, dass die „verlorenen départements“ wieder ins Mutterland zurückkehren sollten, stand für die französische Regierung außer Frage. Anfang 1915 gründete die Regierung in Paris die „Elsass-Lothringen-Konferenz“, die darüber beratschlagen sollte, wie die Reintegration ablaufen sollte.106 9.4.1

Kriegsende

Im „Reichsland“ selbst war in den letzten Kriegswochen ebenfalls einiges in Bewegung geraten. Zum ersten Mal überhaupt kam ein elsässischer Statthalter in Straßburg ans Ruder, und die elsässischen politischen Parteien mussten entscheiden, wie sie sich zu dieser Regierung zu verhalten wollten. Auch in Straßburg gab es eine Revolution, und noch am 12. November debattierte der neu gegründete Nationalrat darüber, ob und wie eine Eingliederung nach Frankreich stattfinden 103 104 105 106

Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 16.3.1923; ebd., S. 142 f. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 24.8.1923; ebd., S. 148. Vgl. dazu die Protokolle des Bernrieder Gemeindeausschusses; GAB B2/7, S. 101–119. Vgl. Carrol 2018, S. 45–48; König, Julien 2019, S. 249–255.

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sollte. Doch die Debatten wurden, wie Fischer schreibt, von den Ereignissen praktisch überholt.107 Keineswegs einstimmig, doch überwiegend positiv, wurden die französischen Truppen einige Tage später im ehemaligen „Reichsland“ begrüßt. Allerdings waren nicht alle Elsässer:innen von einer tiefen Loyalität zum französischen Mutterland getragen. Aber die französischen Soldaten standen für Ordnung statt revolutionärer Unruhe und für das lang ersehnte Ende des Kriegs. Vor allem aber waren sie nicht deutsch,108 hatte sich doch die deutsche Verwaltung und vor allem die Militäradministration mit einer deutlich strengeren Nationalisierungspolitik während des Krieges bei der Bevölkerung sehr unbeliebt gemacht.109 Nun waren Tatsachen geschaffen. Zunächst mit dem Waffenstillstands-, später dann auch mit dem Versailler Vertrag, wurde auch formal geregelt, dass die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland wieder auf den Zustand vor Juli 1870 zurückgesetzt wurde; Elsass und Lothringen gehörten wieder zu Frankreich.110 Insgesamt kühlte sich die Begeisterung in der Bevölkerung recht bald ab. Ein Polizeibericht vom Frühjahr 1920 formulierte das Problem eher vorsichtig: Si les Alsaciens ne sont plus animés des mêmes transports d’allégresse qu’ils ont manifestés dans les premiers fois qui ont suivi le retour de l’Alsace à la France. Ils sont néanmoins heureux de vivre sous un régime de liberté qu’ils n’avaient jamais connu sous le joug germanique. Leur assimiliation à ce nouveau régime s’effectue lentement, avec hésitations, mais sincèrement.111

Aus diesem kurzen Ausschnitt des Stimmungsberichts der Strasbourger Polizei wird bereits deutlich, dass die Franzosen, die nun im Elsass wieder für die Führung der Geschäfte zuständig waren, mit einem einfacheren Verlauf der Wiedereingliederung des Elsass (und Lothringens) in das französische Mutterland gerechnet hatten. Doch die Jahre der Trennung waren auch Jahre der Imagination gewesen. Im Elsass hatten sich einige Gruppen weiterhin Frankreich zugehörig gefühlt – allerdings dem katholisch-monarchischen Frankreich vor 1871, das nun schon lange nicht mehr existierte. Und umgekehrt hatten die „verlorenen Provinzen“ in der französischen politischen Kultur eine solch große Rolle gespielt, dass darüber ausgeblendet wurde, dass sich das Elsass und Lothringen in den fast fünfzig Jahren ebenfalls stark gewandelt hatten. So mussten nach 1918 die langjährigen Gewissheiten über den jeweils anderen Partner erst in einem mühsamen und konflikthaften Prozess an 107 108 109 110 111

Fischer 2010, S. 119. Ebd., S. 119–121. Vgl. Aretin 1998. Friedensvertrag v. Versailles 1919 (1925), Art. 51. Polizeidirektion Strasbourg: Bericht an das Innenministerium: État des Esprits en Alsace, 1.5.1920; AN F 7/13377.

Vom „Reichsland“ zur République française

die konkreten Interaktionserfahrungen angeglichen werden.112 Zwar hatten große Teile der Bevölkerung nach der deutschen Annexion weiterhin Verbindungen nach Frankreich gepflegt,113 doch einige Neuerungen, die in der Zwischenzeit in Frankreich eingeführt worden waren, lehnten doch viele Elsässer:innen ab. Besonders galt das für den Laizismus der Französischen Dritten Republik (s. u., Kap. 10.1). Die französische Verwaltung hingegen haderte damit, dass sich die politisch aktiven Elsässer:innen, die in der Zeit des Reichslandes gewisse Autonomierechte erkämpft hatten, der zentralistischen Dritten Republik nicht einfach unterordnen wollten. So war es vor allem die seit den 1890er Jahren aufgeblühte elsässische Autonomiebewegung, die die Wiedereingliederung für die französische Verwaltung und Politik enorm erschwerte.114 Von diesen Entwicklungen nach November 1918 finden sich nur wenige Spuren in den Dokumenten mit Bezug auf die Wolxheimer Gemeindeverwaltung; allerdings liegt das auch daran, dass die Überlieferung der vorgesetzten Verwaltungsbehörden für die Zeit ab 1918 besonders schlecht und chaotisch ist.115 Das hat nicht nur etwas mit der Archivierung des Materials, sondern auch mit der unübersichtlichen Lage in den ersten Monaten und Jahren nach Kriegsende zu tun – insbesondere war der militärische Belagerungszustand, der die zivile Administration entmachtete, bis Herbst 1919 in Kraft.116 Trotzdem gibt es Hinweise darauf, wie sich die Wiedereingliederung des ehemaligen Reichslands auf das lokale Regieren auswirkte. 9.4.2

Ruhe auf dem Land?

Wie schon die Annexion durch das Deutsche Reich hinterließ die „Rückkehr“ nach Frankreich erstaunlich wenig Spuren in den Gemeinderatsprotokollen. Die kommunalen Strukturen blieben zunächst erhalten, auch das kommunale Personal in Wolxheim blieb weitgehend im Amt: Lediglich drei Gemeinderäte wurden bei der Kommunalwahl von 1919 ausgetauscht, und auch der bereits im März 1918 ernannte Bürgermeister Josef Hohl blieb bis 1927 Wolxheimer maire.117 Auffällig ist 112 „Maladresses psychologiques, d’une part, insertion difficile, d’autre part, dans un univers idéologique et culturel auquel l’Alsace a été étrangère pendant un demi-siècle. L’image que chaque partenaire découvre de l’autre n’est pas tout à fait conforme à celle dont il avait rêvé.“ Mayeur 1986, S. 80; vgl. König, Julien 2019, S. 255. 113 Zur Verbindung während der Reichsland-Zeit vgl. Carrol 2018, S. 38. 114 Vgl. Fischer 2010, S. 136–142. 115 Vgl. dazu Fisch 2000. 116 Fisch 1997b, S. 383–385. 117 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 19.3.1918; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 278. Im Protokoll ist vermerkt, Josef Albert Scharsch sei freiwillig ausgeschieden. Unterlagen dazu gibt es nicht.

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lediglich die relativ lange Sitzungspause des Gemeinderats – am 3. November 1918 hatte der Rat noch eine Teuerungszulage für die Schulschwestern und eine Erhöhung des Sprunggeldes für den gemeindlichen Zuchtstier beschlossen.118 Erst am 16. Februar 1919 wurde wieder ein Beschluss ins Protokollbuch eingetragen, als der Gemeinderat die Fronen für die Vizinalwege für 1919 festgelegte, also einen Standardbeschluss fasste.119 Ab diesem Datum tagte der conseil municipal wieder regelmäßig. Im Oktober 1920 beschloss der Wolxheimer Gemeinderat, die Straße im Hauptort Wolxheim, die bislang „Pfannenstiel“ geheißen hatte, in „Rue Jeanne d’Arc“ umzubenennen. Es handelte sich keineswegs um eine kleine Straße, sondern um die Gemeindestraße, die von der Landstraße aus einmal von Osten nach Norden in den Ort bis zur Kirche führte. Der Beschluss fiel einstimmig, auf Antrag der Bewohner der Straße120 und anlässlich des 1920 eingeführten nationalen Feiertags, der „fête nationale de Jeanne d’Arc et du patriotisme“.121 Es handelte sich um ein hochgradig symbolisches Handeln der Gemeinde. Zumindest die einflussreichen Wolxheimer waren offenbar mit der Rückkehr des Elsass nach Frankreich mehr als einverstanden, das kann man aus diesem Beschluss ableiten. Jeanne d’Arc als Nationalsymbol war allerdings nicht konkurrenzlos; gerade Republikaner:innen bevorzugten nun, anders als noch im 19. Jahrhundert, in der Regel die Marianne als nationale Verkörperung, während die Jungfrau von Orléans eher in patriotischen und katholischen Kreisen beliebt war – 1920 war die „Jungfrau von Orléans“

118 Es ist selbstverständlich möglich, dass der Gemeinderat absichtlich jede Aktivität so lange zurückstellte, bis die Lage wirklich geklärt war. Eine solche Strategie ist beim Mahlower Gemeinderat zu erkennen, der – allerdings zu einem anderen Zeitpunkt – seine Sitzung vertagte, „bis zur Klärung der gegenwärtigen politischen Lage“. Hintergrund war hier, am 20. März 1920, offenbar der KappLüttwitz-Putsch, der zwischen dem 13. und dem 17. März 1920 die Republik in Atem gehalten hatte, dann aber mit der Flucht von Kapp nach Schweden praktisch beendet war, wenn auch offenbar nicht in den Augen des Mahlower Gemeinderats. Ich glaube allerdings nicht, dass sich nur aus diesem Hinweis eine grundsätzliche Sympathie des Gemeinderats für den Putschversuch ableiten lässt. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 20.3.1920; KrA-TF, XII.295, S. 60. 119 Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 16.2.1919; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 289. Die Fronen waren lediglich für die Vizinalstraßen, nicht für die -wege, abgeschafft worden. S. o., Kap. 7.3. 120 Es gibt kein Adressverzeichnis von Wolxheim für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Wenn man allerdings die zentrale Lage der Gebäude beachtet und entsprechend davon ausgeht, dass kaum neu gebaut worden sein dürfte, dann verrät auch das Verzeichnis von 1856 einiges über die Bewohnerschaft der Straße; dort lebten Teile der Familien Widt, Scharsch, Jungbluth und Joessel. Vgl. Dénombrement de la Population 1856. État nominatif des habitants de la commune de Wolxheim; ADBR, 8 E 554/43. 121 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 30.10.1920; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 312.

Vom „Reichsland“ zur République française

heiliggesprochen worden.122 Während die Symbolik der Jeanne d’Arc um 1900 eine große Rolle in der Vorstellung der deux France, des katholisch-ländlichen auf der einen Seite, des republikanisch-metropolitanen Frankreichs auf der anderen Seite, gespielt hatte, hatte der Erste Weltkrieg dazu geführt, dass die Jungfrau von Orléans nicht mehr so eine kontroverse Figur war.123 Winnock argumentiert sogar, dass die Symbolik der Jeanne d’Arc sich zunehmend dazu eignete, eine Brücke zwischen republikanischen und katholisch-monarchischen Lagern zu bauen.124 Die Symbolik hatte zudem ihre Grenzen: Zwar wurde die Umbenennung durchgeführt (bis heute heißt die Straße so), doch offenbar war noch längere Zeit auch der alte elsässische Name in Gebrauch. Als im November 1925 ein Beschluss gefasst wurde, diverse Gemeindewege zu sanieren, hieß es, auch „Pfannenstiel (rue Jeanne d’Arc)“ gehöre dazu.125 Dieser symbolische Akt des Wolxheimer conseil municipal deckt sich mit anderen Hinweisen darauf, dass die Bewohner:innen der ländlichen Gemeinden im Elsass der „Rückkehr“ nach Frankreich insgesamt positiv gegenüberstanden.126 Das galt jedoch nicht für alle Elsässer:innen. Die Gegner:innen der Wiederangliederung, zum Beispiel Sozialist:innen oder die Initiativen des Grafen Rapp, aus dem deutschen (nun) Ausland eine neutrale Republik Elsass-Lothringen ins Leben zu rufen,127 waren vor allem urbane Bewegungen. So wundert es denn auch nicht, dass die Stimmungsberichte der Strasbourger Polizei sich auf Vorkommnisse in den Städten konzentrierten. Die Situation auf dem Land hingegen erschien den Beobachtern der Polizei vollkommen unproblematisch, denn: „Il [der Bauer, AS] est naturellement hostile à tout projet de manifestation socialiste.“128 Auch andere radikale Richtungen könnten auf dem Land nicht Fuß fassen.129 Auch die politische Polizei nahm an, dass die bäuerliche Bevölkerung vornehmlich unpolitisch sei.

122 123 124 125 126 127

128 129

Vgl. Krumeich 2021, S. 243. Vgl. ebd., S. 242–245. Vgl. Winock 2005. Protokoll des Wolxheimer Gemeinderats, 22.11.1925; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 408. Polizeidirektion Strasbourg: Bericht an das Innenministerium: État des Esprits en Alsace, 1.5.1920; AN F 7/13377. Vgl. etwa das Flugblatt von September 1919: Elsässer, Lothringer! mit 15 Forderungen für die Autonomie von Elsass-Lothringen und gegen den französischen „Imperialismus“ und „Kapitalismus“; ebd. Mayeur (1986) schätzt diese Bewegung ohnehin als vollkommen marginal ein – anders offenbar als die Sicherheitsbehörden. Vgl. zu der Bewegung der Autonomen Republik Elsass-Lothringen, die von der deutschen Regierung unterstützt wurde, Fischer 2010, S. 137. Polizeidirektion Strasbourg: Bericht an das Innenministerium: Sûrété Générale, 6.12.1920; AN F 7/13377. Polizeidirektion Strasbourg, Bericht an das Innenministerium: Sûrété générale, 2.5.1921; ebd.

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Unmittelbar nach Kriegsende hatte das noch anders ausgesehen. Auch Zwischenfälle in dörflichen Kontexten waren aus Angst vor sozialistischen Umtrieben scharf beobachtet worden. Dabei schätzten die französischen Sicherheitsbehörden manche Vorkommnisse möglicherweise als dramatischer ein, als sie tatsächlich waren. In Furdenheim, etwa acht Kilometer nördlich von Wolxheim gelegen, gab es im Frühjahr 1919 eine Auseinandersetzung zwischen dem Bürgermeister und einer Gruppe junger, frisch demobilisierter Soldaten. Im Konflikt darüber, ob die Soldaten beziehungsweise ihre Familien Anrecht auf besondere Unterstützungszahlungen hätten, kam es zu einem verbalen Schlagabtausch, und einer der jungen Männer drohte dem Bürgermeister: „Quand les bolchevistes viendront, ton champ de 150 ares sera à moi!“ So zitiert zumindest der Polizeibericht den jungen ExSoldaten, der sicherlich seine Drohung auf Deutsch ausgestoßen haben wird.130 Wenn die Bolschewisten erst da seien, dann müsse er seinen Besitz abgeben. Die Polizeiberichte über diesen Vorfall nahmen diese Drohung sehr ernst, ordneten den jungen Mann, der in der deutschen Marine seinen Kriegsdienst geleistet hatte, sofort der Gruppe der aufständischen Matrosen und damit einer moralisch höchst zweifelhaften und außerdem antifranzösischen Gruppe zu – es sollte mit aller Konsequenz gegen die jungen Männer durchgegriffen werden. Der Bürgermeister hingegen lehnte jedwede Einmischung der Gendarmerie ab.131 Diese lokale Begebenheit deutet darauf hin, dass die Einschätzungen der französischen Behörden und der elsässischen Gemeindeverwaltungen sich durchaus unterschieden. Sie zeigt aber auch, dass manches Eingreifen der französischen Verwaltung auf lokaler Ebene als illegitime Einmischung verstanden wurde. Weitere Unruhen politischer Art auf dem Land verzeichnete die Polizei nicht. Allerdings registrierte sie andere besorgniserregende Stimmungen in der Landbevölkerung. Diese sei mit der langsam arbeitenden französischen Verwaltung unzufrieden, da sie von der deutschen Verwaltung anderes gewöhnt gewesen sei: On se plaint à la campagne des lenteurs administratives en ce qui concerne la solution de question, que les Allemands réglaient presque instantanément. […] Il y aurait lieu de porter un remède à ce fâcheux état de choses, qui laisse une pénible impression sut

130 Rapport du Chef de Brigade Roquers, Commandant provisoirement la gendarmerie de l’arrondissment de Strasbourg, sur l’incident survenu le 7 avril 1919 dans la commune de Furdenheim, 18.4.1919 (Kopie); ebd. 131 Rapport du Chef de Brigade Roques, Commandant provisoirement la Gendarmerie de l’Arrondissement, sur une manifestation survenue dans la commune de Furdenheim (Basse-Alsace), 15.4.1919; ebd.

Vom „Reichsland“ zur République française

[sic] notre organisation et notre administration. On entend trop souvent répéter à chaque instant: „Cela marchait beaucoup mieux avec les boches“.132

So schlug sich sogar hier in den Stimmungsberichten der Polizei das Stereotyp der effizienten deutschen Verwaltung nieder (wenn auch in Kombination mit dem abwertenden Begriff „boches“ für die Deutschen). Das deutet gleichzeitig darauf hin, dass das negative Bild der vermeintlich schwerfälligen und formalistischen französischen Bürokratie langlebig war und die Vorbehalte der elsässischen Bevölkerung gegenüber der französischen Verwaltung verstärkte.133 9.4.3

Die Harmonisierung der administrativen Ordnung

Das war auch deshalb ein Problem, weil der Prozess der Wiedereingliederung eine Herausforderung für die Verwaltung war.134 Insgesamt betont Fisch, wie tiefgreifend der Transformationsprozess gewesen sei, da nicht nur der Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur Republik, sondern auch die vollkommen anderen Werte und Verwaltungskulturen berücksichtigt werden mussten, sodass sich hier das Verhältnis von Staat und Gesellschaft fundamental gewandelt habe.135 Insgesamt sei die Wiedereingliederung ein ungelöstes Problem geblieben. Anders als erhofft blieb die elsässische Bevölkerung über Jahre hinweg auf Distanz zum französischen Staat – ein Zustand, der sich erst durch die „Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur“ in den Besatzungsjahren 1940 bis 1944 veränderte.136 Die administrativen und juristischen Schwierigkeiten betrafen auch die Gemeindeverwaltung. Im Jahr 1923 publizierte die Kommission, die mit der Einführung der französischen Gemeindeordnung von 1884 im Elsass betraut war, einen Zwischenbericht. Die aktuelle französische Gemeindeordnung, so die juristischen Experten, entspreche den Anforderungen des liberalen und demokratischen Staates, folglich stehe einer Übertragung des rechtlichen Rahmens auf Elsass und Lothringen nichts im Wege.137 Doch gebe es erheblichen Widerstand der lokalen Gemeindevertreter und der Bevölkerung, der sich auch daraus erklären lasse, dass die elsass-lothringische Gemeindeordnung von 1895 (s. o., Kap. 3.1) nicht als oktroyiertes Gesetz, sondern als eine eigene regionale Ordnung wahrgenommen

132 Polizeidirektion Strasbourg: Bericht an das Innenministerium: Etat des Esprits en Alsace, 1.5.1920; ebd. 133 Vgl. Fisch 1997b, S. 396–398. 134 Vgl. ders. 1994. Leider ist dieses für meine Arbeit wichtige Werk immer noch unveröffentlicht. 135 Ders. 1997b, S. 383. 136 Ebd., S. 382 u. 398; vgl. Päßler 2002, S. 175. 137 Rapport présenté sur les travaux de la Commission au sujet de l’introduction de la loi du 5 avril 1884 (Organisation municipale), Strasbourg 1923, S. 3 f.; AN AJ 30/231.

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Den Krieg, den Frieden regieren

werde. Schließlich sei der elsass-lothringische Landesausschuss in erheblichem Maße an der Reformulierung des Gesetzes beteiligt gewesen. Diese Entstehungsgeschichte der Gemeindeordnung müsse man durchaus gelten lassen, aber trotzdem die französische Gemeindeordnung auf das Elsass übertragen: „Le principe de l’unité de législation commande d’introduire la législation municipale française, si des raisons graves ne s’opposent pas provisoirement à cette introduction.“138 Die Vereinheitlichung aller Verwaltungsregeln und der geltenden Gesetze war für die Autoren des Gutachtens, allesamt Juristen, oberstes Gebot. Tatsächlich rückte die französische Verwaltung von der Einführung der Gemeindegesetze von 1884 schließlich ab, nicht zuletzt wegen des erheblichen Widerstands der lokalen Verwaltungen.139 Trotzdem mussten die Landgemeinden nach der Reannexion viele lokale Ordnungen umschreiben und an die französischen Verwaltungsnormen anpassen. Das betraf in Wolxheim beispielsweise die Feuerwehr, die organisatorisch reformiert werden musste, wodurch der Gemeinde erhebliche Kosten entstanden. Die Feuerwehr, bislang als Gemeindedienst organisiert, wurde nun in eine Feuerwehrbrigade mit 25 festen Mitgliedern umgewandelt.140 Diese Organisationsreform beschäftigte den Gemeinderat über einige Monate immer wieder, weil viele Aspekte geregelt werden mussten, doch die Protokolle erwähnen keine Einwände der Gemeinde.141 Auch das Unterstützungswesen für Wöchnerinnen und kinderreiche Familien wurde reformiert142 und eine neue Schulaufsicht eingesetzt.143 Besonders wichtig für die landwirtschaftliche Gemeinde Wolxheim waren die Veränderungen in der Jagdordnung, wobei der Gemeinderat sehr nah an den bisherigen Regelungen blieb,144 und in der „Herbstordnung“, die die Regelungen für die Weinlese festlegte.145 All

138 Rapport présenté sur les travaux de la Commission au sujet de l’introduction de la loi du 5 avril 1884 (Organisation municipal), Strasbourg 1923; ebd. 139 Die zeitgenössische Studie des Elsässers Theodor Grasser argumentierte genau wie die Kommission es knapp zusammengefasst hatte: Er schrieb, die drei „reichsländischen“ départements hätten 1895 „eine durchaus eigene, von den Municipalgesetzen der übrigen deutschen Bundesstaaten grundverschiedene Gemeindeordnung erhalten.“ Grasser 1934, S. 17. 140 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 21.8.1921; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 323 f. Die Neuregelung bezog sich auf ein Dekret von 1903 französischen Ursprungs. 141 Protokoll der Sitzung der Aufnahmekommission für die Feuerwehr, 26.11.1921; ebd., S. 328, inkl. Änderungsvermerk vom 18.12.1921; ebd.; Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 26.11.1921; ebd., S. 331; Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 8.1.1922; ebd., S. 332; Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 22.4.1922; ebd., S. 338. 142 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 9.4.1922; ebd., S. 336 f. 143 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 26.6.1920; ebd., S. 310. 144 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 10.9.1922; ebd., S. 340 f. 145 Ebd., S. 339 f.

Vom „Reichsland“ zur République française

diese Satzungen mussten in den Jahren 1920 bis 1922 angepasst werden, was offenbar ohne größere inhaltliche Diskussionen geschah, den conseil municipal dennoch dauerhaft beschäftigte. An einem Gegenstand, der zunächst nicht besonders kontrovers wirkt, entzündete sich jedoch der Widerstand der Wolxheimer: Bereits in den frühen 1920er Jahren hatte der conseil municipal von Wolxheim einstimmig gegen die Einführung einer ärztlichen Schulinspektion gestimmt und zwar mit der Begründung, „dass die Sorge um die Gesunderhaltung der die Schule besuchenden Kinder den betreffenden Eltern überlassen bleibe, sowie [sic] es bisher immer der Fall war“.146 Immer wieder kam die Angelegenheit auf die Tagesordnung, immer wieder weigerte sich der conseil municipal, eine solche ärztliche Schulinspektion zuzulassen.147 Auch der im Mai 1925 neu gewählte Gemeinderat stellt sich quer, obwohl der Sous-Préfet die Institution der ärztlichen Schulinspektion noch einmal erläuterte und darauf hinwies, dass die meisten anderen Gemeinden im Bezirk die Inspektion bereits eingeführt hätten. Der Rat beharrt trotz dieser Ausführungen einstimmig bei [sic] seiner ablehnenden Haltung gegenüber der geplanten Neuerung mit der Begründung, dass nach seinem Ermessen die ärztliche Schulinspektion sehr wohl für Industriegebiete am Platze sein mag, für unsere Gemeinde hingegen im Hinblick auf die günstigen Gesundheitsverhältnisse ohne nachteilige Folgen für die Schuljugend abgelehnt werden kann.148

In der Abgrenzung von Industriegebieten lag nun offenbar die letzte argumentative Volte des Gemeinderats. Doch es half nichts, denn in der Zwischenzeit hatte der conseil général des départements die ärztliche Schulinspektion für alle Gemeinden verpflichtend angeordnet.149 Aber noch immer gab sich der Gemeinderat nicht geschlagen. Denn nun ging es um die Bestellung des Schularztes, und man kann es schon als anarchistische Gegenwehr, als art of not being governed,150 intepretieren, wie sich die Gemeinderäte wanden und immer wieder für einen Arzt votierten, der sich gar nicht mehr zur Verfügung stellen wollte.151

146 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 9.11.1923; ebd., S. 356 f., Zitat S. 357. 147 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 29.3.1925; ebd., S. 386. Die Sorge für die Gesundheit der Kinder müsse „gänzlich“ den Eltern überlassen bleiben, so der Gemeinderat. In der Marginalspalte eine Bemerkung mit Bleistift: „nicht genehmigt“. 148 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 31.5.1925; ebd., S. 393 f. 149 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 26.7.1925; ebd., S. 398 f. 150 Scott 2009. 151 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 26.7.1925; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 398 f.; Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 30.8.1925; ebd., S. 400 f.; Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 20.9.1925; ebd., S. 402.

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Hatte die langanhaltende Weigerung, den vom arrondissement bestimmten Schularzt zu akzeptieren, möglicherweise etwas damit zu tun, dass die Gemeinderäte gegenüber dem Arzt mit dem jüdisch klingenden Namen antisemitische Vorbehalte hatten? Das wäre nicht unplausibel, doch erklärt es nicht die anfängliche Verweigerungshaltung, als von der Besetzung der Stelle noch gar nicht die Rede war. Warum war es hier ausgerechnet diese Frage der staatlichen Gesundheitspolitik, die eine solche Gegenwehr in Wolxheim, nicht aber in (vielen) anderen Gemeinden hervorrief? Hatte es etwas mit dem biopolitischen Anspruch der französischen Verwaltung zu tun, staatlicherseits bis auf den Körper eines jeden (schulpflichtigen) Individuums Zugriff zu erhalten? Das ist nicht sehr wahrscheinlich; wenn solche Gründe eine Rolle gespielt haben, dann höchstens implizit. Reagierten die Wolxheimer Kommunalpolitiker widerwillig auf die Einmischung des Staates in die (patriarchale) katholische Familie, wie es aus der Begründung für die Ablehnung hervorgeht? Diese Begründung liegt quellenmäßig nahe, scheint aber doch eher eine vorgeschobene zu sein; vor allem erklärt sie nicht das Hin und Her über die Benennung des Schularztes. Stehen diese Weigerungen, die vor allem in den Jahren 1923 und 1925 aktenkundig wurden, in einem engen Zusammenhang mit den Versuchen, die laizistischen Gesetze im Elsass durchzusetzen? Letztlich bleibt nur die Vermutung, dass es sich hier um ein Scheingefecht handelte, dass sich bei der Frage der medizinischen Schulinspektion die gesamte Frustration über den Prozess der Wiederangliederung entlud. Doch jenseits der Gemeinderatsprotokolle fehlen die Quellen in dieser Angelegenheit, die vermutlich ohnehin die echten Beweggründe der Wolxheimer Gemeinderäte auch nicht offengelegt hätten. 9.4.4

Die Sprachenfrage

Bislang war noch nicht von der Sprachenfrage die Rede. Auf der kommunalen Ebene spielte sie praktisch keine Rolle, oder genauer: Der Transformationsprozess ist auf der Ebene der Sprache nicht ablesbar. Denn die Protokolle der Gemeinderatsverhandlungen wurden auch weiterhin auf Deutsch abgefasst. Das sollte sich auch bis zum Zweiten Weltkrieg nicht ändern. Vonseiten der französischen Verwaltung wurde die Sprachenfrage durchaus als Problem angesehen, sie sei „le plus grand obstacle à l’assimilation du Pays avec le reste de la France.“152 Zunächst aber wurde das Sprachenproblem vor allem als ein praktisch zu lösendes Hindernis angesehen: Im Stimmungsbericht der Strasbourger Polizei vom 1. Mai 1920 hieß es noch unter „Divers“: „A la campagne on demande que les avis à porter à la connaissance de la population soient écrits dans les deux langues, une

152 Polizeidirektion Strasbourg: Bericht an das Innenministerium: Sûrété Générale, 6.12.1920; AN F 7/13377. Zur Francophonie vgl. Mende 2020.

Der Erste Weltkrieg als Zäsur?

grande partie des indigènes ignorant complètement le Français.“153 Ab 1924 sollten dann die geringen französischen Sprachkenntnisse der ländlichen Bevölkerung durch besondere Abendkurse in den Landgemeinden aufgebessert werden. Doch der Wolxheimer Gemeinderat zeigte sich (wieder einmal) uninteressiert: „Der Rat hält deren Einrichtung für aussichtslos im Hinblick auf die sehr grosse Abwanderung der jungen Leute in die Fabriken infolge des wirtschaftlichen Niedergangs unserer weinbautreibenden Gemeinde.“154 So bleibt die Geschichte der lokalen Regierung während der Rückkehr des Elsass zu Frankreich uneindeutig. Einerseits schien die Landbevölkerung unbeeindruckt, beinahe passiv zu sein, andererseits gab es symbolische Hinwendungen zu Frankreich. In Sachen lokaler Regierung war die Wiedereingliederung vor allem arbeitsaufwendig und beanspruchte auch die kleinen Gemeinden ganz erheblich. Nicht immer waren sie bereit, sich den staatlichen Vorgaben zu beugen. Ein kommunaler Eigensinn ist hier eindeutig sichtbar, der auch damit zu tun haben mag, dass – allen Einschränkungen der kommunalen Selbstverwaltung zum Trotz – die Wolxheimer Akteure während der Jahrzehnte unter deutscher Regierung praktische Erfahrungen im administrativen Handeln gesammelt hatten.

9.5

Der Erste Weltkrieg als Zäsur?

Es ist häufig diskutiert worden, inwiefern der Erste Weltkrieg eine Zäsur darstellte – und ob es der Krieg selbst war, der die bisherigen Gewissheiten infrage stellte, oder eher das Kriegsende, zumal in Deutschland, wo nicht nur der Krieg, sondern auch das Kaiserreich und damit die ganze monarchische Ordnung an ihr Ende kamen. Mit Blick auf die Geschichte des Regierens, zumal im ländlichen Raum, ist diese Entscheidung kaum zu treffen. War der Krieg mit seiner bisher präzedenzlosen Verwaltung des gesamten Lebens die einschneidende Erfahrung? Oder war es das Wegbrechen der bisherigen Autoritäten, der Ordnung, der gegenüber in den Jahrzehnten zuvor die lokalen Amtsträger eine erhebliche Loyalität aufgebaut hatten? Die Analyse des Regierens in meinen Untersuchungsdörfern zeigt, dass es kein Entweder-Oder war. Mit Blick auf die Geschichte des Regierens verbinden sich vielmehr sehr unterschiedliche Entwicklungen, Erfahrungen und Wahrnehmungen zu einer längeren Umbruchsphase zwischen 1914 und 1923. Während des Krieges erhielt das Regieren, zumal im ländlichen Raum, eine deutlich gesteigerte Relevanz.

153 Polizeidirektion Strasbourg: Bericht an das Innenministerium: État des Esprits en Alsace, 1.5.1920; AN F 7/13377. 154 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 30.11.1924; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 382; fast wortgleich die Ablehnung des Unterfangens knapp ein Jahr später: Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 22.11.1925; ebd., S. 407.

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Den Krieg, den Frieden regieren

Nun musste nicht mehr nur Wissen über den ländlichen Raum erhoben werden wie noch im 19. Jahrhundert; jetzt ging es vielmehr darum, sofort und in geordneter Weise Zugriff auf die landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu gewinnen – im Interesse des militärischen Siegs. Die zentrale Bewirtschaftung der landwirtschaftlichen Produktion mit Ablieferungsmengen und Höchstpreisregelungen war ein wichtiger Motor dafür, dass staatliche Maßnahmen immer tiefer ins alltägliche Leben auf dem Land eingriffen. Die Mobilisierung des Militärs, die vielfältigen Regulierungen bis hin zu den Versuchen, die ländlichen Koch- und Essgewohnheiten zu verändern, zeugen hiervon. Eine besondere Bedeutung kam auch während des Ersten Weltkriegs den Gemeindevorstehern zu. Sie waren gefragt, die minutiösen Vorgaben der militärischen und zivilen Verwaltung umzusetzen. Nachdem die Gemeindevorsteher in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg Praxiserfahrungen gesammelt und ihre Position im Dorf zwischen Einwohner:innen und staatlicher Administration stabilisiert hatten, wurde ihnen nun noch einmal mehr abverlangt. Insbesondere dadurch, dass die Bürgermeister die Vorgaben der Kriegswirtschaft in Bezug auf die landwirtschaftliche Produktion umsetzen und kontrollieren mussten, gerieten sie nun wirklich zwischen die Fronten: die widerwilligen Bauern auf der einen, die fordernde Verwaltung auf der anderen Seite. Besonders betraf das diejenigen Gemeindevorsteher, die selbst Landwirte waren. Die Intensivierung des ländlichen Regierens während des Kriegs führte zur Distanzierung der ländlichen Bevölkerung vom Staat. Die ländlichen Interessenorganisationen rahmten diese neue Form des Regierens als einen Konflikt zwischen Stadt und Land und verorteten den Staat zunehmend auf der gegnerischen Seite. Das war anschlussfähig an bürokratiekritische Traditionen des 19. Jahrhunderts, entwickelte aber während des Weltkriegs und vor allem in den ersten Nachkriegsjahren eine besondere Dynamik; die Vorstellung des gesellschaftlichen Gegeneinanders von Stadt und Land prägte die Zwischenkriegszeit sehr stark. Intensiviert wurde diese Entfremdung zwischen ländlicher Bevölkerung (inklusive der ländlichen Amtsträger) und der staatlichen Verwaltung durch die Revolution, auch wenn, wie ich gezeigt habe, die Bürokratie sich um die administrative Kontinuität bemühte, um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Doch insgesamt verloren nicht nur die ländlichen Bewohner ihr Vertrauen in den Staat, wie Ursula Büttner überzeugend dargelegt hat.155 Der Weltkrieg, die Revolution und die unübersichtliche Nachkriegszeit bildeten damit eine heterodoxe Zäsur. Darunter versteht Martin Sabrow solche Einschnitte, die „den zeitgenössischen Erfahrungsraum gänzlich auf den Kopf stellten und den gesellschaftlichen Erwartungshorizont […] in einer vordem unvorstellbaren

155 Büttner 2010, S. 402.

Der Erste Weltkrieg als Zäsur?

Weise verschoben“.156 Hier verklammerten sich also strukturelle Veränderungen und Wahrnehmungsweisen einmal mehr zu der Vorstellung, in einer vollkommen neuen Zeit zu leben. Diese Zeit war in der Wahrnehmung der Zeitgenoss:innen auch in Bezug auf die Verwaltung des lokalen Raums geprägt durch Konflikte, Entfremdungen und Widerstände gegenüber „denen da oben“. Davon handelt das nächste Kapitel.

156 Sabrow 2013.

357

10.

Die Verteidigung der Ländlichkeit

Spreche ein Berliner von einer Landgemeinde, so mutmaßte ein anonymer Autor im Jahr 1925, habe dieser wohl kaum ein wirkliches Dorf, sondern vielmehr die vielen Berliner Vorortgemeinden im Kopf. Das gehe aber an der Realität im Land vorbei: In der Hauptsache versteht man unter einer Landgemeinde ein stilles Dorf mit einer rein landwirtschaftlichen Bevölkerung und einem ehrenamtlichen Gemeindevorsteher […]. Die Verwaltung einer Dorfgemeinde hat ihre Grundlage auf einem gewissen Vertrauensverhältnis zwischen den Gemeindebürgern und den von ihnen erwählten Ehrenbeamten. Die Dorfgemeinden setzen sich fast durchweg aus alteingesessenen Familien zusammen, welche an den ihnen von ihren Vorfahren überkommenen Sitten und Gebräuchen, auch hinsichtlich der Gemeindeverwaltung, hängen. Und das ist gut so.1

Daher, so der Autor, sollten alle unechten Landgemeinden zu Städten erhoben werden, um „eine reinliche Scheidung zwischen Stadt und Land“ herbeizuführen: Wenn als „Landgemeinden“ wieder nur die Dorfgemeinden gelten werden, wird es auch nicht mehr vorkommen, daß bei Erlaß von Gesetzen und Verordnungen auf die Eigenarten des platten Landes so wenig Rücksicht genommen und immer nur an die großen stadtartigen Landgemeinden dabei gedacht wird. Stadt und Land sind nun eben einmal verschiedenartige Gebilde und müssen auch dementsprechend behandelt werden.2

Dieser Kommentar zur Reform der preußischen Landgemeinde-Ordnungen in den 1920er Jahren ist das, was Thomas F. Gieryn im Kontext der Wissenschaftsforschung als „boundary work“ beschrieben hat: die praktische Tätigkeit des Abgrenzens, das aktive und situative Definieren eines, des eigenen Gegenstands.3 Der anonyme Autor im Quellenbeispiel grenzte Stadt und Land voneinander ab, um die Dorfgemeinde sichtbar zu machen, die durch politische Reformen in Gefahr zu geraten schien.

1 Die Vereinheitlichung der Städte- und Landgemeindeordnungen, in: Nachrichtenblatt des neuen Preußischen Landgemeinde-Verbandes, zugleich Kampforgan für die Interessen der Dorfgemeinden und für die Zeitschrift „Die Landgemeinde“. Zwanglose Beilage zum Verwaltungsblatt „Die Landgemeinde“ (2.2.1925), S. 7–8, S. 7 (Fettsetzung i. Orig., Kursivierung durch mich, AS). 2 Ebd. (meine Hervorhebungen, AS). 3 Gieryn 1983.

360

Die Verteidigung der Ländlichkeit

Dieser Versuch einer Neudefinition von Land- bzw. Dorfgemeinde fand wenig dauerhafte Resonanz in der politischen und administrativen Sprache. Insofern könnte man sie einfach übergehen. Doch verweist er auf einen größeren Zusammenhang, der für diese Arbeit wichtig ist. Ländlichkeit wurde über Differenz bestimmt, und diese Differenz war in den 1920er Jahren vorrangig defensiv: Das Land musste gegen eine Bedrohung von außen geschützt werden. Diese defensive Ländlichkeit stellt eine Ergänzung und Erweiterung derjenigen Produktionsweisen von Ländlichkeit dar, die ich in Kapitel 8 herausgearbeitet habe. Dort standen die ästhetischen Qualitäten von Ländlichkeit im Fokus. Die defensive Ländlichkeit wurde spätestens in der Zwischenkriegszeit dominant. Sie wurde nicht mehr nur von der Stadt (oder dem Staat) unterschieden, sondern stand beiden in einer Verteidigungshaltung gegenüber. Diese Ländlichkeit kam nicht erst in der Zwischenkriegszeit auf; sie knüpfte an die Prozesse der politischen Mobilisierung seit dem ausgehenden Kaiserreich an. Insbesondere die staatlichen Modernisierungsbemühungen im späten 19. Jahrhundert trugen zu der defensiven Polarisierung zwischen Dorf und Staat bei, wie Thomas Küster ausführt. Staatliche Modernisierungsprogramme seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hätten wenig Rücksicht auf lokale Zusammenhänge genommen und dadurch die Abgrenzung der ländlichen Bevölkerung nicht nur gegenüberüber der Stadt, sondern auch „gegenüber dem modernen ‚Anstaltsstaat‘“ forciert.4 Die defensive Ländlichkeit war also mit den Entwicklungen verbunden, die ich in Kapitel 7 zur ländlichen „Leistungsverwaltung“ beschrieben habe, und auch die geschilderten Herausforderungen während des Ersten Weltkriegs waren wichtig für die Herausbildung der defensiven Ländlichkeit. Die Umbrüche von 1918/19 bedeuteten dann noch einmal einen erheblichen Schub für diese Entwicklungen. Der neue Staat war nicht mehr monarchisch und paternalistisch, sondern republikanisch – und vor allem interventionistisch. Für agrarische Organisationen und Vereinigungen, die sich im späten 19. Jahrhundert gegründet hatten und die in der Zwischenkriegszeit die Konflikte zwischen Stadt und Land befeuerten, war dieser moderne Interventionsstaat der wichtigste Antipode.5 In diesem Kapitel wende ich mich solchen Konfliktlinien zu, die bislang nur selten im Kontext des Stadt-Land-Konflikts betrachtet wurden. Für die Historiographie zum Elsass sind die Auseinandersetzungen um die Einführung des Laizismus in den drei zurückgekehrten départements zwar sehr wichtig. Dass dieser Konflikt auch etwas mit der Konstruktion von Ländlichkeit zu tun hatte, ist jedoch bislang kaum beachtet worden. In einem zweiten Schritt untersuche ich den Preußischen

4 Küster 2008, S. 69. 5 Vgl. die älteren Studien, etwa: Bergmann, Megerle 1989; Flemming 1978; Gessner 1976, sowie neueren Datums Hempe 2002; Merkenich 1998.

Die Kirche im elsässischen Dorf: L’Introduction de la loi laïque

Landgemeindeverband, der ein wichtiger Akteur in den Debatten über die Reform der preußischen Landgemeinde-Ordnungen und damit auch über die Opposition von Stadt und Land war. Schließlich betrachte ich zwei unterschiedliche lokale Konflikte, die ebenfalls zur Geschichte der defensiven Ländlichkeit gehören. In Mahlow spitzte sich der Konflikt über die Elektrifizierung zu, und in Bernried trugen ein Gemeinderatsmitglied und der neue Gutsbesitzer ihren Clinch über den Kauf großer Ländereien aus. So individuell diese Auseinandersetzungen auch waren, entwickelten sie doch ähnliche Dynamiken. Das lag daran, dass sie an andere Konfliktlinien der defensiven Ländlichkeit anknüpfen konnten.

10.1

Die Kirche im elsässischen Dorf: L’Introduction de la loi laïque

Als im Jahr 1924 in Paris die französische Linksregierung, das Cartel des Gauches, die Regierung übernahm, sollte ein großes Reformprojekt im Elsass endlich angepackt werden: die Einführung des im restlichen Frankreich inzwischen weitgehend institutionalisierten Laizismus. Doch diese (versuchte) Reform produzierte eine solche Gegenwehr, dass sie schließlich fallengelassen wurde. Die Protestbewegung und die sie tragenden politischen Gruppierungen, allen voran die Partei des elsässischen politischen Katholizismus, die Union populaire républicaine (UPR), blieben jedoch entscheidende politische Größen im Elsass der Zwischenkriegszeit.6 Die französische Verwaltung beobachtete die elsässischen Proteste gegen die laizistischen Gesetze sehr genau. Daher gibt es sehr umfangreiche Unterlagen des Commissaire Général de la République im französischen Nationalarchiv. Sie sind zwar in einem schlechten materiellen Zustand, zudem auch sehr unsortiert, aber doch eine wahre Fundgrube. In den Berichten über die Protestversammlung gaben die Beamten der Préfecture oder die Sous-Préfets in den ländlichen Gebieten die Redebeiträge ausführlich wieder und kommentierten gleichzeitig die Veranstaltungen insgesamt.7

6 Vgl. Mayeur 1986, S. 80–84. Die UPR war die Nachfolgepartei des elsass-lothringischen Zentrums in der ausgehenden „Reichsland“-Zeit. Vgl. Carrol 2018, S. 55; Dreyfus 1969, S. 36–40; von den wichtigen Köpfen des politischen Katholizismus und der katholischen Autonomiebewegung ausgehend argumentiert Baechler 2013. Zum Elsass-Lothringischen Zentrum bzw. dem Vorläufer, der Elsass-Lothringischen Landespartei vgl. Hiery 1986, S. 92–96. 7 Vor allem in: AN AJ 30/207 und AN AJ 30/232.

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10.1.1 Eine Protestbewegung mit ländlicher Basis Der regionale Konflikt entzündete sich vor allem an der Schulfrage: Die konfessionellen sollten zugunsten von staatlichen Schulen aufgegeben werden.8 Andere Fragen des Laizismus, etwa die Übernahme der Pensionslasten von Schulschwestern und Priestern durch die lokalen Pfarreien, wurden in den regionalen Protesten nicht weiter thematisiert,9 während zum Beispiel die Infragestellung der französischen Gesandtschaft beim Vatikan, die mit der Wiedereingliederung von Elsass und Lothringen nichts zu tun hatten, durchaus prominent adressiert wurden.10 Letztlich ging es um die grundsätzliche Frage, inwieweit sich der französische Staat in die Religionsausübung und das öffentliche religiöse Leben seiner Bürger:innen (nicht nur) im Elsass einmischen dürfe. In den lokalen Quellen aus Wolxheim gibt es nur einen expliziten Bezug auf die Widerstände gegen die Einführung der Laiengesetze. Angesichts der Tatsache, dass der Wolxheimer Gemeinderat (wie auch die anderen untersuchten Gemeinderäte) in der Regel allgemeinpolitische Verlautbarungen unterließen, ist die „ProtestErklärung“, die der Gemeinderat von Wolxheim am 10. August 1924 verabschiedete, außergewöhnlich: Der Gemeinderat von Wolxheim, in seiner Sitzung am 10. August 1924, protestiert gegen die angekündigte Einführung in Elsass Lothringen. Er erhebt Einspruch insbesondere: 1) gegen die Aufhebung der Gesandschaft [sic] am Vatikan, 2) gegen die Trennung von Kirche und Staat, 3) gegen jeglichen Angriff auf die konfessionelle Schule, 4) gegen die Ausweisung der Ordensleute. Der Gemeinderat bittet den Herrn Ministerpräsidenten, von den in Aussicht genommenen Massnahmen Abstand nehmen zu wollen im Interesse des religiösen Friedens.11

Was hier zunächst wie ein singuläres Ereignis wirkt, rückt schnell in ein anderes Licht, wenn die Unterlagen zu den Protesten gegen die loi laïque, die in den Archives nationales in Paris liegen, zu Rate gezogen werden. Denn die Wolxheimer Erklärung ist Teil einer ganzen Welle von Protesten gegen die Einführung des Laizismus im Elsass, vornehmlich getragen von der ländlichen Bevölkerung und – 8 Vgl. Harp 1998, S. 193 f. 9 Vgl. Bericht des Commissaire général de la République an den Président du Conseil [frz. Regierungschef], 11.7.1924; AN AJ 30/207. 10 Vgl. Carrol 2018. 11 Protokoll der Sitzung des Wolxheimer conseil municipal, 10.8.1924; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 376 f.

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ein interessanter Befund – von den ländlichen Gemeinden. Die Protestbewegung setzte explizit auf die vermeintlich unpolitische Institution Gemeinde. Das hatte ganz praktische Gründe: Hier konnten offizielle Verlautbarungen im Namen der gesamten Einwohnerschaft formuliert werden, weil die Gemeinderäte über die Legitimation qua allgemeinem (Männer-)Wahlrecht verfügten. Außerdem erreichte die Protestbewegung, insbesondere die UPR, die Gemeinderäte schnell und problemlos, weil ohnehin eine große Zahl der ländlichen Bürgermeister und Gemeinderäte in der UPR organisiert waren. Auch der Wolxheimer Bürgermeister Émile/Emil Hohl gehörte der Partei an, nahm an Versammlungen teil und sprach dort.12 Hohl war aber nicht nur in der UPR vernetzt, sondern zudem Mitglied im conseil d’arrondissement und Delegierter der comice agricole im arrondissement Molsheim.13 Als Bürgermeister war das nicht untypisch, und dieser Umstand verdeutlicht, wie stark Wolxheim in der Zwischenkriegszeit in ein dichtes politisches Netz ländlicher Gemeinden und anderer Institutionen des ländlichen Raums eingebunden war.14 Bis September 1924 hatten beinahe zwei Drittel der Kommunen im Elsass eine solche oder ähnliche Petition gegen die Einführung des Laizismus verabschiedet, überwiegend Landgemeinden. Auch die Streiks und Demonstrationen, die Teil der wohlorganisierten Aktionen gegen die geplante Gesetzesänderung waren, hatten ihre soziale Basis vor allem in den ländlichen Regionen des Elsass. Am Schulstreik am 16. März 1924 nahmen ca. 20 bis 30 Prozent der städtischen, aber bis zu 75 Prozent der dörflichen Schüler:innen teil.15 Die Berichte der Unterpräfekten über die regionalen Protestkundgebungen sind eine heikle Quelle, um die gesellschaftliche Tiefenwirkung der Proteste gegen die Einführung des Laizismus zu bemessen. Im Bericht des Unterpräfekten aus Molsheim am 7. Juli 1924 erscheint es so, als seien die zwei Protestkundgebungen vom Vortrag unwichtig gewesen. Zum einen seien die Teilnehmer:innen der Veranstaltungen weitgehend aus den umliegenden Dörfern gekommen, und zwar jeweils „sous la conduite de leurs curés“ – nicht selbstorganisiert also, sondern durch die eindeutig parteiischen Gemeindepfarrer geführt. Zum anderen habe es keinerlei Resonanz in der breiteren Bevölkerung gegeben:

12 Bericht über die Generalversammlung der UPR im Département Bas-Rhin (Geheim!), 9.4.1924; AN AJ 30/232. 13 Vgl. Polizeibericht an den Präfekten von Bas-Rhin (Geheim!), 15.1.1924; ebd.; Polizeibericht an den Präfekten von Bas-Rhin (Geheim!), 14.1.1924; ebd. 14 Damit stellt das Elsass keine Ausnahme dar. Der politische Katholizismus war in vielen ländlichen Regionen sehr gut vernetzt. Detailliert für Bayern Blessing 1982, S. 132–145; mit europäischvergleichender Perspektive Lönne 1995. 15 Vgl. Carrol 2018, S. 75 f. Das deckt sich auch mit der zeitgenössischen Einschätzung der Präfektur in Strasbourg: Präfektur Bas-Rhin an den Commissaire Général de la République, 21.7.1924; AN AJ 30/207.

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En résumé, ces manifestations se sont déroulées au milieu de l’indifférence de la grande masse de la population, qui ne dissimule pas sa réprobation de la campagne d’excitations organisée pour l’U.P.R.16

Diese Beteuerung, die lokale Bevölkerung sei letztlich an den politischen Kundgebungen vollkommen desinteressiert gewesen, erinnert stark an die Berichte des Bezirksamts Weilheim über politische Veranstaltungen in Oberbayern um die Wende zum 20. Jahrhundert. Bei einer Wirtshausversammlung mit 150 Zuhörern erscheint das allerdings deutlich wahrscheinlicher als bei einer öffentlichen Demonstration mit der zehnfachen Besucher:innenzahl. Bedenkt man, dass im Zuge der Protestaktionen sogar Demonstrationen mit bis zu 50.000 Teilnehmer:innen stattgefunden haben sollen,17 verlieren diese Beteuerungen der offiziellen Beobachter etwas an Glaubwürdigkeit. Offenbar waren erhebliche Teile der ländlichen Bevölkerung engagiert an den Protesten beteiligt. 10.1.2 Abgrenzungsversuche Ein wichtiges Element der Protestreden gegen die Laiengesetze war die Abgrenzung von Frankreich. Die Redner bei einer Protestveranstaltung am 6. Juli 1924 in Saverne bezichtigten vor ca. 1500 Teilnehmer:innen18 „Frankreich“ beziehungsweise „die Regierung“ des Wortbruchs, denn sie habe bei der Wiedereingliederung versprochen, die regionalen Traditionen zu wahren. Nun sei es nicht die Protestbewegung, sondern die Regierung mit ihren Reformplänen gewesen, die eine „ébullition“, eine Aufwallung, gerade in dem Teil der Bevölkerung ausgelöst habe, der sonst als besonders ruhig bekannt sei. Damit rekurrierte der Redner, der Mitglied im conseil général war, auf das etablierte Bild der ruhigen und unpolitischen ländlichen Bevölkerung.19 Diese Rede kann stellvertretend für viele Deklarationen dieser Zeit stehen. Die grundlegende Opposition zwischen „dem Elsass“ auf der einen, „Frankreich“ auf der anderen Seite war ebenso typisch wie die alten Rechte, die ins Feld geführt wurden.20 Die Hinweise auf die ländliche Bevölkerung in der Rede ebenso wie die Einbindung der Gemeinden als (Mit-)Trägerinnen des Protestes dienten dazu, die Proteste als unpolitisch erscheinen zu lassen, als nicht parteipolitisch motiviert,

16 Bericht des Unterpräfekten in Molsheim an den Präfekten des Départements Bas-Rhin (Kopie), 7.7.1924; ebd. 17 Vgl. Carrol 2018, S. 74. 18 Vgl. zur Rolle der Frauen in der Protestbewegung Vlossak 2010, S. 242–244. 19 Bericht des Unterpräfekten in Saverne an den Präfekten des Départements Bas-Rhin (Kopie), 6.7.1924; AN AJ 30/207. 20 Ebd.

Die Kirche im elsässischen Dorf: L’Introduction de la loi laïque

sondern durch eine konstruierte Allgemeinheit getragen.21 Das wird etwa auch deutlich in der Resolution, die im Juli 1924 bei einer Versammlung in Wissembourg verabschiedet wurde. Bereits die Präambel dieser Entschließung wies die genannten Merkmale auf: Es ging um die ländliche Bevölkerung und es ging um historisch gewachsene Traditionen: Les citoyens cultivateurs de Wissembourg et environs au nombre de 1.000 personnes réunies sous l’ombre de l’ancienne église paroissiale déclarent ne pas vouloir se laisser faire violence dans leurs mœurs, institutions et coutumes hérités de leurs pères.22

Einerseits verwies die Formulierung der „citoyens cultivateurs“ eindeutig auf politische Traditionen Frankreichs seit der Revolution, in der die Bürger als citoyens eine relevante Sprecherposition für sich reklamieren konnten. Doch die anderen Sprachspiele der Erklärung rekurrierten auf die regionalen Traditionen als Quellen der Sinnstiftung einerseits, als politische Argumente andererseits – die Sitten und Gebräuche der Vorfahren verorteten den Protest in einer langjährigen Tradition. Dass noch dazu der Ort der Versammlung im „Schatten der Pfarrkirche“ Eingang in die Petition fand, verstärkte diese Positionierung. In vielen Protestkundgebungen, aber auch in Flugblättern, Resolutionen etc. wurde der Kampf gegen die Laiengesetze in eine Traditionslinie mit dem Kampf gegen die deutsche Unterdrückung während der „Reichsland“-Zeit gestellt.23 In einem Punkt waren die Redner sehr unterschiedlich radikal: Der eine betonte, wie eng die Verbundenheit zur französischen Nation sei;24 der nächste drohte damit, das Elsass werde sofort seine Unabhängigkeit ausrufen.25 In den Protesten gegen die Trennung von Kirche und Staat im Elsass wurden – mal mehr, mal weniger radikale – Partikularidentitäten aufgerufen und verstärkt, die bereits seit dem 19. Jahrhundert entstanden waren. Die elsässische Identität, die seit der erweiterten Jahrhundertwende konstruiert worden war, war von jeher

21 Das unterscheidet die Petitionen im Elsass 1924 nicht grundlegend von denen in der Revolution von 1848. Vgl. Seidl 2014, S. 207. 22 Traduction de la Resolution votée et adoptée à la Réunion de Wissembourg contre l’introduction des lois laïques en Alsace, o. D. (6.7.1924); AN AJ 30/207. 23 Vgl. etwa das Flugblatt des elsässischen Katholikenbundes: Für unsere christliche Schule! Für das Seelenheil unserer Kinder! Für die religiöse Zukunft unserer Heimat, o. D. [1924]; ebd.: „Deutschlands Diktatur hat uns während der Annektion diese Freiheit der Gründung der Schulen vorenthalten, und jetzt sollte Frankreich uns die religiöse Schule, die wir gerettet haben, nehmen […]?“ 24 Bericht des Unterpräfekten in Wissembourg an den Präfekten des Départements Bas-Rhin (Kopie): Réunions de protestation à Wissembourg et à Soultz-s/Forêt du „Katholikenbund alsacien“ contre l’application des lois républicaines en Alsace-Lorraine, 7.7.1924, S. 1; ebd. 25 Ebd., S. 3.

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defensiv geprägt.26 War sie zunächst gegen die Vereinnahmung durch die preußischdeutsche Fremdherrschaft gerichtet gewesen, konnte sie nun aufgerufen werden, als die elsässische Identität als Ganze vermeintlich infrage gestellt wurde. Doch gerade an der Frage der Laiengesetze wird deutlich, dass es nicht immer um das ganze Elsass ging. Die elsässische Sonderidentität war stark an die Landbevölkerung gebunden (s. o., Kap. 8.1). Im „Haegy-Werk“, der katholisch-autonomistischen Landesbeschreibung der Zwischenkriegszeit, wurde das „elsässische Volk“ von der französischen Bevölkerung abgegrenzt: Die Bauern sind gute Franzosen geworden mit Leib und Seele und haben als tapfere Soldaten gedient, aber in der Sprache und der Sitte, in Haus und Familie, auf Hof und Acker, in Freud und Leid, in Spiel und Gesang, in der Kirche, in Werkstatt und Wirtshaus sind sie immer der konservative Volksstamm geblieben, wesentlich verschieden von all dem, was sich jenseits der Vogesen unter ähnlichen Verhältnissen formte.27

Dieser Rückbezug des Elsässischen auf die Landbevölkerung spielte auch in den Protesten gegen die Laiengesetze eine wichtige Rolle. So wurden politische Gräben zwischen vormals verbündeten politischen Gruppierungen aufgerissen.28 Denn nicht alle überzeugten Elsässer:innen waren gegen die Trennung von Kirche und Staat, nicht alle sahen den Kern der elsässischen Identität im Katholizismus. Der sozialistische Bürgermeister von Strasbourg, Jacques Laurent Peirotes, hatte etwa beim Widerstand gegen die Einführung der französischen Gemeindeordnung noch für die Beibehaltung der „lokalen“ Ordnung plädiert. Nun bezog er öffentlich Stellung für die Einführung des Laizismus und betonte, dass es auch eine nicht-katholische elsässische Kultur gebe. Bei der katholischen Demonstration in Wissembourg im Juli 1924 wurde er dafür explizit beschimpft.29 Der politische Katholizismus, allen voran die UPR, vertiefte die Differenz zwischen einer (vermeintlich umfassenden) elsässischen und einer republikanischfranzösischen Identität. Zugleich wurden auch im Elsass Gräben zwischen städtischen und ländlichen politischen Kulturen sichtbar – eine Entwicklung, die nicht erst mit Beginn der 1920er Jahre eingesetzt hatte, sondern weit bis in die „Reichs-

26 27 28 29

Vgl. Fischer 2010. Rossé 1936, S. 12. Vgl. Carrol 2018, S. 74. Bericht des Unterpräfekten in Wissembourg an den Präfekten des Départements Bas-Rhin (Kopie): Réunions de protestation à Wissembourg et à Soultz-s/Forêt du „Katholikenbund alsacien“ contre l’application des lois républicaines en Alsace-Lorraine, 7.7.1924, S. 1; AN AJ 30/207.

Die wahren Interessen der Landgemeinden? Der Preußische Landgemeindeverband

land“-Zeit zurückverfolgt werden kann.30 Die Protestbewegung gegen die Laiengesetze wurde vornehmlich von der katholischen ländlichen Bevölkerung getragen, die jedoch für sich reklamierte, im Namen des gesamten Elsass zu sprechen. Insofern stand hier das ländliche Elsass für das Allgemeine, das nicht (nur) von der Stadt, sondern vor allem vom zentralistischen Staat abgegrenzt wurde. Das war nicht ausschließlich das Ergebnis der Proteste gegen die Trennung von Kirche und Staat. Doch sie gaben der katholischen Autonomiebewegung erheblichen Aufwind und verbanden die kulturelle Autonomie mit grundlegenden politischen Fragen.

10.2

Die wahren Interessen der Landgemeinden? Der Preußische Landgemeindeverband

Das Quellenbeispiel, das den Einstieg in dieses Kapitel bildete, stammte aus einer Veröffentlichung des Preußischen Landgemeindeverbandes. Anhand dieser Organisation lässt sich zeigen, wie stark sich in bestimmten Kontexten das Regieren des Landes mit der defensiven Ländlichkeitsproduktion und der republikfeindlichen Rechten der Weimarer Republik verknüpfte. 10.2.1 Wurzeln im Kaiserreich Der Verband der (damals noch) altpreußischen Landgemeinden war bereits 1897 gegründet worden. Seine Stoßrichtung war anfangs keineswegs klar. Während die „Kreuzzeitung“ eine demokratische Verschwörung gegen die Junker witterte,31 kam ein Polizeibericht zu der Schlussfolgerung, der Verband sei eng an den Bund der Landwirte angelehnt und gegen die Sozialdemokratie auf dem Lande gerichtet.32 Das entsprach auch den Selbstaussagen des Generalsekretärs Bruno Krey, „der Landpropaganda der Umsturzpartei nach Möglichkeit den Boden […] entziehen“ zu wollen.33 Vor allem aber war der Verband von vornherein antireformerisch eingestellt. Geplant waren Versammlungen, auf denen öffentlich über Fragen der Gemeindeverwaltung debattiert werden sollte, vor allem „über Abwehrmaßregeln gegen etwaige, den Landgemeinden bezw. Gutsbezirken schädliche, in den Parla-

30 Schon die Herausbildung eines stabilen Dreiparteiensystems mit politischem Katholizismus, Liberalismus und Sozialdemokratie hatte die Grenzen zwischen (politischem) Land und Stadt schärfer hervortreten lassen. Vgl. Hiery 1986, S. 382 f. 31 Neue Preußische Zeitung, 30.11.1898; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 316, Bd. 1. 32 Polizeibericht, 21.12.1898; ebd. 33 Schreiben des Generalsekretärs Bruno Krey an das preußische Innenministerium, 31.10.1899; ebd.

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menten in Vorberathung befindliche Gesetze“.34 Dieser antireformistische Eifer speiste sich daraus, dass der Verband auf eine ursprüngliche Ordnung rekurrierte, die im ländlichen Raum noch zu finden, durch bürokratische Reformen aber gefährdet sei. Dem Verband war ebenfalls seit seiner Gründung ein defensives Verständnis von Ländlichkeit eingeschrieben. Er verstand sich als Gegengewicht zu den kommunalen Spitzenverbänden der Städte, insbesondere zum Deutschen Städtetag.35 In der ersten Nummer der Zeitschrift „Die Landgemeinde“, die bereits im Jahr 1892 erschienen war, hieß es: Auch dürfte unbestritten sein, daß die Verwaltung von Land und Stadt nicht durch ein und dasselbe Organ vertreten werden kann; denn die Interessen und Lebensbedingungen auf dem Lande sind von denen in der Stadt so grundverschieden, daß diese Verschiedenheit auch in den beiderseitigen Verwaltungen, welche sich ja doch den Bedürfnissen des Volkes anpassen müssen, zum Ausdruck kommen.36

Außerdem setzte es sich der Verband zum Ziel, „ungesunde Zustände“ der Gegenwart zu bekämpfen, die problemlos ins anti-urbane Weltbild passten. Dazu gehörten Unglaube religiöser Art, Genusssucht, Auflehnung gegen Autoritäten, Unzufriedenheit der unteren Berufsklassen mit ihrem Los, steigender Luxus, Verschuldung, „die unnatürliche Entvölkerung des platten Landes und die Uebervölkerung der Großstädte“, Niedergang der Landwirtschaft sowie Schwächung des Mittelstandes gegenüber dem großen Kapital.37 Die sozialen Probleme der Gegenwart wurden der Urbanisierung zugeschrieben und sollten mittels der Stärkung der Landgemeinden, hier insbesondere: der Selbstverwaltung der Landgemeinden, bekämpft werden. Der Verband wuchs rasch. Auch Mahlow war seit dem frühen 20. Jahrhundert Mitglied. Gemeindevorsteher Steeger begründete auf eine Anfrage des Landrats, dass die Zeitung „Die Landgemeinde“ „ausgezeichnete Winke für die Ausübung

34 Gründungssatzung des Verbandes der altpreußischen Landgemeinden (1897), §1; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 316, Bd. 1. 35 Die Landgemeinde 6 (15.12.1897), Nr. 24, S. 1, mit einem Bericht über die Gründungsversammlung am 5.12.1897. 36 Zur Einführung, in: Die Landgemeinde 1 (1.4.1892), Nr. 1, S. 1 f., hier: S. 1. 37 Denkschrift: Die besonderen Aufgaben der ländlichen Selbstverwaltung und der „Verband der altpreußischen Landgemeinden“. Eine volksthümliche, allgemeinverständliche Denkschrift für die ländlichen Selbstverwaltungs-Behörden und –Beamten der sieben östlichen altpreußischen Provinzen (ca. 1899), S. 1 f.; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 316, Nr. 57, Bd. 1.

Die wahren Interessen der Landgemeinden? Der Preußische Landgemeindeverband

des Amtes enthält“. Außerdem biete der Verband Unterstützung in allen Verwaltungsangelegenheiten an, worauf er aber noch nicht zurückgegriffen habe.38 Dieser rein praktische Aspekt des Landgemeindeverbands darf nicht unterschätzt werden. Vermutlich traten viele Gemeindeverwaltungen genau deshalb ein. Der Verband versprach, die Gemeindevorsteher bei ihrer alltäglichen Arbeit zu unterstützen. Dazu gehörte besonders die Rechtsberatung, die auch andere vergleichbare Vereinigungen, wie der Verband der Landgemeinden Bayerns, anboten.39 Außerdem vertrieben die Zeitschriften über die angeschlossenen Verlage Handbücher und Dienstkalender. Zudem verstand der Verband sich als Standesvertretung für die Gemeindevorsteher.40 Die Interessen der Gemeinden und der Gemeindevorsteher wurden hier als deckungsgleich verstanden, was dadurch unterstrichen wurde, dass in der Regel nicht die Gemeindevorsteher als Privatpersonen, sondern die Gemeinden als Körperschaften Mitglied im Verband waren. Nach dem Ersten Weltkrieg mischte sich die bürokratie- und modernisierungsfeindliche Agenda des Verbandes mit den Revolutionserfahrungen, dem Wegbrechen alter Loyalitäten, einer vermeintlichen Standesehre und einer strukturkonservativen Herangehensweise an die Stadt-Land-Differenz zu einer rechtsgerichteten defensiven Ländlichkeit. 10.2.2 Die Reform der preußischen Landgemeinde-Ordnungen Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte das Preußische Innenministerium an einer Verwaltungsreform gearbeitet, die vor allem der Verwaltungsvereinfachung dienen sollte.41 Nach Kriegsende und Revolution kam die Verwaltungsreform erneut auf die Agenda, insbesondere die Reform der Landgemeindeordnung. Zum einen mussten alle Gemeindeordnungen dem neuen preußischen Wahlrecht angepasst werden; zum anderen sollten nun endlich die Gutsbezirke, die als paternalistische Relikte bislang jede Verwaltungsreform in Preußen überlebt hatten, abgeschafft werden.42

38 Gemeindevorsteher Steeger an den Landrat des Kreises Teltow, zur Verfügung vom 31. Mai 1911, 22.6.1911 (Entwurf); KrA-TF, XII.303. 39 Besonders wichtig waren die Teile der Verbandszeitschriften, die sich der Beantwortung von Fragen aus den Gemeinden widmeten. So in „Die Landgemeinde“ das Ressort „Sprechsaal und Fragekasten“, beim „Bayerischen Bürgermeister“ war es die Kategorie „Rechtsberatung“. 40 „Der Landgemeinde-Verband Teltow […] hat den Zweck, die Wohlfahrt der ihm angeschlossenen Landgemeinden, sowie die wirtschaftlichen und Standesinteressen der ländlichen Gemeindebeamten zu fördern“. Satzung des Landgemeinde-Verbandes Teltow des Preussischen Landgemeinde-Verbandes, 16.3.1922, § 1; KrA-TF, XII.303. 41 Vgl. Spenkuch 2001. 42 Nicht nur die Sozialdemokratie, auch Teile der Bürokratie, hatten das bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer wieder gefordert. Vgl. Rebentisch 1985.

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Mit dem Bekanntwerden der Gemeindeverwaltungsreform brach eine – offenbar vom preußischen Innenministerium in dieser Form nicht erwartete – öffentliche Debatte los über Sinn und Unsinn der Reform, über Detail- und über Fundamentalfragen. Die Überlieferung im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in den Akten des Innenministeriums ist überaus dicht. Insbesondere die Zeitungsausschnittsammlungen zeugen davon, dass ausnahmslos alle Parteirichtungen über Jahre hinweg mit der Frage der Landgemeindereform befasst waren und dass die unterschiedlichsten politischen Fragen mit der Reform verknüpft wurden.43 In diesen umfangreichen Beständen tauchen immer wieder Schriftstücke vom und Berichte über den Preußischen Landgemeindeverband auf. In der festen Überzeugung, dass die Interessen der kleinen preußischen Landgemeinden und ihrer Vorsteher nur von diesem Verband gewahrt werden könnten,44 begannen der Verband und mit ihm sein Schriftführer und Herausgeber der Verbandszeitschrift „Die Landgemeinde“, Bruno Krey, einen Feldzug gegen andere kommunale Spitzenverbände in Preußen und gegen das Vorhaben der Landgemeindereform insgesamt, schließlich sogar gegen die republikanische Ordnung im Allgemeinen.45 Ausgangspunkt der Agitation gegen die Landgemeindereform war die Überzeugung, dass die Interessen der „echten“ Land-, also der wirklich ländlichen Dorfgemeinden, bei der Reform mit Füßen getreten würden.46 In seinen Eingaben gegen die Reform bezog sich der Landgemeindeverband immer wieder auf das Konzept der Selbstverwaltung; es diente dazu, die Landgemeinden mit ihren Selbstverwaltungsrechten vom Staat abzugrenzen und gegen Regulierungsversuche der staatlichen Bürokratie abzuschirmen.47 Ganz konservativ betonte der Verband, mit dem status quo sei die richtige Selbstverwaltung bereits erreicht, alle weiteren Reformen würden der Selbstverwaltung nur noch schaden:

43 GStA-PK, I. HA Rep. 77, Tit. 760, Nr. 16 mit unzähligen Beilagenbänden, Adhibita etc. mit den Unterlagen zum Reformvorhaben zwischen 1919 und 1927; dann nochmal ein eigener Bestand: GStA-PK I. HA Rep. 77, Tit. 760, Nr. 17 mit dem Gesetzesvorhaben ab 1928 und Nr. 18 mit der Umsetzung, insbesondere der Auflösung der Gutsbezirke. 44 Krey: Kurze Geschichte des Preußischen Landgemeinde-Verbandes und der VerschmelzungsVerhandlungen mit dem Preußischen Landgemeindetag (1. Teil), in: Die Landgemeinde 30, 1921, Nr. 18, S. 209–221. 45 Ausführlicher und mit einer anderen Schwerpunktsetzung dazu Schlimm 2017a. 46 Bspw. Die Verhandlungen des Verbandstages des Preußischen Landgemeinde-Verbandes am 18. März 1922 im neuen Rathause zu Berlin-Schöneberg, in: Die Landgemeinde 31, 1922, Beilage, S. 1–16, hier: S. 11. 47 Bittschrift des Vorstandes des preussischen Landgemeindeverbandes an das Präsidium der preussischen Landesversammlung wegen der neuen Landgemeindeordnung, 11.5.1920, S. 11; GStA-PK, I. HA Rep. 77, Tit. 760, Nr. 16, Bd. I.

Die wahren Interessen der Landgemeinden? Der Preußische Landgemeindeverband

Er [der Entwurf für die neue Landgemeinde-Ordnung, AS] bedeutet einen Schlag ins Gesicht gegenüber der jetzt bestehenden Selbstverwaltung der Landgemeinden, wie sie sich in unserer östlichen Provinz bewährt hat. Er verstößt gegen die Grundsätze, die durch die Steinschen Reformen für die Selbstverwaltung in mustergiltiger [sic!] Form durchgeführt sind. Die geplante Einführung einer bürokratischen Verwaltung auf dem platten Lande widerspricht allen Grundsätzen wahrer Demokratie, die doch angeblich der Leitstern aller Regierungsmaßnahmen ist. […] Die Kreisabteilung verlangt eine wirklich freie, nicht bürokratisch verunzierte Selbstverwaltung, wie wir sie bisher gehabt haben.48

Sogar die Gutsbezirke wurden nun als Institutionen wahrer Selbstverwaltung gepriesen, obwohl die Gutsvorsteher, also in der Regel die Gutsbesitzer, ganz ohne Mitwirkung der restlichen Einwohner:innen die kommunale Verwaltung übernahmen.49 Selbstverwaltung avancierte zum Kampfbegriff in der höchst aufgeheizten Diskussion um die Landgemeindereform, besonders in der Frage der Abschaffung der Gutsbezirke. Diese Debatten wurden nicht nur von einigen wenigen Funktionären geführt, sondern hatten eine relativ gut nachweisbare Tiefenwirkung. In den 1920er Jahren wurden viele Kreisverbände gegründet, auch in Teltow, die vor allem dazu dienten, im Kampf gegen die Landgemeindereform die vielen Gemeindevorsteher der kleinen Gemeinden wohnortnah zu organisieren.50 Die Gemeinde Mahlow trat zunächst nicht bei – wohl aus Kostengründen. Dafür wurde Gemeindevorsteher Steeger persönliches Mitglied im Kreisverband.51 Auf diese Weise wurden viele Gemeindevorsteher mobilisiert, um Eingaben gegen die Landgemeindereform zu verfassen. Waren es zunächst noch Vordrucke des Landgemeindeverbandes, die die Vorsteher ans Innenministerium schickten,52

48 Kreisabteilung Saatzig des Preußischen Landgemeindeverbandes: Einspruch gegen den Entwurf der Landgemeindeordnung, 7.6.1922; GStA-PK, I. HA Rep. 77, Tit. 760, Nr. 16, Bd. 3. Diese Argumentation ist auch deshalb so irritierend, weil die Stein’schen Reformen der Selbstverwaltung im ländlichen Raum eben nicht umgesetzt worden waren; sie scheiterten an der starken Stellung des preußischen (Land-)Adels. 49 Vorwärts vom 1.9.1922, 39. Jg., Nr. 413, S. 2, http://fes.imageware.de/fes/web/index.html?open= VW39405 [16.2.2023]. 50 Rundschreiben des Vorsitzenden des Kreisverbandes Teltow des Preußischen Landgemeindeverbands, Lehmann (Glasow), an die Gemeindevorsteher im Kreis, 8.6.1922; KrA-TF, XII.303. 51 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 29.6.1922; KrA-TF XII.295; zum Beitritt Steegers: Aktennotiz auf Schreiben des Glasower Gemeindevorstehers an den Gemeindevorsteher von Mahlow vom 14.8.1922, 23.9.1922; ebd. 52 So etwa: Neue Bittschrift des Preußischen Landgemeinde-Verbandes, betreffend die neue Landgemeinde-Ordnung (Drucksache), 27.6.1921; GStA-PK, I. HA Rep. 77, Tit. 760, Nr. 16, Bd. I, sowie die dahinter liegenden Eingaben einzelner Gemeinden sowie von mehreren Gemeinden gemeinsam, die teils wortwörtlich der Bittschrift entsprechen. Interessant ist auch die Stellungnahme

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Die Verteidigung der Ländlichkeit

sollten sie im Januar 1927, als die Beratungen über die Landgemeinde-Ordnung in die Schlussphase gingen, individuelle Protestschreiben direkt an den Landtag richten. Der Vorsitzende des Provinzialverbandes Brandenburg, Dietloff von Arnim, erläuterte, was die Gemeindevorsteher in ihren Schreiben fordern sollten. Dazu gehörten die Ablehnung der Landbürgermeistereien, die Einführung des Titels „Bürgermeister“ für alle Gemeindevorsteher und die Beibehaltung der Gutsbezirke in ihrer bisherigen Form.53 10.2.3 Systemkritik Die Reform der Landgemeinde-Ordnungen in Preußen war zwar ein sehr spezifischer Gegenstand, sie war aber keineswegs ein rein verwaltungstechnisches Problem. Vielmehr bezog sich die geführte Debatte auf zentrale gesellschaftspolitische Fragen, insbesondere auf die Frage der Ausweitung oder der Begrenzung demokratisch-repräsentativer Praktiken bis in die kleinste soziale Körperschaft. Dabei bezog der Preußische Landgemeindeverband in der Zwischenkriegszeit weitgehend konservative bis reaktionäre Positionen; Demokratie kam im Wertehorizont des Verbandes nicht vor, Selbstverwaltung wurde als Privileg einer bestimmten sozialen Gruppe, nicht aber als ein partizipatorisches Konzept ausbuchstabiert. Der Preußische Landgemeindeverband stellte aber auch in anderer Hinsicht unter Beweis, dass er von der Republik nicht viel hielt. Schon vor dem Krieg hatte der Verband dem Bund der Landwirte nahegestanden, nun suchte er in den östlichen preußischen Provinzen den Schulterschluss mit dem Landbund, in Brandenburg etwa oder in Pommern.54 Die Funktionäre des Verbands gehörten zum erzkonservativen bis reaktionären Spektrum in der Weimarer Republik. Der Vorsitzende des Provinzialverbandes Brandenburg, Dietloff von Arnim, war ein erklärter Republikgegner.55 Und der Gesamtvorsitzende Günther Gereke, der zwischen 1924 und

offenbar eines Ministerialbeamten zur Originalbittschrift, die allerdings nicht namentlich gekennzeichnet ist. Viele Punkte in der Eingabe seien übertrieben, andere gar ganz falsch, doch zeige sich hier, mit welcher Opposition das Ministerium rechnen müsse. 53 Verband der Preussischen Landgemeinden e.V., Provinzialverband Brandenburg, an die Kreisabteilungen, 31.1.1927; KrA-TF, XII.303. 54 „Die Landgemeinden wachen auf “, in: Pommersche Tagespost (Stettin), 22.3.1922; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 16, Beiheft II. Zum brandenburgischen Landbund vgl. Pomp 2011. 55 Dietloff von Arnim war vor dem Krieg Landrat im brandenburgischen Kreis Jüterbog, kehrte aber dem Staatsdienst nach der Revolution von 1918 den Rücken, da er, so Scheffczyk, den Treueeid auf die neue Verfassung nicht leisten wollte. Nach der Umorganisation der kommunalen Verbände der Landgemeinden war er Vorstandsmitglied des Deutschen Landgemeindetags. 1931 trat er in die NSDAP ein und tat sich mit antisemitischen und antidemokratischen Äußerungen hervor. Im April 1933 wurde von Arnim kommissarischer Landesdirektor der Provinz Brandenburg. Scheffczyk 2008, S. 55–58.

Die wahren Interessen der Landgemeinden? Der Preußische Landgemeindeverband

1928 für die DNVP im Reichstag gesessen hatte und danach die christlich-nationale Bauern- und Landvolkpartei (CNBL) (mit-)gründete, tat sich durch republikfeindliche und antisemitische Reden hervor, die verdeutlichen, wie stark die Agitation für vermeintlich angestammte Rechte der Landgemeinden mit antidemokratischen Haltungen verbunden war.56 Er provozierte sogar eine kleine Anfrage im preußischen Landtag, denn er habe auf einer Tagung des Pommerschen Landbundes in Stettin ausgeführt, man hätte die Landesverräter rechtzeitig dahin [stellen sollen], wohin sie gehörten, nämlich an die Wand, so wäre alles Unglück nicht über uns gekommen. Die Auflösung der Gutsbezirke und Einführung der Landbürgermeistereien sei ein neuer Schlag der jüdischen Plutokratie gegen das verhaßte Dorf.57

Die anschließende Untersuchung des Innenministeriums ergab aber, dass der weiteren Zusammenarbeit mit dem Verband nichts im Wege stehe. Denn das Innenministerium folgte der Einschätzung der Stettiner Polizei in dieser Angelegenheit: Nach dem Zusammenhange bezog sich die Äußerung auf die an der Revolution beteiligten Personen; es war nicht derart, daß darin eine Beschimpfung der republikanischen Staatsform erblickt werden konnte.58

Das Innenministerium beschloss lediglich, dem Verband gegenüber eine gewisse Vorsicht walten zu lassen. Die defensive Spielart der Ländlichkeit, die unter anderem der preußische Landgemeindeverband vertrat, war ganz offensichtlich höchst anschlussfähig an reaktionäre bis rechtsradikale politische Kreise in der Weimarer Republik. Die Staats- und Bürokratiekritik, die der Verband schon vor dem Weltkrieg vertreten hatte, radikalisierte sich nun in einer politischen Situation, in der bislang Unwahrscheinliches – wie die Abschaffung der Gutsbezirke – in greifbare Nähe rückte. Und die politische Sprache der Selbstverwaltung, die schon im 19. Jahrhundert entstanden war und die Selbstverwaltung von Staat und Demokratie unterschieden hatte, eignete sich nun dafür, antidemokratische Vorstellungen in weiten Kreisen zu popularisieren – vor allem unter den Vorstehern ländlicher Gemeinden, als deren Standesvertretung der Verband sich verstand. So entstand eine höchst problematische Mixtur,

56 Biographisches zu Gereke bietet die höchst skurrile Autobiographie Gereke 1970. 57 Preußischer Landtag, 3. Wahlperiode, 1. Tagung 1928, Kleine Anfrage Nr. 491, S. 498 (Abschrift); BLHA, Rep. 2a I Kom 88, fol. 110 RS. 58 Bericht der Polizei in Stettin an das preußische Ministerium des Innern, 25.1.1929; GStA-PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 316, Nr. 57, Beiheft 3, Bd. 1.

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die spätestens ab den späten 1920er Jahren die ländlichen Amtsinhaber in große Distanz zum demokratischen System brachte. Daran ändere sich auch nichts, als die preußische Landgemeindereform schließlich scheiterte. Nur die Gutsbezirke wurden letztlich doch aufgelöst, durch ein Einzelgesetz von 1928.

10.3

Zwischen altem und neuem Dorf

Die 1920er und (frühen) 1930er Jahre waren in allen Gemeinden nicht nur durch den wachsenden Einfluss gesamtgesellschaftlicher Konfliktlagen geprägt, sondern auch durch lokale Auseinandersetzungen ganz individueller Art. Diese Zerwürfnisse passten nicht immer in die politischen Kategorien von rechts und links, progressiv und konservativ. Allerdings zeigt sich an den im Folgenden analysierten Beispielen, dass gerade in der Zwischenkriegszeit lokale Episoden die Tendenz hatten, sich zumindest an die gesamtgesellschaftlichen Konfliktlinien anzulehnen. Auch die individuellen dörflichen Streitigkeiten wurden durch die Analogie zur „großen“ Politik lokal und medial lesbar gemacht. Zudem griffen die hier geschilderten Kontroversen die (vermeintliche) Frontstellung zwischen innen und außen, zwischen Land und Stadt auf und übersetzten sie in das Medium des lokalen Konflikts. Die Siedlungsaktivität in Mahlow, der Bau von Wohnhäusern rund um den Bahnhof und der entsprechende Zuzug von neuen Bewohner:innen lief nicht konfliktfrei ab. Die Siedlungswilligen beschwerten sich über den Gemeinderat der Landgemeinde, der nicht schnell genug arbeite (vgl. Kap. 8.3), und in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren lief einiges schief beim Bau der Stromleitung im „Dreieck“ (vgl. Kap. 7.3). Es lohnt sich hier noch mal eine genauere Untersuchung des Konflikts aus einer anderen Perspektive, denn er produzierte die Abgrenzung von Ländlichkeit und Urbanität innerhalb des Dorfes. 10.3.1 Persönlich oder politisch? Der Auslöser des Konflikts wurde zuvor bereits geschildert. Es ging um die Frage, wie ein bestimmter Teil des Neubaugebiets von Mahlow an die elektrische Stromversorgung angeschlossen werden sollte. Der Gemeindevorsteher Fritz Richter ergriff die Initiative, die Anlieger sollten zahlen, und der bauausführende Handwerker war ebenso überfordert wie der Gemeindevorsteher, der die Organisation und Abrechnung übernahm. Der Streit, der sich im Folgenden entspann, betraf ganz unterschiedliche Ebenen, die deshalb gut nachzuvollziehen sind, weil offenbar die Kontrahenten ab einem relativ frühen Zeitpunkt nur mehr schriftlich miteinander kommunizierten. Unterlagen sind im Brandenburgischen Landeshauptarchiv, im Kreisarchiv

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Teltow-Fläming und auch im Gemeindearchiv Blankenfelde-Mahlow überliefert. Daraus lässt sich zwar nicht rekonstruieren, wie es überhaupt zu der Eskalation kam; doch bieten die Unterlagen einen guten Einblick in die unterschiedlichen Konfliktdimensionen. Da war zum einen die persönliche Ebene. Besonders zwischen dem Architekten Karl la Haine, der für die Anlieger sprach, und dem Gemeindevorsteher Richter war die Situation so angespannt, dass die beiden nicht nur schriftlich, sondern auch nur über eine dritte Person, hier Karl Hansen (den Sprecher des etwas später gegründeten Vereins für Lichtversorgung), kommunizierten. Richter beklagte sich in den Schreiben an Hansen darüber, la Haine habe ihn in seiner Ehre gekränkt. Er solle dies zurücknehmen und öffentlich machen, dass Richter nichts „Unredliches“ getan habe.59 Auch in späteren Schreiben wurden diese vermeintlichen persönlichen Angriffe thematisiert. Richter fühlte sich persönlich angegriffen, und offenbar wurde er andererseits beschuldigt, sich persönlich falsch verhalten zu haben. Der Verein begründete so auch seine Beschwerden, die er an den Landrat, den Vorsitzenden des Kreisausschusses (strenggenommen ebenfalls der Landrat, aber in anderer Funktion) sowie an den Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg richtete: Aus unserer ganzen Sache geht vervor [sic], dass der Gemeindevorsteher Richter im vorliegenden Falle unglaubwürdig ist. Wir bitten sehr ergebenst, nun endlich gegen Herrn Richter das Disziplinarverfahren einzuleiten.60

Die Kontrahenten lasen den Konflikt um die Elektrifizierung des „Dreiecks“ aber auch als parteipolitischen. Fritz Richter ging offenbar davon aus, dass sein Lieblingskontrahent Karl la Haine im Hauptberuf Gewerkschaftssekretär sei und machte klar, dass er von Gewerkschaften nichts hielt: Ich bin ja aus meinen Verhandlungen in Tarifsachen, wo meistens von den Gewerkschaftssekretären unbewiesener Schmutz kübelweise über die andern ausgegossen wird, an manches gewöhnt, aber an mich haben sie sich meistens doch nicht herangetraut, weil ihre eigenen Leute dann das Unwahrhafte an den Behauptungen sofort gemerkt hätten.61

59 Fritz Richter an Karl Hansen (Abschrift), 28.1.1929; BLHA, Rep. 2a I Kom 2352, fol. 212. 60 Verein für Lichtversorgung Mahlow an den Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg und von Berlin: Beschwerde über den Gemeindevorsteher Herrn Richter in Mahlow Kreis Teltow, 24.5.1930; ebd., fol. 180–181. 61 Schreiben Fritz Richter an Karl Hansen (Abschrift), 24.1.1929; ebd., fol. 210.

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Karl Hansen, der als Vereinsvorsitzender den Kontakt mit Richter hielt, fühlte sich in seinem Antwortschreiben bemüßigt, ebenfalls Stellung zur Gewerkschaftsfrage zu beziehen: Herr la H. ist bei der Behörde und für den Bund techn. Angestellter und Beamten nur ehrenamtlich tätig gewesen, er ist also kein Gewerkschaftssekretär. Mit dieser Feststellung teile ich aber keineswegs Ihre schlechte Meinung über die Gewerkschaftssekretäre. Es gibt in beiden Lagern Leute, die mit schmutzigen Mitteln arbeiten; aus meinen langjährigen Erfahrungen weiss ich ein Lied davon zu singen.62

Richter hingegen war Anhänger der NSDAP. Nach 1933 betonte er gerne, dass sowohl der Streit über die Elektrifizierung als auch sein späterer Konkurs damit zu tun gehabt hätten, dass er als früher Nationalsozialist in der Weimarer Zeit gesellschaftlich geächtet worden sei.63 Vor allem aber wurde der Konflikt, ob persönlich oder parteipolitisch, im Modus der Verwaltungsauseinandersetzung ausgetragen. Zwischen dem Beginn des Bauvorhabens und dem Rücktritt Richters, dessen Nachfolger Brandt den Konflikt recht schnell schlichten konnte, lagen sechs Jahre. In dieser Zeit waren sehr unterschiedliche Instanzen mit dem Fall beschäftigt. Da gab es den Gemeinderat, den Gemeindevorsteher und eine zunächst lose organisierte Gruppe Anwohner:innen, die sich am Bau der Stromleitung beteiligen wollten. Als es zum Streit kam, gründeten sie den „Verein für Lichtversorgung Mahlow, Ortsteil: Westlich der Bahn e.V.“ „zur Wahrung unserer Interessen“, wie der Vereinsvorstand an den Landrat des Kreises Teltow schrieb.64 Der Verein richtete sich an alle Beschwerdeinstanzen: zunächst an den Kreistag und den Landrat des Kreises Teltow, dann an den Oberpräsidenten und schließlich ans Preußische Innenministerium.65 Die Gemeinde wiederum gründete zur Bewältigung des Problems diverse Ausschüsse und Kommissionen. Noch vor dem Streit wurde eine Baukommission eingerichtet. Dann

62 Schreiben Karl Hansen an Fritz Richter (Abschrift) 13.2.1929; ebd., fol. 214–215 (Hervorhebung im Original). 63 Fritz Richter an den Regierungspräsidenten des Bezirks Potsdam, 30.6.1936; BLHA, Rep. 2a I S 360, fol. 77–79. Auch der spätere NS-Bürgermeister von Mahlow wiederholte diese Formulierungen, wenn es darum ging, Richter den Rücken freizuhalten. Bürgermeister Hagena an die Allgemeine Ortskrankenkasse Stuttgart, 20.6.1940; Gemeindearchiv Blankenfelde-Mahlow (GAB-M), EA 0024. 64 Verein für Lichtversorgung Mahlow, Ortsteil: Westlich der Eisenbahn E.V., der Vorstand, an den Landrat des Kreises Teltow, 28.12.1929; BLHA, Rep. 2a I Kom 2352, fol. 162–171, Zitat fol. 169. 65 Das Innenministerium reichte die Beschwerde aber offenbar an den Regierungsbezirk Potsdam zurück, vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Potsdam an den Vorstand des Vereins für Lichtversorgung Mahlow, Ortsteil westl. der Eisenbahn e.V., 30.9.1931 (Abschrift); KrA-TF, XII.328.

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gab es Rechnungsprüfer aus der Gruppe der Anwohner:innen, einen Prüfungsausschuss und zu guter Letzt eine Schlichtungskommission. Obwohl der Konflikt also sehr persönliche Ebenen berührte, wurde er im Modus der Administration ausgetragen. Das lag, so vermute ich, vor allem daran, dass die Wortführer aus der Gruppe der Anwohner:innen urban professionals waren, also solche Berliner, die vor allem in Verwaltungen oder im Management tätig waren. Sie hatten bestimmte Vorstellungen davon, wie Gemeindevorsteher Richter handeln sollte.66 Außerdem waren sie es gewohnt, Konflikte im Geschäftsgang zu klären. Schriftliche Kommunikation und rechtliche Fragen gehörten zu ihren normalen Betätigungsfeldern, sodass sie zumindest versuchten, ihre Interessen auf diese Weise zu wahren. Letztlich gelang ihnen das nicht, denn die Aufsichtsbehörden unternahmen nichts in der Angelegenheit. 10.3.2 Gemeindewahl 1929 Aber der Konflikt wirkte sich auf die innerörtliche Politik aus. In der Gemeindevertretung saßen drei verschiedene Gruppen zusammen: erstens der Wahlvorschlag des „unpolitischen Wirtschaftsblocks“, der durch diejenigen Gemeindevertreter dominiert wurde, die seit dem ausgehenden Kaiserreich in der Vertretung saßen; zweitens die SPD; und drittens eine Gruppierung, die sich „unparteiische Einwohner“ nannte. Deren zwei Gemeindevertreter, Arthur Splettstößer und Bruno Fiebelkorn, gerieten auch vor dem Stromleitungsstreit schon gerne mit Richter aneinander. Bei der Gemeindewahl 1929 standen auf der Liste der „unparteiischen Einwohner“ nun auch Personen aus dem „Lichtverein“: Karl Hansen, der Vorsitzende des Vereins, und Richters Lieblings-Kontrahent, der Architekt Karl la Haine.67 Über die Namensgebungen der Listen – unparteiische Einwohner und unpolitischer Wirtschaftsblock – könnte man eigene Studien treiben; hier reicht der Hinweis darauf, dass nicht erst seit dem Ersten Weltkrieg der Verweis darauf, unpolitisch oder gar unparteiisch zu sein, in der Regel mit einer konservativen politischen Positionierung einherging.68

66 Sehr ausführlich weisen die Beschwerdeführer in ihrer Beschwerde an den Landrat von 1929 darauf hin, dass die Geschäftsführung Richters nicht den Anforderungen entspräche. Verein für Lichtversorgung Mahlow, Ortsteil: Westlich der Eisenbahn E.V., der Vorstand, an den Landrat des Kreises Teltow, 28.12.1929; BLHA, Rep. 2a I Kom 2352, fol. 162–171, hier: fol. 167–168: In neun durchnummerierten Punkten wurden die Versäumnisse Richters aufgezählt. 67 Wahlvorschlag für die Wahl von Gemeindeverordneten am 17.11.29 in Mahlow, Kennwort: „Unparteiische Einwohner“; KrA-TF, XII.293. 68 Vgl. Andres 2007.

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Die „unparteiischen Einwohner“ machten mit Hilfe von Flugblättern einen regelrechten Wahlkampf. Sie positionierten sich eindeutig als Interessenvertretung der zugezogenen Mahlower:innen, die vor allem die Entwicklung des Dorfs zum modernen Vorort Berlins forcierten. Auf dem überlieferten Flugblatt gingen sie nicht explizit auf den Stromleitungsstreit ein, berührten aber doch ähnliche Themengebiete. Die Aufgaben, die die stete und schnelle Entwicklung an die Gemeinde stellt, erfordern daher eingehendes Verständnis sowie rechtzeitiges Erkennen der notwendigen Bedürfnisse der Zeit. Denn es darf nicht wieder vorkommen, daß z. B. der alte Ortsteil die damals noch kostenlose Zuleitung der Wasserleitungsröhren ablehnt, und dadurch nicht nur sich selbst geschädigt, sondern auch noch seine eigene Entwicklung sowie die Feuersicherheit unterbindet.69

Außerdem forderten die „unparteiischen Einwohner“ den Ausbau der Schule, die infrastrukturelle Erschließung des Ortsteils westlich der Eisenbahn (Straßen, Wasser, Elektrizität etc.), Straßenbeleuchtung, die Anlage eines Eisenbahntunnels und kommunalen Wohnungsbau. Der Wahlaufruf schloss mit dem Appell: Wer mit der Zeit nicht mitgeht, über den geht die Zeit hinweg. Wer hieran mitarbeiten will, für den gibt es nur eins, der wählt die Liste „Unparteiische Einwohner“.70

Hier wird deutlich, dass sich die Vertreter der Neuzugezogenen und die Kontrahenten der Gemeindeverwaltung im Stromleitungsstreit dezidiert als Vertreter der neuen Zeit verstanden und sich vom „alte[n] Ortsteil“ abgrenzten. Die „unparteiischen Einwohner“ brachten das moderne, (sub-)urbanisierte, zukünftige Mahlow gegen das alte, dörflich-ländliche in Stellung. Noch aber unterlag dieses „neue“ Mahlow in der Gemeindevertreterwahl. Die „unparteiischen Einwohner“ stellten weiterhin nur zwei von neun Gemeindeverordneten, genau wie die Sozialdemokraten. Der „unpolitische Wirtschaftsblock“ und damit die alte Führungsschicht stellte fünf Vertreter im Gemeinderat.71 Erstaunlicherweise war jedoch die Wahl zum Gemeindevorsteher einmütig, bei lediglich einer Enthaltung.72 Das Teltower Kreisblatt berichtete: 69 Wahl zur Gemeindevertretung am 17. November 1929. Liste „Unparteiische Einwohner“ (Flugblatt); KrA-TF, XII.308. 70 Ebd. 71 Bekanntmachung über das Ergebnis der Wahl der Gemeindevertretung, 17.11.1929; KrA-TF, XII.293. 72 Protokoll der Wahl des Gemeindevorstehers (Abschrift), 20.12.1929; KrA-TF, XII.339. Richter wurde mit sieben von acht Stimmen gewählt, ein Stimmzettel war nicht beschriftet, und der Gemeindevertreter Arthur Splettstößer von den „unparteiischen Einwohnern“ hatte offenbar aus Protest die

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Als Gemeindevorsteher wiedergewählt wurde Rittergutsbesitzer Fritz Richter, welcher bereits seit 1923 an der Spitze der Gemeinde steht und es bisher verstanden hat, in sparsamster Bewirtschaftung möglichst viel im Interesse des Ortes zu schaffen.73

Offenbar hatte der Konflikt um die Lichtleitung, der administrativ so hohe Wogen schlug, noch keinen Eingang in die regionale Presse gefunden. 10.3.3 Rücktritt des Gemeindevorstehers Der Streit um die Stromleitung war noch nicht beendet. Drei Jahre später trat Fritz Richter von seinem Amt als Gemeindevorsteher zurück. Im Januar 1932 war er zum letzten Mal zu einer Gemeindevertretersitzung erschienen. Danach führte der Schöffe Otto Brandt als stellvertretender Gemeindevorsteher die Sitzungen. Als Brandt im Juni 1932 wieder einmal mitteilte, dass der Gemeindevorsteher sich wegen Krankheit entschuldigen lasse, begehrte der Gemeinderat Splettstößer auf. Er stellte den Antrag, die Gemeindevertretung wolle beschließen, bei der Aufsichtsbehörde dahin vorstellig zu werden, Herrn G. V. Richter nahe zu legen, sein Amt niederzulegen, da er in den letzten Monaten sich von den Sitzungen ferngehalten hat, sich des Tags über in Mahlow nicht sehen läßt und die Gemeindegeschäfte in den Nachtstunden erledigt.74

Die Gemeindevertretung nahm diesen Antrag mit sechs Ja-Stimmen an, es gab drei Enthaltungen. Unterstützer:innen hatte Richter in der Gemeindevertretung keine mehr.75 Doch letztlich war der Beschluss nicht mehr relevant, denn mit einem Schreiben, das auf den Vortag der Gemeindevertretersitzung datiert war, bat Richter den Landrat um Entbindung von seinen Pflichten als Gemeindevorsteher. Dieser Bitte kam der Landrat Wilhelm Nathusius (SPD) nach und ergänzte das formale Schreiben um ein paar persönlichere Sätze. Offenbar wertete er die langjährige Teilnahme an der Wahl verweigert. Er hatte es in der gleichen Sitzung auch abgelehnt, sich von Richter ins Amt einführen zu lassen. Das musste Brandt als Schöffe übernehmen. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 20.12.1929; KrA-TF, XII.297, S. 117–119, hier: 118. Interessanterweise ist – trotz der Einteilung Mahlows in drei Stimmbezirke – nicht festzustellen, wo die einzelnen Listen den Großteil ihrer Stimmen holten, was am Zuschnitt der Stimmbezirke gelegen haben dürfte. Das „Dreieck“ lag im gleichen Stimmbezirk wie das „alte“ Dorf, hier holten tatsächlich die unparteiischen Einwohner auch mit über 29 Prozent ihr bestes Ergebnis. Vgl. Wahlniederschriften Gemeinde Mahlow, Kreis Teltow, Abstimmungsbezirke 1–3, 17.11.1929; KrA-TF, XII.293 sowie Bekanntmachung: Der Gemeindevorsteher, Mahlow, 1.11.1929; ebd. 73 Mahlow. Wahl des Gemeindevorstands, Teltower Kreisblatt, 29.12.1929; KrA-TF, XII.339. 74 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 10.6.1932; KrA-TF, XII.297, S. 223–228, hier: S. 224. 75 Ebd.

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ehrenamtliche Tätigkeit höher als die Probleme, die im Zuge des Stromleitungsbaus aufgetreten waren: Ich möchte jedoch nicht verfehlen, Ihnen bei dieser Gelegenheit für die der Gemeinde Mahlow in nahezu 10jähriger hingebungsvoller Arbeit geleisteten Dienste meinen besten und aufrichtigsten Dank auszusprechen. Sie haben die Gemeindegeschäfte in einer besonders schwierigen Zeit geführt und ist es Ihrer Initiative gelungen, das kommunale Leben in der Gemeinde weiter zu entwickeln und es in geordneten finanziellen Bahnen zu erhalten. Unter diesen Umständen bedauere ich es aufrichtig, daß Sie sich zu der Niederlegung der Stelle veranlaßt sehen.76

Das Schreiben des Landrats legt nahe, dass ein gewichtiger Beweggrund für Richters Rücktritt die „Affäre Lichtversorgung“ war. Doch formal gab Richter gesundheitliche Gründe für seinen Rücktritt an. Dazu kam aber noch seine persönliche wirtschaftliche Situation, denn er steckte mitten in einem Konkursverfahren. Spätestens in der Weltwirtschaftskrise hatte Richter sich verspekuliert und hoffnungslos verschuldet. Das Entschuldungsverfahren lief noch, als das ehemalige Gut 1936 in einen schuldenfreien Erbhof von 87,5 Hektar Nutzfläche umgewandelt werden sollte.77 An Richters Stelle übernahm nun zunächst kommissarisch, sehr schnell dann auch als gewählter und bestätigter Gemeindevorsteher Otto Brandt, der Oberstadtinspektor aus Lichtenrade, das Ruder in Mahlow. Brandt, der bereits seit 1905 Gemeindevertreter und ebenfalls seit einigen Jahren Schöffe gewesen war und auf der gleichen Liste wie Richter kandidiert hatte, verband das „alte“ mit dem „neuen“ Dorf. Denn Brandt wohnte – im Gegensatz zu den meisten anderen Mitgliedern des „unpolitischen Wirtschaftsblocks“ – nicht im Bauerndorf, sondern in der Bahnhofssiedlung, und er war als Beamter in Groß-Berlin Vertreter der professionellen Klasse. Doch durch seine lange Zugehörigkeit zur Gemeindevertretung war er Teil der „alten“ Elite; trotzdem konnte er auch die neuen Einwohner:innen von Mahlow einbinden. Seine Amtszeit dauerte allerdings nur zwei Jahre, bis 1934 das NSDAP-Mitglied Friedrich Hagena zu seinem Nachfolger ernannt wurde (s. u., Kap. 11.2). Der Streit um die Elektrifizierung des „Dreiecks“ war nicht nur eine Frage des Infrastrukturausbaus. Hier ging es auch darum, wie eigentlich eine Gemeinde verwaltet und entwickelt werden sollte. In der Überlieferung treten vor allem

76 Landrat des Kreises Teltow an Fritz Richter (Abschrift), 17.6.1932; KrA-TF, XII.339. 77 Schreiben des Landrats des Kreises Teltow an den Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Potsdam, 9.5.1936; BLHA, Rep. 2a I S 360, Bl. 37 f.

Das „arme Fischerdorf“ und der reiche Geschäftsmann

die „neuen“ Mahlower:innen programmatisch hervor; sie plädierten für eine entschiedene Modernisierung des Dorfes und versuchten, auf dem Dienstweg gegen die vermeintlich „alte“ Art der Gemeindeverwaltung vorzugehen – vergeblich. Hier sehen wir also weniger eine defensive Ländlichkeit (diese bleibt hinter dem eher persönlich argumentierenden Fritz Richter versteckt), sondern eine offensive (Sub-)Urbanität, die allerdings zunächst erfolglos blieb. Das Konfliktfeld zwischen Ländlichkeit und Urbanität aber wurde in Mahlow explizit gemacht.

10.4

Das „arme Fischerdorf“ und der reiche Geschäftsmann

Mitte der 1920er Jahre kam es auch in Bernried zu einem größeren Konflikt, der sich über einige Monate hinzog, der aber, anders als der Streit in Mahlow, eher medial als administrativ ausgetragen wurde. Auch hier wurden unterschiedliche Vorstellungen davon in Stellung gebracht, wie ein Dorf in den 1920er Jahren zu sein hatte. 10.4.1 Gut Höhenried wird verkauft Der Hintergrund des Streits lässt sich nicht ganz leicht rekonstruieren. Bereits 1914 hatte Wilhelmina Busch mit ihrem Ehemann, dem Geschäftsmann Eduard Scharrer, in Bernried Land gekauft, und zwar vornehmlich aus dem Wendland’schen Besitz. Für 1,5 Millionen Mark wechselte eine erkleckliche Menge der Bernrieder Gemeindeflur den Besitzer.78 Dabei handelte es sich unter anderem um das ehemalige Klostergut im Dorfkern und große Teile des Bernrieder Parks.79 Das Ehepaar Scharrer hatte auch das Gut Adelsried südlich von Bernried kurz vor dem Ersten Weltkrieg erworben. Nach dem Ersten Weltkrieg fuhr das Ehepaar fort, Grundstücke in Bernried aufzukaufen. Mitte der 1920er Jahre stand schließlich das Gut Höhenried zum Verkauf, auch dieses war ursprünglich im Besitz der Familie von Wendland, inzwischen aber in Hand einer Beteiligungsgesellschaft in München. Nicht nur das Ehepaar Scharrer/Busch, sondern auch der bisherige Pächter des Guts schien Interesse am Kauf zu haben. Im Frühjahr 1925 beschäftigte sich der Gemeindeausschuss mit dem anstehenden Verkauf von Höhenried und stellte Forderungen an den oder die Käufer:innen. So sollten sie eine Fläche am Ufer zur Verfügung stellen, um ein Seebad für die

78 Vgl. Wiede 2002, S. 48. 79 Das Schloss und kleinere Teile des Parks blieben im Besitz der Familie von Wendland, die allerdings seit dem Ersten Weltkrieg in der gemeindlichen Überlieferung keine Rolle mehr spielte. Im Jahr 1941 verkaufte Frau von Wendland den restlichen Besitz an den Staat. Weilheimer Volksblatt, 2.4.1941 (Pressespiegel); GAB, S1/5,3.

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Schuljugend zu errichten, weit weg vom Bad für die Sommergäste. Außerdem sollten sie ein Sechstel der 300 Tagwerk von Höhenried zu Siedlungszwecken an die Gemeinde abtreten. Damit sollte aber kein Baugrund für Neusiedler:innen geschaffen werden, sondern die Idee war, diesen Grund unter den Kleingütler:innen und sonstigen Hausbesitzer:innen zur Anlage von Heimgärten zu verteilen.80 Doch die Forderungen stießen auf Widerstand. Die Gutsverwaltung Scharrer/ Busch ließ sich keine Bedingungen stellen und drohte mit der Sperrung des (bereits in ihrem Besitz befindlichen) Parks und sonstigen Einschränkungen.81 So beschloss der Gemeinderat schließlich, dass ein „friedliches Zusammenleben zwischen Gutsherrschaften u. Bevölkerung den größten Nutzen aller Beteiligten“ brächte und der Widerspruch gegen den Ankauf des Guts Höhenried durch Scharrer und Busch fallengelassen werden sollte.82 Der Verkauf des Guts verzögerte sich jedoch, und im Frühjahr 1926 sah alles so aus, als würde der Fremdenverkehr für den Sommer stark einbrechen, weil Scharrer weiterhin damit drohte, den Park für die Allgemeinheit geschlossen zu halten.83 Schlussendlich ging der Gutsbesitz Höhenried an Scharrer und seine Frau über; doch wann und wie genau dies ablief, lässt sich kaum rekonstruieren. Manche Quellen geben das Kaufdatum mit 1925 an, andere erst mit 1927.84 10.4.2 Das „arme Fischerdorf“ Was war geschehen zwischen dem Einlenken des Gemeinderats und der neuerlichen Drohung des Großgrundbesitzers Scharrer, den Park für Bernrieder:innen und Besucher:innen geschlossen zu halten? Offenbar war es ein Zeitungsartikel gewesen, der den Konflikt auf eine neue Stufe hob. Im Dezember 1925 berichtete der „Miesbacher Anzeiger“ ausführlich über die Angelegenheit – es gibt Hinweise darauf, dass es der Gemeinderat Xaver Metzner, seines Zeichens Kaufmann in Bernried, war, der den Artikel geschrieben oder zumindest den Kontakt zum „Miesbacher Anzeiger“ gesucht hatte.85

80 81 82 83 84

Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 5.4.1925; GAB, B2/7, S. 135 f. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 11.5.1925; ebd., S. 136. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 15.5.1925; ebd., S. 137. Protokoll des Bernrieder Gemeindeausschusses, 31.3.1926; ebd., S. 147 f. Eintrag 18.3.1925; GAB, Bi 19; Neumann 2007, S. 20 (allerdings heißt es hier auch, der erste Wohnsitz von Busch/Scharrer, die „Pfauenvilla“, sei von ihnen selbst 1915 erbaut worden – das stimmt ganz offensichtlich nicht); auch Wiede schreibt, dass erst 1927 der Kauf perfekt gemacht worden sei; vgl. Wiede 2002, S. 35. 85 Handschriftliche Erläuterungen, Urheber unbekannt; GAB, S 1/5,4. Das Weilheimer Tagblatt, das ebenfalls über den Fall berichtet hatte, dementierte, dass die Artikel aus Metzners Feder stammten. Weilheimer Tagblatt, 14.1.1926; ebd.

Das „arme Fischerdorf“ und der reiche Geschäftsmann

Der Artikel griff weit zurück in die Geschichte und berichtete, dass das (bereits in frühen Chroniken so bezeichnete) „arme Fischerdorf “ Bernried durch das große Kloster nur wenig Land in den Händen der Bauern hatte halten können – eine Entwicklung, die sich unter dem Freiherrn von Wendland noch verstärkt habe: „[V]on ehemals 46 kleinen landwirtschaftlichen Anwesen sind heute nur mehr 17 ganz kleine übrig geblieben. Die anderen 29 hat in dieser Zeit das Schloßgut geschluckt.“ Während die umliegenden Orte am Starnberger See gewachsen und wirtschaftlich aufgestiegen seien, sei Bernried „im Hintertreffen“ geblieben. Der Großgrundbesitz hindere das Dorf am Wachstum, daher sei es nun das gute Recht der Gemeinde, den beabsichtigten Verkauf des Gutes Höhenried zu verhindern“, um Siedlungsmöglichkeit zu schaffen.86 Auch nach dem Verkauf berichtete der Miesbacher Anzeiger weiter über die Gutsfrage. Ein weiterer Zeitungsartikel, der in der Bernrieder Presseausschnittsammlung auf 1932 datiert ist, gehört sehr wahrscheinlich in den hier dargestellten – auch zeitlichen – Zusammenhang. In der Kategorie „Sprechsaal“, einer Zuschriftsrubrik, hieß es, dass nach dem Verkauf des Guts die nicht arrondierten Grundstücke, die zum Gutsbesitz gehörten, an die Gemeinde gegeben werden müssten. Der Autor, der nur als „L.“ in Erscheinung trat, propagierte seine Idee, die Grundstücke an die dörfliche Unterschicht zu verteilen. Dieser sollte mit einem Garten eine Existenzgrundlage gegeben werden, so könnten Gemeinde und Bezirk Unterstützungsleistungen sparen. Ein Appell schloss den Artikel: Diese Zeilen haben den Zweck, daß Gemeinderat, Bezirksamt und Siedelungsamt auf diese Verhältnisse aufmerksam werden und nach dem Rechten sehen. Das Eine ist gewiß, wird nicht in Bälde alles aufgeboten, dann ist es um die Entwicklung Bernrieds geschehen, es bleibt ein armes Dorf, wohl das ärmste im Weilheimer Bezirk. Die Verantwortung dafür hätten diejenigen zu tragen, die eine eventuelle Gelegenheit zur Verbesserung unbenützt verstreichen ließen.87

Bis hierhin war die Geschichte vor allem eine Meinungsverschiedenheit zwischen einem großgrundbesitzenden Ehepaar und der Gemeinde, die sich die seit dem Kaiserreich durchaus populären Ideen der inneren Kolonisation und Bodenreform zu eigen gemacht hatte. Durch Verteilung von Grund sollten ländliche Unterschichten an die „Scholle“ gebunden, die Gesellschaft insgesamt stabilisiert und die Selbstversorgung als ökonomische Strategie gestärkt werden.88

86 Kein Märchen. Die Geschichte vom unterbliebenen Gutskauf, Miesbacher Anzeiger, 19.12.1925 (Zeitungsausschnitt); GAB, S1/5,3. 87 Sprechsaal: Verkauf des Gutes Höhenried bei Bernried, um 1932 [zweifelhaft]; GAB, S 1/5,5. 88 Zur Popularisierung von Siedlungsdiskursen vgl. Weipert 2006, S. 75–122.

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Die Verteidigung der Ländlichkeit

Blickt man jedoch auch auf ein paar andere Zeitungsartikel, erschienen im „Miesbacher Anzeiger“, dem „Weilheimer Tagblatt“ und den „Münchner Neuesten Nachrichten“, dann erweitert sich der Konflikt. Denn das Sprechen über das „arme Fischerdorf “ Bernried wurde nun, vor allem in den Münchner Neuesten Nachrichten, ins Lächerliche gezogen, indem die ungezügelte ländliche Festkultur in Bernried kritisiert wurde. Bernried bezeichnet sich gern, wenn es Sympathien für sich erwecken will, als „armes Fischerdorf “. Da fällt es auf, wie eifrig sich dieses arme Fischerdorf dem Feiern von Festen hingibt. Die Zeiten sind für unser deutsches Vaterland, das in Locarno um Achtung und Gleichberechtigung zu ringen suchte und durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit Teuerung und Absatzschwierigkeiten unserer Erzeugnisse zu kämpfen hat, immer noch sehr ernst. Da erscheint es nicht angebracht, wenn aus jedem Samstag und Sonntag ein Festttag in dem Sinne gemacht wird, daß sich die Zechereien und Tanzereien bis in die frühen Morgenstunden ausdehnten, und dann noch johlend und singend nach Hause gezogen wird, wie es in Bernried geschieht, das wie gesatg [sic], von interessierten Leuten so gerne im passenden Augenblick als „Armes Fischerdorf “ bezeichnet wird. […] Diese und andere Vorkommnisse geben Veranlassung, festzustellen, daß es dem „armen Fischerdorf “ Bernried nicht so schlecht gehen kann, wenn die Lustbarkeiten derart häufig stattfinden und ausarten. Die zuständigen Behörden und Stellen dürften mithin nach diesen Dingen einmal etwas gründlicher sehen; die Oeffentlichkeit und die unbeteiligten, aber darunter leidenden Bernrieder Einwohner glauben hierauf Anspruch zu haben.89

Diese bürgerliche Kritik an der ländlichen Moral, die schon in der Agrarromantik ein fester Topos gewesen war, wurde verstärkt durch den nationalen Impetus: Gerade in Zeiten der Krise – neben der wirtschaftlichen Notlage rief der Autor des Artikels auch die Verhandlungen um den Vertrag von Locarno auf – sei es unverständlich, wie die Bernrieder Bevölkerung so dermaßen unbekümmert feiern könne. Dadurch habe sie letztlich jedes Anrecht darauf verloren, sich auf die vermeintliche „Armut“ des Dorfes zu berufen – und damit schloss sich der Kreis, der die feiernden Bernrieder:innen mit den Debatten um den Gutskauf von Höhenried verband. Die Vermutung liegt nahe, dass Eduard Scharrer, Miteigentümer der „Münchner Neuesten Nachrichten“, über diese Zeitung auch seine wirtschaftlichen Interessen in Bernried zu vertreten versuchte.90

89 Das „arme Fischerdorf “ Bernried beim Festefeiern, in: Münchner Neueste Nachrichten, 11.11.1925 (Zeitungsausschnitt); GAB, S1/5,3. 90 N. N., Scharrer, Eduard August, o. J.

Das „arme Fischerdorf“ und der reiche Geschäftsmann

Doch die Spitzen auf die dörfliche Moral blieben nicht unwidersprochen. Möglicherweise war es der Bernrieder Pfarrer Hetterich,91 der den „Kampfartikel“ kritisierte und unlautere Motive unterstellte. Vor allem aber sollte die städtische Zeitung besser vor der eigenen Haustüre kehren: Die M. N. N. hätten ihren kostbaren Platz ruhig dafür verwenden können, in das Festefeiern hineinzuleuchten, wie es in München ohne Unterbrechung an der Tagesordnung ist. Auch einem „armen Fischerdorf “ sollte man nach sauren Wochen frohe Feste nicht mißgönnen. Am allerwenigsten sollten dies Leute tun, die im allgemeinen von sauren Wochen nicht allzuviel verspüren.92

Auch das „Weilheimer Tagblatt“ ergriff Partei, konstruierte dabei ein „Wir“ gegenüber den außenstehenden „Münchner Neuesten Nachrichten“ und garnierte das Ganze noch mit etwas bayerischer Mundart. Hoffentlich gelangen diese Zeilen nicht in die Redaktionsstube der „Münchner Neuesten Nachrichten“, sonst ist wieder ein Sensationsartikel mit extra fetter Überschrift über das hiesige „Festefeiern“ fällig. Aber uns kann die „Neueste“ net moana [sic!], das sind unsere Feste, wegen denen wir uns keine Vorwürfe machen brauchen.93

Die Zeitungsartikel über den Verkauf von Höhenried und die Frage, ob Bernried nun ein armes Fischerdorf sei oder nicht, zeigen vor allem, wie stark die lokale ländliche Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit medialisiert war. Zumindest einige Akteure – möglicherweise der Kaufmann Xaver Metzner, der Pfarrer Hetterich und der Gutsbesitzer Scharrer – wussten offenbar auf der Klaviatur der regionalen Presse zu spielen. In dieser medialen Debatte finden wir wichtige Anknüpfungen an die StadtLand-Differenz: Die „Münchner Neuesten Nachrichten“ zeichneten das Bild der ungezügelten, unverantwortlichen ländlichen Bevölkerung; die Stimmen, die für „das arme Fischerdorf “ Partei ergriffen, wiesen in der Reaktion auf die (vermeintliche) Dekadenz der permanent feiernden städtischen Gesellschaft hin und rekurrierten gleichzeitig auf die Unterscheidung zwischen der hart arbeitenden ländlichen Bevölkerung und urban konnotierten Oberschichtsangehörigen, die „im allgemeinen von sauren Wochen nicht allzuviel verspüren“. Beide Seiten argumentierten also mit der jeweils eigenen moralischen Überlegenheit.

91 Vgl. Kein Märchen. Die Geschichte vom unterbliebenen Gutskauf, Miesbacher Anzeiger, 19.12.1925 (Zeitungsausschnitt); GAB S1/5,3. 92 Münchner Neueste Nachrichten, o. D. (Zeitungsausschnitt); ebd. 93 Weilheimer Tagblatt, 4.12.1925 (Pressespiegel); ebd.

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Die Verteidigung der Ländlichkeit

10.4.3 Bernrieder Lokalpolitik Dieser Schlagabtausch in der regionalen Presse war offenbar ein kurzes Aufblitzen eines Konflikts, der auf die lokalen politischen Verhältnisse noch länger Auswirkungen hatte.94 Auch in Bernried wurde 1929 ein neuer Gemeindeausschuss gewählt. Zunächst existierte die Idee, alle Bewerber (sic!) auf einer gemeinsamen Liste antreten zu lassen, um wie gewohnt einzelne Personen wählen zu können.95 Letztlich wurden jedoch drei Wahlvorschläge eingereicht, wie das Weilheimer Tagblatt am 28. November 1929 berichtete. Es traten an: - die „Scharrer’sche Arbeitsgemeinschaft“, offenbar ausschließlich Angestellte oder Arbeiter des Scharrer’schen Gutes; - die Liste „‚Allgemeines Volkswohl‘[,] die Grund- und Hausbesitzer, Gewerbetreibende, Beamte und den Gutsbetrieb von Unterholz“ versammelte, - außerdem eine Liste der KPD, „von den Bewohnern der Ansiedlung zwischen Diemendorf und Karra“ – damit ordnete der Zeitungsbericht diese Liste der räumlichen und sozialen Peripherie zu. Das Dorf hatte sich also politisch aufgespalten, einerseits in diejenigen, die wirtschaftlich vom Scharrer’schen Gut abhängig waren, andererseits in diejenigen, die das restliche Dorf repräsentieren wollten. Das „Allgemeine Volkswohl“ generalisierte das Allgemeinwohl und reklamierte es für sich, ebenso wie die „unparteiischen“ bzw. „unpolitischen“ Gruppen in Mahlow. Gerade die explizite Betonung des AntiPartikularistischen diente der Abgrenzung von anderen, vermeintlich parteiischen Gruppierungen. Damit wurde also der konflikthafte Charakter der Politik sogar noch weiter forciert. Das „Weilheimer Tagblatt“ bedauerte auf jeden Fall in seiner Berichterstattung, dass es überhaupt zu unterschiedlichen Listen gekommen war: „Mithin muß am 8. Dez. nach Verhältniswahl gewählt werden…“96 Die Verhältniswahl stand in demokratieskeptischen oder -ablehnenden Kreisen in der Kritik, sei es doch in erster Linie dieses Verfahren, das allgemeinpolitische Konflikte in die Gemeinden hineintragen werde.97 Politik, das zeigte sich allerdings jetzt in Bernried, war nicht zwingend Parteipolitik im nationalen Sinne, sondern konnte auch ein anderes Framing sozialer und ökonomischer Unterschiede in der Gemeinde selbst sein. Die Ergebnisse der Kommunalwahl finden sich ebenfalls im „Weilheimer Tagblatt“. Die Wahl des Bürgermeisters war offenbar unbeeinflusst von lokalen Fehden: 94 Der Chronist der Wilhelmina Busch bestreitet das allerdings. Wiede 2002, S. 35. 95 Weilheimer Tagblatt, 7.11.1929, 20.11.1929; GAB S 1/5,4. 96 Weilheimer Tagblatt, 28.11.1929; ebd. Ob die Hervorhebung an dieser Stelle vom Zusammensteller des Pressespiegels oder aus der Zeitung selbst stammt, kann nicht zweifelsfrei geklärt werden. 97 Gemeindewahlen, in: Der bayerische Bürgermeister 8, 1919, Nr. 4, S. 27–28, hier: S. 27.

Das Land als Differenzmaschine

„Von insgesamt 308 abgegebenen Stimmen erhielt Bürgermeister Schmid 306 (Bravo!).“98 Der Gemeindeausschuss, der für die nun anbrechende Wahlperiode auf zehn Mitglieder aufgestockt worden war, setzte sich nun aus acht Vertretern der Liste „Allgemeines Volkswohl“ und zwei Vertretern der Scharrer’schen Mitarbeiter:innen zusammen; die Kommunisten erhielten keinen Sitz im Gemeinderat. Die beiden Ratsmitglieder der „Scharrer’schen Arbeitsgemeinschaft“ waren Joseph Marchl und Robert Gehring; sie hatten dem Gremium zuvor nicht angehört.

10.5

Das Land als Differenzmaschine

Auf den ersten Blick waren die beiden Streitereien in Mahlow und Bernried rein lokale Konflikte, geprägt durch die jeweiligen personellen und ökonomischen Konstellationen. Verallgemeinern kann man sie auf der konkreten Ebene nicht. Doch zeigen sich überraschende Ähnlichkeiten, etwa das Ineinandergreifen von persönlichem Streit und struktureller Konfliktlage oder auch die Übersetzung der lokalen Spannung in lokale politische Organisationen, nämlich in Listen für die Gemeinderatswahlen. Zudem waren in beiden Fällen auch Akteure jenseits der Dorfgrenzen beteiligt – ganz lokal blieben die Spannungen also nicht. Und damit treffen sie sich auch mit den beiden anderen, eher regionalen Konflikten, von denen dieses Kapitel berichtet hat, denn die lokalen Verhältnisse überlappten sich mit größeren und kleineren Transformationen: mit der Medialisierung im ländlichen Raum, mit der Tendenz zur staatlichen Zentralisierung und administrativen Rationalisierung, mit Migrationsprozessen (vor allem dem Zuzug in vormals rein ländliche Gemeinden) und dem Infrastrukturausbau. In allen Fällen lässt sich beobachten, wie diese Transformationsprozesse, die eher struktureller Art waren, gerahmt wurden durch Rückgriffe auf bestimmte Vorstellungen von Ländlichkeit, die zunehmend einen defensiven Charakter trugen. Ländlichkeit war nicht einfach nur ein Attribut oder gar eine Beschreibung einer vorhandenen, unabhängig von Zuschreibungen und sonstigen Operationen existierenden Eigenschaft eines bestimmten Raums. Ländlichkeit war ein Mittel zur Herstellung von Differenz. Nicht nur, aber vornehmlich für Politik und Regierung produzierte das Attribut „Ländlichkeit“ Unterscheidungsmöglichkeiten, die die spezifische Umgangsweise mit ländlichem Raum in einen sinnvollen Rahmen setzten. „Ländlichkeit“ hatte dabei nicht nur ein Antonym. Je nach Kontext und Perspektive konnte Ländlichkeit von verschiedenen Dingen abgegrenzt werden, nicht nur von „der Stadt“, sondern beispielsweise auch von „dem Staat“ als Zentralinstanz von Herrschaft. In diesem Fall rückte der periphere Charakter von Ländlichkeit

98 Weilheimer Tagblatt, 11.12.1929; GAB S 1/5,4.

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Die Verteidigung der Ländlichkeit

oder die Unberührtheit des Landes ins Zentrum. Ländlichkeit wurde oftmals in den Kontrast zu „moderner Gesellschaft“ gesetzt (und damit ein grundlegender Unterschied in sozialer Organisation betont).99 Stets schwang bei der Differenzmaschine Ländlichkeit auch eine temporale Unterscheidung mit. Während das Ländliche mit dem Ewigen oder zumindest mit dem geschichtlich Gewordenen assoziiert wurde, galt die Stadt als modern, zukunftsgerichtet. Je nach Sprecherposition und Beobachterperspektive konnte das eine oder das andere positiv konnotiert sein. Daher rührt auch die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Ländlichkeitskonstruktionen als konservativ oder progressiv: War das Land schützenswert und von modernisierenden Einflüssen freizuhalten? Oder handelte es sich beim ländlichen Raum um einen defizitären, entwicklungsbedürftigen Raum? Ländlichkeit unterlag und unterliegt einem kulturellen und historischen Wandel. In der Zwischenkriegszeit trafen sehr unterschiedliche Konflikte zusammen, die die defensive Spielart der Ländlichkeit deutlich hervortreten ließ. Im Kleinen wie im Großen grenzten sich ländliche Gesellschaften auch politisch von Entwicklungen ab, die von der ländlichen Bevölkerung (oder vielmehr den Sprechern, die vermeintlich für die Landbevölkerung sprachen) gleichzeitig als städtisch und als staatlich wahrgenommen wurden.

99 Ferdinand Tönnies buchstabierte den Unterschied zwischen einer traditionalen Gemeinschaft und einer modernen Gesellschaft aus und verortete zumindest implizit das eine auf dem Land, das andere in der Stadt. Vgl. Tönnies 1969, S. 28–43.

11.

Regieren in der Diktatur

Die bisherigen Kapitel haben gezeigt, dass seit dem 19. Jahrhundert mehrere Entwicklungen gemeinsam die Gemeinden als zentrale Orte des ländlichen Regierens haben hervortreten lassen: Selbstverwaltung als Praxis gehörte ebenso dazu wie die Auseinandersetzungen darüber, welche Rolle Ländlichkeit für Politik und Verwaltung spielen sollte. Unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur veränderten sich die Bedingungen des ländlichen Regierens erheblich. Die Akteurskonstellationen veränderten sich ebenso wie Anforderungen, die an das lokale Personal gestellt wurden; die Verfolgung und Deportation der als jüdisch deklarierten Bevölkerung fand in den Gemeinden statt, und Aufrüstung und Weltkrieg brachten noch einmal ganz neue Bedingungen für die Landgemeinden und die Landbevölkerung. Die Geschichtswissenschaft hat sich diesen Veränderungen ausführlich gewidmet. Dazu gehören die Untersuchungen zur nationalsozialistischen Machtergreifung im lokalen oder regionalen Raum. Zofka und Wagner haben an unterschiedlichen Untersuchungsregionen nachgezeichnet, welche Auswirkungen die Durchsetzung des nationalsozialistischen Machtanspruchs auf das dörfliche Sozialgefüge hatte. Sie zeigen, dass es im Nationalsozialismus zu einem verstärkten Austausch der gemeindlichen Funktionseliten kam.1 Anette Blaschke untersucht die nationalsozialistische Herrschaftspraxis in Hameln-Pyrmont anhand der Ortsbauernführer, einer wichtigen, bislang wenig beachteten Gruppe des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats, und arbeitet so das konkrete Konfliktmanagement der unterschiedlichen Akteure heraus.2 Damit schließt sie an einige Studien an, die Formen der Konfliktbewältigung und der sozialen (Re-)Organisation unter den Bedingungen der NS-Herrschaft en détail untersuchen. Daniela Münkel hat in ihrer Studie zu den Anerbengerichten im Landkreis Stade gezeigt, dass die klassische Dichotomie von produktivistischer Landwirtschafts- und ideologischer Blut- und Bodenpolitik möglicherweise für die Auseinandersetzungen in der NS-Führung gewinnbringend ist, nicht aber für die Analyse der lokalen Regierungsweisen.3 Ähnlich argumentiert Theresia Bauer in ihrer Studie über die ländliche Gesellschaft in Oberbayern unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs. Die bäuerliche Bevölkerung versuchte, so Bauer, „sich einen Handlungsspielraum zu sichern, der rationelles Arbeiten nach ihren Vorstellungen gewährleistete“, wozu die bäuerlichen Akteure

1 Vgl. Kaschuba, Lipp 1982; Wagner 1998; Zofka 1979. 2 Vgl. Blaschke 2018. 3 Vgl. Münkel 1996.

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Regieren in der Diktatur

flexibel unterschiedliche Möglichkeiten nutzten.4 Auf solche Aneignungsweisen des Nationalsozialismus weist auch Ernst Langthaler in seiner Studie zur Praxis der Landwirtschaft im „Gau Niederdonau“ hin. Er zeichnet ein „überraschend dynamisches Bild“ auch der sozialen Praktiken in österreichischen landwirtschaftlichen Betrieben und bäuerlichen Sozialräumen.5 Zu diesen (und vielen weiteren) systematischen Studien treten Lokalstudien; dabei ist ein Trend auszumachen, dass insbesondere in den letzten Jahren Untersuchungen über Dörfer und Gemeinden erschienen sind, deren Anliegen es nicht in erster Linie ist, die Gemeinden „reinzuwaschen“ vom Vorwurf, mitgemacht zu haben.6 Exemplarisch ist hier die Untersuchungen von Marita Krauss und Erich Kasberger zum Dorf Pöcking zu nennen, der Nachbargemeinde von Bernried; die beiden Autor:innen arbeiten heraus, wie sehr die Verstrickungen in den Nationalsozialismus auf lokaler Ebene auch vom jeweiligen Personal abhingen.7 Eine monumentale Studie widmet sich dem Nationalsozialismus in Murnau, der Kleinstadt im bayerischen Oberland, die bereits Ende der 1920er Jahre als völkischer Ort bekannt (und durchaus beliebt) war.8 Diese und andere Untersuchungen weisen vor allem auf die Diskontinuitäten, auf das Spezifische des Nationalsozialismus im ländlichen Raum hin, auch wenn sie zum Teil die Vor- und Nachgeschichten der nationalsozialistischen Herrschaft mit einbeziehen. Allerdings sollten auch die Kontinuitäten in den Blick genommen werden, denn die Regierungsweise im Nationalsozialismus knüpfte an viele etablierte Praktiken des Regierens auf dem Land an. In einem ersten kurzen Abschnitt gehe ich noch einmal auf die „Vorgeschichte“ des Nationalsozialismus in den von mir untersuchten Dörfern ein, um dann in einem zweiten Schritt zunächst die Ebene zu wechseln: Der Begriff der Selbstverwaltung wurde im Nationalsozialismus nicht unwichtig, sondern uminterpretiert. Die Reform der Gemeindeverwaltung, die in der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 kulminierte, knüpfte an Kontinuitäten seit dem 19. Jahrhundert an, setzte aber deutlich neue Akzente – und zwar solche, die sich auf die untersuchten Dörfer und ihre Verwaltung auswirkten. In einem dritten Abschnitt wende ich mich der Inbesitznahme der Dörfer zu: der symbolischen ebenso wie der personellen. Ein vierter kurzer Abschnitt gibt einen Einblick in die Verhältnisse des Kriegsendes. Abschließend werde ich das Verhältnis der Kontinuitäten und Diskontinuitäten des

4 5 6 7

Bauer 1996. Langthaler 2015, S. 700–704, Zitat S. 742. Vgl. Thomaschke 2016. Dafür vergleichen sie Pöcking mit Aschering und Maising – heute sind das Gemeindeteile von Pöcking. Vgl. Krauss, Kasberger 2020. 8 Vgl. Raim 2020. Vgl. zudem Boyd 2022.

Das Ende der Weimarer Demokratie

nationalsozialistischen Regierens auf dem Land diskutieren und auf das Problem der bruchstückhaften Überlieferung eingehen.

11.1

Das Ende der Weimarer Demokratie

Die Jahre seit 1929 gelten als die Krisen- und Untergangsjahre der Weimarer Republik, als die Weltwirtschaftskrise und damit die Zuspitzung der sozialen Verwerfungen in der deutschen Gesellschaft, die steigenden Zustimmungsraten für die nationalsozialistische Partei und die Aushöhlung des parlamentarischen Systems der Weimarer Republik durch die Präsidialkabinette zusammentrafen.9 Jürgen Falter hat gezeigt, dass ab 1928 „Hitlers Wähler“ in den ländlich-protestantischen Gebieten zu finden waren.10 Detlef Peukert hat allerdings nachdrücklich darauf hingewiesen, dass dem ein wichtiger Prozess voranging: Gerade auf dem Land wandten sich die Menschen zunächst von der Republik ab, um sich dann später der NSDAP zuzuwenden.11 Diese Abwendung habe ich zum Teil im letzten Kapitel bereits beschrieben. Nun gilt es, die Verschärfung der Krise im ländlichen Raum genauer in den Blick zu nehmen. 11.1.1 Gemeindepolitik in Krisenzeiten Liest man die Protokolle der Gemeindevertretungen aus den „Krisenjahren“ der Weimarer Republik, findet man wenig Aufsehenerregendes jenseits der bereits geschilderten lokalen Konflikte. Die Gemeindevertretungen widmeten sich dem Tagesgeschäft; in Mahlow bedeutete das vor allem die Bewältigung des immer stärker werdenden Zuzugs, der in den 1920er Jahren stattfand. Gleichzeitig stiegen die sozialen Lasten, die die Gemeinde trug; die „Wohlfahrtssachen“, die in fast jeder Sitzung auf der Tagesordnung standen, nahmen immer mehr Raum ein – ein Effekt der Weltwirtschaftskrise mit ihren hohen Arbeitslosenzahlen. Die Weihnachtsspenden etwa, die die Gemeinde im Dezember an die bedürftigen Mahlower:innen verteilte, stiegen sukzessive an. Im Dezember 1930 wurden an 28 Haushalte insgesamt 710 Reichsmark verteilt; zusätzlich dazu erhielten alle Erwerbslosen noch einmal einen Betrag zwischen drei und zehn

9 Vgl. Büttner 2010, S. 397–509. 10 Falter 1991, S. 256–266. 11 Peukert 1987, S. 227 f.

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Reichsmark.12 Ein Jahr später deckelte die Gemeindevertretung die Weihnachtsspende bei 500 Reichsmark.13 Denn spätestens nun war die Gemeinde in Geldnot geraten. So ließ sich der Gemeindevorsteher im März 1932 die Überschreitung der Haushaltssätze genehmigen,14 und die Sätze der Bürgersteuer wurden sukzessive erhöht.15 Im Dezember 1932 schließlich wurden Vergnügungs-, Bier- und Hundesteuer noch einmal angehoben – das waren die Steuern, die die Gemeinden selbst erheben konnten, also diejenigen Stellschrauben, an denen sie selbst am besten drehen konnten, um irgendwie ein ausgeglichenes Budget herzustellen.16 Damit befand sich Mahlow in guter Gesellschaft. Fast alle preußischen Gemeinden mussten zu Beginn der 1930er Jahre mit allen Tricks kommunaler Kassenführung versuchen, ihren Haushalt auszugleichen – die meisten ohne Erfolg. Die Gründe dafür waren vielfältig. Die große Erzberger’sche Finanzreform hatte schon in den frühen 1920er Jahren tief in die finanziellen Spielräume der Gemeinden eingegriffen, weil sie ihr Recht, Aufschläge zur Einkommenssteuer zu erheben, durch sie verloren.17 Vor allem aber waren es die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise, die die Finanzen vieler deutscher Gemeinden in eine Schieflage brachten. Einerseits wuchsen die Fürsorgelasten deutlich an; andererseits sanken ihre Steuereinkünfte – sowohl die eigenen als auch die des Reichs, was sich wiederum auf den Finanzausgleich auswirkte. Die Reichsfinanzpolitik agierte rigide – die Möglichkeiten der Kommunen, an Gelder zu gelangen, sei es durch die Erhöhung von Steuern und Abgaben oder durch Kredite, wurden weiter eingeschränkt.18 11.1.2 Republikgegner im Dorf Diese (zunehmend scheiternde) Krisenbewältigung traf zeitlich zusammen mit einer zunehmend offen zur Schau getragenen Ablehnung der Republik in der Dorföffentlichkeit. Bei einer Feier des Bernrieder Veteranenvereins beispielsweise war als besonderer Gast August Wilhelm Prinz von Preußen anwesend – der

12 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 19.12.1930; KrA-TF XII.297, S. 158. Zum Vergleich: 1928 wurden 460 RM an 23 Haushalte verteilt. Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 20.12.1928; ebd., S. 88; im Jahr 1929 wurden 610 RM an 25 Haushalte verteilt: Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 30.12.1929; ebd., S. 118. 13 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 18.12.1931; ebd., S. 196. 14 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 11.3.1932; ebd., S. 211 f. 15 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 18.10.1932; ebd., S. 241. 16 Protokoll der Mahlower Gemeindevertretung, 16.12.1932; ebd., S. 250. 17 Vgl. Rabe 2017, S. 43–45. 18 Vgl. ebd., S. 47–49.

Das Ende der Weimarer Demokratie

vierte Sohn des letzten deutschen Kaisers war in den 1920er Jahren als Protagonist des reaktionären Konservatismus ein beliebter Redner, der spätestens ab 1929 den Kontakt zur nationalsozialistischen Partei suchte und später als prominenter SA-Obergruppenführer offensiv Politik für die Nationalsozialisten machte.19 Die Verbindung zwischen dem Bernrieder Veteranenverein und „Prinz Auwi“ als einem prominenten Vertreter der Republikfeinde kam vermutlich über Eduard Scharrer zustande. Scharrer war nicht nur ein großer Gönner des Veteranenvereins, hatte er doch unter anderem größere Summen für das Kriegerdenkmal gespendet,20 sondern war selbst ein früher Förderer der NSDAP und persönlicher Bekannter von Adolf Hitler.21 In der Bernrieder Öffentlichkeit stellte es allem Anschein nach kein Problem dar, bei einem feierlichen Anlass wie dem Stiftungsfest demonstrativ mit Personen zu verkehren, die politisch offen gegen die republikanische Ordnung auftraten. Während in Bernried also Repräsentant:innen des Dorfes die Nähe zu Gegnern der Republik suchten, wurde der Mahlower Raum anders, gewaltsam, besetzt. Das Dorf war in den frühen 1930er Jahren der Schauplatz von Gewalt durch nationalsozialistische Gruppen. So überfiel im Herbst 1932 eine Gruppe von Nationalsozialisten eine Familienfeier in Mahlow, wie der „Vorwärts“ berichtete: Mit Messern und Schlaginstrumenten drangen die Hakenkreuzler auf die Ahnungslosen ein. Drei Personen erlitten Stichverletzungen, mehrere andere wurden durch Hiebe über den Kopf verletzt. Wie uns aus Mahlow berichtet wird, handelt es sich zweifellos um einen genau vorbereiteten Überfall. […] Nach der Heldentat flüchtete die Nazibande und entkam.22

Zudem gibt es Hinweise darauf, dass es in Mahlow möglicherweise einen Schlägertrupp aus SA-Männern gab, der im Großraum Berlin die Straßen unsicher machte.23 Diese Quellen weisen darauf hin, was Michael Wildt in seiner Studie zur gewaltsamen Herstellung der „Volksgemeinschaft“ herausgestellt hat: Insbesondere

19 Vgl. Malinowski 2021, S. 220 f. und passim; ders., S. 439. Ein Foto, auf dem „Prinz Auwi“ in Stahlhelm-Uniform gemeinsam mit Xaver Metzner, dem Vorsitzenden des Veteranenvereins, und Eduard Scharrer, dem Gutsbesitzer und Gönner des Veteranenvereins, gemeinsam durchs Dorf marschiert, wurde noch in den 1980er Jahren vollkommen affirmativ zur Illustration einer Festschrift verwendet. Scherbaum 1982a, S. 38. 20 Eine hochherzige Spende (Weilheimer Tagblatt, 18.4.1922; Pressespiegel); GAB, S1/5,3. 21 Vgl. dazu Staatssekretär Hamm 2.4.1923; vgl. auch die Aufzeichnungen eines Gesprächs, das Hitler im Dezember 1922 mit Scharrer über seine langfristigen Pläne führte: Hitler 1980, S. 770–775. Eine kurze Erwähnung von Scharrer außerdem bei Maser 1965, S. 406. 22 Nazibande überfällt Familie. Empörung in Mahlow, in: Vorwärts 49 (4.10.1932), S. 2. 23 Schwerbewaffnete Nazis. SA-Überfall auf Reichsbanner in Steglitz, in: Vorwärts 49 (28.7.1932), S. 6.

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in Kleinstädten und Dörfern sei die „Volksgemeinschaft“ weniger durch Parteistellen und Polizei hergestellt worden, sondern durch aktives Tun der ländlichen und kleinstädtischen Akteure selbst, insbesondere durch Gewalt, und das auch schon deutlich vor 1933.24 11.1.3 Verbände und Parteien Neben der Gemeindepolitik bekamen andere politische Ebenen in der späten Weimarer Republik mehr Gewicht, schon alleine deshalb, weil sich sowohl die Verbands- als auch die Parteienlandschaft veränderte und diversifizierte. Dadurch lockerten sich die individuellen Bindungen an einen Verband oder eine Partei. Die agrarischen Verbände differenzierten sich während der Weimarer Republik stark aus. Neben den Bund der Landwirte, der zumindest in den protestantischen Regionen Deutschlands eine gewisse Monopolstellung im Bereich der agrarischen Interessensorganisation für sich hatte beanspruchen können, traten viele lokale oder regionale Organisationen, die ab den frühen 1920er Jahren – dann auch gemeinsam mit dem Bund der Landwirte – im Reichslandbund organisiert waren. Dieser war aber eher ein lockerer Zusammenschluss höchst unterschiedlicher Organisationen, denen lediglich gemeinsam war, dass in ihnen die (ebenso heterogenen) Interessen auch der kleineren Landbesitzer und des bäuerlichen Mittelstandes einen Platz fanden.25 Neben den fest institutionalisierten Verbänden gab es auch Protestbewegungen wie die Landvolk-Bewegung;26 manche von ihnen waren stark gegen das System als Ganzes gerichtet, andere (wie die christlichen Bauernverbände) eher loyal.27 Auch wenn viele von diesen Organisationen regional gebunden waren, so erhöhte sich doch der Kontingenzgrad im Bereich der agrarischen Interessenvertretung erheblich. Es war nicht mehr vorgegeben, welche Organisation die eigenen bäuerlichen oder ländlichen Interessen am stärksten vertrat, sondern zunehmend Gegenstand einer Entscheidung. Diese Diversifizierung zeigt sich auch bei den Wahlergebnissen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre.28 In Mahlow zerfiel ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zunehmend das bürgerliche bis konservative Parteienspektrum. Die Wahlberechtigten der Rechten wählten neben der DNVP zunehmend die NSDAP, aber auch eine Gruppe von Parteien, die sich über ständische oder sonstige Sonderinteressen definierten: Dazu gehörte das Deutsche Landvolk, also die Christlich-Nationale

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Wildt 2007b, S. 14, 361 u. 363. Vgl. Ullmann 1988, S. 146 f. Vgl. Otto-Morris 2013; Stoltenberg 1962. Vgl. Ullmann 1988, S. 153. Vgl. Falter, Lindenberger, Schumann 1986.

Das Ende der Weimarer Demokratie

Bauern- und Landvolkpartei (CNBL), die unter anderem von einem der Funktionäre des Preußischen Landgemeindeverbandes (mit-)gegründet worden war, sowie die Reichspartei des Deutschen Mittelstandes. Auch kleinere Parteien – der „Freibund des Handwerks, Kleinhandels und Gewerbes“ oder die „Deutsche Reichspartei der geistigen Berufe, Angestellten und Beamten“ – erzielten einstellige Wahlergebnisse.29 Tabelle 8 Reichstagswahlergebnisse 1928 und 1932 in Mahlow Partei SPD DNVP NSDAP KPD Zentrum DVP Reichspartei des Deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei) Deutsche Staatspartei Deutsches Landvolk (CNBL) Sonstige

Mai 1928 30,52 % 15,4 % 16,68 % 13,75 % 1,74 % 3,21 % 3,12 %

Juli 1932 27,55 % 11,93 % 37,17 % 16,7 % 2,46 % 0,8 % 0,36 %

November 1932 25,82 % 14,55 % 33,65 % 19,66 % 2,72 % 0,96 %

5,41 % 7,61 % 2,57 %

2,1 % 0,07 % 0,87 %

1,04 % 1,44 %

Im Juli 1932 blieben die „großen“ Parteien weitgehend stabil; die DNVP musste zwar deutliche Verluste hinnehmen, blieb aber zweistellig. Die gravierenden Zuwächse der NSDAP lassen sich auch durch die Verluste der ständisch orientierten Parteien erklären. So verschwand die CNBL beispielsweise in der Bedeutungslosigkeit; die NSDAP saugte dieses Wählerpotenzial vollständig auf. In Bernried konnte die NSDAP aufgrund der starken und ungebrochenen Dominanz der Bayerischen Volkspartei keine ähnlichen Stimmenzuwächse verzeichnen wie in Mahlow. Doch immerhin elf beziehungsweise 15 Prozent der Stimmberechtigten gaben den Nationalsozialisten ihre Stimme.30

29 Zählliste zur Reichstagswahl 1928; KrA-TF, XII.329. 30 Bernried lag mit diesen Zustimmungsraten allerdings knapp unter dem Durchschnitt für oberbayerische Bezirksämter (also Bayern abzüglich der kreisfreien Städte): 1930 gaben bei der Reichstagswahl 13,1 Prozent, 1932 im November 19,6 Prozent der Wähler:innen der NSDAP ihre Stimme; vgl. Stäbler 1992, S. 336.

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Tabelle 9 Reichstagswahlergebnisse 1930 und November 1932 in Bernried Partei SPD DNVP NSDAP KPD BVP Reichspartei des Deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei) Deutsche Staatspartei Deutschnationale Partei Deutscher Bauernbund Deutsche Bauernpartei Konservative Staatspartei

September 1930 10 % 11 10 44 1

% % % %

November 1932 12 % 2 % 15 % 13 % 56 %

2 % 3 % 14 % 2 % 4 %

Während in Mahlow vor allem die NSDAP vom Verlust der ständischen Parteien profitieren konnte, war es in Bernried offenbar die BVP, die Stimmen vom Bauernbund zurückgewinnen konnte. Doch immerhin 25 Prozent der Stimmen entfielen hier im November 1932 auf die Linksparteien, was auf die Arbeiter:innen in den großen landwirtschaftlichen Betrieben zurückzuführen sein dürfte. Die Wahlergebnisse der beiden Gemeinden zeigen deutlich, dass die Streuung über Parteien, die vor allem Partikularinteressen auf ihre Fahnen geschrieben hatten, zum Ende der Weimarer Republik hin zugunsten der NSDAP zurückging; sie verweisen ebenso auf die regionalen Unterschiede, denn in Bayern blieb die Bayerische Volkspartei bestimmende Kraft. Gegenüber der Zeit um 1900 zeigt sich aber in beiden Gemeinden eine starke Diversifizierung der Parteieinflüsse.31 Vor allem wuchs der Anteil der Parteien, die das Weimarer System in Gänze ablehnten (NSDAP und KPD), in Bernried auf 28, in Mahlow sogar auf deutlich über 50 Prozent. Die Spätphase der Weimarer Republik war auch in den kleinen Gemeinden durch starke Krisen gekennzeichnet. Die finanziellen Spielräume der Gemeinden verschwanden angesichts der Deflations- und Kreditpolitik der Reichsregierung, während nicht nur bei den Wahlen republikfeindliche Kräfte im Dorf sichtbar wurden.

31 In Mahlow hatten die Konservativen 1893 über 70 Prozent der Stimmen erlangt; in Bernried lag das Bayerische Zentrum bei der gleichen Wahl bei über 77 Prozent der abgegebenen Stimmen. Teltower Kreisblatt vom 17.6.1893, S. 2; Weilheimer Tagblatt vom 17.6.1893, in: Zur neueren Geschichte Bernrieds. Was die Zeitungen berichteten (Pressespiegel); GAB S1/5,2.

„Krise“ und Umdeutung der Selbstverwaltung

11.2

„Krise“ und Umdeutung der Selbstverwaltung

In der Weimarer Republik galt die kommunale Selbstverwaltung als Problemfeld. In der Phase kurz nach der Revolution hatten konservative Stimmen kritisiert, dass die neuen Wahl- und sonstigen kommunalen Rechte die lokale Ordnung gefährdeten (vgl. Kap. 10.2).32 Im Kontext der Erzberger’schen Finanzreform war die Situation der Gemeinden diskutiert worden – die neue Abhängigkeit von den finanziellen Zuwendungen von „oben“ griff tief in das Selbstverständnis der Kommunalpolitiker ein, sie sahen ihr Recht auf „Selbstverwaltung“ in Gefahr.33 In den späten 1920er Jahren wurden politische Konflikte zunehmend lokal bedeutsam – oder, wie ich in Kapitel 10 gezeigt habe, lokale Konflikte wurden in politische Koordinaten eingepasst und so lesbar gemacht. Diese Entwicklung passte nicht zum weiter (vor allem in konservativen Kreisen) stark verbreiteten Idealbild der Gemeinden als politikferner, weil genossenschaftlicher Sphäre. Noch 1957 stellte Hans Herzfeld bedauernd fest, dass die Gemeinden in der Zwischenkriegszeit „unter einem Mehrfrontendruck“ gestanden hätten.34 Ernst Forsthoff sprach 1932 von der „Krise der Gemeindeverwaltung im heutigen Staat“ und schloss von konservativer Warte aus all diesen zeitgenössischen Krisendiagnosen, dass die kommunale Selbstverwaltung durch die „pluralistische[n] und polykratische[n] Bestrebungen“ der Gegenwart gefährdet sei.35 In der NSDAP waren diese Krisendiagnosen hochgradig anschlussfähig, auch wenn das kommunalpolitische Programm der Partei wenig ausgefeilt war. Karl Fiehler, der vor 1933 der NS-Experte für Kommunalpolitik war, hatte 1929 eine Handreichung für die wachsende Zahl der Gemeinderäte der Partei erarbeitet, die die kommunalpolitische Bühne nicht für Sacharbeit, sondern für nationalsozialistische Propaganda nutzen sollten. Dies schien auch deshalb legitim zu sein, weil, so Fiehler, „heute die politischen Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung der Gemeinden überhaupt fehlen.“36 Er diagnostizierte eine „Krankheit“, eine „Auszehrung“ der Gemeinden, in denen sich das Elend des Staates und Volkes insgesamt spiegle; in einem gesunden Staat jedoch seien die Gemeinden ein wichtiges „Bindeglied [des Einzelnen] zu Volk und Staat“.37

32 33 34 35 36 37

Vgl. Wirsching 1997, S. 195. Vgl. Rabe 2017, S. 45 f. Herzfeld 1957, S. 20. Forsthoff 1932, S. 59–65. Fiehler 1929, S. 78. Ebd., S. 6–8.

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11.2.1 Mal wieder: Reformen der Selbstverwaltung Die Machtübernahme38 der NSDAP im Januar 1933 schuf neue Möglichkeiten, die Selbstverwaltungskörperschaften umzugestalten. Dafür spielte sowohl die skizzierte Krisendiagnose eine Rolle als auch zentrale Merkmale nationalsozialistischer Ideologie wie Führerprinzip und Gefolgschaft. In Preußen wurde noch im Dezember 1933 in nicht vollständiger Übereinstimmung mit der NSDAP-Führung ein neues Gemeindeverfassungsgesetz verabschiedet, und im Januar 1935 folgte die Deutsche Gemeindeordnung (DGO), die vorgab, das Problem der Selbstverwaltung unter nationalsozialistischen Vorzeichen zu lösen.39 Das neue preußische Gemeindeverfassungsgesetz setzte einen unerwarteten Schlusspunkt hinter die langjährigen Konflikte, die in den 1920er Jahren um die Verfassung der Gemeinden getobt hatten.40 Preußen besaß nun zum ersten Mal eine einheitliche Gemeindeordnung für das gesamte Staatsgebiet. Das neue Gemeindeverfassungsgesetz war aber keineswegs die Fortführung der 15 Jahre währenden Reformdebatten, sondern ein Konglomerat aus dem autoritären Staatsverständnis der preußischen Bürokratie, Regelungen aus der Zeit der Präsidialkabinette und originär nationalsozialistischen Vorstellungen eines „organischen Aufbaus“ des neuen Staats. Die Gemeinden wurden mit dem Gesetz auf das Führerprinzip umgestellt; entsprechend waren weite Teile des Gemeindeverfassungsgesetzes der neuen Stellung des Gemeindeleiters und seinen Aufgaben sowie Befugnissen gewidmet. Außerdem wurde die Gemeinde noch stärker als zuvor in eine Aufsichtshierarchie eingefügt – aber nicht nur durch die staatliche Bürokratie, sondern auch durch die Stellen der NSDAP.41 Diese Punkte wurden durch die Deutsche Gemeindeordnung, die im Januar 1935 für das ganze Deutsche Reich in Kraft trat, weitergeführt. Betont wurde seitens der Vertreter der nationalsozialistischen Innen- und Kommunalpolitik, dass nun die kommunale Selbstverwaltung im nationalsozialistischen Sinne verwirklicht worden sei. Es handelte sich dabei um eine Idee von Selbstverwaltung, die sich deutlich etwa von der sozialdemokratischen oder liberalen Vorstellung unterschied. In der Präambel hieß es: Die Deutsche Gemeindeordnung will die Gemeinden […] instand setzen, im wahren Geiste des Schöpfers gemeindlicher Selbstverwaltung, des Reichsfreiherrn vom Stein, mitzuwirken an der Erreichung des Staatszieles: in einem einheitlichen, von nationalem

38 Frei (1983) weist darauf hin, dass sowohl „Machtergreifung“ als auch „Machtübernahme“ Quellenbegriffe seien, die kritisch reflektiert und komplementär verwendet werden sollten. 39 Frick 1937, S. 10. 40 S. o., Kap. 10.2. 41 Vgl. Löw 1991, S. 121–140; Matzerath 1970, S. 121–130.

„Krise“ und Umdeutung der Selbstverwaltung

Willen durchdrungenen Volke die Gemeinschaft wieder vor das Einzelschicksal zu stellen, Gemeinnutz vor Eigennutz zu setzen und unter Führung der Besten des Volkes die wahre Volksgemeinschaft zu schaffen, in der auch der letzte willige Volksgenosse das Gefühl der Zusammengehörigkeit findet.42

Die Deutsche Gemeindeordnung war aus nationalsozialistischer Perspektive also ein Mittel des Regierens, das versprach, im lokalen Raum jeden „Volksgenossen“ auf die gemeinsame „Volksgemeinschaft“ auszurichten. Das war deshalb notwendig, weil die Gemeinde, wie Innenminister Wilhelm Frick betonte, eine der „Urzellen des Volkes“ sei, aus denen die „Volksgemeinschaft“ organisch aufgebaut werden müsse – neben Betrieb und Familie.43 Karl Fiehler, der nicht nur Oberbürgermeister von München und Vorsitzender des Deutschen Gemeindetags, sondern auch Leiter des NSDAP-Hauptamts für Kommunalpolitik war, betonte in seiner Erläuterung der DGO, dass die Zeit von demokratischer Selbstverwaltung endgültig vorbei war: Die Lösung dieses Kernproblems [nämlich der bürokratischen Regierung der Gemeinden, AS] im deutschen Gemeinderecht konnte nur in der Wiederherstellung wahrhaft deutscher Selbstverwaltung und in der Beseitigung parlamentarisch-demokratischer Scheinselbstverwaltung liegen. […] Der nationalsozialistische Staat setzte an Stelle anonymer Mehrheitsbeschlüsse von gewählten Vertretern der verschiedensten Interessentengruppen und Parteien den verantwortlichen Entschluß des Führers der Gemeinde […].44

Wenn mit der Deutschen Gemeindeordnung ab 1935 also „die echte und wahre Selbstverwaltung“ verwirklicht wurde,45 bedeutete das letztlich nichts anderes als die Einordnung der Gemeinden in die Diktatur der NSDAP, mitsamt Führerprinzip und Entscheidungsbefugnissen der Parteigliederungen der NSDAP.46 11.2.2 Neue Gemeinderäte Noch im März 1933 wurden die Gemeinden gleichgeschaltet, bis in den Sommer des Jahres wurden lokale Gegner des Regimes aus den Gemeindegremien entfernt. Dadurch veränderte sich die Zusammensetzung der Gemeinderäte, was für verschiedene Regionen in Deutschland recht gut erforscht ist.47

42 43 44 45 46 47

Deutsche Gemeindeordnung [1935] 1975, S. 677. Frick 1937, S. 15. Fiehler 1937, S. 7 f. Frick 1937, S. 24 f. Ebd., S. 27; Fiehler 1937, S. 11 f. Vgl. zum Führerprinzip auch Markmann 1935, S. 31–33. Vgl. Wagner 1998; Zofka 1981; Zofka 1979.

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Allerdings hatte Hermann Göring als Reichskommissar für das preußische Innenministerium bereits am 2. Februar die Neuwahl der kommunalen Körperschaften beschlossen.48 Die Kommunalwahl von Anfang März,49 parallel zur letzten Reichstagswahl, war allerdings bereits Ende des Monats wieder Makulatur, als mit dem vorläufigen Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich die Gemeinderäte an die Ergebnisse der Reichstagswahl angepasst wurden.50 Der Mahlower Gemeinderat veränderte sich in mehreren Schritten. Zunächst war es die Gemeinderatswahl vom 5. März 1933, durch die sieben neue Gemeindevertreter in die Versammlung einzogen.51 Einer der vier verbliebenen Gemeindevertreter legte als letzter Sozialdemokrat offiziell „ohne Angabe von Gründen“, faktisch als Ergebnis der Repressionen des NS-Regimes, im Frühsommer 1933 sein Amt nieder.52 Die Einführung des neuen preußischen Gemeindeverfassungsgesetzes bedeutete eine erneute Umschichtung im Mahlower Gemeinderat im Sommer 1934. Eine Wahl der Gemeinderäte (in den Landgemeinden: Gemeindeältesten) sah das Gesetz nicht vor; ohnehin war ja die Wahl bereits mit der Gleichschaltung obsolet geworden. Doch nun wurden Funktionäre in den Gemeinderat berufen. Das Gesetz sah insbesondere „de[n] oberste[n] örtliche[n] Leiter der NSDAP., de[n] rangälteste[n] Führer der Sturmabteilungen oder der Schutzstaffeln der NSDAP. und sonstige erfahrene und verdiente Männer“ für diese Funktionen vor.53 Ernannt wurden die Gemeinderäte zwar weiterhin von der Bürokratie, der Vorschlag musste aber von der Gauleitung kommen. In Mahlow kamen sechs neue Gemeinderäte hinzu, unter ihnen der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Walter Lippe.54

48 Vgl. Matzerath 1970, S. 62 f. 49 Die NSDAP bekam in Mahlow rund 40 Prozent der Stimmen. Vgl. Die Gemeindewahlen im Kreise Teltow, in: Teltower Kreisblatt 78 (13.3.1933), Nr. 61. 50 Vgl. Gotto 2006, S. 41–47; Matzerath 1970, S. 61–81; Zofka 1981. 51 Undatierter Eintrag über die „Neuwahl“ der Gemeindevertretung „durch gesetzliche Bestimmungen“; KrA-TF, XII.297, S. 259. 52 Protokoll der Sitzung des Mahlower Gemeinderats, 8.6.1933; ebd., S. 274. Ein weiteres Gemeinderatsmitglied war bereits im Frühjahr aus ähnlichen Gründen zurückgetreten. Protokoll der Sitzung des Mahlower Gemeinderats, 18.4.1933; ebd., S. 260. 53 Gemeindeverfassungsgesetz 1933, § 41. Damit wurde mehr oder weniger stillschweigend auch die Möglichkeit kassiert, dass Frauen Mitglieder in Gemeindevertretungen sein konnten – wie das in Mahlow zumindest für eine kurze Zeit in den 1920er Jahren der Fall gewesen war. 54 Vgl. nicht nur das Protokoll des Mahlower Gemeinderats vom 24.8.1934; KrA-TF, XII.297, S. 303, sondern auch die Übersicht über die Gemeinderäte mit vollen Namen und Berufsbezeichnungen (allerdings ohne Parteizugehörigkeitsnachweis): Nachweisung über Ehrenbeamte, 29.8.1936; KrA-TF, XII.308. Alle Gemeinderäte waren spätestens ab März 1937 Parteimitglieder. Aufstellung Beigeordnete/Gemeinderäte Mahlow, 15.3.1937; ebd.

„Krise“ und Umdeutung der Selbstverwaltung

Die Einbeziehung der NSDAP-Funktionäre war in Mahlow sehnsüchtig erwartet worden – zumindest von diesen Personen selbst. Bereits im Sommer 1933 hatte es eine Auseinandersetzung darüber gegeben, ob Vertreter der NSDAP an nichtöffentlichen Sitzungen der Gemeinderäte teilnehmen dürften – und das durften sie nicht, denn die bisherige Rechtslage sah das nicht vor. Der Landrat des Kreises Teltow ergänzte seine Bekanntmachung an die Gemeindevorsteher und Magistrate aber mit der Bemerkung, „dass die Frage der Einschaltung der Führer der nationalsozialistischen Bewegung in die Verwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände bei einer demnächstigen Reform des Gemeindeverfassungsrechts ihre Lösung finden wird.“55 Auch der Bernrieder Gemeinderat wurde in zwei Schritten personell umgestaltet und auf das Regime ausgerichtet. Im Zuge der Gleichschaltung musste der Gemeinderat an das Ergebnis der Reichstagswahl angepasst werden; daraufhin erhielt die NSDAP drei, die Bayerische Volkspartei vier und die Kampffront SchwarzWeiß-Rot einen Sitz.56 Zwei Mitglieder, darunter der Bürgermeister Schmid, waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg im Gemeinderat gewesen; eine zweite Gruppe, bestehend aus fünf Personen, war in der Weimarer Republik gewählt worden;57 neu hinzu kamen drei Gemeinderäte, einer davon für die Kampffront SchwarzWeiß-Rot, ein Bündnis aus Stahlhelm, Landbund und DNVP.58 Zwei der drei Gemeinderäte der NSDAP gehörten dem Gemeinderat schon vor 1933 an.59 Doch die Zugehörigkeiten zu anderen Parteien als der NSDAP verloren ohnehin bald ihre Bedeutung. Ab Juli 1933, mit dem Verbot aller Parteien außer der Regimepartei, mussten alle Gemeinderäte der Fraktion der NSDAP angehören. Die Personen, die über eine andere Liste in den Rat eingezogen waren, mussten ausscheiden oder – was die Bernrieder Gemeinderäte taten – sie mussten zunächst das Mandat niederlegen und dann bei der Fraktion der NSDAP um Aufnahme als Hospitant nachsuchen.60 Nun bestand der Gemeinderat auch in Bernried nur

55 Bekanntmachung des Landrats des Kreises Teltow an die Magistrate, Amts- und Gemeindevorsteher des Kreises, 10.10.1933; ebd. 56 Wahlleiter für die Gemeinde Bernried an das Bezirksamt Weilheim: Neubildung des Gemeinderates Bernried, 22.4.1933; StAM, LRA 3436. 57 Vier der fünf Gemeinderäte dieser Gruppe waren 1919 bzw. 1924 gewählt worden; nur einer kam 1929 hinzu. 58 Vgl. Kiiskinen 26.6.2006. 59 Gemeinderat Bernried an die Fraktion der NSDAP: Sitzung der Fraktion im Gemeindezimmer, 21.7.1933; GAB, A02/6. 60 An alle Gemeinderäte mit Ausnahme der Mitglieder der NSDAP, z. Hd. d. H. Meier Simon, 22.7.1933; Gemeinderat Bernried an das Bezirksamt Weilheim: Ergänzung der Gemeinderäte, 1.9.1933; beide in: ebd.; vgl. außerdem Bezirksamt Weilheim an Gemeinderat Bernried (Entwurf), 28.8.1933; StAM, LRA 3437, wo darauf hingewiesen wurde, dass der Ortsgruppen- bzw. Stützpunktleiter der NSDAP entscheiden müssen, ob die Hospitanten die notwendigen Anforderungen erfüllten.

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noch aus Gemeinderäten der NSDAP-Fraktion. Die personelle Gleichschaltung war damit abgeschlossen. Doch die Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung betrafen nicht nur die personelle Ebene. So veränderte sich durch das Führerprinzip grundsätzlich die Rolle der Gemeinderäte.61 Sie waren nach der Deutschen Gemeindeordnung vor allem dazu gedacht, die „Fühlung“, wie es im entsprechenden Paragraphen der Gemeindeordnung hieß, zwischen Gemeindeleitung und den „Volksgenossen“ sicherzustellen. „Die Führerstellung des Bürgermeisters“, so argumentierte Markmann in seiner Handausgabe der Deutschen Gemeindeordnung, birgt die Gefahr in sich, daß eine Entfremdung zwischen der verantwortlichen Spitze der Gemeinde und den Bürgern eintritt. Diese Lücke auszufüllen, die Pläne und Ideen des Bürgermeisters in die Bevölkerung hineinzutragen und für sie Verständnis zu wecken, andererseits die Wünsche der Bevölkerung an den Bürgermeister heranzubringen, ist die zweite Aufgabe der Gemeinderäte.62

Die Handausgabe der Deutschen Gemeindeordnung aus dem Deutschen Kommunalschriftenverlag betonte zudem, dass die Gemeinderäte als Einzelpersonen in dieser Stellung seien, nicht als Gremium.63 Das sollte sicherstellen, dass keine Abstimmung vorgenommen wurde. Der Landrat des Kreises Teltow sah sich immerhin bemüßigt, nach einem Jahr Geltung des preußischen Gemeindeverfassungsgesetzes, das bereits ähnliche Regelungen vorgesehen hatte, die Gemeindevorsteher an diese Neuregelungen zu erinnern und eine Vorlage für die Anfertigung der Protokolle beizufügen. Dort wurde ausdrücklich vermerkt: „Beschlussfassung bzw. Abstimmung findet nicht statt.“64 Für Mahlow wäre diese Ermahnung unnötig gewesen, denn hier fielen die Protokolle nun sehr knapp aus. In der Sitzung am 20. April 1934 gab es nur drei Tagesordnungspunkte – Mitteilungen, ein Punkt über eine Ortssatzung und Verschiedenes – und der einzige inhaltliche Punkt liest sich wie folgt: Zu Punkt 2: Die Ortssatzung über Regelung der Bekanntmachung amtlicher Veröffentlichungen im Gemeindebezirk Mahlow wird verlesen und zur Besprechung gestellt. Wortmeldungen lagen nicht vor. Der Leiter der Gemeinde beschließt, die Satzung zu erlassen.65

61 62 63 64

Deutsche Gemeindeordnung [1935] 1975, § 48, Abs. 1, hier S. 686. Markmann 1935, S. 44. Ebd., S. 45. Landrat des Kreises Teltow an die Gemeindeschulzen/-vorsteher des Kreises, 5.12.1934, Muster B; KrA-TF XII.297 (eingelegt) [Hervorhebung im Original]. 65 Sitzung der Mahlower Gemeinderäte, 20.4.1934; ebd., S. 302.

„Krise“ und Umdeutung der Selbstverwaltung

Die Gemeindevertretung veränderte vollends ihren Charakter. War sie in manchen Gemeindeordnungen die Repräsentantin der Gemeinde gewesen oder doch zumindest der Ort, an dem Entscheidungen über Gemeindeangelegenheiten diskutiert und getroffen werden sollten, wurde sie nun zu einem nicht-öffentlich tagenden Beratungsgremium für den Gemeindeleiter, dem nun auch der Ortsgruppenleiter der NSDAP sowie Vertreter der SS angehören sollten.66 11.2.3 Der Gemeindeleiter als Führer Nun galt also in den Gemeinden das Führerprinzip. Der Bürgermeister sollte nun also nicht mehr nur (wie es beispielsweise in Bayern der Fall gewesen war) mit dem Gemeinderat gemeinsam die Geschicke der Gemeinde bestimmen und lediglich die übertragenen staatlichen Aufgaben in eigener Regie erledigen. Der Bürgermeister war nun herausgehoben, die Gemeinderäte berieten ihn nur mehr. In Mahlow wurde zunächst einmal der Gemeindevorsteher ausgewechselt. Seit dem unrühmlichen Rückzug von Fritz Richter war Otto Brandt Gemeindevorsteher gewesen. Doch er musste im November 1934 offenbar gegen den Willen sowohl des Landrats als auch weiter Teile der Gemeinde seinen Stuhl räumen.67 Auch zuvor hatte bereits die Regel gegolten, dass Staats- und Gemeindebeamte eigentlich nicht den Posten als Gemeindevorsteher übernehmen durften; für Brandt, der als Stadtinspektor in Groß-Berlin tätig war, war diese Regel großzügig ausgelegt worden. Doch mit dem neuen preußischen Gemeindeverfassungsgesetz wurde die Regel wieder strikter befolgt. Sein Nachfolger wurde Fritz Hagena, der erst seit der Gleichschaltung Mitglied im Mahlower Gemeinderat war. Er bezeichnete sich selbst als „alten Kämpfer“ und hatte schon seit 1933 auf Sonderregelungen gepocht. Bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er versucht, in die Gemeindevertretung aufgenommen zu werden (vgl. Kap. 11.3.2). In Bernried hingegen blieb zunächst Bürgermeister Schmid im Amt. Er hatte es bereits seit 1908 inne. Bei der Bürgermeisterwahl im Jahr 1933 – noch vor der Reform der Gemeindeordnung, aber nach der Gleichschaltung – wurde Schmid mit einer Enthaltung gewählt. Doch über den Posten des Stellvertreters gab es Auseinandersetzungen. Zunächst war ganz knapp Severin Greinwald gewählt worden,68 der bereits seit 1900 im Gemeindeausschuss saß und zur Fraktion der Bayerischen

66 Vgl. Mutius 1985, S. 1068. 67 Landrat des Kreises Teltow an den Regierungspräsidenten in Potsdam, 30.6.1934, Betrifft: Berufung von Gemeindeschulzen, Schöffen und Gemeindeältesten; BLHA, Rep. 2a I Kom 2340, fol. 274–275; Bericht des Landrats des Kreises Teltow an den Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Potsdam: Beseitigung und Belassung von kommissarischen Gemeindeschulzen, 13.12.1934; ebd., fol. 287–289. 68 Niederschrift über die Wahl der Bürgermeister, 23.4.1933; StAM, LRA 3435.

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Volkspartei gehörte. Sein Gegenkandidat war Georg Hirn, Mitglied der NSDAP und seit 1919 im Gemeinderat. Doch nun zeigte sich, dass – trotz der vorgenommenen Wahl – die Zeiten andere geworden waren. Denn die Gewählten mussten durch den Kreisleiter der NSDAP bestätigt werden, und Greinwald bekam diese Bestätigung nicht, „da dieser nach seiner bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten wird.“69 In einem zweiten Anlauf wurde dann der Vertreter der NSDAP, Georg Hirn, gewählt, allerdings nur mit den Stimmen der NSDAP und der Kampffront Schwarz-Weiß-Rot. Die Stimmen der Vertreter der Bayerischen Volkspartei waren offenbar ungültig.70 Schmid starb 1939; die Gemeinde verabschiedete sich mit einem staatstragenden Begräbnis von ihrem Bürgermeister, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Dienst gewesen war.71 Nun übernahm Hirn endgültig den Posten des nationalsozialistischen Bürgermeisters. Gotto bilanziert, die Deutsche Gemeindeordnung habe den „bestens beleumundete[n] Terminus der Selbstverwaltung“ neu definiert.72 Doch der Terminus selbst blieb ein wichtiger Begriff der politischen Sprache und ein nicht zu unterschätzendes Instrument der Regierung der lokalen Räume und Gesellschaften. Die Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Kommunalverwaltungen im Nationalsozialismus keineswegs zu hilflosen, lediglich ausführenden Organen der Diktatur degradiert wurden, sondern im Gegenteil ihre Handlungsspielräume nutzten, um aktiv an der nationalsozialistischen Herrschaft teilzuhaben.73 Die ältere Vorstellung, die kommunale Selbstverwaltung sei „[i]m Kern zerstört, wesentlicher Elemente beraubt“ worden,74 hat Gotto revidiert: Die Kommunalverwaltung sei nicht zerstört, sondern vollständig auf NS-Kurs gebracht, in der administrativen Praxis sei die „neue böse Logik zur administrativen Normalität“ geworden.75 Inwieweit nicht nur die Institutionen umgestellt und gleichgeschaltet, sondern auch die administrative Logik eine neue geworden war, werde ich im nächsten Kapitel ausführen. Zunächst aber noch zu einem Sonderfall.

69 Bezirksamt Weilheim an den Bürgermeister der Gemeinde Bernried, 10.5.1933; ebd. 70 Bericht: Den zweiten Bürgermeister in Bernried, 29.5.1933; ebd. 71 Pöppl, Alfred: Zum Gedächtnis des Bürgermeisters von Bernried des Parteigenossen Johann Schmid, Völkischer Beobachter (Zeitungsausschnitt), 25.1.1939; GAB, S1/5,5. 72 Gotto 2006, S. 81. 73 Vgl. insbesondere die Ergebnisse des Projekts „Die Münchner Stadtverwaltung im Nationalsozialismus“: Christians 2013; Irlinger 2018; Neubauer 2020; Rabe 2017; Wimmer 2014. 74 Matzerath 1970, S. 448. 75 Gotto 2006, S. 429–431.

„Krise“ und Umdeutung der Selbstverwaltung

11.2.4 Besatzung ohne Gemeinderäte: Das Elsass Das Elsass wurde im Sommer 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Offiziell annektiert und zu einem Teil des Deutschen Reichs wurde das ehemalige Reichsland nicht – noch nicht. Stattdessen wurde das Elsass zivil verwaltet, aber im Auftrag der Wehrmacht. Das übernahm der dafür ernannte Chef der Zivilverwaltung, der Gauleiter von Baden, Robert Wagner.76 Trotz dieses gesonderten Status handelte es sich um eine „verschleiert[e] Annexion“,77 und so war die gezielte Germanisierung und „Entwelschung“78 des Elsass ein wichtiges Ziel des Chefs der Zivilverwaltung. So sollten zunächst alle vorhandenen Verwaltungsstäbe von deutschfeindlichen beziehungsweise französischfreundlichen Beamten „gesäubert“ werden: Aus dem elsässischen Beamtenkörper und der Führung im Elsass wurden alle Elsässer ausgeschieden, die sich in der Vergangenheit völkisch, politisch oder kulturell demonstrativ zu Frankreich bekannt oder gegen Deutschland gewandt oder ein von diesen Gesichtspunkten her bestimmtes Verhalten auch nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Elsass noch gezeigt haben und damit bekundeten, dass sie gewillt sind, die deutsche Entwicklung im Elsass zu stören. […] Ohne weiteres als frankophil anzusehen waren alle diejenigen Personen, die in den zurückliegenden Jahren und in der jüngsten Vergangenheit deutlich und aktiv durch Wort und Tat sich gegen Deutschland und das Deutschtum gewandt und den Deutschtumsgedanken im Elsass bekämpft bzw. abgelehnt haben.79

Das betraf auf der Ebene der Gemeinden jedoch – wo es keine Gemeindebeamten gab – lediglich die Bürgermeister. Denn mit der Annexion wurden die Gemeinderäte aufgelöst; die Bürgermeister blieben die einzigen Überreste der Gemeindeverwaltungen.80 In den größeren und wichtigeren Städten setzte der Gauleiter Robert Wagner die (Ober-)Bürgermeister in Übereinstimmung mit der Deutschen Gemeindeordnung von außen ein. Häufig handelte es sich um sogenannte AltElsässer, also solche Personen, die nach 1918 wegen ihrer Deutschfreundlichkeit aus dem Elsass verwiesen worden waren und in der Zwischenkriegszeit die (vermeintlichen) Interessen des „Reichslandes“ in Deutschland hochgehalten hatten. In den kleineren Gemeinden blieben die Bürgermeister häufig im Amt. Ob in Wolxheim der maire Joseph Mühlberger auch während der deutschen Annexion im Amt blieb, 76 77 78 79

Vgl. zum Folgenden vor allem Enzenauer 2013; Kettenacker 1973; Päßler 2002. Jäckel 1966, S. 75–84. Enzenauer 2013, S. 15. Tätigkeits- und Leistungsbericht des Personalamtes beim Chef der Zivilverwaltung für das Elsass für die Zeit vom 15.7.1940 bis 1.6.1941, 1941, S. 3 f.; AN AJ 40/1414. 80 Vgl. Päßler 2002, S. 168 f.

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ist unklar. Unterlagen, aus denen seine Amtstätigkeit hervorgeht, fehlen vollständig. Insgesamt lässt sich also das Handeln der lokalen administrativen Akteure quellenmäßig nicht mehr fassen.81 Im Gemeindearchiv in Wolxheim haben nur wenige Dokumente überdauert, die auf die Umstände des landgemeindlichen Regierens zwischen 1940 und 1944 hinweisen; hier handelt es sich vor allem um Unterlagen der Zivilverwaltung im Elsass, die die Schule betreffen,82 sowie um Unterlagen des Winterhilfswerks beziehungsweise der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt.83 Die allermeisten Unterlagen sind Anweisungen, Aufforderungen, Rundschreiben und Ähnliches von Parteistellen oder Stellen der Zivilverwaltung; das täuscht aber letztlich ein Stück weit darüber hinweg, dass es auch in Wolxheim aktive Positionen gab, die das nationalsozialistische Regime im Dorf repräsentierten, aufbauten und aufrechterhielten.84 Einen Hinweis darauf geben die überlieferten, weitgehend allerdings undatierten Mitgliederlisten des „Opferrings“, der durch Wagner geschaffenen „Vorhutorganisation“ der NSDAP.85 Zu den Mitgliedern gehörte auch Joseph Mühlberger; das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er auch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Wolxheimer Bürgermeister geblieben war. Gerade die Erfahrung des enormen Eingriffs der deutschen Zivilverwaltung, die mit einem Handstreich die etablierte Institution des gewählten Gemeinderats beseitigte, hatte eine sehr große Wirkung auf die ländliche Gemeinde als Körperschaft. Während im Zuge der Gleichschaltung in den beiden anderen Untersuchungsgemeinden Teile der alten Akteure im Amt und damit in wichtigen Positionen blieben, wurde die Gemeinde Wolxheim ungleich radikaler auf die nationalsozialistische Besatzung ausgerichtet. Und das war nur ein Teil der Besatzungs- und Unterwerfungspolitik, die das tägliche Leben im Elsass während des Zweiten Weltkriegs prägte.86 Gerade die Unterlagen der Gauleitung Baden-Elsass verweisen darauf,

81 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 1.12.1939 und Protokoll des Wolxheimer conseil municipal 7.4.1945, beide in: ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 615–617. 82 ACW, Boîtes A & B. Vgl. zur Schulverwaltung während der deutschen Annexion im Zweiten Weltkrieg vor allem Finger 2016, S. 241–368. 83 ACW, Boîtes H1 & H2. 84 Diese Positionen tauchen aber größtenteils über die Adresszeilen auf, etwa bei Josef Binckel (?), Ortsgruppenleiter der NSDAP und Leiter des Amtes für Volkswohlfahrt in Wolxheim, der von der Kreisleitung in Molsheim beauftragt wurde, über die Unterbringung von evakuierten Müttern und Kindern aus Mannheim Bericht zu erstatten. Kreisleitung der NSDAP, Amt für Volkswohlfahrt, Molsheim, an den Ortsgruppenleiter der NSDAP, Wolxheim, 11.8.1943; ACW, Boîte H2. 85 Listen in AN AJ 40/1465; vgl. Enzenauer 2013, S. 21–27. 86 Ausführlicher zur Besatzungs- und Unterwerfungspolitik etwa LeMarec 1988, S. 37–152; mit vielen Fotos aus dem Alltagsleben im besetzten Elsass Rapp-Meichler 1993, S. 1068. Mit lokalem Fokus auf der Gemeinde Habsheim bei Mulhouse: Bernabel 2007.

Die (symbolische) Inbesitznahme der Gemeinden

wie sehr das nationalsozialistische Regime ab dem Moment der Besetzung in alle Aspekte des Alltagslebens vordrang.87 Auch unter den Bedingungen, die sich sehr deutlich von denen im „Altreich“ unterschieden, rezipierten die lokalen Akteur:innen die nationalsozialistischen Regierungspraktiken keineswegs nur passiv; allerdings lässt sich das aufgrund der schwierigen Überlieferungslage für Wolxheim hier praktisch nicht genauer belegen.

11.3

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In den hier untersuchten Gemeinden veränderte sich nach Januar 1933 einiges. Die institutionelle Neuausrichtung der kommunalen Selbstverwaltung und ihres Personals habe ich im vorangegangenen Abschnitt bereits skizziert; nun geht es eher um die Frage, wie sich auch andere Aspekte des Regierens in den Dörfern veränderten. Die Institutionen wurden neu interpretiert, der Raum der Gemeinden sowohl physisch als auch räumlich auf die nationalsozialistische Herrschaft ausgerichtet. Das konnte erhebliche Auswirkungen auf die Lebensumstände der Einwohner:innen haben. 11.3.1 Neuer oder alter Paternalismus? Im Gemeindearchiv der heutigen Gemeinde Blankenfelde-Mahlow sind die Handakten des nationalsozialistischen Bürgermeister Fritz Hagena (oder eher: Teile davon) überliefert; als Bankbeamter im Ruhestand war er offensichtlich ein akribischer Bürokrat, der für jeden Vorgang, selbst wenn er nur ein Blatt umfasste, eine eigene Mappe anlegte. Die überlieferten Unterlagen verweisen darauf, dass auch in den 1930er und frühen 1940er Jahren seine Tätigkeit überwiegend aus alltäglichen kleinen Verwaltungsvorgängen bestand, die sich nicht grundlegend von denen in den 1920er Jahren unterschieden haben dürften. Was auffällt ist die wichtige Rolle, die Hagena als Auskunftsstelle übernahm – das hatte ich zwar bereits für die Bürgermeister im 19. Jahrhundert konstatiert,88 doch weitete sich diese Funktion noch weiter aus und betraf auch Angelegenheiten, die mit gemeindlichen oder staatlich-administrativen Vorgängen zunächst nichts zu tun hatten. Hagena wurde angeschrieben, wenn Banken Auskünfte über die Kreditwürdigkeit von Kund:innen brauchten – und er antwortete mit einer umfassenden Einschätzung nicht nur der Einkommens- und Wohnverhältnisse, sondern auch 87 Vgl. etwa die Unterlagen des „Stillhaltekommissars“ für das Elsass, der für alle Fragen des Alltagslebens auf organisatorischer Ebene zuständig war – zum Beispiel für die vielfältigen Vereine; AN AJ 40/1438. 88 S. o., Kap. 4.3.

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der moralischen Qualitäten der fraglichen Personen. Auch Parteistellen suchten um Informationen bei ihm nach. Angesichts der Tatsache, dass Mahlow inzwischen die Ausmaße einer Kleinstadt hatte, verwundert es, wie detailliert Hagena zu den unterschiedlichsten Personen Auskunft geben konnte – und das offensichtlich als wichtigen Teil seiner Tätigkeit begriff.89 Ansonsten sind Hagenas Tätigkeiten wenig überraschend. Wie im Ersten war auch im Zweiten Weltkrieg, auch bereits in der Kriegsvorbereitungsphase, die Gemeinde gefragt, um eine Vielzahl von Sammlungen durchzuführen oder zur Lebensmittelerzeugung aufzurufen.90 Der Bürgermeister war ein wichtiger Akteur für die „nationalsozialistische Erzeugungsschlacht“. Als Parteistellen der NSDAP jedoch dazu aufriefen, alle frei verfügbaren Brachflächen zu bebauen, schritt Hagena ein, denn die örtlichen Statuten verboten eindeutig, Land unter den Pflug zu nehmen, das im Bebauungsplan als Straßenland vorgesehen war. Die Rationalität als Vertreter der Ortspolizei war bei Hagena offenbar stark ausgeprägt, sodass er auch im „Ausnahmezustand“ offenbar nicht gewillt war, die Regeln zu durchbrechen.91 In einer kleinen Angelegenheit wird ersichtlich, wie Hagena seine Rolle als nationalsozialistischer Bürgermeister ausdeutete. Eigentlich hatte der Fall mit Kommunalpolitik nur indirekt zu tun, die Gemeinde war hier als Arbeitgeberin angesprochen. Während des Zweiten Weltkriegs gab es Probleme mit einem kommunalen Arbeiter, der, obwohl zur Wehrmacht eingezogen, mehrfach nach Mahlow kam, um seine Frau zu misshandeln, was zu größerem Aufruhr in der Familie und Nachbarschaft führte. Der Bürgermeister entließ den Mann daraufhin fristlos wegen „unwürdigen Verhaltens“ und versuchte gleichzeitig bei der Wehrmacht zu erwirken, dass dem Betreffenden kein Ausgang mehr gewährt werde.92 Die Entgrenzung von Arbeitswelt und Privatsphäre, die hier deutlich wird, war kein Spezifikum der Amtsführung Hagenas; sie ist in der neueren Forschung zum Nationalsozialismus deutlich herausgestellt worden.93 Gleichwohl wird an diesem Vorgang sichtbar, dass Hagena sein Amt paternalistisch verstand. War im 19. Jahrhundert die Vorstellung, der Gemeindevorsteher möge „Jedem Freund und

89 Z. B. Kreissparkasse Teltow an den Bürgermeister in Mahlow, 2.4.1938; Antwortschreiben von Bürgermeister Hagena an die Kreissparkasse Teltow, 13.4.1938; beide Schreiben in: GAB-M, EA 0027. 90 Bürgermeister Hagena an SA-Sturmführer Wilhelm Bölter, 20.6.1938; NSDAP-Ortsgruppe Mahlow: Aufruf zum Obstsammeln, 22.9.1938; beide Schreiben in: GAB-M, EA 0028. 91 August Göbel an Bürgermeister Hagena in Mahlow, 25.4.1940; Bürgermeister Hagena an Göbel (Doppel), 29.4.1940; Theodor Schritt an Bürgermeister Hagena in Mahlow, 26.4.1940; Bürgermeister Hagena an Theodor Schritt (Doppel), 29.4.1940; Bekanntmachung des Bürgermeisters, Mahlow, 24.4.1940. Alle Schriftstücke in: GAB-M, EA 0027. 92 Bürgermeister Hagena an Karl S.: Kündigung Ihres Dienstverhältnisses, 26.1.1942; Bürgermeister Hagena an Generalkommando III, 24.1.1942; beide Schreiben in: GAB-M, EA 0028. 93 Grundlegend: Bobbio 1989, S. 1–21; aus der aktuellen Forschung Harvey, Hürter, Umbach, Wirsching 2019.

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Vater sein“94 oftmals eher ein frommer Wunsch denn die Realität, verhielt sich Hagena hier tatsächlich wie ein gestrenger Vater, der den Arbeiter entließ, sich mehrfach darum kümmerte, dass er nicht mehr in das familiäre Zuhause kam, und der Ehefrau klare Anweisungen zur Beantragung gemeindlichen Unterhalts gab, sich aber andererseits auch um den Delinquenten selbst bemühte. In einem ausführlichen Schreiben Hagenas an den entlassenen Gemeindearbeiter gab er ihm gute Ratschläge: Sie haben eine schöne Wohnung von mir erhalten, haben sich neu eingerichtet und haben drei Kinder. Es wäre daher ratsamer gewesen, auch abends oder Sonntags [sic] nicht dauernd in einer Gastwirtschaft zu sitzen, sodaß mir die Einwohner Vorwürfe machen, daß ich Ihnen zuviel Geld gebe. Wenn Ihre Frau leichtsinnig veranlagt ist, so ist es sehr bedauerlich, daß Sie und Ihre Frau dann nicht zu Hause geblieben sind. Gerade in der Häuslichkeit kann man es sich gemütlich machen.95

In diesem Stil ging es noch weiter; den Brief beendete Hagena mit dem Unverständnis darüber, dass S. sich nicht mehr bei der Gemeinde habe sehen lassen: „[I]ch weiß nicht einmal, ob Sie Ihr Weihnachtspaket erhalten haben.“96 Sicherlich agierten nicht alle Bürgermeister so paternalistisch und disziplinierend gleichermaßen. Die konkrete Gestaltung der Amtsführung war höchst individuell. Und sicherlich knüpfte diese Praxis vom Bürgermeister als väterliche Figur, insbesondere gegenüber den Gemeindemitarbeiter:innen, auch an Praktiken vor 1933 an.97 Die herausgehobene Stellung des Bürgermeisters in der nationalsozialistischen (Land-)Gemeinde und die Überhöhung der Gemeinde selbst als Mittel zur Schaffung der „wahre[n] Volksgemeinschaft“98 förderte solches paternalistisches Verhalten aber eher, als dass sie es unterband. 11.3.2 Neue Rechte werden eingefordert Nicht nur die Rolle des Bürgermeisters wurde in der nationalsozialistischen Diktatur neu akzentuiert; auch für die Gemeinderäte traf das zu. Auf die neue Rolle als

94 Wagner 1893, S. 13 f.; s. o., Kap. 4.5. 95 Bürgermeister Hagena an den Schützen Karl S., 17.3.1942; GAB-M, EA 0028. 96 Ebd. Die „Bescherung“ für die Gemeindemitarbeiter:innen und ihre Familien war Teil der inszenierten Betriebsgemeinschaft auch in den Kommunalverwaltungen, wie Neubauer ausführt. Neubauer 2020, S. 128 f. 97 Besonders in Preußen, wo durch die Gutsbezirke das kommunale Regieren auch an adeligen Praktiken orientiert gewesen war, dürften Kontinuitäten aus dem 19. Jahrhundert relevant gewesen sein. Vgl. Berdahl 1980. 98 Deutsche Gemeindeordnung [1935] 1975, Präambel, hier S. 677.

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Berater habe ich oben schon hingewiesen. An ein paar Konfliktfällen lässt sich noch einmal zeigen, wie insbesondere diejenigen Gemeinderäte, die ihre Legitimität sehr stark aus der Zugehörigkeit zu einer Partei ableiteten, ihre Rechte einforderten – nicht ihre alten Rechte, wie es in den Konflikten um die landgemeindliche Repräsentation im 19. Jahrhundert der Fall gewesen war (vgl. Kap. 6.2), sondern neue Rechte, die aus der Loyalität zur Partei und zum Regime sowie der daraus abgeleiteten Ehre entstanden. Auch hier stellt 1933 keine ganz eindeutige Zäsur dar. In Mahlow hatte Friedrich Hagena bereits im Sommer 1932 versucht, einen Platz in der Gemeindevertretung zu erstreiten. Nach dem Rücktritt von Bürgermeister Richter und dem Aufrücken Otto Brandts auf den Posten des Gemeindevorstehers forderte Hagena Brandt auf, ihn nun endlich in den Gemeinderat zu berufen, obwohl er bei der letzten Gemeinderatswahl nicht gewählt worden war. Hagena begründete das zunächst mit innergemeindlichem Proporz, den er räumlich interpretierte. Da ich nach der Aufstellung der Wahlliste jetzt an der Reihe bin, hoffe und fordere ich, daß ich nunmehr berücksichtigt werde. Das soge. Gleisdreieck hat keine Vertretung in der Gemeinde, da Thiemes als landwirtschaftlicher Vertreter gilt. Außerdem könnte ich gleichzeitig als offizieller Vertreter des Haus- und Grundbesitzervereins gelten. Da meine Stimme für Sie ins Gewicht fällt, liegt es nunmehr in Ihrem Interesse mich baldigst hereinzunehmen.99

Doch Hagena musste sich weiter gedulden und nutzte nun den Weg über die NSDAP, der er bereits im Jahr 1931 oder 1932 beigetreten war.100 Wenige Monate, nachdem er durch die von Hermann Göring angeordnete Kommunalwahl im März 1933 nun endlich in die Gemeindevertretung gewählt worden war, forderte Hagena erneut seine Rechte ein – nun nicht mehr als Repräsentant der suburbanen Bewohner:innen Mahlows, sondern als besonders renommiertes NSDAP-Mitglied. Gemeinsam mit fünf anderen NSDAP-Gemeindevertretern kritisierte er in einem Protestschreiben, dass er als „alter Kämpfer“ nicht in angemessener Weise Berücksichtigung bei der Besetzung der Wahlvorstände zur erneuten Reichstagswahl gefunden hätte.101 Sie müssten gesondert berücksich-

99 Friedrich Hagena an Otto Brandt, 27.6.1932; KrA-TF, XII.308. 100 Es gibt nicht viele Unterlagen über Hagena; hier handschriftliche Ergänzung zum Protokoll der Enteignungskommission des Kreises Teltow: Friedrich Hagena, 26.7.1946; BLHA, 203 AVE ESA 4277. Hier außerdem Verzeichnis der Bürgermeiser und Beigeordneten in den Gemeinden des Kreises Teltow, Stand vom 1.10.1940 (handschriftlich ergänzt; maschinenschriftl. Stand vom 1. Oktober 1939); BLHA, Rep. 2a I Kom 2342, fol. 117–131, hier: fol. 125 RS–126. 101 Entschliessung der am 5. März 1933 von den Einwohnern der Gemeinde Mahlow als Gemeindevertreter gewählten 5 Nationalsozialisten einschl. Schöffe, 15.11.1933; KrA-TF, XII.308.

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tigt werden, insbesondere gegenüber jenen „Märzgefallenen“, die erst nach der Machtübernahme in die Partei eingetreten seien: Es liegt uns fern, Volksgenossen, die erst im Frühjahr ds. Jahres zu uns gefunden haben in Misskredit zu bringen, wir verlangen aber, dass alte und befähigte Kämpfer der Idee Adolf Hitlers nicht durch Unachtsamkeit oder gar aus persönlichen Gründen verdrängt werden.102

Wenige Tage später formulierte Hagena erneut eine Forderung an den Gemeindevorsteher. Insgesamt seien die „alten Kämpfer“ derzeit nicht angemessen berücksichtigt, das gelte auch für die Kommissionen der Gemeinde. Hagena forderte nun, dass diese „Kommissionen in der Gemeinde […] mindestens zur Hälfte aus alten Nationalsozialisten bestehen“ müssten.103 Beide Anträge nahm Brandt zu den Akten und sah sich zu nichts weiter veranlasst. Hier wird deutlich: Hagena und die anderen NSDAP-Mitglieder forderten in der Umbruchsphase 1933 ihre Rechte ein; dabei rekurrierten sie weder auf alte Rechte noch auf den Wählerwillen, sondern auf neue Rechte, die sich gerade aus der Situation ergaben, dass ein Umbruch stattgefunden hatte und sie bereits zuvor auf der nationalsozialistischen Seite gestanden hatten. Allerdings waren sie damit offenbar (zunächst) nicht erfolgreich. In den größeren Städten, besonders in München, sah sich die Stadtverwaltung hingegen veranlasst, Posten für die (echten) „alten Kämpfer“ zur Versorgung und auch zur Gratifikation zu schaffen. In den Landgemeinden winkten hingegen nur Ehre und öffentliche Sichtbarkeit, nicht aber besoldete Stellen in der Kommunalverwaltung.104 Als im Sommer 1936 Friedrich Hagena, inzwischen Mahlower Bürgermeister, mit der Kreisleitung der NSDAP und dem Landratsamt in Kontakt trat, um einen Nachfolger für den verstorbenen Otto Brandt105 als Gemeinderat zu finden, waren es vor allem fachliche Gründe, die für die Berufung von Paul Feick sprächen, so Hagena: Dieser ist sehr viel als Revisor in großen Gemeinden tätig und hat einen tiefen Einblick in die Verwaltung dieser verschiedenen Gemeinden erhalten. Er ist gleichzeitig Jurist und

102 103 104 105

Ebd. Friedrich Hagena an Gemeindevorsteher Brandt (Mahlow), 21.11.1933; ebd. Vgl. Neubauer 2020, S. 60–78. Brandt verstarb Anfang Mai 1936. Nach seiner Absetzung als Bürgermeister war er als Gemeindeältester bzw. Gemeinderat in Mahlow weiterhin in die kommunale Selbstverwaltung eingebunden gewesen. Bürgermeister Hagena an den Landrat des Kreises Teltow (Doppel), 19.6.1936; KrA-TF, XII.308.

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mir fehlt unter den jetzigen Gemeinderäten eine in kommunalen Dingen erfahrene und tüchtige Kraft.106

Es waren also nicht nur Verdienste um Bewegung und Partei, die für die Berufung in den Gemeinderat sprachen. Wie schon vor 1933 waren die ehrenamtlichen Bürgermeister in den kleinen Gemeinden gut beraten, wenn Experten und professionals in den Vertretungsorganen saßen. Otto Brandt als Verwaltungsfachmann hatte beispielsweise bei der Klärung der Angelegenheit rund um die Stromleitung im „Dreieck“ seine Expertise ausspielen können. Das galt nun weiterhin auch nach 1933, womöglich sogar in besonderem Ausmaß, denn die Deutsche Gemeindeordnung bekräftigte noch einmal, dass die Bürgermeister in Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohner:innen ehrenamtlich tätig sein mussten. Daher mussten wachsende Vorortgemeinden wie Mahlow (und andere Gemeinden mit besonderen Herausforderungen) die fachliche Expertise in den Gemeindeverwaltungen über die Gemeinderäte sicherstellten. Wenige Monate später musste wieder ein Gemeinderat ersetzt werden. Nun ging es Hagena aber nicht um die Expertise, sondern er wollte die unterschiedlichen Ortsteile angemessen berücksichtigt wissen107 – eine Argumentation, mit deren Hilfe er seinerzeit selbst versucht hatte, jenseits einer Wahl in die Gemeindevertretung einzuziehen. Doch der Kreisamtsleiter für Kommunalpolitik, also ein Vertreter der Parteibürokratie, widersprach vehement. Eine gleiche Repräsentation der Ortsteile sei unnötig, ja nicht einmal empfehlenswert. Vielmehr solle der Bürgermeister auf die Vertretung möglichst unterschiedlicher Fachrichtungen im Rat achten – nicht aus einem ständischen Repräsentationswillen heraus, sondern: Sie sollen durch die Gemeinderäte auch in Berufsfragen, die in der Kommunalpolitik unzählige sind, Berater zur Seite haben. Ich würde an Ihrer Stelle, mich nur von diesem Gedanken leiten lassen und halte diesen Weg auch für den gerechtesten.108

Der Gemeinderat hatte keine repräsentative Funktion mehr. Hier sollten nicht mehr unterschiedliche Gruppierungen der Gemeinde vertreten sein. Das war eine Vorstellung, die nicht mehr in die neue Zeit zu passen schien, wo doch die unterschiedlichen sozialen Gruppierungen gegenüber der einheitlichen Volksgemeinschaft in den Hintergrund zu treten hatten. Stattdessen sollten (Fach-)Berater für den

106 Ebd. 107 Protokoll der Gemeinderatssitzung, 9.10.1936; KrA-TF, XII.297, S. 347. 108 Kreisamtsleiter für Kommunalpolitik im Kreis Teltow (NSDAP) an Friedrich Hagenau [sic!], Bürgermeister von Mahlow, 17.10.1936; KrA-TF, XII.308.

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Bürgermeister zur Verfügung stehen – auch wenn diese vorrangig nach ihrer parteipolitischen Eignung ausgewählt wurden. Denn im Falle einer Nachbesetzung hatte der Beauftragte der NSDAP, im Falle der Landgemeinden in der Regel der Kreisleiter, auf nationale Zuverlässigkeit, Eignung und Leumund zu achten und Persönlichkeiten zu berücksichtigen, deren Wirkungskreis der Gemeinde ihre besondere Eigenart oder Bedeutung gibt oder das gemeindliche Leben wesentlich beeinflußt.109

Ein letztes Beispiel, das ebenfalls aus Mahlow stammt, ermöglicht einen Blick in das Selbstbild der auf diese Art und Weise ernannten Gemeinderäte. Die Mahlower Gemeinderäte versuchten im Jahr 1937, die von Hagena geplante Erhöhung der Bürgersteuer auf 300 Prozent der Einkommenssteuer zu blockieren. Daraufhin kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Gemeinderäten und dem Bürgermeister, die über den Landrat ausgefochten wurden. Hagena drängte die Gemeinderäte im Nachgang einer Gemeinderatssitzung in einem Brief, sich seiner Entscheidung nicht entgegenzustellen, sondern im Interesse des nationalen Aufbauwerks zuzustimmen. Die Gemeinderäte, allen voran der oben erwähnte Paul Feick, fühlten sich offenbar dadurch bedrängt und beschwerten sich beim Landrat. Schon in der Sitzung der Gemeinderäte erging sich der Bürgermeister in heftigen, persönlichen Angriffen gegen die Gemeinderäte, die wie er sagte, ihre Pflicht, ihn zu unterstützen, verabsäumten, die Mangel an Verantwortungsgefühl und Mut zeigten, die bei der Bürgerschaft damit sich beliebt machen wollten, daß sie gegen die Steuererhöhung wären.110

Mit seinem Schreiben habe er der ganzen Angelegenheit noch die Krone aufgesetzt: Formal ehrkränkend und Lehrhaft [sic], überschreitet das Schreiben sachlich die Befugnisgrenzen des Bürgermeisters gegenüber den Gemeinderäten. Die Gemeinderäte sind laut Gesetz eigenveranwortliche Ehrenbeamte der Gemeinde, die sich eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten durch den Bürgermeister verbitten. Es bleibt dem Bürgermeister unbenommen, auch gegen die Bedenken der Gemeinderäte zu entscheiden, er mag versuchen, sie durch sachliche Argumente zu überzeugen, aber es steht ihm nicht zu, ihre zustimmende Stellungnahme durch unsachliche Mittel zu erzwingen oder ihre ablehnende Haltung zu verdächtigen [sic].111

109 Deutsche Gemeindeordnung [1935] 1975, § 48, Abs. 1. 110 Gemeinderat Feick an den Landrat des Kreises Teltow (Abschrift), 29.10.1937; KrA-TF, XII.308. 111 Ebd.

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Feick berief sich hier auf eine eigenständige Position der Gemeinderäte, die nicht in der Unterstützung des Bürgermeisters aufging. Vielmehr unterstrich Feick die eigenständige Position anhand eines Ehrbegriffs. Die Ehre komme den Gemeinderäten unabhängig vom Führerprinzip zu und leite sich eben nicht aus ihrer Gefolgschaft gegenüber dem Gemeindeleiter ab. Die Gemeinderäte beriefen sich in all diesen Fällen auf spezifische Legitimationsquellen – oder diese wurden ihnen von außen zugeschrieben. Hier wird die Differenz gegenüber früheren Episoden des Regierens auf dem Land deutlich, denn die Legitimation leiteten die nationalsozialistischen Akteure aus spezifisch nationalsozialistischen Quellen ab: die Verbundenheit zur Bewegung, die Expertise für die nationalsozialistische Führung der Gemeinde und die Ehre. Andere Machtansprüche, etwa historische oder gar repräsentative, traten demgegenüber vollständig in den Hintergrund. 11.3.3 Symbolische Raumnahme In den untersuchten Gemeinden beteiligten sich die Gemeinderäte vor allem in der Etablierungsphase der nationalsozialistischen Diktatur eifrig an symbolischen Raumnahmen, mit deren Hilfe die dörflichen Räume nationalsozialistisch besetzt und umdefiniert wurden. So verlieh die Gemeinde Bernried Adolf Hitler im April 1934 die Ehrenbürgerrechte112 und benannte den Platz im Bernrieder Dorfzentrum nach dem Führer der nationalsozialistischen Bewegung. Eine solchermaßen symbolische Besetzung des öffentlichen Raums war in den Anfangsjahren der nationalsozialistischen Diktatur fast in allen Gemeinden an der Tagesordnung. Edith Raim berichtet ausführlich über die Auseinandersetzungen im Murnauer Gemeinderat bezüglich der Frage, ob Beflaggung und Fackelzug anlässlich der „Machtergreifung“ Partei- oder Gemeindeangelegenheit seien – letztlich war die Frage müßig, das Endergebnis zählte: Der öffentliche Raum in Murnau wurde durch Bekränzungen, Flaggen und Banner nationalsozialistisch besetzt.113 Die erste Amtshandlung des Mahlower Gemeinderats nach der Neuwahl im März 1933 war die Beschlussfassung über Lebensmittelspenden des Mahlower Gemeinderats zum „Führergeburtstag“114 – das war zwar keine Markierung des Raums, doch aber eine symbolische Handlung zur Ausrichtung der Gemeinde insgesamt auf das nationalsozialistische Regime.

112 Protokoll der Sitzung des Bernrieder Gemeinderats, 7.4.1934; GAB, B2/8, S. 93. 113 Raim 2020, S. 350–354. 114 Protokoll der Sitzung des Mahlower Gemeinderats, 18.4.1933; KrA-TF, XII.297, S. 260.

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Noch im März 1933 fand der Kreisparteitag der NSDAP im Kreis Teltow in Mahlow statt – ein Event, das mit großen Worten im Teltower Kreisblatt angekündigt wurde: Neben dem großen äußeren Rahmen und festlichen Veranstaltungen dient ein solcher Tag vor allen Dingen dem inneren Aufbau und Ausbau unserer Parteiorganisation innerhalb unseres Kreises, der Schulung und der Erziehung zur Befähigung, Kämpfer zu sein für die Idee Adolf Hitlers. Schon am Sonnabend wird die kleine schmucke Ortschaft Mahlow belebt werden durch Braunhemden, die als Abordnung aus allen Ortschaften des Kreises zusammentreten. […] Wenn dann am Sonntagmorgen auf allen Straßenzügen die Autos herbeirollen und die einlaufenden Züge immer mehr Parteigenossen herbeiführen, dann erlebt Mahlow ein Abbild der großen Bewegung, wie sie überall im Deutschen Reich marschiert, marschiert im Kampf von Sieg zu Sieg! […] Kreisparteitag in Mahlow! Keiner, der irgendwie abkömmlich ist, wird fehlen, der ganze Ort und die Umgebung werden daran teilnehmen. Am Sonntag steht Mahlow im Zeichen des Hakenkreuzes, des siegreichen Banners der nationalen Revolution!115

Zu einem frühen Zeitpunkt in der nationalsozialistischen Diktatur reklamierte die NSDAP den öffentlichen Raum in Mahlow für sich; der Parteitag fand nicht abgetrennt von der Öffentlichkeit statt, sondern besetzte symbolisch die Gemeinde. Diese symbolische Inbesitznahme durch die „Braunhemden“ muss auch in engem Zusammenhang mit den verschiedenen Zwischenfällen gesehen werden, die im Jahr 1932 passiert waren und bei denen offenbar Mahlower SA-Männer gewaltsam Raum eingenommen hatten (s. o., Kap. 11.1.2). In Bernried war es nun vor allem Lehrer Pöppl, der als begeisterter Nationalsozialist und Lehrer nicht nur die Schule, sondern die Dorföffentlichkeit auf das NS-Regime auszurichten gewillt war.116 Im Schultagebuch notierte er minutiös nicht mehr nur die Ereignisse, die die Schule betrafen, sondern auch alle Begebenheiten des Dorfes, die mit der nationalsozialistischen Diktatur im Zusammenhang standen. Er berichtete beispielsweise von den Festivitäten zum „Tag der Arbeit“ am 1. Mai 1933:

115 Mahlow (Eingesandt). Kreisparteitag der NSDAP in Mahlow!, in: Teltower Kreisblatt, Jg. 78, Nr. 68, 21.3.1933. 116 Vgl. dazu die Unterlagen in Pöppls Personalakte, u. a. Erklärung über die Mitgliedschaft der Beamten zur NSDAP, 27.9.1935; StAM, PA 17720.

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In unerhört einiger, einmütiger, festlicher Weise wurde der Tag im ganzen Reich begangen. In Bernried: 9 Uhr Festgottesdienst, Kriegerehrung am Denkmal, Festzug, abends 7 Uhr Festzug, fast ganz Bernried marschiert mit.117

In ähnlicher Weise berichtete Pöppl über seine Bemühungen, gemeinsam mit seinem jungen Lehrerkollegen die Hitlerjugend im Dorf zu organisieren, zum Beispiel von den Feiern zur „nationalen Erhebung“ oder über Filmnachmittage mit NS-Propagandafilmen.118 Diese Eintragungen im Schultagebuch sind aus unterschiedlichen Gründen interessant. Erstens zeugen sie als einigermaßen verlässliche Quellen davon, dass eine neue Fest- und Veranstaltungskultur im Dorf Einzug hielt. Zwar war Bernried ohnehin, vor allem in den Sommermonaten, ein Dorf mit einem dichten Veranstaltungskalender gewesen, doch nun waren diese Treffen, Festivitäten und Umzüge alle bezogen auf das nationalsozialistische Regime. Zweitens dokumentierte Pöppl nicht nur; in der Regel spielten die Schultagebücher auch als immer wieder vergegenwärtigte Chronik im Schulalltag eine Rolle – was also hier eingetragen wurde, wurde auch wieder mündlich an die Schüler:innen tradiert. Damit wurde nicht nur das Dorf, sondern auch die Schule nationalsozialistisch durchdrungen. 11.3.4 Gewaltsame Raumnahme: Vertreibung und Zwang Die Volkszählung 1925 wies für Mahlow immerhin 16 Einwohner:innen jüdischen Glaubens aus.119 Was mit diesen Bürger:innen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geschah, ist nicht für alle geklärt. Zwei Stolpersteine weisen auf das Schicksal von fünf ehemaligen Einwohner:innen Mahlows hin, die 1939 von Mahlow nach Berlin ziehen mussten, von wo aus sie deportiert und anschließend ermordet wurden.120 Die Überlieferung der Gemeindeakten weist hier charakteristische Lücken auf. Denn in den Beständen im Gemeinde- und Kreisarchiv fehlen alle Hinweise darauf, dass der Bürgermeister aktiv mit der Verfolgung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung befasst war: Von der Erfassung des Besitzes über die Ausgabe von „Judenkarten“ bis hin zum Abheften der „Transportscheine“

117 Eintrag vom 1.5.1933 im Schultagebuch; GAB, Bi 19. 118 So etwa: Eintrag zum 1.4.1933 (Schulfeier zu Ehren des Altreichskanzlers Bismarck und zur Feier der Nationalen Erhebung); Eintrag September 1933 (Appell mit Turnen, Mittwochabend auf dem Turnplatz); Eintrag 17.12.1933 (Filmnachmittag „Hitlerjunge Quex“), alles in: GAB, Bi 19. 119 Preußisches Statistisches Landesamt 1932. 120 Fournier 9.11.2017.

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nach erfolgter Deportation waren die Gemeindeverwaltungen in fast alle Bereiche der Verfolgungspolitik eingebunden.121 In Bernried lebten in den 1930er Jahren keine Menschen, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft als „jüdisch“ klassifiziert worden wären, doch gehörten zu den Sommergästen in Bernried auch Personen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft. Darunter war auch Shalom Ben Chorin, der sich offenbar im Sommer 1933 nach der Einziehung seines Passes kurze Zeit unter Pseudonym in Bernried aufhielt, um, so schrieb er, aus der Stadt zu fliehen.122 Auch im Jahr 1935 verzeichnete der Lagebericht der Gendarmeriestation vereinzelte jüdische Sommergäste.123 Das war nicht in allen oberbayerischen Urlaubsorten der Fall, denn nicht nur an Nord- und Ostsee hatte es bereits lange vor 1933 „judenfreie“ Erholungsorte gegeben.124 Solche Schilder gab es in der Umgebung offenbar mehr als genug – sogar in solcher Ausprägung, dass Partei- und staatliche Stellen dazwischengingen: Es ist unverzüglich dafür zu sorgen, dass judengegnerische Tafeln oder Aufschriften, die einen strafrechtlichen Tatbestand erfüllen oder streiten, unter allen Umständen entfernt werden. Hierunter fallen vor allem Aufschriften wie „Juden betreten den Ort auf eigene Lebensgefahr“, „Juden hinaus sonst...“ und ähnliche mit einer Drohung verbundene Aufforderungen. Ausserdem sind auch geschmacklose Darstellungen, z. B. Galgen, an denen ein Jude hängt, Karikaturen, auf denen ein Jude mit Gewalt hinausbefördert wird, und dergleichen zu beseitigen. Nicht zu beanstanden sind Tafeln und Aufschriften, durch die lediglich zum Ausdruck gebracht wird, dass Juden unerwünscht sind.125

Erst im Mai 1939, als Georg Hirn neuer Bürgermeister wurde, wurde auch in Bernried offiziell der „Judenbann“ verhängt, wurde also per Aushang verkündet, dass in Bernried keine Jüd:innen mehr beherbergt werden durften. In den umliegenden Orten sei dies längst der Fall, bemerkte der berichtende Gendarm.126 Für die als

121 Vgl. Nakath 2010; Weiß 2003; zur Rolle, die die Kommunalverwaltung bei der finanz- und steuerpolitischen Entrechtung spielten: Drecoll 2009, S. 93–121. 122 Ben-Ḥorin 2001, S. 103–106. Die Schilderung des Aufenthalts in Bernried ist ein Paradebeispiel für die idealisierte und ästhetisierte Ländlichkeit, die ich in Kap. 8 beschrieben habe. 123 Bericht der Gendarmeriestation Bernried, 31.8.1935; StAM, LRA 192196. 124 Vgl. Bajohr 2003; Hellerer 2014, S. 284 f. 125 Bayerische Politische Polizei an alle Polizeidirektionen; Abdruck an die Kreisleitung der NSDAP Weilheim, betreff: Judengegnerische Tafeln und Aufschriften, 19.10.1935; StAM, NSDAP 1997. Diese Anweisung galt aber nicht dauerhaft, sondern stand in engem Zusammenhang mit den IV. Olympischen Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen im Februar 1936. Das Deutsche Reich versuchte, sich hierfür möglichst weltoffen zu zeigen; Antisemitismus passte nicht ins Bild. Vgl. Gruner 2008, S. 48; Vogeltanz 2017, S. 205. 126 Bericht der Gemdarmeriestation Bernried an das Bezirksamt Weilheim, 29.5.1939; StAM, LRA 192200.

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Jüd:innen klassifizierten Menschen machte diese neuerliche Verschärfung der Bewegungsfreiheit vermutlich auch keinen Unterschied mehr – die meisten von ihnen waren bereits so entrechtet und auch ökonomisch ausgebeutet, dass an Urlaub ohnehin nicht mehr zu denken war. Es war vermutlich nicht alleine der neue Bürgermeister, der hier für eine Verschärfung der antisemitischen Politik sorgte; im gesamten Reich wurden die Maßnahmen gegen Personen jüdischer Herkunft nach den Novemberpogromen 1938 intensiviert. Unmittelbar nach diesen Pogromen berichtete die Gendarmeriestation Bernried Folgendes ans Bezirksamt: Im Dienstbezirk sind keine ansässigen Juden, die Empörung und Ausschreitung zur Folge gehabt hätten. Letztere wurden hier erst am 10.11.38 bekannt. Ein Teil der Bewohner bedauerte diese Ausschreitungen, andere wieder nahmen die Dinge mit Beruhigung auf. Inzischen [sic] ist wieder allgemeine Beruhigung durch die Aufklärung der Presse über die Judenmachenschaften eingetreten, auch die von der Regierung veranlaßten Gesetze über die Juden wurden mit Beruhigung und Genugtung [sic] aufgenommen.127

Das framing dieser Aussage ist höchst bemerkenswert, wenn auch keineswegs einzigartig. Hätten in Bernried Jüd:innen gelebt, wären sie es gewesen, die „Empörung und Ausschreitung“ ausgelöst hätten, nicht etwa Aufstachelungen und ein antisemitischer Grundkonsens der Bevölkerung. Interessant ist aber auch, dass die Haltung in der Bevölkerung keineswegs einhellig war. Doch auch das war nicht spezifisch für Bernried, ohne dass in der Regel Konsequenzen daraus gezogen worden wären. Mahlow beherbergte während des Zweiten Weltkriegs sehr viele Zwangsarbeiter:innen. Verschiedene Zusammenstellungen weisen auf mindestens neun verschiedene Lager hin, von denen das größte, das Lager „Roter Dudel“ in der Trebbiner Straße auf circa 1000 Personen ausgelegt war.128 Zu den in den Lagern internierten Zwangsarbeiter:innen kamen diejenigen, die einzeln oder zu mehreren in bäuerlichen Betrieben zur Arbeit gezwungen wurden.129 Addiert man nur die Zahlen der Lager, deren Kapazitäten bekannt sind, muss man von mindestens 1500 Zwangsarbeiter:innen in Mahlow ausgehen, in einer Gemeinde mit einer regulären Bevölkerung von etwa 3000. Da zudem viele Zwangsarbeiter:innen an zentralen Orten in Mahlow untergebracht waren, dürften sie für alle Einwohner:innen der

127 Gendarmeriestation Bernried an Bezirksamt Weilheim: Monatsbericht November 1938, 30.11.1938; STAM, LRA 192198. 128 Bremberger, Hummeltenberg, Stürzbecher 2009, S. 222–224; Wölfle-Fischer 2011, S. 84 f. Auch wenn sich Wölfle-Fischer offenbar auf Bremberger u. a. stützt, unterschieden sich die beiden Listen in manchen Details. 129 Vgl. Bremberger, Hummeltenberg, Stürzbecher 2009, S. 225.

Zusammenbruch und zögerlicher Neuanfang

Gemeinde permanent präsent gewesen sein.130 Umso erstaunlicher, dass in den akribisch geführten Unterlagen von Bürgermeister Fritz Hagena keine Spuren dieses Arbeitseinsatzes zu finden sind, obwohl der Bürgermeister vermutlich eng mit den Arbeitsämtern, die den Arbeitseinsatz koordinierten, zusammenarbeitete.131 Etwas anders verhält es sich wohl mit dem sogenannten „Ausländerkrankenhaus“.132 Hinter dem harmlosen Namen verbarg sich ein Lager für kranke und sterbende Zwangsarbeiter:innen, das sich am Rande der Mahlower Gemarkung und entsprechend abseits des Siedlungskerns befand. Insgesamt war es zumindest zu Hochzeiten auf mehr als 800 internierte Patient:innen ausgelegt. Während der Kriegsjahre starben hier mehr als 1500 Zwangsarbeiter:innen. Sie wurden größtenteils auf einem Friedhof außerhalb von Mahlow, in Güterfelde, beigesetzt. Friedrich Hagena dokumentierte als Mahlower Standesbeamter alle Sterbefälle – und auch die Geburten, die es auf der gynäkologischen Station gab – sorgfältig in den Personenstandsbüchern der Gemeinde Mahlow.133 Auch die Baupläne waren von der Ortspolizeibehörde Mahlow, also ebenfalls von Hagena, abgezeichnet worden.134 Dieses Beispiel zeigt, dass die Gemeindeverwaltungen, in kleineren Orten wie Mahlow und Bernried also vor allem die Bürgermeister, eng in die Administration des NS-Unrechts eingebunden waren. Sie hatten auch Anteil an dem Prozess, mit dem der dörfliche Raum umgestaltet und auf das nationalsozialistische Herrschaftssystem ausgerichtet wurde.

11.4

Zusammenbruch und zögerlicher Neuanfang

Wolxheim wurde durch französische Truppen befreit – wann ist unklar. Ab April 1945 arbeitete der 1940 suspendierte Gemeinderat wieder. Die ersten Aufgaben: die Revision der Wählerlisten und die Vorbereitung der Befreiungsfeier, bei der Wein an die Feuerwehrleute ausgegeben werden sollte.135 Einziges Indiz dafür, dass etwas Gravierendes vorgefallen war, war die französische Sprache in den Protokollen des conseil municipal, während die meisten Schriftstücke der Gemeindeverwaltung in

130 Bremberger, Hummeltenberg, Stürzbecher (2009) zitieren Zeitzeug:innen mit sehr konkreten Erinnerungen an die Zwangsarbeiter:innen in Mahlow. 131 Exemplarisch für kleine Gemeinden: Weger 1998. 132 Seit einigen Jahren gibt es lokale Initiativen, die das Gelände zu einem Gedenkort umgestalten wollen. Vgl. http://www.gedenkort-mahlow.de [16.2.2023]. 133 Vgl. dazu die Sterbebücher; GAB-M, EA PS 010–013; vgl. auch Aktennotiz Hagena 1.6.1942; GAB-M, EA 0037. 134 Vgl. die Baupläne; ebd. 135 Protokoll des Wolxheimer conseil municipal, 7.4.1945 und 15.5.1945; ACW, Registre des déliberations (1894–1946), S. 617.

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Regieren in der Diktatur

der Zwischenkriegszeit in deutscher Sprache abgefasst worden waren. Die Gemeinde Wolxheim bemühte sich explizit, an eine vermeintliche Kontinuität vor 1940 anzuknüpfen. Welche lokalen Spannungen die Gemeinde angesichts von Kollaboration und Kollaborationsvorwürfen auszuhalten hatte, kann kaum bemessen werden. Jedenfalls französisierte sich die Gemeinde Wolxheim nun vollständig, bis in die alltäglichen Praktiken der Gemeindeverwaltung hinein. Die deutschen Untersuchungsgemeinden wurden im Frühjahr 1945 besetzt, Mahlow durch die sowjetische, Bernried durch die amerikanische Armee. In Mahlow wurde eine sowjetische Kommandantur eingerichtet und ein kommunistischer Bürgermeister eingesetzt, der ab sofort die Regelung der lokalen Verhältnisse zu übernehmen hatte und als Ansprechpartner für die lokale Bevölkerung inklusive der Geflüchteten fungierte. In Bernried war die Situation ähnlich. Auch hier wurde der bisherige Bürgermeister, Georg Hirn, abgesetzt und durch Anton Ziegler ersetzt.136 In Bernried waren bereits seit den Kriegsjahren viele Evakuierte untergebracht; nun kamen Geflüchtete dazu, sodass das Dorf nach Kriegsende nicht mehr knapp 500, sondern deutlich über 1000 Einwohner:innen zählte.137 Die lokale Historiographie lässt die unmittelbare Nachkriegszeit in der Regel aus. In den Chroniken normalisierte sich das Dorfleben durch die Einführung der Prozession zu Mariä Himmelfahrt ab 1949, den Kauf des Bernrieder Schlosses durch die Tutzinger Missionsbenediktinerinnen und die Rückkehr von Wilhelmina Busch mit ihrem inzwischen dritten Ehemann, Samuel Woods, nach Bernried.138 Für das Kriegsende in Mahlow steht eine interessante Quelle zur Verfügung. Erik Reger, Schriftsteller und späterer „Tagesspiegel“-Herausgeber, lebte in den letzten Kriegsjahren in Mahlow, in einer Neubausiedlung westlich der Bahn. In seinem Tagebuch schilderte er den Übergang vom Krieg zum Waffenstillstand, vom NSRegime zur sowjetischen Besatzung in sehr anschaulicher Weise. So kommentierte er noch im April 1945 die Tatenlosigkeit der Mahlower Gemeindeverwaltung. In einer so brenzligen Lage sollte doch die Gemeindeverwaltung permanent im Dienst sein. Das Gemeindehaus ist nur durch zwei unbebaute Grundstücke von uns getrennt. Dort ist niemand, ausgenommen die Lehrbuben, die im Garten Akten verbrennen. […] Auch wird dort, jetzt nur noch von der alten Frau Huhn, einer Art Beschließerin und Faktotum, irgend etwas vergraben – man sagt, die Hitlerbilder. Niemand kümmert sich um all das. Niemand verhindert Vertuschungsmanöver im Gemeindehause, es weiß ja

136 Vgl. auch die überaus interessanten, allerdings quellenkritisch genau einzuordnenden Schilderungen von Alfred Pöppl im Schultagebuch: Undatierter Eintrag [1945/46], in: Schulgeschichtliche Aufzeichnungen für die Volksschule zu Bernried; GAB, Bi 19. 137 Vgl. Scherbaum [1982a], S. 26. 138 Vgl. Missions-Benediktinerinnen des Klosters Bernried 1978, S. 21 u. 31; Neumann 2007, S. 37; Wanka 1987, S. 64 f.

Zusammenbruch und zögerlicher Neuanfang

auch bei der zerstreuten Lage des Ortes kaum jemand davon. […] Vollkommene Apathie und Resignation ist das allgemeine Kennzeichen.139

Wenige Tage später, am 27. April, war Mahlow bereits von der Sowjet-Armee besetzt. Ein neuer Bürgermeister sollte in einer Versammlung gewählt werden; währenddessen suchte der alte, der „Hitlerbürgermeister Hagena“, auf der Straße nach Unterstützer:innen. Gerüchten zufolge, so berichtete Reger, wollte er sich wiederwählen lassen, „er sei zwar von den Nationalsozialisten eingesetzt gewesen, habe aber immer nur das Wohl des Ganzen im Auge gehabt.“140 Diese Erinnerungen an das Verhalten der nationalsozialistischen Gemeindeverwaltung sind höchst interessant. Die Hinweise auf das Verbrennen der Unterlagen im Garten des Gemeindehauses erklären die Überlieferungslücken, insbesondere mit Bezug auf die Verfolgung und Entrechtung der Jüd:innen, ggf. auch bezüglich des Umgangs mit Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangenen. Und die Gerüchte um Hagenas erneute Kandidatur weisen zumindest darauf hin, dass die Selbstentlastung des nationalsozialistischen Personals, man habe nur im Interesse der Allgemeinheit gehandelt, frühzeitig zu einem wirkmächtigen Topos geworden war. Vor allem aber schilderte Reger die Schwierigkeiten, mit denen die Gemeinde zu kämpfen hatte, die vielen Aufgaben, vor die sich die neue Gemeindeverwaltung mit ihrem ebenso neuen Bürgermeister,141 gestellt sahen. Die sowjetischen Besatzer gaben die Struktur vor, vor allem die Bürokratie, während der Bürgermeister verzweifelt versuchte, die Gemeinde zu enttrümmern, die Lebensmittelversorgung und die Verteilung des Wohnraums sicherzustellen, die Schule wiederzueröffnen und überhaupt alle Gemeindemitglieder in ihren Sorgen zu hören.142 Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und dem Ende des Zweiten Weltkriegs brachen für die Verwaltungen in den Gemeinden neue Zeiten an. Nun mussten sie – weitgehend nur mit den verschiedenen Militärverwaltungen als vorgesetzter Ebene – die Probleme des täglichen Lebens für die stark gewachsene Zahl von Einwohner:innen bewältigen. Nicht nur die klassische dörfliche Infrastruktur mit Straßenreinigung und Schulunterricht mussten wieder laufen; darüber hinaus waren es die Gemeindeverwaltungen, die sich um die Versorgung mit Lebensnotwendigem, mit Lebensmitteln und Wohnraum, kümmern mussten, auch weil es sonst keine Strukturen mehr gab, die das hätten übernehmen können. Dabei arbeiteten die Gemeindeverwaltungen unter sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Mitentscheidend für die neuen Formen der gemeindlichen 139 Reger 2014, S. 11–13. 140 Ebd., S. 45–48. 141 Reger (2014, S. 110) schrieb von „Kommunisten, zu 95 Prozent aus Glasow“, die die Gemeinde nun verwalteten. 142 Ebd., u. a. S. 96, S. 98, S. 105 f., S. 110.

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Regieren in der Diktatur

Verwaltung waren die jeweiligen Besatzungsverwaltungen. Vor allem im britischen und amerikanischen Sektor wurden die Gemeinden nicht nur mit administrativen Kompetenzen ausgestattet, sondern sie sollten auch als Basis für den Aufbau demokratischer Gesellschaften dienen. Demokratie müsse notwendigerweise von unten nach oben aufgebaut, im lokalen Nahraum verankert und im Alltag eingeübt werden, um sie verantwortungsvoll auf Länder- oder nationaler Ebene ausüben zu können. Entsprechend wurde der kommunalen Selbstverwaltung und der „Gemeindefreiheit“ wieder eine große politische Geltung eingeräumt: Denn wo immer das ordnende Prinzip der freien Zusammenarbeit, der lebendigen Selbstverwaltung von unten nach oben, vom kleinen Raum in den grossen wuchs, da haben wir es mit einer organischen, nicht mit einer mechanischen Staatsbildung zu tun. Und zwar ist der Genossenschaftsgeist ein ganz besonders fein organisiertes Ordnungselement, und das gleiche gilt von der ihn nährenden Kraftquelle: der Gemeindefreiheit.143

Diese Idealisierung – oder Romantisierung – gemeindlicher Selbstverwaltung hatte bereits im 19. Jahrhundert in den Debatten über die lokale Verwaltung eine wichtige Rolle gespielt. Doch nun wurde Selbstverwaltung mit der Hoffnung auf Demokratisierung verknüpft, während die Steigerung des Patriotismus oder auch die Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung als Motive für die Schaffung von Räumen der Selbstverwaltung in den Hintergrund traten. Diese Idealisierung von Selbstverwaltung ist auch heute noch in bestimmten Kontexten verbreitet. So wurde die soeben zitierte Programmschrift von Adolf Gasser im Jahr 2004 wieder aufgelegt, als Appell gerichtet an die „jungen Demokratien im Osten“, die noch einen weiten Weg „zur [sic!] echter lokaler Demokratie – zu ‚Gemeindefreiheit‘ – zu kommunaler Selbstverwaltung“ vor sich hätten, wie der Verwaltungsjurist Franz-Ludwig Knemeyer in seinem Geleitwort zur Neuauflage etwas gönnerhaft betont.144

11.5

Die Regierung des ländlichen Raums während der NS-Zeit

Chronologisch läuft meine Untersuchung des Regierens in drei Dörfern auf dieses Kapitel zu; analytisch hingegen ist das nicht der Fall. Denn meine Auseinandersetzung mit dem Regieren im Dorf ist gerade nicht als Vorgeschichte des National-

143 Gasser 1947, S. 15. Gasser gilt als ein wichtiger Vertreter der föderalen Idee nach dem Zweiten Weltkrieg und als Anreger der Charta der kommunalen Selbstverwaltung in Europa. 144 Knemeyer 2004, S. 7.

Die Regierung des ländlichen Raums während der NS-Zeit

sozialismus angelegt.145 Dennoch können auch mit dem analytischen Fokus, der gerade nicht auf den Nationalsozialismus gerichtet ist, einige interessante Befunde bezüglich dieser besonderen Zeit herausgearbeitet werden. Die NS-Machtübernahme im Januar 1933 bedeutet für die deutsche Geschichte einen tiefen Einschnitt; trotz aller Kontinuitäten, die mit Recht betont werden. Dieses Zusammenspiel von Kontinuität und Bruch gilt auch für die Gemeinden und die Geschichte des ländlichen Regierens. Die Gemeinden blieben wichtige Institutionen für das Regieren im ländlichen Raum, aber ihre Position im Institutionengeflecht veränderte sich stark; sie waren nicht mehr nur in die staatliche Bürokratie, sondern zunehmend auch in das Gewirr von Parteistellen und Sonderbeauftragten eingebunden. Dabei war dieses Neben- und zum Teil Gegeneinander verschiedener Stellen gerade kein Manko der nationalsozialistischen Diktatur. Rüdiger Hachtmann hat in seinen Überlegungen zur „Neuen Staatlichkeit im Nationalsozialismus“ herausgestellt, dass diese staatlichen und halbstaatlichen Akteure gemeinsam eine neue Form des Regierens entwickelt hätten, die erstaunlich effizient war – bis hin zur Ermordung von Millionen von Menschen, der Aufrüstung für einen verheerenden Krieg und der Aufrechterhaltung der Versorgungsinfrastrukturen bis fast zum Ende des Kriegs.146 Die Gemeinden hatten also eine prekäre Stellung im neuen politischen Institutionengeflecht. Insbesondere die neuen Konstruktionsprinzipien der Gemeindeordnung machten die Organe der Gemeinde abhängig von der Legitimität anderer Instanzen. Sie verfügten nicht mehr über eine eigene Legitimierung wie ein gewählter Gemeinderat, sondern konnten ihre Berechtigungen nur noch aus neuen Rechten, oft aus der Funktionszuschreibung durch die Partei im NS-Staat ableiten. Neben der Gemeinde traten auf lokaler Ebene andere Instanzen auf, die mit politischer Herrschaftsmacht ausgestattet waren: Außer der NSDAP und ihren Gliederungen waren das beispielsweise auch die Instanzen des Reichsnährstandes.147 Der lange Untersuchungszeitraum dieser Arbeit ermöglicht es dabei, gerade für die Gemeinden gewisse Fragezeichen an das Neue der neuen Staatlichkeit zu setzen. Denn das Regieren in den Gemeinden war ohnehin, das haben die verschiedenen Kapitel dieser Arbeit gezeigt, ein Lavieren von unterschiedlichen Akteuren, die verschiedenen Rationalitäten folgten. Die „Polykratie“148 verschiedener Regierungsinstanzen war kein Spezifikum der nationalsozialistischen Herrschaft im Dorf.

145 Eine solche Perspektive ist vor allem den Arbeiten von Pyta und Kittel eingeschrieben, die vornehmlich die Weimarer Periode berücksichtigen. Auch Mechthild Hempes Studie über Mecklenburg argumentiert in eine ähnliche Richtung. Hempe 2002; Kittel 2000; Pyta 1996. 146 Hachtmann 2007; ders. 2011. 147 Zu diesen Akteuren vgl. vor allem Blaschke 2018; Langthaler 2015. 148 Vgl. Hüttenberger 1976; Hachtmann 2018.

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Regieren in der Diktatur

Was allerdings neu war, das war die klare Ausrichtung, die diese Verkettung unterschiedlicher Regierungsinstanzen erfuhr. Denn es handelte sich nun keineswegs um ein „freies Spiel“ der unterschiedlichen Legitimationsressourcen. Die NSDAP, ihre Institutionen und Mitglieder behielten gegenüber anderen Instanzen des landgemeindlichen Regierens stets die Oberhand. Vor diesem Hintergrund gelang es dem Nationalsozialismus auch, den dörflichen Raum stark auf sich auszurichten und umzugestalten. Mit Januar 1933 wurde die vormals noch neutral verbrämte Kritik am republikanischen System offen als Zustimmung zum nationalsozialistischen Regime zur Schau gestellt – nicht von allen Akteur:innen, aber doch von wichtigen, etwa dem Bernrieder Schullehrer. Die Gleichschaltung der Gemeinderäte strukturierte diese zwar um, führte aber nicht zu einem vollständigen Bruch der gemeindlichen Gremien; in beiden deutschen Gemeinden blieben die Vorsteher zunächst im Amt. Als Otto Brandt in Mahlow abtreten musste, blieb er als Gemeinderat Teil der nationalsozialistischen „Selbstverwaltung“. Dieser Begriff spielte auch in der nationalsozialistischen Debatte über die Regierung des Lokalen eine wichtige Rolle, auch wenn er stark umgedeutet wurde. Aber die zahlreichen Auseinandersetzungen, die seit dem 19. Jahrhundert über die Selbstverwaltung geführt worden waren, hatten ohnehin gezeigt, dass es sich dabei um einen sehr unterschiedlich ausdeutbaren Begriff handelte.149 Die nationalsozialistische Neufassung des Begriffs setzte allerdings mit der starken Einbindung der Partei noch einmal ganz neue Akzente. In der lokalen Praxis der Gemeindeverwaltungen blieben trotz der enormen Verschiebung der internen Machtverhältnisse zugunsten des Bürgermeisters bekannte Muster sichtbar. Sowohl die Ausdeutung des Postens des Bürgermeisters als allzuständigen Vater der Gemeinde wie auch die durchaus selbstbewusste Haltung des Mahlower Gemeinderats 1937, der sich bemühte, den eigentlich qua Führerprinzip zur selbstständigen Entscheidung befugten Bürgermeister in die Schranken zu weisen, zeugen davon, dass die Muster der Amtsführung durchaus längeren Traditionen folgten. Bei der Arbeit an diesem Kapitel wurde deutlich, dass wichtige Aspekte der Geschichte des Regierens im Nationalsozialismus in der Überlieferung der Landgemeinden unsichtbar oder zumindest verdeckt bleiben. Das ist insofern besonders frappierend, als die vielfältigen lokalen Formen der Unrechtsverwaltung aus anderen Studien bekannt sind – von der Verfolgung, Entrechtung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung bis hin zum Zwangsarbeitssystem. Das Tagebuch von Erik Reger gibt Hinweise darauf, dass die Lücken in der Überlieferung nicht zufällig entstanden – oder zumindest nicht zufällig entstanden

149 Vgl. Kap. 3.1 und 10.2.

Die Regierung des ländlichen Raums während der NS-Zeit

sein mussten. Dazu kommen Kriegsverluste, beispielsweise der Gemeindeaufsicht in Bayern. Dennoch: die dünne gemeindliche Überlieferung hat auch etwas mit der Verschiebung der institutionellen Ordnungen zu tun. Das betrifft besonders die Gemeinderäte, die im Nationalsozialismus trotz punktueller Bemühungen der Räte stark an Bedeutung verloren. Für weite Teile dieser Arbeit waren sie wichtige Seismographen für Themenkonjunkturen und Problemstellungen, für Praxisformen und Konfliktfelder gewesen. Diese Funktion erfüllten sie für die Zeit des Nationalsozialismus nicht mehr.

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12.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

12.1

Drei Phasen des Regierens

Die Geschichte des Regierens des Landes und des Regierens auf dem Land lässt sich am besten in drei Phasen erzählen. Diese drei Phasen habe ich bereits in der Einleitung angesprochen und als Strukturierungshilfe für die Darstellung benutzt. Nun ist es an der Zeit, von ihnen ausgehend die Ergebnisse dieser Arbeit noch einmal konzentriert zusammenzutragen. 12.1.1 Gouvernementalisierung der Gemeinden (1850–1900) Unter dem Begriff der Gouvernementalisierung der Gemeinden habe ich Entwicklungen gebündelt, die als gemeinsamen Grundton das sich wandelnde Verhältnis von Gemeinde und Staat hatten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte sich der Staat als Institution sehr stark; er zentralisierte und verrechtlichte sich noch einmal, aber es wurden auch neue Formen des Regierens entwickelt, die die staatlichen Logiken auf das gesamte Territorium auszuweiten halfen. Dazu gehörte die Gouvernementalisierung der Gemeinden, durch die die Gemeinden einerseits auf den Staat bezogen, also an staatliche Logiken angepasst wurden. Andererseits wurden die Gemeinden in dieser Phase auch weiterhin als Institutionen behandelt, die nicht mit dem Staat deckungsgleich waren, sondern über ihn hinauswiesen. Ältere Vorstellungen von Genossen- und Nachbarschaft, von Gemeindebesitz, der nicht mit Staatsbesitz in eins fiel, blieben erhalten. Gouvernementalisierung der Gemeinden meint also, dass die Gemeinden auf den Staat ausgerichtet, gleichwohl aber auf Distanz gehalten wurden. In den vielen und stets neu angefachten Diskussionen über Reform oder Neufassung von Gemeindeordnungen verhandelten vor allem Bürokraten und Politiker, vereinzelt aber auch Journalisten, darüber, in welchem Verhältnis Gemeinde und Staat zueinanderstanden und stehen sollten. Diese Debatten mündeten in rechtliche Ordnungen, die über lange Zeit die Regeln des Regierens auf dem Land bestimmen würden. Hier wurden Unterschiede zwischen Stadt und Land festgeschrieben, und die Ordnungen sollten dazu dienen, die ländlichen Bevölkerungen und ihre Ressourcen für den Staat zu mobilisieren. Die (zum Teil neu geschaffenen) Gemeindevertretungen nutzten die Möglichkeiten, die sich durch die Gemeindeordnungen ergaben, sehr unterschiedlich. Für alle drei Untersuchungsgemeinden habe ich aber gezeigt, dass sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein harter Kern von Personen im Gemeinderat herausbildete,

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

der über viele Jahre die Geschicke der Gemeinde zu lenken versuchte. Gegenüber früheren Phasen der dörflichen Selbstverwaltung nahm die Fluktuation im lokalen Verwaltungsgremium nun stark ab. Daraus habe ich die These abgeleitet, dass die lokalen Akteure langsam begannen, die Verhältnisse vor Ort über die Gemeindeverwaltungen zu gestalten. An den Bürgermeistern, ihren Regierungspraktiken und den Ansprüchen, die an ihre Amtsführung gestellt wurden, lassen sich ähnliche Verschiebungen im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen. Die Bürgermeister, die in aller Regel administrative Laien waren, blieben immer länger im Amt. Sie lernten nach und nach, den Ansprüchen an die administrative Leitung ihrer Gemeinden zu genügen. Zudem veränderten sich die Haltungen der Aufsichtsbehörden gegenüber den lokalen Amtsträgern. Während die Beamten der unteren Ebene der Bürokratie um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch permanent betont hatten, dass das Personal in den Gemeinden den Ansprüchen an das Amt nicht genüge, so würdigten sie um die Jahrhundertwende mehr und mehr die lokalen Verwalter für ihre Arbeit in den Gemeinden – wohl in der Erwartung, dass die Bürgermeister für die Loyalität der Dorfbewohner:innen gegenüber Staat und Monarchie sorgen würden. Das wichtigste Argument dafür, dass den ländlichen Gemeinden Selbstverwaltungsrechte zugesprochen werden sollten, war die Annahme, dass Gemeinden nicht ursprünglich administrative, sondern ökonomische Institutionen seien. Die Nachbarschaft der Landwirte, die Genossenschaft der Besitzenden blieb diskursiv im 19. Jahrhundert einflussreich, und das hatte Auswirkungen auf die institutionelle Ausgestaltung der Gemeinden. Allerdings wurden die Grenzziehungen schwierig, wenn der Gemeinde Aufgaben übertragen wurden, die nur einer spezifischen ökonomischen Gruppe zugutekamen. Die Haltung der Zuchtstiere war so eine Aufgabe, die kommunal gemanagt wurde, obwohl nur die Rindviehhalter:innen profitierten. Auch die Verwaltung und Nutzung des Gemeindebesitzes – von der Allmende bis zu den Fäkalien aus den Schultoiletten – oblag den Gemeinden. Diese Aufgaben wurden kommunalisiert, also der politischen Gemeinde übertragen, und staatlich reguliert, sollten aber weiterhin stellvertretend nur für die berechtigten Gemeindemitglieder ausgeführt werden. Auch hier zeigte sich das Verhältnis von Staat und Gemeinde als komplex; es wurde sogar noch komplizierter, weil die Gemeinde als Gebietskörperschaft nicht deckungsgleich mit der ökonomischen Gemeinde war – nicht alle Dorfbewohner:innen hatten zum Beispiel Rechte am Gemeindebesitz. Die Gouvernementalisierung der Gemeinden war ein Teil der Geschichte von Staatlichkeit im späten 19. Jahrhundert, ein Teil jedoch, der nur sichtbar wird, wenn man die lokalen Akteur:innen im ländlichen Raum in den Blick nimmt. Erst dann wird die Ambivalenz von Verstaatlichung und Kommunalisierung, von Vereinnahmung und Distanzierung sichtbar. Um 1900 lief der Prozess der Gouvernementalisierung langsam aus. Das bedeutete nicht, dass die Gemeinden zur

Drei Phasen des Regierens

Jahrhundertwende in ein stabiles Verhältnis zum Staat eingetreten wären oder dass die Gemeindeverwaltung vollständig professionalisiert und bürokratisiert worden wäre. Nun aber war weitgehend geklärt, dass die Gemeinden und der Staat eng verbunden, aber nicht identisch waren, und dass entsprechend auch die Regierungsweisen ähnlich, aber nicht deckungsgleich sein sollten. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Konflikte über die konkrete Gestaltung in einzelnen Fällen mehr gegeben hätte. 12.1.2 rural modern – die lange Jahrhundertwende (1875–1925) In den Jahren zwischen 1875 und 1925 kamen neue Probleme auf die Gemeinden zu. Nun waren sie nicht mehr vornehmlich damit beschäftigt, ihr Verhältnis zum Staat zu klären, sondern es ging immer mehr darum, Probleme zu klären, die sich den Gemeinden durch Strukturveränderungen der Gesellschaft insgesamt stellten. Ich habe herausgearbeitet, dass die Gemeinden versuchten, ihre eigenen Interessen (und das heißt häufig: die Interessen der Besitzenden in den Gemeinden) zu wahren, während die staatlichen Stellen ganz andere Interessen hatten, beispielsweise die Verbesserung lokaler Infrastrukturen oder die Organisation der Armenfürsorge. Am Beispiel der Zugehörigkeit zur Gemeinde habe ich gezeigt, dass die Gemeinden stark abwehrend agierten, wenn es darum ging, vermeintlich „Fremde“ aufnehmen zu müssen. Besonders zeigte sich das in Bayern, denn hier galt noch bis ins 20. Jahrhundert hinein das Heimatrecht, das die Freizügigkeit zugunsten der Gemeinden einschränkte. Durch verschiedene Gesetzesänderungen sollte das Heimatrecht standardisiert werden, aber die Gemeinden widersetzten sich, indem sie sich weigerten, Arme in die Gemeinde aufzunehmen und für sie aufzukommen. Ähnliche Abwehrreaktionen waren auch bei der (zum Teil staatlicherseits gewünschten) Verbesserung der ländlichen Infrastruktur der Fall. Am Beispiel des Neubaus des Schulhauses in Wolxheim habe ich gezeigt, dass die Standardisierung und Vereinheitlichung der Verwaltung so weit fortgeschritten waren, dass sich die Gemeinde nicht dauerhaft gegen die Forderungen der Schul- und Bauverwaltung stemmen konnte. Das änderte aber nichts daran, dass die Gemeindevertreter alle Register zogen, um den Neubau erheblich in die Länge zu ziehen und staatliche Ressourcen für die Finanzierung zu erpressen. Diese Themenfelder waren Teil der engeren Gemeindeverwaltung; diese Anforderungen trug die staatliche Verwaltung, die Themenfelder wie Migration oder Bildung politisch zu bewältigen versuchte, an die Gemeinden heran. Anders gelagert war ein drittes wichtiges Feld des landgemeindlichen Regierens während der erweiterten Jahrhundertwende: die Herausbildung von Ländlichkeit. Vorstellungen davon, was das Land ausmachte, beeinflussten auch schon in den Jahrzehnten zuvor die Gemeinden und ihre Regierung, das habe ich unter anderem im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 in Kapitel 2 herausgestellt. Nun aber wurden

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

diese Vorstellungen auch von den lokalen Akteur:innen aufgegriffen. Besonders plastisch lässt sich das am Sommerfrische-Dorf Bernried zeigen, wo sich nicht nur die Gemeindeverwaltung, sondern auch der weitgehend von der administrativen Elite getragene Verschönerungsverein darum bemühte, bürgerlichen Erwartungen an eine ländliche Idylle zu genügen. Während der erweiterten Jahrhundertwende, die für viele strukturelle Wandlungen von der Herausbildung der Wissensgesellschaft und der Konsumkultur, von der Technisierung bis hin zur urbanen Lebensweise als wichtige Übergangsphase markiert wurde, veränderten sich also nun auch die Landgemeinden und die Praktiken des landgemeindlichen Regierens sehr stark. Doch es wäre zu kurz gegriffen, nur von den strukturellen Wandlungen zu sprechen, die von außen auf die Gemeinden einwirkten und Veränderungen erzwangen. Mit dem Begriff des rural modern lenke ich vielmehr den Fokus darauf, wie die lokalen Akteur:innen selbst den Umgang mit den vielfältigen Veränderungen aushandelten. Ein wichtiges Kennzeichen dieser Aushandlungsprozesse war der ständige Rückbezug auf Ländlichkeit als differenzverbürgende Eigenschaft der Gemeinden. 12.1.3 Krisen und Konflikte (1900–1945) Die Kapitel in diesem Abschnitt sind weniger stark durch thematische Zugriffe und stärker durch bestimmte historische Ereignisse bestimmt. Der Erste Weltkrieg, die langen 1920er Jahre und die nationalsozialistische Zeit strukturieren diese Untersuchung des landgemeindlichen Regierens. Das ist nicht nur eine Gliederungsvariante, sondern auch ein Ergebnis meiner Analyse. Denn mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurden alle untersuchten Gemeinden in erheblichem Maße und letztlich ununterbrochen durch krisenhafte Entwicklungen betroffen, die außerhalb ihrer eigenen Grenzen und Gestaltungsmöglichkeiten lagen. Die Weltkriege, die Veränderungen der rechtlichen Verfassung der Gesellschaften nicht nur auf dem Land in der Zwischenkriegszeit, die Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft – all das beeinflusste das ländliche Regieren in viel stärkerem Maße als jemals zuvor. Der Erste Weltkrieg stellte ein wichtiges Ereignis für das Regieren im ländlichen Raum dar, auch wenn es sich dabei nicht um eine harte Zäsur handelte. Doch mit Kriegsbeginn wurde die Regierung des ländlichen Raums in bislang beispielloser Weise intensiviert. Es veränderten sich nicht nur die Verwaltungsaufgaben, es wurden auch ganz neue Bereiche in den Fokus der staatlichen Regulierung genommen, wie Lebensmittelerzeugung und -konsum. Diese Intensivierung des Regierens führte schnell auch zu lokalen Konflikten, denn es waren lokale Akteure wie die Bürgermeister, die die Regeln durchsetzen mussten, hinter denen sie oft selbst nicht standen.

Drei Phasen des Regierens

Diese lokalen Spannungen zogen sich deutlich über das Kriegsende hinaus. In der Zwischenkriegszeit wurden sie als Konflikte zwischen Stadt und Land, ja zwischen Staat und Dorf interpretiert und damit für die Zeitgenoss:innen besonders greifbar. Das hatte Auswirkungen darauf, wie im ländlichen Raum mit Konflikten umgegangen wurde und welche Akteur:innen auftraten. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts waren Verbände und Parteien, die für sich reklamierten, die ländlichen Interessen zu vertreten, wichtiger geworden; das setzte sich nun beschleunigt fort. Vor allem aber wurden auch lokal begrenzte Streitigkeiten im Raster Staat/Stadt vs. Land interpretiert. Auseinandersetzungen um die Stromleitung in Mahlow oder den Gutsverkauf in Bernried traten in Resonanzbeziehungen zu anderen Konflikten auf anderen räumlichen Ebenen, sodass der Antagonismus Staat/Stadt gegen Land generalisiert wurde. Die Zeitgenoss:innen, vor allem die ländlichen, hielten diese Differenz für eine der wichtigsten gesellschaftlichen Trennlinien. Als zeitgenössische Deutung mit handfesten Folgen müssen wir sie heute historisieren, statt sie fortzuschreiben. Insofern war das landgemeindliche Regieren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert stärker als jemals zuvor in gesamtgesellschaftliche Konfliktlinien und Kraftfelder eingebunden. Besonders betrifft das die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Denn das NS-Regime griff einerseits sehr schnell und radikal in die Modi des landgemeindlichen Regierens ein; andererseits nahm das Regime etablierte Formen des lokalen Regierens auf und transponierte sie in den neuen Regierungskontext, der durch Führer- und Gefolgschaft bestimmt war. Allerdings darf man Resonanz nicht mit Kongruenz verwechseln – die lokale Ebene war weiterhin deutlich mehr als nur ein Spiegel der „großen“ Geschichte. 12.1.4 Periodisierungen und ihre Grenzen Allen drei Perioden ist gemeinsam, dass sie nicht absolut zu setzen sind. Periodisierungen sind immer ein Stück weit arbiträr, nicht jedes Phänomen passt genau in seine durch Jahresgrenzen markierte Epoche. Die zeitliche Einordnung der drei Phasen ist zwar von der empirischen Forschung geleitet, orientiert sich aber doch an der ordentlichen Logik der Jahrzehnte und Jahrfünfte. Insofern sind die drei beschriebenen Phasen mehr heuristisches Hilfsmittel und grobe Systematisierungsinstrumente als passgenaue Beschreibungen mit universalem Anspruch. Es kommt auf das übergreifende Muster an: Die Erzählung des modernen landgemeindlichen Regierens ist dramaturgisch unterteilbar in eine Konstituierungsphase (Gouvernementalisierung), eine Dominanzphase (rural modern) und eine Überblendungsphase (Krisen und Konflikte). Damit helfen die Phasen dabei, analytische Verdichtungen herauszustellen. Die drei Zeitabschnitte des landgemeindlichen Regierens sind also Vorschläge, um

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

die unterschiedlichen Elemente dieser Regierungsform heuristisch trennen und historisch verorten zu können. Gleichwohl halte ich eine isolierte Betrachtung von nur einer der vorgeschlagenen Perioden für nicht hilfreich. Das würde blind machen für die wichtigen Überlappungen und Wechselwirkungen. Vor allem gilt das für das Gravitationszentrum meiner Arbeit, die erweiterte Jahrhundertwende der Jahre von 1875 bis 1925. Diese Jahrzehnte waren nicht nur „rural modern“, sie waren auch geprägt durch die Gouvernementalisierung und unzählige Krisen und Konflikte. Hier kamen die Elemente des spezifisch landgemeindlichen Regierens zusammen und verwoben sich zu einem komplexen Geflecht von diskursiven Ordnungen und sozialen Praktiken, das sowohl über die Verbindung von lokaler Gemeinde und nationalem Staat als auch über die permanente Abgrenzung dieser beiden funktionierte. Die wichtigsten Elemente waren die spezifische Distanz zwischen Gemeinde und Staat; die besondere Ordnung der lokalen Partizipation, geordnet durch die local citizenship(s); die Ländlichkeit als Idee, Handlungsmodus und Materialität; und schlussendlich die Abgrenzung zwischen Stadt/Staat und Land, die eine wichtige Handlungsstrategie zunächst für die lokalen Eliten, dann mehr und mehr auch für politischen Verbände und Parteien wurde.

12.2

Ergebnisse und Perspektiven

Jenseits der chronologischen Ordnung ist es sinnvoll, noch einmal einige Dimensionen genauer zu beleuchten, die sich quer durch die Kapitel und die vorgeschlagenen Phasen des landgemeindlichen Regierens ziehen. Ich werde noch einmal genauer einen Blick auf die Rolle der Ländlichkeit als Differenz, auf den Staat als Antagonisten und auf die Frage von regionaler und überregionaler Gültigkeit meiner Ergebnisse werfen. 12.2.1 Ländlichkeit als Differenz Ich habe im Laufe dieser Untersuchung immer wieder davon gesprochen, dass Ländlichkeit aktiv hergestellt wurde, doch auch davon, dass sich die Akteur:innen auf Vorstellungen davon bezogen, was „ländlich“ sei. Ein festes Wissen davon, was ländlich war oder als ländlich zu verstehen sei, gab es aber nicht. Die Vorstellungen und Realisierungen von Ländlichkeit waren vielfältig und umstritten. Ländlichkeit war in meiner Untersuchung mal Problemdiagnose und mal Ideal, mal konkrete Materialität und mal Zustand, auf den es rechtlich Rücksicht zu nehmen galt. So lässt sich abschließend lediglich feststellen, dass Ländlichkeit zwar keinen festen Kern hatte, für die Regierung der Landgemeinden aber als Differenz eine fundamentale Bedeutung besaß. Die verschiedenen Akteur:innen (lokal oder nicht, staatlich, staatsnah oder staatsfern) bezogen sich auf Ländlichkeit, um Verhaltens-

Ergebnisse und Perspektiven

weisen einzusetzen oder einzufordern, die anders waren als das Verhalten in der Stadt oder im Zentrum der Politik. In Bernried, Mahlow und Wolxheim unterschieden sich die lokalen Ländlichkeitsproduktionen. Das ist nicht nur historischen Zufällen geschuldet, sondern kann auf unterschiedliche, jedoch nicht scharf voneinander abgrenzbare Typen von Ländlichkeit zurückgeführt werden. In Bernried hatte Ländlichkeit meist etwas mit Volkstümlichkeit zu tun – im positiven wie negativen Sinne. Diese Volkstümlichkeit musste mal geschützt, mal eingehegt werden; mal galt es, die heimische Bauweise zu konservieren, mal die Verhaltensweisen der Landbevölkerung beim abendlichen Kegeln oder beim Feiern zu regulieren. Das hatte sowohl etwas mit der „volkstümlichen“ Traditionspflege in Bayern seit dem 19. Jahrhundert zu tun als auch mit der konkreten Situation in Bernried als Ort des Aufeinandertreffens von lokaler Bevölkerung und nach Erholung suchenden Städter:innen. In Preußen und damit in Mahlow konkretisierte sich Ländlichkeit phasenweise besonders stark in der Abgrenzung von einer ausgreifenden staatlichen Bürokratie. Hier war die defensive Ländlichkeit, von der in Kapitel 10 die Rede war, politisch ausgeprägt und gegen die preußische Verwaltung, aber auch gegen das Parlament gerichtet. Vor allem in der Weimarer Republik nahm das aggressive Formen an. Dazu trat, spezifisch für Mahlow und andere Vorortgemeinden, der ins Innere der Gemeinde verlegte Konflikt zwischen Dorf und Stadt. Die Auseinandersetzung, ob Mahlow noch Dorf sei oder schon Stadt sein müsse, wurde auch im Gemeinderat und an seinen Rändern ausgetragen. Das Elsass wiederum zeichnete sich durch andere Differenzen des Ländlichen aus. Die Darstellung des Ländlichen mit statistischen Mitteln trug hier die ganze Ambivalenz von Idealisierung und Problematisierung in sich; besonders die Aspekte Landflucht und Besitzgrößen habe ich herausgearbeitet. Zugleich war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem seit der preußisch-deutschen Annexion, die Herausbildung einer regionalen Sonderidentität in Abgrenzung sowohl zur preußischen (Fremd-)Regierung als auch zum französischen Zentralismus besonders ausgeprägt. Diese Ländlichkeit definierte sich über den großen Einfluss der Religion, über die (vermeintliche) Einfachheit der Bevölkerung und die (zugeschriebene) Genügsamkeit der Bauern. Das Defensive dieser Ländlichkeit war auf der Ebene der Identität angesiedelt – und schloss daher auf merkwürdige Art und Weise die elsässischen Städte mit ein, ohne dass dies je explizit thematisiert worden wäre. Wenn das Elsass ländlich war und die Städte im Elsass elsässisch – dann war Ländlichkeit offenbar ein regionales, nicht aber zwingend ein rurales Phänomen. Diese verschiedenen Spielarten der Ländlichkeit schlossen sich nicht gegenseitig aus, es gab auch Überschneidungen. Doch zeigt sich hier, dass ländliches Regieren nicht für ganz (Mittel-)Europa das Gleiche bedeutete, sondern jeweils lokal und situativ konkretisiert wurde. Gleichwohl waren einige Zuschreibungen des Ländli-

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

chen für alle untersuchten ländlichen Regionen gleich, vor allem die spezifische Chronologie der ländlichen Regionen: Diese waren unberührt von der Moderne oder zurückgeblieben; die ländliche Bevölkerung traditionsverhaftet und ruhig. Diese Topoi schreiben sich bis in die gegenwärtige Historiographie fort, wenn in Gesamtdarstellungen noch immer die Rede davon ist, dass ländliche Regionen (z. B. in Deutschland) während der enormen Modernisierungsschübe um die Wende zum 20. Jahrhundert in Statik verharrt seien. 12.2.2 Der Staat als Antagonist Das Regieren auf dem Land hatte etwas mit dem Staat zu tun, war aber nicht gleichbedeutend mit der Expansion des Staates in den ländlichen Raum. Der Fokus auf das Regieren hat vielmehr gezeigt, dass Regieren zwar in der Regel staatsbezogen war, dass aber viele Akteur:innen beteiligt waren, die nicht zwingend über offizielle (staatliche) Funktionen verfügten: ob das nun der Verschönerungsverein, der Vorsitzende des Kreisvereins des Verbands der preußischen Landgemeinden oder der dörfliche Sachverständige für die Rindviehzucht war. Die Gouvernementalisierung der Gemeinden sorgte dafür, dass solche Akteur:innen auf den Staat bezogen waren. Aus der Perspektive der Gemeinde erschien der „Staat“ häufig als das „Andere“, als das Gegenüber in Auseinandersetzungen, als die Körperschaft, von der es sich abzugrenzen galt. Auch Verbände und Vereine, die für sich reklamierten, im Namen der ländlichen Bevölkerung zu sprechen, transportierten solche globalen Staatsbegriffe. Doch was war das eigentlich für ein Staat, der immer wieder als Gegenüber in dieser Arbeit auftauchte? Dieser Staat war offensichtlich nicht deckungsgleich mit der Monarchie (bis 1918) oder gar mit der Nation. Auch hiervon gab es Absetzungsbewegungen, etwa in der elsässischen Regionalbewegung oder auch partiell in Bewegungen, die sich von einer (klein-)deutschen Nation distanzierten, um entweder eine großdeutsche oder eine bayerische Nation zu propagieren. Doch Patriotismus und Monarchieverbundenheit fungierten weiter als positive Bezugspunkte, vor allem auf der Ebene der Verbände, die im Namen der Landbevölkerung zu sprechen meinten. Stattdessen war der „Staat“ vornehmlich der Normen- und Anstaltsstaat. Er war Gesetzgebung und Verwaltung, also genau das, womit die lokalen Amtsinhaber permanent zu tun hatten. In seine strikte Hierarchie wurden sie eingeordnet, und weil sie Vertreter der kleinen Gemeinden und noch dazu bürokratische Laien waren, hatten sie ihren Platz ganz unten in dieser Rangordnung. Die konkreten staatlichen Stellen, die den Gemeindevertretern im Einzelnen gegenübertraten, waren wiederum sehr verschieden. Die bayerische Verwaltung war zweifellos straff organisiert. Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die administrative Strategie schon weitgehend zugunsten der ländlichen Akteur:innen verändert. Die Staatsaufsicht wurde mit der Gemeindeordnung von

Ergebnisse und Perspektiven

1869 eingeschränkt, der Bestätigungsvorbehalt der Bezirksämter für die Bürgermeister weitgehend kulant gehandhabt. Trotzdem war das Verhältnis zwischen Gemeinde und bayerischer Bürokratie nicht ungetrübt; es bedeutete vielmehr, dass die Gemeinden zunächst viele Autonomierechte hatten – solange sie diese im Sinne der Bürokratie nutzten. Doch die Fallstudien haben auch gezeigt, dass die Bernrieder Gemeindeverwaltung häufig vom Bezirksamt unterstützt wurde, wenn es um Auseinandersetzungen mit nicht-amtlichen Instanzen ging, etwa mit örtlichen Gutsbesitzern. Die Urteile der preußischen Beamten über die Gemeindevorsteher waren im 19. Jahrhundert vielfach abwertend und negativ, doch milderte sich der Ton seit der Jahrhundertwende merklich ab. Die Gemeinden in Brandenburg wurden streng überwacht und die Gemeindevorsteher nur nach genauer Prüfung ihrer Loyalität gegenüber dem monarchischen Staat im Amt bestätigt; doch waren sie erst einmal im Amt, wurden sie von den Landräten in Schutz genommen, und ihre Anstrengungen wurden (wenn auch meist nur symbolisch) honoriert. Das zeigte sich besonders im Ersten Weltkrieg, als sich die Landräte aktiv dafür einsetzten, dass die Schreiblasten der Gemeindevorsteher abgebaut werden sollten (wenn auch mit wenig Erfolg). Während die Gemeindevorsteher für die Übertragung ihrer Amtsautorität von den vorgesetzten Behörden abhängig waren, waren umgekehrt die Landräte nicht erst im Weltkrieg auf die vielfältigen Erhebungen und Dokumentationen, auf die Umsetzung der kleinsten Regelungen im ländlichen Raum zwingend angewiesen. Die Drohung mit Rücktritt war eine wirksame (und die einzige) Waffe der Gemeindevorsteher gegen Überbelastung oder sonstige Unzufriedenheit. Die Gemeinden im Elsass wurden auch in der Zeit des „Reichslandes“ stark zentralistisch geführt, die Autonomierechte waren gering, die Aufsichtsbefugnisse erheblich. Hier zeigte sich insbesondere die starke Hand des bürokratischen Staates, der gegen den Willen der Gemeinden und ihrer Vertreter bestimmte Maßnahmen im lokalen Raum durchsetzen konnte – erinnert sei nur an den Bau des Schulhauses in Wolxheim. Den Gemeinden blieben wenig Möglichkeiten, sich gegen die vorgesetzten Behörden zur Wehr zu setzen. Oft konnten sie nur verweigern, um zu verzögern. Mit der Reannexion änderte sich daran wenig. Besonders die Episode über die Einführung der ärztlichen Schulinspektion zeigt, dass die Gemeinde sich weiterhin gegen die bürokratischen Anordnungen zur Wehr setzte. Allerdings handelte auch die reichsländische Verwaltung nicht nur autoritär und strikt nach den Buchstaben des Gesetzes. Erinnert sei hier nur an den Bürgermeister in Russ, der sich nach vielen Jahren als Gemeinderat plötzlich als Optant herausstellte und deshalb eigentlich gar nicht im Elsass hätte leben dürfen. Doch er wurde kurzerhand eingebürgert und zum Bürgermeister ernannt, denn außer ihm war niemand bereit, mit der deutschen Verwaltung zusammenzuarbeiten. Trotz aller Ämterhierarchie war das Verhältnis zwischen Gemeinden und Bürokratie nicht ausschließlich autoritär geprägt; die staatliche Bürokratie zeigte

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

vielmehr auch Flexibilität und (wenn auch häufig paternalistisch geprägte) Loyalität gegenüber den Amtsinhabern im lokalen Raum. Das Verhältnis zwischen den Gemeinden und dem Staat war trotzdem – gelinde gesagt – schwierig. Aber war es denn tatsächlich nur die Bürokratie, die für die Gemeinden und die Verbände der ländlichen Bevölkerung den Gegner darstellte? Oftmals war gar nicht der konkrete Landrat, Bezirksamtmann oder sous-préfet ein Problem für die Gemeinden, sondern eher das „System“, das den Gemeinden und der ländlichen Bevölkerung ständig etwas zuzumuten schien. Hier verknüpfte sich die bürokratiekritische „Vielschreiberei“-Schelte mit einer generellen Reformunwilligkeit – neue Gesetze, Verordnungen oder gar Verfassungen (wie die Landgemeindeordnungen) lehnten die lokalen Amtsinhaber in aller Regel ab. Das galt besonders dann, wenn die Reformen vom Parlament angestoßen oder mit ihm identifiziert wurden. Wenn in den Parlamenten die neuen Ordnungen verhandelt wurden, schien damit der ländliche Raum zum Spielball parteipolitischer Auseinandersetzungen zu werden. Bis auf die Reform der Gemeindeordnung im Elsass und die Reformen in den 1930er Jahren (die ja nicht mehr parlamentarisch verhandelt wurden), zogen alle hier dargestellten Reformprojekte solche Kritik auf sich. Die Kritik am Parlamentarismus und an den Politikern, die vermeintlich vom Grünen Tisch aus die Ordnung des Landes zu regeln versuchten, war weit verbreitet. Sie verband sich aufs Engste mit der Selbst- und Fremdzuschreibung, die Landbevölkerung sei politikfern. Auch die Vorstellung, dass Gemeinden nicht nach Parteistandpunkt, sondern nur nach lokaler Kenntnis verwaltet werden sollten, stand im Widerspruch zu politischen Auseinandersetzungen im parlamentarischen System. Vor dem Hintergrund dieser kulturellen Leitbilder konnten Gesetzesreformen kaum bestehen. Und das trug zur diffusen Gegenüberstellung von Gemeinde und Staat erheblich bei, die sich zunehmend auch auf andere Aspekte des politischen Lebens ausbreitete und sich spätestens in der Weimarer Republik stark verfestigte und mit einem generellen Unbehagen über Republik und Demokratie paarte. Der „Staat“ hatte also auch keinen festen Kern, vielmehr realisierte sich in konkreten Interaktionen, was sich jeweils als „Staat“ darstellte, worauf negativ und worauf positiv Bezug genommen wurde. Der antagonistische „Staat“ war ebenso wie die ländliche Gemeinde ein Effekt der vielfältigen und teils widersprüchlichen Regierungsweisen. 12.2.3 Regionaler Vergleich oder regionale Fallstudien? Drei Fallstudien dienten mir in dieser Arbeit dazu, die Charakteristika des ländlichen Regierens zwischen 1850 und 1950 herauszuarbeiten. Diese drei Dörfer waren von Anfang an ausgewählt, um unterschiedliche Perspektiven auf mein Thema

Das Land in der Neuesten Geschichte

zu ermöglichen; entsprechend war es nie mein Ziel, einen symmetrischen Vergleich der drei Gemeinden oder gar der Territorien Bayern, Elsass und Preußen durchzuführen. Die Fallstudien bleiben höchst individuell und sind als solche auch zunächst nicht verallgemeinerbar. Meine Forschungsergebnisse sind also sehr spezifisch für die jeweiligen Untersuchungsgemeinden – so lange ich auf der konkreten Ebene bleibe. Denn die Aushandlungen rund um das Armenhaus in Bernried, die Amtsführung des Mahlower Bürgermeisters Fritz Hagena oder die Formen der kommunalen Stierhaltung in Wolxheim waren stark durch lokale und persönliche Gegebenheiten, außerdem durch situative Bedingungen geprägt. Insofern lassen sie sich weder vergleichen noch verallgemeinern. Dennoch reichen meine Ergebnisse über die jeweiligen lokalen Fallstudien hinaus. Denn ich habe die lokalen Problemstellungen und Aushandlungsweisen in die geltenden überlokalen Bedingungen eingeordnet, indem ich Parlamentsdebatten, Gesetze und Verordnungen, Anleitungen und Ratgeber sowie punktuell auch die Debatten in der regionalen und überregionalen Presse mit einbezogen habe. So habe ich gezeigt, dass die lokalen Episoden stark durch überlokale Einflüsse und Zusammenhänge geprägt waren. Die kommunale Zuchtstierhaltung in Wolxheim war also nicht nur eine Skurrilität der Lokalgeschichte, sondern fügt sich ein in regionale und überregionale Prozesse. Vor allem aber lassen sich auf einer höheren Abstraktionsstufe Ähnlichkeiten und Strömungen ausmachen, die weit über die lokalen Anekdoten hinausweisen. Ohne die lokalen Fallstudien hätte ich die Charakteristika des landgemeindlichen Regierens nicht in einer solchen Tiefenschärfe herausarbeiten können. Diese Merkmale waren nicht in allen Regionen Deutschlands und Mitteleuropas gleichzeitig anzutreffen, aber sie bildeten ein Bündel von Regierungsweisen, die gemeinsam die Geschichte der ländlichen Räume in Europa geprägt haben – wenn auch jeweils in regionaler Ausprägung und lokaler Spezifik. So bleibt schließlich beides: die historische Individualität der Gemeinden und Regionen auf der einen Seite, wie die Verallgemeinerbarkeit der abstrakteren Befunde auf der anderen Seite.

12.3

Das Land in der Neuesten Geschichte

Am Anfang dieser Arbeit standen Überlegungen zu einem historiographisch informierten Begriff von Moderne als analytischem Zugriff für die Erforschung des ländlichen Raums in der Neuesten Geschichte. Mit diesem Begriff, der die Vermittlung von Basisprozessen und Ordnungsmustern durch die zeitgenössischen Akteur:innen in den Mittelpunkt stellt, kann die Frage nach dem Verhältnis von ländlichem Raum und Moderne angemessen beantwortet werden.

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Die drei untersuchten Gemeinden bzw. die Menschen in den Gemeindeverwaltungen und -vertretungen waren permanent mit dem Lösen von Problemen beschäftigt. Die staatlichen Behörden stellten ebenso Ansprüche an die Gemeinden wie die Einwohner:innen, Gäste oder Neuzuziehenden. Das „Tagesgeschäft“ der Gemeindeverwaltungen veränderte sich in meinem Untersuchungszeitraum stark; die Gemeinden mussten immer mehr Bereiche des täglichen Lebens regulieren und administrieren. All diese Anforderungen können auf anonyme Basisprozesse der „Modernisierung“ zurückgeführt werden, auf Bürokratisierung, Verrechtlichung, Migration oder volkswirtschaftliche Verschiebungen. Doch wo hörten diese Basisprozesse auf, wo fingen die Ordnungsmuster der Akteur:innen an? Die Bürokratisierung der Landgemeinden war immer verbunden mit dem Nachdenken von Politikern und Beamten über die Rolle der Gemeinden im gegenwärtigen Staat, ebenso aber auch mit der Wahrnehmung der Dorfbewohner:innen, der Anstaltsstaat mit seinen Zumutungen sei eine Art natürlicher Gegner der Gemeinden. Je näher man an die konkreten Praktiken, ob in der Behörde oder im Dorf, heranrückt, umso schwieriger wird die Unterscheidung zwischen Basisprozessen und Ordnungsmustern, und umso wichtiger wird es, die Praktiken der Akteur:innen genau in den Blick zu nehmen. Dann wird sichtbar, dass die Gemeinden sehr flexibel und konkret auf den Einzelfall bezogen ihr Handlungsrepertoire erweiterten. Die Gemeinderäte und -vorsteher agierten in einer Situation, die sie als permanenten Übergang interpretierten und in der sie ständig versuchten, Stabilität (wieder)herzustellen – letztlich meist ohne Erfolg. Besonders während der erweiterten Jahrhundertwende gerieten alle Kategorien des ländlichen Regierens in Bewegung, und jede Neujustierung zog nur eine erneute Dynamisierung nach sich. Also lässt sich der spezifisch moderne Handlungsmodus, also die enge Verschränkung von Basisprozessen und Ordnungsmustern, im ländlichen Raum in meinem Untersuchungszeitraum deutlich herausarbeiten und praxeologisch schärfen. Die Idee, dass der ländliche Raum das Andere der Moderne sei, ist ein raumzeitliches, auch ein zeitpolitisches Phänomen. Ländliche Räume wurden und werden außerhalb der gesamtgesellschaftlichen Dynamik verortet. Dort schienen die Uhren stehen geblieben zu sein, sie wirkten hinter der Zeit zurück oder fest verortet in der „guten alten Zeit“. Diese raumzeitliche Ordnung von Moderne und dem Land entstand nicht erst während meines Untersuchungszeitraums, schrieb sich aber gerade jetzt durch viele alltägliche Praktiken fest in die ländliche Ordnung ein, auch durch das landgemeindliche Regieren. Diese Bewertungen waren Teil der Ordnungsmuster des landgemeindlichen Regierens; Traditionalität als Zuschreibungspraxis muss innerhalb des modernen Handlungsrepertoires selbst historisiert werden. Meine Analyse zur Geschichte des Regierens im ländlichen Raum hat gezeigt, dass sich viele interessante Erkenntnisse aus einer mikrogeschichtlichen Arbeit zum ländlichen Raum ziehen lassen. Besonders Phasen mit vielen interdependenten

Das Land in der Neuesten Geschichte

Veränderungsprozessen, wie es die hier untersuchte Zeit war, bieten großes Potenzial, denn dabei mussten ganz neue Strategien und Taktiken des Umgangs mit den vielfältigen unbekannten Herausforderungen entwickelt werden. Das betrifft die Geschichte des Regierens ganz besonders, aber auch andere Aspekte wie z. B. die Geschichte des Wirtschaftens, der individuellen Lebensführung und andere Felder mehr. Damit fügt sich meine Untersuchung ein in eine allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese Geschichte muss allerdings Land und Stadt, Kleinstadt wie Metropole gleichermaßen berücksichtigen. Weder die Geschichte des ländlichen Raums noch die der Stadt kann für sich beanspruchen, die eigentliche Geschichte dieser Zeit zu sein. Darum geht es auch nicht; statt zu generalisieren, müssen wir zunächst differenzieren, und zwar auch zwischen verschiedenen sozialen Räumen. Denn räumliche Differenzen waren und sind wichtige gesellschaftliche Unterschiede. Das gilt besonders dann, wenn auch die Zeitgenoss:innen verschiedene Räume unterschiedlich bewerteten und behandelten. Wir müssen als Historiker:innen die Zuschreibungen und die unterschiedlichen Handlungsrepertoires im Umgang mit sozialen Räumen historisieren. Am Beispiel ländlicher Räume bedeutet das: Wir dürfen den zeitgenössischen Zuschreibungen nicht auf den Leim gehen. Das Land war weder ein authentischer Ort von ursprünglicher Gemeinschaft noch ein gottverlassener Winkel, in dem die Moderne noch nicht angekommen war. Ländliche Räume war nicht das Andere der modernen Gesellschaft, sondern ein Teil von ihr. Gleichzeitig können wir nicht einfach Forschungsergebnisse und Interpretationen aus urbanen Kontexten auf ländliche Räume übertragen, denn trotz aller Interdependenz mit anderen Räumen hatten (und haben) sie eben auch Spezifika. Damit werden ländliche Räume im Plural zu fordernden und vielversprechenden Untersuchungsgegenständen gerade für die Neueste Geschichte. Denn sie tragen zu einem diverseren Bild von Geschichte, von Moderne bei. Dem allseits bekannten Bild werden neue Facetten, Aspekte und Perspektiven hinzufügt, bereits vorhandene in ein neues Licht rückt. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als Erzählung und die Neueste Geschichte als historische Teildisziplin werden ein Stückchen diverser und komplexer. Und das ist auch gut so.

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Anhang

13.

Das Personal der ländlichen Selbstverwaltung

13.1

Bernried

13.1.1 Bürgermeister 1849–1952 Fuchs, Johann (1849–1857) Guglhör, ? (1857–1860) Fuchs, Johann (1860–1866) Gröber, Josef (1866–1869) Wörle, Petrus (1869–1875) Gröber, Josef (1875–1887) Pauli, Andreas (1888–1908) Schmid, Johann (1908–1939) Hirn, Georg (1939–1945) Ziegler, Josef (1945–1952) 13.1.2 Gemeindebevollmächtigte/-räte 1878–19351 Demmel, Johann (1878–1882) Fisch, Johann (1878–1882) Hämmerl, Johann (1878–1882) Kratzer, Anton (1878–1882) Lettner, Jakob (1878–1882) Liebhart, Kaspar (1878–1882) Pauli, Andreas (1882–1888; anschließend Bürgermeister bis 1908) Sedlmayer, Ulrich (1882–1888) Seitner, Sebald (1882–1888) Spensperger, Lorenz (1882–1888, zuvor vier Jahre Beigeordneter) Wild, Andreas (1882–1888) Wörle, Peter (1882–1894; als Beigeordneter) Hämmerl, Johann (1888–1919) Hammerl, Leonhard (1888–1919)

1 Eigene Auswertung anhand der Protokollbücher GAB, B2/3–B2/8; ab 1935 unterzeichneten die Gemeinderäte die Protokolle nicht mehr.

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Das Personal der ländlichen Selbstverwaltung

Wörle, Mathias/Matthias (1888–1906, dann Beigeordneter bis 1924)2 Grünwald, Lorenz (1888–1894) Rauch, Georg (1888–1894) Steiger, Josef (1888–1894) Ziegler, Anton (1888–1894) Breitenberger, Nikolaus (1894–1906) Grünwald, August (1894–1900) Hirn, Andreas (1894–1900) Ziegler, Anton (1894–1906; als Beigeordneter) Greinwald, Severin (1900–1935) */*** Fichtl, August (1900–1919) Metzner, Xaver (1906–1924; anschließend 2. Bürgermeister bis 1933) Schmid, Johann (1906–1908; anschließend Bürgermeister bis 1939) Liebhard/Liebhart, Karl (1919–1935) */*** Hirn, Georg (1919–1933; anschließend 2. Bürgermeister bis 1939, Bürgermeister bis 1945) */**** Greimel, Josef (1919–1924?) Satzger, Josef (1919–1924) Fesl, Josef (1924–1925) Loeser, Richard (1924–1935) **** Nötting, Joseph (1924–1935) **** Gleimel, Karl (1925–1926) Dorn, Emil (1926–1929) Poelt, August (1926–1929) Miller, Josef (1929–1935) */*** Fesenmaier, Dominik (1929–1933) * Gehring, Robert (1929–1933) ** Marchl, Josef (1929–1933) ** Reichart, Joseph (1929–1933) * Bentenrieder, ? (1933–1935) **** Ebermaier, Karl (1933–1935) *****

2 Möglicherweise handelt es sich mal um den Vater, mal um den Sohn. Ab 1912 finden sich oft zwei Unterschriften für Mathias Wörle unter den Protokollen, die sich aber sehr ähneln.

Mahlow

Meier, ? (1933–1935) **** Raab, ? (1933–1935) **** Erläuterungen: * bei der Kommunalwahl 1929: Liste Allgemeines Volkswohl ** bei der Kommunalwahl 1929: Scharrer’sche Arbeitsgemeinschaft *** März 1933: zunächst BVP **** März 1933: NSDAP ***** März 1933 Kampffront Schwarz-Weiß-Rot

13.2

Mahlow

13.2.1 Gemeindevorsteher (1850–1945) Steeger, Carl (–1853) Steeger, Johann Ludwig (1853–1870) Steeger, Carl (Enkel) (1870–1880) Krüger, Ludwig (1881–1904) Steeger, Otto (1904–1923) Richter, Friedrich (1923–1932) Brandt, Otto (1932–1934) Hagena, Friedrich (1934–1945) 13.2.2 Schöffen (1893–1935)3 Winkelmann, Wilhelm (1893–mind. 1909) Schulze, Friedrich (1893–1899) Steeger, Otto (1899–1904) Wegener, Franz (1904–mind. 1909) Brandt, Otto (mind. 1917–1919; 1924–1932) Richter, Friedrich (1917–1923; anschließend Vorsteher) Marschall, ? (1919–1929) Richter, Rudolf? (1923) Borczanski, Alfred (1924–1929) Trende, Fritz (1929–1933) Bonsels, Ernst (1929–1931) Naucke, ? (1932–1933)

3 Eigene Auswertung anhand der Protokollbücher KrA-TF, XII.294, XII.295, XII.297.

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Das Personal der ländlichen Selbstverwaltung

Thiemes, Fritz (1933–1935) Hagena, Friedrich (1933–1934) Schulz, ? (1934–1935) 13.2.3 Gemeindeverordnete (1893–1937)4 Block, ? (1893–mind. 1909) Richter, Rudolf (1893–mind. 1909) Zinnow, Wilhelm (1893–mind. 1909) Winkelmann, Carl/Karl (1893–1908) Steeger, Otto (1893–1904; anschließend Vorsteher bis 1924) Wegener, Franz (1893–1904) Schuffenbauer, Karl (1893–1902) Scheuer, Hermann (1893–1901) Benda, ? (1893–1897) Krüger, Carl (1897–mind. 1909) Schulze, Hermann (1899–mind. 1909) Kanitz, Eduard (1901–1907) Ballin, Gustav (1902–1907) Brandt, Otto (1905–mind. 1909; 1924–1925 u. 1934–36; 1925–1932 zunächst Schöffe, dann Vorsteher bis 1934; anschließend erneut Gemeindeältester bis zum Tod 1936) Neuendorf, ? (1907–mind. 1909) Haesert, Wilhelm (1908–1918?) Schulze, Friedrich (1908–mind. 1909) Dillman, ? (mind. 1917–1918) Kleist, ? (mind. 1917–1918) Moser, ? (mind. 1917–1918) Rousseau, ? (mind. 1917–1918) Schütz, ? (mind. 1917–1918) Splettstößer, Arthur (mind. 1918–1933) Boczanski, Alfred (mind. 1918–1924; anschließend bis 1929 Schöffe)

4 Eigene Auswertung anhand der Protokollbücher KrA-TF, XII.294, XII.295, XII.297.

Mahlow

Thiemes, Fritz (–1918; 1924–1934; anschließend Schöffe) Winkelmann, ? (–1918) Fischer, ? (1919–1924) Gerber, ? (1919–1924) Wolff, ? (1919–1924) Krüger, ? (1919–1922?) Grund, ? (1919–1921) Koch, ? (1919–1921) Bonsels, Ernst (1919–1921) Neuendorf, ? (1920/21–1924) Schulz(e), Gustav? (1921–1924) Meyer, ? (1922–1924) Naucke, ? (1924–1932) Trende, ? (1924–1931; anschließend Schöffe, März bis Juni 1933 wieder Gemeindeverord.) Jordan, ? (1924–1929; 1931–1933) Winkelmann, ? (1924–1929) Hansch, ? (1924–1927) Hennig, ? (1925–1932) Deffke, ? (1925–1929) Kurowski, ? (1927–1929) Just, ? (1929–1933) Frau Winkelmann, ? (1929–1933) Fiebelkorn, ? (1929–1932) Bonsels, ? (1929–1931?) Meister, ? (1929–1931) Laskowski, ? (1931–1933) Lichterfeld, ? (1932–1934) La Haine, Karl (1932–1933) Lippe, Walter (1933–1937; zunächst als Vertreter der NSDAP, dann als Gemeindeältester) Kober, Gustav (1933/34–1937) Winkelmann, Karl (1933–1937)

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Das Personal der ländlichen Selbstverwaltung

Finke, Paul (1933–1934) Koye, Hans (1933–1934) Schulz, Paul (1933–1934; dann Schöffe) Raborvitz, Kurt (1933)5 Grasnick, Otto (1934–1937) Höffler, Georg (1934–1937) Noftz, Hermann (1934–1937) Schöchert, Richard (1934–1937) Feick, Paul (1936–1937) Riehl, ? (1936–1937)

13.3

Wolxheim

13.3.1 maires / Bürgermeister (1852–1947 ff.)6 Widt, Ignace (1852) Scharsch, François Joseph (1852–1861) Prost, Charles (1861–1866) Scharsch, Ludwig/Louis (1866–1892) Joessel, Karl (1893–1914) Scharsch, Joseph (1914–1918) Hohl, Emile (1918–1927) Mühlberger, Joseph (1927–1947) Widt, Joseph (1947–?) 13.3.2 conseillers municipals / Gemeinderäte (1848–1947 ff.)7 Jungbluth, Michel (1848–1852 und 1860–1876) Christ, Fr. Ignace (1848–1860) Doerbecher, I. St. (1848–1852) Graß, Ignace (1848–1852) Iniconis, Theodore (1848–1852) 5 Zu Raborvitz war unmittelbar unter dem Wahlergebnis im Protokollbuch vermerkt: „Der Gemeindevertreter Kurt Raborvitz hat sein Amt niedergelegt.“ 31.3.1933; KrA-TF, XII.297, S. 259. 6 Auswertung anhand der Ernennungslisten sowie des Registre des déliberations (1894–1946); ACW. 7 Eigene Auswertungen der Wahllisten; ADBR, 8 E 554/38, 8 E 554/39, 8 E 554/61; ACW, Registre des déliberations (1894–1946).

Wolxheim

Joesel, Joseph (1848–1852) Kerentz, Michel (1848–1852) Sigrist, Joseph (1848–1852) Weis, Ignace (1848–1852) Widt, Ignace (1848–1852) Zoeller, Nicolas (1848–1852) Walter, Etienne (1852–1865) Feldner, Antoine (1852–1860) Hohl, Antoine (1852–1860) Rangel, Jean George (1852–1860) Rudloff, Joseph (1852–1860) Schanno, Joseph (1852–1860) Spisser, Michel (1852–1860) Staehle, Jean-Baptiste (1852–1860) Scharsch, Francois Joseph (1852–1856) Widt, Ignace jeune (1852–1856) Joesel, Florent (1856–1860) Widt, Michel (1856–1860) Rangel, Louis/Ludwig (1860–1896) Grass, Auguste (1860–1876) Jungbluth, Michel (1860–1876) Herzog, Charles (1860–1871) Herzog, Etienne (1860-–1871) Hohl, Etienne (1860–1871) Sigrist, Louis (1860–1871) Zoeller, Florent (1860–1871) Bourdin, Joseph (1860–1865) Scharsch, Laurence (1860–1865) Walter, Joseph (1865–1871 und 1876–1896) Scharsch, Xavier/Xaver (1865–1891) Scharsch, Charles (?) (1865–1871) Sigrist, Ignace/Ignaz (1871–1881 und 1886–1896 sowie 1902–1908) Widt, Xavier/Xaver (1871–1891) Agram, Laurent/Lorenz (1871–1881) Jungbluth, Joseph (1871–1881) Bulter, Joseph (1871–1876)

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Das Personal der ländlichen Selbstverwaltung

Joessel, Karl (1876–1891) Vetter, Anton (1876–1891) Hohl, Stephan (1876–1881) Bourdin, Florence (1881–1911) Grass, René/Reinhard (1881–1911) Riss, Johann Baptist (1881–1891; 1896–1902; 1908–1911) Schoch, Ludwig (1881–1891) Giss, Stephane/Stefan (1881–1886; 1891–1896) Rudloff, Xaver (1881–1886) Agram, August (1891–1919) Hohl, Josef Emil (1891–1911 und 1914–1928) Widt, Stefan (1891–1911 sowie 1914–1919) Graß, Theodor (1891–1902) Jungbluth, Georg (1891–1896) Zoeller, Florent (1896–1918) Scharsch, Joseph (1896–1911) Scharsch, Emil (1896–1902 und 1908–1911) Scharsch, Eduard (1896–1902) Scharsch, Joseph Albert (1902–1935) Joesel, Joseph (1902–1911) Rangel, Karl (1902–1908) Mühlberger, Joseph (1911–1939) Griesner, Karl, Sohn (1911–1919) Rudloff, Karl (1911–1919) Dischler, Victor (1914–1939) Walter, Auguste (1914–1939) Joessel, Emile (1914–1929) Joessel, Florent (Vater) (1914–1925) Zoeller, Joseph (1919–mind. 1945) Siebert, Marcel (1919–1939) Rudloff, Charles (1919–1935) Griesner, Charles (1919–1929) Widt, Etienne (1919–1925)

Wolxheim

Christ, Auguste (1925–1939) Goeger, Louis (1925–1929) Hohl, Alfred (1928–1929) Goeger, Joseph (1929–1939; 1945) Gug, Joseph (1929–1939; 1945) Boehler, Joesph (1929–1935) Christ, Albert (1935–1939) Lenhard, Albert (1935–1939) Steiner, Auguste (1935–1939; 1945?) Lang, Henri (1935–1939; 1945) Vogt, Charles (1935–1939; 1945) Dischler, Marcel (ab 1945) Rosin, Auguste (ab 1945) Schaeffer, Joseph (ab 1945) Scharsch, Albert (ab 1945) Steidel, Victor (ab 1945) Stinus, Auguste (ab 1945) Stinus, Paul (ab 1945) Widt, Joseph (ab 1945)

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14.

Verzeichnisse

14.1

Archivalien

Archives communales, Wolxheim (ACW) Registre des déliberations (1894–1946) Boîte A Boîte B Boîte H1 Boîte H2 Boîte N Archives départementales de Bas-Rhin, Strasbourg (ADBR) 8 E 554 (Gemeinde Wolxheim): 8 E 554/38 8 E 554/39 8 E 554/41 8 E 554/43 8 E 554/50 8 E 554/53 8 E 554/57 8 E 554/58 8 E 554/61 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 1 b 8 E 554, Dépot 2013, Boîte 2 d 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 2 f 8 E 554, Dépôt 2013, Boîte 2 g 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 3 i 8 E 554, Dépôt 2013, Boîte 4 b 8 E 554, Dépôt 2013, Boîte 5 c AL (Reichsland Elsass-Lothringen): 39 AL 166 D (Bezirk Unter-Elsass): 4 D 593/4 M (Administration générale et économie 1800–1870): 1 M 258 1 M 295 1 M 301

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Verzeichnisse

1 M 315 15 M 381 15 M 384 Archives nationales, Paris (AN) AJ 30 (Administration provisoire de l’Alsace-Lorraine après 1914): AJ 30/207 AJ 30/231 AJ 30/232 AJ 40 (La France et la Belgique sous l’occupation allemande, 1940–1944): AJ 40/1414 AJ 40/1438 AJ 40/1465 F 7/13377 Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam (BLHA) AVE (Amt zum Schutz des Volkseigentums): 203 AVE ESA 4277 Rep. 2a (Regierungsbezirk Potsdam): Rep. 2a I Kom 79 Rep. 2a I Kom 81 Rep. 2a I Kom 88 Rep. 2a I Kom 2329 Rep. 2a I Kom 2330 Rep. 2a I Kom 2331 Rep. 2a I Kom 2332 Rep. 2a I Kom 2333 Rep. 2a I Kom 2334 Rep. 2a I Kom 2335 Rep. 2a I Kom 2340 Rep. 2a I Kom 2342 Rep. 2a I Kom 2352 Rep. 2a I S 360 Rep. 2a II D 9853 Rep. 2a III D 9599 Rep. 37 Mahlow, 3 Rep. 39 Kataster 4297 Gut Mahlow Gemeindearchiv Bernried (GAB) A02/5 A02/6

Archivalien

A02/25 A13/06 A35/2 A75/2 B1/1 B2/0 B2/1 B2/2 B2/3 B2/4 B2/5 B2/6 B2/7 B2/8 B2/9 B9/1 B33/1 Bi 19 Bi 19/25 Bi 19/69 S1/5 S1/5,2 S1/5,3 S1/5,4 S1/5,5 Gemeindearchiv Blankenfelde-Mahlow (GAB-M) EA 0024 EA 0027 EA 0028 EA 0037 EA PS 010 EA PS 011 EA PS 012 EA PS 013 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA-PK) I. HA Rep. 77 (Innenministerium): Tit. 316, Bd. 1 Tit. 316, Nr. 57, Bd. 1 Tit. 316, Nr. 57, Beiheft 3, Bd. 1

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Verzeichnisse

Tit. 438, Nr. 27, Bd. 7 Tit. 438, Nr. 27, Bd. 9 Tit. 760, Nr. 1, adh. II Tit. 760, Nr. 10, Bd. 2 Tit. 760, Nr. 10, Bd. 3 Tit. 760, Nr. 10, Bd. 4 Tit. 760, Nr. 10, adh. 1, Bd. 2 Tit. 760, Nr. 16, Bd. 1 Tit. 760, Nr. 16, Bd. 3 Tit. 760, Nr. 16, Beiheft II (inkl. Beilagen, Adhibita etc.) Tit. 760, Nr. 17 Tit. 760, Nr. 18 X. HA Rep. 6C (Regierung zu Potsdam, Landratsämter): Nr. 49 Kreisarchiv Teltow-Fläming, Luckenwalde (KrA-TF) Gemeinde Mahlow (XII): XII.293 XII.294 XII.295 XII.296 XII.297 XII.303 XII.308 XII.328 XII.329 XII.335 XII.339 Staatsarchiv München (StAM) Bpl. (Baupläne) Weilheim LRA (Landratsämter): LRA 627 LRA 3435 LRA 3436 LRA 3437 LRA 3447 LRA 3536 LRA 3797 LRA 3874 LRA 3936

Gedruckte Quellen

LRA 4445 LRA 4473 LRA 4483 LRA 4497 LRA 5482 LRA 5482b LRA 5683 LRA 5683a LRA 6831 LRA 6981 LRA 9654 LRA 9770 LRA 192196 LRA 192198 LRA 192200 RA (Regierung von Oberbayern): RA 28876 RA 54310 RA 57825 RA 57826 RA 64981 RA 65034 RA 76711 NSDAP: NSDAP 1997 Personalakten (PA): PA 17720

14.2

Gedruckte Quellen

[Anmerkung: Zeitungsartikel und Reichstagsprotokolle werden einzeln in den Fußnoten nachgewiesen.] Allgemeine Verordnung, in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt (6.6.1810), S. 441–443. Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, 3. Aufl., Neuwied [u. a.] 1996. Anlage zur Ministerialentschließung vom 1. Januar 1904, Richtpunkte zur Erlassung ortspolizeilicher Vorschriften nach Art. 191 Abs. 3 des Polizeistrafgesetzbuches, in: Volkskunst und Volkskunde 2 (1904). Art. Zuchtstierhaltung in den Gemeinden, in: Der bayerische Staatsbürger: Praktischer Ratgeber für den amtlichen und Privatverkehr. Ein Hand- und Nachschlagebuch für Jedermann, insbesondere für Landbürgermeister, Stadt- und Marktschreiber, Gemeinde-

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Verzeichnisse

kassiere, Gemeindeschreiber und Geschäftsleute. Auf Grund der neuesten Gesetze und Verordnungen. In alphabetischer Reihenfolge, Bamberg 1894, S. 494–495. Bekanntmachung an die Gemeinde- und Kirchenverwaltungen. Betr.: Kriegsanleihe, in: Amtsblatt des Kgl. Bezirksamts Weilheim 47 (1914), 54, 15.9.1914, S. 181. Bekanntmachung an die Gemeindebehörden, betr.: Öffentliche Ruhe und Ordnung (Weilheim, 27.11.1918), in: Amtsblatt des Bezirksamtes Weilheim 51 (1918), S. 200. Bekanntmachung an die Gemeindebehörden mit Ausnahme von Weilheim, betr.: Fürsorge für die Angehörigen der Kriegsteilnehmer: Abdruck einer Entschließung des K. Staatsministerium des Innern v. 6. d. Monats, in: Amtsblatt des Kgl. Bezirksamts Weilheim 47 (1914), 46, 11.8.1914, S. 147 f. Bekanntmachung des bayerischen Landwirtschaftsrats, Dr. Frhr. V. Cetto-Reichertshausen, Betreff: Mithilfe zur Ernte, ein Werk für Volk und Vaterland, in: Amtsblatt des Kgl. Bezirksamts Weilheim 47 (1914), 44, 6.8.1914, S. 142. Bekanntmachung des Kgl. Bezirksamts Weilheim, Faigl, vom 1. August 1914, in: Amtsblatt des Kgl. Bezirksamts Weilheim 47 (1914), 42, 1.8.1914, S. 133–135. Bekanntmachung des K. Staatsministeriums der Justiz und des Innern an die Standesbeamten, Betreff: Führung der standesamtlichen Geschäfte, vom 3. August 1914, in: Amtsblatt des Kgl. Bezirksamts Weilheim 47 (1914), 43, 4.8.1914, S. 137. Bekanntmachung des kommandierenden Generals des I. Armee-Korps über den Übergang der vollziehenden Gewalt auf die Militärbefehlshaber, in: Amtsblatt des Kgl. Bezirksamts Weilheim 47 (1914), 42, 1.8.1914, S. 131–133. Bekanntmachung des Kreis-Ausschusses des Kreises Teltow vom 26.5.1891, abgedruckt in: Amtliche Beilage zum Teltower Kreisblatt 35 (1891), 66, 4.6.1891. Bekanntmachung Nr. 14461 der k. Regierung von Oberbayern, Kammer des Innern, vom 10.3.1915 an sämtliche Distriktsverwaltungsbehörden des Regierungsbezirkes, Höchstpreise für Speisekartoffeln betr., in: Königlich Bayerisches Kreis-Amtsblatt von Oberbayern 1915, S. 35 f. Ben-Ḥorin, Shalom, Jugend an der Isar, Gütersloh 2001. Bismarck, Otto von, Gedanken und Erinnerungen (Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe, Abt. IV), Paderborn u. a. 2012. Bornhak, Conrad, Geschichte des Preußischen Verwaltungsrechts, Band 3: Bis zur neuesten Verwaltungsreform, Berlin 1886. Brandt, Emil, Der Preußische Gemeindevorsteher (Richter, Schulze). Eine systematische Darstellung der bei der Amtsführung dieses Beamten in Anwendung kommenden Gesetze, Verordnungen etc. Vollständige Anleitung für des Gemeindevorstehers gesammte Functionen vom Stadtrath Otte, 6. Aufl., Halle/Saale 1888. Bruck, Ernst, Die Gemeindeordnung für Elsaß-Lothringen vom 6. Juni 1895: Zweite auf Grund des Halleyschen Kommentars neu bearbeitete Auflage, Straßburg 1905. Bürgermeister und Beigeordnete. Obliegenheiten derselben, in: Hermann Hintz (Hg.): Der elsaß-lothringische Bürgermeister. Zusammenstellung auf die Amtsthätigkeit des Bürger-

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Verzeichnisse

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Verzeichnisse

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Abbildungen und Tabellen

14.4

Abbildungen und Tabellen

14.4.1 Abbildungen Abb. 1:

Ortsblatt Bernried 1861, Uraufnahme (1808–1864) – Datenquelle: Bayerische Vermessungsverwaltung – www.geodaten.bayern.de (CC BY-ND 4.0).

Abb. 2:

Mahlow, 1831. Preußische Kartenaufnahme 1:25.000, 3646 Blankenfelde, 1831, © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, dl-de/by-2-0 (Ausschnitt).

Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5:

Wolxheim, 1819; ADBR, 3 P 178 /17. Amtszeiten der Gemeindevorsteher, 1850 ff. (eigene Auswertungen). Entwicklung und Zusammensetzung der Gemeindeeinnahmen in Francs, Wolxheim, 1850–1868; Eigene Zusammenstellung, aus: ADBR, 8 E 554/57: Comptes.

Abb. 6:

Zusammensetzung der Gemeindeausgaben, Wolxheim 1865 (Angaben in Prozent); Eigene Zusammenstellung, aus: Compte administratif 1865, Gemeinde Wolxheim, 13.5.1866; ADBR, 8 E 554/53.

Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10:

Das Afra-Haus, Foto um 1940, GAB, 9/61. Der „Strupper“, Foto um 1900, GAB, 9/61. Villenarchitektur in Bernried: das Tanera-Haus, Foto um 1980, GAB, 9/61. Mahlow 1942: Topographische Karte 1:25.000, 3646 Lichtenrade, © GeoBasis-DE/LGB, dl-de/by-2-0 (Ausschnitt).

14.4.2 Tabellen Tabelle 1:

Einwohner:innenentwicklung Bernried; Zusammenstellung aus Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung 2011, S. 6.

Tabelle 2:

Einwohner:innenentwicklung Mahlow; eigene Zusammenstellung aus Amt Blankenfelde-Mahlow 1997, S. 179; Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik, Land Brandenburg 2006, S. 14.

Tabelle 3: Tabelle 4:

Einwohner:innenentwicklung Wolxheim; Zusammenstellung aus EHESS. Amtsdauer nach Häufigkeit, Conseil municipal der Gemeinde Wolxheim (1865–1914); Eigene Auswertung aus ADBR, 8 E 554/50; ADBR, 8 E 554, Dépôt 2013, Boîte 4 b.

Tabelle 5:

Einnahmen der Gemeinde Wolxheim aus gemeindlichen Ressourcen, Rechnungsjahr 1895/96 (Beträge in Mark). Eigene Zusammenstellung aus: ADBR, 8 E 554, Depôt 2013, Boîte 1 b.

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Verzeichnisse

Tabelle 6:

Stimmverteilung und Stimmgewicht, Gemeindeversammlung Bernried 1884; eigene Auswertung aus: Für den am 13ten Januar gefaßten u. nachträglich ergänzten Gesammtgemeindebeschluß stimmen mit ‚Ja‘ etc., in: GAB, B2/3, loses Blatt, einliegend.

Tabelle 7:

Kriegsanleihen der Gemeinde Wolxheim (Beträge in Reichsmark); eigene Zusammenstellung aus ACW, Registre des déliberations (1894–1946).

Tabelle 8:

Reichstagswahlergebnisse 1928 und 1932 in Mahlow; eigene Auswertungen aus den Zähllisten in KrA-TF, XII.335 und XII.329.

Tabelle 9:

Reichstagswahlergebnisse 1930 und November 1932 in Bernried; eigene Auswertungen aus Weilheimer Tagblatt vom 16.9.1930 und 7.11.1932, in: Zur neueren Geschichte Bernrieds. Was die Zeitungen berichteten (Pressespiegel); GAB, Bi 19/25.