Wie christlich ist unsere Gesellschaft?: Das Christentum im Zeitalter von Säkularität und Multireligiosität 9783839434963

Germany is becoming more culturally and religiously plural. Since the beginning of the immigration and refugee debate, h

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Wie christlich ist unsere Gesellschaft?: Das Christentum im Zeitalter von Säkularität und Multireligiosität
 9783839434963

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe
1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit
2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe
3. Christliche Werte – das Spezifische des Christentums?
4. Ein widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe
II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaft
5. Säkularisierung und Religion
6. Zur Rolle der Kirchen in der säkularen Gesellschaft
7. Das Christentum als Basis für den Zusammenhalt der Gesellschaft?
8. Das Christentum als Basis gesellschaftlicher Werte?
9. Religiös-säkulares Miteinander: Die Habermas-Debatte
III. Christliche Dominanz in einer multireligiösen Gesellschaft
10. Westliche Zivilisation und christliche Mission
11. Zum Umgang mit den Anderen: »Der« Islam in der christlichsäkularen Gesellschaft
12. Pluralismus in einer säkular-multireligiösen Gesellschaft
Literaturverzeichnis

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Birgit Rommelspacher Wie christlich ist unsere Gesellschaft?

Edition Kulturwissenschaft | Band 102

Birgit Rommelspacher (1945-2015) war Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Interkulturalität und Geschlechterstudien an der Alice Salomon Hochschule Berlin, zuletzt mit dem Schwerpunkt Intersektionalität. 2006 legte sie mit dem Titel »Dominanzkultur: Texte zu Fremdheit und Macht« ein Werk vor, das Studierende verschiedenster Fachrichtungen beeinflussen sollte. Auf dieser Grundlage beobachtete sie auch die antimuslimischen Tendenzen in der Frauenbewegung und diagnostizierte eine Affinität zu rechten Strömungen.

Birgit Rommelspacher

Wie christlich ist unsere Gesellschaft? Das Christentum im Zeitalter von Säkularität und Multireligiosität

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Hans-Ulrich Müller-Schwefe Korrektorat: Marie-Louise Wahle Druck: CPI – Clausen & Bosse Print-ISBN 978-3-8376-3496-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3496-3 EPUB-ISBN 978-3-7328-3496-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort  | 11 Postskriptum | 13

I. C hristliche R eligiosität und kulturelles E rbe 1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit  | 17 Wie christlich ist die deutsche Gesellschaft? | 17 Persönliche Religiosität und Christlichkeit | 20 Religiosität im sozialen und regionalen Kontext | 24 Zur Bedeutung von Religion | 26 Zum Religionsbegriff | 27 Unterschiedliche Funktionen von Religion | 30 Wandel der Funktionen | 33 Religion oder Weltanschauung | 36 Resümee | 41

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe |  43 Annäherungen: »Ur-«Christentum versus Kirche | 43 Der Mythos vom »Ur-«Christentum | 43 Zum Entstehungskontext von Christentum und Kirche | 46 Pluralität | 46 Das frühe Christentum in der griechisch-römischen Gesellschaft | 51 Frühe Kritik am Christentum | 53 Christentum und weltliche Macht | 56 Imperiales Christentum | 60 Wertewandel: Von der Jenseits- zur Weltmoral | 63 Innerkirchliche Hierarchien | 65 Hierarchie der Gläubigen | 66 Resümee | 69

3. Christliche Werte – das Spezifische des Christentums?  | 71 Christliche Ethik aus christlicher Sicht | 71 Christliche Radikalität – eine »unmögliche« Moral? | 75 Feindesliebe und Mitmenschlichkeit | 75 Theozentrik | 77 Sünde versus Schuld | 78 Gottesliebe und Weltverachtung | 83 Christliche Ethik und säkulares Selbstverständnis | 91 Kontrolle des Unkontrollierbaren | 91 Kultur der Schuld und Disziplinierung | 96 Resümee | 98

4. Ein widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe  | 101 Die Monotheismus-These (Jan Assmann) | 101 Imperiale Religionspolitik und Theologie | 106 Glaube und Zwang | 108 Heilssorge | 109 Gewalt in der jesuanischen Lehre | 113 Glaube und Krieg | 116 Resümee | 120 Zum Umgang mit den Widersprüchen | 121 Resümee | 128

II. S äkul arität : D as C hristentum in einer säkul aren  G esellschaft 5. Säkularisierung und Religion  | 133 Der Entstehungskontext | 135 Zur Rolle der Aufklärung | 137 Deismus | 138 Positionierung des Christentums in der europäischen Moderne | 140 Resümee | 145 Die Überwindung von Religion mit der Moderne: Die Säkularisierungsthese | 147 Modernisierte Religiosität | 152 Antimoderne und antihegemoniale Strömungen | 155 Die Moderne als religionsproduktiv: Das Beispiel USA | 158 Resümee | 162

6. Zur Rolle der Kirchen in der säkularen Gesellschaft  | 165 Zur Bedeutung der christlichen Kirchen in Deutschland | 167 Die Einstellung der Bevölkerung | 170 Christentum und Kirche im Nationalsozialismus | 172 Zur Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus | 175 Positionierung der Kirchen nach dem Nationalsozialismus | 180 Christliche Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus heute | 185 Resümee | 187 Die »säkulare« Rolle der Kirche am Beispiel von Diakonie und Caritas | 189 Zur Vorgeschichte | 189 Zur Position der christlichen Wohlfahrtstätigkeit heute | 192 Resümee | 202

7. Das Christentum als Basis für den Zusammenhalt der Gesellschaft?  | 207 Religion als gemeinschaftsbildend | 207 Nationgründung als säkulare und religiöse Gemeinschaftsbildung | 209 Nationgründung in Deutschland: Kooperation und Symbiose | 213 Resümee | 218 Religion und Ausgrenzung | 220 Vom christlichen Antijudaismus zum säkularen Antisemitismus | 220 Religion als Affirmation und Kritik der gesellschaftlichen Ordnung | 224 Resümee | 232

8. Das Christentum als Basis gesellschaftlicher Werte?  | 235 Christentum und gesellschaftliche Moral | 235 Antisäkulare Diskurse | 236 Säkulare Positionen | 239 Zur moralischen Autorität der Kirchen | 241 Empirie: Die Christen als Vorbild? | 243 Menschenrechte: Der Streit um die Ursprünge | 248 Christliche Begründung | 248 Kritik an der christlichen Argumentation | 251 Christliche Apologetik | 257 Säkulare Begründungen der Menschenrechte | 258 Zur Relevanz des Ursprungs | 260 Demokratie als Wertegemeinschaft? | 261 Resümee | 266

9. Religiös-säkulares Miteinander: Die Habermas-Debatte  | 269 Zur religiös-säkularen Kommunikation | 271 Religion als moralische Ressource | 278 Resümee Teil I | 282 Resümee Teil II | 283

III. C hristliche D ominanz in einer multireligiösen G esellschaft 10. Westliche Zivilisation und christliche Mission  | 289 Die Mission der »westlichen Zivilisation« | 290 Kolonialismus | 291 Zivilisatorische Mission | 293 Rassismus | 296 Zivilisation als Gewaltregime | 300 Abwehr- und Legitimationsmuster | 303 Rückwirkungen auf das Selbstverständnis in den Kolonialgesellschaften | 305 Christliche Mission und koloniale Macht | 310 Christlich-koloniale Allianzen | 310 Die »innere« Kolonisation | 313 Die christliche Religion als europäische Kultur | 315 Eurozentrismus im Christentum | 317 Distanzierungen: Christliche Kritik am Kolonialismus | 320 Indigene Position | 323 Sklaverei | 325 Postkoloniale Beziehungsmuster: zum Beispiel Misereor und Brot für die Welt | 328 Resümee | 330

11. Z um Umgang mit den Anderen: »Der« Islam in der christlichsäkularen Gesellschaft  | 335 Der »religious turn« in der Einwanderungsdebatte | 336 Religiöse und säkulare Motive der Islamfeindlichkeit | 339 Weber: Modernisierungstheorie | 342 Die Mission zur Befreiung der anderen Frau | 347 Das ambivalente Erbe des Kolonialismus | 348 Das ambivalente Erbe von Aufklärung und Christentum | 350

Polarisierungen: »Die westliche emanzipierte Frau« versus »die unterdrückte Muslima« | 353 Hybridität als Provokation | 355 Resümee | 358 Gesellschaftliche Positionen zum Islam | 359 Antimuslimischer Rassismus | 360 Positionen der christlichen Kirchen | 365 Christliche Islamdiskurse | 367 Die Kirchen als Integrationslotsen? | 372 Privilegierung der christlichen Kirchen | 374 Resümee | 376

12. Pluralismus in einer säkular-multireligiösen Gesellschaft  | 379 Toleranz und Macht | 382 Toleranz als Erlaubnis | 382 Macht und Wahrheitsanspruch | 384 Toleranz als Respekt: Christlicher Pluralismus | 388 Postkoloniale Herausforderungen: Christentum und Eurozentrismus | 393 Eurozentrismus im Christentum | 393 Pluralisierung des Christentums: Postkoloniale Theologie | 396 Befreiungstheologie | 401 Emanzipatorische Dimensionen | 404 Resümee | 405 Schluss | 406

Literaturverzeichnis  | 411

Vorwort

Bei der Ausarbeitung der Präambel zur europäischen Grundrechtscharta 1999 wurde heftig darüber gestritten, ob ein religiöser Bezug in diese aufgenommen werden sollte. An diesem Streit drohte die Abfassung der ganzen Charta zu scheitern. Kein anderes Thema war so umstritten wie dieses. Deutschland setzte sich vehement für die Formulierung eines Gottesbezugs ein, und nachdem es unterlag, führte es in die deutsche Fassung eine entsprechende Sonderformulierung ein. Dieser Vorgang zeigt, wie sehr Religion Thema in der Politik ist – trotz eines säkularen Selbstverständnisses. Aber auch in der Bevölkerung hat »das« Christentum Konjunktur. So zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der Deutschen sich eine stärkere Bedeutung des Christentums in dieser Gesellschaft wünscht und sich viel von ihm für den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft verspricht. Diese Wertschätzung des Christentums ist klar vom Verhältnis zu den Kirchen und ihren normativen Vorgaben zu unterscheiden. Hier herrscht eine große und weiterhin zunehmende Distanz. Wie also lässt sich das große Vertrauen in »das« Christentum erklären? Zunächst gilt es zu klären, was unter »dem« Christentum zu verstehen ist. Das ist ein nahezu unmögliches Unterfangen. Es lassen sich aber einflussreiche Diskurse nachzeichnen, die das Spezifische des Christentums zu identifizieren versuchen und die Vorstellungen von dem beeinflussen, was gemeinhin unter »dem« Christentum heute in unserer Gesellschaft verstanden wird. Dabei zeigen sich erhebliche Widersprüche. So wird etwa gerne ein »eigentliches« »Ur-«Christentum von dem heute real existierenden Christentum abgespalten. Damit werden jedoch eher Wunschvorstellungen von einem friedvollen und brüderlichen Zusammenleben genährt, als dass diese Vorstellungen dem realen Christentum in seiner Komplexität gerecht würden. Ähnliches gilt für den Widerspruch zwischen dem Christentum als Religion der Nächstenliebe und seiner Gewaltgeschichte. Wichtig ist, dass diese christlich etikettierten Wunschvorstellungen nicht allein von christlichen Gläubigen getragen werden, sondern dass sie auch im kulturellen Christentum verankert sind, also in einem Christentum, das sich

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Wie christlich ist unsere Gesellschaf t?

von seinen religiös-transzendenten Bezügen gelöst hat. Selbst die zum großen Teil atheistischen Ostdeutschen plädieren in ihrer Mehrheit für eine Fundierung der deutschen Gesellschaft im Christentum. Des Weiteren geht es um eine Klärung dessen, was unter Säkularität zu verstehen ist und inwiefern christliche Einflüsse unsere Vorstellung von Säkularität prägen. So werden etwa auch von Seiten der Bevölkerung den Kirchen säkulare Aufgaben – über ihre pastoralen Verpflichtungen hinaus – zugewiesen, insbesondere im Bereich von Fürsorge und Wohlfahrt. Es wird also untersucht, welche Bedeutung die Kirchen in Deutschland auch in Bezug auf säkulare Bereiche haben. Zentral dabei ist, dass ihnen eine wichtige Funktion als Hüterin der Werte zugeschrieben wird. Inwiefern jedoch christliche Werte zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen beziehungsweise was überhaupt unter diesen Werten zu verstehen ist, das ist wesentlicher Kern des zweiten Teils der Untersuchung. Dieser wird mit der Untersuchung einer Frage abgeschlossen, die Jürgen Habermas vor einiger Zeit aufgeworfen hat: Wie ist ein Zusammenleben von religiösen und säkularen Menschen in einer Gesellschaft möglich, deren Staat sich als neutral versteht? Es wird also das Spannungsverhältnis zwischen Säkularität und Religion aufgezeigt. Im dritten Teil geht es um den Stellenwert christlicher Traditionen und Perspektiven innerhalb einer multireligiösen Gesellschaft. Deutschland wird kulturell und religiös immer pluraler, versteht sich selbst aber immer stärker als in einer christlich-abendländischen Kultur verankert. Meines Erachtens besteht hier ein Zusammenhang: Je mehr die EinwanderInnen im Zuge des »religious turn« in der Einwanderungsdebatte als religiöse Subjekte wahrgenommen wurden, desto mehr (re-)christianisierte sich die Mehrheitsgesellschaft selbst. Die entsprechenden Prozesse der Selbstthematisierung machten sich dabei vornehmlich an den Auseinandersetzungen um »den« Islam fest, etwa anhand der Frage, ob er zu Deutschland gehöre oder nicht. Abschließend werden Chancen und Grenzen interreligiöser und interkultureller Strategien der Verständigung und Kooperation erörtert. Dies ist eine sozialwissenschaftliche Untersuchung, die nach der Bedeutung von Religion für die Menschen in einer säkularen und multireligiösen Gesellschaft fragt. Allerdings bedarf die Analyse einer Fundierung in Geschichte, Philosophie und Theologie. Insofern ist dies auch eine interdisziplinär angelegte Untersuchung. Birgit Rommelspacher

Vor wor t

P ostskrip tum Birgit Rommelspacher hat in mehrjähriger Arbeit das Thema »Wie säkular ist die säkulare Gesellschaft« erforscht und sich dazu in Untersuchungsfeldern bewegt, zu denen sie sich selbst erst einmal Zutritt verschaffen musste. Den vorliegenden Text wollte die Autorin nochmals überarbeiten. Durch den Tod von Birgit Rommelspacher im Jahr 2015 ist es dazu nicht mehr gekommen. Eingriffe in das bestehende Manuskript wurden weitestgehend vermieden. Einige Fragen mussten offenbleiben. Die Lektorierung erfolgte durch Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Die umfangreichen Recherchearbeiten zur Bibliografie wurden von Bernd Körte-Braun durchgeführt. Ich möchte ihnen meinen Dank aussprechen wie auch Esther Dischereit, die mich in besonderer Weise unterstützte. Zur Würdigung von Birgit Rommelspacher schrieben ehemalige Studierende, Doktoranden und Kolleg_innen: »In Wort und Schrift, an vielen Orten, zu vielen Anlässen, haben ihre Analysen, Gedanken und Anregungen eine breite Wirkung entfaltet. Ihre mutige Auseinandersetzung mit Ungleichheitsund Herrschaftsverhältnissen, ihre Pionierarbeiten zu Sexismus, Antisemitismus, Rassismus, Antiislamismus und Rechtsextremismus sind wegweisend.« Zu dieser Auseinandersetzung kann das vorliegende Werk beitragen. Ursula Wachendorfer

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I. C hristliche Religiosität und kulturelles Erbe

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

W ie christlich ist die deutsche G esellschaf t ? Deutschland versteht sich als eine säkulare Gesellschaft. Immer mehr Menschen treten aus den Kirchen aus, und kirchliche Normen haben für die meisten Deutschen – auch für die Mehrheit der Kirchenmitglieder – keine Verbindlichkeit mehr. Zwar gehören noch ein gutes Drittel der evangelischen Kirche und ein knappes Drittel der katholischen Kirche an, jedoch nur eine kleine Minderheit davon, nämlich 5-10 Prozent, gehen noch regelmäßig zur Kirche (Religionsmonitor 2008).1 Trotz dieser großen Distanz zu den christlichen Kirchen will aber die Mehrheit der Deutschen das Christentum nicht missen.2 Sie sind vielfach davon überzeugt, dass ohne das Christentum die moralische Verfasstheit der Gesellschaft gefährdet wäre und sie ihren sozialen Zusammenhalt verlieren könnte. Selbst Menschen, die sich nicht als religiös bezeichnen, sind der Meinung, dass christliche Werte in der Politik stärker als bisher berücksichtigt werden sollten.3 Das wird vor allem auch bei den Erhebungen in Ostdeutschland deutlich: In Ostdeutschland versteht sich nur ein Viertel der Bevölkerung als gläubig. Dennoch ist auch hier weit über die Hälfte (64 Prozent) der Auffassung, dass das Christentum eine Bereicherung für die Gesellschaft darstelle (Religionsmonitor 2013, 39). Diese Wertschätzung des Christentums ist also ein von der persönlichen Religiosität relativ unabhängiges Phänomen. Das bedeutet, dass auch nicht-religiöse Menschen es gut finden, dass es das Christentum gibt. Dazu gehört auch der derzeit vermutlich einflussreichste 1 | Ein Drittel der Deutschen ist konfessionslos und 10 Prozent gehören anderen Religionsgemeinschaften an. Religionsmonitor 2013: 32. 2 | 76 Prozent der Westdeutschen sehen im Christentum eine Bereicherung und das Fundament der eigenen Kultur. In Ostdeutschland sind es immerhin noch 64 Prozent (Religionsmonitor 2013: 39). 3 | 32 Prozent aller Konfessionslosen wünschen sich eine stärkere Berücksichtigung christlicher Werte in der Politik. Bei den Protestanten sind es 56 Prozent und bei den Katholiken 63 Prozent (vgl. Heitmeyer 2006: 181).

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

Philosoph in Deutschland, Jürgen Habermas, der sich selbst als religiös unmusikalisch bezeichnet und der dennoch für eine Stärkung des Christentums in der Gesellschaft plädiert. Er ist der Überzeugung, dass der Bezug zur Religion gerade heute unerlässlich sei, da sonst wesentliche Ressourcen der Sinnerfahrung und der moralischen Orientierung ausgeschlagen würden. Deshalb müsse die Gesellschaft ihre religiösen Quellen nutzen und sich darum bemühen, die religiösen Aussagen in eine säkulare Sprache zu übersetzen.4 Eine solche Übersetzung würde bedeuten, christliche Postulate von einem religiösen in einen säkularen Kontext zu übertragen. Was aber bedeutet Säkularität beziehungsweise Christlichkeit in dem Zusammenhang? Um welche Werte handelt es sich, d.h. welche werden als christliche im Gegensatz zu säkularen verstanden? Wie auch immer, jedenfalls wird hier das Christentum nicht in seiner Funktion als Religion, sondern als Kultur angesprochen, als Quelle für säkulare Werte und Normen. Insofern geht es in erster Linie um ein kulturelles Christentum. Kulturelles Christentum bedeutet, dass Inhalte und Kultusformen übernommen, aber aus dem religiösen Begründungszusammenhang gelöst werden. Die ursprünglich religiösen Vorstellungen sind dann nicht mehr an religiöse Verpflichtungen gebunden oder gar Ausdruck innerer religiöser Überzeugungen. Religion wird hier zur Kultur, zu einem Teil der dem Kollektiv gemeinsamen Lebenseinstellungen und -vorstellungen. Kultur bedeutet in dem Zusammenhang vor allem gemeinsame Überzeugungen und Verhaltensweisen, die tendenziell selbstverständlich werden. Diese Selbstverständlichkeiten bilden den gemeinsamen kulturellen Hintergrund. Dieser wiederum vermag den Mitgliedern ein Gefühl der Vertrautheit und der Zusammengehörigkeit (kollektive Identität) zu geben. Allerdings sind diese Gemeinsamkeiten auch immer umstritten. Deshalb bedarf es einer ständigen Arbeit an Überzeugungen und an den gemeinsamen Regeln des Zusammenlebens. Zudem begrenzen diese Vorstellungen das Denken und die Verhaltensspielräume. Sie begrenzen den Bereich dessen, worüber nachgedacht, gesprochen oder auch nur phantasiert wird. Insofern bietet Kultur den Bezugsrahmen, in dem die Menschen denken, leben und sich aufeinander beziehen.5 4 | Ich gehe in Kap. 9 ausführlich auf die Diskussion von Habermas ein. 5 | Clifford Geertz versteht Kultur als ein »Bedeutungsgewebe«, in dem sich die Menschen bewegen und als ein System von Regeln, nach denen sie sich verhalten (vgl. Drehsen 2005: 205ff.). Kultur hat als ein System von Bewertungen ihre Eigengesetzlichkeit. Sie entwickelt sich zwar aus den Lebensverhältnissen heraus und bleibt auch immer davon abhängig, aber aufgrund ihrer spezifischen Funktion hat sie sich im Zuge ihrer Tradierung verselbstständigt und ist dadurch wirkmächtig geworden. Ihre Funktion ist Lebensdeutung und Sozialbindung.

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

Zu fragen ist nun, warum gerade heute verstärkt eine kulturelle Orientierung am Christentum gefordert wird, ebenso wie zu fragen ist, welche Konsequenzen dies für eine religiös wie kulturell immer pluraler werdende Gesellschaft haben kann. Zu vermuten ist, dass gerade in diesem Zusammenhang eine Erklärung zu suchen ist, nämlich dass man umso mehr einen christlichen Bezug einklagt, je mehr sich die Gesellschaft pluralisiert. Die kulturelle Heterogenität wird als eine Gefahr für den Zusammenhalt wie auch für die gemeinsamen moralischen Grundlagen empfunden. Nicht zu übersehen ist auf jeden Fall, dass die christliche Rhetorik in der Öffentlichkeit in Deutschland vor allem zugenommen hat, seit das Thema »Islam« in den innerdeutschen wie auch internationalen Debatten immer mehr in den Vordergrund rückte. Ein Beispiel dafür sind die zahllosen Diskussionen darum, ob ein »christliches« Europa die Aufnahme der vornehmlich muslimisch geprägten Türkei in die EU verkraften könne und wolle. Dabei war viel von Europa als einer christlichen Wertegemeinschaft die Rede. Auch schien die Identität der deutschen Gesellschaft auf dem Spiel zu stehen, als der damalige Bundespräsident Wulff in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit 2012 meinte, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Auch damals wurde heftig um die Bedeutung des christlichen Erbes für die Gesellschaft gestritten. Bevor wir jedoch auf die Konsequenzen einer solch verstärkt christlichen Orientierung für das Zusammenleben in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zu sprechen kommen (Teil III), will ich mich im ersten Teil (I) mit der Frage befassen, was mit Christlichkeit in dem Zusammenhang gemeint sein kann, was also das Spezifische des Christentums ausmacht. Danach werde ich im zweiten Teil (II) fragen, ob und inwiefern solche christlichen Orientierungen mit dem Selbstverständnis einer säkularen Gesellschaft zu vereinbaren sind. Zunächst geht es aber in diesem ersten Kapitel darum zu klären, welche Bedeutung Religion und persönliche Religiosität in der heutigen Zeit haben können und wie diese wiederum mit kulturellen Orientierungen interagieren, beziehungsweise wie das eine ins andere übergehen kann. Diese Klärung ist notwendig, um sich die unterschiedlichen Bindungen an Religion in einer säkularen und kirchendistanten Gesellschaft bewusst zu machen. Offensichtlich gibt es ein Bedürfnis nach einer stärkeren Orientierung am Christentum, ohne dass dies an eine persönliche Glaubensüberzeugung gebunden sein muss. Weder persönliche Gläubigkeit noch die Mitgliedschaft in einer der christlichen Kirchen scheint eine Voraussetzung dafür zu sein. Dabei wird allerdings unterstellt, dass es eindeutig wäre, wer sich als religiös und wer sich als nicht-religiös versteht. Das ist jedoch nicht der Fall. So ist die Frage, was Religiosität bedeutet, keineswegs einfach zu beantworten.

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

P ersönliche R eligiosität und C hristlichkeit Religiosität, als subjektive innere Überzeugung6, ist nicht unbedingt an die Mitgliedschaft in einer Kirche gebunden, denn viele Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, verstehen sich oft weiterhin als religiös. Sie glauben an einen Gott beziehungsweise an ein »höheres Wesen«, wobei dieser Glaube oft recht unbestimmt sein kann, was zum Beispiel in Aussagen zum Ausdruck kommt wie: »Manchmal glaube ich an Gott, manchmal nicht«; oder: »Obwohl ich Zweifel habe, glaube ich, dass ich an Gott glaube« (Krech 2012: 573). So unbestimmt dieser Glaube auch sein mag, so ist er dennoch meist christlich konnotiert, auch wenn er sich vielfach mit Einflüssen aus anderen Religionen mischen kann. Fest steht auf jeden Fall, dass wir Religiosität nicht alleine an der Kirchenmitgliedschaft festmachen können, vielmehr scheint es so zu sein, dass sich die Religiosität immer weiter aus den Kirchen hinaus verlagert. Dies Phänomen, an einen Gott zu glauben ohne Mitglied einer Kirche zu sein, wird im angloamerikanischen Sprachraum als »Believing without Belonging« (Davie 2008: 165ff) bezeichnet; das heißt, diese Menschen verstehen sich selbst als religiös oder sogar sehr religiös ohne kirchlich gebunden zu sein (Casanova 2007: 329).7 Wir können hier also von einer außerkirchlichen Christlichkeit sprechen. Eine Trennung zwischen Kirchenzugehörigkeit und Religiosität gibt es aber auch im umgekehrten Sinne, und zwar insofern als Menschen, die Mitglieder einer Kirche sind, dennoch nicht religiös sein müssen. Sie sind Kirchenmitglieder, nehmen unter Umständen auch an den Gottesdiensten teil, tun dies aber weniger aus innerer Überzeugung als aus Konvention. Sie bleiben in der Kirche, weil sie schon ihr Leben lang Mitglied sind, wobei das Gemeinschaftsleben in den Kirchen oder ihr Kultus auch ohne tatsächliche religiöse Überzeugung geschätzt werden kann. Dies wäre gewissermaßen eine Form innerkirchlicher Ungläubigkeit (Belonging without Believing). Das bedeutet, dass wir sowohl gläubige außerhalb wie ungläubige Menschen innerhalb der Kirchen finden. Die innerkirchliche Ungläubigkeit verweist darauf, dass Christlichkeit auch ohne Gläubigkeit praktiziert werden kann und damit zu einem kulturellen Phänomen geworden ist. Das wird besonders deutlich bei den vielen Menschen, die die Dienste der Kirche nur sporadisch in Anspruch nehmen, 6 | Religiosität als ein mehrdimensionales theoretisches Konstrukt umfasst nicht nur den Glauben, sondern auch das individuelle Verhalten sowie das religiöse Wissen (vgl. Kecskes 2000: 87). 7 | Etwa ein Drittel der Konfessionslosen versteht sich als religiös oder hochreligiös; ebenso glaubt ein Drittel der Konfessionslosen, dass es Gott oder etwas Göttliches gibt und ein Leben nach dem Tod (Religionsmonitor 2008: 9).

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

und zwar vor allem bei wichtigen Lebensereignissen wie Geburt, Eheschließung und Tod. Hier ist oft unklar, ob ein religiöses Empfinden zum Ausdruck kommt oder aber eher das Bedürfnis, diese Ereignisse im Lebensverlauf besonders hervorzuheben, indem man sie kulturell markiert. Insofern ist der religiöse vom nichtreligiösen Bezug zur Kirche oft schwer zu trennen. Religiöses und kulturelles Christentum gehen vielfach ineinander über. Eine andere Form der Bindung an die Religion zeigt sich in der sogenannten Stellvertreterreligiosität. Hier wird mit Wohlwollen das religiöse Engagement anderer Christen betrachtet, ohne dass man sich selbst allzu sehr involviert. Man findet es gut, wenn andere ihre Religiosität ernsthaft praktizieren, selbst hält man jedoch nur lose Kontakt und nimmt so vorzugsweise identifikatorisch am christlichen Leben teil. Man bleibt mit dem Christentum verbunden, ohne dass man selbst aktiv wird. Deshalb möchte man auch nicht, dass es aus der Gesellschaft verschwindet. Man kann sich dabei aber auch selbst ganz aus religiösen Bezügen lösen und Religion einfach nur gut für die anderen finden. Das wäre dann ein rein funktionaler Bezug zur Religion. Die Beziehungen zu Religion und Kirche können also durchaus vielgestaltig sein. Außer der kleinen Minderheit religiös engagierter Christen in den Kirchen gibt es heute eine breite Mehrheit, die zwar der Religion und auch der Kirche verbunden bleibt, dies aber in einer höchst sporadischen, lockeren Form; sei es, weil man die kirchlichen Dienste primär als kulturelle Formen der Lebensbegleitung schätzt, sei es, weil die eigene Religiosität kirchlicher Formen nicht mehr unbedingt bedarf, oder sei es, weil man den Bezug zu Religion und Kirche nicht verlieren will, auch wenn man sich selbst nicht wirklich engagiert beziehungsweise nicht wirklich davon überzeugt ist.8 Wie groß die Mehrheit der in einer vielfach auch unklaren Weise an das Christentum Gebundenen ist, lässt sich daran ersehen, dass der Anteil der Menschen, die sich dezidiert gegen die Religion und das Christentum entscheiden, vor allem in Westdeutschland sehr gering ist. Mit 11 Prozent ist hier die Quote der Atheisten im Vergleich zu allen anderen westeuropäischen Ländern die geringste. In Ostdeutschland sieht das erwartungsgemäß anders aus. Hier bezeichnen sich zwei Drittel der Menschen als Atheisten. 8 | So mag es vielen Menschen wie Kostja Lewin im Roman Anna Karenina von Leo Tolstoi gehen, der sich, wie es dort heißt, der Religion gegenüber, wie die Mehrzahl seiner Altersgenossen, auf einem vollständig unbestimmten Standpunkt befand. »Glauben konnte er nicht, war aber gleichzeitig nicht fest überzeugt, daß das alles unrichtig sei. Und weil er nicht imstande war, an die Bedeutsamkeit dessen zu glauben, was er jetzt tat, oder es gleichgültig wie eine leere Förmlichkeit anzusehen, hatte er während dieser ganzen Vorbereitungszeit ein Gefühl der Verlegenheit und Scham, daß er etwas tat, was er selbst nicht verstand, also etwas Verlogenes und Schlechtes, wie eine innere Stimme sagte.« (Tolstoi 1984, 653)

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

Das bedeutet, dass vor allem in Westdeutschland der Bezug zum Christentum weit verbreitet ist, denn hier finden wir sowohl einen sehr geringen Prozentsatz an Atheisten als auch vergleichsweise Wenige, die sich einer anderen Religion zuwenden. Zwar gibt es Viele, die Elemente anderer Religionen und Weltsichten in ihrer Religiosität im Sinne eines Synkretismus integrieren, aber der Anteil derer, die grundsätzlich eine andere Religion annehmen, wird nach Pollack weit überschätzt (vgl. Pollack 2009). Aber auch in Ostdeutschland ist der Bezug zum Christentum noch erheblich, bedenkt man, dass obgleich sich zwei Drittel der Menschen als Atheisten bezeichnen, genau so viele das Christentum als eine Bereicherung für die Gesellschaft ansehen.9 Das bedeutet, dass Atheismus nicht gleich Säkularismus ist, denn man kann Religion als persönliche Glaubensüberzeugung ablehnen, sie aber dennoch als eine Welt­ anschauung für die Gesellschaft als wertvoll erachten. In dem Fall hat Religion ausschließlich eine kulturelle Bedeutung. Das heißt, dass es hier bei dem verstärkten Ruf nach dem Christentum wohl weniger um eine »Wiederkehr des Religiösen« geht, sondern eher um die zunehmende Bedeutung eines kulturellen Christentums in dieser Gesellschaft. Insgesamt finden wir also bei religiösen wie nicht-religiösen Menschen in Deutschland eine hohe Affinität zum Christentum, eine Affinität, die sich auf eine ganze Bandbreite von explizit religiösen bis hin zu explizit kulturellen Verbundenheiten stützt. Dieser Affinität kommt die oft große Unentschiedenheit bezüglich der eigenen Gläubigkeit entgegen, die die große Mehrzahl der Westdeutschen vor einem dezidiert atheistischen Standpunkt zurückschrecken lässt. In Ostdeutschland hingegen gründet sich diese Affinität primär auf Mentalitätstraditionen, die auch der Sozialismus nicht gebrochen, ja vielleicht sogar selbst befördert hat.10 Allerdings geht es bei der Wertschätzung des Christentums nicht nur darum, ob deren Befürworter selbst religiös oder areligiös sind, sondern im 9 | In Ostdeutschland bezeichnen sich 65 Prozent der Befragten als Atheisten (Religionsmonitor 2013: 39). Umgekehrt sehen lediglich 15 Prozent der Ostdeutschen (und 9 Prozent der Westdeutschen) im Christentum eine Bedrohung für die Gesellschaft. 10 | So zeigen Christel Gärtner et al. (2012) in ihrer Untersuchung zur Einstellung von Meinungseliten in Deutschland, dass es nach deren Auffassung viele Parallelen zwischen Sozialismus und Christentum gibt und zwar vor allem in Bezug auf das Streben nach Gerechtigkeit, nach Wohltätigkeit und einer allseitigen und ständigen Vervollkommnung (vgl. S. 190). Beiden Weltanschauungen sei eine starke Orientierung an Werten und dem Anstreben von Idealen gemeinsam. So sagte eine der befragten Journalistinnen wörtlich: »[…] ich hab‘ den Glauben auch immer […] so verstanden […], dass das Christentum dazu da ist, um die Verhältnisse zum Besseren zu wenden […], um es besser zu machen für die Menschen, so, das trifft sich mit ‘ner linken Überzeugung.« (101)

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

Falle einer funktionalen Beziehung kann man die Religion vor allem wichtig für andere beziehungsweise für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung finden. So galt das Christentum in der neueren europäischen Geschichte vor allem als gut für Frauen und Kinder, was u.a. zur sogenannten Feminisierung der Religion führte11 – wie generell Religion seit der Antike als ein probates Medium zur Aufrechterhaltung der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung gilt (vgl. Reichardt 2012). Der Bezug zum Christentum – dass man seinen Wert für die Gesellschaft hoch veranschlagt – kann also sowohl von persönlicher Religiosität, von Mentalitätstradition und Konvention als auch von mehr oder weniger deutlich funktionalen Interessen motiviert sein. Damit könnte man durchaus erklären, dass das Christentum für die große Mehrheit in Deutschland nach wie vor eine Bedeutung hat, selbst wenn die Kritik an den Kirchen, die hohe Zahl der Austritte wie auch die meist höchst unklare Beziehung zur eigenen Religiosität das nicht erwarten lassen. Auf alle Fälle finden wir nur bei einer Minderheit eindeutige und klare Distanzierungen vom Christentum oder die Hinwendung zu einer anderen Religion. Unabhängig davon, welche unterschiedlichen Gründe den Bezug zum Christentum motivieren, fragt sich, warum dieser sich in der letzten Zeit eher zu verstärken als abzuschwächen scheint. So sind etwa die meinungsbildenden Eliten, wie eine Befragung leitender Redakteure in Fernsehsendern und führenden Tages- und Wochenzeitungen zeigt, davon überzeugt, dass die christliche Religion und die Kirchen ein wachsendes mediales Interesse auf sich ziehen. Und sie erklären sich die verstärkte öffentliche Präsenz damit, dass Religion und Kirchen »als Garanten der öffentlichen Moral und des Gemeinwohls unersetzbar seien. Wo es um grundsätzliche Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gehe, könne man auf die Stimme der Kirchen nicht verzichten.«12 Die wachsende Bedeutung von Religion lässt sich auch daran ermessen, dass inzwischen laut repräsentativen Befragungen die Spannungen zwischen Religionen als die wichtigste Ursache für ernsthafte Konflikte angesehen wird, wichtiger noch als die zwischen Volksgruppen und genauso bedeutsam wie der Streit um Ölressourcen und andere unverzichtbare Rohstoffe (Pollack 2009: 178). Der Religion scheint also eine große, ja wachsende Bedeutung in der Gesellschaft zuzukommen, auch wenn auf der persönlichen Ebene religiöse Bindungen immer mehr durch kulturelle ersetzt werden. 11 | Näheres dazu siehe Kap. 5. 12 | Christel Gärtner et al. (2012: 67, 87) Sie resümieren: »[…] so beobachten […] fast alle Befragten gegenwärtig eine verstärkte öffentliche Sichtbarkeit von Religion.« (79) Einer der Befragten stellt fest, dass es früher den Charakter des Obszönen hatte, wenn man über den Glauben sprach. Das ändere sich aber zur Zeit (80).

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

Allerdings sollte auch gesehen werden, dass nicht nur der kulturelle Bezug zu Religion, sondern dass, global gesehen, auch die Religion als Religion zunehmend an Bedeutung gewinnt. Denn der Eindruck einer stark kulturell geprägten Religionsbindung ergibt sich alleine dadurch, dass nur die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland in den Blick genommen wird, nicht aber die hier lebenden Minderheiten oder die Bevölkerung in anderen Ländern und Regionen. Denn wenn man den Blick ausweitet, wird man feststellen, dass Religion nahezu überall auf der Welt eher zu- als abnimmt. Religion als Religion scheint immer wichtiger zu werden, gerade auch in postmodernen Zeiten.

R eligiosität im sozialen und regionalen K onte x t Der individualisierten, oft unbestimmten und sporadischen Religiosität der Mehrheit steht in Deutschland eine vergleichsweise entschiedene und selbstbewusste Religiosität von muslimischen EinwanderInnen und ihren Nachkommen wie auch von Mitgliedern christlicher Freikirchen gegenüber. Was die christlichen Minderheiten angeht, so sind diese in Deutschland relativ gering vertreten, was ihren zahlenmäßigen Anteil und ihre öffentliche Präsenz betrifft. Das gilt jedoch nicht für den internationalen Raum. Hier sind es diese Freikirchen, die erheblich zum anhaltenden Wachstum des Christentums beitragen und zwar vor allem die verschiedenen Strömungen der Evangelikalen und Pfingstbewegungen. Diese Formen des Christentums sind global gesehen das am stärksten wachsende Segment der Christenheit heute, zumal in Lateinamerika, Afrika und Asien (vgl. Martin 2007: 44). Was die größte religiöse Minderheit, die Muslime in Deutschland, angeht, so scheint sich deren Religiosität in den letzten Jahren eher zu festigen. Dieser Eindruck kann auch Folge einer selbstbewussteren Präsenz der Muslime in der Öffentlichkeit sein. Generell ist jedoch Migration als solche eher religionsfördernd. Menschen, die migrieren, brauchen Orientierungen, die sie mit ihrem Herkunftsland verbinden und die ihnen gleichzeitig die Möglichkeit geben, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Religion ist nach dem englischen Religionssoziologen David Martin in diesem Sinn eine transportierbare Identität, die Brücken zwischen unterschiedlichen Umwelten bauen und die Menschen angesichts von Ausgrenzungserfahrung in Bezug auf kulturelle und nationale Zugehörigkeiten in transnationale Gemeinschaften einbinden kann (vgl. Martin 2007). Das gilt nicht nur für den Islam. So ist das starke Wachstum christlicher Freikirchen weltweit gesehen wesentlich Folge der zunehmenden transnationalen, aber auch innergesellschaftlichen Mobilität. Insofern sind nicht nur religionsspezifische, sondern auch soziale Motive ausschlaggebend für die anhaltende Bedeutung vor allem dieser Formen von Religionsgemeinschaften.

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

David Martin fasst die Ursachen ihres Erfolges dahingehend zusammen, dass diese Gemeinden sich meist gegen die etablierten Kirchen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft wenden. Mit ihrer enthusiastischen Christlichkeit, die oft in einem Erweckungserlebnis kulminiert, sprechen sie in der Regel Menschen an, die ein starkes Bedürfnis nach aktiver emotionaler Beteiligung haben. Damit entsprechen diese Gemeinden auch dem Bedürfnis der Laien, die religiöse Gemeinschaft mit zu prägen. Sie bieten also dem expressiven Individualismus ihrer Mitglieder viel Spielraum. Diese haben oft eine relativ geringe formale Bildung, wollen sich aber in der Gesellschaft einen besseren Platz erobern. Dafür wandern sie gegebenenfalls in die jeweiligen Megastädte oder in ein anderes Land aus. Dort brauchen sie jedoch wiederum Gemeinden, die ihnen Halt und Unterstützung bieten (vgl. ebd.). Das heißt, dass die Form der Religiosität auch viel mit der sozialen Situation der Menschen in der jeweiligen Gesellschaft zu tun hat. Je mobiler sie sind, desto mehr bedürfen sie einer sozialen und kulturellen Stützung, die diese Formen der religiösen Gemeinschaften eher anzubieten scheinen, als das bei den etablierten Kirchen der Fall ist. Demgegenüber sind Menschen, die wohlhabend und in ihrer Gesellschaft etabliert sind, weniger davon abhängig, in eine feste religiöse Gemeinschaft eingebunden zu sein (Krech 2012: 583). Das heißt, dass die Bedeutung von Religion auch von der Lebenssituation der Menschen abhängt, nämlich davon, ob sie in gesicherten oder aber in prekären sozialen Verhältnissen leben. So finden wir in den etablierten Schichten eine immer größere Distanz zu einer formalisierten Religiosität in Form von Kirchenzugehörigkeit, hingegen aber auf der anderen Seite in aufsteigenden Schichten und bei MigrantInnen oft eine vergleichsweise entschiedene Religiosität. Dem entspricht auch, dass Norris & Inglehart mit ihren Erhebungen zu Religiosität, die sie seit Jahrzehnten weltweit durchführen, einen Niedergang der Religiosität lediglich in den, wie sie es nennen, wohlhabenden postindustriellen, nicht aber in den agrarischen und industrialisierten Staaten finden (Norris & Inglehart 2004: 5).13 Jedoch lässt sich die Intensität und Form von Religiosität nicht allein auf den sozialen und kulturellen Status von Menschen in einer Gesellschaft zurückführen, denn diese Faktoren können nicht erklären, warum in verschiedenen Regionen der Welt die Religiosität oft sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Denken wir etwa an die im Vergleich zu Europa intensive Religiosität in den USA; oder aber an die Unterschiede in der Religiosität zwischen Ost- und 13 | Allerdings sind die Entwicklungen sehr uneinheitlich: In agrarischen Ländern steigt das hohe Niveau der Religiosität über die Jahrzehnte in der Tendenz an, während in industrialisierten Ländern das Niveau deutlich niedriger anzusetzen ist und eher gleich bleibt. In postindustrialisierten Ländern nimmt es hingegen seit Beginn des letzten Jahrhunderts kontinuierlich ab (77).

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

Westdeutschland. Die sozioökonomische These, wie sie seit Jahrzehnten in der Religionssoziologie prominent von Ronald Inglehart vertreten wird, konzentriert sich lediglich auf den sozialen Status und die persönliche Sicherheit als religionsrelevante Dimensionen. Tatsächlich spielen aber auch die Geschichte der jeweiligen Region, die politische Funktion von Religion in der jeweiligen Gesellschaft und nicht zuletzt auch die Glaubwürdigkeit ihrer Institutionen eine erhebliche Rolle, wie wir im Verlaufe dieser Untersuchung immer wieder sehen werden. Das heißt, Religiosität ist nicht einfach nur eine Frage persönlicher Entscheidung, sondern ihre Form, ihr Inhalt und ihre Intensität hängen auch von der jeweiligen Region ab sowie von der sozialen Schicht und dem kulturellen Milieu, in dem die Menschen leben. Der Blick über die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland hinaus zeigt also, dass Religiosität sehr wohl ein relevanter Faktor ist, auch und gerade in unserer heutigen Zeit. Die weiterhin wachsende Mobilität innerhalb von Gesellschaften wie über deren Grenzen hinweg lässt demnach in Zukunft sogar ein weiteres Anwachsen erwarten. Das bedeutet, dass die jeweils etablierten Gesellschaftsschichten sich zunehmend mit der Religiosität der Eingewanderten und aufwärtsmobilen Menschen auseinandersetzen müssen. Das wiederum fordert die latente Religiosität der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft heraus. D.h. Religion wird zum Medium innergesellschaftlicher oder auch internationaler Auseinandersetzungen. Insofern könnte die zunehmende Bedeutung, die der christlichen Religion in Deutschland heute zugeschrieben wird, auch eine Reaktion auf die Religiosität der EinwanderInnen und damit eine Form kultureller Selbstbehauptung sein. Wie sehr religiöse Bindungen in der Latenz verbleiben oder in Zeiten kulturell-religiöser Spannungen manifest werden können, darüber können die zitierten groß angelegten religionssoziologischen Untersuchungen wenig sagen. Sie können auch nichts darüber sagen, inwiefern die jeweilige Religion in die Kultur übergegangen ist und deshalb auch der kulturellen Selbstverständigung dienen kann. Deshalb ist es sinnvoll, genauer nach möglichen Bedeutungen von Religion zu fragen und inwiefern sie sich mit der Zeit wandeln können – und das auch in einem nicht religiös definierten Umfeld.

Z ur B edeutung von R eligion Zunächst gilt es sich darüber zu verständigen, was unter Religion überhaupt zu verstehen ist. Sie ist als das Gesamt religiöser Aussagen und Praxen von der Institution Kirche wie auch von der Religiosität als persönlicher Glaubensüberzeugung zu trennen; wobei sich das Verhältnis zwischen diesen drei Dimensionen historisch ständig gewandelt hat. So gehen wir heute davon aus, dass Religion sich auf der individuellen Ebene vor allem in einer Religiosität im

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

Sinne einer inneren Überzeugung ausdrückt. Das war jedoch in der Geschichte keineswegs immer der Fall.

Zum Religionsbegriff Bis in das Mittelalter hinein bezog sich der Begriff religio vor allem auf die korrekte Durchführung kultischer Vorschriften.14 Auch in der Religion der griechischen und römischen Antike wurde in erster Linie der Vollzug von Riten, nicht aber persönlicher Glaube erwartet. Dementsprechend fehlte eine Theologie und erst recht eine theologische Dogmatik.15 Erst mit der frühen Neuzeit wurde »Religion« zu einem eigenständigen Begriff. Die Reformation und die Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert zeigten, dass es mehrere Konfessionen gab, deren Mitglieder glaubten, im Besitz der einen Wahrheit zu sein. Und dennoch verstanden sie sich alle als Christen. Dies ihnen Gemeinsame wurde nun als Religion bezeichnet. Im weiteren Verlauf dieser innerreligiösen Auseinandersetzungen bildete sich ein Verständnis von Religion heraus, demzufolge diese sich immer mehr auf die gesamte Lebensform bezieht und »der Belohnung des äußeren, frommen Tuns die innerliche Reflexion des Individuums auf die Wahrheit, Moralität und Tugendhaftigkeit der religiösen Vorstellung entgegenstellt« (Ziemann 2009: 26). Insofern ist Religion ein durchaus neuzeitlicher Begriff und kam schließlich erst im 19. Jahrhundert in den allgemeinen Gebrauch. Das heißt, dass Religion ein moderner europäischer und ein christlicher Begriff ist, da er sich erst anhand des lateinischen Christentums und seiner spezifischen Geschichte in der Neuzeit herausgebildet hat. Diese spezifisch europäisch-christliche Prägung des Begriffs ist insofern relevant, als mit ihm auch die anderen »Religionen« definiert wurden. So wurde zum Beispiel in Indien erst in der Neuzeit das geschaffen, was wir heute als die Religion des »Hinduismus« bezeichnen. Denn die englischen Kolonialherren fassten im 19. Jahrhundert die unterschiedlichsten religiösen Praxen und 14 | Damals bezeichnete religio vor allem einen Orden. »Religiosus« war ein Mönch (vgl. Ziemann 2009: 25f.). Missionierung sollte in der Frühzeit der europäischen Christianisierung vor allem beweisen, dass der christlichen Gott der mächtigere war – so wenn etwa Bonifatius die Irminsäule fällte und damit die germanischen »Heiden« davon überzeugen konnte, dass sein neuer Gott über die alten Götter herrschte. Wenn etwa, wie zu Beginn der europäischen Christianisierung, Könige zum Christentum konvertierten, wie das z.B. bei der historisch bedeutenden Taufe des Merowingerfürsten Chlodwig (ca. 500 n.u.Z.) der Fall war, dann hieß das für die Bevölkerung, nun dem neuen, dem mächtigeren Gott zu opfern und zu huldigen. 15 | Der Bestand des Götterhimmels wurde niemals fixiert und nahm immer wieder neue Götter und Göttinnen auf (vgl. Borgolte 2006a: 140).

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Weltanschauungen, Riten und Traditionen der Menschen, die im Indusgebiet wohnten, zur »hinduistischen Religion« zusammen. Das bedeutet, dass das heutige System der »Weltreligionen« unter dem Einfluss des westlichen Religionsbegriffs entwickelt wurde (Küster 2011: 143). Für das europäisch-christliche Verständnis bestimmt sich Religion nach Max Weber darüber, dass sie mit dem Außeralltäglichen und Übersinnlichen zu tun hat, also mit dem, was gemeinhin unter dem Begriff der Transzendenz verstanden wird (vgl. Weber 1995/1921). Der Zugang zur Transzendenz geschieht dabei über Rituale, Gebete, Heilige Schriften, Offenbarungen, Bilder oder Meditationen. Dabei hat Religion in erster Linie die Funktion der Kontingenzbewältigung. Sie erklärt die Wirklichkeit als gewollt, sinnhaft und notwendig. Das heißt, Religion überführt die als unerklärlich oder auch als unerträglich empfundenen Zufälligkeiten in Notwendigkeiten.16 Sie lässt Unsicherheiten eher ertragen, indem sie nun auf eine nicht hinterfragbare Instanz verlagert werden. Alles was geschieht, wird sinnhaft gedeutet. Unter solchen Bedingungen gibt es keinen Zufall mehr.17 Diese Definition von Religion ist offensichtlich zeitgebunden und vor allem für die christlich-europäische Neuzeit relevant. Denn die Bedeutung von Religion hat sich, wie wir sahen, in Europa vom Vollzug von Riten immer mehr hin zu einer Frage der inneren Überzeugung und einer moralisch bestimmten Lebensführung verschoben. Für Martin Riesebrodt, der sich um eine umfassende Definition von Religion bemüht hat,18 ist wichtig, dass Religion je nach 16 | So behandeln etwa religiöse Mythen »Grenzphänomene, indem sie in Berichtsform erzählen, wie Typendifferenzierungen entstanden sind – Differenzen wie Himmel und Erde, Lebendes und Nichtlebendes, Götter und Menschen, Gutes und Böses. Vorstellungen über Kontaktmeidung, Befleckung und Reinigung, Ritualisierung von Übergängen setzen ebenfalls an strukturell nicht eindeutig definierten Grenzfällen an. Das Ambivalente fasziniert als gefährlich und mächtig, und seine religiöse Qualität ist zunächst nicht auf Moral festgelegt. Furcht dominiert die Mittel der Symbolisierung und Bestimmung. Deshalb ist Bestimmtheit in sich selbst schon ein Gewinn und wird alternativlos akzeptiert« (Luhmann, zit. in. Weinrich 2011: 224). 17 | Ähnlich bestimmt Luhmann (2002) Religion als dasjenige, was die Grenze zwischen Beobachtbarem und Nicht-Beobachtbarem thematisiert und diese personalisiert und damit handhabbar macht. Der Innenraum Welt bekommt einen Außenraum. Die Welt kann jetzt als verständlich, sinnvoll erfahren werden auf der Basis einer gemeinsamen Ordnung und Vernetztheit von allem, in das die Menschen hineingeboren worden sind. Die Leitunterscheidung bei der Religion ist demnach die zwischen Transzendenz und Immanenz. 18 | Religion ist für ihn ein Ensemble von Vorstellungen und Ritualen, von mehr oder weniger systematisierten Weltbildern und Praktiken, die sich auf übermenschliche Mächte beziehen. Sie können an religiöse Institutionen gebunden sein und umfassen

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

ihrem historischen und kulturellen Kontext unterschiedliche Bedeutungen annimmt. So kann einmal das Weltbild oder die Moral, das andere Mal die Rechtgläubigkeit oder aber die rechtgeleitete Praxis im Mittelpunkt stehen. Unabhängig von diesen unterschiedlichen Schwerpunkten stellt sich auch die Frage, ob es die Welten der Religion tatsächlich gibt oder ob sie eher eine Konstruktion von Menschen sind, die sich Religionen aufgrund ihrer Bedürfnisse erschaffen haben. Früher wurde oft angenommen, dass alle Menschen zu allen Zeiten in irgendeiner Form religiös waren beziehungsweise sind. Religion wurde dabei als eine anthropologische Konstante verstanden. Denn wenn »der« Mensch ohne Religion nicht leben kann, dann gehört sie gewissermaßen zur menschlichen »Natur«. Diese Annahme unterstellt zwar die Notwendigkeit von Religion für die Menschen, sagt aber deshalb noch nichts über deren Wahrheitsgehalt aus, also ob Religion sich aus der Existenz außerirdischer Mächte ergibt oder aber eine Konstruktion der Menschen ist. Für die Annahme, dass Menschen die Religionen hervorbringen, spricht die Tatsache, dass sie ihre Religionen jeweils nach ihren Vorstellungen ausgebildet haben. Gerne wird in dem Zusammenhang Xenophanes aus dem 5. Jahrhundert v.u.Z. zitiert, der schrieb: »Die Äthiopier stellen sich ihre Götter schwarz und stumpfnasig vor, die Thraker dagegen blauäugig und rothaarig. Wenn Kühe, Pferde oder Löwen Hände hätten und damit malen und Werke wie die Menschen schaffen könnten, dann würden die Pferde pferde- die Kühe kuhänhliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber ­h aben.« (zit. in Schnädelbach 2007: 21)

Oder in den Worten Ludwig Feuerbachs ausgedrückt: Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde. Religion wäre demnach eine Konstruktion der Menschen, die sie nach ihren Vorstellungen erschaffen und zur Bewältigung der Herausforderungen ihres Lebens benötigen. Dazu gehört prominent etwa die Theorie von Karl Marx, nach der die Menschen der Tröstung durch die Religion bedürfen, um sich mit elenden und ungerechten Verhältnissen abzufinden, worauf ich in Kapitel 6 noch ausführlich eingehen werde. Hier geht es jedoch zunächst einmal um die Funktion von Religion für das persönliche Selbstverständnis. Darauf versuchen die sogenannten funktionalen Theorien eine Antwort zu geben; im Unterschied zu den sogenannten substantialistischen Theorien, denen es um soziale, moralische sowie ästhetische Dimensionen. Zumindest in den abrahamitischen Religionen basiert der Bezug auf die übermenschliche Macht auf dem Glauben, dass Gott das Heil kontrolliert und Unheil sowohl abwenden als auch Strafe senden kann. Man folgt seinen Gesetzen und Handlungsvorschriften, um ewiges Heil zu erlangen (vgl. Riesebrodt 2007: 168f.; 44).

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die Frage geht, ob Religion als Religion eine Berechtigung hat. Bei letzteren ist der Ausgangspunkt eine metaphysisch fundierte Realität von Religion, während Religion bei den funktionalen Theorien auch ein Produkt der Menschen sein kann.

Unterschiedliche Funktionen von Religion Die einflussreichste Theorie in dem Zusammenhang ist sicherlich die Sigmund Freuds. Sie ist auch deshalb von Interesse, weil er mit seiner Theorie zu einem der wichtigsten Vertreter der Säkularisierungstheorie geworden ist, also der Annahme, dass Religion mit der Moderne, insbesondere im Zuge der Entwicklung von Technologie und Wissenschaft, immer stärker überwunden werde. Freud sieht in der Religion eine »ungeheure Macht, die über die stärksten Emotionen der Menschen verfügt« (Freud XV: 173ff.). Sie gibt nicht nur Aufschluss über das Woher und Wohin des Menschen, sondern beschwichtigt auch die Angst des Menschen vor den Gefahren des Lebens. Sie spendet Trost im Unglück und ist eine mächtige Helferin im Leiden. »Über jedem von uns wacht eine gütige, nur scheinbar gestrenge Vorsehung, die nicht zuläßt, daß wir zum Spielball der überstarken und schonungslosen Naturkräfte werden […]. Alles Gute findet endlich seinen Lohn, alles Böse seine Strafe.« (XIV: 340f.)

Religion legt den Menschen für ihr Verhalten Regeln und Verbote auf, verleiht den individuellen Lebensvollzügen einen »höheren« Sinn und eine übergreifende Bedeutung. So hat Religion die drei Funktionen, nämlich Belehrung, Tröstung und moralische Anforderung. Das ist jedoch nach Freud genau das, was das kleine Kind, das schwach und hilflos den Gefahren der Welt ausgesetzt ist, von seinem Vater erfahren hat beziehungsweise von ihm braucht und wünscht. Gott ist, »wirklich der Vater, so großartig, wie er einmal dem kleinen Kind erschienen war. Der religiöse Mensch stellt sich die Schöpfung der Welt so vor wie seine eigene Entstehung« (XV: 175). Die Mutter lässt Freud in seinen Überlegungen außer Betracht. Er erwähnt sie zwar und bemerkt auch, dass in älteren Religionen Muttergottheiten eine zentrale Rolle spielten, geht aber im Folgenden nicht weiter darauf ein. Religion ist für Freud ein »Schatz von Vorstellungen«, der aus dem Bedürfnis geboren wurde, »die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts« (XIV: 340). Deshalb wird die Vorsehung in der Person eines überhöhten Vaters vorgestellt, der den Menschen gegen die Gefahren der Natur und des Schicksals und gegen die Schädigungen der menschlichen Gesellschaft schützt.

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

Die Menschen können diesen allmächtigen Vater durch Bitten erweichen und durch Zeichen ihrer Reue beschwichtigen.19 Mithilfe magischer20 Handlungen versuchen sie das Schicksal zu zwingen. Mit dem Gebet, so schreibt Freud, sichert man sich Einfluss auf den göttlichen Willen und damit auch einen Anteil an seiner Allmacht.21 Das aber bedeutet für Freud, dass der religiöse Mensch in einer Neurose befangen ist, da er der Auseinandersetzung mit der Realität aus dem Weg geht. Mit diesem Ausweichen in die Phantasiewelt wird weiteres Wissenwollen, weiteres Erkunden von Lösungsmöglichkeiten blockiert. Insofern ist für Freud die Religion der ärgste Feind der Wissenschaft, denn die Religion kanalisiert die Wissbegierde ins Irrationale und tritt damit in Konkurrenz zum Wissen. Das bedeutet, dass Religion zwar hilfreich für die Bewältigung von Lebenskrisen sein kann, dass sie aber die Menschen auch dazu verleitet, unter ihren Möglichkeiten zu leben und in kindlicher Abhängigkeit zu verharren. Insofern ist Religion nach Freud geradezu schädlich, denn die Energien, die sie an das Jenseits bindet, können nicht auf das irdische Leben konzentriert werden (XIV: 373). Religion ist eine Illusion, die die Menschen daran hindert, zu sich selbst zu kommen und ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen.22 Religion steht hier also gegen rationale Erkenntnis wie auch gegen die Reifung des Menschen zum selbstbestimmten Erwachsenen. Insofern liest sich die Funktion von Religion bei Freud wie ein Gegenprogramm zur Auf klärung mit der Forderung: Hüte dich, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, und verbleibe in deiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.23 19 | Für Freud ist diese Vorstellung »so offenkundig infantil, so wirklichkeitsfremd, daß es einer menschenfreundlichen Gesinnung schmerzlich wird zu denken, die große Mehrheit der Sterblichen werde sich niemals über diese Auffassung des Lebens erheben ­k önnen« (XVI: 431). 20 | Das Vertrauen in die Magie nährt sich nach Freud aus dem kindlichen Glauben an die Allmacht der Gedanken (XV: 177f.). 21 | Der Glaube an einen allmächtigen Gott drückt nicht nur ein Bedürfnis nach Unterwerfung aus, sondern ist zugleich auch Ausdruck von Allmachtsphantasien, da der Mensch damit die Grenzen menschlicher Wirksamkeit überschreitet. Dies zum einen, indem er sich einen allmächtigen und allwissenden Vater erschafft, zum anderen, weil er als Kind dieses Vaters an dieser Allmacht Anteil hat, indem er ihn zu beeinflussen sucht. Religion ist demnach ein Versuch, die Sinneswelt mittels der Wunschwelt zu bewältigen. 22 | Dabei sind Illusionen nicht einfach ein Irrtum, sondern in ihnen drücken sich die stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit aus. »Das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche« (XIV: 352). 23 | Emanzipation setzte nach Freud voraus, dass der Mensch sich seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingesteht. Das ist insofern nicht einfach, als es eine narzisstische Kränkung bedeutet, nicht mehr der Mittelpunkt der Schöpfung und nicht mehr Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vorsehung zu sein.

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Diese Kernpunkte der Freud schen Religionskritik waren in Grundzügen auch schon von dem Philosophen Ludwig Feuerbach in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelt worden. Für ihn entfremdet sich der Mensch in der Religion selbst, denn die vom Menschen erdachte Religion etabliert einen ihm gegenüber seienden Gott und führt auf diese Weise zu einer Entzweiung des Menschen. Der sich an Gott hingebende und von sich selbst entfremdende Mensch verehrt in einem von sich selbst getrennten, ihm entgegengesetzten Wesen sein eigenes Wesen. Er erfährt diesem Gott gegenüber nur seine eigene Unvollkommenheit und Verderbtheit (vgl. Weinrich 2011: 115ff.). Aber auch für Feuerbach verweisen diese Konstruktionen nicht nur auf die Hilflosigkeit des Menschen, sondern auch auf seine Allmachtsgefühle, da er sich offensichtlich nicht mit der gegebenen Realität abfinden will. Der Mensch stellt sich mit der Religion an die Seite Gottes, anstatt sich mit seinen prinzipiell gesetzten Grenzen nüchtern und wirklichkeitsgerecht auseinander zu setzen.24 Freud hoffte jedoch, dass mit dem wissenschaftlichen Fortschritt das Bedürfnis zu glauben immer weiter überwunden werde.25 Dazu trug vor allem die stürmische Entwicklung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert bei. Sie gab neue Antworten auf Fragen nach dem Ursprung der Natur und des Menschen, so vor allem die von Charles Darwin entwickelte Evolutionstheorie. Die Welt schien zunehmend erklärbar und damit entmystifiziert zu werden. Der Mensch wird dann in derselben Lage sein wie das Kind, welches sein Vaterhaus verlassen hat. Aber »der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muss endlich hinaus, ins ›feindliche Leben‹«. Insofern ist für Freud die Überwindung der Religion ein Prozess der Reifung, eine Form der Emanzipation und Gesundung, wobei dabei die Anerkennung der eigenen Grenzen entscheidend ist (XIV: 373). So ist für ihn eben derjenige, der nicht weitergeht, als er als Mensch vermag, »wer sich demütig mit der geringfügigen Rolle des Menschen in der großen Welt bescheidet […] irreligiös im wahrsten Sinne des Wortes« (XIV: 355). 24 | In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen des Philosophen Nicolai Hartmann, der schreibt: »Wenn der Mensch hinter dem Gegebenen in einem Dauernden, Ewigen oder Unendlichen nach dem Sinn sucht, greift er in einen Bereich, in dem er grundsätzlich nichts zu fassen bekommt, und missachtet die Möglichkeiten, die sich ihm im Zeitlichen, Vergänglichen und Ephemeren bieten« (zit. in Weinrich 2011: 132). Damit nimmt der Mensch nur unzureichend wahr, was die Welt ihm im gegebenen Rahmen bieten kann. Insofern verdrängt der Wille zum Glauben den Willen zum Wissen. 25 | Freud sah in der Religion durchaus auch eine positive Funktion, da sie den Verzicht auf Triebregungen fordere und damit die Geistigkeit gefördert habe. Diesen Triumph der Geistigkeit gegenüber der Sinnlichkeit habe Moses mit der monotheistischen Religion angestoßen. Aber diese Geistigkeit muss nun imstande sein, die Religion hinter sich zu lassen und die Vernunft in ihr Recht setzen (XVI: Der Mann Moses und die monotheistische Religion).

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

Wandel der Funktionen Mit dieser Auffassung ist Freud ein typischer Vertreter der Säkularisierungsthese, d.h. der Überzeugung, dass mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt Tradition, Aberglaube und Religion generell immer weiter überwunden werden. Kennzeichnend dafür war auch sein Optimismus in Bezug auf die Wirksamkeit von Aufklärung und eine damit sich allmählich immer weiter realisierende Autonomie des Menschen. Getragen war dieser Optimismus von einem grundlegenden Fortschrittsgedanken, der in der Entwicklung der Menschheit eine direkte Parallele zur Entwicklung des Kindes, die Parallele von Onto- und Phylogenese sah. Mit dieser Auffassung stand Freud keineswegs allein da, sondern sie war lange Zeit herrschende Auffassung in den Sozialwissenschaften. Inzwischen werden die skeptischen Stimmen lauter, die diese Entwicklung so nicht sehen können, sondern im Gegenteil von einer Wiederkehr der Religion sprechen. Einer der Gründe dafür ist, dass die Wissenschaften mit ihrem antireligiösen Potential weit hinter dem zurückgeblieben sind, was die Fortschrittsoptimisten von ihnen erwartet hatten. Die Wissenschaften konnten die Funktionen von Religion nur begrenzt übernehmen, und zwar zum einen, weil die Reichweite wissenschaftlicher Erklärungen zu gering ist, um die religiöse Argumentation ersetzen zu können; etwa wenn sie Ursachen bestimmter Phänomene erklärt, aber nicht deren Bedeutung. So kann die Wissenschaft zwar erklären, wie ein Mensch gezeugt wird, aber nicht, warum es Menschen gibt; sie kann unter Umständen erklären, wie es zu Krankheiten kommt, aber nicht, warum es diesen Menschen trifft und nicht einen anderen. Mit anderen Worten, es bleibt die Frage offen, welchen Sinn ein bestimmtes Geschehen hat beziehungsweise haben kann. Wissenschaft kann nicht den Anspruch erheben, das Kontingenzproblem zu lösen.26 Insofern übersieht die wissenschaftsorientierte Perspektive, dass Religion nicht einfach dazu da ist, bestimmte Phänomene in ihrem Wirkungszusammenhang zu erklären, sondern auch dazu dienen kann, dem persönlichen, individuellen Schicksal durch die Einordnung in einen außerweltlichen Zusammenhang Bedeutung zu verleihen und die Entwicklung der Gesellschaft in ihren großen Linien zu deuten. Zum anderen wurden die Wissenschaften und die darauf basierenden Technologien zunehmend selbst zum Problem. So werden die Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auch zur Quelle von Angst und Verunsicherung, wie etwa Atomkraft, Gentechnologie oder der Klimawandel. Heute scheint die Religion zu Hilfe gerufen zu werden, um die Gefahren einer 26 | Kontingenz bedeutet, dass etwas möglich, aber nicht notwendig ist. Es könnte auch anders sein. Sie provoziert die Frage, warum etwas so ist, wie es ist und warum es nicht anders ist, denn andere Möglichkeiten sind prinzipiell denkbar.

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unkontrollierten Wissens- und Technologieentwicklung zu bannen, während in der Aufklärung das Wissen zu Hilfe gerufen wurde, um das Ausgeliefertsein an einen willkürlichen Gott abzuwehren. Das menschliche Wissen und die Effektivität der menschlichen Technologie haben sich zwar enorm vergrößert, aber der Bezug zum Übernatürlichen scheint so dringlich und ernsthaft wie je zuvor. Schließlich fragt sich, ob die gesellschaftliche und politische Emanzipation von tradierten Autoritäten zu einem Niedergang von Religion geführt hat. Auch das ist fraglich, zeigen doch die aktuellen Analysen, dass heute, in postmodernen Zeiten, der Ruf nach der Religion wieder lauter wird. Insofern hat die Analyse Freuds heute nur noch bedingte Gültigkeit: Der wissenschaftlich-technische Fortschritt war sehr viel widersprüchlicher in seinen Folgen, als Freud dies vorausgesehen hatte. Ebenso haben die gesellschaftlichen Entwicklungen trotz Emanzipation und Demokratisierung die Bedürfnisse nach Schutz und Orientierung nicht gestillt, sondern sie auf teils neue Weise wiederum hervorgerufen. Schließlich kann die Aussage Freuds, dass Religion die Menschen dazu zwinge, unter ihren Möglichkeiten zu leben, und sie dazu verführe, sich in kindlicher Abhängigkeit einzurichten und in Unmündigkeit zu verharren, kaum mehr überzeugen, da Autonomie geradezu ein Kernelement der heutigen individualisierten Religiosität geworden ist. Auch die Religiosität ist mit der Zeit gegangen und hat sich modernisiert. Die christlichen Institutionen wurden dabei in ihrer spirituellen und moralischen Autorität immer mehr in Frage gestellt. Dies hat aber nicht notwendig zur Zurückweisung von Religion geführt, sondern die individuelle Religiosität wurde immer unabhängiger von klerikalen und institutionellen Vorgaben. Damit wurde sie auch den Bedürfnissen nach Autonomie immer stärker untergeordnet. Das Selbst wurde dabei immer mehr in den Mittelpunkt gerückt, so dass Religiosität heute vor allem der Selbst-Vergewisserung und der Begründung einer zielorientierten Lebensführung dient (vgl. Höhn 2007: 41-53; Sellmann 2007: 427f.; Gräb 2007: 83). Zu diesem Ergebnis kommt etwa eine neuere Untersuchung der Enquetekommission des Bundestages zur Bedeutung von Religion, die feststellt, dass diese heute für die Einzelnen vor allem die Funktion hat, sie bei biographischen Krisen und Brüchen zu unterstützen.27 Auf der anderen Seite kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass gerade auch der wissenschaftlich-technische Fortschritt dazu geführt hat, dass sich immer mehr Menschen von der Religion abwenden. Die religionssoziologischen 27 | In solchen Situationen scheint es hilfreich, die Selbstzentrierung zu verlassen und alternative Horizonte zu erkunden, um das Selbstn einem anderen Lich zu sehen. Religion wird deshalb besonders wichtig bei Übergangsriten und in Lebenskrisen. Sie dient dabei vor allem dem Selbstausdruck, wobei aber auch Gemeinschaftserfahrungen im gemeinsamen Ritual wichtig sein können (vgl. Sellmann 2007: 429).

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Untersuchungen zu dieser Frage zeigen übereinstimmend, dass die mit dem Fortschritt verbundene größere Absicherung gegenüber Lebensrisiken – mithilfe der verbesserten medizinischen Versorgung und des Ausbaus der sozialen Sicherungssysteme, die die Unwägbarkeiten des Lebens deutlich reduziert haben – zu einer größeren Unabhängigkeit von der Religion vor allem in den wohlhabenden Ländern geführt hat. Zum anderen spielt auch die Auflösung festgefügter sozialer Milieus – besonders in ländlichen Gebieten – eine große Rolle beim Niedergang von Religiosität und Kirchenzugehörigkeit.28 Darüber hinaus hat schließlich auch die Vervielfältigung von Deutungsangeboten, das heißt die Vielzahl der unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen den Wahrheitsanspruch von Religion relativiert und so generell zu einer größeren Skepsis in Glaubensfragen geführt. Das sind die zentralen Argumente, mit denen die Sozialwissenschaften den Niedergang der Religionen in gut situierten sozialen Schichten und in den wohlhabenden Regionen der Welt erklären (vgl. Pollack 2003; 2009). Jedoch zeigt sich, dass die Erfolge des Fortschritts in sich so ambivalent sein können, dass dennoch die Notwendigkeit von Religion immer weiter fortgeschrieben wird. Zumindest sind die von den Funktionalisten identifizierten Problemlagen nicht grundsätzlich überwunden. Tatsächlich haben sie einen oft so existentiellen Charakter, dass sie geradezu als zeit- und gesellschaftsübergreifend gelten können. Schließlich sind die Grenzen der Vernunft und menschlicher Erkenntnis eng gezogen und es wird immer Unglück, Unrecht und Unwägbarkeiten geben, die nicht erklärt oder zumindest schwer bewältigt werden können. Die Menschen werden angesichts der Grenzen ihrer Existenz, angesichts individueller Probleme und sozialer Konflikte immer auch nach illusionären Lösungen suchen. Das würde bedeuten, dass Religion aufgrund ihrer Funktion unausweichlich ist, denn wenn man der Religion die Fähigkeit zu Hilfestellung bei Problemen zuschreibt, die so elementar sind, dass sie dem Menschsein gewissermaßen zugehören, dann wird auch die religiöse Option nie verschwinden. Insofern liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass Freud, der mit seiner Analyse die Notwendigkeit der Überwindung von Religion aufzeigen wollte, zugleich auf ihre Unausweichlichkeit hingewiesen 28 | Dem widerspricht allerdings die oben zitierte These von Martin, dass heute die Migration sowohl über die jeweiligen Landesgrenzen hinweg wie auch innerhalb des Landes aus den ländlichen Gebieten in die Groß- und Megastädte zu einem neuen Aufschwung von Religionen geführt hat. Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, ob die Wanderungen die Auflösung sozialer Milieus in Gesellschaften mit Wohlstand oder aber in, wie Inglehart es nennt, vorwiegend agrarischen und industrialisierten Gesellschaften vorantreiben. Möglicherweise wird die Kombination von Wohlstand, sozialer Sicherheit und Auflösung sozialer Milieus eher zu einem Niedergang von Religiosität führen, während Migration innerhalb ungewisser sozialer Verhältnisse Religiosität eher fördert.

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hat. Deshalb überrascht es auch nicht, dass heute zahlreiche Sozialwissenschaftler weiterhin die These vertreten, dass es Religion immer geben werde (vgl. Pollack 2003: 6-22; 67). Es bleibt dennoch zu fragen: warum Religion? Könnten Bedürfnisse wie die nach Sinngebung nicht auch mithilfe säkularer Weltanschauungen befriedigt werden, beziehungsweise worin ist der Unterschied zwischen ihnen zu sehen? Max Weber, der wie kaum ein anderer unser heutiges Verständnis von Religion in der modernen europäischen Gesellschaft geprägt hat, zeigt in seiner Analyse auch die Übergänge zwischen Religion und Weltanschauung auf.

Religion oder Weltanschauung Max Weber geht davon aus, dass die Voraussetzung aller Religionen der Anspruch ist, der Weltverlauf, wenigstens soweit er die Interessen der Menschen berührt, müsse ein irgendwie sinnvoller Vorgang sein. Dieser Anspruch tauchte zunächst mit dem überall anzutreffenden Problem des ungerechten Leidens auf als das Postulat eines gerechten Ausgleichs für die ungleiche Verteilung des individuellen Glücks in der Welt. Sinn ist nach Weber eine Stellungnahme zur Welt. Indem das unmittelbar Gegebene mit dem Transzendenten in Beziehung gesetzt wird, entsteht Sinn (vgl. Weber 1912/2007). Die alltägliche Lebenswelt kann so »transzendiert« werden: Man bleibt stehen, erhebt sich über das alltägliche Hier und Jetzt und denkt nach, um subjektive Erfahrungen in ein übergeordnetes Deutungsschema zu integrieren, so Luckmann in seiner Beschreibung von Sinn (Luckmann 1991: 81ff.). Das kann jedoch nicht das Monopol der Religion sein. Auch andere Weltanschauungen können Sinn stiften. Um hier zu differenzieren, ist die Unterscheidung von Luckmann zwischen mittlerer und großer Transzendenz hilfreich. Transzendenz bedeutet für ihn, dass jedes gegenwärtige Erleben in einen Horizont des noch nicht oder nicht mehr Erfahrenen eingebettet ist. Mittlere Transzendenz bedeutet dabei, dass etwas im gemeinsamen Alltag anwesend ist, zugleich aber als abwesend erfahren wird, so etwa allgemeine Werte wie Glück, Erfolg, Gerechtigkeit; während die große Transzendenz sich auf etwas Außerweltliches, d.h. prinzipiell nicht Erfahrbares bezieht (ebd.: 13).29 Der wesentliche Unterschied zwischen religiösen und nicht-religiösen Sinnsystemen liegt demnach in der Reichweite ihrer Transzendenz. Die einen beziehen sich lediglich auf Außeralltägliches, während die anderen sich auf etwas Außerweltliches berufen.

29 | Wenn das Nichterfahrene prinzipiell genauso erfahrbar ist wie das Gegenwärtige, ist dies eine kleine Transzendenz. Sie bezieht sich nur auf das, was gegenwärtig nicht anwesend, aber im Alltag erfahrbar ist.

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So erkennen zum Beispiel die wichtigsten Strömungen der antiken Philosophie als »letzte« Instanz allen Strebens das Glück des Einzelnen und das Wohlergehen der Gesellschaft an. Sie unterscheiden sich von den religiösen Systemen also dadurch, dass sie sich bei der Begründung ihrer »letzten« Werte nicht auf ein außerweltliches Jenseits, sondern auf Tradition, Geschichte und das Individuum beziehen. Dem, was darüber hinausgehen könnte, wird mit Agnostizismus oder schlichtem Desinteresse begegnet. Man muss sich nicht auf ein Jenseits beziehen, um Sinn und inneren Frieden zu finden, wie vor allem die Stoa zeigt, deren primäres Ziel es war, sich mit den Widrigkeiten und Unzulänglichkeiten der eigenen Existenz auszusöhnen.30 Als einen Grenzfall bei der Unterscheidung zwischen Religion und Weltanschauung kann man den Konfuzianismus verstehen, den man, je nachdem, wie sehr man seine Verankerung in einem »Jenseits« gewichtet, einmal als eine Weltanschauung, das andere Mal als eine Religion bezeichnen kann.31 Der Konfuzianismus bezieht sich auf ein »Jenseits« primär über den Bezug zu den Ahnen, während ihm ein personales »höheres« Wesen oder gar ein Kanon von Glaubenswahrheiten völlig fremd ist. Für ihn ist die »letzte« Instanz die Gesellschaft. Dabei geht es ihm in erster Linie um Harmonie im Zusammenleben in der Gesellschaft.32 Insofern ist es für christlich geprägte Menschen oft irritierend zu erfahren, dass die meisten ChinesInnen – also etwa ein Fünftel der Menschheit – kein Bedürfnis nach einer Religion in unserem Sinn haben, insbesondere auch keines nach einem personalen Gott, der sie beschützt und ihnen Ordnung in einem kosmischen Chaos vermittelt. Das gilt in vieler Hinsicht auch für die meisten Menschen in Ostdeutschland. Hier leben, wie wir sahen, die am wenigsten religiösen Menschen Europas. Sie 30 | Auch die Philosophie kann leisten, was die Religion verspricht, zumindest nach Meinung von Cicero (104-43 v.u.Z.), der schreibt: »O Philosophie, du Führerin des Lebens, Ausführerin der Tugend und Vertreiberin der Laster! Was hätten nicht nur wir, sondern was hätte überhaupt das menschliche Leben ohne dich sein können? […] Zu dir nehmen wir Zuflucht, dir vertrauen wir uns, wie zu einem Teil schon früher, so jetzt voll und ganz an. Es ist ein einziger nach deinen Vorschriften verbrachter Tag einer Ewigkeit mit Verfehlungen vorzuziehen. Welcher Kraft sollen wir uns eher als deiner bedienen, die uns Seelenruhe geschenkt und den Schrecken des Todes genommen hat?« (Tusculanen V.5, zit. in Bringmann 2011: 197f.). 31 | Auch der Buddhismus ist nicht theistisch auf einen Gott hin orientiert und ist nach Auffassung von Ulrich Dehn (2007: 169) eher eine psychologische Erkenntnislehre als ein Glaubenssystem. 32 | Das Problem der Welt ist hier nicht ihr Bezug zu Gott, sondern der Erhalt der Ordnung der Gesellschaft, die ständig dazu neigt »aus der generellen kosmischen Ordnung auszuscheren und im Chaos zu versinken. Ordnung ist das Glück und Heil der Welt, Chaos ihre Krise« (Wagner 2007: 242).

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haben, wie eine Untersuchung zeigt (Storch 2003), zum ganz überwiegenden Teil kein Interesse an und kein Bedürfnis nach Religion. Sie erwarten von ihr keine Antwort auf Sinnfragen. Sie vermissen nichts. Die Forscher bezeichnen dies als einen diesseitsorientierten Pragmatismus, »der es sich an der unmittelbaren Lebensbewältigung sowie an innerweltlichen, kurz- oder mittelfristigen Verheißungen genug sein lässt« (ebd.: 244). Dabei macht die Situation in Ostdeutschland deutlich, dass es nicht allein Modernisierungsprozesse sind, die die Religiosität in den Hintergrund drängen, sondern dass dafür auch langfristige politische und kulturelle Prozesse ausschlaggebend sind. So zeigt etwa Franz Höllinger in seiner interessanten Untersuchung zu »Volksreligion und Herrschaftskirche« (Höllinger 1996), dass nicht allein die antikirchliche Politik des Sozialismus für die Religionslosigkeit in Ostdeutschland verantwortlich zu machen ist, sonst wären auch Länder wie Polen oder Ungarn weitgehend unreligiös, was nicht der Fall ist. Vielmehr reicht die Religionsdistanz der Ostdeutschen seiner Meinung nach weit in die Geschichte zurück bis hin zur gewalttätigen Missionierung der Sachsen durch Karl den Großen. Diese Missionierung »von oben« hatte eine weit geringere Verankerung der Religiosität in der Bevölkerung zu Folge  – etwa im Vergleich zum Rheinland oder Süddeutschland, wo die Christianisierung primär durch »Osmose«, d.h. durch den Austausch unterschiedlicher Bevölkerungen erfolgte. Insofern ist es für ihn auch kein Zufall, dass die Reformation in den ostdeutschen Regionen ihren Ausgang nahm, da hier ohnehin schon eine größere Distanz zum Christentum vorhanden war. Das heißt, dass man viel zu kurz greifen würde, wenn man die Intensität von Religiosität allein mit Modernisierungsprozessen erklären wollte. Für unseren Zusammenhang ist jedenfalls wichtig, dass als sinnhaft verstandenes Leben auch ohne Religion möglich, ja sogar weit verbreitet ist; oder anders formuliert, dass Religion kein Monopol auf Sinnstiftung hat. Und mit der Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Reichweiten von Transzendenz zeigen sich fließende Übergänge zwischen Religion und Weltanschauung. Es kann deshalb auch nicht erstaunen, dass auf der subjektiven Ebene den Menschen oft nicht klar ist, ob sie aus religiösen oder nicht-religiösen Motiven an bestimmte Weltdeutungen glauben und bestimmte Riten vollziehen. Diese vermitteln das mehr oder weniger diffuse Gefühl von Sinnhaftigkeit und Geborgenheit, ohne dass man genau darüber Rechenschaft ablegen könnte, wer oder was dies bewirkt. Denn ob Sinn durch Bezug auf etwas Außeralltägliches oder etwas Außerweltliches generiert wird, hier können die Grenzen nicht unbedingt klar gezogen werden, wie dies auch »Religionen« des Übergangs, wie etwa der Konfuzianismus, zeigen. Dazu kommt, dass sich die Religiosität heute immer stärker von ihren institutionalisierten und ritualisierten Formen gelöst hat. Je mehr es im Belieben der/s Einzelnen steht, wie Religiosität ausgedrückt und verstanden werden kann, desto mehr verschwimmen

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

auch die Grenzen zwischen Religiosität als Religion und Religion als Weltanschauung. Der Transzendenzbezug allein ist ein schwankender Boden. Oder anders formuliert: Religiosität ist ein mehrdimensionales Konstrukt. Zu ihm gehört nicht nur die innere Überzeugung, sondern auch eine bestimmte rituelle Praxis sowie ein entsprechendes Wissen. Je mehr die eine oder andere Komponente entfällt, desto ungewisser ist, ob wir hier noch von Religiosität sprechen können. Bleibt schließlich noch die Frage, ob Religion tatsächlich die ihr zugeschriebene Funktion erfüllt, nämlich Sinn zu vermitteln. Letztlich lassen sich alle Fragen auf eine außerweltliche Transzendenz hin überspreizen. Die Frage ist nur, ob sie dadurch auch beantwortet werden. Denn auch die von der Religion angebotenen Antworten ließen sich hinterfragen. Zum Beispiel, wenn die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Welt deren Erschaffung durch Gott ist, so könnte man weiter fragen, wer aber hat Gott geschaffen?33 Das gilt auch für die Fragen nach dem Sinn von Leid und Unrecht. Oft bleibt dann nur die Möglichkeit auf die Unerforschlichkeit von Gottes Ratschluss zu verweisen beziehungsweise auf sein Schweigen oder gar seine Abwesenheit.34 Deshalb erscheinen die Antworten, die die Religion auf Fragen nach dem Ursprung der Existenz oder nach dem Sinn von Leid und Unrecht gibt, oft als Chiffren, die einen veranlassen, mit dem Fragen aufzuhören. Das macht sie in einem ganz konkreten Sinn zu »letzten« Fragen. Es wird ein Schlusspunkt gesetzt, in dem Anfang und Ende, Gut und Böse, Recht und Unrecht in eins zusammenfallen. Das formuliert Wilhelm Gräb aus theologischer Perspektive folgendermaßen: »›Gott‹ ist ein Wort, ein Zeichen unserer Sprache. ›Gott‹ ist dasjenige Sprachsymbol, das zugleich als abschließendes, den unbedingten Grund unseres Daseins bezeichnendes Sinnzeichen fungiert« (Gräb, zit. in Weinrich 2011: 298). Aber es fragt sich nicht nur, ob Religion die Sinnfragen tatsächlich beantworten kann, sondern ob sie das Bedürfnis nach Sinn nicht erst hervorbringt. Bringt Religion nicht erst das Bedürfnis nach Religion hervor, indem sie einen Sinn verspricht und einen kosmischen Gesamtzusammenhang postuliert, für den sie im Zweifel wiederum die Lösung bereithält?35 Demnach würde also 33 | Oder wie Freud angesichts der »Unerforschlichkeit« Gottes fragt, was denn Gottes Schicksal wiederum begründe: »Dem begabtesten Volk des Altertums dämmert die Einsicht, dass die Moira über den Göttern steht und dass die Götter selbst ihre Schicksale haben« (XIV: 339). 34 | Ein Thema, das im Rahmen des sogenannten Theodizee-Problems seit Jahrhunderten diskutiert wird. 35 | So meint etwa Matthias Sellmann: »Vor allem die Religion schafft jene Sinnerwartbarkeit des Ganzen, jenen konsistent geordneten Gesamtzusammenhang, deren Enttäuschung und dessen Störung dann wiederum religiös zu kommunizieren und zu

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ein Bedürfnis nach kosmologischer Geborgenheit evoziert, indem man den Glauben nährt, man könne sich in einen übergeordneten Rahmen einfügen. So argumentierte etwa der Philosoph Karl Löwith in seinem Werk »Weltgeschichte und Heilsgeschehen« (Löwith 2004/1953) in Bezug auf den »Sinn« der Geschichte, dass die Religion – und hier vor allem die jüdische und christliche – die Geschichte mit Heilserwartungen und damit mit einer spezifischen Bedeutung aufgeladen hat. Und er meinte: »Dass wir aber überhaupt die Geschichte im ganzen auf Sinn und Unsinn hin befragen, ist selbst schon geschichtlich bedingt: jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen. Nach dem letzten Sinn der Geschichte ernstlich zu fragen, überschreitet alles Wissenkönnen und verschlägt uns den Atem; es versetzt uns in ein Vakuum, das nur Hoffnung und Glaube auszufüllen vermögen.« (Ebd.: 14) 36

Man kann also ganz allgemein fragen, ob nicht das Transzendenzbedürfnis selbst, also der Wunsch, anstehende Fragen mithilfe eines Jenseits zu klären und sich auf ein großes Ganzes zu beziehen, ob dieser Wunsch nicht selbst wiederum von den Religionen generiert worden ist. Dann fragt sich allerdings wiederum, woher kommt die Religion? Hier könnte man wieder auf die funktionalen Theorien zurückgreifen, die Religion als Produkt menschlicher Ängste und Hoffnungen sehen; oder aber man könnte das religiöse Bedürfnis als ein genuines beschreiben, das nicht auf andere Bedürfnisse zurückgeführt werden kann, sondern als ein spontanes Bedürfnis eines Bezugs zum Außerweltlichen entsteht und in Korrespondenz mit dem jeweiligen religiösen Umfeld entwickelt und ausgestaltet wird. Diese Frage wird man je nach eigener religiöser beziehungsweise nicht-religiöser Überzeugung unterschiedlich beantworten.

interpretieren sind.« Und er fragt weiter, ob die religiöse Funktion der Kontingenzbewältigung auf etwas aufbaut, »was prominent erst durch die Religion behauptet wurde: nämlich die im letzten kosmologische Sinnhaftigkeit des Ganzen« (Sellmann 2007: 64). 36 | So wusste die christliche Kirche in ihrer Geschichte auf vielerlei Weise auch Sehnsüchte nach einer allmächtigen, gerechten und gütigen Macht hervorzurufen. Damit machte sie sich zugleich als Mittlerin zwischen dem Irdischen und Außerirdischen unentbehrlich. Je stärker sie die Gefahren ewiger Verdammnis betonte, desto überzeugender konnte sie sich als Retterin aus diesen metaphysischen Nöten empfehlen. Die Angst, die zur Annahme eines gütigen Gottes führt, muss also nicht notwendig allein auf den Gefahren menschlicher Ungeschütztheit beruhen, sondern kann auch Wirkung eines, wie Foucault es nennen würde, »Dispositivs« sein; also das Produkt des Zusammenwirkens von Diskursen, Institutionen, gesellschaftlichen Regelungen und Traditionen (vgl. Foucault 1987: 119f.).

1. Religiöse versus kulturelle Christlichkeit

R esümee An dieser Stelle können wir festhalten, dass die Übergänge zwischen Religion und Weltanschauung fließend sind. Den Menschen ist zuweilen selbst nicht bewusst, ob ihnen Religion primär aus religiösen Gründen wichtig ist oder aus dem Bedürfnis nach persönlicher Orientierung, nach Sinnhaftigkeit und kultureller Verortung, denn je mehr sich ihre Christlichkeit aus vorgeschriebenen rituellen Vollzügen, aus ihrem institutionellen Rahmen und auch aus ihren tradierten Lehrinhalten löst, desto undeutlicher wird, ob wir es hier mit einem religiösen oder einem kulturellen Christentum zu tun haben. Bei der hoch individualisierten Religiosität der Mehrheitsgesellschaft gestaltet sich der/die Einzelne seine/ihre Religiosität selbst, indem christliche Glaubensinhalte mit andersreligiösen Elementen wie auch mit säkularen Weltanschauungen sowie mit Bedürfnissen nach kultureller Verortung verschmelzen. Insofern bietet diese Form der Religiosität den Übergängen zwischen religiösem und kulturellem Christentum eine breite Grundlage. Das bedeutet auch, dass sich die Säkularität einer Gesellschaft nicht allein an der Rate der Kirchenaustritte und der Quote der Atheisten bemessen lässt, sondern dass das Augenmerk auch auf dieses kulturelle Christentum gelegt werden muss, wenn man den Stellenwert von Religion einschätzen möchte. So wächst in Deutschland bei allem konstatierten Rückgang christlicher Religiosität gleichzeitig die Bedeutung des kulturellen Christentums, denn die Ablehnung von Religion als Glaubenssystem muss nicht gleichzeitig zu ihrer Ablehnung als gesellschaftliche Einflussgröße führen. Und auch den Atheisten kann Religion als Kultur durchaus wichtig sein, wie dies etwa anhand der Einstellung der Mehrheit der Ostdeutschen deutlich wird. Zugleich nimmt die Bedeutung von Religion als Religion zu – zumindest weltweit gesehen und auch in Bezug auf bestimmte Gruppierungen innerhalb der deutschen Gesellschaft. Das gilt besonders für religiöse und kulturelle Minderheiten. Es sind vor allem sozial und regional mobile Menschen, denen die Religion gerade auch heute besonders wichtig zu sein scheint. Das zeigt unter anderem, wie sehr die individuelle Religiosität vom sozialen Kontext abhängig ist, in dem man lebt. Soziale Schicht, regionale Herkunft und kultureller Kontext können einen erheblichen Einfluss auf Form, Inhalt und Intensität von Religiosität ausüben. Damit kann Religion auch zu einem Medium gesellschaftlicher Auseinandersetzungen werden, indem mithilfe von Religionsfragen auch soziale Platzierungen, politischer Einfluss und kulturelle Macht ausgehandelt werden. Die zunehmende Bedeutung von Religion in dieser Gesellschaft geht – bezogen auf die Mehrheitsgesellschaft  – in erster Linie auf ein verstärktes Interesse an einem kulturellen Christentum zurück, das sowohl für die eigenkulturelle Verortung wie für Auseinandersetzungen mit anderen Religionen/

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Kulturen hilfreich zu sein scheint. Im Folgenden geht es deshalb wesentlich um die Frage nach Motiven und Zielsetzungen dieses kulturellen Christentums: Was versprechen sich die Menschen vom Christentum für diese Gesellschaft? Was erhoffen sie sich davon, gerade unter einer säkularen Perspektive? Was also bedeutet Christentum in einer säkularen Gesellschaft bzw. welches Verständnis von Säkularität liegt dem gesellschaftlichen Selbstverständnis zugrunde? Dabei ergibt sich die zentrale Schwierigkeit zu bestimmen, was unter »dem« Christentum zu verstehen ist. Es gibt unendlich viele unterschiedliche Vorstellungen vom Christentum. Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der jedoch von der gemeinsamen Prägung durch »unser« christliches Erbe gesprochen wird, erscheint es dennoch notwendig, dieser Frage nachzugehen. Auch wenn es dabei keine eindeutige Antwort geben wird, so lassen sich doch Diskurse nachzeichnen, die sich mit dieser Frage befassen und die selbst wiederum für das Selbstverständnis »des« Christentums, also für die Vorstellungen, die in den aktuellen Diskursen über das Christentum zirkulieren, prägend waren und sind. Insofern sollen nun im Folgenden einige einflussreiche Diskurse über das Spezifische des Christentums nachgezeichnet werden, insbesondere anhand der Frage, was unter »christlichen Werten« zu verstehen ist, die so häufig eingefordert werden. Dabei spielt die Frage nach dem Ursprung des Christentums eine entscheidende Rolle, denn vielfach wird das »wahre« Christentum in seinen Anfängen gesucht.

2. » Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

A nnäherungen : »U r -«C hristentum versus K irche So eindeutig es zu sein scheint, dass »das« Christentum die kulturellen Grundlagen dieser Gesellschaft prägt, so unklar ist es, was unter »dem« Christentum zu verstehen ist. Dies genau zu bestimmen, ist ein schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen, da es unendlich viele Auffassungen von »dem« Christentum gibt. Auch sagen die vorliegenden empirischen Forschungen kaum etwas über die inhaltlichen Vorstellungen der Menschen über »das« Christentum aus. Das einzige, was sich aus den empirischen Befunden herauslesen lässt, ist eine deutliche Distanz der Menschen zu den Kirchen, sodass anzunehmen ist, dass mit »dem« Christentum vielfach ein Christentum jenseits der Kirchen gemeint ist. Bei der Suche nach einem Christentum jenseits der Kirchen stoßen wir auf einen Diskurs, der bereits Jahrhunderte alt ist. Denn der Gegensatz zwischen »der« Kirche und »dem« Christentum ist keineswegs neu, sondern so alt wie die Kirche selbst. Das heißt, dass in diesem Gegensatz bereits ein struktureller Widerspruch zum Ausdruck kommt, der die Vorstellungen vom Christentum nachhaltig geprägt hat und immer noch prägt. Dieser Widerspruch zeigt sich vor allem in der Vorstellungen von einem »Ur-«Christentum, in dem sich das »wahre« Christentum realisiert haben soll, während das Christentum, das sich in der Kirche institutionalisiert und mit der weltlichen Macht verbündet hat, eine Verzerrung, wenn nicht gar eine Verfälschung darstelle.

Der Mythos vom »Ur-«Christentum Die Vorstellung von einem idealen Christentum ist schon im frühen Christentum gepflegt worden, denn die Idealisierung der Urkirche beginnt nach Volp (2011) schon mit der Apostelgeschichte selbst. Danach sollen in den

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Urgemeinden Liebe, Einheit und Gütergemeinschaft geherrscht haben. Dies wird belegt mit Stellen in der Apostelgeschichte, wie zum Beispiel: »Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas, von dem was er hatte sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam« (Apg 4,32).

Dieser hier vermittelte Eindruck der Harmonie trügt jedoch, denn es gibt ebenso Stellen, in denen berichtet wird, dass diejenigen, die sich den Regeln nicht fügen wollten, hart bestraft wurden. So wird von einem Ehepaar erzählt, das fälschlicherweise behauptet hatte, es hätte seinen ganzen Besitz verkauft und den Erlös der Gemeinde gegeben. Als Strafe für ihre Lüge fielen sie tot um (Apg 5,1-11). Auch warnte Paulus die Gläubigen in seinen Briefen immer wieder vor Sündern in ihrer Mitte: »Ihr sollt nichts mit einem zu schaffen haben, der sich Bruder nennen lässt und ist ein Unzüchtiger oder ein Geiziger oder ein Götzendiener oder ein Lästerer oder ein Trunkenbold oder ein Räuber; mit so einem sollt ihr auch nicht essen« (1. Kor 5,11).

In dem Zusammenhang bemühte er das berühmte Bild vom Sauerteig, der den ganzen Teig verderben kann: »Wisst ihr nicht, dass ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert? Schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr neuer Teig seid. […] Lasst uns also das Fest nicht mit dem alten Sauerteig feiern, nicht mit dem Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit den ungesäuerten Broten der Aufrichtigkeit und Wahrheit« (1. Kor 5,6-8) .

Die Sünder werden von Paulus scharf verurteilt. Sie werden als böse, unwürdig und falsch dargestellt1 und seine Vorstellung, dass Sünder innerhalb der Gemeinde die ganze Gemeinschaft verderben könnten, war ein Bild, das bei der

1 | »Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, sodass sie tun, was sich nicht gehört. Sie sind voll Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll Neid, Mord, Streit, List und Tücke, sie verleumden und treiben üble Nachrede, sie hassen Gott, sind überheblich, hochmütig und prahlerisch, erfinderisch im Bösen und ungehorsam gegen die Eltern, sie sind unverständig und haltlos, ohne Liebe und Erbarmen. Sie erkennen, dass Gottes Rechtsordnung bestimmt: Wer so handelt, verdient den Tod« (Röm 1,28-32).

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

Verfolgung der sogenannten Häretiker2 in der Geschichte des Christentums noch eine große Rolle spielen sollte.3 Dennoch wird bis heute vielfach am Idealbild der Brüdergemeinde im »Ur-«Christentum festgehalten. Dabei wird unterstellt, dass diese Gemeinden Orte unverdorbener persönlicher Frömmigkeit waren. Nach Volp bildete sich diese Idealisierung vor allem in der Neuzeit mit der allgemeinen Entwicklung von Ursprungserzählungen heraus, in welchem Zusammenhang auch der Begriff des »Urchristentums« erst geschaffen wurde. Man glaubte im Ursprung die eigentliche Wahrheit zu finden, und allein die Tatsache der Nähe zu den ursprünglichen Quellen galt als Wahrheitsbeweis. Aber auch in den Jahrhunderten zuvor existierte immer eine Sehnsucht nach einem »eigentlichen« und »wahren« Christentum, dem Christentum der Bergpredigt, der Armut und der unbedingten Hingabe. Dies war vielfach Ansporn zu Reformen, Abspaltungen und Neugründungen. Es wurde immer wieder versucht, dies »bessere« Christentum gegen die etablierte Kirche durchzusetzen, etwa in Form von Klöstern und freikirchlichen Gemeinden. So führte beispielsweise die Kritik an Prachtentfaltung und Herrschaftsform der römischen Kirche im Mittelalter zum sogenannten Armutsstreit, in dessen Folge die sogenannten Bettelorden gegründet wurden, bei denen die frühen christlichen Gemeinden ebenfalls als Vorbild fungierten. Das idealisierte Modell eines »wahren Christentums« diente nicht nur als Vorbild und Kritik an der etablierten Kirche, sondern paradoxerweise immer auch der Immunisierung gegen Kritik, denn damit wurde ein Idealbild gewahrt, das gegen jede »schlechte« Realität aufrecht erhalten werden konnte. Man konnte etwa die Gewalt- und Machtpolitik der etablierten Kirche als nicht eigentlich christlich abwerten und sie so letztlich tolerieren.4 Die Idealisierung der »Ur-«Gemeinden nährte zudem die Vorstellung, es gäbe ein in sich geschlossenes, einheitliches Christentum. Das ist aber nicht der Fall. Denn gerade in der Zeit vor der Etablierung der Kirche gab es sehr viele und sehr unterschiedliche Strömungen, sodass es sogar fraglich ist, ob man das Ensemble dieser Gemeinden und Bewegungen der vorkirchlichen Phase überhaupt als Christentum bezeichnen kann. Erst allmählich bildete sich das heraus, was wir heute Christentum nennen. Insofern ist es sinnvoll sich diese Phase genauer 2 | Häresie: (hairesis = Auswahl) Den Häretikern wird vorgeworfen, dass sie nur Teilaspekte des Glaubens auswählten und damit nicht den wahren Glauben (Orthodoxie) vertraten (Grabner-Haider & Maier 2008: 140). 3 | Und auch die Sendschreiben in Offenbarung 2 sind voll von Vorwürfen götzendienerischer Verunreinigung, Lieblosigkeit und Lauheit in den kleinasiatischen Gemeinden. Es gibt Klagen über die Vernachlässigung des Gottesdienstes wie über Presbyter, die gegen Korruption, Habsucht und Zwietracht nicht gefeit seien (Dassmann 2012: 201). 4 | Vgl. Kap 4.

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anzuschauen, da damals nicht nur die Grundlagen gelegt, sondern auch die Widersprüche sehr deutlich wurden, die bis heute das lateinische Christentum bestimmen, vor allem in Bezug auf seine Ethik wie auch auf sein Verhältnis zur weltlichen Macht.

Z um E ntstehungskonte x t von C hristentum und K irche Pluralität Die Etablierung eines für alle verbindlichen Christentums war von Anfang an von heftigen Kontroversen begleitet. Schon in der Apostelgeschichte wurde über die Frage gestritten, ob das Christentum eine spezifische Form des Judentums sei oder eine Religion, die über das Judentum hinausgehe und sich wesentlich von ihm unterscheide. Die ersten Christen verstanden sich, wie auch Jesus selbst, ganz selbstverständlich als Juden,5 die sich von anderen Strömungen des Judentums lediglich dadurch unterschieden, dass sie zugleich an Jesus als dem Messias glaubten. Kernstück dieser sogenannten Jesusbewegungen war die Verkündigung des Kreuzestodes, der Auferweckung Christi und des Anbruchs seiner Königsherrschaft. Die Kontroversen um das Verhältnis zum Judentum hatten sich zunächst an der von Paulus aufgeworfenen Frage entzündet, ob man nicht auch Griechen und Römer in die christliche Missionierung einbeziehen solle. Daran schloss sich die Frage an, ob die nun vom Christentum überzeugten ehemaligen »Heiden« auch beschnitten werden und damit gewissermaßen zugleich zum Judentum konvertieren sollten. Hier setzte sich im Laufe der Zeit Paulus mit der Auffassung durch, dass die griechischen und römischen »Heidenchristen« allein durch ihren Glauben und nicht durch »das Gesetz«, also das Judentum, erlösungsfähig würden. Dennoch gab es noch lange bis nach der konstantinischen Wende sogenannte Judenchristen, die den Glauben an den Messias mit der Einhaltung der jüdischen Gesetze in Einklang bringen wollten und das Gesetz als heilsnotwendig erachteten (Küng 1994: 134). Paulus schuf mit der Ausweitung des Christentums auf das römische Reich ein – wie viele Religionswissenschaftler meinen – eigenes Christentum. Dies

5 | Lukas arbeitet schon im »Kindheitsevangelium« das Milieu des frommen, gesetzestreuen Judentums heraus, dem Jesus entstammt und dem er treu geblieben ist (Lk 2,21-52). Jesus stellt sich entschieden auf den Boden der Geltung des Gesetzes (Lk 16,17): »Eher werden Himmel und Erde vergehen, als dass auch nur der kleinste Buchstabe vom Gesetz wegfällt« (vgl. Mt 5,18).

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

Christentum stützt sich weniger auf das Leben und die Lehren Jesu,6 sondern verwandelt Jesus von einem, wie der britische Religionswissenschaftler Geza Vermes formuliert, offensichtlich erfolglosen Propheten in einen triumphalen Sohn Gottes, dessen Tage des Ruhms in naher Zukunft noch kommen sollten (Vermès 2012). Paulus machte, so Vermès, aus einem vielleicht historischen Menschen einen kultisch verehrten Gott, ein metaphysisches Prinzip, das zur Erlösung der Menschheit auf die Erde gesandt und nach seiner Auferstehung von Gott wieder erhöht wurde (Köhler 1982: 35).7 So wurde Christus zum Herrn des Universums. Jesus ist nicht mehr der Prophet, der in der jüdischen Tradition der charismatischen Männer steht, sondern er wird zum himmlischen Retter, der die ganze Welt erlöst. Damit wird »Jesus von der Erde in den Himmel, von der Zeit in die Ewigkeit verpflanzt«, wie Vermès formuliert (Vermès 2010: 237). Mit der paulinischen Theologie ging es also nicht nur um eine Öffnung des Christentums gegenüber den »Heiden«, sondern auch um die Formulierung eines universalen christlichen Machtanspruchs. Dies unterschiedliche Verständnis von der Rolle Jesu spiegelt nach Grabner-Haider & Maier (2008: 93ff.) ein dem Christentum immanentes soziales Spannungsverhältnis wider: Für die einen war Jesus ein besonders moralischer und sozialer Mensch, der von Gott zum Erlöser der Sünder erwählt wurde. Für die anderen hingegen war Jesus ein göttlicher Mensch, der vom Himmel zu den Menschen auf die Erde herabgestiegen war. Sie glaubten, dass in ihm das ewige Weltgesetz (logos)8 Menschengestalt angenommen hätte. Es bildete sich also eine Christuslehre »von unten« aus, die das Dienen des Erlösers betont, und eine Christuslehre »von oben«, die vor allem die Herrschaft von Christus über die Welt in den Mittelpunkt stellt. Somit habe, so folgern die Autoren, schon das frühe Christentum die geschwisterliche Sozialethik der unteren sozialen Schichten mit dem Anspruch auf Geltung und Herrschaft der oberen sozialen Schichten verbunden (ebd.: 120).9 6 | Paulus argumentiert nur an zwei Stellen mit Worten des historischen Jesus, vgl. 1. Kor 7,10; 9,14. 7 | Widersprüche gab es hier vor allem bezüglich der Frage, ob die Weissagungen Jesu vom kommenden Reich so zu verstehen seien, dass er als politischer Befreier kam, der die Herrschaft Roms über die Juden abschütteln wollte (Lk 1,71) oder ob er sich dabei auf eine spirituelle Erlösung und auf das Wiederkommen eines göttlichen Reiches bezog, das mit den Erwartungen des Judentums nichts zu tun hatte. 8 | Logos, das erste Wort des Johannes-Evangeliums, ist ein griechischer Begriff, der aus der Terminologie platonischer Philosophie stammt. Joh 1,1: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.« 9 | Die frühen christlichen Gemeinden bezogen sich auch in unterschiedlicher Weise auf ihr kulturelles und religiöses Umfeld: Matthäus schrieb vor allem für die jüdischen Leser und betonte, wie sehr Jesus die jüdischen Prophezeiungen erfüllt hat. Markus

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

Das für alle Christen verbindliche Neue Testament wurde erst im Laufe der ersten drei Jahrhunderte geschaffen, indem aus einer Vielzahl verschiedener Schriften die nun gültigen ausgewählt wurden. Diese Texte wurden, wie es in der Kirchensprache heißt, kanonisiert.10 Damit endete das sogenannte »Ur-«Christentum. Denn nun war auch die Lösung vom Judentum weitgehend vollzogen. Das, was wir heute als das »Ur-«Christentum bezeichnen, bezieht sich also auf eine Phase, in der das Christentum sich erst als solches er/gefunden hat. Denn diese frühen Gemeinden wirkten, so schreibt der Religionshistoriker Christoph Markschies, »wie ein ›Laboratorium‹, in dem verschiedene Gestalten von Theologie, Ämterhierarchie und Ethik ausprobiert werden. Nur sehr allmählich ist eine ›Mehrheitskirche‹ erkennbar, die abweichende Positionen als ›häretisch‹ ausscheidet« (Markschies 2006: 42f.).

Die Mannigfaltigkeit zuvor war oft so groß, dass, so der Neutestamentler Gerd Theißen, »manche Bedenken haben, von dem Urchristentum zu sprechen; erkennbar sei nur eine Vielzahl urchristlicher Gruppen« (Theißen 2000: 339). Diese Vielfalt der frühen christlichen Strömungen war jedoch nicht nur der Fülle unterschiedlicher Lehren und dem Fehlen einer zentralen Entscheidungsinstanz geschuldet, sondern vor allem auch dem charismatischen Charakter der christlichen Gemeinden. Sie glaubten, dass der göttliche Geist sich in jedem ihrer Mitglieder unmittelbar zeigen könne. So heißt es etwa im 1. Korintherbrief von Paulus: »In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller; dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem andern wird gegeben, von der Erkenntnis betonte das Leiden Jesu, da er sein Evangelium in der Zeit der Christenverfolgung verfasste. Lukas schrieb für ein nicht-christliches und nicht-jüdisches Publikum und betonte vor allem, dass Jesus seine Botschaft der ganzen Welt verkünden wollte, und Johannes schließlich, der seine Version deutlich später als die anderen drei Evangelien niederschrieb, befasste sich mit den wachsenden Spannungen zwischen Juden und Christen (Japinga 1999: 94). Auch ging es um die Beziehungen zum griechisch-römischen Umfeld, insbesondere zum Hellenismus, zu den spätantiken Philosophien und zur Gnosis. Noch im zweiten Jahrhundert war das gnostische Christentum an vielen Orten verbreitet und ursprünglicher als die »Rechtgläubigkeit«. Diese sei zunächst auch nur eine Strömung unter anderen gewesen und habe sich von Rom aus durchgesetzt. Überspitzt gesagt, so zitiert Theißen Walter Bauer, sei »die ›Rechtgläubigkeit‹ die ›Häresie‹ gewesen, die sich am Ende durchgesetzt hat« (2000: 341). 10 | Irenäus, Bischof von Lyon (ca. 140-200) stellte eine erste Liste anerkannter Texte zusammen (Markschies 2006, 94f.). Das Neue Testament wurde dann im Laufe des dritten Jahrhunderts kanonisiert (Küng 1994: 185).

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe zu reden, nach demselben Geist; einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen.« (12,7-10)

Wesentlich für das Verständnis des damaligen Christentums ist auch die Tatsache, dass die ersten Christen das Wiederkommen des Herrn noch zu ihren Lebzeiten erwarteten. Die verbleibende Zeit schien kurz zu sein, denn das Ende der Welt stand ihrer Meinung nach unmittelbar vor der Tür und konnte ganz plötzlich in den Alltag einbrechen, wie ein Dieb in der Nacht. Deshalb predigten die Apostel, dass die Christen sich von der Welt und ihrem sündigen Treiben abwenden sollten, um sich ganz auf das nahende Reich Gottes vorzubereiten. Alles Weltliche hatte angesichts des Jenseits kaum mehr eine Bedeutung: Persönlicher Besitz wurde verachtet, die Beziehungen zur Familie gelöst, ja von den Eifrigsten unter ihnen wurde gar das eigene Leben verachtet. Sie konnten sich dabei auf die Radikalität Jesu stützen, der gesagt hatte: »Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein« (Lk 14,26).11 Die Christen jener Zeit sollten sich also entschieden von der Welt abwenden und damit auch von ihren sozialen Beziehungen, von Besitz und weltlichen Interessen. Sie sollten sich ganz auf das kommende Gottesreich konzentrieren, wo sie eine Welt ohne Sünde, Leid, Schmerzen, ohne Unrecht und ein Leben in unendlicher Herrlichkeit erwartete. Dieser Glaube an die Wiederkunft ihres Herrn war, was sie einte und nicht ein klar formuliertes gemeinsames Glaubenssystem und schon gar keine gemeinsame Institution. Das Reich Gottes stellte sich jedoch gegen alle Erwartungen nicht ein. Mit dieser sogenannten Parusievezögerung mussten sich die Christen also auf eine unabsehbare Dauer einstellen,12 und allmählich verlor die Naherwartung allen Einfluss auf das Leben in den christlichen Gemeinden. Das war 11 | Ähnlich Mt 10,34-39: »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.« 12 | Die Menschen wurden unruhig und es galt dafür Erklärungen zu finden. Die Parusieverzögerung wurde etwa damit begründet, dass ein Tag bei Gott 1000 Jahre wäre

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

ein entscheidender Wendepunkt in der Entwicklung des Christentums und die damit einhergehenden Transformationen sind kaum zu überschätzen: Die charismatischen Gemeinden gaben sich zunehmend feste Strukturen und einige von ihnen bildeten schließlich eine Kirche, die auf Dauer angelegt war. Die bisherige intuitive Religiosität und Prophetie wurde durch dogmatische Lehren ersetzt. Und schließlich sollte nun auch der zuvor frei wirkende Gnadenstrom mithilfe festgelegter Rituale vermittelt werden. Hatten früher alle Gläubigen einen unmittelbaren Zugang zum Jenseits, so wurden nun Sakramente geschaffen, die nur von eigens dafür bestimmten Personen gespendet werden konnten.13 Die Kirche wurde zum alleinigen Ort der Gottesbegegnung und Heilsvermittlung: »Niemand kann Gott zum Vater haben, der nicht die Kirche zur Mutter hat«, verkündete der Bischof Cyprian im 3. Jahrhundert (zit. in Dassmann 2012: 161). Mit diesen Entwicklungen formte sich allmählich das heraus, was wir heute das Christentum14 nennen. Wohingegen es fraglich ist, ob die Jesusgemeinden der vorkirchlichen Phase überhaupt mit diesem Begriff belegt werden können. Sie waren, wie wir sahen, in ihren Formen und Inhalten sehr different und unbestimmt. Zudem hatten sich viele der Gemeinden damals noch nicht klar vom Judentum abgegrenzt, sondern bezogen sich noch in weiten Teilen auf die jüdische Lehre. Insofern folgert Micha Brumlik: »Wenn man unter Christentum eine Religionsgemeinschaft versteht, die sich auf einen von anderen unterschiedenen systematisierten Glaubensinhalt und einen institutionalisierten Kultus (Kirche) bezieht, wenn Christentum also Glaube und Kirche umfasst, dann kann man erst von einem Christentum sprechen, als sich die Christen unter tatkräftiger Hilfe Kaiser Konstantins auf eine einheitliche Lehre einigten und sich eine kirchliche Verfassung gaben« (Brumlik 2010: 81).

Würde also heute das »Ur-«Christentum tatsächlich ernst genommen und zum Maßstab von Christlichkeit gemacht, dann würde das eine Auflösung der Kirchen und ihrer Strukturen, eine Pluralisierung der Lehre und eine Rückkehr zu charismatischen Orientierungen bedeuten  – wie dies tatsächlich ja auch in vielen »Sekten« versucht wurde und wird. Nur dann wären wesentliche Bedingungen des »Ur-«Christentums gegeben. Denn dies bezieht sich auf

oder aber, dass das Reich Gottes bereits eingetreten und, wie es bei Lukas (17,21) heißt, schon »mitten unter euch« sei. 13 | In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts ist die Ausbildung einer in drei Stufen gegliederten Ämterhierarchie abgeschlossen (vgl. Dassmann 2012: 162). 14 | Der Begriff Christentum taucht zum ersten Mal im Jahr 110 in den Briefen des Bischofs Ignatios auf (vgl. Küng 1994: 42).

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

eine freiwillige, engagierte Teilhabe weniger, sehr überzeugter Gläubiger, die sich ganz auf ihr Heil im Jenseits konzentrieren.15 Eine Religion jedoch, die möglichst alle Mitglieder der Gesellschaft umfassen will, muss sich auch auf die Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft einlassen und ihre Gläubigen in ihrem Leben und Wirken in der Gesellschaft unterstützen. Dazu waren die frühen Christusgemeinden nicht bereit. Das führte nicht nur zu Misstrauen von Seiten der umgebenden Gesellschaft bis hin zur physischen Verfolgung der Christen, sondern auch zu einer Kritik an den gesellschaftsfeindlichen Prämissen der christlichen Lehre.

Das frühe Christentum in der griechisch-römischen Gesellschaft Die neuen Christen wurden von Römern und Griechen vielfach misstrauisch betrachtet, da sie sich aus der Gesellschaft zurückzogen und in geheimen Gemeinschaften zusammenschlossen. Sie nahmen weder an öffentlichen Prozessionen noch an Festmählern teil. Auch weigerten sie sich öffentliche Ämter zu bekleiden. Dies wurde von Seiten der Römer und Griechen als eine Ablehnung des römischen Reiches und seiner Lebenswelt empfunden.16 Als besonders problematisch, ja als bedrohlich empfanden sie die Tatsache, dass die Christen sich weigerten, die für das Reich als wesentlich erachteten Opfer darzubringen. Griechen und Römer fürchteten, damit den Zorn der Götter zu erregen. Sie hatten den Eindruck, dass die Christen mit der »Stimme des Aufruhrs gegen das Gemeinsame« (Grabner-Haider & Maier 2008: 85) vorgingen, gegen die integrative Kraft der Göttervorstellungen des römischen Reiches. Denn für das römische Imperium war die Religion ein wesentliches Moment der Integration.17

15 | Ernst Troeltsch hat diesen Widerspruch in seiner Soziallehre der christlichen Kirchen und Gruppen (1912/1994) mithilfe der Gegenüberstellung von Kirche und Sekte grundlegend herausgearbeitet. 16 | Diese Absonderung wurde als Feindseligkeit gegenüber den Mitmenschen gedeutet, und Tacitus berichtet, dass ihnen vorgeworfen wurde, dass sie in einem »Hass auf die Menschheit lebten«. Plinius etwa verlangte eine Verfluchung der Christen, da das Christentum als eine politische Religion verstanden wurde (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 76). 17 | Die Verweigerung des Kaiseropfers war zwar für die Christen eine rein religiöse Angelegenheit, für ihre Mitwelt aber war dies zuerst ein Akt der Insubordination. Der erstmals in der Apostelgeschichte erhobene Vorwurf, dass die Christen alle Welt in Aufruhr versetzten (Apg 17,6) wird im Vorwurf des platonischen Philosophen Kelsos zugespitzt, dass das Wesen des Christentums Aufruhr gegen die Gemeinschaft und deren Grundwerte sei (vgl. Feldmeier 2009: 207).

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

Die Römer fühlten sich aber auch vom Exklusivitätsanspruch18 der christlichen Lehre bedroht. Ein solcher war in der langen Tradition des Polytheismus der griechisch-römischen Kultur unüblich. Das war auch einer der Gründe für die staatliche Verfolgung früher christlicher Gemeinden. Nero begann mit der Verfolgung der Christen im Jahr 64, die zunächst auf Rom beschränkt blieb. Auch von Domitian (81-96) wurden die Christen zunächst eher sporadisch verfolgt, dann aber systematisch unter Kaiser Decius und Valerian in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts. Die antichristlichen Dekrete wurden schließlich im Jahr 260 wieder zurückgenommen und die Verfolgung ausgesetzt.19 Für die spätantiken Denker war das Christentum jedoch nicht nur eine gesellschaftliche Provokation, sondern auch eine geistige Herausforderung. Sie diskutierten seine Lehre und fragten, ob sie sich mit dem hellenistischen Denken in Einklang bringen ließe. Diese Kontroverse ist insofern interessant, als sie nicht nur zeigt, wie schon frühzeitig Fragen aufgeworfen wurden, die uns auch heute noch beschäftigen, sondern weil die oft postulierte Einheit von christlicher Theologie und hellenistischer Philosophie nicht unbedingt gegeben war. Es wird gern von einer »abendländischen Synthese«, der Verschmelzung der geistigen Welten von »Athen« und Jerusalem« gesprochen.20 Das scheint jedoch ein Mythos zu sein, der vor allem auf die systematische Vernichtung der christentumskritischen Schriften der antiken Philosophen durch die Kirche zurückzuführen ist, wie Winfried Schröder in seiner Untersuchung zur philosophischen Kritik am Christentum in der Antike zeigt (vgl. Schröder 2011). 18 | Von Historikern und Philosophen wurden die Christen als Fanatiker des Glaubens, als Außenseiter der Gesellschaft und als »unverschämte Neuerer« verstanden, da sie behaupteten, die einzige Wahrheit zu haben und die anderen Kulte überwinden zu wollen. Das Misstrauen von Seiten der Römer steigerte sich zuweilen bis zur Paranoia. Die Römer glaubten, die Christen hätten unerlaubte Kulte, feierten sexuelle Orgien, opferten Kinder und äßen ihr Fleisch (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 76; 140). Ihre Sonderstellung machten die Christen etwa durch ihre Bekreuzigung öffentlich (vgl. Köhler 1982: 60). 19 | Trotz der gesellschaftlichen Spannungen lässt sich bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts keine gezielte staatliche Christenverfolgung nachweisen. Trajan hatte befohlen: »Conquirendi non sunt« (sie sind nicht von Staatsseite zu verfolgen). Demgegenüber gab es immer wieder Verfolgung aufgrund der Beschuldigung durch Mitbürger, von deren Hass gegenüber den Christen immer wieder berichtet wird (vgl. Feldmeier 2009: 209; Grabner-Haider & Maier 2008: 127). 20 | Papst Benedikt XVI. sprach beispielsweise in seiner Regensburger Vorlesung am 12. Sept. 2006 von einem »inneren Zugehen aufeinander, das sich zwischen biblischem Glauben und griechischem philosophischem Fragen vollzogen« habe. Dies sei ein weltgeschichtlich entscheidender Vorgang gewesen, und diese Begegnung, zu der dann noch das Erbe Rom hinzugetreten sei, habe Europa geschaffen (zit. in Kany 2009: 437).

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

Die Kritik der paganen21 Philosophen stellte vor allem die Frage, wie eine Religion funktionieren kann, die sich an einem himmlischen Reich ausrichtet und nicht das Wohl der Menschen und der Gesellschaft auf der Erde im Blick hat. Und sie fragten sich, ob eine jenseitsorientierte Moral ohne weiteres auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden kann. Auch fragten sie, ob ein solcher Glaube nicht schädlich für die Menschen und ihr Zusammenleben ist, wenn er zentrale Fähigkeiten der Menschen wie die der Vernunft so wenig wertschätzt.

Frühe Kritik am Christentum Der Glaube an die Auferstehung Christi stand und steht im Zentrum der christlichen Lehre.22 Um Christ zu werden, musste man an dieses Wunder glauben. Das empfanden die hellenistischen Philosophen als höchst anstößig. Deshalb konzentrierten sich die Kontroversen, die vor allem von den Philosophen Kelsos, Porphyrios und dem Kaiserphilosophen Julian geführt wurden, auf den Gegensatz zwischen Glaube und Vernunft. Dazu stellt Schröder fest: »Kein Makel ist der neuen Religion aus dem Morgenland von ihren antiken Kritikern mit solcher Unnachsichtigkeit vorgehalten worden wie die unerhörte Zumutung eines Glaubens (pistis) ohne Gründe« (Schröder 2011: 88). Kelsos etwa schreibt: »Die Christen sagen zu jedem, der zu ihnen kommt: Glaube zuerst, dass der, den ich dir nahebringe, der Sohn Gottes ist« (zit. in ebd.: 89). Kelsos ging es dabei nicht darum, den Glauben als solches in Frage zu stellen, da die Menschen immer auch nach ungesicherten Überzeugungen ihr Leben ausrichten müssten, sondern er nahm Anstoß an einem »blinden Glauben«, der verlangt, dass Aussagen wie etwa die über die Auferstehung Jesu ohne weitere Prüfung als wahr anzusehen seien. Es wird nicht nur auf Prüfungen verzichtet, sondern auch der Zweifel als böse geächtet.23 So fragte Kelsos weiter: 21 | Pagan = vor- und nicht-christlich. 22 | Angenendt bezeichnet Folgendes als die Essentialia christlicher Dogmatik: Der Glaube an einen persönlichen Gott, die Fleischwerdung Gottes in einer Person, das Wunder der Auferstehung, die Anerkennung einer verbindlich festgelegten schriftlichen Offenbarungsurkunde und die Ausrichtung auf ein absolutes Ende, das Jüngste Gericht und Eschaton der Geschichte (vgl. Angenendt 2009: 354). 23 | Kelsos wendet sich, wie gesagt, nicht grundsätzlich gegen einen Glauben, da wir uns ständig auf Annahmen verlassen müssen, die keiner empirischen Überprüfung standhalten. Er versteht Glauben als eine vom Wissen unterschiedene schwache Überzeugung, die aber nicht grundlos ist. Es besteht also immer ein Stück Freiwilligkeit in der Zustimmung zu solch schwachen Überzeugungen, was nicht heißt, jegliche weiteren Überlegungen zu suspendieren. Glauben heißt der Behauptung eines Sachverhalts

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe »Warum wurde das außergewöhnliche Wunder der Auferstehung Jesu nur von seinen Jüngern bezeugt, nicht aber von Menschen außerhalb der Gemeinden der Gläubigen? Warum wurde über die seinen Tod begleitenden Naturphänomene wie Erdbeben und Sonnenfinsternis nicht von Profanhistorikern berichtet? Außerdem wurde zu der Zeit von vielen außergewöhnlichen Männern berichtet, die Wunder vollbracht haben sollen. Warum glauben sie bei Jesus an Wunder, die vielen anderen, von denen berichtet wird, werden hingegen als Gaukler bezeichnet?« 24

Zudem macht Kelsos darauf aufmerksam, dass es auch Jesus selbst oft nicht um eine Diskussion mit seinen Jüngern ging, sondern dass er häufig Argumente durch Drohungen ersetzt hat: »Das Drohen und Schimpfen fällt ihm leicht, wenn er sagt ›Wehe euch‹ […] Mit solchen Ausdrücken gesteht er offenbar zu, dass er unfähig war zu überzeugen, was keinem vernünftigen Menschen, geschweige denn einem Gott widerfährt« (ebd.: 89).

Die Kritiker fragten auch, was die christlichen Autoritäten veranlasst hatte zu behaupten, dass sie alleine im Besitz der Wahrheit seien, auf welche Erkenntnis und welche Autorität sie sich dabei stützten. Für sie ist es eine grundsätzliche Frage, ob ein Mensch überhaupt eine klare Einsicht über Gott erhalten kann. Haben die Menschen die Fähigkeiten, Gott zu erkennen? Ist diese absolute Erkenntnis nicht Gott selbst vorbehalten?25 Ihrer Meinung nach müssen deshalb die kirchlichen Autoritäten wie auch die von ihnen verkündeten Lehrsätze und Dogmen stets in Frage gestellt werden können. Die paganen Philosophen waren auch darüber empört, dass die Lehre des großen Kirchenvaters Augustinus (354 – 430 n.u.Z.) alle »Heiden« pauschal als in sich schlecht, als vitia klassifizierte. Würde das nicht bedeuten, so fragten sie, dass der Lebenswandel vortrefflicher Männer wie Platon, Sokrates, Aristides u.a. herabgewürdigt und sie alle vom Heil ausgeschlossen würden? Dazu Porphyrios:

zuzustimmen ohne zur Zustimmung nötigende Gründe. Zu den bei einer Vermutung vorhanden schwachen Gründe tritt beim Gauben eine freiwillig getroffene Entscheidung (Schröder 2011: 97). Insofern gibt es für ihn nicht ein Entweder Oder des Glaubens versus der Vernunft. 24 | Die Wunder des Apolonios waren sehr viel weiter verbreitet zu jener Zeit (vgl. Schröder 2011: 157ff., 165, 187). 25 | »Wahre Meinungen über den Gott zu gewinnen ist zwar grundsätzlich möglich, übersteigt aber die menschlichen Fähigkeiten […]. Sollte jemand jedoch zu gehaltvollen Einsichten über Gott gelangen, fragt man sich, ob er ein Mensch oder ein Gott ist« (zit. in ebd.: 118).

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe »Wenn Christus, der sogenannte Heiland und Retter, […] sich als den einzigen ›Weg des Heils, die Gnade und die Wahrheit‹ bezeichnet, [ist] der Ausschluss der zahllosen Menschen, die vor ihm gelebt haben, die Folge, und somit wäre auch die göttliche Gerechtigkeit infrage gestellt.« 26

Die spätantiken Philosophen empfanden die neue Lehre als einen Rückfall hinter den Stand der geistigen Entwicklung der damaligen Philosophie. Zugleich fürchteten sie, dass die Forderungen zur Unterwerfung unter kirchliche Autoritäten und göttliche Willkür höchst problematische Folgen für das Gemeinwesen haben könnten. Und zwar einmal, weil die Grenzen zwischen Gläubigen und »Un«gläubigen scharf und höchst moralisch gezogen wurden, da diejenigen, die nicht zur Gemeinschaft der »Rechtgläubigen« gehörten, pauschal als böse verdammt wurden; zum anderen aber, weil die von den Christen vertretene Ethik nicht nach den Folgen des Handelns für die Gemeinschaft fragte, sondern sie alleine zu einer Frage der Beziehung zu Gott machte. So waren die Philosophen etwa von der Tatsache irritiert, dass die Menschen, die sich zu einem Übertritt zum Christentum entschlossen und taufen ließen, durch die Taufe von allen Sünden »reingewaschen« wurden.27 Porphyrios wundert sich, dass man alleine dadurch, dass man den Namen Christi anruft, also mit »Leichtigkeit«, von seinen Sünden befreit werden kann, und er fragt, welche Konsequenzen das für die Moral in der Gesellschaft hat und was es für den Umgang mit Schuld und persönlicher Verantwortung bedeutet. Und Julian formuliert: »Wer ein Verführer, wer ein Mörder, wer schuldbeladen und schamlos ist, komme getrost herbei. Denn mit diesem Wasser werde ich ihn waschen und sofort rein machen. Und auch wenn er sich dieser Dinge wieder schuldig macht, werde ich ihn, wenn er sich auf die Brust klopft und sein Haupt schlägt, wieder rein machen« (zit. in Schröder 2011: 212). 28

Damit kritisierten die Philosophen auch die Tatsache, dass mit der christlichen Taufe und Buße neben der weltlichen Gerichtsbarkeit eine neue Sanktionsmacht etabliert worden war, die ihre eigenen Regeln und ihr eigenes Verständnis in Bezug auf Verfehlungen, Strafe und Sühne entwickelt hatte. Das Kriterium für die Beurteilung eines Vergehens war dabei nicht mehr der Schutz der 26 | Zit. in ebd.: 123, s. auch 210, 216. 27 | Dies war einer der Gründe, warum sich viele neu bekehrte Christen – wie auch Kaiser Konstantin – erst auf dem Totenbett taufen ließen. 28 | Diese Bereitschaft des Christentums, auch dem größten Sünder eine leichte Entsündigung zu versprechen, haben auch die Christen immer als etwas Besonderes verstanden (s. auch 218).

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Gemeinschaft, sondern dessen Bedeutung für die Beziehung des Einzelnen und der christlichen Gemeinde zu Gott, also zu einer außergesellschaftlichen Instanz. Die Bedenken der philosophischen Kritiker in Bezug auf die Gesellschaftstauglichkeit der christlichen Lehre waren auch deshalb brisant, weil die Christen  – nachdem das Kommen des himmlischen Reiches sich nicht einstellte – das irdische Reich relativ rasch erobern sollten. Zur Zeit der Konstantinischen Wende (312 n.u.Z.) war schätzungsweise kaum mehr als ein Zehntel der Bewohner des römischen Imperiums Christen (ebd.: 6). Aber bereits 70 Jahre später, als Kaiser Theodosius (380 n.u.Z.) mit seinem Dekret das Christentum zur Reichsreligion erhob, sollten alle BewohnerInnen des römischen Imperiums der christlichen Religion folgen. Das aber bedeutete, dass die Christen auch ein anderes Verhältnis zur Gesellschaft und zur weltlichen Macht entwickeln mussten.

C hristentum und weltliche M acht Zunächst waren die Christen beziehungsweise die Mitglieder der verschiedenen Jesusbewegungen der weltlichen Macht gegenüber äußerst kritisch eingestellt. Ihr Herrscher war nicht der Kaiser, sondern Christus. Denn man muss Gott, so heißt es in der Apostelgeschichte, mehr gehorchen als den Menschen (5,29). Er war für sie der Weltenherrscher (Kyrios), während sie im römischen Imperium die »Hure Babylon« sahen.29 Nach der Anerkennung ihrer Religion durch das Reich änderte sich das grundlegend. Nun war die weltliche Macht nicht mehr der Gegenpart, sondern ihr Verbündeter oder gar Diener. Denn das Bündnis mit der weltlichen Macht erlaubte ihnen nicht nur den eigenen Glauben frei und offen zu leben, sondern auch die anderen Religionen im Imperium zurückzudrängen und die Menschen zum Christentum bekehren zu können. Bei der Etablierung der Kirche waren die frühen Christengemeinden auf die Unterstützung der weltlichen Macht angewiesen. Kaiser Konstantin machte bekanntlich nach dem Sieg über seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke (312 n.u.Z.) das Christentum zu einer offiziellen Religion, denn 29 | Zwar gab es auch das Jesuswort: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« (Mt 22,21; Mk 12,17), in dem der Anspruch der weltlichen Macht zumindest in Bezug auf die Zahlung von Steuern anerkannt wird. Welche Rolle jedoch der Staat für das Streben nach dem Heil spielt, war damit nicht angesprochen. Auf alle Fälle verweigerten die Christen dem Kaiser die Ehrbezeugung, wobei es dabei nicht eigentlich um eine innere Glaubensabschwörung gegangen wäre, auf die erhob der römische Staat keinen Anspruch, sondern um eine Loyalitätsbezeugung gegenüber der weltlichen Ordnung (Brumlik 2010: 47).

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

er benötigte, nachdem er mit seinem Sieg das Reich geeinigt hatte, auch einen alle vereinigenden Kultus. Diesen sah er im Christentum, und so verfolgte er das Ziel, das Christentum zu verstaatlichen und den römischen Staat zu verchristlichen.30 Deshalb setzte er sich auch in dem von ihm einberufenen ersten und für die Christenheit entscheidenden Konzil von Nicäa (325 n.u.Z.) nachdrücklich für einen einheitlichen christlichen Glauben ein. Gegen dies Bündnis von Kirche und Staat gab es jedoch auch Widerstand von Seiten einiger Christen. So wollten etwa die sogenannten Donatisten keine Kooperation mit dem römischen Imperium. »Was hat der Kaiser mit der Kirche zu schaffen?« fragte Donatus und lehnte die konstantinische Reichskirche ab (Köhler 1982: 102).31 Er wollte eine Kirche der reinen Christen schaffen, die auf ihrer Wanderschaft durch die Welt auf alle staatlichen Privilegien verzichten sollten.32 Er wurde jedoch als Häretiker auch mit Zustimmung von Augustinus verfolgt; ebenso etwa wie Priscillianus, der sich für Armut, Ehelosigkeit, für die Aufhebung der Sklaverei und Gleichberechtigung der Frauen eingesetzt hatte. Seine Lehre hatte sich über Spanien, Bordeaux bis nach Trier verbreitet, wo er mit seinen Anhängern zum Tod verurteilt wurde (Grabner-Haider & Maier 2008: 141). So wurden seit 350 die christlichen »Häretiker« staatlich verfolgt.33 Es ging jedoch nicht nur um die Durchsetzung einer einheitlichen Politik und Lehre innerhalb der neu entstandenen katholischen Kirche, sondern auch um die Bekämpfung der anderen Weltanschauungen und Religionen. 30 | Die christlichen Kleriker wurden von der Steuer befreit. Sie bildeten nun ihren eigenen Stand (ordo) und hatten dieselben Privilegien wie vormals die römischen und griechischen Priester. Konstantin baute große Basiliken als Kirchen, führte den Sonntag anstelle des Sabbats ein und christianisierte das Bildungswesen (vgl. Köhler 1982: 107). 31 | Dementsprechend sollten nach Auffassung von Donatus die Christen auf alle staatlichen Privilegien verzichten (vgl. Flasch 2003: 159). 32 | Für ihn war es auch nicht tragbar, dass unwürdige und früher abgefallene Christen Priester oder gar Bischöfe werden sollten. Die moralische Qualität des Spenders sei entscheidend bei den Riten (sacramenta), sonst seien sie, so war er überzeugt, ungültig (Grabner-Haider & Maier 2008: 129). 33 | Entscheidend ist dabei, dass die Nicht- und Andersgläubigen nun auch rechtlich verfolgt wurden. Dieser Vorgang der Juridifizierung ist es, der das Recht des vierten Jahrhunderts vom römischen Recht früherer Zeiten unterscheidet: Recht und Unrecht hat die Welt in Freunde und Feinde eingeteilt, sodass erstere nicht nur rechtgläubig sind, sondern auch rechtmäßige Zeitgenossen. Diese Unterscheidung hatte nach Kippenberg & Stuckrad eine fundamentale Wirkung. Die paganen Götter wurden als Dämonen, Rituale als Magie verdammt. Diese Spaltung spiegelt eine Sprachregelung wieder, die Magie und Zauberei von Wunder unterscheidet und Gebet von magischer Beschwörung (vgl. Kippenberg 2003: 163f.).

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Theodosius hatte das Christentum zur Staatsreligion, die katholische Kirche zur Staatskirche und die Häresie zu einem Staatsverbrechen gemacht. Nur die, die dem von Theodosius in einem Edikt (380) festgehaltenen Glaubensbekenntnis folgten, galten als katholische Christen. Die anderen sollte, wie es bei Theodosius hieß »[…] vorab die göttliche Vergeltung, dann aber auch unsere Strafgerechtigkeit ereilen, die uns durch himmlisches Urteil übertragen ist« (zit. in Markschies 2006: 40).34 Mit dieser Abgrenzung von anderen Kulten und Glaubenssystemen wurde nun auch eine deutliche Trennung vom Judentum vollzogen.35 Damit war aber die Frage nach Identität und Differenz von Christentum und Judentum nicht gelöst, sondern blieb über die Jahrhunderte virulent: War das Judentum eine Religion, aus der heraus sich das Christentum entwickelt hatte, das aber in seinem eigenem Recht weiter bestand, oder war Christus gekommen, um das Judentum zu überwinden, sich also an die Stelle des Judentums zu setzen.36 Insofern war das Verhältnis der Christen zu den Juden immer ein besonderes, da es die Identität des Christentums unmittelbar berührte. Es war geprägt von Bewunderung und Neid gegenüber dem, wie Sigmund Freud sagen würde, »älteren Bruder«, dem Erstgeborenen  – aber auch von Bedrohungsgefühlen und Verachtung. Dies gewissermaßen intime und zugleich gespannte Verhältnis hat u.a. zu forcierten Missionierungsbemühungen von Seiten der Christen, den sogenannten Judenmissionen, wie auch zu Jahrhunderte andauernden, vielfach tödlichen Verfolgungen der Juden geführt. 34 | Augustinus sah das Werk des christlichen Herrschers Theodosius weitgehend vollbracht, als die heidnischen Götterbilder zerstört waren, und er lobte die Gesetze des Kaisers, der über die Gottlosen die Todesstrafe verhängt hatte (vgl. Schröder 2011, 112f.). 35 | So wurde etwa auf der Synode von Elvira (ca. 306) das Verbot der Eheschließung und Tischgemeinschaft von Christen, Juden und Heiden beschlossen. Diese Tendenzen setzen sich in weiteren Synoden und Konzilien fort und sind in den Schriften der Klassiker christlicher Theologie von Augustinus über Thomas von Aquin bis zu Luther und Calvin präsent (vgl. Riesebrodt 2007: 48). 36 | Dies Substitutionsmodell, das man auch als ein Modell der Enterbung bezeichnet hat, geht davon aus, dass das auserwählte Volk Israels, das einen Bund mit Gott am Sinai geschlossen hat, seine Sonderstellung als Gottes Bundesvolk dadurch verlor, dass es sich dem Messias nicht öffnete. Seitdem ersetzt die christliche Kirche Israel als Bündnispartnerin Gottes. Der »neue« Bund tritt an die Stelle des »alten«, die Hebräische Bibel wird als das »Alte Testament« bezeichnet, das durch das »Neue Testament« überboten wird (vgl. Huber 2006, 71ff.). Wie wir wissen, war das Substitutionsmodell über lange Phasen der Geschichte des Christentums wirkmächtig. Und ist es, angesichts der Wiedereinführung der Fürbitten für die Erlösung der Juden durch Papst Benedikt, in Teilen noch bis heute.

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

Bis zum Herrschaftsantritt Justinians (525) waren die nicht-christlichen Religionen und Kulte fast vollständig eliminiert (vgl. Schröder 2011: 6). Die Anhänger der römischen und griechischen Religionen wurden aus Armee und Verwaltung entlassen. Griechische und römische Kultstätten wurden beraubt und deren Schätze den Christen überschrieben. Synagogen und Tempel wurden zerstört, die Güter eingezogen und Nichtgläubige verfolgt. So wurde beispielsweise in Alexandria die gefeierte neuplatonische Philosophin Hypatia im März 415 aus ihrer Sänfte gestoßen, nackt gesteinigt und ihr Leichnam zerstückelt und verbrannt (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 127; Markschies 2006: 18). Als jüdische Synagogen vom Kaiser Theodosius gegen die Übergriffe fanatischer Christen geschützt wurden, zwang der Kirchenlehrer Ambrosius von Mailand den Kaiser die Bestrafung der Brandstifter zurückzunehmen mit der Begründung, die römische Kirche sei das Haupt (caput) der römischen Welt (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 139; 152). Die Ausübung heidnischer Kulte galt nun als ein Staatsverbrechen, wofür die Todesstrafe drohte. Das heißt, die Interessen der katholischen Kirche wurden mit denen des römischen Reiches gleichgesetzt. Die heidnischen Kulte würden, so die Argumentation des Kirchenlehrers Ambrosius, das Staatswohl gefährden. Dementsprechend verstand auch der Kirchenlehrer Augustinus37 den Staat als den weltlichen Arm der Kirche. Staatliche Gewalt sollte also auch für kirchliche Zwecke eingesetzt werden. Die Obrigkeit hatte die Rechtgläubigen zu fördern und die Feinde Gottes zu verfolgen (vgl. Angenendt 2009: 379, 251; Flasch 2003: 171). Das galt auch für die »Abweichler« innerhalb der Kirche. Mit der Einigung auf das göttliche Wesen Christi, als »wahrer Gott vom wahren Gott«, wurden etwa all diejenigen, die an einer Differenz zwischen Gott und Jesus festhielten, zu Häretikern erklärt. Sie wurden aus den christlichen Gemeinden ausgeschlossen und bereits ab 350 auch von staatlicher Seite verfolgt. Ihre Güter wurden beschlagnahmt und sie wurden aus Ämtern und Heer ausgeschlossen und häufig auch in die Verbannung geschickt. Wer zuvor durch die Bischöfe ausgeschlossen war, wurde nun auch vom Staat verbannt. Häresie wurde zu einem Majestätsverbrechen und kann nicht nur mit Gefängnis und Verbannung, sondern auch mit dem Tod bestraft werden (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 141). Wie aber konnte das Christentum sich so schnell von einer verfolgten zu einer verfolgenden Kirche wandeln? Die Antwort scheint klar zu sein: Je mehr weltliche Macht, desto mehr Gewalt. Ist dies aber zwangsläufig? Muss das 37 | Augustinus wurde 354 im heutigen Algerien geboren und ist als Bischof der Stadt Hippo dort gestorben. Er war ohne Zweifel die überragende Figur des antiken lateinischen Christentums, eine Gründerfigur des lateinischen Mittelalters und auch des modernen westlichen Christentums sowohl römisch-katholischer als auch lutherischer und reformierter Prägung (vgl. Kany 2009: 448).

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Bündnis mit der Macht notwendig zu Gewalt führen? Ein solch rigoroses Vorgehen bedarf auch der ideologischen Legitimation, so vor allem einer scharfen Trennung zwischen Freund und Feind, zwischen Recht- und »Falsch«-Gläubigen, Christen und »Heiden«. Und davon zeugt bereits die Geschichte der ersten Gemeinden. Denken wir etwa an die Aufforderung des Paulus, die Sünder aus der Gemeinde auszustoßen. Die Schärfe der Auseinandersetzungen in den Gemeinden lässt erahnen, dass mit einem Zugriff auf die weltliche Macht die Verfolgung der »Sünder« und »Lästerer« erhebliche Ausmaße annehmen würde. Das kirchliche Bündnis mit der imperialen Macht führte also dazu, dass die Christen ihre Religion mit aller Gewalt durchsetzten. Aus kleinen, »verschworenen« Gemeinden von freiwillig sich zu dieser Religion bekennenden Christen war eine im Prinzip alle Menschen umfassende Staatsreligion geworden. Die schiere Größe der jetzigen Kirche verlangte eine klare institutionelle Struktur und eine eindeutige inhaltliche Orientierung. Das hatte erhebliche Verschiebungen im Selbstverständnis des sich nun etablierenden Christentums zur Folge.

Imperiales Christentum Das römische Christentum hatte sich für diese Welt entschieden. Sein Hauptanliegen blieb zwar das Jenseits, der Herrschaftsanspruch in der jenseitigen Welt wurde jedoch mit dem in der diesseitigen verknüpft. Jesus wurde nun für die Christen zum Herrscher über beide Welten. Die Insignien der Macht, wie sie dem Kaiser zustanden, wurden auf ihn übertragen, so die Scheibe als Strahlenkranz um sein Haupt, das Kreuz auf der Weltkugel zum Zeichen des Allmachtsanspruchs und der Reichsapfel als Symbol weltlicher und geistlicher Macht. Das heißt, die Ausdrucksformen des Kaiserkultes (wie etwa auch der Nimbus und die erhobene Rechte) wurden zu Kennzeichen des Göttlichen. Jesus wird als Herrscher der Welt, als Pantokrator38 dargestellt, während er in früheren Abbildungen vor allem als guter Hirte und Lehrer gezeigt worden war (erst im Mittelalter rückt Jesus als Leidender in den Vordergrund). Zugleich verstand der Kaiser sich, nachdem er das Christentum zu seiner Religion gemacht hatte, als ihr Oberhaupt.39 Konstantin sah sich als Abbild Gottes, als Lenker des ganzen Erdkreises und Sieger über alle Völker. Die 38 | Christus wird auch auf vielen Münzen und Medaillen als Lenker des ganzen Erdkreises (rector totius orbis) und Sieger über alle Völker (victor omnium gentium) vorgestellt (vgl. Köhler 1982: 104, 145f.). 39 | Entsprechend verkündete Bischof Eusebios auf einer Synode der Bischöfe (336), dass das römische Imperium jetzt ein Abbild der göttlichen Herrschaft im Himmel sei; wie der göttliche Logos unter dem göttlichen Vater regiere, so übe der Kaiser seine

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Lichtscheibe um seinen Kopf sollte seine Nähe zur Göttlichkeit ausdrücken und ein Zeichen für die Universalität und Unzerstörbarkeit seiner Herrschaft sein. Den Kaiser als einen Gott anzusehen, war in der römischen Tradition keineswegs ungewöhnlich.40 Deshalb war auch von Anfang an eine Spannung zwischen dem Machtanspruch des Kaisers und dem der Kirche, zwischen geistlicher und weltlicher Macht angelegt – eine Spannung, die die ganze weitere Geschichte Europas bis in die Neuzeit hinein bestimmen sollte.41 Die Identifikation der Kirche mit dem römischen Reich gipfelte im Aufstieg des römischen Bischofs zum Oberhaupt aller Christen. Er wurde als »­erster« Bischof zum »Papst« erklärt, der seinen Führungsanspruch durch einen imperialen Amtsstil im prächtig ausgebauten päpstlichen Verwaltungssitz, dem Lateranpalast, unterstrich.42 Entsprechend pompös war das sich immer weiter ausdifferenzierende Hofzeremoniell. Dieses sakrale Schauspiel sollte den Anteil der römischen Kirche an der Herrschaft Christi zum Ausdruck bringen. Die Machtfülle des neuen imperialen Christentums zeigte sich anschaulich im Bau riesiger, mit edelsten Materialien geschmückter Basiliken, die in Herrschaft unter dem Schutz des einen Weltgottes aus. Er sei ein vicarius Christi, ein Stellvertreter Gottes auf Erden (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 127). 40 | Die Vergöttlichung der Kaiser und ihrer Aufnahme unter die Staatsgötter (Apotheose) nach ihrem Tod wurde jeweils durch Volks- und Senatsbeschluss besiegelt. Dafür musste ein Zeuge in der Senatsversammlung auftreten und beschwören, dass er die Seele des Imperators bei seinem Tod in den Himmel habe auffahren sehen. Diese »Himmelfahrt« wurde zu einem beliebten Motiv für Münzprägung und andere Bildwerke, und die vergöttlichten Kaiser nahmen fortan eine Mittelstellung zwischen Göttern und Menschen ein. 41 | Damit begann auch der Streit um den Primat: War der Kaiser – zumindest in allen glaubensrelevanten Fragen – von der Weisung der Bischöfe abhängig oder waren umgekehrt die Bischöfe von den Weisungen des Kaisers abhängig? Konstantin hatte etwa beim Konzil von Nicäa seinen Anspruch, auch in geistlichen Dingen die übergeordnete Instanz zu sein, tatkräftig umgesetzt. Umgekehrt hatten aber auch die Bischöfe ihren Vormachtanspruch in geistlichen Dingen durchzusetzen versucht. So sah der für die lateinische Christenheit so wesentliche Augustinus, der zum Vater der abendländischen Theologie werden sollte, den Staat unter dem Blickwinkel göttlicher Vorsehung, sub specie aeternitatis, also in Relation zum Gottesstaat (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 152, 205). 42 | Der Kaiser schenkte dem Bischof von Rom den Lateranpalast und begann mit dem Bau der Peterskirche auf dem Vatikan. Die christlichen Kleriker wurden den römischen Priestern gleichgestellt. Die römische Kirche durfte Militär aufstellen. Die Kleriker wurden Patrizier, Senatoren und Konsuln. Dabei lautete die Gleichstellungsformel: »Wie die imperiale Macht, so auch die heilige römische Kirche.« Der Papst wird zum Imperator (vgl. Cancik 2009: 394f.).

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Form langgestreckter Hallen alle Aufmerksamkeit auf die Apsis lenken, in der Christus häufig als Weltenherrscher mit der Weltkugel in der Hand abgebildet ist (vgl. Brumlik 2010: 73ff.). Im Entstehungsprozess des Christentums wurde also eine Entwicklung von der Verachtung der Welt hin zur Identifikation mit der weltlichen Macht vollzogen. Die Christen wandelten sich von einer misstrauisch betrachteten und verfolgten Minderheit hin zu Repräsentanten der Mehrheit, die nun wiederum andere verfolgte. Damit änderten sich, wie wir sahen, die Bilder, die sich die Menschen von Christus machten, es änderten sich die Position der Kirche und ihre geistliche wie politische Funktion, und damit änderten sich auch die Ziel- und Wertvorstellungen der Christen. Die Ursache für diesen vielschichtigen Wandlungsprozess wird vielfach in einer einseitigen Einwirkung der weltlichen Macht auf die christlichen Gemeinden gesehen, so ist etwa vom »konstantinischen Sündenfall« die Rede. Aber die Christengemeinden wurden nicht durch die weltliche Macht »verdorben«, sondern sie strebten – als sich die Möglichkeit bot – auch von sich aus die weltliche Macht an; zum einen, um ihren Glauben frei und ungehindert leben, und zum anderen, um ihren Missionsauftrag erfüllen zu können und alle Menschen zu ihrem Heil zu führen. Die Erringung der weltlichen Macht war eine logische Folge des exklusiven Wahrheitsanspruchs der Christen. Insofern erstaunt es auch nicht, dass viele Christen die Konstantinische Wende begrüßten, da sie in ihr ein machtvolles Zeichen für den Anbruch der Herrschaft Gottes auf Erden sahen.43 Die Botschaft von »der Wiederkunft des Herrn« konnte ja durchaus auch als eine politische Prophetie verstanden werden, die ein göttliches Reich auf Erden versprach. Das Bündnis mit der weltlichen Macht führte also zu einer Wendung hin zur Welt, zum Auf bau einer Kirche und einer einheitlichen Lehre. Und diese Hinwendung zur Welt erforderte auch eine Ethik, die sich in der Welt bewähren konnte.44

43 | Die Akzeptanz der weltlichen Macht konnte sich auch auf Paulus stützen, der gesagt hatte: »Es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet« (Römer 13,1). 44 | Allerdings muss auch hier darauf hingewiesen werden, dass es sich nicht um »das« Christentum handelt, sondern um das westliche, lateinische Christentum. Bereits in den kanonisierten Texten der Evangelien wurde die Ausbreitung des Christentums in den Osten völlig ignoriert. So wird auch in der Apostelgeschichte nicht von der Ausbreitung des Christentums östlich des Euphrats im gesamten persischen Reich bis an die Grenzen Indiens berichtet (vgl. Sugirtharajah 2013b: 135f).

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W erte wandel : V on der J enseits - zur W eltmor al Mit dem Wandel einer Vielzahl charismatischer Gemeinden, die sich in Erwartung der nahen Wiederkunft Gottes zusammengeschlossen hatten, zu einer auf Dauer gestellten Kirche, fanden nicht nur erhebliche strukturelle Veränderungen statt, sondern auch eine Umorientierung in den Ziel- und Wertvorstellungen. Die Moral der Bergpredigt, der Genügsamkeit, Armut und Weltverachtung konnten nicht mehr im Zentrum stehen, wenn sich die Kirche in der Gesellschaft einrichten wollte. So widersprach zum Beispiel die Kirche mit ihrer Prachtentfaltung dem Armutsgebot. Sie erwarb Kapital, Sklaven und Grundbesitz durch die Übernahme der Tempelschätze, durch Steuereinnahmen und Schenkungen. Zudem gehörten nun auch die vermögenden Klassen und Repräsentanten des Staates zur Kirche. In den früheren Gemeinden waren die Bischöfe Handwerker und Bauern gewesen, nun rekrutierten sie sich aus den etablierten Schichten. Das Armutsgebot wurde deshalb dahingehend umformuliert, dass nicht Besitz als solcher anstößig sei, sondern die Art, wie man mit ihm umgehe. Der Besitz verpflichte die Christen dazu, Gutes zu tun anstatt ihn für sich allein zu genießen. Man solle »Haben als hätte man nicht« (vgl. 1Kor 7, 29-31; 2Kor 6,9f.). Ein anderes Beispiel bezieht sich auf die Werte von Gleichheit und Gerechtigkeit. Nach Paulus waren noch alle Getauften gleich in Christus, nämlich Griechen wie Juden, Sklaven und Freie, Mann und Frau.45 Und tatsächlich waren in den ersten Gemeinden die Frauen in vielem den Männern gleichgestellt: Sie konnten Hausgemeinden leiten und der Feier der Eucharistie vorstehen. Diese (relative) Egalität in den ersten Gemeinden hatte viel mit ihrem charismatischen Charakter zu tun: Jeder und jede, der/die eine spirituelle Intuition bewies, konnte als Autorität anerkannt werden. Dazu gehörten auch die Frauen (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 66.).46 Je bedeutender die spirituelle Dimension war, desto irrelevanter war der weltliche Stand. Jeder und jede konnte

45 | »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus« (Gal 3,28). 46 | In der Apostelgeschichte sind mehrfach Frauen genannt, die eine wichtige Rolle spielten. Frauen mit Charisma, etwa die weissagenden Töchter des Philippus, standen in hohem Ansehen. In Korinth redeten und beteten Frauen und Männer in prophetischer Verzückung – und gegen deren Prophezeiungen wendet sich nach Auffassung von Dassmann (2012) auch das berühmte Wort von Paulus, dass die Frauen in den Versammlungen schweigen sollten (vgl. 1Kor 14,34), um die ohnehin schwer aufrecht zu erhaltenden Ordnung in den charismatischen Gruppen zu festigen. In den gnostischen Gemeinden war der Anteil der Frauen sogar größer als derjenige der Männer (vgl. Heine 1990: 142).

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das Heil erlangen, das war das Entscheidende und nicht die Rolle, die er oder sie in der Gesellschaft einnahm.47 Etwa eine Generation nach Paulus, Anfang des zweiten Jahrhunderts, wurden die Frauen jedoch bereits in ihrer Predigerrolle zurückgewiesen. Allmählich wurden ihnen dann – außer einigen Aufgaben in der Diakonie – auch alle anderen Funktionen in der Gemeinde verwehrt.48 Sie wurden immer mehr vom Zugang zum Heiligen entfernt. Die Frau solle, so heißt es im Timotheus-Brief (vgl. 1Tim 2,8-15), in der Stille wirken und sich ihrem Mann unterordnen, denn, so die Begründung, Adam wurde zuerst erschaffen und dann Eva (vgl. 1Tim 2,8-15; Heine 1990: 148). Damit wurden die sozialen Hierarchien der Gesellschaft biblisch begründet und immer mehr als von Gott gewollte anerkannt.49 Auch die Sklaverei wurde mit der Bibel begründet und auf den Fluch Noahs über den unehrerbietigen Cham zurückgeführt. Damit wurde den Sklavenbesitzern nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zugesprochen, über »ihre« Sklaven zu herrschen und sie in »ihre Schranken« zu verweisen. Den Sklaven selbst wurde eine Liebes- und Gehorsamspflicht auferlegt. Sie hatten 47 | Diese Gruppen waren, wie Köhler (1982: 48) formuliert, Verheißungsgemeinschaften, denn sie erwarteten in Kürze das Anbrechen des 1000-jährigen Reiches (Chiliasmus). 48 | Im 2. Jahrhundert entstanden die sogenannten Pastoralbriefe. Diese unter dem Namen von Paulus veröffentlichten Briefe, waren jedoch von seinen Nachfolgern. Sie sahen die Rolle der Frauen in der Gemeinde wesentlich restriktiver (vgl. Heine 1990). Je mehr die Stimme der Frauen in der Gemeinde zum Verstummten gebracht wurde, desto mehr wurde auch das weibliche Geschlecht in der Gottheit ausgelöscht. Im Gegenzug wurde der Mann und damit auch Gott zunehmend nach dem Bild des römischen pater familias gezeichnet, der willkürlich über die ihm »Anvertrauten« herrscht und verfügen kann. Der Mann ist wie Gott niemandem Rechenschaft schuldig. Diese Entwicklung gipfelte in der Gotteslehre des Augustinus, bei dem Gott, dem menschlichen Erkennen und Beeinflussen völlig entrückt, willkürlich die einen erwählt und die anderen verdammt (vgl.Grabner-Haider & Maier 2008: 128, 159). 49 | Paulus sagt: »Es ist keine Obrigkeit ohne Gott: wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott verordnet« (Röm 13,1), und »[w]er sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu« (Röm 13,2). Diese Stellen in den Paulusbriefen traten immer mehr in den Vordergrund. Auch solche, die die untergeordnete Rolle der Frauen festschrieben, wie etwa die, dass Frauen ihren Männern zu gehorchen hätten, denn der Mann sei das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche sei (vgl.Eph 5,22-30). Zudem sei es unschicklich für eine Frau in der Gemeinde zu reden, deshalb soll sie zu Hause ihren Mann befragen (vgl. 1Kor 14,33-35; 1Tim 2,12). Bald durften sie sich nicht mehr dem Altar nähern und wurden dann auch von allen kirchlichen Ämtern – außer der Diakonie – ausgeschlossen; selbst im Notfall durften sie nicht taufen.

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

ihrem Herrn zu dienen, nun aber als »Sklaven Christi«, die den Willen Gottes von Herzen tun.50 Deshalb sollten sie auch nicht von dem Geld der Gemeinden frei gekauft werden.

Innerkirchliche Hierarchien Innerhalb der Gemeinden zeigte sich die Tendenz zur Hierarchisierung vor allem in einer immer schärferen Trennung zwischen Klerikern und Laien. Hatten sich die Mitglieder der Jesusgemeinden noch alle gemeinsam als »Braut Christi« verstanden, so bildete sich zunehmend eine Hierarchie heraus zwischen denen, die befugt waren, dem Heiligen nahe zu sein, und den übrigen Gemeindemitglieder. Von nun an können Christen unabhängig von diesem Amt keine Heilsgüter mehr erlangen. Max Weber spricht in dem Zusammenhang von der Kirche als einer »Gnadenanstalt«, die über ihren Klerus den Zugang zu Gott und seiner Gnade in Form der Sakramente regelt.51 In der Eucharistie – dem Zentrum der kirchlichen Riten – wird die mystische Sonderstellung des Priesters besonders deutlich, denn er ist es, entsprechend der Lehre von der Transsubstantiation, der das Brot in den Leib und den Wein in das Blut Jesu verwandelt. Aber auch das Sakrament der Buße wurde zu einer wichtigen Stütze klerikaler Macht. Die Laien hatten sich der Gemeinde, später alleine den Geistlichen gegenüber zu offenbaren, und diese waren es, die die Macht hatten, die Sünden zu vergeben und Strafen zu verhängen, die diese tilgen sollten. Augustinus gab dieser kirchlichen Hierarchie eine besondere Legitimation, indem er alle Menschen als durch die Erbsünde verderbt erklärte. Die Ursünde Adams sei auf alle Menschen durch die sexuelle Begierde übertragen worden. Jeder Einzelne habe in Adam mitgesündigt und habe damit Schuld auf sich geladen. Er nannte die Menschen eine verdammte Masse (massa damnationis), die ständig zur Sünde verleitet würde. Aber es gäbe auch Menschen, 50 | »Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus. Arbeitet nicht nur, um euch bei den Menschen einzuschmeicheln und ihnen zu gefallen, sondern erfüllt als Sklaven Christi von Herzen den Willen Gottes! Dient freudig, als dientet ihr dem Herrn und nicht den Menschen« (Eph 6, 5f; 1Tim, 6,1 und 1Kor 7,17-24). Und Chrisostomos tröstet die Sklaven: »Lasst uns um Christi Willen der Herrschaft dienen, denn die Knechtschaft ist nur ein leerer Name. Die Herrschaft erstreckt sich bloß auf den Leib, ist vergänglich und von kurzer Dauer« (zit. in Markschies 2006: 154). 51 | Es blieben jedoch immer auch Tendenzen wach, einen direkten Zugang zur Göttlichkeit zu gewinnen ohne die Vermittlung durch die Kirche und ihren Klerus – wie etwa in der Mystik und durch die verschiedenen Formen der Heilgenerscheinungen und des Wunderglaubens.

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die sich bemühten ihre sündhafte Verdammnis bereits auf Erden zu überwinden, indem sie ganz auf ihre Sexualität verzichteten. Deshalb käme ein Asket der Gottheit am nächsten, denn Sexualität sei eine Sünde gegen Gott und gleichzeitig eine göttliche Strafe für die Sünde (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 159).52 So wurde die Herausgehobenheit des Klerus durch das Gebot der Keuschheit unterstrichen und als Zeichen der besonderen Nähe der Priester zum Göttlichen verstanden.53 Der Klerus selbst wurde wiederum unterteilt in einen »niederen« Klerus der Gemeindegeistlichen und den »gehobenen« Klerus der Bischöfe und des Papstes. Damit trat das im Prinzip egalitäre Heilsversprechen, nämlich dass alle Menschen gleichermaßen an Gottes Gnade Anteil haben und dass alle von Christus erlöst worden sind, immer mehr in den Hintergrund. An dessen Stelle trat eine spirituelle Hierarchie und dementsprechend auch eine in sich gestufte Moral. Dabei wurden vor allem die Mönche zu Vorbildern der Christen, sie galten als die »Erwählten der Erwählten« (Köhler 1982: 108).

Hierarchie der Gläubigen Die Mönche schienen – auch im Unterschied zum Klerus – die konsequenteren Jünger Christi zu sein, hatten sie sich doch entschieden, sich ganz dem heiligen Leben zu widmen. Je mehr sie die Welt verwarfen, desto mehr spirituelle Macht gewannen sie. Der Mönch war der neue »heilige Mann« (Küng 1994: 263) und hielt so ein Ideal des Christentums wach, das durch die Symbiose mit der weltlichen Macht verloren gegangen war: Enthaltsamkeit, Selbstverleugnung und unbedingte Hingabe sollten von ihm in einer spirituell orientierten Gemeinschaft gelebt werden.54 52 | Augustinus hat das Verständnis des Christentums in dreifacher Hinsicht neu geprägt: Er hielt die Menschen an, sie sollten sich – erstens – verstehen als Söhne Adams, als gebrochene und immer schon schuldige Natur. Sie sollten – zweitens – ihre geschlechtliche Entstehung als Übertragung der Sünde ansehen. Und sie sollten – drittens – allein von der Taufe, gespendet von der richtigen Kirche, die Aussicht auf eventuelle Auserwähltheit erwarten (vgl. Flasch 2008: 41). 53 | »Dem neuen Selbstverständnis des Klerus entsprach es, die gewandelte Hostie als den physischen Leib Christi, freilich des verklärten, zu deuten; sein Bedürfnis nach Abgrenzung von der Welt zum Zwecke der Weltbeherrschung fand hier seinen genauesten Ausdruck, Hostienwunder häuften sich« (Flasch 2008: 89). Vgl. auch Markschies 2006, 197ff., 202, 205, 209f. 54 | Allerdings wurde auch das Mönchstum vom Widerspruch zwischen spiritueller und weltlicher Orientierung nicht verschont. Selbst wenn es versuchte, ganz für das Jenseits zu leben, so bedurfte es doch der Absicherung im irdischen Leben. Der

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

Das heißt, dass das »apostolische Leben« wie es von den Mönchen und Nonnen angestrebt wurde, als das »eigentliche«, das »bessere« Christentum galt. Das Problem dabei ist jedoch, dass dies Christentum nicht für die Menschen in der Welt, für die Mehrheit der Menschen gedacht ist. Die Weltverneinung ist kein Massenphänomen, sondern lediglich eine Option für religiöse Virtuosen. Dazu Max Weber: »Die Verkündigung Jesu ist im übrigen weit davon entfernt, eine Verkündigung für Jedermann und alle Schwachen zu sein. […] Nichts liegt Jesus ferner als der Gedanke an einen Universalismus göttlicher Gnade, gegen den vielmehr seine ganze Verkündigung streitet: Wenige sind auserwählt, durch die enge Pforte zu gehen, sie, die Buße tun und an ihn glauben« (Weber 1995/1921: 414).

Die Weltverneinung, die in einem Christentum lebt, das Besitz, familiäre Bindungen und Eigeninteressen ablehnt, ist nicht gesellschaftstauglich und kann allenfalls in kleinen, auf freiwilligem Entschluss basierenden Gemeinschaften wie in den Klöstern und später den sogenannten »Sekten« angestrebt und selbst dann oft nur höchst unzureichend umgesetzt werden. Insofern sind Mönche und Nonnen eine spirituelle Elite, eine, wie Weber es nennt,

Kirchengeschichtler Oskar Köhler nennt dies das Dilemma von »eschatologischem Vorgriff« des mönchischen Lebens und Angewiesenheit auf die Bedingungen der andauernden Weltzeit (vgl. Köhler 1982: 22). Konkret bedeutete das, dass die Mönche, dem Armutsideal verpflichtet, zugleich Güter, Reichtum und Macht anhäuften. Sie wollten der Welt entsagen und spielten doch über viele Jahrhunderte darin eine entscheidende Rolle. Auch spiegelten die Klöster die weltlichen Hierarchien insofern wieder, als bis weit in das Mittelalter hinein die meisten Klöster den Adligen vorbehalten waren. Es wurden zwar auch die sogenannten Laienbrüder (Konversen) aufgenommen, diese wurden aber von den Weihen ausgeschlossen und mussten vor allem die körperlichen Arbeiten verrichten und für den Lebensunterhalt der Mönche und Nonnen sorgen. Auf die Frage an Hildegard von Bingen (gest. 1179), ob sie in ihrem Kloster nur Hochadlige aufnehme und Angehörige niedriger Stände abweise, antwortete sie: Man sperre ja auch nicht Schafe, Ziegen und Böcke zusammen in einen Stall. Eine Vermischung der Stände sei gegen die gottgewollte Ordnung (vgl. Buttinger 2007: 71). Dieser Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Reichtum in den Klöstern und der Verpflichtung auf ein apostolisches Leben löste immer wieder neue Klostergründungen wie im späten Mittelalter die der Bettelorden aus. Diese kritisierten nicht nur die anderen Klöster, sondern auch die Kirche mit ihrem Prunk, stießen dabei aber auf ein recht geteiltes Echo. Hatte Nikolaus II. 1279 es noch als eine Glaubenswahrheit verkündet, dass Jesus und die Apostel nichts besessen hätten, so erklärte sein Nachfolger Johannes XXII. diese Bulle für nichtig (vgl. Buttinger 2007: 83).

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»Heilsaristokratie« (ebd.: 405), die sich von dem christlichen Leben in Kirche und Welt grundsätzlich abhebt.55 Diese beiden Ausprägungen des Christentums können sich nicht gegenseitig ersetzen, sondern sie übernehmen jeweils verschiedene Funktionen: Die Kirche vertritt für alle sichtbar einen universalen religiösen Wahrheits- und Machtanspruch, indem sie versucht, möglichst alle Menschen in die Kirche zu führen und dementsprechend auf die Gesellschaften einzuwirken, während in den Klöstern sich die Kritik an dieser Weltzugewandtheit materialisiert und die Idee eines »wahren« Christentums wachgehalten wird. Die Verweltlichung der Kirche wird durch die spirituelle Macht der Klöster konterkariert beziehungsweise in einem anhaltenden Spannungszustand gehalten. Der eingangs angesprochene Mythos von einem »wahren« Christentum der Urgemeinden und dessen Verfälschung durch die konstantinische Kirche erweist sich nun als eine Form des Ausdrucks des dem Christentum strukturell innewohnenden Spannungsverhältnisses. Denn darin zeigt sich der Widerspruch zwischen einem Ideal rigoroser Jenseitsorientierung und dem Anspruch der Welteroberung im Namen Christi, also einer Spaltung in ein »weltliches« Christentum und in ein weltabgewandtes, in seiner Christusnachfolge konsequenteres und damit »besseres« Christentum.56

55 | Mit der Spaltung in Elite und Masse ist auch in der Struktur des Christentums die oben angesprochene Form der Stellvertreterreligiosität angelegt, nach der diejenigen, die Gott näher stehen, sich für die ferner Stehenden als Fürbittende bei Gott verwenden können. In dem Zusammenhang ist an die Ablasspraxen der römischen Kirche zu erinnern, die Anlass zur Reformation Luthers waren: Es wurde davon ausgegangen, dass viele Heilige und Märtyrer nicht all ihre Verdienste bei Gott eingesetzt hatten, um in den Himmel zu kommen. Es blieb gewissermaßen noch etwas von der Gnade übrig, die der Verwaltung der Kirche anvertraut wurde, die diese wiederum gegen entsprechende Bezahlung an religiös Bedürftige weitergab. Die in dieser Schichtung angelegte Spannung gärt fort. Der Protestantismus versucht sie zu beseitigen, sodass die Mönchsethik zur Laienethik wird. Insofern ist die Entmachtung der Sakramentsverwaltung die revolutionäre Tat des Protestantismus. Er will eine Einheitsethik und letztlich die totale Unterordnung der wichtigsten Lebensordnung unter die religiöse. 56 | Das Spannungsverhältnis setzt sich für den einzelnen Christen in einer Spaltung in eine »äußere« und eine »innere« Welt fort. Und darin sieht der Religions- und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch das entscheidende Merkmal für die Stellung der Christen zur Welt: Sie akzeptieren die soziale Ordnung so, wie sie ist, setzen ihr jedoch eine innere Welt entgegen. Sie verwerfen die Welt und fügen sich dennoch in sie ein. So empfahl Paulus den Gläubigen sich äußerlich der weltlichen Ordnung zu fügen, aber innerlich das Jenseits fest im Blick zu haben – ein Gedanke, der vor allem von Augustinus aufgegriffen und bis zu Luther hin immer weiter ausgearbeitet wurde (Troeltsch 1912/1994: 12).

2. »Das« Christentum – ein widersprüchliches Erbe

R esümee Das Oszillieren zwischen dem Jenseits und Diesseits im Christentum begründet auch eine Doppelstruktur in seiner Moral. Einerseits gilt eine Jenseitsmoral, die das individuelle Streben nach irdischen Gütern verachtet und in der Nachfolge Jesu jenseits aller weltlichen Verpflichtungen mit den Ärmsten der Armen zu leben empfiehlt – und eine Weltmoral, die das Armutsgebot ebenso relativiert, wie sie den Macht- und Herrschaftsanspruch des Christentums legitimiert. Diese Doppelstruktur zeigt sich auch in einer Spaltung der Christenheit in die wenigen Auserwählten, die »Heilsaristokratie« und in das gewöhnliche Kirchen»volk«, das mit vielen Kompromissen in der Welt lebt und nur beten und hoffen kann, dass die heiligen Männer und Frauen sich für sie als Fürsprecher bei Gott verwenden. Die aus dieser Doppelstruktur resultierende Spannung war die ganzen Jahrhunderte über Ausgangspunkt von Reformen und Spaltungen, die Ursache für Klostergründungen und zahllose »Ketzer«-Bewegungen und nicht zuletzt Motiv für die lutherische Reformation. Auch heute bleibt diese Spannung weiterhin Ursache für ständige »Neu«-Erfindungen des Christentums, wie etwa die der Pfingstbewegungen oder auch der Basisgemeinden der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Und sie bleibt Grundlage für den beharrlichen Glauben an ein »wahres« »Ur-«Christentum, der auch in einer säkularen Gesellschaft weiter fortlebt. In der These von der Verfälschung des »Ur-«Christentums durch das Bündnis mit der weltlichen Macht wird das Bild von einem idealisierten Urzustand weitergetragen, dem eine verworfene, sündige Welt gegenübersteht. Dies Bild entstammt selbst der christlich-jüdischen Vorstellungswelt, nämlich der Erzählung vom Paradies, aus dem die Menschen in eine böse, von Mühsal, Schmerz und Gewalt geprägte Welt vertrieben wurden. Denn die Vorstellung von einem »Ur-«Christentum als einem Leben in brüderlicher Gemeinschaft in der Nachfolge Christi nach den Lehren der Bergpredigt ist ein Mythos. Dieser negiert die Pluralität und Differenzen zwischen und in den Gemeinden und unterstellt eine Gemeinschaftlichkeit und einen Gemeinsinn, der nichts von der rigorosen Verurteilung der »Heiden« und vom Ausschluss der Sünder weiß. Ebenso wenig reflektiert er den christlichen Anspruch auf Weltherrschaft, der bereits in der paulinischen Theologie entworfen wird. Vielmehr fallen in der Mystifizierung die Gegensätze zusammen: Jesus ist Diener und Herrscher zugleich. Er ist arm und mächtig. Er steht am Rande und im Zentrum. Diese Vereinigung der Gegensätze macht sicherlich viel von der Faszination dieser Religion überhaupt aus. Tatsächlich aber entfalten sich die Gegensätze im Laufe der Realgeschichte. Um sie zu handhaben, werden die verschiedenen Pole jeweils unterschiedlichen sozialen Orten, Personen und Institutionen

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zugeordnet. So symbolisiert »die« Kirche den Anspruch auf Macht, Universalität und Mission, während Exklusivität und Exzellenz christlichen Glaubens im Mönchstum oder heute in einer solchen Figur wie der von Mutter Teresa symbolisiert wird.57 Die Idee des Dienens, der »Option für die Armen«, die Moral der Bergpredigt lassen sich so mit der eines universalen Machtanspruchs vereinen.58 Die moralische Kraft der frühen christlichen Bewegungen speiste sich aus ihrer Verachtung der Gesellschaft, während das etablierte Christentum von seinem Wirken in der Welt lebt. Es geht also nicht darum ein »wahres« gegen ein »verfälschtes« Christentum auszuspielen, sondern anzuerkennen, dass im Christentum diese beiden Formen strukturell angelegt sind: Alleinvertretungsanspruch und Missionsauftrag beziehen sich auf die ganze Menschheit, während die Bergpredigt sich an eine kleine Gruppe besonders entschlossener Gläubiger richtet. Die Idealisierung des Christentums versucht dieser Doppelstruktur zu entgehen, indem sie sich auf die Elemente stützt, die die »Reinheit« des Christentums jenseits von Exklusivismus und Machtinteressen bezeugen soll. Sie bedient, rekurrierend auf das »Ur-«Christentum, Wunschvorstellungen von einer Gesellschaft in Einheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden. Damit werden aber wesentliche Anteile christlicher Lehre abgespalten und ihre innere Ambivalenz unverständlich. Dann lässt sich zum Beispiel nicht mehr erklären, wie es möglich ist, dass eine Religion der Nächstenliebe in ihrer Geschichte so viel Gewalt ausgeübt hat.

57 | Bedürfnislosigkeit und Selbsthingabe sind Ideale, die selbst in der heutige Zeit ihre Strahlkraft nicht ganz verloren haben, denken wir etwa an die Verehrung, die Mutter Teresa entgegengebracht wurde, einer albanischen Ordensschwester, die sich im indischen Kalkutta um Arme, Obdachlose, Kranke und Sterbende kümmerte und die dafür 1979 den Friedensnobelpreis erhielt. 58 | Die Vorstellung von der Vereinigung dieser Gegensätze nährt jedoch auch Allmachtsphantasien, wie sie Freud generell in seiner Analyse der Funktion von Religion ausgemacht hat.

3. C hristliche Werte – das Spezifische des Christentums?

Was ist gemeint, wenn wir davon sprechen, dass christliche Werte unser kulturelles Erbe bestimmen? Inwiefern können wir von spezifischen christlichen Werten sprechen, was macht das Christliche an diesen Werten aus? Eine fundierte Antwort auf diese Frage nach dem Spezifischen, dem Proprium des Christentums, wie es in der theologischen Diskussion heißt, hat der katholische Moraltheologe Alfons Auer in seinem Werk Autonome Moral und christlicher Glaube (vgl. Auer 1989) gegeben, das als Standardwerk der modernen Moraltheologie gilt. Es soll Ausgangspunkt für die Überlegungen zur christlichen Ethik sein.

C hristliche E thik aus christlicher S icht Der zentrale Wert der christlichen Religion ist die Nächstenliebe. Das sahen bereits die frühen Christen so, hatte doch Jesus selbst davon gesprochen, dass es die gegenseitige Liebe ist, die Christen von anderen unterscheide, denn daran könne man erkennen, »dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt« (Joh 13, 34-35). Dennoch ist dies Gebot, wie Alfons Auer feststellt, kein Alleinstellungsmerkmal des Christentums (vgl. Auer 1989), denn das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe finden wir bereits in den prophetischen Schriften, etwa im 2. Jahrhundert vor Christus. Dort heißt es etwa bei Issachar: »Liebe den Herrn und deinen Nächsten« (ebd.: 85). Aber nicht nur hier, sondern in so gut wie allen Kulturen finden wir dies Gebot auf irgendeine Weise. Deshalb wird es auch als die »goldene Regel« bezeichnet (vgl. Küng 2000: 140). Die Goldene Regel ist, wie Auer formuliert, »aus einer langen Überlieferung auf Jesus gekommen«. Jesus habe hier »das ewige Postulat der Menschheit, das durch das Alte Testament und durch die Geschichte anderer Sittenlehren und Philosophien in ähnlicher Weise hindurchgehende ›Ceterum

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Censeo‹ aller großen Morallehren wiederholt« (Auer 1989: 84).1 Denn die goldene Regel »[…] findet sich quer durch die ethische Literatur der Antike und erscheint damit als eine Grundforderung sittlichen Lebens, die auf einer bestimmten Stufe der sittlichen Bewusstseinsbildung überall als etwas allgemein Gültiges und Unverzichtbares eingesehen werden kann. Die Goldene Regel ist die Spitzenformel der humanistischen Moral, […] die seit etwa 800 ante mehr oder weniger spontan in den verschiedenen Kulturzentren der Alten Welt auftaucht (Griechenland, Schantung, Hindustan, Ninive, Ägypten) und seitdem in mannigfachen Abwandlungen durch die Geschichte der Menschheit geht« (ebd.: 89).

Auch die Werke der Barmherzigkeit, die Jesus eindringlich von seinen Jüngern fordert, sind in der jüdischen Ethik wie auch im Islam vorgeschrieben. Das ägyptische Totenbuch kennt ebenfalls die Speisung Hungriger, die Bekleidung Nackter und die Unterstützung Verfolgter. Buddha fordert seine Mönche zur Krankenpflege auf und Epiktet möchte vom Tod am liebstem bei einem Werk der Menschlichkeit überrascht werden. Insofern, so Auer, lehrt Jesus (wie auch Paulus) nichts Neues, sondern beide greifen nur die herrschende Ethik auf (vgl. ebd.: 90). Das Spezifische des Christentums sieht Auer jedoch in dem Nachdruck, den das Christentum auf diese Ethik gelegt hat. Denn die Nächstenliebe wird zum Hauptgebot gemacht. Ihre zentrale Bedeutung wird untermauert durch die Begründung und Gleichsetzung der Nächstenliebe mit der Gottesliebe. Damit bekommt sie nach Auer einen streng »transzendenten«, »religiös-missionarisch-eschatologischen« Charakter (vgl. ebd.: 86).2 Dabei wird die Nächstenliebe wichtiger als jede kultische Gottesverehrung, da sie als Ausdruck der inneren Beziehung des Gläubigen zu Gott verstanden wird. So verschiebt dies Gebot den Fokus von der Handlung hin zur inneren Einstellung. Die christliche Formulierung der Nächstenliebe basiert also auf einer Theozentrik und führt zu einer Verinnerlichung von Religiosität. Die Liebe wird im Christentum zu einem Programm universaler Sittlichkeit. Somit wird sie nach Auer universalisiert und bezieht sich etwa im Gegensatz zum Judentum nicht nur auf die Mitglieder der eigenen Gruppe. Neu ist 1 | Vgl. auch im Judentum: »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Thora, und alles andere ist nur Erläuterung«, so der gelehrte Hillel von Babylonien Anfang des ersten Jahrhunderts. Ebenso gilt das Gebot im Levitikus: »Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (19,13, zit.n. Armstrong 2008: 74). 2 | Ähnlich sieht dies etwa auch der Neutestamentler Gerd Theißen, der das Neue des Christentums in diesem Doppelgebot sieht, bei dem die Liebe zu Gott und dem Nächsten ins Zentrum gerückt und zusammengebunden wird (Theißen 2000: 105).

3. Christliche Wer te – das Spezifische des Christentums?

dies allerdings auch nicht, da zum Beispiel die Stoa ebenfalls die Forderung der Menschenliebe auf alle Menschen bezog, dies jedoch mit der allen Menschen zukommenden Weltvernunft begründete. Insofern liegt der Unterschied zwischen Stoa und Christentum darin, dass in der stoischen Philosophie die Liebe anthropozentrisch bleibt, da der Mensch hier Maß und Ziel bleibt, während sich die Liebe im Christentum in Gott gründet. Was das Christentum jedoch gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen auszeichnet, ist die Radikalisierung der Nächstenliebe hin zur Feindesliebe. Auch Jesus sieht darin das besondere Kennzeichen der Christen. So heißt es bei Matthäus: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben, doch deinen Feind magst du hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. […] Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist« (5,43-48). 3

Aber, wie Auer weiter ausführt, auch das ist nicht unbedingt ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums, denn auch andere Weise wie etwa Laotse forderten: Feindschaft vergilt mit Liebe. Dennoch wird vielfach die Feindesliebe auch in der heutigen Zeit als das Spezifische des Christentums angesehen. So etwa auch von Kardinal Walter Kasper, einem Mitglied der päpstlichen Glaubenskongregation. Für ihn ist die Feindesliebe eines der zentralsten christlichen Gebote, das »im innersten Wesen des christlichen Mysteriums verwurzelt ist und deshalb ein Spezifikum christlichen Verhaltens darstellt«. »Nach Meinung der Kirchenväter«, so fährt er fort, »ist dies Gebot ein christliches Proprium und Novum, sowohl gegenüber dem Alten Testament wie gegenüber der heidnischen Philosophie. Der zweite Clemensbrief sagt: ›Wer seine Hasser nicht liebt, ist kein Christ‹« (Kasper 2012: 140).

Die Feindesliebe gehe, so Kasper, »über alles menschliche Maß hinaus« und sei Ansporn dazu vollkommen zu sein, wie auch der Vater im Himmel vollkommen ist (ebd.: 138). In dieser Radikalität sieht auch Auer das Spezifische des Christentums (Auer 1989: 91). Das gilt nicht nur für das Gebot der Feindesliebe, sondern auch in Bezug auf die Sexualmoral. Auch hier wird fast Menschenunmögliches verlangt: So gilt zum Beispiel nicht allein der Ehebruch 3 | Vgl. auch Mt 18,22 (70mal siebenmal vergeben).

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als verwerflich, sondern bereits die Begehrlichkeit, der »lüsterne« Blick und die ehebrecherische Gesinnung. Küng formuliert das so: »Gott will nicht nur das Äußere, sondern auch das unkontrollierbare Innere – des Menschen Herz« (Küng 1994: 81 – Hervorhebung B.R.). Als Jesus auch die Wiederverheiratung nach einer Scheidung verbietet, wenden die Jünger ein, dann sollte man am besten gar nicht heiraten. Darauf erwidert Jesus: »Nicht alle fassen dieses Wort, vielmehr nur jene, denen es gegeben ist« (Mt 19,10). Hier drückt sich die im vorigen Kapitel angesprochene Doppelstruktur der Moral aus, denn es sind auch für Jesus nur wenige, denen es gegeben ist, einer solchen Moral Folge zu leisten. Auch beim Gleichnis Jesu von dem Reichen, der eine geringere Chance habe in den Himmel zu kommen als ein Kamel durch ein Nadelöhr, waren, wie es bei Matthäus heißt, die Jünger entsetzt und fragten: »Ja, wer kann dann selig werden?« (19,25). Und Jesus gab zu, dass dies im Grunde unmöglich sei und sagte: »Bei den Menschen ist es freilich unmöglich; jedoch bei Gott ist alles möglich« (Mt 19,26). Mit diesen Worten will Jesus, nach Auer, seine Hörer für die Botschaft öffnen, dass Gerechtigkeit nicht durch Menschen entstehe, sondern durch Gott (Auer 1989: 91). Das heißt, der Mensch ist nicht in der Lage diese moralischen Ansprüche zu erfüllen. Deshalb ist er auf die Gnade Gottes angewiesen, der allein ihn von seiner Schuld erlösen kann. Über die Radikalität der Ethik in Bezug auf Besitz, Sexualität und Feindesliebe hinaus ist ein wesentliches Merkmal des Christentums nach Auer auch seine Orientierung auf eine Zukunft hin, auf das Kommen des Reiches Gottes. Das Hinstreben zum Gottesreich gibt dem Christentum seinen heilsgeschichtlich-eschatologischen Charakter, der, »wenn der Christ seinen Auftrag ernst nimmt, ihn völlig aus den normalen menschlichen Bindungen herausrufen kann« (ebd.: 97). Denn »[a]lles, was Jesus ist, tut und spricht, wird letztlich erst vom Kommen des Reiches her voll verstehbar; alles steht im Zusammenhang mit seiner eschatologischen Botschaft« (ebd.: 102). Insofern ist für Auer dieser heilsgeschichtlich-eschatologische Sinnhorizont der Kern der jesuanischen Ethik. Und diese Ethik ist theozentrisch, das heißt, allein in der vollkommenen Liebe Gottes des Vaters im Himmel begründet.4 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Christentum in Bezug auf die Inhalte seiner Moral nicht von anderen Religionen und Weltanschauungen unterscheidet. Das gilt auch für die Kernforderung des Christentums, die Nächstenliebe. Der Unterschied zu anderen Religionen liegt jedoch darin, 4 | So schreibt auch Ernst Troeltsch über die Grundzüge der Ethik Jesu: »Die Hauptsache ist, dass dies ethische Ideal absolut durchdrungen ist von dem religiösen Gedanken der den Menschen innerlich durchschauenden und im Gewissensgebot an sich heranziehenden Gottesgegenwart und von dem Gedanken eines in der Selbstopferung für Gott zu gewinnenden unendlichen und ewigen Wertes der Seele« (1994/1912: 36).

3. Christliche Wer te – das Spezifische des Christentums?

dass das Christentum dieser einen zentralen Stellenwert beimisst und sie bis hin zur Feindesliebe radikalisiert. D.h. wir finden zwar das Gebot der Nächstenliebe und zuweilen das der Feindesliebe auch in anderen Religionen, aber keine hat es so sehr ins Zentrum gestellt und dabei zu einem Zeichen der Verbundenheit mit Gott gemacht. Das Proprium der jesuanischen Ethik, so fasst Auer zusammen, liegt in ihrer Radikalität, der Theozentrik, der Verinnerlichung, der Konzentration auf die Zukunft und der Universalität (vgl. ebd.: 92). Diese jesuanische Ethik ist, wie wir sahen, die Ethik der ersten Jesusgemeinden, von Gemeinden, in denen sich Menschen zusammenfanden, die sich von der Welt abwandten, weil sie von der unmittelbaren Wiederkunft Gottes überzeugt waren. In diesem Sinn ist sie eine, wie auch Auer es nennt, eschatologische Moral, eine Moral, die auf die »letzten Dinge«5 abzielt. Je mehr jedoch diese Jenseitsorientierung zurücktritt und die Menschen den üblichen Anforderungen einer Gesellschaft gerecht werden wollen und müssen, desto größer wird die Diskrepanz zwischen dieser Moral und den realen Lebensbedingungen, desto »radikaler« und unerfüllbarer die Ansprüche dieser Moral.

C hristliche R adik alität  – eine » unmögliche « M or al? Die Feindesliebe gehe, so Kasper, »über alles menschliche Maß hinaus« und sei Ansporn dazu, vollkommen zu sein, wie auch der Vater im Himmel vollkommen ist (ebd.: 138). Selbst Jesus gab zu, dass die Erfüllung seiner radikalen Forderungen in Bezug auf Besitz, Sexualität und Feindesliebe im Grunde unmöglich sei. Die Frage ist, was bewirkt eine solche Moral? Was bedeutet es, wenn Forderungen aufgestellt werden, die im Grunde niemand erfüllen kann? Welche Auswirkungen hat dies auf das Zusammenleben der Menschen, auf die Gesellschaft und die zwischenmenschlichen Beziehungen?

Feindesliebe und Mitmenschlichkeit Hannah Arendt kommt in ihrer Dissertation, in der sie sich mit dem Liebesbegriff bei Augustinus befasst, zum Schluss, dass die Feindesliebe nur möglich ist, wenn man den anderen nicht in erster Linie als Feind, sondern als Gottes Geschöpf wahrnimmt (vgl. Arendt 1929). Wenn man also in dieser Liebe über 5 | Eschatologie bedeutet, bei allem Handeln an das Ende zu denken (gr. ta eschata). Inhaltlich geht es um die Lehre der »letzten Dinge«, um Tod, Himmel, Hölle, jüngstes Gericht und, auf die Menschheit insgesamt bezogen, um das Ende der Welt, den Jüngsten Tag, das Weltgericht. Sie thematisiert die Frage, ob die Endzeit zu erwarten ist als Wiederkunft Christi (Parusie) oder ob die Jetztzeit als Endzeit zu verstehen ist (vgl. Ebertz 2008: 142).

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ihn hinaus zu Gott greift, »in dem allein seine Existenz und seine Liebe ihren Sinn hat« (ebd.: 71). Der andere Mensch wird zum Anlass für die Liebe zu Gott: »Die Stärke der Liebe bewährt sich gerade darin, auch den Feind, auch den Sünder in der Liebe nur als Anlass zu verstehen« (ebd.: 72). Aber, so fragt sie weiter, welcher Liebesbegriff liegt hier vor, wenn die Beziehung zum Nächsten allein mit dem Blick auf Gott eingegangen wird? Und sie schreibt: »Damit verliert der Andere, der Nächste, seinen in seiner konkreten weltlichen Existenz liegenden Sinn« (ebd.: 69). Und weiter: »Die an ihren eigenen Ursprung gebundene creatura liebt den Anderen weder um seiner selbst willen, noch um ihrer selbst willen, d.h. die dilectio proxima (Nächstenliebe) läßt das liebende Selbst in der absoluten Isolierung« (ebd.  – Hervorhebung B.R.). Diese Liebe stiftet keine Beziehung, sie entfremdet die Menschen voneinander, denn: »Ich liebe nicht einfach ihn (den Nächsten), sondern etwas in ihm, das gerade, was er selber von sich her nicht ist« (ebd.: 70f.). Der Philosophiehistoriker und Augustinusforscher Kurt Flasch geht noch einen Schritt weiter. Er spricht nicht nur von Entfremdung, sondern davon, dass eine solche Theozentrik die mitmenschlichen Beziehungen zerstöre. Er stützt sich dabei ebenfalls auf die Schriften des Kirchenlehrers Augustinus und schreibt: »Mit spontaner Zuwendung, Würde der Person hat der augustinische Begriff von Liebe nichts zu tun. Liebe bei Augustin ist der Willensakt, sich aus allem Vergänglichen herauszulösen und dem Unvergänglichen anzuhangen; sie stellt eher eine gewaltsame Abwendung von Gefühl und ästhetischem Zauber dar.« (Flasch 2003: 136)

Grund der zerstörerischen Kraft ist hier die Funktionalisierung des Anderen für die eigene Gottesbeziehung. Die andere Person kann nur als Mittel zum Zweck angesehen werden, da »Augustin nur Gott als Selbstzweck anerkennt. […] Diese Instrumentalisierung des eigenen und jeden fremden Lebens zerstört die Erfahrung eines anderen Menschen als Person« (ebd.: 135). Indem man den anderen Menschen für die eigene Erlösung gebraucht, findet nach Flasch eine radikale Versachlichung statt. Und so wird eine Theologie der Liebe verhindert: »Wir dürfen den anderen Menschen nur lieben, sofern dies auf die ewige Seligkeit bezogen ist. […] Der frühe Augustinus wusste jedoch noch: ›Liebe heißt nichts anderes als eine Sache um ihrer selbst willen zu begehren‹« ebd.: (136). Jetzt aber soll um seiner selbst willen nur Gott geliebt werden, »denn er allein ist die Sache des Genusses. Alles übrige, auch das eigene Selbst, ist ›propter aliud‹, nämlich wegen Gott zu lieben und deshalb auch nicht unmittelbar zu genießen« (Ruhstorfer 2004: 284). Die Radikalität der christlichen Ethik besteht demnach in der Priorisierung des Gottesbezugs vor dem Bezug zu den Menschen. Man soll den Nächsten lieben, weil Gott ihn liebt, man soll dem Feind vergeben, weil Gott vergibt.

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Nicht das Befinden des Anderen, nicht die Beziehung zu ihm/ihr, nicht die sozialen Konsequenzen des Handelns sind entscheidend, sondern ob sich darin eine Hinwendung zu Gott zeigt. Daher ist die Liebe zum Nächsten, so schreibt etwa Kardinal Kasper, nicht in erster Linie eine Frage der Moral, sondern »des Christusglaubens, der Christusnachfolge und der Christusbegegnung« (Kasper 2012: 149). Das bedeutet, dass die Spannung zwischen der Funktionalisierung des Anderen für das eigene Heil und der Beziehung zum Anderen als Selbstzweck6, in der jesuanischen Ethik in Richtung Theozentrik aufgelöst wird.

Theozentrik Mit der Theozentrik lässt sich erklären, dass die jesuanische Moral geradezu Unmenschliches verlangen kann, wenn sie etwa fordert, Vater und Mutter zu hassen, um Jesu nachzufolgen. »Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger seien« (Lk 14,26).7 Hier richten sich die Forderungen direkt gegen die Mitmenschlichkeit. Auer erklärt: »Wenn der Christ seinen Auftrag ernst nimmt, (kann) er ihn völlig aus den normalen menschlichen Bindungen herausrufen« (Auer 1989: 97 – Hervorhebung B.R.). Denn: »Alles, was Jesus ist, tut und spricht, wird letztlich erst vom Kommen des Reiches her voll verstehbar; alles steht im Zusammenhang mit seiner eschatologischen Botschaft« (ebd.: 102). Insofern ist für Auer dieser heilsgeschichtlich-eschatologische Sinnhorizont der Kern der jesuanischen Ethik. Das Problem dabei ist allerdings, dass genau dies für das Zusammenleben problematisch sein kann, denn es führt die Menschen eher voneinander fort, als dass es sie zusammen bringt. Das ist auch das Argument von Hannah Arendt, dass ich nur dann den Feind lieben kann, wenn ich in ihm nicht eigentlich meinen Mitmenschen, sondern ein Zeichen für die Anwesenheit Gottes sehe. 6 | Vgl. dazu Kants »Selbstzweckformel« als Teil des kategorischen Imperativs: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (Kant 2004: 79). 7 | Ähnlich Mt 10,34-39: »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.«

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Damit löse ich mich aus der unmittelbaren mitmenschlichen Beziehung und suche in ihr die Christusbegegnung. Dieser christliche »Liebes-Absolutismus« (Niebuhr 1979: 30) fragt nicht nach den sozialen Konsequenzen seines an Gott ausgerichteten Handelns. So wäre, worauf bereits die paganen Philosophen hingewiesen haben, die Feindesliebe für das gesellschaftliche Zusammenleben desaströs, unterläuft sie doch jegliche Rechtsordnung und lässt den Verbrecher ungestraft agieren. Tatsächlich kann die Feindesliebe, wie Auer zugesteht, aus weltlicher Sicht »töricht« sein. Umso mehr muss seiner Meinung nach gesehen werden, dass sie nur dort möglich ist, wo sie in der – allem menschlichen Tun vorgängigen – Liebe Gottes ihren Ursprung hat (Auer 1989: 88). Insofern ist diese theozentrische Moral wie ein zweites Koordinatensystem, das über die Moral zwischenmenschlicher Beziehungen gelegt wird. Dabei generiert sie Orientierungen, die einem gedeihlichen Zusammenleben zuwider laufen. Deshalb schreibt Niebuhr, dass es eine Illusion sei anzunehmen, dass die christlichen Moral eine vernünftige und ein mögliche Moral sei (ebd.: 37). Die »Unvernunft« dieser Moral zeigt sich im konkreten Zusammenleben der Menschen vor allem in Bezug auf ihre Verantwortung füreinander  – wie dies an der Differenz zwischen Schuld und Sünde deutlich wird. Im Fall der Sünde ist man nicht den Menschen, sondern Gott gegenüber verantwortlich. Man hat ihm gegenüber Reue zu zeigen und Buße zu tun und nicht dem anderen Menschen gegenüber eine Schuld gut zu machen.

Sünde versus Schuld Die Sünde ist, wie der Religionswissenschaftler Franz Xaver Kaufmann erklärt, ausschließlich als Verfehlung vor Gott, nicht vor den Mitmenschen zu verstehen. Und er führt weiter aus: »Die katholische Moraltheologie kennt den Begriff der Schuld nicht, sondern nur den der Sünde […] im Sinne eines bewussten Verstoßes gegen die von der Kirche ausgelegte göttliche Ordnung. Die kirchliche Moral deckt sich weder mit dem säkularen Strafrecht noch mit der herrschenden gesellschaftlichen Moral.« (Kaufmann 2011: 162f.)

Am Beispiel der in den letzten Jahren bekannt gewordenen sexuellen Gewalt katholischer Priester gegenüber den ihnen Anvertrauten erläutert Kaufmann, wie groß die Kluft zwischen kirchlicher und säkularer Moral ist.8 Am Umgang der Kirche mit diesen Verbrechen könne man ein deutliches Auseinanderdriften zwischen binnenkirchlicher und säkularer Perspektive von Gut und Böse beobachten. So ist aus christlicher Sicht nach Kaufmann »eine 8 | Erzbischof Zollitsch (der derzeitige Vorsitzende der Deutschen Bischofkonferenz) sprach von der »schwersten Kirchenkrise seit Kriegsende« (zit. in Kaufmann 2011: 163).

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Wiedergutmachung den Opfern gegenüber keine notwendige Sühne«, denn die Sünde »kann kirchlicherseits durch die Beichte gesühnt werden« (ebd.: 164). Das heißt, mit der Beichte werden die Vergehen Gott gegenüber bekannt und ihm gegenüber bereut, und er ist es auch, der diese Sünden vergibt. In dem Zusammenhang spricht Kaufmann von einer »moralischen und institutionellen Parallelwelt« (ebd.: 164), die die in der Gesellschaft üblichen Formen der Bewertung und Verurteilung nicht anerkennt. Das zeigte sich auch darin, dass die Kirche im Regelfall die Straftäter in andere Gemeinden versetzte, was häufig die Fortführung der Verbrechen ermöglichte. Diese unverantwortliche Reaktion der Kirchenleitung lässt sich nach Kaufmann damit erklären, dass das Selbstverständnis der Kleriker als Stellvertreter Christi es ihren Vorgesetzten nicht ohne weiteres erlaube, diese vom Dienst zu suspendieren und den weltlichen Straf behörden zu übergeben. Was das für die Opfer von Gewalt bedeutet, schildert ein Betroffener in einem Interview des Westdeutschen Rundfunks: Der Befragte bezeichnet den sexuellen Missbrauch durch einen Priester als einen »katholischen« – katholisch in dem Sinn, dass, wie er sagt, »der Begriff der Sünde im Grunde dem Priester die Möglichkeit verstellt, das Opfer zu sehen, die Möglichkeit, Empathie zu empfinden für das, was passiert ist«. Der Geistliche mache seine Verfehlungen »mit seinem Gott aus« mit der Konsequenz, dass zwar die einzelnen Priester ihre Sünden aufarbeiten mögen, jedoch ohne zu sehen, »was sie an Zerstörung an uns angerichtet haben«.9 Damit wird die Folge einer Theozentrik deutlich, bei der der sündige/schuldige Mensch nicht dem anderen Menschen, sondern Gott gegenüber verantwortlich ist. Ein weiteres markantes Beispiel für die Kluft zwischen der Verantwortung den Menschen und Gott gegenüber ist die Art und Weise der Aufarbeitung des Nationalsozialismus durch die Kirchen. Damals hatte die evangelische Kirche in ihrer berühmten Stuttgarter Erklärung (Oktober 1945) eingestanden, dass sich auch Protestanten schuldig gemacht hätten. Sie bekennen, dass durch sie »viel Leid über viele Völker und Länder gebracht worden ist«. Ihre Schuld sehen sie aber vor allem darin, »daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben« (zit. in Greschat 1982: 102). Der Nationalsozialismus gilt hier vor allem als Folge einer Abwendung von Gott. Man habe sich versündigt und sich der Gottlosigkeit gebeugt, wie etwa die Spandauer Bekenntnissynode (Juli 1945) schreibt. Deshalb habe das Volk nicht rechtzeitig die ihm drohende Gefahr erkannt und sich ihr nicht widersetzt. Wenn die eigene Schuld in erster Linie als Sünde, also als eine Verfehlung gegenüber Gott verstanden wird, dann muss sie auch vor allem ihm gegenüber bekannt werden. Und an ihm ist es, sie zu vergeben. So schrieb damals 9 | Cantzen, R. WDR 24.3.2013.

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der renommierte Theologe Helmut Thielicke: Indem »die Schuld ins Licht vor Gottes Angesicht gezogen wird«, vollzieht sich das »Wunder der realistischen Vergebung Gottes, daß sie angesichts der voll beleuchteten Schuld geschieht und daß die Liebe Gottes sich hier behauptet« (zit. in ebd.: 167).10 Damit wurde die Frage der Schuld zu einer inneren Angelegenheit gemacht, die der einzelne wie auch die Kirche mit »ihrem« Gott ausmachen sollten. Es galt nun, in sich zu kehren und sich mit seinem Schöpfer auszusöhnen.11 Greschat fasst die Konsequenz der damaligen Diskussionen so zusammen: »Das sollte überhaupt die Aufgabe der Deutschen in der Zukunft sein: ganz und ausschließlich und bedingungslos für Christus zu leben, allein im Dienste Gottes und nicht in dem Vielerlei der konkreten Nachkriegsauflagen. […] Das war die Folge eines Ansatzes, der wohl das Bekenntnis der Sünde und Schuld Gott gegenüber forderte, aber alle konkreten – und erst recht alle politisch konkreten – Folgerungen daraus gegenüber dem Mitmenschen als letztlich irrelevant beiseite schob« (Greschat 1982: 123).

Auch in den Stellungnahmen der verschiedenen Synoden neigte man dazu, wie Greschat schreibt, Schuld allein als Schuld vor Gott zu verstehen und dementsprechend in der Umkehr zu Gott, in der erneuten Hinwendung des Volkes zur Verkündigung und zum Leben der Kirche überhaupt die entscheidende Wende zu sehen (ebd.: 217).

10 | Demgegenüber gelte es gerade nicht, sich vor der Welt zu bekennen, denn hier würde das Bekenntnis missbraucht »Denn dort, wo die Schuld wirklich ernst genommen wird, hört das öffentliche Reden auf.« (ebd.: 166) Hingegen ist »Gott der einzige, unter dessen Augen wir uns nicht wegwerfen, wenn wir die Schuld bekennen, sondern wo wir allererst die eigentliche Würde bekommen, nämlich die Würde der Gotteskindschaft.« Und er folgert: »Treten wir also unter die Augen, die nicht nur zu durchschauen, sondern auch zu heilen vermögen« (ebd.). Greschat fasst die Reaktionen der Mehrzahl der Kirchenvertreter und christlichen Laien auf die Stuttgarter Erklärung folgendermaßen zusammen: »Alles Reden über Schuld gehörte vor Gottes Angesicht, nicht vor die gierigen Ohren der Welt; andere Christen mochten Zeugen eines derartigen Bekenntnisses sein, aber gegenüber allen anderen Menschen und erst recht gegenüber den Siegern geboten Ehrgefühl und männliche Selbstachtung Stillschweigen« (ebd.: 157). 11 | So schrieb etwa Hans Asmussen, der damalige Vorsitzende des Bruderrates der EKD: »Die Christen in Deutschland beten darum, dass sich das deutsche Volk zu Christus wendet. Sie sehen sogar in dem trüben Augenblick eine gnädige Stunde der Heimsuchung. […] Die Entscheidung heißt ganz einfach: Das Nichts oder Christus.« Was alles in diesem trüben Augenblick zu machen sei, kann gar nicht aufgezählt werden, so fährt er fort, »aber all diesem hat die Kirche nur eines entgegen zu setzen, den Dienst an Christus« (zit. in ebd.: 142).

3. Christliche Wer te – das Spezifische des Christentums?

Der Kirche ging es also angesichts der ungeheuren Verbrechen vor allem darum, ihr Verhältnis zu Gott neu zu klären, da sie davon ausging, dass die Abwendung von Gott zu ihrem moralischen Versagen geführt habe. Aus dem Blick verschwand dabei – das gilt zumindest für jene Zeit – die Verantwortung, die die Kirchen gegenüber den Menschen hatten, die im Nationalsozialismus verfolgt und getötet wurden.12 Aus säkularer Perspektive muss dies als Ausweichen in die Verinnerlichung interpretiert werden, als eine Form der Verantwortungslosigkeit im Gefolge der Theozentrik, wie dies auch in Bezug auf den Umgang mit der sexuellen Gewalt heute der Fall ist. Die Konzentration der Christen auf den Gottesbezug im Gegensatz zur Verantwortung gegenüber den Menschen und der Gesellschaft hat also, wie bereits die antiken Kritiker befürchtet hatten, durchaus problematische Folgen.13 So waren beide christlichen Kirchen in der Nachkriegszeit in Deutschland keine Vorreiter in Sachen Aufarbeitung der Verbrechen, vielmehr setzten sie sich, wie wir noch genauer sehen werden (Kap. 6), in erster Linie für das Wiedererstarken der Kirchen als moralischer Instanz und für die Verfestigung kirchlicher Macht in der neuen BRD ein. Die im vorigen Kapitel aufgezeigte Doppelstruktur des Christentums in Form eines jenseitsorientierten Asketismus und einer weltzugewandten universalen Kirche setzt sich in einer Moral fort, die sich einerseits an den anderen Menschen und der irdischen Welt und zum anderen an Gott und dem kommenden Reich orientiert. Je mehr das Jenseits in den Vordergrund rückt, desto »radikaler« wird diese Moral. Radikal bedeutet in dem Zusammenhang, dass sie sich nicht mehr an den menschlichen Bedürfnissen und auch nicht an seinen Fähigkeiten ausrichtet. Sie fordert, von irdischen Interessen zu lassen und alle Menschen, auch die Feinde, zu lieben. Diese Moral der Feindesliebe entfremdet jedoch die Menschen voneinander, denn eine solche Liebe ist nur möglich, wenn man im Anderen nicht so sehr den Menschen, sondern vor allem Gott zu sehen lernt. So kann sie auch die mitmenschlichen Beziehungen zerstören, wenn diese für das Jenseits funktionalisiert werden. Jesus 12 | Auch fragten die christlichen Kirchen nicht, was die Erfahrung des Nationalsozialismus für die christliche Theologie bedeutet. Denn diese hatte vor allem darin versagt, dass sie, wie Susannah Heschel formuliert, keine Mechanismen zur Verfügung hatte, die fähig gewesen wären, die Exzesse des Naziregimes für unchristlich zu erklären. Vielmehr hat sich das Christentum als eine Religion erwiesen, die die nationalsozialistische Gesellschaft, ihre politischen Strukturen und ihre intellektuellen Diskurse bestätigt hat (Heschel 2001: 100). 13 | Heute zeigt sich diese mangelnde Verantwortung gegenüber der Aufarbeitung von Schuld in der katholischen Kirche in der Weigerung des Vatikans, die Verfolgung von Kriegsverbrechern aus dem jugoslawischen Nachfolgekrieg zu unterstützen, die in katholischen Klöstern Zuflucht gefunden hatten (vgl. Šešerko 2012: 163).

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verlangt »Unmögliches« von den Menschen, wenn er sie auffordert, »aus der Beziehung zu den Mitmenschen heraus zu treten«, wenn man ihm nachfolgen möchte. Je mehr diese aufs Jenseits ausgerichtete Ethik bestimmend wird, desto mehr wird auch die Verantwortung gegenüber den anderen Menschen durch die Verantwortung gegenüber Gott ersetzt. Sie führt also  – nach den Maßstäben einer säkularen Moral – in die Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen und der Gesellschaft. Erklären lässt sich dies Desinteresse am anderen Menschen mit einer radikalen Jenseitsorientierung, wie sie in den frühen Jesusbewegungen vorzufinden war. Jesus machte keine Kompromisse mit der Welt. Nicht nur Besitz schloss von der Erlösung aus, sondern die Nachfolger Jesu sollten sich auch von der Sorge um elementare Lebensbedürfnisse frei machen.14 Gerd Theißen erklärt diese Radikalität als Ausdruck der spezifischen Situation der Wandercharismatiker zur Zeit Jesu, also von Predigern, die von Ort zu Ort wanderten, um ihre Vision vom ewigen Heil zu verkünden. Sie lebten völlig bedürfnislos und konnten sich in der Regel auf die materielle Unterstützung der Menschen verlassen, die sich von ihren Predigten überzeugen ließen (vgl. Theißen 2000: 142f.)15 In einem solchen Kontext macht es auch Sinn, von den Jüngern die Suspendierung jeglicher familiärer Bindungen und persönlicher Interessen zu verlangen. Dies radikale jesuanische Ethos wurde jedoch, wie bereits mehrfach erwähnt, nach der ersten charismatischen Phase des Christentums nicht aufgehoben, sondern lebt als Ausdruck des »eigentlichen« Christentums weiter fort. Das Problem ist also, dass die Radikalität der christlichen Moral auch in einem gesellschaftsorientierten Christentum weiterhin Geltung beansprucht, ja geradezu als das Besondere, das Spezifische des Christentums gilt. Diese Radikalität führt aber im gewöhnlichen Miteinander nicht zu einem Mehr an Mitmenschlichkeit und gegenseitiger Verantwortung, sondern im Gegenteil zu einer Distanzierung der Menschen voneinander, da zwischen sie gewissermaßen die Beziehung zu Gott als ihrem »eigentlichen« Zweck tritt. Damit können die Anderen nicht nur für die eigene Gottesnähe funktionalisiert werden, sondern die mitmenschlichen Beziehungen können so entwertet werden, dass für sie keine Verantwortung mehr übernommen wird. Im Gottesbezug 14 | Die Jünger wurden aufgefordert, sich nicht um Essen und Kleidung zu sorgen. Sie sollten wie die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde darauf vertrauen, dass Gott für ihre Bedürfnisse sorgen würde. Sorgen sollten sie sich allein um das »Reich Gottes«, denn dann würde ihnen alles andere dazu gegeben werden (Mt 6,25ff.). 15 | Dementsprechend ist nach Theißen dies radikale Ethos auf die jesuanische Verkündigung beschränkt. Bereits Paulus entwickelte ein deutlich moderateres Ethos, das mehr auf die Menschen innerhalb der Gesellschaft zugeschnitten war. Ein jeder solle in seinem Stand bleiben, in den er berufen wurde (1Kor 7,17.20.24; vgl. auch 1Thess 4,11).

3. Christliche Wer te – das Spezifische des Christentums?

als dem primären Grund von Mitmenschlichkeit liegt also auch die Verführung zu Verantwortungslosigkeit. Die Orientierung am Jenseits hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch auf das grundlegende Verständnis von Welt und Gesellschaft.

Gottesliebe und Weltverachtung Schon die Annahme, dass die Welt durch einen Gott geschaffen wurde, relativiert und entwertet die Welt, so die These des Philosophen Karl Löwith (Löwith 2004/1953).16 Denn wo immer die Schönheit der Welt gepriesen wird, wird sie es nicht um ihrer selbst willen, sondern im Durchblick auf ihren unsichtbaren Schöpfer. Diese Annahme eines Schöpfergottes ist für ihn der entscheidende Unterschied der jüdisch-christlichen Weltauffassung zu der der Antike. Denn »die Bibel beginnt nicht wie die griechische Physik und Metaphysik mit dem Erstaunen vor dem ersichtlichen Wunderbaren, sondern mit dem Glauben an ein unsichtbares Wunder: der Schöpfung des Seins aus dem Nichts«. Bei der Schöpfung handle es sich nicht um die Wahrheit der Welt, sondern um die Wahrheit ihres allmächtigen Schöpfers: »Die Bibel kennt keinen griechischen Kosmos, der an ihm selbst eine sichtbare Wahrheit ist, und ein Satz wie der des Anaxagoras, dass der Mensch geboren sei, um die Sonne, den Mond und die Sterne zu beschauen, ist unvereinbar mit dem Geist der biblischen Schöpfungslehre« (ebd.: 69).

Die reale Welt wird zum bloßen Schein herabgesetzt und damit normativ entwertet.17 Diesen Gedanken der Entwertung der Welt durch die Annahme eines Schöpfergotts greift in der aktuellen Diskussion auch Jan Assmann auf (vgl. Assmann 2002). Er spricht von der Ausbürgerung des Heiligen aus der Welt, denn das Heilige sei im Monotheismus einerseits in die Transzendenz und andererseits in die Schrift ausgewandert. Das führt seiner Meinung nach zu einer grundlegenden Umlenkung der Aufmerksamkeit. Diese war ursprünglich auf die Erscheinungen dieser Welt und das in ihnen sich zeigende Heilige 16 | Dies ist auch die These von Hannah Arendt, allerdings in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen; siehe die Ausführungen oben. Vgl. auch das Konzept Nietzsches von der »Hinterwelt«. 17 | So warnte etwa Augustinus vor der Neugierde, curiositas: Wir sollten nicht bloß Tatsachen sammeln, uns selbstvergessen in die Natur vergaffen, sondern durch die Erkenntnis der Natur zur Selbst- und Gotteserkenntnis weitergehen (zit. in Flasch 2003: 132).

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gerichtet, und nun konzentriert sie sich ganz auf die Schrift und die Offenbarung (Assmann 2007: 155).18 Somit werde der Mensch über die Schöpfung gesetzt, nicht in sie hinein. Er soll sie nicht anbeten, sondern sie frei und unabhängig verwalten. Alles soll den Menschen zur Nahrung dienen. Er soll herrschen über die Natur und der Mensch soll über sie verfügen, denn damit erkennt er ihre Nicht-Göttlichkeit an (Assmann 2003: 99ff.). Damit ist das Auseinandertreten von Gottes- und Weltbezug angesprochen analog der Theozentrik in den mitmenschlichen Beziehungen, in der der Wunsch nach Gottesnähe in Gegensatz zu der Anerkennung des Anderen tritt. Das gilt auch für die Welt und die Gesellschaft. Allerdings ist die Weltverachtung als Medium der Weltbeherrschung vor allem ein Phänomen der europäischen und nordamerikanischen Moderne. Sie war keineswegs von vorneherein als ein spezifisch christlicher Weltbezug per se gegeben, sondern dieser veränderte sich je nach gesellschaftlicher Positionierung des Christentums. So war die Welt in den frühen Jesusgemeinden einfach irrelevant, weil sich alles Streben und Hoffen ihrer Mitglieder auf das baldige Kommen des Gottesreiches richtete. Für Augustinus jedoch ist die irdische Welt (die civitas terrena) ein Ort der Sünde und fleischlicher Lust, die dem Gottesstaat, der civitas Dei, in scharfem Kontrast gegenübersteht. Deshalb sind die Menschen aufgefordert die »irdischen« Bedürfnisse und damit den »Status naturans« zu überwinden.19 Nach dieser Theologie war das Christentum im weltabgewandten, asketischen Mönchstum in seiner klarsten und eindeutigsten Form verkörpert. 18 | Jedes offenbarte Wissen ist per definitionem außerweltlich. Es entspringt keiner diesseitigen, natürlichen Evidenz und Erfahrung. Die Sinne vermögen dieses Wissen nicht zu bestätigen noch zu vermehren. Gott ist unsichtbar, das ist die zentrale Botschaft (vgl. Assmann 2007: 71). Daraus folgt auch das Bilderverbot. Man soll die Welt nicht abbilden, weil man sie sonst anbeten könnte. 19 | Augustinus: »Deshalb machen zwei Arten der Liebe die beiden Staaten aus, den irdischen die Selbstliebe bis zur Verachtung Gottes, den himmlischen aber die Gottesliebe bis zur Selbstverachtung« (zit. in Ruhstorfer 2004: 235). Die Civitas dei ist die Gemeinschaft der Menschen und der Engel, die Gott lieben. Beim letzten Gericht kommt die Scheidung und »die, die in der ungeordneten Selbstliebe verharren, verfallen dem Gericht und schließlich der ewigen Strafe, jede eigenmächtige Herrschaft wird zerstört. Auf sie wartet der ewige Tod, ein todloser Tod, eine Sterben ohne Ende (zit. in Ruhstorfer 2004: 270, 307). Der Gottesstaat ist identisch mit der Kirche als dem Leib Christi. Er umfasst letztlich: alle Heiligen von Abel bis hin zu den letzten Menschen, die an Christus glauben werden. Augustinus: »Das ganze Volk der Heiligen, die zu einem einzigen Gemeinwesen gehören; dieses Gemeinwesen ist der Leib Christi, dessen Haupt ist Christus, dort sind auch die Engel unsere Mitbürger« (zit. in. Ruhstorfer 2004: 238). Die irdische Kirche enthält sowohl Gute wie Böse. Solange die Kirche unterwegs ist zur himmlischen Heimat, bleibt sie ein corpus mixtum (vgl. ebd.).

3. Christliche Wer te – das Spezifische des Christentums?

Martin Luther überwand diese Position, indem er den Dienst in der Welt als Gott wohlgefällig ansah und zur Erfüllung der innerweltlichen Pflichten aufrief.20 Jeder erfülle seine Aufgaben in dem Beruf, in den Gott ihn hineingestellt hat. Damit wird die Schickung in die weltlichen Gegebenheiten zum Ausdruck des Gehorsams gegenüber Gott (Weber 1984/1920: 71). Der Dienst in der Welt wird zum Gottesdienst. Das heißt jedoch nicht, dass die Welt als solche akzeptiert wird, sondern dass man sich mit den Verhältnissen abfindet, weil Gott die Obrigkeit eingesetzt hat und man sich, indem man sich ihr unterordnet, Gottes Willen erfüllt. Daran anknüpfend entwickelte der asketische Protestantismus21 eine sehr viel aktivere Form der Weltzuwendung, die aber zugleich die mönchische Askese in die Welt hineinzutragen versuchte. Der gläubige Christ sollte es als seine Pflicht ansehen, in der Welt zu arbeiten, sich dabei aber zugleich radikal dem Dienst Gottes widmen. Dabei sollte er sich durch unermüdliche Arbeit, Pflichterfüllung und Selbstdisziplin seiner Erlösung durch Gott würdig erweisen.22 Dazu Weber: »Dies innerweltliche Asketentum war zwar weltablehnend in dem Sinne, dass es die Güter der Würde und Schönheit, des schönen Rausches und Traumes, der rein weltlichen Macht und des rein weltlichen Heldenstolzes verachtete und verfemte als Konkurrenten des Gottesreiches. Aber sie war eben deshalb nicht weltflüchtig wie die Kontemplation, sondern wollte nach Gottes Gebot die Welt ethisch rationalisieren […]« (Weber 1984/1920: 320).

Rationalisieren heißt in dem Zusammenhang, die Welt den eigenen Zwecken gemäß zu organisieren und sie somit immer weiter zu beherrschen. Mögliche Skrupel bei Ausbeutung und Unterdrückung wurden beschwichtigt, da es den rastlos tätigen puritanischen Christen dabei ja nicht um den eigenen Gewinn ging.23 Das Streben nach Reichtum war gerechtfertigt, solange die Seele des 20 | Vor allem mit Bezug auf den Römerbrief von Paulus: »Jedermann ordne sich den übergeordneten Gewalten unter; denn es gibt keine Gewalt außer von Gott, die bestehenden aber sind von Gott eingesetzt« (13,1). 21 | Calvinismus, Pietismus, Methodismus und die aus den täuferischen Bewegungen hervorgegangenen Sekten (vgl. Weber 1984/1920: 135). 22 | Die Arbeit war schon im mönchischen Leben zur Disziplinierung des Körpers und des Menschen herangezogen worden. Denn aus christlicher Sicht vermag sie den Menschen zu disziplinieren und zu reinigen. Ora et labora lautet die benediktinische Ordensregel (vgl. ausführlich zur Bedeutung von Arbeit im mönchischen Leben: Asad 1993). 23 | »Das sittlich Verwerfliche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz der Genuss des Reichtuns mit seiner Konsequenz der Müßigkeit und Fleischeslust. Vor allem der Ablenkung von dem Streben nach ›heiligem Leben‹« (Weber 1984/1920: 167).

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tätigen Menschen »rein« blieb und er seine Arbeit ganz in den Dienst für das kommende Gottesreich stellte (ebd.: 179). Das Gewinnstreben wurde somit nicht nur legalisiert, sondern direkt als gottgewollt angesehen.24 Die Puritaner konnten also eine ungeheure Aktivität entfalten ohne Weltgenuss, aber auch ohne Sorge um die Welt.25 Und so wurde die puritanische Askese nach Weber, Goethes Faust zitierend, Teil jener »Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft«.26 Der wachsende Reichtum, der quasi »ungewollt« den selbstgenügsamen und fleißigen Puritanern zuwuchs, ging einher mit gnadenloser Ausbeutung und Dehumanisierung der Menschen im Zuge von Industrialisierung und kolonialer Welteroberung. Diese Unmenschlichkeit von Sklaverei, frühkapitalistischer Ausbeutung und kolonialen Genoziden scheint der Moral der Nächstenliebe diametral entgegengesetzt zu sein. Gleichwohl waren viele ihrer Protagonisten streng gläubige Christen. Die Aufrechterhaltung christlicher Moralstandards in diesen Kontexten wurde durch die Konzentration des Einzelnen auf seinen inneren Bezug zu Gott möglich. Man fragt nicht nach den Konsequenzen des eigenen Tuns für andere, sondern allein nach dem Motiv der eigenen Handlung.27 Mit der Konzentration auf die persönliche Gesinnung gelingt es, moralisch untadelig zu bleiben und dennoch die größten 24 | Vgl. Weber 1984/1920: 179. So gab die Macht der religiösen Askese den Puritanern die »beruhigende Versicherung, dass die ungleiche Verteilung der Güter dieser Welt ganz spezielles Werk von Gottes Vorsehung sei, der mit diesen Unterschieden ebenso wie mit der nur partikulären Gnade seine geheimen, uns unbekannten Ziele verfolge« (Weber 1984/1920: 184). 25 | Ebd. Siehe auch Weber 1984/1920: 137. Und er schreibt: »Ohne Ansehen der Person, ohne Hass und daher ohne Liebe verrichtet der bürokratische Staatsapparat und der ihm eingegliederte rationale homo politicus ebenso wie der homo oeconomicus seine Geschäfte.« Weltablehnung und Weltbeherrschung als ihre Kehrseite waren unauflöslich verbunden (Weber 1995: 361). Man sollte deshalb also eher von Weltablehnung und nicht von Weltflucht sprechen (vgl. ebd.: 326). 26 | Dabei liegt die Paradoxie aller rationalen Askese darin, »dass sie den Reichtum, den sie ablehnt, selbst schafft« (Weber 1984/1920: 180). 27 | Dazu Weber: »Es scheint kein Mittel zum Ausgang der Frage zu geben, von woher im einzelnen Fall der ethische Wert eines Handelns bestimmt werden soll: ob vom Erfolg oder von einem – irgendwie ethisch zu bestimmenden – Eigenwert diese Tuns an sich aus. Ob inwieweit also die Verantwortung des Handelnden für die Folgen die Mittel heiligen oder umgekehrt der Wert der Gesinnung, welche die Handlung trägt, ihn berechtigen soll, die Verantwortung für die Folgen abzulehnen, sie Gott oder der von Gott zugelassenen Verderbtheit und Torheit der Welt zuzuschieben. Die gesinnungsethische Sublimierung der religiösen Ethik wird der letzteren Alternative zuneigen: ›Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹« (Weber 1956/1920: 460).

3. Christliche Wer te – das Spezifische des Christentums?

Verbrechen zu begehen. Andere Menschen können versklavt und ausgebeutet werden, das tut nichts zur Sache, solange dies mit »reinem Herzen« geschieht. Denn das Seelenheil des Einzelnen lässt sich allein an seiner Enthaltsamkeit und Pflichterfüllung bemessen.28 Die »Reinheit des Herzens« neutralisiert gewissermaßen Gewalt und Ausbeutung. Das heißt, die Konsequenzen des eigenen Tuns können aus der moralischen Bewertung ausgeklammert und dem unerforschlichen Ratschluss Gottes anheim gestellt werden. In dieser eklatanten Diskrepanz zwischen hohen persönlichen Moralstandards und faktischer Unmenschlichkeit scheint das durch, was Hannah Arendt „die Isolation des christlichen Menschen in der Welt“ genannt hat. Diese ist ihm in höchstem Maß äußerlich. Der Peis dafür ist allerdings, wie auch Weber schreibt, »Unmenschlichkeit und Vereinsamung des einzelnen Individuums«.29 Das »Böse« steht nicht in seiner Verantwortung. Wenn er es zur Kenntnis nimmt, dann als Ausdruck der Allmacht Gottes, der in seinem Walten unergründlich ist.30 Tatsächlich liegt der Wert des Asketismus nach Niebuhr vor allem in seinem symbolischen Charakter, denn der asketische Heilige ist, ökonomisch gesprochen, ein Parasit der sündhaften Welt. Und da die Missachtung der sozialen Beziehungen und Verantwortlichkeiten des gewöhnlichen Lebens zu einer Zerstörung dieses Lebens führen, kann seine Hingabe an ein absolutes Ideal nicht mehr als ein Symbol für die ideale Liebe Gottes sein. Sobald etwa die Familie einbezogen wird, ist der Absolutist gezwungen, entweder von seinem Ideal Abstand zu nehmen oder seine Verpflichtungen der Familie gegenüber zu vernachlässigen (Niebuhr 1979: 115). 28 | Diese Gesinnungsmoral rechtfertigte nicht nur das Gewinnstreben der Besitzenden, sondern forderte auch Sklaven und Arbeiter auf, sich in ihre meist unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu schicken, denn »treue Arbeit auch bei niederen Löhnen seitens dessen, dem das Leben sonst keine Chancen zugeteilt hat, [sei] etwas Gott höchst Wohlgefälliges«, so Weber. Arbeit galt als Pflicht gegen Gott. Je mehr die Seligkeit jenseitig ist, desto mehr ist das irdische Glück entbehrlich. Arbeitswilligkeit und Ausbeutung wurde so gleichermaßen durch den Glauben legitimiert. 29 | Weber 1984/1920 II: 122. Er spricht von einer der europäischen Moderne eigenen inneren Isolierung des Menschen: Nur mit dem eigenen Heil beschäftigt, wird die Sorge um die eigene Erwähltheit zum Zentrum aller Bemühungen. Allein die rastlose Berufsarbeit verscheucht den religiösen Zweifel und gibt die Sicherheit des Gnadenstandes (vgl. Weber 1984/1920: 129). Nur das »innere Licht« gilt noch (vgl. Weber 1984/1920: 159). 30 | Dazu schreibt Weber: Die Prädestinationslehre, als »die anerkannte Unmöglichkeit, Gottes Ratschlüsse mit menschlichen Maßstäbe messen zu können, bedeutete in liebloser Klarheit den Verzicht auf die Zugänglichkeit eines Sinnes der Welt für menschliches Verstehen, welcher damit auch aller Problematik dieser Art eine Ende machte« (Weber 1995: 406).

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In diesem Sinn ist die christliche eine »unmögliche« Moral, nicht nur weil sie jegliche menschlichen Anstrengungen übersteigt, sondern auch weil sie ein gelungenes soziales Miteinander unmöglich macht. Dazu wiederum Niebuhr: Die Rechtfertigung der Moral ist allein eine religiöse und keine sozial-moralische. Dabei sind weder spontane menschliche Bedürfnisse noch soziale Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Denn wir haben die andere Menschen zu lieben, allein weil Gott uns liebt, wir haben den Feinden zu vergeben, weil Gott ihnen vergibt. Oder: Wenn nur der richten kann, der selbst ohne Sünde ist, dann bricht die sozial-moralische Ordnung zusammen. Die Gesellschaft muss Delinquenten bestrafen, auch wenn sie selbst nicht ohne Tadel ist (vgl. ebd.: 28f.) Dennoch gab es einige Gruppierungen innerhalb des protestantischen Christentums, namentlich die Quäker, die sich zum Beispiel gegen die Unmenschlichkeit der Sklaverei stellten.31 Dies waren jedoch Ausnahmen. Die Grundeinstellung der christlichen Mehrheit war auf dem festen Glauben gegründet, dass Gottes Ratschluss nicht zu erkennen und »Arbeit die beste Medizin gegen das Grübeln und Gründeln« in Bezug auf seinen Willen sei. Der Mensch kann sich nur vertrauensvoll Gottes Führung anempfehlen. Mit diesem Verzicht auf ein eigenes Urteilen entgingen die Menschen ihren moralischen Skrupeln. Später hat sich vor allem Reinhold Niebuhr mit dieser Kluft zwischen persönlicher Moralität und allgemeiner Unmoral auseinandergesetzt. Sein Buch »Moral Man and Immoral Society« (Niebuhr 2001), das erstmals 1933 erschien, machte in den USA Furore und Niebuhr dort zu einem der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Die religiöse Moral wird seiner Meinung nach in rein individualistischen Begriffen gefasst. Ihr geht es um das individuelle Verhältnis zu Gott. Die Liebe wird religiös interpretiert und nicht sozial. Damit wird das Desinteresse in weltliche Angelegenheiten zur Tugend. Insofern wird die Religion zwar dem inneren Bestreben des Einzelnen gerecht, nicht jedoch dem Streben nach einer gerechten Gesellschaft (vgl. ebd.: 263).32 Seiner Meinung nach ist es ein Trugschluss anzunehmen, dass die Welt insgesamt, wenn alle sich im religiösen Sinn moralisch verhielten, besser würde. Das sind für ihn Illusionen religiöser Idealisten, die von der Moralität des Individuums unzulässig auf die der Gesellschaft schließen. Denn die religiöse Moral ist, und hier stimmt er mit der Analyse Webers überein, stärker an inneren Motiven als an seinen Konsequenzen interessiert. 31 | Ich komme in Kap. 10 darauf zurück. 32 | Die Verehrung von Jesus am Kreuz ist für Niebuhr Ausdruck einer Glorifizierung des individualistischen moralischen Ideals. Das Kreuz ist das Symbol der triumphierenden Liebe, triumphierend in Bezug auf ihre eigene Integrität, aber nicht in Bezug auf die Welt und die Gesellschaft (vgl. ebd.: 82).

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Insbesondere die religiöse Verachtung der Welt, wie die frühe Kirche sie gezeigt hat, habe dazu geführt dass »Sklaverei, Ungerechtigkeit, soziale Ungleichheit, Krieg als ein ›Naturrecht‹ akzeptiert wurden, das Gott aufgrund der Sündhaftigkeit der Menschen erlassen hat« (ebd.: 76). Damit habe die Religion nicht nur ein entschlossenes Vorgehen gegen dies Unrecht verhindert, sondern es auch gerechtfertigt und, wie er sagt, die Grausamkeiten verdunkelt, was unvermeidlich zu Heuchelei und Sentimentalität geführt habe. Nach Niebuhr kommt die individualistische religiöse Moral vor allem den sozialen Schichten entgegen, die von der sozialen Ungleichheit profitieren. Diese versuchen mithilfe der Religion die gesellschaftlichen Verhältnisse zu rechtfertigen, selbst »wenn auch nur die geringste Geste von Menschenfreundlichkeit das soziale Unrecht zu verbergen vermag« (ebd.: 80). So sei der liberale Protestantismus die Religion der privilegierten Klassen des Westens, und deshalb verwundere es auch nicht, dass dieser daran interessiert sei, das Ideal der Liebe zu verkünden. Auch die aufsteigenden Mittelklassen im 18. und 19. Jahrhundert hätten ihre Überlegenheit in der Welt als Lohn für ihren Fleiß und ihre Rechtschaffenheit verstanden.33 Damit hätten sie nicht nur die Verhältnisse gerechtfertigt, sondern sich selbst zugleich eine moralische Superiorität gegenüber den ausgebeuteten Klassen zugesprochen (vgl. ebd.: 123).34 Dennoch glaubt Niebuhr, dass man einer religiösen Moral bedarf, da ohne deren Hoffnungen und Leidenschaften man nicht die Kraft und den Mut habe, die Gesellschaft zu verändern. Dann müsse aber die Gesellschaft mit ihrer politischen Perspektive die religiösen Ideale zügeln und sie auf die Verhältnisse der bestehenden Gesellschaft zurückbeziehen. Das könne jedoch schwierig werden, da der Religion mit ihrem Bezug zum Absoluten immer auch die Gefahr des Fanatismus innewohne, der keinen anderen Standpunkt gelten lasse (64).35 33 | Eine Einschätzung, von der auch Max Weber nicht ganz frei ist, hat er doch in seiner Analyse der Ursachen des Kapitalismus diese Eigenschaften als entscheidend herausgearbeitet und ökonomische Ausbeutung, die Rolle des Kolonialismus sowie die Tradierung von Reichtum von der feudalen in die bürgerlichen Gesellschaft hinein kaum beachtet (vgl. dazu Rehmann 1998). 34 | Weber (1984/1920: 175) schreibt ähnlich dass der Glaube, das auserwählte Volk zu sein im Puritanismus eine grandiose Renaissance erlebte. Er spricht vom religiösen Aristokratismus der von Gott Erwählten. 35 | Für ihn fördert die Religion aufgrund ihres Bezugs zum Absoluten sowohl die Demut vor der Welt als auch deren Verabsolutierung. D.h. sie hat die Tendenz, absolute Gegensätze aus der Heiligkeit des Glaubens und der Dunkelheit der Welt zu machen. Diese Augustinische Sicht führt zu einer Indifferenz gegenüber der Welt, da sie ohnehin von der Sünde durchdrungen sei, und so werden soziale Probleme unlösbar (vgl. ebd.: 69f.). Niebuhr gesteht der Religion zu, dass sie in der Lage ist, moralische Bedürfnisse und

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Das heißt, dass die christliche Moral, auch bei strengster Einhaltung, kein Garant für eine friedliches und gerechtes Zusammenleben in der Gesellschaft ist und dass hohe persönliche Moralstandards mit faktischen Verbrechen in Einklang zu bringen sind, ja sogar damit gerechtfertigt werden können. Die Kluft zwischen einem individuellen moralischen Selbstverständnis und der Bewertung des Tuns durch Andere und durch die Gesellschaft – wie sie im puritanischen Christentum des 18. und 19. Jhds. besonders anschaulich wurde –, diese Kluft ist Resultat einer Theozentrik, deren Moralsystem sich nicht an der irdischen, sondern an einer göttlichen Ordnung orientiert. Aus christlicher Perspektive wird dieser Argumentation entgegengehalten, dass gerade die Geschöpflichkeit des Menschen und die Vermittlung der Liebe zwischen den Menschen durch die göttliche Liebe, dass diese »externe« Fundierung eine Verstärkung der Sorge um die anderen Menschen und um die Welt zur Folge habe, einer Stärkung, die den nicht-gläubigen Menschen so nicht zu Gebote stehe.36 Mit diesem Transzendenzbezug würden die gläubigen Menschen auf ein Ideal verpflichtet und auf die Unvollkommenheit jeglichen menschlichen Strebens hingewiesen  – so etwa die Argumentation Niebuhrs (vgl. Niebuhr 1979: 13ff.). Das Hier und Jetzt muss immer auf ein ideales Ziel hin transzendiert werden, denn sonst versinkt die Wirklichkeit in ihrem Ungenügen. Die Spannung zwischen Jetzt und Später werde durch das Versprechen der Anwesenheit Gottes in jedem Tun aufrechterhalten. Viele eindrückliche Biographien von außergewöhnlichen Christen und Christinnen, die sich ganz dem Dienst an ihren Nächsten gewidmet haben, legen Zeugnis für die motivierende Kraft eines solchen moralischen Absolutismus ab. Allerdings setzt das ein recht verstandenes Christentum voraus, wie Niebuhr weiter argumentiert, da das Christentum oft einerseits die Welt als Ort des Dämonischen verachtet hat oder aber andererseits die Welt passiv erduldet, sich in sie geschickt hat als Ausdruck der Unterwerfung unter den Willen Gottes. Demgegenüber gelte es, die Welt als einen Ort zu verstehen, an dem Gott anwesend ist, der aber in seinen Verheißungen auf eine bessere Welt zugleich über ihr steht. Das christliche Ideal mag also durchaus zum Einsatz für die Mitmenschen und für eine bessere Welt zu motivieren. Problematisch daran ist jedoch, wenn dieser moralischer Idealismus allein der Religion, insonderheit dem Christentum zugeschrieben und nicht gesehen wird, dass Transzendenz im Sinne der Überschreitung einer gegebenen Situation hin auf eine ideale, auch in Ansprüche bei den einzelnen Menschen zu fördern. Damit würde sie jedoch zugleich die Moralität der Gesellschaft gefährden. Das ist für ihn das Paradox des religiösen Lebens: »Je größer die religiöse Vitalität, desto mehr kann sie die Moralität befördern oder aber auch gefährden« (ebd.: 71). 36 | Vgl. etwa die Argumentation der Theologin Catherine Kellers in Nutt 2012: 185ff.

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säkularen Kontexten wirksam ist, wenn sich die Menschen etwa an Werten wie gesellschaftlicher Gerechtigkeit und dem Glück der Menschen orientieren. Die Religionen haben nicht das Monopol auf Moral.37 Das andere Problem ist, dass unterstellt wird, dass die Rigorosität christlicher Moral zu mehr Mitmenschlichkeit und einer besseren Gesellschaft führe. Es wird nicht gesehen, dass gerade in der Radikalität eine potentielle Zerstörung von Mitmenschlichkeit angelegt ist. Eine Zerstörung, die sich in der Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen des eigenen Handelns und in der Verweigerung von Verantwortungsübernahme gegenüber den Mitmenschen zeigt. Allein schon die in ihr enthaltene Distanzierung vom Anderen, die menschliche Isolation in der Beziehung, von der Arendt spricht, mag die heute viel beklagte Selbstzentrierung in der westlichen Kultur mitbegründet haben, der dann wiederum die christliche Moral der Nächstenliebe beikommen soll. Insofern ist es interessant zu fragen, wie sich die christliche Moral auf das säkulare Selbstverständnis in der europäischen Moderne ausgewirkt hat. Das hat kaum jemand so intensiv untersucht wie Michel Foucault.38

C hristliche E thik und säkul ares S elbst verständnis Kontrolle des Unkontrollierbaren Foucault sieht im christlichen Ethos die entscheidende Prägekraft für das Selbstverständnis des modernen, säkularen Menschen. Ausgangspunkt der Analyse ist auch bei ihm die Theologie Augustins, die die Menschen als wesentlich verderbt betrachtet. Diese existenzielle Sündhaftigkeit ist mit der menschlichen Körperlichkeit verbunden, denn das »Fleisch« ist sündhaft, 37 | Weitere Ausführungen dazu in Kap. 7. 38 | Foucault hat sich erst gegen Ende seines Lebens mit dem Thema Christentum im Rahmen seiner Geschichte der Sexualität genauer befasst. Zwar gab es in seinem Werk auch früher immer wieder Hinweise auf sein Interesse an Religion, etwa in Bezug auf die Rolle der Kirche im Zusammenhang mit der Konstruktion von Wahnsinn und Besessenheit, aber erst in den frühen 1980er Jahren hat er sich systematischer damit auseinandergesetzt. Ihm ging es um die historische und politische Formation der westlichen Kultur, und er sah die Religion als eine wesentliche formative Kraft. Er bringt, wie Jeremy Carrette formuliert, die Religion zurück in die historischen Prozesse, indem er sie in das Spannungsfeld von Körper, Macht und Wahrheit einordnet (vgl. 1999: 3). Er betrachtet Religion nicht als eine Theologie jenseits der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, sondern als Teil politischer Kämpfe um Wissensmacht. Er bringt die Religion zurück in die Geschichte und in den Kampf um Identität und Subjektivität (vgl. ebd.: 32). Religion ist für ihn eine politische Macht und eine Technologie des Selbst.

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und so werden die Überwachung und die Kasteiung des Leibes zu einer moralischen Tat. Insofern geht der moderne Drang zur Selbsterforschung und Selbstoptimierung für Foucault auf die christliche Selbstüberwachung zurück, die vor allem im Zusammenhang mit der Sexualität entwickelt wurde. Diese eignete sich besonders, da sie für die Christen eine immer präsente Gefahr darstellte. So trägt der Geschlechtsverkehr, wie Foucault schreibt, alle Male der Sünde und des Übels in sich. Allein die Ehe vermag ihr Legitimität zu verleihen (vgl. Foucault 1986: 238). Es ist also nicht jegliche Form der Sexualität verboten. Dadurch jedoch, dass sie auf Ehe und Zeugung von Kindern eingeschränkt wird, bleibt eine ständige Versuchung, diese eng gesetzten Normen zu überschreiten. Überall lauert die Gefahr der Versündigung. Diese Spannung löst eine anhaltende Suche nach der Wahrheit über sich selbst aus. Da Libido und eigener Wille nie wirklich voneinander getrennt werden können, fragt sich das Subjekt ständig, was will ich wirklich, ganz unverstellt? Und diese Frage führt zu einer fortwährenden Selbst- Erforschung, einer »Hermeneutik des Selbst« (Foucault zit. in Carrette 1999). Die christliche Selbstbeobachtung sucht das Böse in der eigenen Person. Denn die Macht des Bösen kann sich in die Tiefe des Selbst hineinschleichen, es besetzen und von innen heraus zerstören. Es geht darum etwas zu entziffern, was im Selbst verborgen ist und was sichtbar gemacht werden muss. Beispielgebend für die Suche nach dem »wahren« Selbst waren die confessiones des Augustinus, der über die Erfahrung seiner Selbsterforschung etwa schrieb: »Du aber Herr, du drehtest mich […] zu mir selbst, du holtest mich hinter meinem Rücken hervor, wo ich mich versteckt hatte« (zit. in Forst 2003). Insofern führt die »Verteufelung« des Leibes zu einem ständigen Misstrauen gegenüber sich selbst. Diese Selbsterforschung wurde von der Kirche im Sakrament der Buße ritualisiert. Dafür wurden schon im frühen Christentum genaue Regelungen entwickelt.39 Die öffentliche Buße in der alten Kirche war schwer und dauerte oft lebenslang. »Alles zusammengenommen wurde vom Büßer nach der Rekonziliation eine quasi mönchische Lebensweise verlangt« (Dassmann 2012: 213, 210). Alleine im Leiden, im Martyrium gab es die Möglichkeit, die Sünden vollständig zu tilgen. Dies galt als eine Abwaschung der Sünden durch Blut,

39 | Zur Buße gehörte das – in den ersten Jahrhunderten zunächst öffentliche – Bekenntnis der Sünden vor der Gemeinde als Zeichen äußerster Hingabe an Gott, als Opfer, das auch anderen dazu verhelfen sollte, ihren Weg zum rettenden Gott zu finden. Zu den konkreten Bußübungen zählte etwa den Kopf zu scheren, in »Sack und Asche« zu gehen, sich des Fleischs und Weines zu enthalten, Fasten, Nachtwachen u.ä.

3. Christliche Wer te – das Spezifische des Christentums?

entsprechend der Sündenvergebung in der Taufe durch das Wasser.40 Wenn sich ein Büßer dennoch weltlichen Dingen zuwandte und sein Büßergewand abwarf, wurde er von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Auch jeder Gläubige, der mit ihm aß, wurde von der Eucharistie ausgeschlossen (vgl. Asad 1993: 98). Das Sakrament der Buße verweist auf die Macht des Klerus: Er ist es, der die Sünder anhört, ihnen eine Buße auferlegt und ihnen die Absolution erteilt. Der Christ und die Christin, sie können ihre Erlösung nicht allein für sich finden, sondern sie müssen sich dafür einem geistlichen Führer anvertrauen. Dieser Führer ist für Foucault wie ein Hirte, der für jedes einzelne seiner Schafe wie auch für die ganze Herde Sorge trägt und sie vor Gefahren schützt. Er muss sich in die ihm Anvertrauten hineinversetzen können. Er muss wissen, was in ihren Herzen, in ihrer Seele vor sich geht und muss die innersten Geheimnisse eines Jeden kennen. Um die Gläubigen zu führen, übt der »Seelsorger« keine Macht im traditionellen Sinn aus, indem er über die Subjekte einfach herrscht, es ist keine triumphierende, sondern eine wohlwollende, gütige Macht. Foucault nennt sie Pastoralmacht, denn sie will jedem Einzelnen zu seinem Heil verhelfen. Im Gegenzug erwartet der Hirte von den ihm Anvertrauten absoluten Gehorsam (vgl. Foucault zit. in Carrette 1999: 121ff.).41 Denn er ist es, der das Innere des Menschen kennt. Die Kirche entwickelte auf dieser Basis das System einer durchdringenden Kontrolle über die Seelen und Körper der Menschen. Sie agierte als ein, wie Foucault es nennt, Regime der Wissens-Macht. Indem der Christ sich ständig selbst beobachtet und prüft, was in ihm vorgeht, entdeckt er nicht sich selbst, sondern er schafft sich selbst. Er konstituiert seine Subjektivität. Foucault geht also nicht wie das christliche Verständnis der Gewissenserforschung davon aus, dass dabei Verfehlung gefunden, sondern dass mithilfe der Gewissensprüfung die Sündhaftigkeit des Menschen erfunden wird. Denn mit ihr wird er zu einem auf Wahrheit verpflichteten, einem Höheren sich unterwerfenden Subjekt.42 Das Eingeständnis der Schuld gegenüber 40 | Um die harten Bußen zu vermeiden, verlegten viele die Taufe auf einen möglichst späten Zeitpunkt, wie etwa Kaiser Konstantin, der sich erst auf dem Sterbebett taufen ließ. 41 | Der Klerus ist durch seine kirchlichen Weihen für diese Führungsaufgabe qualifiziert. Er ist mit dem Wissen um die Wahrheit und die Sünde vertraut und er weiß sich Gott nahe. Das vor allem durch seine Jungfräulichkeit, denn die Keuschheit ist ein Synonym für Reinheit und Symbol für eine höhere Spiritualität. Der Priester soll »Eunuch im Dienst des Reiches Gottes« sein (vgl. Mt 19,12). 42 | »Das bedeutete, dass das Christentum zu einem sehr speziellen Typus von Religion gehört, einer Religion, die denjenigen, die sie praktizieren, eine Verpflichtung zur Wahrheit auferlegt. Solche Verpflichtungen sind zahlreich […] Zum Beispiel zeigen sie sich in den Annahmen, die zu einem Dogma gemacht werden […] Sie zeigen sich darin, dass

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dem Beichtvater bedeutet, die Wahrheit über sich selbst anzuerkennen und sich selbst als verworfen und hilfebedürftig zu begreifen. Diese Selbstthematisierung, so Foucault, sei es als Sündenbekenntnis, sei es als Lebensbericht, diese Befreiung des Ich durch das Hintreten vor einen Höheren hat das Abendland bis heute nicht vergessen. Und insofern ist für ihn die Gewissensprüfung der wesentliche Beitrag des Christentums zur westlichen Subjektivität.43 Die besonders hohen moralische Ansprüche, die besondere Radikalität des Christentums muss also, so kann man aus dieser Argumentation folgern, nicht unbedingt in einer besonders hochstehenden moralischen Praxis münden, sondern kann vor allem zu einem Selbstbild besonderer Verwerflichkeit führen, das wiederum einer besonders ausgeprägte Erlösungssehnsucht und damit eine starke Bindung an eine spirituelle Führung zur Folge hat.44 Da der Mensch die christlichen Gebote nicht tatsächlich befolgen kann, bleibt er angewiesen auf die Gnade der Vergebung. So argumentiert etwa auch Gerd Theißen, dass die »Unmöglichkeit« der Moral nur deshalb ertragen werden kann, weil ihr eine ebenso radikale Vergebungsbereitschaft gegenüberstehe: »Mit unerfüllbaren Forderungen kann man nur leben, wenn man sich der Vergebung trotz unerfüllter Normen gewiss ist« (Theißen 2000: 121).45 Diese grundsätzliche Abhängigkeit von einer vergebenden Instanz macht den Gehorsam zum Kern aller christlichen Tugenden. Gott erniedrigt den bestimmte Bücher als Quelle von Wahrheit gelten […] oder die Christen haben die Entscheidungen bestimmter Autoritäten als Wahrheit anzuerkennen« (Üb. B.R. – Foucault in Carrette 1999: 169). 43 | Auch Hannah Arendt sieht in den confessiones des Augustinus die Grundlage des modernen Menschenbildes, eines Menschen, der, orientierungslos, sich selbst zum Problem wird. Dabei verweist sie auf das berühmte Wort des Augustinus, »quaestio mihi factus sum«: Ich bin mir selbst zur Frage geworden. (vgl. Arendt: 1929: 3, 5, 76) 44 | Luhmann spricht in dem Zusammenhang auch von der »Sünde als Dauerzustand«. Welche Konsequenzen auch immer die Lehre von der prinzipiellen Verwerflichkeit des Menschen hat, sie scheint auf alle Fälle ein besonderes Merkmal des Christentums, genauer des von der augustinischen Lehre geprägten römischen, das heißt des westeuropäische Christentum zu sein. So zeigt etwa auch Kurt Flasch (2009a) in seiner Monographie, wie sehr das ganze Mittelalter über bis weit hinein in die Neuzeit die Position des Augustinus den »Kampfplatz der Philosophie« bestimmt hat und noch bis in die jüngste Zeit erfolgreich war. 45 | Ähnlich argumentiert Annette Merz (2009: 44): »Angesichts der Unerfüllbarkeit der Gebote muss sich jeder vor Gott als sündig erkennen und damit als angewiesen auf die von Jesus stark betonte Vergebungsbereitschaft Gottes. Dies hat nach innen eine integrative Funktion, niemand kann und darf sich über seinen Nächsten erhaben fühlen, die Vergebung Gottes wird explizit an die menschliche Vergebungsbereitschaft gekoppelt (z.B. Mt 6,12; 18,23-35).«

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Mensch, indem er ihn erfahren lässt, alles Gute stehe außerhalb seiner Kräfte und allein in Gottes Hand.46 Somit wird der Gehorsam zum Ausdruck der Ergebenheit in Gott, Ausdruck der Intensität des Glaubens und der moralischen Rechtschaffenheit.47 So war für Augustinus der Anfang aller Sünde der Hochmut. Dieser entsteht, wenn der Geist sich zu sehr gefällt.48 Die Forderung nach absolutem Gehorsam ist, wie Foucault betont, völlig neu. Die antiken Gesellschaften des Reiches kannten zwar die uneingeschränkte Macht des imperialen Herrschers, aber weder in Griechenland noch in Rom wäre je jemand auf die Idee gekommen, von einem Individuum einen totalen, absoluten und bedingungslosen Gehorsam gegenüber einem anderen einzufordern: »Das Wesentliche im Christentum ist, dass man nicht gehorcht, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, man gehorcht auch nicht, um sich eine bestimmte Haltung anzueignen oder Ehre zu erzielen. Im Christentum ist die absolute Ehre genau die, gehorsam zu sein« (Foucault in Carrette 1999: 124).

Die Folgen für die christlich-säkulare Kultur liegen für Foucault in der Bereitschaft der Menschen zur Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen, die sowohl per äußerer Disziplinierung und Gewalt als auch per Internalisierung und Selbstunterwerfung vom Individuum als eigene übernommen werden. »Erlösung ist als eine moralische Arbeit an sich selbst zu verstehen, als das Aufdecken der eigenen Abweichung von der vorgegebenen Norm. Diese Arbeit hat im Christentum die Form eines Kampfes angenommen, den man führen muss, eines Sieges, der

46 | Die Vernunft muss es als absurd ansehen, dass Gott Forderungen an uns stellt, von denen er weiß, dass wir sie nie erfüllen können. Und dass er Sünder bestraft, obwohl der freie Wille nicht anders kann als sündigen. Dass Gott aus reiner Willkür die Menschen verlässt, verhärtet, verdammt, als habe er seine Freude an den Sünden und an derart großen Qualen der Elenden, trieb Luther in die Verzweiflung, bis er wusste, wie heilsam diese Verzweiflung ist und wie nahe der Gnade (Flasch 2009: 495). 47 | Dazu etwa Augustinus: »In jedem Menschen wohnt innen ein Imperator. […] Gott wollte in deinem Willen sein, biete ihm Raum, Gott oder dem Teufel. Wenn du ihm Raum gegeben hast, wird er herrschen« (zit. in Flasch 2003: 190f.). 48 | »Die superbia ist nichts anderes als die Liebe zur eigenen Erhabenheit, die Begierde der Menschen und Engel nach eigener Macht – der Wille zur Macht« (Ruhstorfer 2004: 300). Dieser Unterwerfung unter Gott entspricht die moralische Verachtung des Menschen, denn das getane Böse muss sich der Mensch immer selbst zuschreiben, während das Gute von Gott empfangen wird. Sich zu Gott bekennen heißt dann also sich seiner Sündhaftigkeit bewusst zu werden. Das Gute ist immer Gnade, nie eigenes Verdienst (vgl. ebd.: 250).

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe zu erringen ist, indem man die Herrschaft (domination) des Selbst über sich errichtet, gemäß dem Modell einer häuslichen oder politischen Macht« (zit. in. Ruhstorfer 2004: 91). 49

Die christliche Kultur der Schuld und des Geständnisses bahnt den Weg dafür, äußere Kontrolle als eine innere Wahrheit zu begreifen.50

Kultur der Schuld und Disziplinierung Säkularisierung ist für Foucault die Übertragung mönchischer Kontrolle der Körper und Seelen auf die Gesellschaft und ihre Institutionen. Denn am Beginn und Ursprung der europäischen Moderne stehen totale Institutionen wie Gefängnisse, Schulen, Hospitäler und Arbeitshäuser, die im Laufe des 17. und 18. Jhds. entstanden und eine allumfassende und tiefgreifende Disziplinierung durchführten. So wird die Unterwerfung der Menschen und ihrer Bedürfnisse zu einer generellen Formel von Macht (vgl. Foucault 1975). Dabei wird an christliche Formen der Disziplinierung angeknüpft und das sorgfältige Registrieren von Verhaltensweisen immer weiter systematisiert – etwa in Form wissenschaftlicher und administrativer Erhebungen. Interessant ist, dass ja auch Max Weber für die Entstehung der westlichen Moderne umfassende Disziplinierungsprozesse verantwortlich macht. Ihm ging es vor allem darum, die Entstehung des Kapitalismus zu erklären beziehungsweise die Mentalitäten aufzuzeigen, die dessen Entwicklung befördert haben. Und auch er weist immer wieder auf den durchdringenden Charakter dieser Disziplinierungen hin. So schreibt er etwa, dass mit der Reformation »eine im denkbar weitestgehenden Maße in alle Sphären des häuslichen und öffentlichen Lebens eindringende, unendliche lästige und ernstgemeinte Reglementierung der ganzen Lebensführung« (Weber 1984/1929:30) eingesetzt habe.51 49 | Deshalb ist der Hedonismus beziehungsweise die Libertinage so gefährlich, weil sie die Unterwerfung unter »das Gesetz«, d.h. den Willen Gottes unterläuft und somit auch unter die staatliche Herrschaft. Auer spricht in dem Zusammenhang von der Internalisierung als einem zentralen Moment christlicher Ethik. 50 | Die Notwendigkeit der Selbstentzifferung und des Selbstverzichts – nicht die Strenge – macht den Unterschied zur klassischen Selbstkultur (als Ästhetik der Existenz) deutlich. Vgl. auch Bublitz 1999: 70, 158. 51 | »Nichts konnte den Einzelnen nunmehr entlasten, weder eine Beichte, noch gute Werke noch eine Fürbitte oder gar Ablässe. Daraus folgte für den Einzelnen der Antrieb zur methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung und damit zu deren asketischer Durchdringung« (Weber 1984/1920: 164). (Erwählt oder verworfen = systematische Selbstkontrolle; Weber 1984/1920: 132).) Diese wurde unter der Herrschaft des Calvinismus in Genf und Schottland und Teilen der Niederlande zu der

3. Christliche Wer te – das Spezifische des Christentums?

Foucault geht es in seinen sozial- und kulturhistorischen Analysen vor allem darum, die Entstehung der spezifischen Subjektivität des modernen westlichen Menschen in diesen Disziplinierungsprozessen herauszuarbeiten in einem Prozess ständiger Selbst-Optimierung. Das bezieht sich jedoch nicht nur auf das einzelne Individuum, sondern auch auf den Volks-»Körper« als ganzen. Um diesen möglichst effektiv zu gestalten, werden die Menschen kategorisiert, vermessen und die Bedürfnisse der Einzelnen aufs Genaueste erforscht, um maximale Kontrolle auf der Basis dieser Bedürfnisse ausüben zu können. Dies geschieht mittels der »Bio-Macht«, wie er es nennt, die das Leben optimiert, indem es dies fortlaufend reguliert und kontrolliert. Sie ordnet die Subjekte um die Norm herum an und dringt dabei in die Körper der Individuen und ihre Gesten, Einstellungen hinein. Sie erfasst die gesamten Verhaltensweisen, bewertet und formt sie (vgl. Foucault 1976: 43). So etwa anhand der Frage, was »gesunde«, »normale« Sexualität sei, welche Form der Sexualität in der Gesellschaft toleriert wird und welche nicht. Auch der »proletarische Körper« musste gezügelt und in die strengen Vorgaben der Arbeitsdisziplin durch ein striktes Regime der Klassifikationen eingepasst werden.52 Alles wird nun entlang der Achse von normal – anormal, von krank und gesund, von ›nicht-entwickelt‹ bis hoch entwickelt, von defizitär und leistungsfähig angeordnet. Was früher als sündhaftes Verhalten galt, wird nun zu einem anormalem, abweichenden oder krankhaften Verhalten. Und auch in den modernen Diskursen steht die Sexualität als gefährliche, Abweichungen generierende, verborgene Macht oft im Zentrum der Normalisierungsbemühungen. Aus dem Diskurs über die Sündigkeit des Leibes und die Versuchungen des Fleisches entwickelte sich der Diskurs über Sexualität in der Biologie, der Psychiatrie und der Demographie. Dementsprechend ist für Foucault die Entwicklung der modernen Sexualität nicht eine Geschichte allmählicher Befreiung, sondern die Geschichte einer »diskursiven Explosion« des Redens über, der Beobachtung und Beschreibung von Sexualität.

»schlechthin unerträglichsten Form der kirchlichen Kontrolle des Einzelnen« (Weber 1984/1920: 31). Auf freiwilliger Unterwerfung beruhende Sittenpolizei der Sekte. Siehe auch Weber 1984/1920: 135 zur Disziplinierung/Askese. Indem er zeigt, wie die Sakralisierung von Arbeit und Beruf im Protestantismus oder auch dessen Konzentration auf den Heilsindividualismus zum Liberalismus einer individualistischen Kultur führte, verweist er auf die Transformationen christlicher Gehalte in die moderne Lebenswelt hinein. 52 | Die Biomacht hat also nicht nur den individuellen Köper, sondern auch den Volks-»Körper« zum Gegenstand: Sie regelt die Fortpflanzungsraten, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer etc. im Sinne einer eugenischen Durchregulierung (vgl. Foucault 1976: 154ff.).

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Für das Gestehen und Bekennen in diesem Kontext steht heute für Foucault prototypisch die Psychoanalyse: »Man kann sehr wohl sagen, dass die Psychoanalyse auf jener gigantischen Vermehrung und Institutionalisierung der Geständnisprozeduren beruht, die so charakteristisch für unsere Zivilisation sind« (Foucault 1978: 115). Sie setzt das weiter fort, was im klerikalen Erlösungsprozess versprochen wurde: »Das Wahre, rechtzeitig dem Richtigen gesagt und zwar vor dem, der es innehat und zugleich verantwortet, dieses Wahre heilt« (Foucault 1976: 78). Dies Wahre ist aber nicht etwas, was das Subjekt entdeckt, sondern was es im Zuge seiner Selbsterforschung hervorbringt, ein Subjekt, das auch hier durch den Willen zum Wissen und die Verpflichtung zur Wahrheit bestimmt ist. Der moderne Mensch ist gezwungen, »sich der Aufgabe der Ausarbeitung seiner selbst zu stellen« (Foucault 1990: 45).53 Er erscheint damit als ein entworfenes und zugleich unterworfenes Subjekt. Selbsttätigkeit und Unterwerfung kommen in der Subjektwerdung des modernen Menschen zusammen. Somit ist der Blick des modernen Menschen auf sich selbst getragen von einem Bemühen um ständige »Besserung« und Lebenssteigerung mit dem Streben nach Befriedigung der Bedürfnisse, nach Gesundheit und Glück, dessen Erfolge jedoch wiederum durch den Blick auf sich, von einem als zukünftig angenommenen Standpunkt, ständig relativiert werden (Foucault 1976: 158).

R esümee Nach Meinung von Foucault basiert also das moderne abendländische Subjekt wesentlich auf einem christlichen Selbst, das sich als existentiell verworfen versteht und das sich deshalb anhaltend prüfen und kontinuierlich an seiner »Besserung« arbeiten muss. In der Konfrontation mit sich in der Gewissenserforschung wird das Selbst zum Ausgangs- und Zielpunkt von Reflexion und Sinngebung. Insofern bildet die Entdeckung eines der Beobachtung zugänglichen Inneren die Basis seiner Subjektivität. Aber die Entdeckung des »Bösen« in sich nährt ein Selbstmisstrauen, das nur durch das Geständnis gegenüber einer Autorität beschwichtigt werden kann. Das Subjekt übernimmt dabei die von ihr vorgegebenen Normen als für sich konstitutiv. In diesem Prozess unterwirft es und entwirft es sich zugleich. Mit der Moderne werden die Kategorien der Sünde immer mehr durch die von Normalität und Abweichung abgelöst, mithilfe derer das Individuum sich selbst normiert und normiert wird. Damit hat Foucault die Transformation einer durch Aufklärung und Wissenschaft, 53 | Dies ist an eine unverzichtbare Askese gebunden: »Modern-Sein heißt nicht, sich so, wie man innerhalb eines Flusses vergehender Momente ist, anzuerkennen; es heißt, sich als Objekt einer komplexen und harten Arbeit zu sehen« (ebd. 40).

3. Christliche Wer te – das Spezifische des Christentums?

durch moderne Bürokratie und Politik säkularisierten Christlichkeit in Bezug auf die Subjektkonstitution des Menschen in seinem Selbstmisstrauen, Bekenntniszwang und Optimierungswillen rekonstruiert. Betrachten wir die Befunde Foucaults im Licht der oben angestellten Überlegungen zur christlichen Ethik, so werden mit seinen Analysen die Folgen deutlicher, die die Radikalität christlicher Moral gezeitigt hat: Das Bemühen, das »Unkontrollierbare zu kontrollieren«, hatte nicht nur eine Kultur der Schuld zu Folge, sondern auch die Tendenz zur Unterwerfung unter eine Autorität, die die Selbst-Kontrolle einfordert und Erlösung verspricht. Diese existentielle Bindung an eine erlösende Macht lässt die konkreten Folgen des eigenen Handelns in Bezug auf die Mitmenschen, die Gesellschaft und die Welt insgesamt als sekundär erscheinen – wie das etwa Weber in Bezug auf die von hohen Moralstandards angetriebenen Puritaner anschaulich beschrieben hat. Das hohe moralische Ideal, die Radikalität christlicher Ethik führt also nicht notwendig zu einem besseren Zusammenleben und mehr Mitmenschlichkeit, sondern sie führt in erster Linie zu einer Konzentration auf das Selbst in Bezug zu Gott und damit zu Selbstmisstrauen, einer Furcht vor der eigenen Verderbtheit, dem eigenen Versagen, das mit einer Missachtung des Wohlergehens der anderen korrespondiert. Denn das eigene Tun wird am Ideal der individuellen Erlösung beziehungsweise Optimierung gemessen und nicht an den Konsequenzen für die Anderen und für die Gesellschaft. Insofern kann die Moral der Nächstenliebe das soziale Unrecht verdecken, da sich deren Akteure oft selbst durchaus den christlichen Moralstandards verpflichtet fühlen. Deshalb spricht Niebuhr davon, dass die religiöse Moral immer noch eigens auf die Gesellschaft bezogen werden muss, um auch eine prosoziale Kraft entfalten zu können. Dem eminenten Widerspruch zwischen dem christlichen Liebesgebot und der Missachtung der Anderen und der Welt wollen wir im Folgenden noch weiter nachgehen, und zwar im Zusammenhang mit der Debatte um die Geschichte der Gewalt im Christentum.

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4. E in widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe

Das Hauptgebot des Christentums ist die Nächstenliebe. Der damit verbundene hohe moralische Anspruch, der sich vor allem auch in der Radikalisierung dieses Gebots zu dem der Feindesliebe zeigt, führt nicht unbedingt zu einem gedeihlichen Miteinander der Menschen. Der Widerspruch zwischen den hohen moralischen Ansprüchen und den oft unmenschlichen »Begleiterscheinungen« christlichen Handelns wird noch weiter verschärft durch eine Gewalt, die im Namen Gottes verübt wird. Diese finden wir in der lateinischen Christenheit seit ihrer Etablierung als junge Kirche mit ihrer Verfolgung von Juden, »Häretikern« sowie Nicht- und Andersgläubigen. Die Befürwortung von Gewalt setzte sich durch das europäische Mittelalter mit seinen Kreuzzügen und Hexenverfolgungen bis in die Neuzeit der Glaubenskriege und in die jüngste Gegenwart in Form der christlichen Legitimation von unmenschlichen Regimes wie dem Nationalsozialismus fort. Wie ist eine solche »Kriminalgeschichte des Christentums« (K.-H. Deschner) im Rahmen einer Religion der Liebe denkbar? Wie lässt sich dieser eminente Widerspruch erklären? Lässt er sich überhaupt erklären, beziehungsweise wie wird mit ihm umgegangen? Es gibt derzeit eine Debatte um diese Frage in Deutschland, in der die Struktur der christlichen Religion als einer monotheistischen dafür verantwortlich gemacht wird. Vor allem der Ägyptologe Jan Assmann hat die These vom Monotheismus als einer der zentralen Bedingungen für Gewalt in der Religion ins Gespräch gebracht (vgl. Assmann 2003; 2006; 2007). Er ist der Auffassung, dass der Glaube an einen Gott notwendig zu Intoleranz und Gewalt führe.

D ie M onotheismus -These (J an A ssmann) Monotheismus bedeutet nach Assmann, dass es nur einen Gott gibt, der die ganze Welt regiert. Er ist der Weltherrscher. Zugleich rechnet er aber immer auch mit anderen Göttern, das heißt mit konkurrierenden Macht- und

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Wahrheitsansprüchen (vgl. Assmann 2006: 32). Der Monotheismus ist für Assmann notwendig mit einem Exklusivismus verbunden, der die anderen Religionen nicht nur als andere, sondern als Konkurrenten versteht. Die Intoleranz des Monotheismus ergibt sich also aus dem Anspruch, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, und zwar einer Wahrheit, die für die ganze Menschheit Geltung beansprucht. Insbesondere der hebräische Gott ist für Assmann ein eifernder Gott, der die Sünden seiner Feinde verfolgt bis ins dritte und vierte Glied, seinen Freunden aber bis ins tausendste Glied seine Gnade erweist (vgl. ebd.: 31). Seiner Meinung nach wurde im Judentum die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in einer Form verabsolutiert, wie es das vorher noch nie gegeben habe (vgl. Assmann 2003: 58). Sie habe eine »strukturelle Intoleranz« zur Folge, denn ihr Wahrheitsbegriff sei nach Reichweite (Universalität) und Gültigkeit (Absolutheit) allumfassend. Assmann bezeichnet diese kategorische Unterscheidung als die »Mosaische Unterscheidung«, die sich gegen alle anderen Götter und damit Religionen stellen muss und so im Sinne einer »Gegenreligion« sich über die Negation der Anderen definiere (vgl. ebd.: 36). Diese Haltung des eindeutigen »Entweder-Oder« bringe eine neue Form des Hasses auf die Welt: »den Hass auf Heiden, Ketzer, Götzendiener und ihre Tempel, Riten und Götter« (29). Die Frage ist allerdings, ob der monotheistische Glaube notwendig eine Feindschaft allen anderen gegenüber zur Folge hat. Auch Assmann betont immer wieder, dass es im Judentum zwar darum ging, dass das Volk der Juden Gott als seinen Herrn anerkennt, nicht aber darum, dass es damit zugleich die anderen abgewehrt oder abgewertet hätte. »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben« bedeutet, dass das Volk Israel sich allein seinem Gott zuwenden soll, es bestreite aber nicht die Existenz anderer Götter – geschweige denn, dass sie notwendig zu deren Verfolgung aufrufe (vgl. ebd.: 58). Im Wissen darum, dass es viele Völker gibt und diese jeweils auch ihren Gott haben, wäre ein universaler Totalitätsanspruch ziemlich weltfremd gewesen. Dementsprechend reagierte das Judentum auch mit Selbstabgrenzung, so Assmann (vgl. ebd.: 164). Zudem gibt es für ihn einen inklusiven Monotheismus, nämlich den ägyptischen, der den einen Gott als den Urgrund aller anderen Götter ansieht (vgl. ebd.: 57f.). Eine solche inklusive Position schließt er allerdings für das Judentum und im Wesentlichen auch für das Christentum aus. Dabei übersieht er, dass es auch im Christentum inklusive Strömungen gab und gibt. Gott wird auch als jemand verstanden, der sich in unterschiedlicher Form den Menschen zeigt und zeigen will. Auch im Monotheismus gibt es eine Ambivalenz, die einerseits für sich Ausschließlichkeit behauptet, aber auf der anderen Seite den eigenen Gott als das höchste Wesen, das sich Menschen in vielen verschiedenen Formen vermitteln kann, ansieht und davon ausgeht,

4. Ein widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe

dass die Verschiedenheit der Kulturen und Religionen Gottes Willen entspringen muss.1 Assmanns Argumentation ist also durchaus widersprüchlich. Zum einen tendiert er zu apodiktischen Unterscheidungen, indem er dem Christentum und dem Judentum einen absolutistischen Monotheismus zuschreibt, zum anderen aber schließt er die Möglichkeit der Inklusion nicht aus. Damit zeigt sich ein grundsätzliches Problem in Assmanns Analyse, nämlich dass er die Ereignisgeschichte als unwesentlich betrachtet.2 Er fragt nicht, in welchem historischen Kontext eine monotheistische Religion zur Verabsolutierung ihrer Position oder aber zu ihrer Relativierung neigt.3 Demgegenüber argumentiert etwa der evangelische Theologe Rolf Rendtorff, dass das Christentum eine solch apodiktische Position erst entwickelte, als es die Verbindung mit der weltlichen Macht mit Konstantin einging (vgl. Rendtorff 2003: 206). Nach Meinung von Rendtorff kommt also erst dann der christliche Exklusivismus zum Tragen, wenn die entsprechenden äußeren Bedingungen gegeben sind. Das heißt, er ist zwar in der christlichen Theologie angelegt, tritt aber erst in der Verbindung mit der politischen Macht aus der Latenz heraus. Das gilt auch für das Judentum, denn es hat in seiner Geschichte vor allem dann zu Gewalt gegriffen, wenn seine soziale Ordnung bedroht war (zum Beispiel im Makkabäer-Aufstand). Es hat also keineswegs die umgebenden Nachbarvölker ständig verfolgt, sondern häufig mit ihnen Verträge abgeschlossen, wenn damit die Existenz der jüdischen Gemeinschaft gesichert werden konnte. So gab es zahllose Vereinbarungen, um das Zusammenleben zwischen Juden und Heiden zu regeln. Daraus folgert der Religionswissenschaftler Hans Kippenberg, dass der Typus des exklusiven Monotheismus im Judentum in der Praxis nie die Monopolstellung erlangt hat, die Assmann annimmt (vgl. Kippenberg 2008: 20). Die Vernachlässigung der Ereignisgeschichte rächt sich auch angesichts der These Assmanns, dass der Polytheismus wesentlich eine tolerante Religionsform sei – sie lasse im Unterschied zum Monotheismus Vieles gelten. Das hält jedoch der empirischen Überprüfung nicht stand. So hat etwa das Judentum mehr unter den benachbarten polytheistischen Großmächten gelitten 1 | Ich komme im letzten Kapitel ausführlich darauf zurück. 2 | Im Gegensatz zur Erinnerungsgeschichte, auf die er sich im Wesentlichen bezieht. 3 | In seiner jüngsten Replik auf die Kritik an seinen Thesen gesteht Assmann allerdings recht vage der Ereignisgeschichte eine Bedeutung zu. So schreibt er in Bezug auf die reale Wirksamkeit der »mosaischen Unterscheidung«, dass »erst innerhalb der sich auf Mose beziehenden und im Laufe der Jahrhunderte mächtig entfaltenden Gedächtnisgeschichte« diese Unterscheidung zum Tragen gekommen sei und »vermutlich erst mit der Christianisierung der Alten Welt und der Vernichtung des Heidentums die Welt verändert« habe (Assmann 2014: 43).

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als diese unter dem Judentum. Die Toleranz des Polytheismus ist, wie Erich Zenger schreibt, schon seit Hume ein philosophisches Wunschbild gewesen (vgl. Zenger 2003: 215-229). Ob es sich tatsächlich realisiert, hängt von dem jeweiligen soziopolitischen Kontext ab. Insofern ließe sich diese Frage nur im Zusammenhang mit der Ereignisgeschichte klären. Besonders problematisch wird die apodiktische Argumentation Assmanns, wenn er die grausamen Folgen monotheistischer Gewalt insbesondere dem Judentum zuschreibt. Das Judentum hat zwar Kriege im Namen seines Gottes geführt, da in der vorchristlichen Zeit die Einheit des jeweiligen Königtums immer von dem einen Gott repräsentiert wurde, aber es hat nie »Heilige« Kriege zur Ausbreitung seines Glaubens geführt. Insofern entbehrt der von Assmann suggerierte Eindruck, Israel sei gewalttätiger als alle anderen damaligen Religionskulturen gewesen, jeder empirischen Grundlage.4 Die Diskreditierung des Judentums geht bei ihm so weit, dass er die Strafen im zweiten Buch der Könige, die für das Vergessen angedroht werden, als so sadistisch empfindet, dass er dieses Kapitel als eine »Todesfuge« bezeichnet, als »eine Vorwegnahme von Auschwitz« (Assmann 2007: 72). Hier ist mit Schieder zurecht zu fragen, was heißt hier »Vorwegnahme von Auschwitz«? Waren die Juden die Ideengeber von Auschwitz? »Wie kommt man überhaupt auf die Idee, ein Junktim zwischen einem Text aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. und Auschwitz herzustellen?« (Schieder 2011: 72) Und Schieder resümiert: »Es scheint ein spezifisch deutsches Bedürfnis zu geben, dem Judentum Gewalttätigkeit zuzuschreiben« (ebd.).5 Dem antisemitischen Grundtenor der Assmannschen Argumentation entspricht, dass er gegenteiligen Erzählungen im Judentum, denen der Inklusion, kein Gewicht beimisst. Demgegenüber führt der katholische Theologe Bernhard Lang in seinem Kommentar zu dieser Debatte aus, dass nicht nur Geschichten der Ausgrenzung und Gewalt im Judentum entscheidend waren, sondern etwa die Geschichte von Josef und seinen Brüdern auf eine Tradition 4 | Der Philosoph Peter Sloterdijk scheut sich nicht, in Anlehnung an die Thesen Assmanns zu Moses‘ Gewalt gegen die vom Bund mit Gott Abgefallenen davon zu sprechen, dass dieser Bericht einer »der schlimmsten Sätze der Religionsgeschichte aller Zeiten« beinhalte (Sloterdijk 2014: 126). Davon ausgehend fehlt nicht viel, um die Juden nicht nur für die Entstehung religiös motivierter Gewalt, sondern auch für die Einführung das Patriarchats verantwortlich zu machen (vgl. Dell’Agli 2014: 289) Ein antisemitischer Topos, der bereits in den 80er Jahren die öffentliche Debatte in Deutschland bestimmte und damals ausdiskutiert schien. 5 | Ähnlich abwegig erscheint die Vorstellung Assmanns, dass der Antisemitismus eine indirekte Folge des exklusiven Monotheismus sei: So schreibt er, dass das jüdische Volk den Hass der anderen Völker auf sich gezogen habe – in Wirklichkeit sei dies ein Antimonotheismus gewesen (vgl. Assmann 2000: 83-86).

4. Ein widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe

der Offenheit, der Anerkennung Anderer und der Vergebung verweist (vgl. Lang 2014: 71ff.). Zudem ist zu beachten  – und darauf hat vor allem Micha Brumlik hingewiesen –, dass im rabbinischen Judentum diese Narrative bearbeitet und in andere Traditionen eingebettet und damit in ihrem absoluten Anspruch zurückgenommen wurden (vgl. Brumlik 2014: 211f.). Allerdings ist es auch unangemessen, die These Assmanns direkt umzukehren und den Monotheismus, insbesondere das Christentum, als wesentlich friedfertig im Gegensatz zum Polytheismus zu behaupten, wie dies etwa der katholische Theologe und Kirchenhistoriker Arnold Angenendt tut. Für ihn ist vor allem der christliche Monotheismus Garant für Toleranz, da das Christentum als eine selbstreflektierende Religion Wahlfreiheit geschaffen habe und damit die Voraussetzung dafür, dass die Freiheit auch dem Anderen zugestanden werde. Hier erfolgte, so Angenendt wörtlich, »ein Durchbruch zu neuer Toleranz« (Angenendt 2009: 95). Für Angenendt bedeutet Polytheismus hingegen »natürlicher Krieg«. Er schreibt: »Im historischen Rückblick zeigt sich, dass Vielgötterei immer auch Vielvölkerei bedeutet und letztlich zum ›natürlichen Krieg‹ führt. Erst der Monotheismus bringt die Idee der Einheit des Menschengeschlechts hervor und beseitigt die Vielstämmigkeit« (ebd.: 229).

Hier argumentiert Angenendt nicht nur gegen die historische Erfahrung, sondern er übersieht auch die Gewaltträchtigkeit in der eigenen Begrifflichkeit, denn wie  – außer (auch) mit Gewalt  – kann eine »Einheit des Menschengeschlechts« hergestellt und die »Vielstämmigkeit« beseitigt werden? Anstelle einer eindeutigen Zuordnung von Gewalt zu Mono- oder Polytheismus erscheint es sinnvoller, die unterschiedlichen Dimensionen der verschiedenen Religionsformen in ihrer Widersprüchlichkeit und in ihrer Wechselwirkung mit politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zu betrachten. Die Bindung an einen einzigen Gott, das Wissen um die eine Wahrheit ist ein mächtiges Motiv für Gewalt – doch ist das kein Automatismus. Oder wie Kippenberg formuliert: »Es gibt einen Zusammenhang zwischen Monotheismus und Gewalt; jedoch muss man ihn kontingent nennen: Er ist weder notwendig, noch ist er unmöglich. Er hängt von der Situation ab, in der eine religiöse Gemeinschaft sich befindet« (Kippenberg 2008: 22). Insofern ist der Verweis allein auf den Monotheismus nicht hinreichend, insbesondere da weder das Judentum noch der Islam über die Definition von Orthodoxie und Häresie eine derartige Gewalttätigkeit ausgebildet haben wie das lateinische Christentum. Obwohl vor allem der Islam nach seiner Gründung rasch expandierte und dabei zunehmend auch Andersgläubige unterdrückte, haben dennoch die Christen des Abendlandes diesen hinsichtlich Reichweite, Systematik und Konsequenz der Repressionen andersgläubiger

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Minderheiten deutlich übertroffen, so die Einschätzung des Mediävisten Borgolte (2006b: 160). Diese Sonderentwicklung des lateinischen Christentums scheint eher aus dem Zusammenhang mit einer spezifischen historischen Konstellation, nämlich der Beerbung der Machtpolitik des römischen Reiches, erklärbar zu sein.

I mperiale R eligionspolitik und Theologie Der Blick in die Entstehungsgeschichte des Christentums hat gezeigt, dass ein enger Zusammenhang zwischen der politischen Konsolidierung des Christentums und seiner gewalttätigen Expansion besteht. Je enger sich die christliche Kirche mit der weltlichen Macht verband, desto klarer wurde die Abgrenzung gegenüber jenen formuliert, die als Häretiker und Ungläubige bezeichnet wurden, und desto gewalttätiger wurde ihre Verfolgung durchgesetzt. Dazu schreibt Arnold Angenendt: »Die Christen trieben, seitdem das Römische Reich geschlossen christlich war, eine imperiale Religionspolitik: Christentum und Reich wurden praktisch in eins gesetzt, so dass Heiden darin keine wirkliche Existenzmöglichkeit mehr fanden. Das erklärt die Praxis von Taufe oder Tod« (Angenendt 2009: 390).

Wie aber wirkte sich diese »imperiale Religionspolitik« auf die christliche Theologie aus, beziehungsweise wie wurde sie theologisch legitimiert und welche Auswirkungen hatte das wiederum auf die Inhalte des Glaubens? Der Monotheismus mag eine wichtige Voraussetzung für den Anspruch auf eine gewalttätige Durchsetzung des Glaubens sein, aber es bedarf dann auch einer Theologie, die diese Machtpolitik begründet. Dabei scheint eine große Kluft zu bestehen zwischen der Lehre eines Jesus, der sich von der Welt abwendet und aufruft alles »Irdische« zu überwinden und einer Theologie, die sich mit einer imperialen Macht identifiziert. Tatsächlich war die jesuanische Lehre jedoch so offen, dass die politischen Ereignisse im römischen Reich durchaus auch religiös gedeutet werden konnten. Christen konnten sich etwa auf die Stelle im Matthäusevangelium berufen, an der es heißt: »Mir ist alle Gewalt gegeben, im Himmel und auf Erden. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern« (28, 16-20). Dementsprechend glaubten viele Christen, dass die Bekehrung Kaiser Konstantins ein göttliches Zeichen sei. Die Prophezeiungen Jesu, das Reich Gottes sei nahe, würden nun Wirklichkeit werden. Sie waren überzeugt, dass der Kaiser von Gott gesandt worden war. Mit dieser Identifikation von geistlicher und imperialer Macht ging die Zustimmung zu einer gewalttätigen Politik zwangsläufig einher. Denn der Kaiser seinerseits verstand das

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Christentum von Anfang an als eine mit kriegerischer Gewalt verbundene Religion. Sie hatte sich im Kampf an der Milvischen Brücke als die überlegene erwiesen: Im Zeichen des Kreuzes war ihm der militärische Sieg versprochen worden. So wurde das Kreuz auf der Weltkugel zum Symbol für diesen Allmachtsanspruch. Dennoch fragt sich, ob daraus zwangsläufig eine solch weitgehende Verschmelzung von weltlicher und kirchlicher Macht resultieren und die Verfolgung Andersgläubiger notwendig mit einer solchen Unerbittlichkeit erfolgen musste.6 Warum konnten sich die Kritiker dieser Entwicklung, wie etwa Priscillianus, nicht durchsetzen?7 Inwiefern kam das Angebot des Imperiums, das Christentum zur einzig gültigen Staatsreligion zu erheben, entsprechenden Tendenzen im Christentum entgegen? Entscheidend für die Verfolgungspraxis ist – und hier ist ein Anschluss an die Monotheismusthese zu finden –, dass der Wahrheitsanspruch des Christentum explizit mit einem Missionsauftrag verbunden war. Dazu schreibt etwa Max Weber: »Jede Organisation der Erlösung in einer universalistischen Gnadenanstalt wird sich für die Seelen aller oder doch aller ihr anvertrauten Menschen vor Gott verantwortlich und daher berechtigt und verpflichtet fühlen, auch mit rücksichtsloser Gewalt ihrer Gefährdung durch Irreleitung im Glauben entgegenzutreten und die Ausbreitung der rettenden Gnadenmittel zu fördern.« (Weber 1995/1921: 379)

Damit scheint der Zusammenhang zwischen Gewalt und einer monotheistischen Religion, die zugleich einen universalistischen Anspruch hat, zwangsläufig gegeben zu sein. Das Problem dabei ist jedoch – neben dem Widerspruch zwischen christlicher Friedensbotschaft und Gewalt –, dass der Glaube selbst etwas ist, wozu sich die Menschen entscheiden müssen, und dass Zwang in der Religion deren eigenen Anspruch unterläuft. Davon waren auch die ersten 6 | Wie mit dem Edikt von Theodosius die Macht- mit der Glaubensgeschichte verbunden wurde, so wurde dies weiterhin praktiziert bei der Missionierung nach dem Zerfall des römischen Reiches mit der Ausbreitung des Christentums in den Norden. Die Sachsenkriege Karls des Großen bieten in den Grundzügen das Modell auch für den späteren Einbezug heidnischer Völker Osteuropas in die Christenheit: Der Fürst lässt sich taufen, und dann folgen die Untertanen, wobei sie »ebenso mit den Waffen wie mit den Predigten« bekehrt werden (Köhler 1982: 197). 7 | Priscillianus hatte sich gegen die Verbindung von Kirche und Staat gewandt. Er war für die Ideale der Armut und Ehelosigkeit eingetreten, für die Aufhebung der Sklaverei und die Gleichberechtigung der Frauen. Seine Lehre hatte sich rasch über Spanien, Bordeaux bis nach Trier hin verbreitet, wo er mit seinen Anhängern schließlich zum Tod verurteilt wurde (Graben-Haider, Maier 2008: 141).

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Christen überzeugt: Die Freiheit der religiösen Überzeugungen darf keinem Zwang unterworfen werden (libertas religionis). Das galt jedoch nicht mehr, als das Christentum Staatsreligion wurde. Nun gab es für sie nur noch diesen einen Weg zum Heil.8

Glaube und Zwang Der Kirchenlehrer Augustinus war ebenfalls wie die frühen Christen zunächst davon überzeugt, dass jeder seinen Glauben freiwillig zu wählen habe, da es dem Wesen des Glaubens widerspreche, dazu gezwungen zu werden. Glauben war für ihn eine freiwillige persönliche Entscheidung (vgl. Angenendt 2007: 96; Forst 2003: 69f.). Nach Augustinus war es auch nicht die Sache der Menschen über andere zu richten, da sie selbst auch nicht die Wahrheit zweifelsfrei erkennen könnten. Diese »epistemische Unvollkommenheit« wird mit einem Gleichnis Jesu belegt, in dem er sagt, wenn man Unkraut aus einem Weizenfeld ausreißen will, laufe man immer Gefahr den Weizen mit auszureißen (vgl. Mt 13, 24-30). Je mehr sich jedoch die Kirche etablierte, desto zwingender wurde für Augustinus ihr Anspruch über das Heil anderer Menschen verfügen zu können. Das wird nirgends so gut wie in der Kindstaufe symbolisiert, die er in der Kirche gegen anhaltenden Widerstand durchsetzte. Hier wird einem einer eigenen Willensbekundung unfähigen Menschen der christliche Glaube aufgenötigt. Augustinus begründete dies mit der vererbten Sündhaftigkeit der Menschen, also damit, dass auch bereits diese Kinder der Verdammnis preisgegeben seien. Dem widersprach etwa der britannische Mönch Pelagius: Er glaubte nicht, dass sich die Ursünde Adams auf alle Menschen vererbt habe und alle Menschen moralisch verdorben seien. Er war der Auffassung, dass Gott die Welt gut und schön erschaffen habe. Die Gerechtigkeit Gottes und der freie Wille der Menschen schlössen den Glauben an die Erbsünde aus.9 Pelagi8 | Ein Gesinnungswandel der sich bei Luther wiederholt: Sobald die eigene Doktrin dominant wird, wird ernsthaften Herausforderungen nicht mehr mit der Toleranz begegnet, die zuvor aus der Minderheitenposition für geboten gehalten wurde, so Forst (2003: 161). 9 | Pelagius strebte eine Sitten- und Kirchenreform an und hielt es mit Gottes Gerechtigkeit für unvereinbar vom Menschen sittliche Vollkommenheit zu fordern. Folglich müsse es in der Macht menschlicher Freiheit liegen, das Gute zu tun. Diese Freiheit kann durch die Sünde nicht zerstört werden. Auch war er überzeugt davon, dass die Reichen von Gott verdammt werden, während Augustinus den Aristokraten eine innere Frömmigkeit empfahl, sie sollten ihre Latifundien behalten, aber nur »gebrauchen« und nicht »genießen« (vgl. Flasch 2003: 178). Sein Programm eines ethischen rigorosen christlichen Humanismus scheiterte am Widerstand des Augustinus. Außer den Donatisten

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us wurde von Augustinus verfolgt und seine Anhänger mit dem Verlust ihrer Güter und mit Verbannung bestraft (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 142f.). Augustinus verteidigte diese gewalttätige Verfolgung unter anderem damit, dass er behauptete, die Gewissensfreiheit bliebe erhalten, auch wenn die Menschen mit Gewalt zum rechten Glauben gezwungen würden, da der Zwang sich ja nur gegen den Leib und damit das äußere Selbst des Menschen richte. Während der Schrecken (Terror) sich gegen den Leib wende, könne die Aufmerksamkeit der Seele auf die Erwägung der Wahrheit gelenkt werden (vgl. Forst 2004: 77). So könne die Züchtigung helfen, die Augen für die Wahrheit zu öffnen. Die Gewalt war für ihn eine bittere Medizin, die zum Heil der Seelen eingesetzt werden müsse.

Heilssorge Mit der Verfolgung der Andersgläubigen ging es Augustinus sowohl darum, seine Vorstellungen von Glaube und Kirche durchzusetzen, als auch darum, diejenigen zu retten, denen aufgrund ihrer »falschen« Lehre die ewige Verdammnis drohe. ,,Er verstand die Verfolgung als eine Form ›Väterlicher Fürsorge‹ und der ›heilenden Liebe einer Mutter‹, der es allein um das Heil ihrer Kinder geht, die die Kirche dazu motiviert, die Verirrten auf den rechten Weg zurückzubringen«, wie Forst schreibt (Forst 2003: 75). Wenn dazu eine vorübergehende Geißelung notwendig wird, geschieht dies aus Liebe und nicht aus Hass. »Die Liebe zu den Anderen, die in der Liebe zu Gott wurzelt, fordert die Rettung seiner Seele vor der ewigen Verdammnis – auch gegen seinen verblendeten Willen« (ebd.). »Abweichler« zu dulden wird für Augustinus nun selbst zur Sünde. So begründet die Theozentrik, der Vorrang der Gottesbeziehung vor der zu den Menschen, nicht nur deren Missachtung, sondern sogar die Anwendung von Gewalt. Das ewige Leben war für Augustinus wichtiger als das irdische, die Liebe zu Gott über die Liebe zu den Menschen zu stellen. Im Interesse des Guten konnten deshalb auch alle Einwände gegenüber Folter und Gewalt beiseite geschoben werden, da sie ja »nur« gegen den Leib und das irdische Leben gerichtet sind. Auch der Vater sei aus Liebe zu seinem Sohn streng, so sein Argument. Es komme auf die Absicht an. Man bewundert, so Flasch, »oft Augustins Satz: ›Liebe und tue, was Du willst‹, dilige, et quod vis fac. […] Der Zusammenhang dieses berühmten Textes ist folgender: Ob du strafst oder belohnst, die Tat soll aus Liebe geschehen« (Flasch 2003: 165). Und weiter schreibt er: »So schlägt

verfolgte Augustinus vor allem auch Priscillianus, den Kritiker der Fusion der Kirche mit dem Imperium, der am kaiserlichen Hof zu Trier 386 hingerichtet wurde.

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bei Augustin die Liebes- und Gesinnungsethik um in die Rechtfertigung von Gewalt« (ebd.).10 Augustin wusste allerdings, dass der Ruf nach Gewalt mit dem christlichen Liebesgebot schwer zu vereinbaren ist. Er löste diese Schwierigkeit, indem er, wie Flasch formuliert, es »übertrumpfte: Gerade aus Liebe müssen wir gegen den Willen eines Menschen, aber zu seinem Besten handeln, contra voluntatem tuam sed propter salutem tuam« (zit. in ebd.: 164).11 Die Opferung des »äußerlichen« Menschen für den »inneren« zeigt sich noch drastischer in der Empfehlung Augustins Gewalt auch gegenüber den Menschen auszuüben, die sich gegen eine Bekehrung sträuben. Denn ein uneinsichtiger Mensch müsse geopfert werden, wenn er für die Gemeinschaft gefährlich sei und sie vom Heil ablenken würde.12 In dem Zusammenhang spricht er von Andersgläubigen auch als von »Giftmischern« und gefährlichen »Krankheitserregern« (Forst 2003: 8).13 Sie müssen mit Hilfe des Staates zum Eintritt in die wahre Kirche gezwungen werden (vgl. Grabner-Haider & Maier 2008: 59f.; Flasch 2008: 37ff.).14 Die ersten, die diese Doktrin zu spüren bekamen waren, die Donatisten,15 also diejenigen, die sich u.a. gegen die Einbindung der Kirche in die weltliche Macht gestellt hatten. »Cogite intrare« (Zwingt sie herein zu kommen) 10 | Dazu Flasch 2003: 165: »Die Bibel, der man das Gegenteil nachsagt, leistete ihm ebenso wenig Widerstand wie später die Inquisition oder Calvin.« Die augustinische Lehre von der grundsätzlichen Verworfenheit des Menschen hat jedoch nicht nur die Konsequenz einer spirituellen und klerikalen Hierarchie, sondern auch die einer nachdrücklichen Trennung zwischen den Gläubigen und den »Un-« und »Falsch-«Gläubigen. 11 | Augustinus rechtfertigte die Gewalt damit, dass es nicht so sehr darauf ankomme, ob jemand überhaupt gezwungen werde, sondern wozu er gezwungen werde. 12 | Dem stellte sich in der Auseinandersetzung mit der Moraldiktatur von Calvin in Genf Castellio entgegen mit dem legendären Satz: »Ein Menschen töten heißt nicht eine Lehre zu verteidigen, sondern einen Menschen zu töten« (Forst 2003: 171). 13 | Vgl. dazu auch das Gleichnis vom Sauerteig bei Paulus zit. in Kap. 2. 14 | Dementsprechend galt für Augustinus nun der Militärdienst als unbedenklich, der bisher für Christen verpönt gewesen war. »Wie die Christen durch Gebete gegen die unsichtbaren Feinde kämpfen, so kämpfen die Militärs handgreiflich gegen die sichtbaren Barbaren« (zit. in Flasch 2003: 422). Und Flasch fügt an: »Die Feinde, die nach neutestamentlicher Lehre zu lieben wären, erscheinen hier als ›sichtbare Barbaren‹. Der eigene zivilisatorische Standard verdient jedenfalls verteidigt zu werden« (ebd.). 15 | Der nordafrikanische Bischof Donatus lehnte die konstantinische Staatskirche ab: ,,Die wahre Kirche ist die, die Verfolgung erleidet, und nicht die, die verfolgt […] Was hat die Kirche mit dem Kaiser zu tun?« Diese theoretische Position verband sich mit den Interessen der einheimischen Berberbevölkerung und der Nicht-Grundbesitzer (Flasch 2003: 159).

4. Ein widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe

verkündete Augustinus. Und er bezog sich dabei auf Jesu Gleichnis von dem Hochzeitsmahl (vgl. Luk 14, 16-24), bei dem die eingeladenen Gäste ausgeblieben waren. Daraufhin hatte der Herr zu seinem Knecht gesagt: »Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, auf dass mein Haus voll werde.« Er rühmte nun an Jesus die Gewalt: »Jesus habe die Händler mit Gewalt aus dem Tempel geworfen und die Dämonen nicht mit Überredung, sondern mit Gewalt ausgetrieben (non sermone suasionis sed vi potestatis)« (Flasch 2003: 103; Forst 2003: 78).16 Dies »Cogite intrare« war nach Angenendt vielleicht die Aufforderung des Augustinus, die die stärkste Wirkung auf die reale Geschichte gehabt hat (vgl. Angenendt 2007: 238). Allerdings war die Verfolgung der Donatisten nicht nur theologisch begründet, sondern auch sozial motiviert: Augustinus wollte die Gefahr eines sozialrevolutionären Protests abwehren, der die Kirche zu spalten drohte. Denn die Donatisten versammelten Wanderarbeiter und Berber, die sich gegen die Großgrundbesitzer vereinigt hatten. Die Einheit von Kirche und Staat schien gefährdet. In dem Zusammenhang schrieb Augustinus: »Man flieht die Einheit, und infolge davon erheben sich die Landpächter mit Frechheit gegen ihre Gutsherren, und die entflohenen Sklaven halten sich nicht nur wider die apostolische Lehre von ihren Herren fern, sondern sie drohen ihnen auch: ja sie drohen ihnen nicht bloß, sondern plündern sie auch in gewaltsamem Überfall« (Brief 108,19 zit. in Forst 2004: 74).

Mit seiner theologischen Begründung von Gewalt stützt sich Augustinus auf die Gewissheit, die für alle Menschen »richtige« Lehre zu vertreten. Er glaubt sicher zu wissen, was das Beste für den Anderen ist und was dieser »im Grunde« auch will oder zumindest wollen sollte. Hier zeigte sich nach Flasch eine »Tyrannei des einzig richtigen Wegs, die Verachtung jeder Abweichung, der Primat des ›einzig Richtigen‹ vor den einzelnen Menschen, die Legitimierung ihrer Manipulation und – für den Fall des Misserfolgs der Umerziehung – des staatlichen und kirchlichen Terrors« (Flasch 1980: 167).

Damit ist auch eine Verbindung zur Monotheismus-These hergestellt, die den exklusiven Besitz allein seligmachender Wahrheit für alle Menschen als Ursache der Gewalt ausgemacht hat. Aber gerade Augustinus beweist auch das Gegenteil, wenn wir an seine frühere Auffassung denken, dass die Menschen niemals die ganze Wahrheit allein erkennen können und dass, wie es im Gleichnis von Weizenfeld angesprochen wird, in Sachen des Glaubens allein Gott ein 16 | So fühlte sich Augustinus gerechtfertigt, die Menschen durch Zwangsmaßnahmen zur Umkehr zu nötigen.

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endgültiges Urteil zustehe. Die Lehre des Augustinus ist ein Beispiel dafür, wie sehr die politischen Verhältnisse die Theologie beeinflussen können. Und die Widerstände der als Häretiker apostrophierten »Dissidenten« zeigen, dass es innerhalb des (monotheistischen) Christentums durchaus auch andere Auffassungen gab. So hat zwar auch die Ostkirche Kriege theologisch legitimiert, aber nur im westlichen Christentum findet sich jene (augustinische) Theorie rechtmäßiger Gewaltanwendung zur Erreichung geistlicher Zwecke, die schließlich den Einsatz von Gewalt auch zur Ausbreitung des Christentums erlaubte (vgl. Küng 1994: 465). Augustin, der der entscheidende Kirchenlehrer der sich etablierenden römischen Kirche in der Spätantike war, wurde im Mittelalter durch die Lehre des ebenso einflussreichen Kirchenlehrers Thomas von Aquin weitgehend bestätigt. In seinem Hauptwerk, der »Summa Theologiae«, arbeitete er ebenfalls eine schroffe Hierarchie zwischen dem ewigen Heil und dem irdischem Wohl heraus, die es zwingend mache, sich für das Seelenheil der Anderen einzusetzen, auch auf Kosten ihres weltlichen Wohlbefindens. Das sei die Pflicht eines jeden Christen, da die Nächstenliebe es darauf absehen muss, das Heil des Anderen zu wollen, während sie das irdische Wohl, wie z.B. leibliches Leben, weltlichen Besitz, guten Ruf nur in zweiter Linie berücksichtigen kann.17 Die Aktualität dieser Position zeigt sich heute zum Beispiel in einer Debatte, die der katholische Religionsphilosoph und Kardinal von Mailand Carlo Maria Martini mit dem Professor für Semiotik Umberto Eco u.a. über die Frage der Rechtmäßigkeit der Abtreibung führte (vgl. Martini, Eco 1998). Das Verbot der Abtreibung – auch bei Gefahr für das Leben der Mutter – begründet Martini damit, dass fälschlicherweise angenommen werde, dass das menschliche Leben für die Katholiken der höchste Wert sei. Dies entspreche nicht dem 17 | »Wenn nun ein derartiges Gut, das ein einzelner besitzt, möglicherweise dem ewigen Heil bei einer Vielheit im Wege ist, so […] müssen wir vielmehr wollen, dass er es nicht habe, einerseits, weil das ewige Heil einem vergänglichen Gut vorzuziehen ist, andererseits, weil das Wohl einer Vielheit dem Wohl eines einzelnen vorgeht« (zit. in Schmidt-Leukel 2000: 181f.). Das gesamte Zitat: »Die Kirche dehnt nach der Anordnung des Herrn die Liebe auf alle aus, nicht nur auf Freunde, sondern auch auf ihre Feinde und Verfolger […] Zur Liebe aber gehört es, dass einer das Gute des Nächsten will und bewirkt. Es gibt nun aber ein zweifaches Gutes. Das Eine ist geistiger Art, nämlich das Heil der Seele, worauf es die Liebe hauptsächlich absieht; dies nämlich muss jeglicher aus Liebe für den Nächsten wollen. […] Das andere ist aber das Gute, das die Liebe erst in zweiter Linie berücksichtigt, nämlich das irdische Wohl, z.B. leibliches Leben, weltlicher Besitz, guter Ruf. […] Wenn nun ein derartiges Gut, das ein einzelner besitzt, möglicherweise dem ewigen Heil bei einer Vielheit im Wege ist, so […] müssen wir vielmehr wollen, dass er es nicht habe, einerseits weil das ewige Heil einem vergänglichen Gut vorzuziehen ist, andererseits, weil das Wohl einer Vielheit dem Wohl eines einzelnen vorgeht.«

4. Ein widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe

Evangelium, in dem es heißt: »Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können« (Mt 10,28). »Denn das Leben, das für das Evangelium das höchste ist, ist nicht das physische oder psychische Leben, sondern das göttliche Leben, das ›Gott dem Menschen mitteilt‹« (ebd.: 46). Und da Gott, so seine weitere Argumentation, das Ungeborene »bei seinem Namen gerufen habe«, ist dies Wesen höchster Achtung würdig (ebd.: 48).18

Gewalt in der jesuanischen Lehre Diese Theologie der Gewalt zeigt, dass die christliche Lehre deutungsoffen ist. Das Neue Testament hat eine »Liebes- und Friedensbotschaft«, sie hat aber auch den Gewaltlehren Augustins keinen Widerstand entgegengesetzt. Augustinus konnte für seine Positionen jeweils Zitate und Gleichnisse aus der Lehre Jesu heranziehen. Und wie bereits die antiken philosophischen Kritiker anmerkten, scheint sich Jesus selbst durchaus zu widersprechen, wenn er all jenen, die nicht glauben, ewiges Feuer und Verdammnis verheißt. Wo ist die Nächstenliebe, so fragte etwa Kelsos, wenn im Gleichnis vom armen Lazarus, bei dem der Reiche mit ewigen Höllenqualen bestraft wird, während Lazarus im Himmel neben Gottes Thron sitzt, dieser dem Reichen nicht einmal einen Tropfen Wasser im ewigen Feuer gönnt, um seine Qualen zu lindern. Dies ist nach Kelsos ein Lehrstück an Herzlosigkeit (vgl. Luk. 16,19-26).19 Auch zeigt er an anderen Stellen der Bibel, dass sie voller Androhungen gegenüber all denen ist, die sich dem wahren Glauben nicht beugen wollen. So verkündet der auferstandene Jesus seinen Jüngern: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden« (Mk 16,16). Demnach scheint die Nächstenliebe nur für den Kreis der »Recht«-Gläubigen gedacht zu sein und vor all denen Halt zu machen, die sich nicht zum »rechten« Glauben bekennen.20 Insofern haben die paganen

18 | In der Neuzeit ist eine weitere Quelle der Gewalt die Übermoralisierung, der Moralterror, wie er etwa durch das Wirken Calvins in Genf entwickelt und exerziert wurde: Nach Calvin sollten die von Gott Erwählten hohen Heiligkeitsidealen entsprechen und sich gegen das Böse und die Bösen wenden und in und außerhalb der Kirchen »heilige Kriege« führen (vgl. Graf 2010: 45). 19 | S. auch Mt 10,14-33; Luk. 14,33;. Off 22,13-15; 1Tim, 1,20; 1Kor 5,13. 20 | »Und wenn euch jemand nicht aufnehmen und eure Rede nicht hören wird, so geht heraus aus diesem Hause oder dieser Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen. Wahrlich, ich sage euch: Dem Land der Sodomer und Gomorrer wird es erträglicher ergehen am Tage des Gerichts als dieser Stadt« (Mt 10, 14-15). »[…] Und sprach zu ihm: Freund, wie bist du hier hereingekommen und hast doch kein hochzeitliches Gewand an? Er aber verstummte. Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm die Hände

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Philosophen Zweifel, ob die moralischen Lehren Jesu für ihn beziehungsweise für Gott selbst auch gelten. Aber auch der Kreuzestod Jesu weist auf eine Gewaltdimension in der christlichen Theologie hin: Gottvater opfert seinen Sohn. Jesus wird gemartert und geschlagen und stirbt am Kreuz einen qualvollen Tod. Schuld an diesem Opfertod hat aber der Mensch, der sich im Paradies gegen den Befehl Gottes gestellt hat. Seine Sünde war anscheinend so schwerwiegend, dass sie den Tod des Gottessohns als Sühne verlangte. »In dem Fall wird Gewalt zum Medium der Erlösung. Sie alleine kann die Menschheit reinigen und erlösen«, wie der katholische Ethiker Jean-Pierre Wils schreibt (Wils 2004: 44).21 Er interpretiert dies Geschehen so, dass im Tod Jesu die Gewalt gebannt wird und das Christentum damit eine Zivilisierung der Gewalt gefördert habe. Gewalt sei immer auch Teil von Religionen, generell etwa in Form der Opferung. Diese stelle eine periodische Reinigung dar, womit eine Überschwemmung der Gruppe durch Gewalt exterritorialisiert werde. Deshalb spricht Wils von einem Gewaltparadox: Indem die Religion die Gewalt in Form des Opfers integriert und einfriedet, trägt sie zur Überwindung von Gewalt zwischen den Menschen bei. Sie wird im Opfer gewissermaßen repräsentiert und gebannt, zugleich aber auch geheiligt (vgl. ebd.: 38ff.).22 Wir können also festhalten, dass neben der christlichen Liebes- und Friedensbotschaft die Lehre von der Verdammnis der Sünder und Ungläubigen steht. Aber allein dadurch, dass die Sünden der Menschen Jesu eigenes Leiden und seinen Opfertod erklären, wird der Bezug zur Gewalt zu einer zentralen Aussage. Sie basiert auf einem schroffen Gegensatz, einem Dualismus von wahr und falsch, gut und böse, am stärksten herausgearbeitet in der Apokalypse des Johannes, der die »Söhne des Lichts« mit den »Söhnen der Finsternis« in einem kosmischen Kampf miteinander kämpfen sieht. Dieser Gegensatz zwischen »erwählt« und »verworfen« wird insofern von Augustinus noch und Füße und werft ihn in die Finsternis hinaus! Da wird Heulen und Zähneklappern sein. Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt« (Mt 22, 12-14). 21 | Deshalb muss seiner Meinung nach zwischen defensiver, offensiver und purifizierender Gewalt unterschieden werden. 22 | Wir können auf diese interessante Diskussion hier nicht weiter eingehen – dennoch sei angemerkt, dass eine Religion, die Gewalt nicht thematisiert, auch nicht den Anspruch haben kann, das Leben in seiner Ganzheit zu erfassen. Was jedoch kein Freibrief für die hier so genannte offensive Gewalt sein kann. So wird im Christentum, wenn wir etwa der Argumentation des evangelischen Theologen Hempelmann (2006: 40) folgen, das Leiden geheiligt. Mithilfe der Kreuzestheologie werde das Leiden in einmaliger Weise mystifiziert, denn durch das Leiden ist man seinem Schöpfer nahe. Man folgt Christus nach und hat damit selbst Anteil am Göttlichen. Vgl. auch die Charakterisierung der Demuts- und Leidensmentalität des Christentums bei Nietzsche.

4. Ein widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe

verschärft, als er bereits im neugeborenen Kind ein der Verdammnis preisgegebenes Geschöpf sieht. Heute  – und darauf komme ich noch ihm Rahmen der Modernisierung des Christentums in Kap. 5 zu sprechen – beobachten wir eine entgegengesetzte Entwicklung: Die Gewalttheologie im Christentum wird immer mehr zurückgedrängt. Von Hölle und Verdammnis ist kaum mehr die Rede, und die Gewalt in der Kirchengeschichte wird mit verschiedensten Argumentationen zu rechtfertigen und zu minimieren versucht. Es gibt also unterschiedliche Entwicklungen innerhalb des Christentums, was sein Verhältnis zur Gewalt anbetrifft, je nachdem ob es sich, wie zu Beginn seiner Geschichte, mit einer imperialen Macht oder heute mit einer demokratischen Gesellschaft identifiziert. Die theologische Schwerpunktsetzung innerhalb des Christentums hängt also entscheidend von seiner Beziehung zur weltlichen Macht ab, aber auch davon, welchen politischen Charakter die jeweilige weltliche Macht hat, das heißt, in welchem kulturell-politischen Kontext das Christentum jeweils situiert ist. Außer der expliziten Gewaltandrohung für Sünder und »Un«gläubige verbirgt sich im Christentum eine prinzipielle Gewaltträchtigkeit auch in den in ihm strukturell verankerten Ungleichheiten. Wenn Menschen eine unterschiedliche Wertigkeit zugeschrieben wird, dann bedarf es nicht unbedingt der direkten Gewalttaufforderung, denn allein die Benachteiligung in Bezug auf den Zugang zu Ressourcen, zu Rechten und sozialem Ansehen macht Gewaltanwendung und deren Rechtfertigung wahrscheinlich. Das gilt für die patriarchale Gewalt, die sich auf die strukturelle Ungleichheit zwischen Frauen und Männern stützt, aber auch für die rassistisch motivierte Gewalt, die auf ethnisch beziehungsweise rassistisch legitimierten Hierarchien basiert. In Bezug auf das Christentum ist hier die feministische Theologie aufschlussreich, ebenso wie die postkoloniale Theologie, die aus dem Blick der ehemals kolonisierten und missionierten Bevölkerung die christliche Theologie gegen den Strich bürstet. So geht etwa die südafrikanische Religionswissenschaftlerin Musa W. Dube davon aus, dass die Bibel nicht nur patriarchale, sondern auch imperiale Tendenzen unterstützt (vgl. Dube 2000). Das zeigt sie an vielen Stellen in der Bibel, besonders eindrücklich am Beispiel des Matthäus-Evangeliums, wo es um Jesu Umgang mit einer kanaanitischen, also einer nicht-jüdischen Frau geht.23 Hier wird deutlich auf den Unterschied zwischen den »Heiden« und dem jüdischen Volk hingewiesen. Die einen sind »Kinder«, die 23 | Diese bat Jesus um Heilung ihrer Tochter, die von einem Dämon gequält werde. Er reagierte nicht, und erst als die Jünger ihn darum baten, da die Frau so schreie, sagte Jesus: »Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Doch die Frau kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! Er erwiderte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen. Da entgegnete sie: Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer

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es verdienen mit Jesus am Tisch zu sitzen und Brot mit ihm zu teilen, während die kanaanitische Frau zu den Hunden gehört, die lediglich die Krumen essen dürfen, die vom Tisch fallen. Dube resümiert, dass diejenigen, die die Bibel als einen Text der Befreiung lesen, ihre Interpretation ausweiten und sehen müssen, wie auch hier Hierarchien zwischen den Geschlechtern, zwischen den »Rassen« und Kulturen begründet und damit ungerechte Verhältnisse gerechtfertigt werden (vgl. ebd.: 108f.)  – Aber nicht nur soziale Hierarchien können mit der Bibel gerechtfertigt werden, sondern, wie wir sahen, auch die Gewalt – so wenn Augustinus sich mit seinem »cogite intrare« auf die Bibel stützt. Diese Forderung war in der Geschichte des lateinischen Christentums auch deshalb so wirkmächtig, weil Augustinus damit nicht nur die Verfolgung von Andersgläubigen im Einzelfall, sondern auch den Krieg gegen Nicht- und Andersgläubige gerechtfertigt hat.

Glaube und Krieg Die Lehre vom »gerechten Krieg«, die Augustinus entwickelt und Thomas von Aquin weiter ausformuliert hat,24 bildete über Jahrhunderte die argumentative Basis für die Missionskriege, die vor allem mit den Kriegen Karls des Großen begonnen hatten.25 Dieser drohte den Sachsen (in den sogenannten Sachsenkriegen 772-804), sie bis zur Unterwerfung  – oder aber Vernichtung  – mit Krieg zu überziehen. Hier wurde eine »imperiale Missionsgewalt« proklamiert mit der Alternative: »Taufe oder Tod« (Angenendt 2009: 382). Diese Sachsenkriege Karls des Großen bieten in den Grundzügen das Modell für die weitere Christianisierung der Länder Mittel-, Ost- und Nordeuropas. Ihre »Bekehrung« erfolgte jeweils nach demselben Muster: Der unterworfene Fürst lässt Herren fallen. Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt« (Mt 15, 21-28). 24 | Der gerechte Krieg erforderte in der Formulierung von Thomas von Aquin vor allem drei Dinge: erstens die Vollmacht des Fürsten, zweitens einen gerechten Grund und drittens die rechte Absicht (vgl. Angenendt 2009: 416). Wobei in jener Zeit ein Krieg gegen die Heiden dann als gerechtfertigt galt, wenn »die sich in bewusstem Falschglauben kriegerisch verteidigten, darin böswillig verharrten oder unerleuchtet dorthin zurückkehrten; zudem durften sie die Schriftgläubigen weder provozieren noch deren Ehre schmähen und sollten überdies ehemals christliche Territorien herausgeben« (ebd.). Nun war der Unglaube selbst zum Unrecht geworden und damit Anlass für Krieg. Vgl. auch Maier 2008: 62f. 25 | »Die Kirche darf kein Blut vergießen: Ecclesia non sitit in sanguinem. Sie besitzt auch keine Straf- und Blutgerichtsbarkeit und darf keine Kriege führen. Das änderte sich mit den Kreuzzügen. […] Bernhard von Clairvaux formulierte, dass ein Schwert von der Kirche, das andere für die Kirche geführt werden müsse« (Gabriel 2012: 127 ff.).

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sich taufen und dann folgen die Untertanen, wobei sie diese »ebenso mit den Waffen wie mit den Predigten bekehren« (Köhler 1982: 197). Im Mittelalter waren die Kreuzzüge die bedeutsamste Form der gewalttätigen Selbstbehauptung des Christentums – nun gegenüber dem Islam.26 Es ging jedoch im Laufe der sieben Kreuzzüge (1096 -1291) zunächst vor allem um die Rückeroberung Jerusalems und weniger um die Missionierung der Moslems. Im Lauf der Zeit wurde jedoch ihre militärische Unterwerfung immer mehr mit dem Ziel der Bekehrung verknüpft. So rief Bernhard von Clairvaux zum zweiten Kreuzzug mit der Forderung zum Töten »mit gutem Gewissen« auf, denn einmal müssten doch die Heiden den christlichen Glauben annehmen. Und da sie kaum durch Zufall zum Glauben kämen, sollte die Macht der Waffen sprechen. Durch die Gewalt der Waffen sollten die Bedingungen zur Bekehrung geschaffen werden (vgl. Forst 2003: 89). Viele Christen reagierten enthusiastisch auf den Aufruf zum Kreuzzug. Das vor allem deshalb, weil Urban II. den Krieg mit einem Heilsversprechen verbunden hatte. Es sollten alle, die daran teilnahmen, von ihren Sünden erlöst werden. So rief auch Bernhard von Clairvaux die Christen dazu auf, sich in den Krieg zu stürzen, denn der Einsatz sei gering, da die Seligkeit des Himmels der Lohn sei: »Ihr Sünder, jetzt ist die Gelegenheit zur Rettung. Gott will den Nachlass der Sünden und ewige Herrlichkeit zahlen. […] Du tapfrer Ritter, du Mann des Krieges, jetzt hast du eine Fehde ohne Gefahr, wo der Sieg Ruhm bedeutet und der Tod Gewinn« (zit. in Fried 2009: 220).

Die Last der Sünden drückte viele anscheinend so schwer, dass eine riesige Anzahl von Menschen, von Männern, Frauen und Kindern bereit war, die Heimat zu verlassen und sich auf das ungewisse Abenteuer eines Feldzugs ins »Heilige Land« zu begeben. Der Kreuzzugsablass wurde ein solcher Erfolg, dass die Päpste seit dem 13. Jahrhundert den Kreuzzug nicht nur gegen die Heiden, sondern auch gegen »Ketzer« ausriefen und den Teilnehmern die gleichen Ablässe versprachen. Thomas von Aquin verwarf zwar die gewaltsame Bekehrung Ungetaufter, aber die Ungläubigen dürften nicht den wahren Glauben behindern. Deshalb 26 | Im Mittelalter während der Kreuzzüge war dies der Anknüpfungspunkt, um die Invasionen zu rechtfertigen. Papst Innozenz IV. (1243-54) lehrte, dass er als Papst befehlen könne, christlichen Glaubensboten in andere Länder zu schicken und dass diese zugelassen werden müssten, weil diese Länder im Unrecht seien. Ihr Unrecht bestand in ihrem Unglauben. »Theoretisch«, so Maier in Anlehnung an Höffner, »war damit das Verhältnis zu den Heidenvölkern als dauernder Kriegszustand gekennzeichnet« (Maier 2008: 63).

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könne Gewalt ihnen gegenüber auch gerechtfertigt sein, nicht um sie mit Gewalt zu bekehren, sondern um sie daran zu hindern, anderen den Weg zum wahren Glauben zu versperren. Aber er lehrte auch, dass ein Getaufter, der den christlichen Glauben ablege, des Todes würdig und dem weltlichen Arm zur Hinrichtung zu übergeben sei. Häresie ist für ihn die schwerste Sünde, weil damit ein gegebenes Versprechen gebrochen wird – während die Sünde der Juden und Heiden weniger schlimm sei, da sie kein Versprechen gebrochen hätten (vgl. Forst 2004: 92). Über die Missionskriege und die Kreuzzüge, die Ketzer- und Hexenverfolgung hinaus wurden mit der aufkommenden Neuzeit vor allem auch die Kolonialkriege gerechtfertigt. Denn wie selbstverständlich hatte Papst Alexander VI. dem König von Spanien die Länder Amerikas »geschenkt«. Die Eroberer forderten deshalb die Einheimischen  – nach einer kurzen Einführung über die Schöpfung der Welt und die Erlösung durch Jesus Christus – auf, sich als Vasallen der spanischen Krone zu begreifen und die Kirche als den Oberherrn der ganzen Welt anzuerkennen. Man würde sie zwar nicht zwingen Christen zu werden, wenn sie aber böswillig zögerten, würde man mit Gottes Hilfe gewaltsam gegen sie vorgehen und sie mit Krieg überziehen und Kinder und Frauen zu Sklaven machen, sie verkaufen und über sie nach dem Befehl seiner Majestät verfügen. So der Inhalt des sogenannten »Requerimiento«, eines 1513 erlassenes Gesetzes, das den Indios von den Spaniern vorgelesen wurde, als sie das Land betraten (vgl. Angenendt 2007: 467f.). Die Verpflichtung zur Taufe der Einheimischen begründeten sie dabei mit dem Jesuswort: »Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden« (Mk 16,16). Auch in der Neuzeit wurden die religiös wie auch säkular begründeten Kriege in der Regel von den Kirchen gerechtfertigt und die Begründung vielfach mit religiösem Pathos aufgeladen. So wurden nicht nur die nationalen Befreiungskriege von Theologen und Pastoren geheiligt, sondern auch die rassistischen Vernichtungskriege des Nationalsozialismus. Kriege waren in allen Epochen für die Kirchen Ausdruck des Willens Gottes etwa im Sinn eines Strafgerichts, für das die Sündhaftigkeit der Menschen verantwortlich zu machen sei. Schließlich ist, mit Graf, auch der Begriff der Gewalt auf die psychische Gewalt hin zu erweitern. Und hier war eine weitere Quelle der Gewalt im Christentum die Übermoralisierung, der Moralterror, wie er etwa durch das Wirken Calvins in Genf entwickelt und exerziert wurde: Calvin hatte im Gegensatz zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers die politische Obrigkeit für die Realisierung der Königsherrschaft Christi mit verantwortlich gemacht. Die von Gott Erwählten sollten hohen Heiligkeitsidealen entsprechen und sich gegen das Böse und die Bösen inner- und außerhalb der Kirchen wenden und dafür »heilige Kriege« führen (vgl. Graf 2010: 45).

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Allerdings gab es immer auch eine gewaltkritische Tradition im Christentum. So waren Soldaten in den ersten Christengemeinden von der Taufe ausgeschlossen, und auch nach der Vereinigung mit dem römischen Imperium wirkte das Bewusstsein weiter, dass zwischen christlichem Leben und Gewaltausübung ein Widerspruch bestehe. Das Ideal wurde vor allem von einem friedlichen Mönchstum weitergetragen, das allerdings mit den Kreuzzügen sich zunehmend auch kriegerisch gebärdete. Bis dahin galt ein Gegensatz zwischen dem kriegerischen Ritter und dem friedfertigen Mönch. Die Kreuzzüge jedoch führten zu einer Verschmelzung in Form der Ritterorden, deren Mitglieder gelobten sowohl arm, keusch und gehorsam als auch kämpferisch und tapfer zu sein.27 Im Mittelalter war dem Klerus – innerhalb von Kirchengebäuden auch den Laien – das Tragen von Waffen verboten, und die Formulierung des gerechten Krieges durch Thomas von Aquin sollte, wie etwa Ries argumentiert, der Begrenzung, nicht der Rechtfertigung von Gewalt dienen. Immer gab es im Christentum, besonders auch nach der Reformation, zahlreiche Gruppierungen, die sich am Ideal der Gewaltlosigkeit orientierten (vgl. Ries 2008: 168). Dies Ideal der Gewaltlosigkeit wurde jedoch selten auch gegenüber jenen aufrechterhalten, die den christlichen Glauben in Frage stellten. Vielmehr hat sich die Friedensbotschaft der christlichen Lehre vor allem auf die Anhänger Jesu bezogen, während die Abtrünnigen und Nichtgläubigen verurteilt, ja verdammt wurden. Sigmund Freud sieht in der Aggressivität den Anderen gegenüber einen zwingenden Bezug zur Liebesbotschaft des Christentums: Man kann, so seine Argumentation, auf Aggressionen nicht generell verzichten, da sie wie die Libido zum Überleben und damit zur Grundausstattung der menschlichen Psyche gehören. Deshalb kann nur dann eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander gebunden werden, wenn andere Menschen als Objekte für die Äußerung der Aggression übrig bleiben (Freud XVI: 437). Die Aggression muss also verschoben werden. Das belegt er u.a. mit der christlichen Frühgeschichte:

27 | Dieser Zusammenhang von Selbstverleugnung und Aggressivität hatte nach Bartlett zu jener Zeit eine hohe Attraktivität. So wurden die Ritterorden im 11. und 12. Jahrhundert die mächtigsten und angesehensten Gemeinschaften der Christenheit (vgl. Bartlett 1996: 319). Die im Zusammenhang mit den Kreuzzügen sich bildenden Ritterorden wurden etwa von Bernhard von Clairvaux damit gerechtfertigt, dass sie nicht für Ruhm, sondern für Christus kämpften, im Herzen den Glauben, nach außen Eisen trügen (vgl. Fried 2009: 219).

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe »Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden; den Römern, die ihr staatliches Gemeinwesen nicht auf Liebe begründet hatten, war religiöse Unduldsamkeit fremd gewesen.« (ebd.)

Und als weiteren Beleg führt er das damals für ihn aktuelle Zeitgeschehen an: »Es war auch kein Zufall, dass der Traum einer germanischen Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief« (ebd.: 474). Insofern kann man in Bezug auf die Friedfertigkeit beziehungsweise Gewalttätigkeit des Christentums mit Grabner-Haider & Maier resümieren: »Wir erkennen in diesem Glauben zum einen eine stark sozialisierende und pazifizierende Dynamik, zum andern aber den ebenso starken Trend zum Kampf gegen alles Fremde und Nichtchristliche. Binnensolidarität wurde mit geballter Aggressivität gegen das Fremde verbunden, dies ist die Dynamik des christlichen Glaubens bis weit ins 20. Jahrhundert geblieben« (Grabner-Haider & Maier 2008: 69).

Resümee Der Widerspruch zwischen der gewaltvollen Geschichte des lateinischen Christentums und seinem Hauptgebot der Nächstenliebe kann generell aus ihrem auf dem Monotheismus basierenden absoluten Wahrheitsanspruch und dem Missionsauftrag, dem Anspruch die ganze Welt mit dieser Wahrheit der Erlösung zuzuführen, erklärt werden. Diese Erklärung genügt jedoch nicht, da sowohl der Missionsauftrag wie auch der Wahrheitsbegriff unterschiedlich interpretiert werden können. Entscheidend waren jeweils die historischen Bedingungen, die auch die Interpretation der Theologie beeinflussten. So nahm der Missions- und Wahrheitsbegriff erst dann eine absolutistische Form an, nachdem das Christentum zur Reichsreligion des römischen Imperiums geworden war. Ein weiterer gewichtiger historischer Umstand war, dass zur Zeit der Etablierung der Kirche das römische Reich zerfiel und die römisch-katholische Kirche das kulturelle und politische Erbe des westlichen Teils des römischen Imperiums antrat. In diesem Verhältnis von Imperium und Kirche konvergierten theologische und realpolitische Machtansprüche.28

28 | Das totalitäre Potential des Christentums konnte immer dann aktiviert werden, wenn die religiösen Ansprüche mit politischer Macht verbunden wurden. Dies wurde in die Parole gefasst, »die seit Eusebius und Konstantin über viele Jahrhunderte das gefeiert hat, was man auch die Tyrannei des Einen nennen könnte: ›Ein Reich, ein Kaiser, ein Gott‹«, so Walter Sparn (2008: 230f.).

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Theologisch war im Christentum die Gewalt insofern angelegt, als es scharf zwischen den Rechtgläubigen einerseits und den Abweichlern, Ungläubigen und Andersgläubigen andererseits trennte. Ebenso kommt der Gewaltanwendung die christliche Leibverachtung entgegen, denn die Gewalt trifft ja »nur« den äußerlichen Menschen. Was gilt schon das leibliche Leben, wenn es dem ewigen Heil im Wege steht, was die körperliche Unversehrtheit angesichts der ewigen Seligkeit. Die »Tyrannei des richtigen Weges« wurde von Augustinus mit aller Zuversicht vertreten, da die gewaltsame Hinführung der Anderen zu ihrem Heil seiner Meinung nach mit dem Liebesgebot nicht nur vereinbar, sondern sogar geboten war. Aus Liebe zu ihnen müssen die Anderen zu ihrem Heil gezwungen werden. Die Sorge um das Seelenheil von Heiden und Häretikern machte es den Christen zur Pflicht, sie notfalls auch mit Gewalt zum katholischen Glauben zu zwingen. So wurden Kriege – und wie wir später noch sehen werden, auch die Sklaverei – geheiligt, führte dies doch die sonst der Verdammnis Preisgegebenen ihrer Erlösung zu. Für ein solch militantes Vorgehen bedarf es jedoch eines besonderen theologischen Selbstbewusstseins, nämlich zu behaupten, man wisse aufs Bestimmteste, was für den Anderen gut ist. In einem solch unbeirrbaren Selbstbehauptungswillen, wie er in der augustinischen Theologie sichtbar wird, spiegelt sich wiederum eine weltlich gestützte Machtposition. Heute – unter der Bedingung demokratischer Gesellschaften – stößt diese Theologie von Macht und Gewalt vielfach auf erhebliche Kritik. Nur die Theologie der Liebe scheint noch Geltung beanspruchen zu können. Insofern stellt sich die Frage, wie christliche Theologen heute mit der eklatanten Diskrepanz zwischen dem Gebot der Nächstenliebe und der Geschichte der Gewalt ­umgehen.

Z um U mgang mit den W idersprüchen Mit diesem Widerspruch hat sich in der letzten Zeit etwa der einflussreiche katholische Kirchenhistoriker Arnold Angenendt auseinandergesetzt, der ein sehr erfolgreiches Buch mit dem Titel »Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert« (Angenendt 2007 sowie 2005; 2009) geschrieben hat, das 2012 bereits in der fünften Auflage erschienen ist. Er hat sich mit diesem Buch, wie er sagt, die Aufgabe gestellt, auf die Kritik an der Gewaltgeschichte der Kirche zu antworten. Angenendt geht davon aus, dass das Christentum wesentlich als Liebesund Friedensreligion zu verstehen und gegen Gewalt eingestellt sei.29 Aller29 | »Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse

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dings habe die Kirche im Laufe ihrer Geschichte auch gefehlt. Er gesteht ein, dass »die mittelalterliche Zwangsmission, die Einrichtung der Inquisition, die Todesstrafe für Ketzer, die Aufrufe zu Kreuzzügen, die neuzeitlichen Konfessionskriege, die Ablehnung der Religionsfreiheit im 19. und 20. Jahrhundert« bedrängende Fragen stellen, die auf ein substantielles Problem hinweisen (Angenendt 2009: 362). Diese Fragen werden aber von ihm in ihrer Substanz nicht weiter erörtert, sondern Angenendt geht es im Wesentlichen darum, das Ausmaß der Gewalt möglichst zu minimieren und widrige Umstände anzuführen, die die Durchsetzung christlicher Gewaltlosigkeit verhindert hätten. So habe der »antikirchliche Gewaltverzicht« noch lange seine Wirkung getan, indem etwa die Hinrichtung des »spanischen Asketen Priscillian für das erste Jahrtausend der einzige im Westen sicher bezeigte Fall geblieben ist« (ebd.: 251). Vor allem aber versucht er andere gesellschaftliche Gruppierungen beziehungsweise Instanzen für das große Ausmaß der Gewalt verantwortlich zu machen. So weist er im Zusammenhang mit der Hexenverfolgung darauf hin, dass diese Gewalt in vielen Fällen nicht eigentlich von der Kirchenhierarchie und von Rom ausgegangen sei, sondern vom Volk. Wenn, dann habe der Staat verfolgt, nicht die Kirche (vgl. ebd.: 370). Und in Bezug auf die Jahrhunderte überdauernden Judenverfolgungen meint er, dass der Klerus zwar zur Ablehnung der Juden durchaus beigetragen hätte, freilich ohne es direkt zu wollen, sondern wenn man Kirche mit dem antijüdischen Stereotyp in Verbindung bringen wolle, handle es sich eher um einen »Vulgärkatholizismus« (ebd.: 516f.). So sei »christlicherseits wie auch katholischerseits, trotz aller antijüdischen Stereotype, niemals an Gewalt oder gar Vernichtung gedacht worden« (ebd.: 541). Zudem seien die anderen Konfessionen und Religionen im Vergleich zur katholischen Kirche viel gewalttätiger gewesen. So hätten die katholischen Spanier zwar gewalttätig missioniert, aber die Protestanten in Nordamerika hätten die Menschen darüber hinaus versklavt, verdrängt und vernichtet (vgl. ebd.: 463). Auch habe in Südamerika erst die Erfolglosigkeit der friedlichen Mission zur Gewalttätigkeit von Seiten der Dominikaner geführt, und der Kolonialismus sei ohnehin eine Idee der Auf klärer gewesen (vgl. ebd.: 455; 463). Im Vergleich zum Judentum und dem Islam meint er, dass zwar auch das Christentum »schrecklicher- und beklagenswerterweise« genug Gewalt ausgeübt habe, aber nur an einer ganz bestimmten Stelle. Es habe nicht gegen die Andersgläubigen an sich, sondern nur gegen die eigenen Abtrünnigen gekämpft. Demgegenüber wäre etwa im Frühjudentum der griechische Christ Stephanus als Tempelkritiker gesteinigt und der Bruder des Herrn, Jakobus und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5, 44f). »Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen« (Lk 6,27f).

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der Ältere, hingerichtet worden. Dasselbe Gebot der Tötung der Abgefallenen befolge der Islam. Insofern bilde das Christentum hier eine Ausnahme, denn: »Es wollte durchgehend tolerant sein.« Und er behauptet, dass der Eintritt ins Christentum frei vollzogen werden sollte und resümiert den Vergleich mit Islam und Judentum: »Halten wir demnach fest: Während alle drei Monotheismen den Eintritt in ihre Religion nur frei und überlegt vollzogen wissen wollten, blieb das Christentum auch bei Austritt gewaltfrei, verhängte nur geistlich-kirchliche und keine körperlichen Sanktionen, schon gar nicht die Tötung. Zuzulassen war die ›vermischte‹ Gesellschaft, die erst Gott scheiden werde. Das war die christliche Ausnahme gegenüber Judentum und Islam« (ebd.:4).

An anderer Stelle zitiert er zustimmend den Berner Islamwissenschaftler Johann Ch. Bürgel, demzufolge wir hier auf »einen oft übersehenen oder verdrängten, aber doch unleugbaren Unterschied‹ zwischen Islam und Christentum stoßen: »Christus lehrte und lebte Gewaltlosigkeit bis zur letzten Konsequenz, dem Tod am Kreuz; Muhammad dagegen griff für die Sache Gottes zum Schwert und führte einen erfolgreichen Kampf bis zur völligen Unterwerfung der riesigen arabischen Halbinsel« (Bürgel zit. in ebd.: 439).

Anders sieht dies hingegen der Mediävist Michael Borgolte. Seiner Meinung nach war das Papsttum mindestens seit dem 13 Jahrhundert von der Vorstellung einer Einheit der lateinischen Christenheit geradezu besessen: »Vielfalt wurde in die Nähe des Bösen gerückt. Die Juden wurden seit dem hohen Mittelalter wieder und wieder diskriminiert, ausgebeutet, erschlagen und vertrieben. Sie fanden vielfach im türkischen Reich ein neues Exil. Umgekehrt duldeten die Osmanen die Christen und zwangen sie nur in begrenztem Umfang zur Konversion. Zwar gab es im Mittelalter Duldung der Vielfalt, aber keine Toleranz und Anerkennung. Das war den Religionen im Mittelalter nicht möglich.« (Borgolte 2006a: 159)

Angenendt verteidigt dennoch die seiner Meinung nach prinzipielle Friedfertigkeit des Christentums u.a. damit, dass es eine zentrale Aufgabe der sogenannten Sekundärreligionen30 war, die Menschen aus dem Urzustand 30 | Ein Begriff, den er von Assmann übernimmt. Angenendt beschreibt ihn so: »Primärreligion ist Weltbeheimatung in Volk und Blut; Sekundärreligion ist Psycho-Beheimatung in Geist und Herz. Alles, was von Gott kommt, entspringt dessen Geist und Herz. […] Der Hauptgrund für die Andersartigkeit der Sekundärreligion ist darin zu sehen,

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­ nkontrollierter Gewalt herauszuführen und sie zu Kulturwesen zu machen. u Hier greift er also auf eine Evolutionstheorie zurück, nach deren Auffassung sich die Menschen in einem quasi linearen Prozess von der Gewalt distanzieren, je »zivilisierter« sie werden. Diese zivilisatorische Leistung schreibt er den sekundären, also »zivilisierteren« Religionen zu. Wie wir jedoch im Kapitel 10 sehen werden, ist der Zivilisationsbegriff selbst gewaltträchtig und in sich ambivalent. Dementsprechend ist auch die Vorstellung eines urtümlichen Aggressions- und Kriegszustandes, den der Fortschritt gebändigt habe, bereits Teil einer zivilisationstypischen Fortschrittsgläubigkeit und angesichts der extremen Gewalt Europas bis hinein ins 20. Jahrhundert empirisch nicht aufrechtzuerhalten. Schließlich meint Angenendt, dass auch die Auf klärung wesentlich zur Intoleranz der heutigen Welt beigetragen habe, und dass säkulare Ideologien wie der Nationalsozialismus oder der Stalinismus noch viel mehr Unheil angerichtet hätten als die christlichen Kirchen. Zweifellos haben sich säkulare Positionen in puncto Gewalt ebenfalls diskreditiert – angefangen vom Terror im Gefolge der Französischen Revolution bis hin zur Gewalt der säkularen faschistischen und kommunistischen Regime. Dennoch geht es nicht an, Säkularität gegen Christlichkeit auszuspielen. Vielmehr sind die ihnen jeweils eigenen Widersprüche zu sehen und die spezifischen Kontexte, die es ermöglichen, Gewalt zu legitimieren. Angenendt hingegen beharrt auf dem Prinzip der Friedfertigkeit der katholischen Kirche. Seiner Meinung nach hätten die Kirchenlehrer die Gewalt immer kritisch gesehen (vgl. Angenendt 2009: 255, 268). Und er gibt ihren »mahnenden Stimmen« in seiner Darstellung ein überragendes Gewicht. Immer wieder weist er darauf hin, dass es eigentlich das Christentum gewesen sei, das die Abschaffung der Sklaverei in die Wege geleitet habe, dass es der Dominikanermönch Las Casas gewesen sei, der als erster die Stimme gegen die Brutalität der spanischen Eroberer erhoben habe: »Wo immer nämlich Kritik am Kolonialsystem laut wurde, waren es Missionare, die sich zu Fürsprechern der Eingeborenen machten. […] Insofern leistete die christlichen Mission einen wesentlichen Beitrag zur globalen Humanisierung« (ebd.: 464). 31

dass die Monotheismen vergeistigte Religionen sind. Sie stellen als Buch-, Welt- und Monotheismus-Religionen nicht nur eine herausragende zivilisatorische Leistung dar, sondern bilden mehr noch eine neue Form von Religion, weil der monotheistische Gott als Hüter von Recht und Gerechtigkeit auftritt, dabei den Guten belohnt und den Bösen bestraft« (2008: 3f.). 31 | Ich werde in Kap. 10 noch genauer darauf eingehen.

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Zuweilen geht die Argumentation sogar so weit, die Glaubensfreiheit oder auch die Gleichstellung der Geschlechter dem christlichen Glauben zuzuschreiben. So schreibt er in seinem Epilog: »Radikal hat das Christentum die Geschlechterbeziehung verändert, nämlich zur Gleichberechtigung hin« (ebd.: 584). Wie er zu diesem Schluss kommt, ist bemerkenswert: Zum einen führt er durchaus überzeugend die Bestrafung des Ehebruchs bei der Frau wie beim Mann sowie die Abschaffung der Todesstrafe bei Ehebruch im Christentum an (vgl. ebd.: 584). Dass jedoch die Frau nach der Bibel als Gefährtin Adams aus seiner Rippe geschaffen worden und deshalb nach Paulus die Frau auch dem Mann untertan sein soll,32 das scheint demgegenüber keine Rolle zu spielen. Und dass die Frauen vom kirchlichen Amt und Kultus ausgeschlossen wurden, hat nach Angenendt lediglich mit der »Verunreinigung« der Frau zu tun. Dazu meint er wörtlich: »Diese Schwäche (der Frau) konnte allerdings durch Gottes Gnade nicht nur überwunden, sondern noch überboten werden« (ebd.: 162).33 Auch seine Ausdrucksweise ist aufschlussreich: So sind seine Formulierungen in Bezug auf katholischerseits verübte Gewalt recht beschwichtigend. Angesichts des millionenfachen Todes im Gefolge der Missionierung und Kolonisierung Lateinamerikas schreibt er: »Tatsächlich ist im Zuge der europäischen Welteroberung mancherorts ein erheblicher Rückgang der Bevölkerung eingetreten. Doch waltete hier nicht von vornherein Böswilligkeit, jedenfalls nicht grundsätzlich. Die Gründe sind eher als tragisch denn als bösartig zu bezeichnen. Mit den Europäern breiteten sich Krankheiten aus, die manche einheimische Bevölkerung dezimiert haben« (ebd.: 462 – Hervorhebungen B.R.).

Und das angesichts der Tatsache, dass, wie er anmerkt, in Südamerika die Bevölkerung während des 16. Jahrhunderts von 70 auf 10 Millionen »sank« und in Neuengland im 17. Jahrhundert 75-90 Prozent der Indios »verschwanden«. An anderer Stelle spricht er von einer »Gesamtkatastrophe« im Zusammenhang 32 | »Ich lasse euch aber wissen, dass Christus das Haupt eines jeden Mannes ist; der Mann aber ist das Haupt der Frau; Gott aber ist das Haupt Christi. […] Eine Frau aber, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt; denn es ist gerade so, als wäre sie geschoren. […] Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, denn er ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz. Denn der Mann ist nicht von der Frau, sondern die Frau von dem Mann. Und der Mann ist nicht geschaffen um der Frau willen, sondern die Frau um des Mannes willen« (1Kor 11, 3.5.7-9). 33 | Er belegt das damit, dass etwa in den Frauenklöstern im Mittelalter die Frauen sich mystisch erhoben wussten, in der Mystik habe sich ihnen ein Erfahrungsbereich ohnegleichen eröffnet. Und er zitiert Paulus, 1Kor 1, 27: »Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist […]«.

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mit der spanischen Kolonialisation, die trotz des Sozialgedankens, der sich zum Völker- und Menschenrecht weiterentwickelt habe, »nicht verhindert werden konnte« (472 – Hervorhebungen B.R.). Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass Angenendt mit allen Mitteln versucht gegen die Empirie zu argumentieren, um das Prinzip der Friedfertigkeit und Gleichberechtigung hochzuhalten, das er als Kern des Christentums ausgemacht zu haben glaubt. So gesteht er etwa in Bezug auf die Gottesebenbildlichkeit der Menschen, die die Basis der Menschenrechte seien, zwar ein, dass diese Ebenbildlichkeit durch die Ursünde »gestört« worden sei (vgl. ebd.:112),34 aber dennoch gilt für ihn: »Kein Zweifel, aufs Ganze hat der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit intensiv eingewirkt. Vollberechtigtes Menschsein war eine Existenz ohne Knechtschaft und Unterordnung, bei allgemeiner Teilhabe auch an den gemeinsamen Erdengütern« (ebd.: 113f).

Damit versucht er nicht nur eine gute Idee gegen eine schlechte Praxis hochzuhalten, sondern auch alle möglichen Entlastungsstrategien zu fahren, nach dem Motto: Die Anderen sind auch schuld und eigentlich noch viel gewalttätiger, als die katholischen Christen je waren. Indem er so die Gewalttätigkeit der anderen in den Vordergrund rückt, kann er das Christentum wiederum als eine mäßigende und bändigende Macht – als einen Friedensbringer erscheinen lassen. Er relativiert die Gewalt, indem er immer wieder darauf hinweist, dass sie doch nicht alle, sondern nur bestimmte Gruppen getroffen habe, wie etwa »nur« die Abtrünnigen (vgl. ebd.: 326). Allerdings fragt sich, ob er sich einen Gefallen tut, wenn er etwa dem Protestantismus im Vergleich zum Katholizismus besondere Grausamkeit unterstellt, handelt es sich doch zweifellos um eine christliche Religionsgemeinschaft. Und ihm geht es ja darum das Christentum selbst als genuin friedliebend darzustellen. Angesichts der nicht zu übersehenden Gewalt in der Kirchengeschichte muss er jedoch einräumen, dass dadurch eine Diskrepanz zur christlichen Lehre entstanden sei. Die Christen hätten »eigentlich auf jede körperliche Gewalt in Religionsdingen verzichten wollen«, gleichwohl hätten sie den spätantiken Kaisergesetzen zugestimmt, welche den Glaubensabfall mit dem Tod bedrohten. »Das wird man als ihren großen Sündenfall bezeichnen müssen« (Angenendt 2005: 326). Es habe keinen Sinn, so schlussfolgert er, Menschen zum wahren Glauben zwingen zu wollen, aber »dennoch sind die Monotheismen gewalttätig geworden, nämlich in der Verfolgung der Abweichler« (vgl. ebd.: 327). Nun werden plötzlich alle Monotheismen einbezogen – also auch das Judentum; und es trifft »nur« die Abweichler, nicht aber die Ungläubigen. 34 | Vgl. dazu auch Kap. 8.

4. Ein widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe

Und er resümiert, dass die heutige Religionsfreiheit, wie sie im säkularen Staat gewährleistet ist, im Grunde mit der kirchlichen Gewaltfreiheit übereinstimme und nun das Christentum von einer falschen Erblast (Angenendt 2008: 6) befreit sei. Angenendt wollte mit seinem Buch, wie er in der Einleitung schreibt, »sowohl die Macht wie die Ohnmacht der Religion für Humanität und Menschenwürde dar[zu]stellen« (2009: 16). Das heißt, die Gewaltgeschichte ist für ihn ein Zeichen von Ohnmacht, jedoch in der Lehre und den Institutionen des lateinischen Christentums nicht verankert. Er suggeriert, dass das Christentum bedauerlicherweise seine Humanitätsideale nicht immer durchsetzen konnte, sondern zuweilen den gewalttätigen Verhältnissen ohnmächtig ausgeliefert gewesen sei. Die aktive Rolle der Kirche in der Propagierung und Durchsetzung von Gewalt wollte er also nicht beschreiben. Und die tatsächlich ausgeübte Gewalt ist für ihn folgerichtig allenfalls als ein »Sündenfall« zu verstehen oder, wie er in der Einleitung schreibt, als »zeitweiliges Versagen« (ebd.: 14). Überzeugender setzt sich Hans Küng mit der Rolle der Gewalt in der Geschichte des westlichen Christentums auseinander. Allerdings versteht er die, wie er sagt, »Fülle von Machtarroganz und Machtmissbrauch in der Geschichte der Kirche« als »ekklesiogene Neurosen«: Neurosen aufgrund von Zwängen des kirchlichen Systems, klerikaler Herrschaft, Beichtpraxis, sexueller Verdrängung, Fortschritts- und Wissenschaftsfeindlichkeit bis heute« (Küng 1978b: 349 in Buggle 2004: 241). Er geißelt die Beteiligung der Kirchen am Nationalsozialismus, denn: »Ohne die fast zweitausendjährige Vorgeschichte des ›christlichen‹ Antijudaismus, der auch die Christen in Deutschland an einem überzeugten und energischen Widerstand auf breiter Front hinderte, wäre er unmöglich gewesen!« Und er fährt fort, dass »keine der nationalsozialistischen Maßnahmen wie etwa die besondere Kennzeichnung der Kleidung, Ausschluss von Berufen, Mischehenverbot, Plünderungen, Konzentrationslager, Verbrennungen und Vertreibungen […] neu waren, dies alles hat es schon im christlichen Mittelalter gegeben.« (Küng 1978a:195-197 in Buggle 2004: 242)

Küng macht es sich also nicht so leicht, Ursachen und Ausmaß von Gewalt einfach anderen, wie dem Staat, dem Volk oder anderen Religionen und säkularen Weltanschauungen zuzuschreiben. Er weiß um die Wechselwirkungen zwischen Volk und Christentum ebenso wie zwischen Staat und Christentum oder zwischen christlicher Kultur und säkularen Ideologien. Dennoch versteht er die Gewaltexzesse des Christentums als Ausdruck von »Neurosen«, also von krankhaften Abweichungen. Ob diese »Diagnose« sehr viel weiter hilft, ist fraglich, denn wie sähe dann eine angemessene »Therapie« aus?

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

Resümee Nächstenliebe und Friedensbotschaft gelten als der Kern des Christentums, trotz einer lang anhaltenden Geschichte der Gewalt. Diese Geschichte wird als Sündenfall, als Verrat oder als eine Neurose gedeutet – auf alle Fälle als eine Abweichung von dem, was das Christentum eigentlich ausmacht. Demgegenüber zeigt sich jedoch, dass die Gewalt der christlichen Lehre keineswegs so äußerlich ist, wie es den Anschein zu haben scheint, denn diese besteht nicht nur aus der Bergpredigt und dem Liebesgebot, sondern sie beinhaltet ebenso die kategorische Verdammnis der Sünder sowie aller Anders- und Nichtgläubigen. Dabei sind die Strafandrohungen des ewigen Gerichts von schockierender Grausamkeit und Unerbittlichkeit. Kein Wunder also, dass die Christen unverzüglich die Verfolgung Andersgläubiger aufnahmen, nachdem sie mithilfe des römischen Kaisers an die Macht gekommen waren. Das widerspricht der These, dass die weltliche Macht die neu entstehende Kirche zur Gewalt verführt oder gar genötigt habe. Vielmehr hatte Augustinus mit seiner Lehre die Gewalt bei der Verfolgung Anders- und Nichtgläubiger nicht nur gerechtfertigt, sondern sie sogar zu einer christlichen Pflicht erklärt. Denn es sei unverantwortlich, andere Menschen ihrem Unheil zu überlassen, deshalb müssen sie notfalls auch mit Gewalt zu ihrem Heil gezwungen werden. Die frühere kirchliche Position, nämlich dass die Basis jedes Glaubens eine freiwillige Entscheidung sein muss, ebenso wie die politische Forderung nach Toleranz in Glaubensfragen, waren nach der Vereinigung mit der weltlichen Macht obsolet geworden. Das heißt, dass die Vereinigung mit der imperialen Macht einen erheblichen Einfluss auf die Inhalte der Theologie hatte – ebenso wie die Tatsache, dass das römische Reich wenige Jahrzehnte später unterging und die römische Kirche sich als Träger des kulturellen und politischen Erbes des römischen Reiches ansah. Es gibt also zweifellos eine Wechselwirkung zwischen der Ereignisgeschichte und der theologischen Entwicklung. Das zeigt sich schon daran, dass das Christentum des Ostens, das Christentum Syriens, des damaligen Sassanidenreiches, Armeniens, das Christentum in Indien, Ägypten, Nubien etc. keineswegs so militant wie das lateinische Christentum auftrat, unter anderem deshalb, weil das Christentum in all diesen Regionen in einer Minderheitenposition verblieb.35 Das kann jedoch nicht dazu führen alle »Schuld« der weltlichen Macht anzulasten, denn es bedarf einer inneren Bereitschaft, sich auf das Angebot einer gewalttätigen Durchsetzung einzulassen und sie auch selbst aktiv voranzutreiben. Schließlich gab es selbst in der Hochphase imperialer 35 | Das hatte vor allem damit zu tun, dass sich dort als mächtige kulturelle und politische Macht der Islam ausbreitete, wodurch das Christentum in einer Minderheitsposition blieb (vgl. MacCulloch 2010: 245ff.).

4. Ein widersprüchliches Erbe: Gewalt versus Nächstenliebe

Religionspolitik, in der Spätantike, auch Kritik daran – etwa von Priscillianus oder Donatus. Sie konnten sich aber nicht durchsetzen. Die Machtverhältnisse sprachen gegen sie. Die jesuanische Ethik birgt in sich sowohl das Gebot der Nächstenliebe wie auch die Verdammnis von Sündern und Andersgläubigen. Je mehr die Christen dazu verpflichtet werden einander zu lieben, desto mehr wird, wie Freud formulierte, die Aggression nach außen verlagert. All diejenigen, die diese brüderliche Gemeinschaft schädigen könnten, müssen verfolgt werden – und das umso mehr, je rigoroser das Gebot der Nächstenliebe formuliert wird. Heute wird die Gewalt im Christentum zu minimieren versucht. Das ist auch weitgehend Konsens in der Bevölkerung. Sie ist davon überzeugt, dass das Christentum eine Religion des Friedens und der Nächstenliebe sei.36 Das ist so, weil, wie wir sahen, die Geschichte gespalten wird in die Geschichte eines wahren »Ur-«Christentums und eines »verfälschten« Christentums der Kirche. Das sieht auch Angenendt so, wenn er davon spricht, dass »der gute Jesus und die böse Kirche« das Bild sei, das spätestens seit der Aufklärung das Bild vom Christentum bestimmt (vgl. Angenendt 2007: 65). Ebenso wird es geprägt von der Spaltung zwischen dem guten Christentum und der bösen Welt, die das Christentum zu Gewalt und Machtpolitik verführt habe. Und schließlich finden wir eine Spaltung zwischen dem guten Christentum und den bösen Religionen der Anderen.37 Diese unterschiedlichen Spaltungsprozesse lassen die Immunisierung gegenüber einem kritischen Blick auf das Christentum erklären, die »hinter« aller Realgeschichte ein wahres, reines und gutes Christentum verborgen weiß. Ein Christentum ohne Gewalt und ohne innere Widersprüche. Ein solches Christentum wird dann auch gern als kulturelles Erbe angenommen. Zudem erfährt die christliche Moral aufgrund ihrer Radikalität eine besondere Wertschätzung. Die Zentralität des Gebots der Nächstenliebe und ihre Radikalisierung zur Feindesliebe scheinen das Christentum gegenüber anderen Religionen auszuzeichnen. Aber: Höhere Ansprüche führen nicht notwendig zu einem ethisch wertvolleren Verhalten, sondern eine für Menschen »unmögliche« Moral stiftet zum einen die Abhängigkeit von Gnade und Absolution und zum anderen ein anhaltendes Schuldbewusstsein. Die Last der aufgebürdeten Schuld kann dabei die Menschen so drücken, dass sie gegen sich und ihre Nächsten unnachsichtig werden und sich eine große Kluft 36 | So zeigen die aktuellen Umfragen, dass »das« Christentum von 80 Prozent der Befragten mit Nächstenliebe und von gut 70 Prozent mit Menschenrechten, Wohltätigkeit und Friedfertigkeit verbunden wird (vgl. Allensbach 2006). 37 | Der Part von Gewalt und Fanatismus wird heute vor allem »dem« Islam überlassen, denn »der« Islam wird von 70-80 Prozent als eine Religion der Gewalt verstanden (vgl. Allensbach 2006).

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I. Christliche Religiosität und kulturelles Erbe

zwischen dem individuellen Streben nach Erlösung und dem Wohlergehen der Menschen und der Gesellschaft auftut. Das heißt, dass eine primär theozentrische Moral unmenschliche Folgen zeitigen kann, wenn sie die Menschen von ihrer Verantwortung für ihre Mitmenschen und die Gesellschaft entbindet. Die Identifikation mit dem christlichen Erbe basiert also – so die These zum Abschluss dieses ersten Teils – wesentlich auf einer Idealisierung des Christentums. Die negativen Anteile werden dabei abgespalten und »das« Christentum ausschließlich als eine Lehre des Friedens und der Nächstenliebe vorgestellt. Die Gewaltgeschichte des lateinischen Christentums hat darin ebenso wenig Platz wie die fatalen Folgen einer theozentrischen Moral und das Streben des Christentums nach Macht und Exklusivismus. Michel Foucault wie auch Max Weber haben in ihren Untersuchungen gezeigt, wie sehr das Joch der Selbstbeschuldigung und Selbstkontrolle in die für die europäische Modernisierung typischen Disziplinierungsmaßnahmen mündete. Damit wurde bereits die Prägung der säkularen Kultur in Europa durch das Christentum angesprochen. Dies soll nun ausführlich Thema des folgenden zweiten Teils sein.

II. S  äkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaft

5. Säkularisierung und Religion

Mit Säkularisierung ist die Vorstellung verbunden, dass die ehemalige Macht der Kirchen in Staat und Gesellschaft zurückgedrängt und Religion primär Privatsache ist. Mit Säkularisierung ist aber auch die Vorstellung verbunden, dass Religion mit der Moderne im Niedergang begriffen sei. Das ist jedoch, wie wir bereits sahen, so keineswegs einfach der Fall. Selbst im hoch säkularisierten Westeuropa können wir eine diskursive Renaissance des Religiösen beobachten, was etwa in dem Begriff des »Postsäkularen« (Habermas) zum Ausdruck kommt. Welcher Zusammenhang besteht also zwischen Moderne und Religion, beziehungsweise wie weit trägt heute noch die Säkularisierungsthese? Und was bedeutet Säkularität in diesem Zusammenhang? Steht Säkularität dem Christlichen als das Nicht- oder gar Antireligiöse gegenüber, ist Religion und Säkularität ein Gegensatz? Zweifel sind angebracht. Nicht nur, weil die christlichen Kirchen nach wie vor einen erheblichen Einfluss auf politische Prozesse und gesellschaftliche Diskurse in Deutschland ausüben, sondern weil, wie wir sahen, auch die Mehrheit der Bevölkerung sich eine Orientierung an christlichen Werten wünscht und ihnen eine grundlegende Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft zuspricht. Auch wenn religiöse und säkulare Positionen nicht notwendig Gegensätze sind, so gibt es doch Unterschiede. Denn seit der Trennung von Staat und Kirche im Zuge der Säkularisation (1803) gibt es Sphären in der Gesellschaft, die als nicht von der Religion bestimmte, als »neutrale« Bereiche gelten, wie etwa Politik, Recht, Wissenschaft und Bildung. Als säkular gelten auch Werte wie Demokratie und Menschenrechte, und zwar weil man annimmt, dass deren Begründung für Menschen jeglichen kulturellen und religiösen Hintergrunds nachvollziehbar ist. Insofern gibt es religionsfreie diskursive Räume, die sich von religiösen Bereichen unterscheiden lassen. Das in Deutschland herrschende Säkularitätsverständnis hält es zwar für legitim, dass religiöse Menschen und die Kirchen auf diese neutralen Räume Einfluss nehmen, aber das dürfe nicht so weit gehen, dass sie deren Neutralität untergraben und sie ausschließlich christlich besetzen.

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

Wenn es nun aber wechselseitige Einflussnahmen zwischen Christentum und Säkularität gibt, wie gestalten sich diese? Gibt es Formen der Kooperation und Koexistenz, der Überschneidungen und Diffundierungen oder aber auch Formen des Widerspruchs und Gegensatzes? Im Folgenden will ich zunächst klären, in welchem historischen Kontext sich unser Verständnis von Säkularität entwickelt hat, um dann genauer nach Gültigkeit und Reichweite der Säkularisierungsthese zu fragen und schließlich die Wechselwirkungen zwischen Christentum und Säkularität genauer zu bestimmen. Säkularisierung ist, wie bereits angedeutet, ein komplexer Begriff. Im Allgemeinen wird Mehreres darunter verstanden: Säkularisierung bedeutet eine institutionelle Trennung der säkularen Sphären wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft von religiösen Institutionen und Normen. Eine weitere Komponente ist die Theorie vom fortschreitenden Niedergang religiöser Überzeugungen und Praktiken im Zuge der Modernisierung durch Wissenschaft, Technik und Industrie. Schließlich umfasst sie das Konzept der Privatisierung der Religion als einer Voraussetzung für moderne, säkulare und demokratische Politik (Casanova 2009: 83).1 Diese Komponenten werden oft als zusammenhängend verstanden; die Frage aber ist, ob und wenn ja, wie sie zusammenhängen. Zunächst ist festzuhalten, dass dieser Begriff ein spezifisch europäischer und christlicher ist und keineswegs notwendig an die Moderne gebunden. So weist etwa Smith daraufhin, dass sich Säkularisierung ideengeschichtlich bis in die griechische Antike zurückverfolgen lässt (vgl. Smith 2008). Er nennt Anaxagoras den Urvater der Säkularisierung, der um 500 v.u.Z. in Athen lehrte. Dieser erklärte, dass die Sonne nicht Helios sei, der täglich seine Wanderschaft über das Firmament antrete, sondern ein heiß glühender Stein. Er behauptete auch, dass der Mond aus Erde sei und das Licht der Sonne reflektiere. Für diese irreligiösen Behauptungen wurde Anaxagoras verfolgt. Er ist insofern, nach Smith, ein Urvater der Säkularisierung als er außerweltliche Mythologien zurückwies und übernatürliche Erklärungen durch materielle, natürliche ersetzte und weil er, wie viele Säkularisierer nach ihm, vom religiösen Establishment verfolgt wurde (vgl. ebd.: 22). Auch andere Regionen der Welt haben schon lange ihre eigenen Erfahrungen mit dem gemacht, was die Europäer Säkularisierung nennen. So war zum Beispiel in den Gesellschaften Chinas, Japans und Koreas aufgrund der Koexistenz mehrerer staatlich unterstützter Religionen sowohl die Trennung von Religion und Staat als auch die Pluralität von weltanschaulichen Perspektiven indigener Bestandteil ostasiatischer Traditionen, wie Joachim Gentz schreibt (vgl. Gentz 2007: 377). Dabei war auch die Verstaatlichung 1 | Säkularität bedeutet historisch, dass ein System seine eigenen Gesetze, seine eigenen Werte entwickelt und die Transzendenz ihre Relevanz verliert. Mit Säkularisation ist der Prozess der Verstaatlichung von Kirchenbesitz gemeint (1803).

5. Säkularisierung und Religion

religiöser Besitztümer seit mehr als tausend Jahren Bestandteil staatlicher Religionspolitik. In China etwa gab es seit Jahrtausenden einen religiösen Pluralismus. Der Wettbewerb der Religionen drückte sich hier in einer Vielzahl herrschaftlicher Edikte aus, die im Wesentlichen die Machtbalance einerseits zwischen Konfuzianismus als Staatskult und ethischem Ideal sowie andererseits Daoismus, Buddhismus und andere Religionen betrafen (vgl. Riesebrodt 2007: 68). Wenn es also Säkularisierungstendenzen auch zu anderen Zeiten und in anderen Gesellschaften gibt und gab, stellt sich umso mehr die Frage, wie die bei uns vorherrschende Bedeutung mit der europäischen Moderne verbunden ist. Wie hat diese Säkularisierung sich aus dem christlich geprägten Mittelalter heraus entwickelt, und wie setzt sich die damals angestoßene Entwicklung heute fort?

D er E ntstehungskonte x t Die europäische Säkularisierung ist, so eine weit verbreitete Erzählung, entstanden, weil sich zu Beginn der Neuzeit die christlichen Konfessionen in langen und brutalen Religionskriegen gegenseitig zermürbten. Deshalb galt es Religion und Politik voneinander zu trennen. Insofern war die Säkularisierung des Staates eine Antwort auf diese Katastrophenerfahrung. Diese Erzählung wurde, so Casanova, zum Gründungsmythos der europäischen Identität. Sie versteht Säkularisierung als ein Arrangement, nach dem die unterschiedlichen christlichen Gemeinschaften miteinander zu leben lernten. Denn indem die Europäer Religion, Politik und Wissenschaft voneinander zu trennen versuchten und Religion in eine abgeschirmte Sphäre verbannten, lernten sie die religiösen Leidenschaften zu zähmen und dabei eine offene, liberale und öffentlich säkulare Sphäre zu etablieren (vgl. Casanova 2009: 8f.). Ausgangspunkt der fast ein Jahrhundert andauernden Religionskriege (von der zweiten Hälfte des 16. bis Mitte des 17. Jahrhunderts) war die Spaltung der lateinischen Christenheit in drei sich gegenseitig ausschließende Konfessionen (die katholische, lutherische und reformierte). Nach jahrzehntelangen Vertreibungen, Kriegen und Massenmorden  – Deutschland war in dem Zusammenhang vor allem vom Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) betroffen  – folgte eine Zergliederung in unendlich viele Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Im Westfälischen Frieden (1648) wurde eine für alle Beteiligten geltende Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Religion geschaffen und damit die rechtliche und politische Grundlage für den modernen Staat gelegt. Die Trennung von Kirche und Staat wurde jedoch faktisch erst mit der sogenannten Säkularisation (1803) unter Napoleon in Deutschland durchgesetzt, bei der zahllose Klöster aufgelöst und sämtliche geistliche Herrschaft

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

in Deutschland abgesetzt wurde, denn einige katholische Bischöfe waren bis dahin auch Reichsfürsten gewesen. Diese politische Entmachtung der Kirche ist jedoch nur die eine Seite der Säkularisierung, denn diese Maßnahmen waren begleitet und gefolgt von kulturellen Prozessen, in denen der Einfluss der Kirche auf das Denken und auf die Lebensweise der Menschen zurückgedrängt wurde. Dabei ging es um eine Verweltlichung oder Profanisierung2 der Kultur, also um die Durchsetzung einer säkularen3 Gesellschaft, in der die Relevanz der Religion für die Individuen wie für die Nation als Ganzes immer mehr in Frage gestellt wurde. Es wurde also nicht nur die politische Macht der Kirchen zurückgedrängt und auf bestimmte Bereiche der Gesellschaft eingeschränkt, sondern auch ihre Deutungshoheit für die Geschicke der Gesellschaft und die Einstellungen der BürgerInnen. Der Säkularisierung des Staates entsprach also eine Säkularisierung der Gesellschaft. Dieser Kampf gegen die allumfassende Zuständigkeit der Kirche war vorbereitet worden durch eine gesellschaftliche Entwicklung, die die Eigenständigkeit der Menschen gefördert hatte: Je mehr die Menschen sich in Städten zusammen getan und Handwerk und Handel ihre Interessen und ihr Denken bestimmt hatte, desto mehr wurde der autonome Bürger zum Ausgangs- und Zielpunkt ökonomischer, politischer und philosophischer Prozesse.4 Die Eigenverantwortlichkeit des städtischen Bürgers verlangte rational basierte Formen der Auseinandersetzung. So bildete etwa das Rechtssystem eigene Verfahren und Argumentationsmuster heraus, die nicht mehr religiös gestützt waren. Ebenso verloren religiöse Begründungen in Wirtschaft und Wissenschaft immer mehr ihre Überzeugungskraft. Diese Emanzipation »des« Bürgers von kirchlicher Autorität und religiösem Denken gilt als ein Kernelement der Modernisierung (vgl. Gabriel 2012a: 425ff.). Sie fand ihren Höhepunkt in der Aufklärung im 18. Jahrhundert, die als der eigentliche Träger der kulturellen Säkularisierung gilt.

2 | Fanum heißt das Heilige, Geweihte, und davon ist das Pro-fane, das Ungeweihte, Nicht-Heilige abzugrenzen. 3 | Säkular insofern, als Phänomene ihr Eigenrecht bekommen – nicht immer nur in Bezug auf und Funktion für das Göttliche. Ihr Eigenrecht bezieht sich auf eine säkulare Weltordnung und auf die Prinzipien der Vernunft. 4 | Seit dem 12. Jahrhundert finden wir eine »Vergesellschaftung über nahes Zusammenwohnen, Bürgerversammlungen, politische und rechtliche Willensbildung, Markt und andere Wirtschaftsbeziehungen, die grundsätzlich auf Freie und Gleiche gegründet ist. […] Diese mittelalterlich säkular strukturierte städtische Gesellschaft […] war wichtig in Bezug auf die Einübung sozialer Regeln wie Gewaltverzicht, Entwicklung sozialer Disziplin […], von nicht religiös begründeten Formen der Gruppenbildung« (Gabriel 2012b: 187).

5. Säkularisierung und Religion

Zur Rolle der Aufklärung Entscheidende Impulse für die Säkularisierung gab die Auf klärung mit ihrer grundlegenden Kritik an der Kirche und deren Lehre von der Unvollkommenheit, Unwürdigkeit und Verderbtheit des Menschen. Insbesondere die französischen Aufklärer übten heftige Kritik an der katholischen Kirche und der von ihr propagierten Religiosität: Sie würde die Menschen mithilfe der Androhung von Höllenstrafen und Fegefeuer in Furcht und Schrecken versetzen und sie damit unwissend und abergläubisch halten. Auch versuche sie mit ihrer moralischen Macht ihre politische Position zu stabilisieren. Da die Kirche behaupte, sie allein sei im Besitz der Wahrheit, würden der Gebrauch menschlicher Vernunft und die Entwicklung von Gedankenfreiheit erheblich eingeschränkt. Die Kirche verhindere damit den Fortschritt. Sie verbreite Illusionen, sodass das Volk nicht zu sich selbst kommen, seine eigenen Interessen erkennen und seine Sache selbst in die Hand nehmen könne. Diese wohlbekannte Kritik der Aufklärung war jedoch nicht aus dem Nichts entstanden, sondern basierte auf Strömungen der Renaissance, die wiederum im Rückgriff auf die vorchristliche Philosophie und Politik der griechischen und römischen Antike den Stolz des Menschen auf sich selbst, seine Schönheit, Kraft und sein Wissen und damit ein neues Selbstbewusstsein »entdeckt« hatte. Auch hatte bereits die Aristoteles-Rezeption in der Scholastik und dann vermehrt in der Renaissance eine Re-Säkularisierung der Natur, der Gesellschaft und der Politik eingeleitet. Die Menschen erkannten zunehmend ihre eigene Dignität. Somit rückte auch das Ziel der freien Entfaltung der in den Menschen angelegten Fähigkeiten immer mehr in den Mittelpunkt (vgl. Flasch 2008: 185). Dieser Gedanke wurde von der Aufklärung aufgegriffen und zur Grundlage ihrer Kritik an der Kirche: Der Mensch sollte stärker im Mittelpunkt stehen, Religion sollte die sittliche Persönlichkeit fördern und den Menschen Sinn und Perspektive vermitteln.5 Voraussetzung dafür war die Freiheit von unberechenbaren Mächten, die Freiheit des Denkens, die Freiheit sich selbst zu entwickeln, die Freiheit des Menschen seinen eigenen Weg zu suchen und ihn selbst zu bestimmen.6 Das wiederum hieß vor allem Befreiung von kirch5 | Allerdings hatte die Kirche bei all ihrer Wissenschaftsfeindlichkeit und Angst vor konkurrierenden Welterklärungen die Vernunft als solche keineswegs prinzipiell aus ihrem System ausgeschlossen. Im Gegenteil: Wichtige theologische Strömungen sehen in der Vernunft eine Gabe Gottes (vgl. etwa die »Renaissance« des 12. Jahrhunderts), und so konnte zeitweilig auch die Wissenschaft in den göttlichen Heilsplan eingeordnet werden (vgl. Gabriel 2012b:158). 6 | Die wesentlichen Elemente der Kritik der Aufklärung an der Religion fasst Casanova folgendermaßen zusammen: Die kognitive Kritik an der Religion als eines primitiven,

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

licher Bevormundung und von Aber- und Wunderglauben. Demgegenüber sollte die Religion vernunft- und moralbegründet sein. Man kann also sagen, dass die Aufklärung eine stärkere Anthropologisierung, also Hinwendung zu den Menschen und ihren Bedürfnissen, von der Religion forderte, was auch bedeutet, dass sie nicht die Befreiung der Menschen von der Religion, sondern vor allem ihre Befreiung in der Religion anstrebte. Bei aller Kritik der Aufklärer am Christentum wollten die meisten ihrer Protagonisten auf Religion nicht grundsätzlich verzichten. So wandte sich etwa Voltaire entschieden gegen die Kirche und ihren Absolutheitsanspruch, aber nicht gegen das Christentum als solches. Denn dies sollte den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleisten und die Menschen auf moralische Normen verpflichten  – Postulate, die, wie wir sahen, ganz wesentlich auch noch heute die Ansprüche an Religion ausmachen. In dem Zusammenhang fiel der von ihm viel zitierte Spruch: »Wenn es die Religion nicht gäbe, müsste man sie erfinden.« 7 Für sich selbst und seinesgleichen dachte er an eine Religion, die mit der Vernunft vereinbar wäre, während für Frauen und Kinder die traditionelle Religion genügen würde. Mit seinem Bestreben Vernunft und Religion zu vereinbaren legte er – gemeinsam mit Rousseau – die Grundlagen für den sogenannten Deismus.

Deismus Rousseau war der Überzeugung, dass der Mensch kraft seiner Vernunft Gott in der Anschauung der Natur erkennen kann: »Betrachte das Schauspiel der Natur, so forderte er auf, hör auf die innere Stimme: Hat Gott nicht alles vor unseren Augen, vor unserem Gewissen und unserem Urteil ausgebreitet?« (zit. in Weinrich 2011: 45). Die Welt ist demnach ein geordneter Kosmos, dessen Gesetze ein Spiegel der göttlichen Vernunft sind. Religion bedeutete für Rousseau vor allem die Grundwahrheit der Existenz eines Schöpfergottes anzuerkennen und diesen Gott durch moralisches Handeln zu verehren. Auch für Voltaire sollte nur das geglaubt werden, was vernunftnotwendig und logisch prärationalen Weltbilds, das durch den Fortschritt der Wissenschaft und des rationalen Denkens überwunden würde; die politische Kritik kirchlich verfasster Religion als einer Verschwörung von Herrschern und Priestern, um das Volk unwissend und unterdrückt zu halten, was durch den Fortschritt der Volkssouveränität und demokratischer Freiheiten überwunden würde; die humanistische Kritik an der Idee von Gott selbst als einer menschlichen Selbstentfremdung und als einer selbstverleugnenden Projektion menschlicher Wünsche und Absichten auf eine jenseitige Welt, wodurch der Tod Gottes zur Voraussetzung der menschlichen Emanzipation werden musste. (vgl. Casanova in Joas und Wiegandt 2007: 338). 7 | Voltaire in einem Brief an den Autor der »Drei Betrüger«.

5. Säkularisierung und Religion

nachprüf bar ist. Vernunft sei eine Gabe Gottes und deshalb zu gebrauchen. Die alten Religionen sollten deshalb von allem Mysteriösen und Wundersamen gereinigt werden. Auch würde nun, so seine Auffassung, die Offenbarung überflüssig, da jeder Mensch durch reines Nachdenken zur Wahrheit kommen könne. Insofern sollte eine neue Religion jenseits von Dogmen und rituellen Erstarrungen, eine höchst individuelle Religion der Freiheit und Subjektivität geschaffen werden. Diese Forderungen führten zur Entwicklung einer neuen Form der Christlichkeit in der Aufklärung, dem Deismus, bei dem sich der Schöpfergott nicht weiter in die Geschicke der Welt einmischt. Der Gläubige ist hier unabhängig von aller »äußerlichen« Christlichkeit. Religion existierte hier nur noch als Geist und Idee.8 Die Menschen sollten sich in dieser Religion auch in Sachen Moral emanzipieren, d.h. eigenverantwortlich entscheiden und sich nicht aufgrund der Drohungen eines strafenden Gottes den Gesetzen fügen. Voltaire wollte ein ethisches, praktisches Christentum ohne Sündenfall, Gnadenwahl und Erlösung schaffen. Dementsprechend war Gott seiner Meinung nach weise und gut und nicht ein Gott, der wahllos straft und vernichtet. Der drohende Zeigefinger Gottes sei nicht notwendig, um die Menschen zu Moral anzuhalten (vgl. Flasch 2008: 332, 334, 303). Der Deismus versuchte die Theologie zu rationalisieren, indem er sie vom »Aberglauben« reinigte. Damit brachten die Deisten sich nicht nur gegen unbotmäßige Materialisten, sondern auch gegen den Volksglauben in Stellung. Der Deismus war in erster Linie eine elitäre Form von Religiosität (vgl. Reichardt 2012: 67). Die Hauptströmungen der Aufklärung waren also nicht anti-religiös, sondern anti-kirchlich. Unter den Aufklärern gab es nur einige wenige explizite Atheisten: In der französischen Aufklärung waren dies vor allem Diderot und Holbach, in der schottischen Hume und später in Deutschland vor allem Feuerbach und Marx. Die religiös orientierten Aufklärer hingegen schufen eine neue Religion auf der Basis der Vernunft und im Interesse der Menschen und der Gesellschaft (vgl. Weinrich 2011: 16). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Aufklärung die christliche Religion mit dem neuen Selbstbewusstsein eines aufstrebenden Bürgertums konfrontiert wurde. Dies hatte bereits in der Renaissance und im H ­ umanismus

8 | Offenbarung kann demnach zwar Religion vermitteln, sie kann aber genauso gut allein mit Hilfe der Vernunft erkannt werden. Vernunft ist natürliche Offenbarung. Diese Vergeistigung und Subjektivierung des Christentums hatte in Spinoza einen wichtigen Vertreter und sie setzte sich in Deutschland über Leibniz, Herder bis Goethe hin fort, aber auch in gewisser Weise in der Romantik eines Novalis und Schleiermacher.

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

seine Stimme erhoben.9 Diese Strömungen aufgreifend wandte sich die Aufklärung entschieden gegen die Herrschaft des Klerus und die Autorität der Kirche als Institution. Sie stellte sich jedoch nicht gegen das Christentum als solches. Es wurde eine Transformation in der Theologie eingefordert – weg von der Lehre der Verdammnis und Unwürdigkeit der Menschen hin zu einer Religion, die die Menschen in ihrer Entfaltung unterstützt und die Entwicklung der Gesellschaft fördert. Man kann sagen, dass in der Theologie das Gewicht von der Theozentrik stärker in Richtung auf Anthropo- und Soziozentrik verschoben werden sollte. Ebenso wurde dem Gegensatz zwischen dem eigentlichen Leben im Jenseits und der Bedeutungslosigkeit des irdischen Lebens seine Schärfe genommen. Diese Besinnung auf den Menschen und die Gesellschaft als Ziel und Ausgangspunkt der Reflexionen lässt den Einfluss der antiken Philosophie deutlich werden. Die politisch verankerte Macht der Kirchen war jedoch nicht der einzige Grund, der zur Kritik am Christentum geführt hatte. Mit den europäischen »Entdeckungen« anderer Kontinente seit dem 15. Jahrhundert rückten zunehmend andere Religionen in den Blick. Dies Bewusstsein von Alternativen trug erheblich zur Relativierung des Christentums und seiner Kirchen bei. So war die Beschäftigung mit anderen Religionen aus China, Indien oder Persien für die schottischen Aufklärer wie Hume und Ferguson oder die französischen wie Voltaire, Diderot und Montesquieu entscheidend, um den Anspruch des Christentums auf Alleingültigkeit zurückzuweisen (vgl. Van der Veer 2001: 60). Innerhalb dieses neuen Tableaus von Weltanschauungen galt es nun das Christentum neu zu verorten.

P ositionierung des C hristentums in der europäischen M oderne Im Vergleich zu anderen Religionen und Weltanschauungen zeigte sich, dass das lateinische Christentum mit seiner machtvollen politischen Position besonders intolerant und gewalttätig war. Dieser Vergleich erlaubte es das Christentum entsprechend zu kritisieren. Aber die Aufklärer hatten mit dem Deismus, wie wir sahen, eine »neue« Variante des Christentums geschaffen, und zwar ein Christentum jenseits von kirchlicher Macht- und Gewaltpolitik, jenseits von Aber- und Wunderglauben. Aus diesem Christentum sollten alle Irrationalismen getilgt sein. Damit bot dies »aufgeklärte« Christentum eine positive Kontrastfolie nicht nur gegenüber der »alten« Kirche, sondern auch gegenüber den anderen Re9 | Dies neue bürgerliche Selbstbewusstsein hatte sich auch schon in der Theologie Luthers angekündigt, der vom Priestertum aller Laien gesprochen hatte.

5. Säkularisierung und Religion

ligionen. So wurden Religionen wie etwa der Hinduismus als orientalische Weisheit oder Irrationalität mystifiziert (ebd.: 26). Am deutlichsten wurde aber die Priorisierung des Christentums im Umgang der meisten Aufklärer mit dem Judentum. So beschrieb etwa Voltaire die Juden als ein unwissendes und barbarisches Volk, geprägt von unwürdigstem Aberglauben und unüberwindlichem Hass gegen alle anderen Völker (vgl. Weinrich 2011: 42). Aber auch Kant und Hegel sahen im Judentum den Inbegriff einer »schlechten« Religion. So meinte etwa Hegel, dass der jüdische Gott ein Tyrann sei, der fraglose Unterwerfung unter seine unerträglichen Gesetze fordere, während Jesus versucht habe, die Menschen vom Joch dieser Knechtschaft zu befreien (vgl. Armstrong 2008: 172). Auch behauptete er, dass das Judentum eine längst überwundene und tote Sache sei, eine Religion aus dem Unglück und für das Unglück, Repräsentant der Negativität, eine niedrige, historisch überwundene Religionsstufe – während das Christentum die Religion der vollendeten Versöhnung zwischen Gott und den Menschen darstelle (vgl. Schoeps 1984: 129). Ähnlich meinte Kant, dass das Judentum ein »statuarischer Glaube« sei, der nur auf der Verkündigung von Gesetzen gründe und deshalb nur ein juridisches und kein ethisches Wesen sei. Demgegenüber verstand er das Christentum als eine rationale Religion der westlichen Moderne. Für Kant fällt es mit der reinen Vernunftreligion zusammen (vgl. Hentges 1999: 90ff.).10 Ein spezifisch auf klärerischer Antisemitismus entwickelte sich, der das Judentum mit Aberglaube, Gesetztestreue, religiösem Fanatismus, Rückständigkeit und Geschichtslosigkeit gleichgesetzte. Demnach konnte es auch keine Freiheit im Judentum geben. Auch konnte das Judentum nach Auffassung der christlichen Aufklärer nicht mit der Moderne Schritt halten, da es Politik und Religion nicht hinreichend voneinander trennen könne, was am Beispiel des antiken Judentums »bewiesen« wurde. So schrieb etwa Herder dem Judentum ein Primat des Religiösen gegenüber dem Staatlich-Politischen zu, weshalb religiöser Fanatismus, geistige Unfreiheit, Parteienstreit und religiöser Bürgerkrieg unausweichliche Folgen seien (vgl. Hoffmann 1990: 24ff.). Das bedeutet, dass alles, was man am Christentum kritisierte, besonders drastisch dem Judentum zugeschrieben wurde. Insgesamt nahm die Aufklärung eine zwiespältige Position gegenüber den Juden ein: Auf der einen Seite forderte sie für sie als Menschen und Bürger soziale und rechtliche Gleichstellung – auf der anderen Seite stand dieser Gleich10 | Nach Fichte war das Christentum die einzig wahre Religion und sollte deshalb schöpferisches und leitendes Prinzip eines neuen Staats werden (vgl. Hentges 1999: 119). Kant etwa behauptete, dass die christliche Offenbarung die einzige sei, die die Kriterien der Offenbarung erfülle, und deshalb könne sie am ehesten mit der Vernunft in Einklang gebracht werden (vgl. auch Brumlik 2011: 44).

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stellung ihrer Meinung nach aber das Judentum als unüberbrückbare Hürde entgegen. Die Juden sollten also zuvor ihr Judentum ablegen, da das eine unabdingbare Voraussetzung für die Gleichberechtigung sei. Die Juden konnten sich demnach nicht als Juden emanzipieren, sondern nur als »Menschen« – wie etwa Fichte in seinem berüchtigten Diktum formulierte: »Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee mehr sei« (zit. in Hentges 1999: 116).11 Dieser aufklärerische Antisemitismus kann auch als Folge eines spezifischen Vernunftbegriffs verstanden werden, der vor allem von der Perspektive seiner Protagonisten geprägt ist. Er verbannt alle Anderen in das Reich der Irrationalität. Das gilt nicht nur für die Juden, sondern ebenso für die Frauen und die Besitzlosen und die Sklaven. Diese Anderen galten für die Aufklärer als nicht voll entwickelt, als unreif, kindlich, als irrational, als exotisch oder primitiv – auf alle Fälle benötigten sie zur Entfaltung ihrer vollen menschlichen Natur der Anweisung und Unterrichtung durch die Aufklärer. Die universellen Prinzipien der Vernunft werden vor allem – glaubt man der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Revolution von 1789 – von den bürgerlichen besitzenden, weißen christlichen Männern repräsentiert.12 Das bedeutet, dass die Menschen nur insoweit als Gleiche anerkannt werden, als sie den von diesen Männern formulierten Prinzipien entsprechen.13 Insofern hat die Aufklärung neue Formen der Herrschaft geschaffen, diese aber mit einer Hierarchie des Vernunftgebrauchs begründet. Die Menschen 11 | Aus ihrer (der meisten christlichen Aufklärer) Perspektive erschienen alle dieser Perspektive nicht gemäßen Lebensweisen als verachtungswürdig. Dementsprechend sollten die Juden, wie Koselleck (2010) formuliert, durch »die Düse der Konversion emanzipiert« und im Namen der moralischen Gleichheit zur Aufgabe ihrer Riten und Gebräuche genötigt werden. Er meint, dass der Aufklärung ein penetranter moralischer Despotismus zu eigen ist, »eine pädagogisch legitimierte Bevormundung, die die Erziehung allzu gern nach ständischen oder staatlichen Vorgaben dosierte« (361f.). 12 | Einerseits galt das Versprechen der Emanzipation aller Menschen, andererseits aber auch der Anspruch, sie per Erziehung zur Vernunft zu bringen (vgl. auch Asad 2003: 61). Das bedeutet, dass die Vernunft durch Ausgrenzung wiederum ihre eigene Unvernunft produziert, was, wie Armstrong formuliert, der Erfahrung massiver und zerstörerischer Unvernunft in der Moderne entspricht (2004: 118). 13 | »Der Akt der Selbstvergewisserungen der bürgerlichen Moderne«, so etwa Andrea Maihofer in ihrer Untersuchung zur modernen Gleichheitsidee im Lichte der Dialektik der Aufklärung, »impliziert also […] die Konstituierung des ›Fremden‹, des ›anderen‹, des ›Juden‹, des ›Muslim‹, der diese rationalen Einsichten nicht teilt, und insbesondere der ›Islam‹ spielt bereits in dieser Zeit diese fundamentalistische Rolle, die er bis heute innehat« (Maihofer 2001: 119).

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sind zwar frei geboren, aber wirklich frei sind sie erst, wenn sie gelernt haben sich ihrer Vernunft zu bedienen. Das Streben nach universeller Emanzipation und Selbstbestimmung ist deshalb zugleich ein Projekt der Erschaffung einer vernunftgeleiteten Zivilisation (vgl. Dhawan 2014: 39). Somit existiert im Denken der Aufklärung eine ständige Spannung zwischen Egalitätsanspruch und Exklusivismus. Das bedeutet, dass viele Emanzipationsbewegungen sich einerseits auf die Aufklärung und ihre Erklärung der Gleichheit und Freiheit aller Menschen stützen konnten, andererseits aber genau von dieser Aufklärung als »un«vernünftig ausgeschlossen wurden. Dieser politische wie auch symbolische Ausschluss war ein Grund dafür, dass etwa die bürgerlichen Frauen wie auch die schwarzen Sklaven und Sklavinnen in den USA oft in religiösen Vereinigungen eine Basis für ihren Emanzipationskampf fanden. Betrachtet man deren Emanzipation als einen linear fortschreitenden Prozess der Säkularisierung, lassen sich solche Phänomen schwer erklären. Sie werden nur dann verständlich, wenn auch die repressiven Seiten der Aufklärung gesehen werden. Denn mit der Aufklärung wurden Sklaverei und Antisemitismus ebenso wie die Diskriminierung von Frauen weiter fortgeführt und nun nur anders – nämlich biologisch – begründet und damit neu legitimiert. Diese Begründung war in keiner Weise »vernünftiger« als deren Begründung durch Gottes Wille. Insofern ist die Entgegensetzung von Tradition versus Moderne, Aberglaube versus Vernunft, Stagnation versus Entwicklung, wie die Aufklärung sie propagierte, keineswegs zwingend. Die Hierarchisierungstendenz der Aufklärung zeigte sich auch in ihrem Umgang mit den verschiedenen Religionen: Die anderen Religion wurden als irrational und traditionalistisch abqualifiziert, was im 19. Jahrhundert in einem evolutionären Modell mündete, nach dem sich die Religionen von ihren magischen Anfängen, den sogenannten Naturreligionen, zu den Offenbarungsreligionen, von den polytheistischen zu den monotheistischen, von den partikularen zu den universalen Religionen entwickelt haben sollen.14 Unter den Weltreligionen wiederum nahm für sie das Christentum den höchsten Rang ein als die »entwickelteste«, die » rationalste« und die »modernste« Religion.15 14 | Vgl. etwa E.B. Tylor: »Die Anfänge der Cultur: Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte« (1871), nachgedruckt in Schlieter (2010: 114ff.). 15 | In seiner Vorlesung über die Philosophie der Religionen gliederte Hegel die Geschichte in die »Naturreligion« (die primitiven chinesischen, vedischen, buddhistischen, parsischen und syrischen Religionen), dann in »die Religion der geistigen Individualität« (jüdische, griechische und römische Religion) und schließlich in die »absolute Religion« (das Christentum). Das sich selbst bewusst Werden des wissenden Geistes ist die absolute Religion, ,»in der es offenbar ist, was der Geist, Gott ist; dies ist die christliche

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Dieser Entwicklungsgedanke wurde damals auch gegen das Judentum in Anschlag gebracht. So hielt etwa Schleiermacher die jüdische Religion für eine tote Religion, die noch einem kindhaften Stadium der Menschheit entspreche. Nur die christliche Religion sei eine systematische, die der erwachsenen Menschheit würdig sei. Hier wird, wie Forst schlussfolgert, das Christentum als basale Grundstruktur des Religiösen überhaupt hervorgehoben, »und die Toleranz der Religion ist zu einer christlichen Toleranz geworden, die nun die ›unzähligen‹ Religionsanschauungen in sich einbegreift« (Forst 2003: 472f.). Zwar hatte zuvor die Beschäftigung mit anderen Religionen die Aufklärer dazu veranlasst, den Alleinvertretungsanspruch des Christentums zu hinterfragen, dennoch blieben sie – wie später auch die meisten Religionssoziologen – so stark in ihrer christlichen Tradition befangen, dass sie mit Hilfe idealisierter Vorstellungen den alten Vormachtanspruch wieder einsetzten. Das Christentum blieb für die meisten europäischen Philosophen und Wissenschaftler die »höchste« Form von Religion, da sie die einzige Religion sei, die sich mit Aufklärung und Moderne vereinbaren lasse. Diese These wurde etwa prominent von Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten und von ihm anhand umfassender sozialwissenschaftlicher Untersuchungen untermauert. Auf seiner Suche nach der ideologischen Ermöglichung des Kapitalismus sicherte er dem Christentum eine Spitzenposition innerhalb der Weltreligionen. Er hatte die verschiedenen Religionen in Bezug auf ihren Stand der Rationalisierung 16 verglichen, wobei er Rationalisierung als einen evolutionären Prozess verstand. Das protestantische Christentum war für ihn diesbezüglich die am weitesten fortgeschrittene Religion, die schließlich auch der Moderne den Weg bereitete. Insofern ist für ihn das Christentum nicht nur die Religion, die am ehesten den Anforderungen der Moderne gerecht wird, sondern für ihn ist auch fraglich, ob die anderen Religionen überhaupt modernisierungsfähig sind. Ähnlich wie Weber sah auch sein Zeitgenosse und Mitbegründer der Religionssoziologie Ernst Troeltsch im Christentum die Höchstform aller Reli-

Religion« (zit. in Weinrich 2011: 60). Hegel sieht im Christentum die absolute Religion, weil in ihm die höchste und letzte Stufe der Entwicklung der Religion erscheint (vgl. Choi 2010: 35). 16 | Diese bezieht sich hier auf die metaphysische-ethische Dimension, d.h. auf die Systematisierung eines Ethos oder die Anwendung der Logik auf die Weltsicht. Ansonsten bedeutet Rationalisierung die wissenschaftlich-technologische Kontrolle über die Welt auf der Basis empirischer Gesetze oder einer Zweck-Mittel Rationalität. Schließlich unterscheidet Weber davon auch noch eine praktische Rationalität, die sich auf eine methodische Lebensführung oder rationale Askese bezieht (vgl. Weber 1920/1972).

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gionen (vgl. Troeltsch 1902/1998).17 Er relativierte zunächst den christlichen Absolutheitsanspruch auf dem Hintergrund seiner intensiven kulturhistorischen Studien, in denen er die verschiedenen Formen des Christentums in dessen historischem Wandel herausgearbeitet hatte. Dabei kam er zu dem Schluss, dass das Christentum zwar nicht für die Menschheit absolut sei, aber »für uns«, also für den europäischen Kulturraum. Damit rettete er in gewisser Weise den Absolutheitsanspruch und konnte nun behaupten, das Christentum nehme unter allen großen Religionen eine einzigartige Stellung ein. Es sei die Religion mit der höchsten Entwicklung hin zu Vergeistigung, Verinnerlichung und Individualisierung. Denn der christliche Erlösungsglaube sei im Laufe der Geschichte immer tiefer geworden. Das Christentum ist für ihn also nicht mehr die absolute, aber doch die höchste aller Religionen. Mit diesen religionssoziologischen Theorien wurde das Christentum auf komplexe Weise mit der Vorstellung von der europäischen Moderne verbunden. Es wurde insofern in die Moderne eingemeindet, als es diese nicht nur vorbereitet hatte, sondern auch durch die Säkularisierung in sie einging und damit in ihr aufgehoben war. Insofern wurde es zu einem integralen Bestandteil dieser Moderne und zur Grundlage der europäischen Säkularität. Dementsprechend beschreibt Casanova die Haltung der Europäer zur Moderne als eine »halbbewusste Bejahung der Säkularität«. Einerseits werden traditionellen Religionen verabschiedet als etwas, das reife Europäer überwunden haben« (Casanova 2007: 34f.). Andererseits wird das Christentum mit der europäischen Zivilisation identifiziert. Man setzt sich von anderen Religionen ab als etwas zu Überwindendem, weist jedoch dem Christentum – und hier geht es lediglich um das lateinische westliche Christentum – eine wichtige Rolle in der eigenen Kultur zu.

Resümee Die Positionierung des Christentums als die am »höchsten entwickelte« Religion ist also voraussetzungsvoll. Sie setzt voraus, dass das Christentum sich zu einer »modernen« Religion transformiert, einer Religion ohne Magie, Aberglauben und Priesterherrschaft und ohne unberechenbaren Herrschergott. Zudem soll sie im Dienst der Entfaltung der Persönlichkeit und der Gesellschaft stehen. Damit repräsentiert dies Christentum nur ein bestimmtes, vergleichsweise kleines Segment des real existierenden Christentums und hat wenig mit den kirchlichen Institutionen zu tun, die bis heute die wichtigsten 17 | Das Christentum gilt für ihn als Höhepunkt und Konvergenzpunkt, in den alle erkennbaren Entwicklungen der Religionen einmünden. Seine Relativierung liege darin, dass das Christentum sich auf den Kulturkreis Europa beschränke und die anderen Religionen in ihrem Kulturkreis ebenso Gültigkeit beanspruchen könnten.

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Träger der Glaubensvermittlung sind. Insofern ist die Haltung zum Christentum seit der Aufklärung ambivalent: Zum einen bleibt es Symbol für Traditionalismus, Bevormundung und Irrationalität, auf der anderen Seite aber sei es eine Religion, die, durch die Auf klärung geläutert, Fortschritt, Demokratie und Menschenrechte fördere.18 Wir haben es also im Fall der europäischen Säkularisierung mit einer christlichen Form der Säkularität zu tun, weil sie »das« Christentum in ihre Moderne zumindest partiell eingemeindet hat. Sie ist christlich, weil sie das Christentum priorisiert und die anderen Religionen als antimodern ausgrenzt. Zudem ist sie christlich, weil sie zentrale Ideologeme des Christentums wie etwa den Erlösungsgedanken, das Wahrheitsmonopol wie auch den Anspruch einer universalen Mission in sich aufgenommen hat. Schließlich ist diese Säkularität auch insofern eine christliche, als sie aus der Abwehr des politischen Machtanspruchs und der Gewaltgeschichte des Christentums hervorging. Die Angst vor der Übermacht der Religion ist deshalb ebenfalls in sie eingeschrieben.19 Es ist in ihr also sowohl die Forderung nach der Autonomie des Menschen und die Gegnerschaft gegen religiös-klerikale Bevormundung wie auch die Anerkennung des Christentums enthalten. Die Christlichkeit dieser Säkularisierung zeigt sich also sowohl in der Form ihrer Identifikation mit dem wie auch in ihrer Abwehr gegen das Christentum. Bisher haben wir nur eine der ideengeschichtlichen Strömungen verfolgt, nämlich die, die das Christentum als eine »aufgeklärte« Religion versteht. Mindestens ebenso stark sind jedoch die Auffassungen, die die christliche Religion, wie alle anderen Religionen auch, aus dem Konzept der Moderne ausschließen. So ist die Idee der Überwindung von Religion durch die Moderne bis heute weit verbreitet. Diese Säkularisierungstheorie basiert auf einem Fortschrittsglauben, der Geschichte als einen linearen Prozess der Aufklärung 18 | Auch Karl Löwith (2004/1953) spricht davon, dass in unserer modernen Welt alles mehr oder weniger christlich und zugleich unchristlich ist: Ersteres, wenn es am klassischen Heidentum, letzteres, wenn es am ursprünglichen Christentum gemessen wird. Die moderne Welt ist gleichermaßen christlich und unchristlich, weil sie das Ergebnis eines Jahrhunderte alten Säkularisationsprozess ist (215f.). Der neuzeitliche Geist ist unentschieden, ob er christlich oder heidnisch denken soll. Er sieht die Welt mit zwei verschiedenen Augen: mit dem des Glaubens und dem der Vernunft. Daher ist seine Sicht notwendig trübe, verglichen mit dem entweder griechischen oder biblischen Denken. 19 | So schrieb etwa Patrick Bahners in der FAZ vom 10.1.2015 über die von radikalen Dschihadisten ermordeten Karikaturisten der Zeitschrift »Charlie Hebdo«, dass diese mit ihren muslimkritischen Karikaturen zugleich den Katholizismus, die entthronte Staatsreligion, angegriffen hätten: »Im radikalen Einsatz für den Laizismus kämpfen die Außenseiter von ›Charlie Hebdo‹ für die Sache des Staates. Die Angst vor der klerikalen Gegenrevolution bestimmt ihre Sicht auf den Islam.«

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und Verbesserung der Lebensverhältnisse begreift und in dem Religion immer weniger Platz hat.

D ie Ü berwindung von R eligion mit der M oderne : D ie  S äkul arisierungsthese Die Säkularisierungsthese 20 geht davon aus, dass Moderne und Säkularisierung einander bedingen, dass also mit der Emanzipation der Bürger mithilfe von Aufklärung, Wissenschaft und ökonomischem Fortschritt die Religion ihre orientierende Funktion immer mehr verliere und zunehmend überflüssig werde. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass Religion und Moderne in Konkurrenz miteinander stehen in einer Art Nullsummenspiel, bei dem die Vernunft nur wachsen kann, wenn der Glaube abnimmt: Je moderner die Verhältnisse, desto weniger Religion und umgekehrt. Diese These wurde von den meisten Sozialwissenschaftlern der westlichen Moderne vertreten, von Karl Marx über Comte, Herbert Spencer, Emile Durkheim bis zu den Gründungsvätern der Psychologie wie Wilhelm Wundt und Sigmund Freud. Sie alle waren davon überzeugt, dass mit der Moderne die Religion sich zunehmend selbst auslöschen werde, da sie zum völligen Bedeutungsverlust durch Wissenschaft, Republikanismus und Humanismus verurteilt sei (vgl. Zachhuber 2007: 16). Auch für Weber basiert die Moderne auf einem zwangsläufigen Prozess der Rationalisierung von Lebenswelten und systemischen Zusammenhängen. Nach der Leitunterscheidung traditional/modern erscheint Religion als ein traditionales Relikt, das trotz aller Widerstände langfristig zum völligen Bedeutungsverlust durch Säkularisierung verurteilt ist (vgl. Ziemann 2009: 21). Aber die Religion galt nicht nur als überwindbar, sondern für viele dieser Theoretiker geradezu als schädlich für die Menschen. Religion stand hier – wie wir bereits anhand der Theorie von Sigmund Freud im ersten Kapitel sahen – gegen rationale Erkenntnis ebenso wie gegen Emanzipation und Demokratie. Sie verhindere den Fortschritt, weil sie die Menschen in Unwissenheit und sozialer Unterdrückung halte. In dem Zusammenhang scheint es sinnvoll sich den Begriff der Moderne genauer anzuschauen: Die europäische Moderne ist zunächst ein Begriff, der eine Epoche bezeichnet, die im 16. Jahrhundert mit der Reformation, der Reconquista Spaniens und der »Entdeckung« der Neuen Welt beginnt. Zentrale Kennzeichen der innergesellschaftlichen Entwicklung sind dabei Urbanisierung, Industrialisierung und Verwissenschaftlichung. Das heißt, der Begriff 20 | Häufig wird im gleichen Sinn auch der Begriff der Modernisierungsthese benutzt. Beide Begriffe beziehen sich auf die Aussage, dass Moderne und Säkularisierung einander bedingen.

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Moderne zielt auf eine Entwicklungsdynamik und Veränderung in der Gesellschaft ab. So bezeichnete »modernus«, wovon der Begriff Moderne abgeleitet ist, seit dem frühen Mittelalter die Durchsetzung einer neuen Lebens- oder Sichtweise gegenüber einer alten. Dieser Begriff wurde mit der Neuzeit immer stärker zu einem Mythos überhöht: Die Moderne wird mit »Neuheit« gleichgesetzt, und die bloße Schnelligkeit und Beschleunigung wird zum Selbstzweck (vgl. Marramao 1999: 123f.).21 Gegen dies Pathos der Neuheit wird die Tradition negativ abgesetzt. Damit wird Moderne auch zu einem normativen Begriff: Ihr wird ein positiver Wert beigemessen, denn das Neue ist demnach besser als das Alte. Die Vorstellung der Moderne impliziert dabei auch den Niedergang der Religion als einer zu überwindenden Tradition. Dementsprechend liegt der europäischen Geschichtsschreibung im Allgemeinen ein lineares Modell der Entwicklung zugrunde im Sinne einer allmählichen Substitution der Religiosität durch Säkularität. In einer solchen Geschichtskonstruktion wird die Vergangenheit immer als eine Vorbereitung für die Zukunft verstanden.22 Damit wurde jedoch die Tatsache verdeckt, dass etwa die Beziehung zwischen Säkularität und Wissenschaftlichkeit keineswegs immer ein Nullsummenspiel ist. Es gab historische Phasen, in denen die Wissenschaft sich dynamisch entwickelte und dennoch die Religiosität nicht generell abnahm, etwa die Zeit der Scholastik (vgl. Steckel 2012: 175). Auch gibt es in der Neuzeit Phasen, in denen mit dem säkularen Bewusstsein gleichzeitig auch das religiöse anwuchs, wie etwa die Phase der Nationgründung. Hier ging die Intensivierung von säkularen Weltanschauungen mit der Intensivierung von Religiosität einher. Säkularer und religiöser Enthusiasmus stachelten sich gewissermaßen gegenseitig an. Ebenso stiegen zu Beginn des Ersten Weltkriegs wie auch zu Beginn des Nationalsozialismus sowohl Säkularität als auch Religiosität in der Bevölkerung zunächst an und flauten nur langsam wieder ab.23 D.h. säkulare wie religiöse Einstellung und Praxen können sich gegenseitig verstärken, ebenso wie sie in Konkurrenz zueinander treten können. Auch wird die Idee vom linearen Fortschritt, die Vorstellung einer mit der Moderne sich stets verstärkenden Säkularisierung durch eine Empirie erschüttert, die zeigt, dass das 19. Jahrhundert, also das Jahrhundert, das dem der Aufklärung folgte, das Mittelalter an religiöser Intensität weit übertroffen hat. 21 | Moderne als »der Geist der ewigen Revision« nach Jacob Burckhardt, wie er sich in Begriffen wie Fortschritt, Innovation, Revolution, Evolution […] äußert, alles Begriffe, die sich auf eine offene Zukunft beziehen (vgl. Kaufmann 2011: 99). 22 | Damit wird diese Geschichtsschreibung zu einer, wie Karl Löwith formuliert, »rückwärtsgewandten Prophetie«, die für den christlich-jüdischen Kulturkreis kennzeichnend, also selbst ein kulturelles Phänomen ist (2004/1953: 16). 23 | Prozesse der Säkularisierung und Prozesse der Revitalisierung von Religion spielen sich gleichzeitig ab (vgl. Pollack 2008: 175ff.).

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Dies Jahrhundert mit seiner außerordentlich raschen Industrialisierung und Technisierung der Lebenswelt war das Jahrhundert der größten religiösen Dynamik. Es gab eine geradezu explosive Entwicklung von Religiosität mit massenwirksamer Frömmigkeit etwa in Form von Wallfahrten und der Gründung von zahllosen religiösen Vereinigungen, Klöstern und Freikirchen. Befeuert wurde diese enorme Dynamik u.a. gerade dadurch, dass die christlichen Kirchen ihre dominante Position in der Gesellschaft räumen und sich eine neue Rolle suchen mussten (vgl. Sellmann 2007: 319, 335). Auch zogen die Christen in diesem Jahrhundert, vom Kolonialismus getragen, in die ganze Welt hinaus, um die christliche Botschaft zu verkünden. Ebenso unternahmen sie umfassende Anstrengungen, um die »Gottlosen« in der eigenen Gesellschaft zu missionieren. Und auch im 20. Jahrhundert nahm die Religiosität zumindest teilweise zu, und erst in den Sechziger Jahren erfolgte ein deutlicher Rückgang im westeuropäischen Raum. Damit ist auch die Frage gestellt, welcher Begriff von Säkularisierung in der Säkularisierungsthese enthalten ist. Wird sie als Gegensatz zur Religion verstanden wie bei Sigmund Freud oder als das Auflösen der Religion in der Weltlichkeit wie bei Max Weber? Tatsächlich kann man einen Prozess der Verchristlichung der Gesamtgesellschaft im Nachgang der Reformation und der Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert beobachten. Diese zeigte sich vor allem in einer Verpflichtung jedes Einzelnen zur individuellen Selbsterforschung und Selbstlenkung, das heißt zur Verbindung von religiöser Innerlichkeit und sittlich verantwortungsvoller Lebensführung in Familie, Beruf und städtischer Öffentlichkeit (vgl. Schulling 2009: 320). In dem unermüdlichen Kampf gegen Abweichungen von den festgelegten Normen des Glaubens, gegen Streit, Gewalt und Unehrlichkeit; gegen Unmäßigkeit eines demonstrativen Luxus, Exzesse im Spiel, Tanz und Vergnügungen; gegen Unzucht, Kuppelei und Ehebruch; gegen Trunkenheit, Unreinlichkeit, Müßiggang und all die kleinen oder großen Normabweichungen von einem in der Konfessionalisierung des 16. Jahrhunderts neu definierten und neuzeitlich formierten christlichen Sitten- und Verhaltenskodex (vgl. ebd.: 319). Die Religion ist also Wegbereiter wie auch Opfer der Modernisierung (Dialektik der weltlichen Modernisierung; vgl. Zachhuber 2007: 15). Insofern kann Weber schlecht als Kronzeuge für die Säkularisierungstheorie im Sinne eines Verschwindens der Religion mit der Moderne in Anspruch genommen werden, da er wie kein anderer zuvor auf die Bedeutung des Christentums für die Entstehung der Moderne hingewiesen hat. In seiner einflussreichen Schrift zur protestantischen Ethik (1920/1984) hat er beschrieben, wie sehr die christliche Religion eine Bedingung für die Entfaltung des Kapitalismus und damit der Moderne war. Er zeigte, wie Religion mit dem Alltagsleben verschmolz, und sprach in dem Zusammenhang von einer »Weltfrömmigkeit«, bei der Arbeit, Beruf und der Einsatz für die Nation zu einem Gottesdienst werden. Die

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profane Welt bekommt eine religiöse Weihe und wird zu einer Verpflichtung für die Frommen.24 Es besteht also ein zentraler Widerspruch zwischen der These der Christianisierung der Welt als Voraussetzung der Moderne und der des Absterbens von Religion mit der Moderne. Dass die Geschichtsschreibung dennoch vorwiegend von einem linearen Säkularisierungsprozess im Sinne der Ersetzung der Religion durch Weltlichkeit ausgeht, hängt laut Zachhuber vor allem damit zusammen, dass in der Regel die Religiosität des 20. Jahrhunderts mit der des 19. verglichen wurde (vgl. Zachhuber 2007), das, wie gesagt, ein religiös höchst dynamisches war. Im Vergleich dazu erschien in der Folgezeit die Religiosität im Niedergang begriffen zu sein. Hätte man jedoch die heutige Zeit mit früheren Epochen verglichen, hätte man kaum einen solchen Niedergang konstatieren können, zumindest wäre er nicht so deutlich ausgefallen. Auch hätte es anders ausgesehen, wenn man etwa die Religiosität der USA zur Grundlage der Empirie und Theorie gemacht hätte. Die Situation in den USA hatte man aber aufgrund ihrer lebhaften Religiosität im Vergleich zu der Westeuropas kurzerhand zur Ausnahme erklärt (vgl. ebd.: 16; Smith 2008).25

24 | Weber erklärte den Niedergang der Religion u.a. damit, dass die zunehmende kulturelle und strukturelle Differenzierung der Gesellschaft es der Kirche nicht mehr erlaube, die Gesellschaft im Ganzen zusammenzuhalten und die Welt allgemeingültig zu interpretieren. Allerdings ging er – etwa im Gegensatz zu Comte – nicht davon aus, dass die Religion mit der Moderne ganz dem Untergang geweiht sei, sondern dass sie nur ihre dominante Position verliere (vgl. Pollack 2009: 19). Dementsprechend hat sich in der Soziologie auch die Auffassung durchgesetzt, dass soziale Differenzierungen sowie Prozesse der Vergesellschaftung und der Rationalisierung ausschlaggebend für die Positionsverluste der Religion seien. 25 | Interessant in dem Zusammenhang ist, dass nicht nur die Intensität der Religiosität im Mittelalter und in der heutigen Zeit vergleichbar gewesen sein soll, sondern auch ihre Form. So sei etwa die oben beschriebene Gewohnheit der Gläubigen, die Dienste der Kirchen nur sporadisch in Anspruch zu nehmen, auch im Mittelalter die vorherrschende Form der Religiosität gewesen. Die Menschen nahmen nach Graeme Smith die Kirche auch damals nur in Anspruch, wenn sie glaubten, sie zu brauchen, also bei besonderen Schicksalsschlägen, wichtigen Entscheidungen und im Zusammenhang mit kulturellen Riten, die selbst oft einen vorchristlichen Ursprung hatten. Auch herrschte damals, ähnlich wie heute, so etwas wie eine Stellvertreterreligiosität vor, d.h. nur eine Minderheit gehörte zu den religiösen Aktivisten. Die Mehrheit verließ sich auf besonders religiöse Menschen, die sich für sie einsetzen sollten. Sie selbst verharrte gewissermaßen auf den Zuschauerrängen. Insofern sieht Smith in dieser Stellvertreterreligiosität ein stabiles Charakteristikum des Christentums, wenn nicht gar aller Religionen (vgl. ebd.: 126ff., s. auch Casanova 2007: 331).

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Auch wurde die Säkularisierung insofern aus männlicher Sicht betrachtet, als mit dem Rückzug der Kirchen von der politischen Macht sich ihre Macht auf den Privatbereich verschob. So ist es kein Zufall, dass mit der Säkularisierung eine Feminisierung der Religion einherging. Die Frauen und ihre Körper wurden zum wesentlichen Hebel kirchlicher Moralvorstellung: Abtreibung, Sexualität, Jungfräulichkeit, Verhütung, die weibliche Moral unter dem Stichwort Erhalt der Familienwerte waren die Themen. Der Kampf um die Abtreibung wurde zur Schicksalsfrage der Moral hochstilisiert. Je mehr seit den 60er Jahren die Frauen jedoch an gesellschaftlicher Macht gewannen, desto mehr wird den Kirchen der Zugriff auf die weibliche Moral verstellt. Das würde heißen, dass wir nicht von einem übergreifenden Niedergang der Religiosität sprechen können. Die Moderne führt nicht notwendig zur Säkularisierung im Sinne einer Abwendung von der Religion, und Säkularisierung ist nicht notwendig mit der Moderne verbunden. Karl Gabriel schlägt vor, statt von einer »fortschrittsgläubigen« Geschichtsauffassung auszugehen, sollte man die Geschichte eher als einen anhaltenden Kampf zwischen Desakralisierung und Resakralisierung begreifen (vgl. Gabriel 2012a: 131).26 Das lässt sich sehr gut am Beispiel der Religiosität in den USA veranschaulichen. Bevor ich darauf eingehe, soll jedoch zunächst gefragt werden, wie sich die Modernisierungsprozesse auf die Religion selbst ausgewirkt haben. Denn je »moderner« eine Religion ist, desto mehr wird sie sich auch in dynamischen Zeiten wie der heutigen behaupten können. Auch Religionen verändern sich und gehen mit der Zeit.

26 | Nicht nur nehmen die säkularen Kräfte religiöse für sich in Anspruch, sondern auch die kirchlichen funktionalisieren für sich säkulare Elemente. Erinnern wir uns daran, dass auch das Christentum in seinem Etablierungsprozess in einer polytheistischen und paganen Welt sich »profane« Begriffe, Rituale und Praxen zu eigen machte. Diese Besetzung säkularer Symbole und Bereiche durch das Christentum und der Widerstand weltlicher Mächte gegenüber diesen Vereinnahmungsprozessen stellten ein durchgehendes Charakteristikum der westeuropäischen Geschichte dar. Das heißt, dass Wechselwirkungen von beiden Seiten ausgehen können und die Geschichte als ein Prozess gegenseitiger Vereinnahmungsversuche verstanden werden kann. Die Frage, wann und wo die Entwicklung hin zur Säkularisierung oder aber zur Sakralisierung tendiert, muss je nach sozio-politischem Kontext untersucht werden. So kritisierte etwa auch David Martin schon in den 60er Jahren die These einer generalisierten Säkularisierung. Er sah zum Beispiel zentrale Unterschiede zwischen den überwiegend protestantischen Ländern, wo Säkularisierung und Religion eher diffundierten, während sie in vorwiegend katholischen Ländern eher in Gegensatz zueinander traten (vgl. Zachhuber 2007: 30; Martin 2007: 447).

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M odernisierte R eligiosität Die Kritik der Aufklärung ließ das Christentum und seine Institutionen nicht unberührt. Insbesondere im Rahmen des sogenannten Kulturprotestantismus wurde diese Kritik intensiv aufgegriffen. Das führte zur Selbstauf klärung der Religion in Form einer Theologie, die das von ihr Geglaubte rational durcharbeiten und zu reflektieren versuchte; also das zu beweisen, was sich als wahr erweisen lässt.27 Nur einige Mysterien, wie die Schöpfung, Inkarnation und Auferstehung blieben dem gläubigen Für-Wahr-halten vorbehalten, während die übrigen Glaubensinhalte der historischen Bibelkritik unterworfen wurden. Seit Ende des 18. Jahrhunderts hatten Forscher begonnen, die Texte der Bibel anhand der neuen Disziplinen der Textanalyse, Archäologie und komparativen Philologie zu untersuchen. Es wurde nach Herkunft, Autorenschaft und Datierung der Evangelien gefragt. Es wurde geprüft, ob die Erzählungen der Bibel historisch auch belegbar seien: Gab es tatsächlich Wunder? Sagte Jesus das, was ihm zugeschrieben wird? So wurde nach dem sozial-historischen Entstehungskontext gefragt und danach, wie sich die Aussagen der Bibel je nach Kontext verändert hatten. Diese historische Bibelkritik stellte die Glaubwürdigkeit der Zeugnisse in Bezug auf das Leben Christi in vieler Hinsicht in Frage ebenso wie die idealisierende Darstellung der frühen Kirchengeschichte. In diesem Sinn wurde die Religion durch die kritische Bibelwissenschaft »säkularisiert« (vgl. Smith 2008: 27), was dazu führte, dass die Menschen bewusster und kritischer, das heißt auch selbstbewusster mit ihrer Religion umgingen. Insofern hat die Wissenschaft die Religion zwar nicht überwunden, wie sie vielfach glaubte, jedoch gemeinsam mit der Aufklärung transformiert. Damit verlor die Kirche immer mehr ihr Deutungsmonopol, da die Wissenschaft an ihre Seite trat. Im Prinzip konnte sich nun jeder ein eigenes Bild von der Glaubwürdigkeit der Bibel machen und musste sich mit widersprüchlichen Befunden auseinandersetzen. Die Einzelnen konnten sich also zunehmend der Führung durch eine vorgegebene klerikale Autorität entziehen. Insofern bedeutet diese Modernisierung auch eine Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Das Recht auf ein eigenes Urteil war die Kernforderung der Aufklärung gewesen. Damit hatte sie den Menschen als Ausgangs- und Zielpunkt der Vernunft ins Zentrum gerückt. Dies galt nun auch für die Transzendenzer27 | Allerdings verstand sich die christliche Kirche schon in der Antike als aufgeklärt gegenüber dem, was sie als Mythos, Götzendienst und Aberglaube verstand (vgl. Schnädelbach 2009: 16). Sie nahm viel Stoizismus, Gnostizismus und Neuplatonismus in sich auf, um mit der griechischen Philosophie mithalten zu können (vgl. ebd.: 18). Sie erhob für sich selbst einen hohen Rationalisierungsanspruch – Religion als Mischung von Offenbarung und Metaphysik.

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fahrungen. Das Selbst wurde immer mehr zum Zweck von Religion. Die Bindung an ein höheres Wesen wurde zu einer einzigartigen Beziehung – auch zu einer, die jederzeit aufkündbar ist (vgl. Höhn 2007: 41-53; Sellmann 2007: 427f.; Gräb 2007: 83). Im Mittelpunkt steht dabei die Suche nach einem gelingenden Leben im Sinne einer Vergewisserung individueller Subjektivität und der Begründung einer zielorientierten Lebensführung. Es wird nach Trost, Begleitung und Unterstützung gesucht, nicht nach Strafe und Vergeltung. Der Schwerpunkt der Religion verschiebt sich also von der Theozentrik hin in Richtung Anthropozentrik. Heute zeigt sich diese Tendenz in einer hoch individualisierten Religiosität.28 Zur Modernisierung der christlichen Religion gehört neben diesen Prozessen der Individualisierung auch eine Verschiebung in den Schwerpunkten ihrer Lehre. So hat etwa die Sünde viel von ihrer Bedeutung verloren. Denn auch das Gottesbild hat sich grundlegend gewandelt: Nicht mehr der strafende Richter steht im Vordergrund, sondern ein Gott der Gnade, Liebe und Zuwendung.29 Im Mittelalter hingegen wurde Gott in erster Linie als Herr und Weltenherrscher vorgestellt, der auf seinem Thron sitzt und unberechenbar über die Menschheit herrscht. Er flößt Furcht ein und ist durch Gebete, Buße und Opfer gnädig zu stimmen. Dieser strafende Gott verschwand immer mehr, und an dessen Stelle trat der liebende Gott. Heute ist Jesus vor allem ein persönlicher Freund, der einen leitet, beschützt und liebt. Seine Göttlichkeit drückt sich in seiner Gnade und Warmherzigkeit aus (vgl. Smith 2008: 85f.).30 Michael Ebertz hat Predigten in den letzten 150 Jahren zu Fragen der Eschatologie, also Fragen, die den Tod und das Jenseits betreffen, analysiert (vgl. Ebertz 2008). Dabei zeigt sich eine eindeutige Entwicklung weg von Bildern, die den Tod mit schwerer Schuld und Angst verbinden, und einem Gott, der grausam straft, zürnt und zornerfüllt zu Gericht sitzt – hin zu einer Jenseitsvorstellung, in der Grausamkeitsvorstellungen und gewalthafte Züge weitgehend getilgt sind. Bereits Ende des 19 Jahrhunderts machte sich die Neigung 28 | Vgl. Kap. 1. 29 | Ziemann spricht von einer Entmoralisierung der Religion (vgl. 2009: 163f). 30 | Interessant ist in dem Zusammenhang die Position Luthers, der zwar zur Emanzipation der Menschen von der Kirche Wesentliches beitrug, als er mit dem Papsttum und der kirchlichen Hierarchie brach und so den Weg frei machte für das Laienpriestertum des selbstbewussten, tätigen Bürgers. Auch hatte der Protestantismus im Unterschied zum mittelalterlichen Mönchstum die Menschen in die Welt hineingeführt und zur religiös motivierten rationalen Lebensführung, der Weltbeherrschung ermuntert (vgl. Schluchter 2006: 259). Aber Luther hat Gott auch verstanden als jemanden, der wahllos straft und grundlos vernichtet. Die Gebote sind nach Luther nur dazu da, den Gehorsam zu erproben, denn der Mensch ist nur Lehm in der Töpferhand Gottes. Insofern nimmt Luther eine Zwischenposition zwischen Mittelalter und Neuzeit ein.

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bemerkbar, die sündig Verstobenen nicht mehr unbedingt der Hölle, sondern dem Fegefeuer zuzuweisen. Dieser Prozess der »Entpönisierung« machte den Himmel zunehmend für alle zugänglich und Gott zu einem milden, barmherzigen Gott. Damit verlor die Kirche viel von ihrer eigenen Strafgewalt und ihrer Macht als Vermittlungsinstanz zwischen Diesseits und Jenseits.31 Im Nachhinein erscheint dieser Prozess wie eine Umkehr der Entwicklung in der Spätantike, in der zunächst das Bild von Jesus als dem guten Hirten vorgeherrscht hatte, das aber im Zuge der Fusion mit der weltlichen Macht immer mehr vom Bild Christi als des Pantokrators verdeckt und abgelöst wurde. Insofern könnte man die Entwicklung heute auch als Ausdruck der schwindenden politischen Macht der Kirchen interpretieren. Dementsprechend haben sich auch die Schwerpunkte der pastoralen Arbeit weg von einer kontrollierenden und strafenden hin zu einer heilenden Seelsorge verschoben (vgl. Ziemann 2009: 52). Aus der autoritären Verkündigung der christlichen Botschaften wurde, verstärkt seit den 1970er Jahren, eine kirchliche Beratung in Lebensfragen. Insofern hat aus heutiger Sicht Voltaire weitgehend gewonnen, denn aus der Lehre der christlichen Kirchen ist die Erbsünde immer mehr verschwunden. Auch wurden der Teufel und die Hölle allmählich immer mehr aus der christlichen Lehre vertrieben – wenn auch nicht überall, so zumindest in großen Teilen der etablierten Kirchen der europäischen Mittelschicht. Entsprechend ist hier auch die traditionelle Beichtpraxis komplett zusammengebrochen (vgl. Flasch 2008: 347; Ziemann 2009: 162; Großbölting 2013: 169, 172). Wenn wir diese Entwicklungen betrachten, scheint eine direkte Linie von der Aufklärung hin zu einer individualisierten modernen Religiosität und Seelsorge zu verlaufen. Aber es gilt zu bedenken, dass in Deutschland diese Form der Religiosität sich erst seit den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts auch in das Kirchen»volk« hinein verbreitet hat. Zuvor gab es vor allem in katholischen Kreisen noch sehr starke traditionelle Bindungen an die feudal strukturierte Kirche. Aber auch im Protestantismus finden wir neben der modernisierten Religiosität sehr starke antimoderne Strömungen, insbesondere wenn wir das gesamte Spektrum bis hinein in den protestantischen Fundamentalismus betrachten.

31 | Eine Untersuchung der Glaubensüberzeugungen von Gemeindepfarrern Ende der 90er Jahre stellte fest, dass diese nur noch zu 13 Prozent an die zentrale biblisch-theologische Aussage der Erbsünde glauben, und mit dem Jüngsten Gericht rechnet nur noch ein Drittel der Pastoren (vgl. Besier 2000: 123).

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Antimoderne und antihegemoniale Strömungen Im Zuge der Moderne mit ihrer stürmischen Entwicklung von Wissenschaft und Technik im 19. Jahrhundert bildeten sich im protestantischen und hier vor allem im puritanischen Milieu zahllose neue religiöse Gemeinschaften, die sich vorwiegend auf eine subjektive Spiritualität und auf einen Mystizismus stützen. Insbesondere in England sprossen zahllose verschiedene Denominationen32 wie Methodisten, Baptisten, Presbyterier, Adventisten u.a. aus dem Boden, die die altehrwürdige Church of England in Frage stellten. In Deutschland waren es vor allem verschieden Formen des Spiritismus und Pietismus,33 die diese antihegemoniale Strömung repräsentierten. Die radikalsten von ihnen wanderten in die »Neue Welt« aus, da sie sich den Vorgaben der Landeskirchen nicht unterwerfen wollten. Sie drückten sowohl Protest gegen die Moderne als auch gegen Bevormundungen durch die etablierten Kirchen aus. Denn Quelle der Kritik an der Religion war nicht nur Vernunft und Wissenschaft, sondern im Gegenteil auch der Mystizismus. Hier wurden oft antihegemoniale Positionen des Christentums in dessen radikaler Form gelebt. Beteiligt waren dabei sehr stark Laien, die in allen Klassen verankert waren. Diese radikalen christlichen Gruppierungen standen oft am Anfang von Gewerkschaftsbewegungen, Frauenbewegungen oder Anti-Sklaverei-Bewegungen. So opponierten etwa die Theosophen gegen das christliche Verständnis von zivilisatorischer Überlegenheit und verkündeten eine universelle Brüderschaft. Zugleich bemühten sie sich um eine materialistische und wissenschaftliche Argumentationsweise (vgl. van der Veer 2001: 69). Warum ausgerechnet das 19. Jahrhundert, also das Jahrhundert der industriellen und wissenschaftlich-technischen Revolutionen und der politischen Umbrüche, das Jahrhundert intensivster Religiosität war? Mit der Moderne kam 32 | Eine religiöse Denomination ist eine Untergruppe innerhalb einer Religion – vor allem im Christentum und Judentum –, deren Angehörige in ihren gemeinsamen Glaubensaussagen und Praktiken geeint sind. Die entstandene Untergruppe gibt sich einen neuen Namen, um sich von der Herkunftsgemeinschaft und von anderen Denominationen abzugrenzen. Bei der Namensgebung orientiert sie sich meist an den Gründern der neuen Gemeinschaft oder an den besonderen Inhalten, die erneuert oder neu beigefügt wurden. Die neue Denomination wird in ihren Anfängen von der ursprünglichen religiösen Gemeinschaft als Abspaltung angesehen. 33 | Ziel der Pietisten war es, die Religion von der Theologie zu befreien und zu einem persönlichen Gotteserleben zurückzufinden. 1694 gründeten sie in Halle eine Universität, um den Laien die neuen Erkenntnisse in konfessionsfreiem Gewand nahe zu bringen: Bald war Halle zum Zentrum einer biblischen Revolution geworden (vgl. Armstrong 2008: 163).

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nicht einfach die »Gottlosigkeit«, sondern mit ihr kam auch die Auseinandersetzung mit den neuen Entwicklungen, die Suche nach neuen Wegen der Religiosität, und es kam der Ausbruch aus den etablierten Kirchen. Die Selbst-Aktivierung der Laien setzte neue religiöse Energien frei. Diese unabhängigen Bewegungen entwickelten auch neue Formen einer unmittelbaren Religiosität, die sich etwa in ekstatischem Begeisterungstaumel äußern konnte. Auch ihre Theologie war oft von einer emotionalen Radikalität, etwa wenn die großen Auseinandersetzungen in der Gesellschaft als kosmische Schlachten begriffen wurden, in der »das« Böse geschlagen werden müsse. Armstrong spricht in dem Zusammenhang von einer »Theologie des Zorns«, in der eine immer anstehende »letzten Schlacht« gegen die Legionen des Antichristen geführt werden muss (Armstrong 2004: 125). Diese Bewegungen, die sich besonders im angloamerikanischen Raum verbreiteten, sind wie ein machtvoller Gegenschlag gegen die Ausrichtung der Religion an der Vernunft zu verstehen. Im Katholizismus zeigte sich diese Gegenbewegung in der Einbindung weiter Kreise in das sogenannte katholische Milieu. Denn es gelang der katholischen Kirche im Laufe des 19. Jahrhunderts (bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein), viele Menschen mithilfe unterschiedlicher Vereine und politischer Gruppierungen auch sozial übergreifend in eine katholische (Sub-) Kultur einzubinden. Dabei ging die Kirche auf die Laien zu und band sie in soziale und politische Bewegungen, wie etwa in Deutschland die Kolpingbewegung oder die Zentrumspartei, ein. Damit konnte die Kirche ihre Mitglieder gegenüber der Konkurrenz der nationalen Bewegungen auf ein transnationales »ultramontanes« Programm verpflichten (vgl. Kaufmann 2011: 133f.). Zugleich schottete sie sich von modernisierenden Entwicklungen in Wissenschaft und Kultur ab, etwa durch ein spezifisches Bibliothekswesen und eine katholische Publizistik. Dabei war die katholische Kirche so erfolgreich, dass sie die Austrittstendenz, die im Protestantismus bereits Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, für sich um mehr als zwei Generationen aufschieben konnte. Tatsächlich reichte, nach Einschätzung von Sellmann, »die Reichweite kirchlicher Prägung zu keiner Zeit – auch nicht im katholischen Mittelalter – weiter und tiefer als im nachrevolutionären milieuspezifischen Katholizismus des 19. und der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts« (Sellmann 2007).34 Das

34 | Allerdings kann die Form des milieugebundenen Katholizismus nicht mit den Evangelikalen verglichen werden. Aber beide wehrten sich gegen bestimmte Modernisierungsprozesse. Die Evangelikalen konnten aufgrund ihrer Pluralität und ihrer hohen milieuspezifischen Flexibilität sowie ihrer Orientierung an den Laien auf ihre Weise Schritt halten. Gabriel spricht in dem Zusammenhang von einem Paradox von Entkirchlichung und Verkirchlichung (vgl. Gabriel 2012a: 434; vgl. auch Ziemann 2009: 45, 49).

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Beispiel zeigt, wie sehr auch die Politik der jeweiligen religiösen Institutionen die Intensität der Kirchenbindung beeinflussen kann. Wenn wir also fragen, ob die Moderne Religiosität befördert oder eher hindert, so wird zunehmend deutlich, wie sehr es nicht alleine auf die Modernisierungsprozesse als solche ankommt, sondern auch darauf, wie die religiösen Instanzen damit umgehen. Entscheidend ist dabei, wie sich die jeweiligen Kirchen und Religionsgemeinschaften dem Staat gegenüber positionieren; das heißt, ob es sich, wie in weiten Teilen Westeuropas, um staatstragende Kirchen handelt oder um solche, die sich von der jeweiligen politischen Macht stärker distanzieren.35 In Deutschland führte das enge Bündnis von Thron und Altar im Protestantismus dazu, dass sich die Pastoren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Staatsbeamte verstanden.36 Das führte sowohl zur Unterdrückung religiöser Nonkonformisten wie auch generell zu einem Klima, in dem religiöse Bindungen mit einer politisch konservativen Grundhaltung und einer Gegnerschaft zu sozialen Reformen identifiziert wurden (vgl. Lehmann 2001: 166f.). Nur selten nahmen die Menschen in Deutschland die Kirche als ein Institution wahr, die auf der Seite des Volkes stand – mit der kurzfristigen Ausnahme der evangelischen Kirche in der Endzeit der DDR. Aber schon kurz nach der Wende, so Pollack, wurde auch sie als eine vom Westen unterstützte Siegerinstitution wahrgenommen, die den Umbruch der DDR relativ unbeschadet überstanden hatte (vgl. Pollack 2003: 201). Insofern muss die Säkularisierungsthese weiter differenziert werden, denn die Moderne alleine ist nicht ausschlaggebend dafür, ob und in welchem Ausmaß Kirchlichkeit und Religiosität zurückgehen. Auf der Suche nach weiteren Faktoren stoßen wir vor allem auf das Beispiel USA, das der europäischen Regel des Niedergangs eklatant widerspricht. Früher wurden die USA von der Religionssoziologie kurzerhand zur Ausnahme erklärt. Heute hingegen wird deren vergleichsweise intensive Religiosität eher als Regel betrachtet, unterstützt durch die Befunde, dass auch in vielen anderen Regionen der Welt die Religiosität eher zu- als abnimmt (vgl. Casanova 1994). Damit 35 | Das zeigt sich deutlich an der relativ hohen Religiosität in Irland und Polen. In der Geschichte der beiden Länder war die katholische Kirche vielfach eine Stütze der Aufrechterhaltung einer eigenen Identität in der Bevölkerung gegenüber einer andersreligiösen Besatzungsmacht. Das gilt für die Iren in ihrem Widerstand gegen die Eroberung durch das anglikanische England wie auch für Polen, das sich gegenüber dem protestantischen Preußen und dem orthodoxen wie später auch dem kommunistischen Russland zur Wehr setzen musste. 36 | »Die kirchlichen Apparate glichen in der Regel staatlichen Behörden; die kirchliche Lehre erschien lange Zeit wie ein Teil der offiziellen staatlichen Herrschaftsdoktrin« (Lehmann 2001: 164).

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wäre allerdings die Säkularisierungsthese erheblich in Frage gestellt, die ja prognostiziert, dass mit fortschreitender Moderne Religiosität und kirchliche Bindungen immer mehr zurückgehen. Insofern wäre zu fragen, ob nicht die Moderne selbst – um in der Sprache der Sozialwissenschaft zu sprechen – religionsproduktiv sein kann.

D ie M oderne als religionsproduk tiv : D as B eispiel USA In den USA finden wir über die gesamte Periode von 1800 bis 1950 ein ständiges Anwachsen von Religiosität (vgl. Martin 2008: 18). Dabei fällt auf, dass in den USA eine große Diversität und Dynamik bei den christlichen Religionsgemeinschaften vorzufinden ist. Ständig werden neue Denominationen gegründet, andere gehen zugrunde. Es fehlt eine übergreifende, machtvolle Kirche, wie wir dies aus den Ländern Europas kennen. Diese Diversität hat ihren Ursprung, wie wir sahen, vor allem im Protest religiöser Bewegungen gegen die etablierten staatstragenden Kirchen seit der Reformation. Die daraus folgenden Neubestimmungen des Christentums waren oft eine Quelle intensiver Religiosität, und die AnhängerInnen waren vielfach zur Flucht aus dem alten Europa gezwungen (vgl. van der Veer 2001: 69, 26).37 Beim Auf bau ihres neuen Staates bestanden die religiösen Gruppierungen auf einer strikten Trennung von Kirche und Staat38, um möglichst frei und unabhängig von staatlicher Bevormundung oder gar Verfolgung ihre Religion lehren und leben zu können.39 Für sie bedeutete diese Trennung eine Chance, sich mit ihren religiösen Aktivitäten zu entfalten und den reglementierenden Staat 37 | In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, mit Anhelm (2009) zwischen staats- und gesellschaftsanalogen Kirchen zu unterscheiden: Die gesellschaftsanalogen Kirchen entstanden zunächst als Absetzbewegungen vom europäischen Staatskirchentum und gewannen dann vor allem in den USA große Bedeutung. Sie sind dort die Mehrheitskirchen. Diese Selbstorganisationsmodelle gehen auf die Täuferbewegung zur Zeit der Reformation (Wiedertäufer und Mennoniten) und den Puritanismus (Kongregationalisten, Baptisten, Presbyterianer, Quäker) zurück. Im 19. Jahrhundert kamen schließlich die Heilsarmee, die freien Evangelischen Gemeinde, die Adventisten und Pfingstkirchen dazu. Demgegenüber sind die Mehrheitskirchen in Europa wesentlich analog dem Staat organisiert mit einer entsprechenden Hierarchie, Bürokratie und einer Mitgliedschaft durch Geburt (Lutheraner, Orthodoxe, Katholiken und Anglikaner). 38 | Lokalismus: Pluralität und innere Homogenität je nach sozialer Schicht, kultureller und politischer Ausrichtung, Region u.a. (vgl. Lehmann 2001: 169). 39 | Bill of rights 1787 First Amendement: Es versagt dem Bundeskongress eine Religion gesetzlich zu fördern oder ihre Ausübung zu beeinträchtigen (vgl. Gabriel 2012: 302).

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hinter sich zu lassen. Das heißt, die Trennung von Kirche und Staat wurde zur Voraussetzung für die Intensivierung von Religiosität, wie sie auch eine Differenzierung religiöser Gemeinschaften begünstigte, sodass heute eine Vielzahl unterschiedlicher Denominationen sehr unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht wird. Ihre große Pluralität erlaubt es, dass sie in Bezug auf soziale Klasse, ethnische Herkunft oder auch politische und kulturelle Positionen in sich oft homogen sind. Da die religiösen Gemeinschaften unabhängig vom Staat sind, konnten sie auch zu einem Symbol für Freiheit und Selbstbestimmung werden – im Gegensatz zum Religionsverständnis in Europa, wo die Religion vorwiegend mit etablierten und meist konservativen Positionen verknüpft war. Das heißt nicht, dass die Denominationen in den USA per se progressiv wären – viele evangelikale christliche Kirchen sprechen gerade für das Gegenteil –, aber sie stehen für das gesamte Spektrum der politischen Auffassungen. Zudem haben sie allerdings in ihrer Gesamtheit einen strukturell konservativen Charakter, sofern sie in ihrer Pluralität oft soziale Schichtungen, ethnische Segregationen und politische Fraktionierungen reproduzieren und damit verfestigen können. Aber nicht nur die anhaltende Religiosität in den USA, die trotz fortwährender stürmischer Modernisierungsprozesse weiterhin Bestand hat, erstaunt die Europäer, sondern auch die unbefangen christliche Rhetorik, die vielfach von Staatsrepräsentanten praktiziert wird, und das, obgleich hier die Trennung zwischen Staat und Kirche deutlich strenger ist als in vielen Ländern Europas. Die Erklärung dafür scheint wiederum in der Trennung selbst zu liegen: Die öffentliche Zelebrierung religiöser Formeln ist gerade wegen und nicht trotz der Trennung von Staat und Kirche möglich. Da der Staat in den USA seine Legitimität nicht aus der Kirche ziehen noch sich gegen sie profilieren muss, kann er sich unbekümmert der religiösen Rhetorik bedienen. Solange er nicht mit einer bestimmten Kirche oder Religion zu identifizieren ist, kann er für viele anschlussfähig sein (vgl. Höhn 2007: 142ff.). Die intensive Religiosität in den USA hat aber nicht nur mit der staatlichen Verfasstheit, sondern auch sehr viel mit der Geschichte der USA zu tun. Man darf nicht vergessen, dass die »Pilgerväter«, die sich 1620 auf der Mayflower in die »neue« Welt aufmachten, radikale Calvinisten waren, die von der anglikanischen Amtskirche verfolgt wurden. Sie waren überzeugte Gläubige, und das gilt auch für viele AuswanderInnen der nächsten Jahrhunderte. Insofern bildeten religiöse Vorstellungen ein zentrales Element ihres Selbstverständnisses und waren die Basis für den Gründungsmythos der Gesellschaft. Die Pilgerväter interpretierten ihre Auswanderung mit Hilfe der Hebräischen Bibel als einen »Exodus«, als eine Wiederauflage der Flucht des »auserwählten Volkes« aus Ägypten. Die Reise über den Atlantik verstanden sie analog dem Umherirren des jüdischen Volkes in der Wüste. Am Ende trafen sie im »Gelobten Land« ein – und sie tauften es New Canaan. Dieser Mythos

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vom auserwählten Volk, die Vorstellung nur ein Werkzeug Gottes zu sein, das Gottes Willen erfüllte, gab ihnen nach Armstrong den Mut und die Kraft eine »Neue Welt« zu schaffen. Sie hatten, davon waren sie überzeugt, eine besondere Mission gegenüber der Verderbtheit der Alten Welt zu erfüllen (vgl. Armstrong 2004: 129). So war auch der Unabhängigkeitskrieg mit England für sie Teil des göttlichen Plans, der ihnen auftrug, den Antichrist zu vernichten (vgl. ebd.: 130). Mit diesem Mythos wurde die amerikanische Unabhängigkeit sakralisiert; die neue Republik galt nun als Gottes Werk, der Revolutionskrieg als ein Kampf des Himmels gegen die Hölle. Dabei waren die militärischen Gegner nicht einfach mehr Feinde, sondern sie wurden zu Vertretern des Bösen. Diese Selbst-Mystifizierung war nach Armstrong jedoch nicht allein deshalb für die Gründung der USA so existentiell, weil es sich hier um sehr gläubige Menschen handelte, sondern weil sie, aus ihren alten Zusammenhängen herausgerissen, viel Mut brauchten, um das Ungewisse und Neue zu wagen. Das lässt sich, nach Armstrong, für die Moderne verallgemeinern, die mit ihren ständigen Umbrüchen, der Permanenz des Wandels oft abrupte, geradezu gewalttätige Loslösungen von der Vergangenheit erfordert. Diese Ablösungen verlangen viel Kraft und Zuversicht. Diese können am ehesten durch hoch aufgeladene emotionale Mythen genährt werden (vgl. ebd.: 128). So mussten sich die damaligen PionierInnen auf große Unwägbarkeiten und Ungewissheiten einlassen. Sie mussten sich entschlossen vom alten Europa trennen. Dabei half ihnen die Dämonisierung der Engländer, des Papsts und aller »alten« Mächte. Aber die These von Armstrong trägt noch weiter, sie zeigt, dass das religiöse Pathos eine emotionale Kraft freisetzt, die nicht nur abrupten Wandel ertragen lässt, sondern auch eine Unerbittlichkeit gegenüber anderen fördern kann, die sich im Falle der Gründungsgeschichte der USA in der Erbarmungslosigkeit gegenüber der dort einheimischen Bevölkerung zeigte. Beim Auf bau einer neuen Welt ging es ja nicht nur darum, die alte hinter sich zu lassen, sondern sich auch gegenüber den Menschen des neuen Kontinents zu behaupten und sie gegebenenfalls zu vertreiben und auszulöschen. Der Auserwähltheitsmythos nährte die Selbstgewissheit, Skrupellosigkeit und Gewalttätigkeit, mit der die Einwandernden das neue Land in Besitz nahmen. Die einheimische Bevölkerung wurde mit gutem Gewissen unterworfen, vertrieben und vernichtet, um eine »neue«, ihnen von Gott versprochene Welt zu errichten. Auch für Vertreibung und Mord fand sich eine Vollmacht in der Heiligen Schrift, die sie glauben ließ, dass die Ureinwohner als »Un«gläubige ihr Schicksal verdient hätten (vgl. ebd.: 152). Je unerbittlicher das Alte gegen das Neue gesetzt wird, desto größer die Gefahr von Gewalt. Insofern bewirkt Modernisierung nicht nur Fortschritt, sondern enthält auch eine Intoleranz gegenüber denen, die nicht damit gemeint sind: »Immer gab es Menschen, die diese neue westliche Gesellschaft

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als grausam, in die Privatsphäre eingreifend und durchaus nicht befreiend erlebten. Die Freiheit der einen bedeutet die Versklavung der anderen« (ebd.: 51). Schließlich hat die intensive religiöse Kultur nicht nur mit der Gründungsgeschichte der USA, sondern auch mit ihrer anhaltenden Geschichte der Einwanderung zu tun. Immer neue Einwanderergruppen versuchten in der neuen Heimat ihre Entwurzelung durch verstärkte Religiosität zu kompensieren. Insofern ist Religion im Kontext des Einwanderungslandes USA auch in ihrer Funktion als eine, wie Martin formuliert, »transportierbare Identität« (Martin 2007: 442) zu verstehen, als Möglichkeit für die EinwanderInnen alte Bindungen in die neue Heimat mitzunehmen und auf dieser Basis wiederum neue Bindungen zu knüpfen. Religion kann hier eine Brückenfunktion übernehmen. So ist es nicht überraschend, dass die Religion für EinwanderInnen im Zuge der Emigration oft wichtiger wird als zuvor an ihrem Herkunftsort. Sie kann helfen, neue Verhältnisse mithilfe vertrauter Kategorien zu erklären. Das kann kontraproduktiv sein, wenn man damit den neuen Verhältnissen nicht gerecht wird, es kann aber auch produktiv sein, wenn es einen Übergang ermöglicht und Schutz bietet vor der Überwältigung durch die neuen Lebensbedingungen. Dieser Schutz zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Abhängigkeit von der Anerkennung des Aufnahmelandes durch das Angebot einer religiösen transnationalen Identität relativiert werden kann. Die Religion ist also keineswegs mit der Moderne untergegangen. Sie erlebt sogar in bestimmten Regionen und Milieus einen Aufschwung bis in die heutige Zeit hinein. Allerdings müssen ihre Angebote zeitgemäß sein. Im Christentum scheinen verschiedene evangelikale Gruppierungen besonders gut auf die spezifischen Bedürfnisse der Menschen in einer mobilen und dynamischen Welt einzugehen. Die Ursache dafür ist nach Martin darin zu sehen, dass sie im Vergleich zu den etablierten Religionsgemeinschaften laienzentrierter, gewissensbetonter, partizipatorischer, pluralistischer, dezentralisierter sind und auf Freiwilligkeit beruhen.40 Diese religiösen Bewegungen sind vor allem deshalb zeitgemäß, weil sie territoriale und soziale Mobilität unterstützen und den marginalisierten Menschen die knappe Ressource »Würde« zuerkennen. Es ließen sich – neben den USA – auch in anderen Ländern und Kulturen Beispiele für die hohe Religionsproduktivität der Moderne finden; so etwa in ostasiatischen Ländern wie Japan, China und Korea. Japan zum Beispiel hat 40 | »Die Pfingstbewegungen stellen weltweit und besonders in Lateinamerika und Afrika eine gewaltlose Mobilisierung der Armen dar, besonders schwarzer, weiblicher Armer, die einen geachteten Platz in einer gemeinsamen Moderne anstreben. Weil sie partizipatorisch und aufstiegsorientiert sind, tragen sie zu einem Ethos der Demokratie und ökonomischen Disziplin bei« (Martin 2007: 445).

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eine äußerst lebendige Religionskultur und gilt zugleich als eines der modernsten Länder der Welt. Die dortige Religiosität basiert oft auf einer individuellen Mischung aus traditionell asiatischen wie auch importierten Religionen (wie dem Christentum) sowie zahlreichen religiösen Neuschöpfungen. Die Neuschöpfungen entstanden in allen drei genannten Länder vor allem aus den tradierten Religionen heraus, die sich gegen die Dominanz der Kolonialmächte stellten und dabei neue Formen entwickelten. So bildete sich etwa der Buddhismus und Daoismus in China als übergreifende religiöse Institutionen in Reaktion auf das westliche Vorbild aus. Sie entwickelten zum ersten Mal eine festgeschriebene innere institutionelle Hierarchie religiöser Einrichtungen. Insgesamt führte das Eindringen der Kolonialmächte oft zu einem Aufschwung der Religionen und zu einer Politisierung des religiösen Feldes.41

Resümee Wenn wir nun zum Schluss des Kapitels auf die Frage zurückkommen, welche Bedeutung Religion in einer modernen säkularen Gesellschaft hat, so fällt die Antwort erwartungsgemäß komplex aus: Zum einen ist ein gewisser Gegensatz zwischen der Religion und den »neutralen« Sphären der Gesellschaft zu konstatieren, zum anderen ein gewisser Niedergang der Religiosität und eine wachsende Distanz zur Religion und ihren Institutionen, vor allem in bestimmten Schichten der Gesellschaft. Dabei spielt die erheblich gesteigerte Kontrolle über die eigenen Lebensverhältnisse durch Wohlstand, soziale Absicherung und Bildung eine wesentliche Rolle. Das gilt jedoch nicht für alle Regionen in der Welt, nicht einmal in Europa. Denn auf der anderen Seite finden wir ein stetiges Anwachsen von Religiosität. So sind in den Modernisierungsprozessen selbst auch religionsproduktive Momente enthalten: Starke lebensweltliche Brüche wie vor allem im Zuge von Migrationen, aber auch biographische Krisen und wachsende Unsicherheiten angesichts einer oft nicht mehr beherrschbar erscheinenden Wissenschaftsund Technologieentwicklung liefern Hypothesen dafür, warum in vielen Regionen der Welt ebenso wie in spezifischen Milieus innerhalb der wohlhabenden westlichen Gesellschaften die Religiosität eher ansteigt. Damit steht auch die Säkularisierungsthese auf dem Prüfstand. Und zwar nicht nur weil, wie wir sahen, »die« Moderne nicht überall und nicht kontinuierlich zu einem Niedergang der Religion geführt hat, sondern weil sie nicht einfach die »Überwindung« von Religion bedeutet, sondern eine – zumindest

41 | Das gilt auch für Korea, das infolge der Invasion Japans (1895) und seiner Kolonisierung bis 1945 und der damit verbundenen erzwungenen Modernisierung zahlreiche neue Religionen entwickelte (vgl. Gentz 2007: 387, 423, 421).

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partielle – Integration von Religion in das säkulare Selbstverständnis.42 Das hat, wie wir noch sehen werden, erhebliche Auswirkungen auf die Beziehung zu anderen religiösen Kulturen, denn aus europäischer Sicht scheint dieser, der christliche Weg der einzig gangbare in eine gelingende Zukunft zu sein. Dementsprechend schreibt etwa José Casanova: »Es ist an der Zeit, die eurozentrische Sicht aufzugeben, wonach moderne europäische Entwicklungen wie die Säkularisierung des europäischen Christentums universale und allgemeine Prozesse darstellen« (Casanova 2013: 166). Die Entwicklung in Europa stelle eher eine Ausnahmeerscheinung dar, da keineswegs weltweit die Vorstellung gelte, je moderner, desto säkularer. Das gilt, wie wir sahen, nicht einmal für das ganze Europa. Auch hier haben wir Regionen, in denen Modernität mit einer hohen Religiosität einhergeht. Es sind also noch andere Faktoren außer den Modernisierungsprozessen entscheidend, vor allem die der Nähe beziehungsweise Distanz der religiösen Institutionen zur politischen Macht. Ebenso gilt die Säkularisierungsthese auch nicht für alle sozialen Gruppierungen innerhalb der europäischen Gesellschaften, insbesondere wenn man die Religiosität vieler EinwanderInnen mit in Betracht zieht.43 Allerdings sind Stärke und Form von Religiosität nicht allein von diesen Modernisierungsprozessen abhängig. Für die großen regionalen Unterschiede, wie die zwischen den USA und Westeuropa oder die zwischen Ost- und Westdeutschland, sind kulturhistorische und politische Faktoren verantwortlich zu machen. Dabei spielt die Nähe bzw. Ferne der religiösen Institutionen zur politischen Macht eine erheblich Rolle und damit auch, welche Bedeutung die Religion im kollektiven Selbstverständnis der jeweiligen Bevölkerung hat. So hat das europäische Christentum erhebliche Transformationen im Zuge der Moderne durchgemacht. Allerdings in höchst unterschiedliche Richtungen. Wir finden auf der einen Seite die Entwicklung hin zu einer aufgeklärten und hoch individualisierten und auf der anderen die Entwicklung hin zu einer stark emotionalisierenden, eher dogmatischen und gemeinschaftsorientierten christlichen Religiosität. 42 | Genauer: die Integration einer bestimmten Variante des Christentums, nämlich des westlichen, aufgeklärten Christentums. Dies wird in die moderne Gesellschaft eingemeindet und zu einem Teil der westlichen Kultur. Für andere Formen des Christentums gilt das nicht unbedingt, wie etwa freikirchliche Gruppierungen und das orthodoxe Christentum, und erst recht nicht für andere Religionen. 43 | Auf der anderen Seite finden wir religionsproduktive Momente in all den sozialen Kontexten, in denen harte Brüche und Unwägbarkeiten von den Menschen zu verkraften sind, wo Würde und Wertschätzung durch die Gesellschaft ein rares Gut sind, und die Unübersichtlichkeit der Lebensverhältnisse nach Orientierung und Halt in einer klaren Lehre und einer festen Gemeinschaft suchen lässt.

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Wie es verschiedene Formen einer »modernen« Religiosität gibt, so gibt es auch unterschiedliche Formen der Säkularisierung, denn in sie ist das Verhältnis zur jeweiligen Religion eingeschrieben. So ist im europäischen Säkularisierungsbegriff auch die Abwehr gegen die Machtansprüche der Religion enthalten, wie die US-amerikanische Variante sie nicht kennt. Dort bedient sich die Politik viel unbefangener einer christlichen Rhetorik, da sie deren Vereinnahmung durch den Staat nicht in derselben Weise fürchten muss. Der europäische Säkularisierungsbegriff lebt aber nicht nur von der Abwehr der Religion, sondern zugleich von deren Integration in seine Vorstellungen von der Moderne. In ihm ist das Christentum als Wegbereiter und Gestalter der Moderne enthalten, allerdings ein durch die Aufklärung »geläutertes« Christentum, das die Autonomie des Menschen ins Zentrum stellt und damit eine Verschiebung von der Theozentrik hin zur Anthropo- und Soziozentrik bewirkt hat. Nun geht es den gläubigen Menschen weniger darum, Gottes unerforschlichen Ratschluss zu erkunden und seine Gebote gewissenhaft zu erfüllen, als vielmehr um die Frage, welchen Wert Religion für das Wohlergehen der Menschen und der Gesellschaft haben kann. Eine solche von klerikaler Autorität, tradierten Riten und kirchlichen Lehrinhalten relativ unabhängige Religiosität gilt nicht nur mit der Moderne vereinbar, sondern auch als Ausdruck einer – im Vergleich zu allen anderen außereuropäischen Religionen – »hoch entwickelten« Religiosität. In diesem Sinn gilt das Christentum als Wegbereiter der europäischen Moderne und in seiner aufgeklärten Form als »höchste« aller Religionen. Diese Priorisierung des Christentums macht den europäischen Säkularisierungsbegriff zu einem christlichen. Inbegriffen ist dabei die Spaltung in ein »aufgeklärtes« und in ein »traditionelles« Christentum, das nicht eigentlich der Moderne anzugehören scheint. Und schließlich gehört zu dieser christlichen Säkularität auch der Verweis anderer Religion und Kulturen in den Bereich von »Tradition« und »Unvernunft«. Damit ist ein wesentlicher Grundzug dessen benannt, was als kulturelles Christentum bezeichnet wird, nämlich die Vereinbarkeit von Säkularität mit einer aufgeklärten Christlichkeit und den eben genannten Implikationen. Aber ein solcher Säkularisierungsprozess ist weder universal, noch ist er mit der Idee von Modernität und Fortschritt notwendig verknüpft. Schließlich gilt er selbst für Europa nur bedingt, und zwar nicht nur, weil es auch hier nach wie vor hoch religiöse Regionen und soziale Gruppierungen gibt, sondern weil der hier geltende Säkularisierungsbegriff selbst eine christliche Prägung hat. Welche Rolle dabei die Kirchen spielen, soll Thema des nächsten Kapitels sein.

6. Z ur Rolle der Kirchen in der säkularen Gesellschaft

Die Kirchen sind heute in Deutschland nicht mehr Staatskirchen. Mit der Säkularisierung haben sie ihre übergreifende machtpolitische Position in der Gesellschaft verloren. Religion wurde dabei von einem übergreifenden zu einem Teilsystem der Gesellschaft – neben anderen Teilsystemen wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung, die jeweils analoge Prozesse der Rationalisierung und Professionalisierung durchgemacht haben. Insofern kann man das Zurückdrängen der Religion auf ihre »eigentlichen« Funktionen als Teil eines Differenzierungsprozesses verstehen, der mit der Modernisierung in allen Gesellschaften westlichen Typs verbunden ist (vgl. Luhmann 1982).1 Das heißt jedoch nicht, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Gesellschaft als Ganzes hätten, sie spielen nun aber eine andere Rolle. Kernfunktion der modernen Kirche ist die Heilsvermittlung. Sie muss den Glauben verkünden und im Ritus eine Beziehung zwischen Mensch und Gott vermitteln, so im Gebet, in der Liturgie und den Sakramenten. Die Kirche bietet zugleich Raum für die Reflexion der Glaubensinhalte in Form der Theologie. Darüber hinaus wirkt sie mithilfe der Diakonie in die Welt hinein und stellt so einen Bezug zur Gesellschaft insgesamt her. Das bedeutet jedoch, dass die Kirche sich in ihrer Arbeit nicht auf die ihr anvertrauten Gläubigen beschränkt. Sie will und muss, gemäß ihres missionarischen Auftrags, auch die Nichtgläubigen ansprechen. Das tut sie mittels ihrer karitativen Tätigkeit, aber auch mittels einer Einflussnahme auf die Politik und die öffentlichen Debatten 1 | Ein etwas anderes Verständnis hat etwa Marramao, der formuliert: »Der Konflikt zwischen den beiden Mächten führt nicht zu einer Differenzierung, sondern vielmehr zu einer gegenseitigen Bespiegelung, bei der die eine Seite die Vorrechte der anderen übernehmen möchte: Die Kirche ›verstaatlicht‹ sich (indem sie die Merkmale der Zentralisierung und der bürokratischen Rationalisierung übernimmt), und der Staat ›verkirchlicht‹ sich, indem er seine sakralen Merkmale verstärkt und seine Handlungen und Verfahrensweisen ritualisiert« (Marramao 1999: 27).

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in der Gesellschaft. Die Kirchen verstehen dies als ihr »prophetisches Wächteramt«. Sie haben darüber zu wachen, dass die Rahmenbedingungen in der Gesellschaft so gestaltet werden, dass christliches Leben möglich ist und sich gegebenenfalls auch weiter ausbreiten kann. Die Trennung von Kirche und Staat bedeutet also nicht, dass der Einfluss der christlichen Kirchen auf den öffentlichen Raum verschwunden wäre – im Gegenteil. Ihr Einfluss nahm sogar in gewisser Weise zu, je mehr sie von hoheitlichen Funktionen entbunden waren. Denn die Kirchen konnten umso deutlicher als unabhängige ethische Instanz in der Gesellschaft auftreten, je weiter sie sich offiziell aus dem politischen Tagesgeschäft zurückgezogen hatten. Dabei machten sie sich vor allem zu Anwälten der Ausgeschlossenen und Armen. Das wäre nicht gegangen, wenn sie noch ihre eigenen Steuern erhoben und mit den Aristokraten gemeinsame Sache gemacht hätten. Erst die Distanz zu den Herrschenden verschaffte ihnen moralische Glaubwürdigkeit (vgl. ­Bayly 2006: 87). Insofern könnte man die Entlassung der Kirchen aus ihren politischen Funktionen auch als eine Befreiung der Religion verstehen und damit als eine Chance, zu ihren eigentlichen Aufgaben zurückzukehren. So glaubt etwa Luhmann, dass Säkularisierung nicht einen Niedergang der Religion nach sich zieht, sondern dass im Gegenteil die Kirchen ihre Bedeutung durch eine Beschränkung auf bestimmte Funktionen sogar steigern können.2 Das heißt, dass sie auch Aufgaben für die Gesellschaft allgemein übernehmen können, wie etwa die, sich für die Aufrechterhaltung von Werten einzusetzen oder sich der Hilfsbedürftigen in der Gesellschaft anzunehmen. Damit übernehmen die Kirchen gewissermaßen eine »säkulare« Rolle und können dadurch neues Gewicht und neue Glaubwürdigkeit gewinnen. In Bezug auf diese Rolle genießen die Kirchen in der Gesellschaft in der Tat eine große Zustimmung. Insofern gehen nicht nur die Kirchen auf die Gesellschaft zu, sondern auch die Gesellschaft auf die Kirchen. Das gilt in besonderer Weise auch für die Politik – und das insbesondere in Deutschland. So versteht sich hier etwa die stärkste Partei als eine christliche, die den Anspruch hat, das christliche Menschenbild zur Richtschnur ihrer Politik zu machen und sich für die Umsetzung christlicher Werte einzusetzen. Das kann insofern nicht überraschen, als der Zusammenhang zwischen 2 | Durch Differenzierung wird Interdependenz gesteigert. Gerade funktionale Differenzierung steigert Interdependenzen und damit die Integration des Gesamtsystems, weil ja jedes Funktionssystem voraussetzen muss, dass andere Funktionen woanders erfüllt werden (vgl. Luhmann 1982). Bereits Friedrich Schleiermacher meinte in seiner berühmten »Reden über die Religion« 1799, dass die Religion dann in ihr Eigenrecht trete, wenn sie sich aus der Verklammerung mit anderen geistigen und gesellschaftlichen Größen befreie (vgl. Zachhuber 2007: 28).

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­ irche und Staat in Deutschland historisch gesehen immer sehr eng war. Dies K hat sich u.a. in einem Säkularisierungskonzept niedergeschlagen, das eine wohlwollende Förderung der Kirchen durch den Staat vorsieht.3 Demgegenüber gibt es durchaus auch andere Modelle in Europa: Sie reichen von einer strikten Trennung von Kirche und Staat (Stichwort Laicité) in Frankreich bis hin zum Modell der Staatskirche in den skandinavischen Ländern und England.4 Und überall wird unterschiedlich ausgehandelt, wie die Trennlinien zwischen den verschiedenen Einflussbereichen verlaufen sollen. Das Besondere an Deutschland ist jedoch auch die Existenz zweier nahezu gleich mächtiger Großkirchen, die selbst wiederum ein jeweils unterschiedliches Verhältnis zum Staat hatten und haben. Der Protestantismus war von Anfang an eng mit der weltlichen Obrigkeit verbunden, etwa in Form der Kooperation von Thron und Altar im protestantischen Preußen. So spielte er auch eine zentrale Rolle im Prozess der Nationbildung. Dem stand die katholische Kirche deutlich distanzierter gegenüber.5 Dennoch haben beide Kirchen ­heute  – auch im vereinigten Deutschland  – eine relativ starke Position. Das geht nicht nur auf die frühere Geschichte der Nationbildung zurück, sondern vor allem auch auf die jüngere Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges, weil im Zusammenbruch Deutschlands 1945 die Kirchen sich als einzige Großinstitutionen behaupten konnten. Diese Situation nutzten sie zur Stabilisierung ihrer ideologischen und politischen Position.

Z ur B edeutung der christlichen K irchen in D eutschl and Die beiden Großkirchen in Deutschland nehmen im Vergleich zu den Nachbarländern eine außerordentlich starke Position in der politischen Landschaft ein. Das geht im Westen Deutschlands bereits auf die Gründungsphase der BRD zurück, in der die Kirchen sich frühzeitig eine starke Position sicherten, etwa in Form der Mitsprache in verschiedenen Gremien wie auch durch rechtliche Vergünstigungen. So garantiert zum Beispiel der staatliche Kirchensteuereinzug ihnen bis heute einen hohen und kontinuierlichen Geldfluss. Ebenso 3 | Im juristischen Fachjargon wird diese Form der nicht vollständigen Trennung zwischen Kirche und Staat als »hinkende Trennung« bezeichnet. 4 | Die verschiedenen Modelle sind: Laizismus: Der Staat lehnt jede Unterstützung ab und versucht die Kirche zu kontrollieren. Säkularismus (deutscher Prägung): Neutralität des Staates, aber Förderung der Religionsgemeinschaften als Körperschaften des Öffentlichen Rechts. Subsidiaritätsprinzip, Staatskirche: Kirche wird der Staatsmacht in Teilbereichen untergeordnet und wird zugleich von ihr unterstützt (vgl. Pollack 2009: 162f.). 5 | Ich gehe im nächsten Kapitel ausführlich darauf ein.

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kommen durch die Staatskirchenverträge den Kirchen jährlich Millionen vom Staat als Entschädigung für die Enteignung von Kirchengütern im Jahr 1803 zu (vgl. Großbölting 2013: 5).6 In Bezug auf die neue politische Ordnung der BRD setzten sich beide Großkirchen erfolgreich für eine Verfassung ein, die ihre Verankerung im Christentum und seinen Werten deutlich macht.7 Das gelang ihnen vor allem dadurch, dass sie warnend auf den Nationalsozialismus verwiesen, der ja gezeigt habe, was geschehe, wenn sich ein Volk von Gott abwendet. Das war dann das entscheidende Argument, um den Verweis auf Gott im Grundgesetz zu rechtfertigen. Man war sich einig, dass man die weltliche Verfassung unter den Vorbehalt der Transzendenz stellen müsse (vgl. Stein 2007: 292). Es erscheint jedoch äußerst problematisch, dass ausgerechnet die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus als Beweis für die Notwendigkeit einer »transzendenten Orientierung« angeführt werden, haben doch, wie wir im folgenden Abschnitt noch sehen werden, die christlichen Kirchen selbst einen großen Beitrag zur Identifikation der Menschen mit der nationalsozialistischen Ideologie geleistet. Wie sehr diese christliche Grundorientierung die deutsche Politik bis heute trägt, zeigt sich etwa daran, dass bei der Auseinandersetzung um die Verfassung der EU es vor allem die deutsche Delegation war, die sich für die Aufnahme eines Gottesbezugs in die Präambel einsetzte. Nachdem sich die laizistische Position Frankreichs durchgesetzt hatte, ließ es sich die deutsche Regierung nicht nehmen, einen Sonderweg einzuschlagen und, im Unterschied zu den anderen EU-Mitgliedern, den Begriff der Religion in die deutsche Fassung einzufügen (vgl. ebd.: 294). Was den generellen Einfluss der christlichen Kirchen auf die Politik in Deutschland betrifft, so zeigt eine Untersuchung von Antonius Liedhegener, dass die Kirchen seit Kriegsende anhaltend stark auf die Gesetzgebungsver6 | Die sogenannten »Staatsleistungen« gegenüber den Kirchen betragen ca. 480 Millionen Euro, die als Entschädigung für die Enteignungen 1803 jährlich an die Kirchen überwiesen werden, gemäß Art. 138 der Weimarer Reichsverfassung. 7 | So wird in den politischen Verfassungen des Bundes und der Länder immer wieder explizit auf religiöse Orientierungen Bezug genommen. Das gilt etwa für die Eidesformel: »So wahr mir Gott helfe.« Auch gilt es für die Präambel des Grundgesetzes, in der es heißt: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben.« Über diesen allgemeinen Gottesbezug hinaus wird in Art. 7 GG konkret festgelegt, dass an allen Schulen Religionsunterricht angeboten wird, und Art. 140 GG räumt den Kirchen ein Selbstbestimmungsrecht ein, das ihnen erlaubt, ihre Angelegenheiten selbstständig zu regeln. Schließlich soll mithilfe der Feiertagsregelungen die Möglichkeit gegeben werden, zum Gottesdienst zu gehen, was allerdings weitgehend nur für die christlichen Feiertage gilt (vgl. Stein 2001: 190ff. in Hildebrandt.)

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fahren eingewirkt haben (vgl. Liedhegener 2006). Zum einen kämpften sie erfolgreich für den Erhalt von Konfessionsschulen, den Religionsunterricht an säkularen Schulen und um theologische Fakultäten an den Universitäten. Sie mischten sich ein bei Fragen der Sonntagsarbeit und Feiertagsregelung wie auch bei Themen, die den Schutz des Lebensrechts zu Beginn und am Ende des Lebens betreffen. Ebenso engagierten sie sich stark im Zusammenhang mit den Gesetzen zur Abtreibung, zur Präimplantationsdiagnostik und zu den Reproduktionstechnologien allgemein ebenso wie in den Fragen der sozialen Sicherung sowie der Einwanderungspolitik. Bei der Wiedervereinigung wurde das westliche Modell bruchlos auf die ostdeutsche Gesellschaft übertragen, obgleich sich hier die Mehrzahl der Menschen als Atheisten begreift. So wurde etwa in den Verfassungen der Neuen Bundesländer die Bedeutung der Kirchen für die Wahrung und Festigung der sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens betont und dem Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen Raum gegeben (vgl. Großbölting 2013: 267f.; Große Kracht 2012b: 281). In neuester Zeit zeigte sich der politische Einfluss der Kirchen vor allem darin, dass sie anhaltend versuchten, die Verabschiedung des Antidiskriminierungsgesetzes zu verhindern, da sie sich vorbehalten wollten, in ihren Institutionen nur Menschen christlicher Konfession einzustellen.8 Die Kirchen selbst verstehen sich als unentbehrliche Akteure in dieser Gesellschaft. Sie sind der Auffassung, dass sie in besonderer Weise dafür prädestiniert seien, das Wohl der Gesamtheit im Blick zu behalten, weil sie inmitten einer vielfach von Interessengegensätzen dominierten Gesellschaft in der Lage seien, die allgemeinen Grundwerte wach zu halten und zu fördern, wie es in einem Schreiben der Deutschen Bischofskonferenz (1969) heißt. Und weiter heißt es dort: »Wir Bischöfe würden unsere schwere Verpflichtung vernachlässigen, wenn wir uns aus einer falsch verstandenen ›Innerlichkeit‹ nur für die Belange des Glaubens im engeren Sinne verantwortlich hielten. Darum werden wir von unserem Recht (zur Stellungnahme) auch künftig Gebrauch machen, wenn die Grundlagen unserer Demokratie in Gefahr geraten, wenn unverzichtbare Rechte des Menschen geschmälert beziehungsweise preisgegeben oder wenn die Freiheit der uns von Christus übertragenen Verkündigung des Evangeliums direkt oder indirekt eingeschränkt würde« (zit. in Liedhegener 2006: 238).

8 | Diese durch die Regelungen zum sogenannten Tendenzbetrieb legitimierte Praxis führt, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird u.a. dazu, dass im psychosozialen Bereich MuslimInnen und andere Nicht-Christen sowie Atheisten so gut wie keine Chance haben eingestellt zu werden.

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Das ist seither Programm der katholischen wie evangelischen Kirche geblieben und aufgrund ihrer erheblichen politischen und materiellen Privilegierung ist es ihnen gelungen ihre öffentliche Präsenz kontinuierlich zu steigern – trotz der Tatsache, dass die Mitgliedschaft beider Großkirchen ständig schrumpft (vgl. Rösch 2011: 54). Die Frage ist nun, wie diese gesellschaftliche Positionierung der Kirchen von der Bevölkerung wahrgenommen wird. Welche Aufgaben sollten sie über ihre pastoralen hinaus in der säkularen Gesellschaft übernehmen, und wie wird ihr Verhältnis zur weltlichen Macht beurteilt.

D ie E instellung der B e völkerung Nach ihrer Meinung zur Rolle der Kirchen in der Gesellschaft gefragt, ist sich die große Mehrheit sowohl der kirchlich gebundenen wie auch der nicht gebundenen Menschen darin einig, dass die Kirchen sich politisch nicht betätigen sollten (vgl. Pollack 2009). Kirchen sollten keine Monopolstellung mehr auf dem Weltanschauungsmarkt einnehmen. Sie könnten zwar Empfehlungen aussprechen, aber sie sollten keine Politik machen. Ihre wesentlichen Aufgaben sollten sein, Gottesdienste zu feiern, Alte, Kranke und Arme zu versorgen sowie Angebote zu machen für Menschen in Krisen und an Lebenswenden. Darüber hinaus wird den Kirchen auch Kompetenz in Bezug auf das Zurückdrängen von Fremdenhass zugetraut und auch eine besondere Eignung zur Erziehung von Kindern sowie bei der Gewährung von Entwicklungshilfe (vgl. ebd.: 193). Diese bundesrepublikanischen Ergebnisse stimmen mit den Befragungen auf der europäischen Ebene weitergehend überein. So wollen in Westeuropa wie in vielen Ländern Osteuropas mehr als drei Viertel nicht, dass sich die religiösen Führer in die Politik einmischen. Sie sind ganz überwiegend der Auffassung, dass es Aufgabe der Kirche sei, Alte, Kranke und Behinderte zu betreuen und sich bei Fragen der Erziehung oder auch bei Debatten um Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass einzumischen. Ihnen wird hier eine besondere Kompetenz als »value guardians«, als Hüter gesellschaftlicher Werte zugeschrieben (vgl. Bäckström & Davie 2010). Aus diesen Befunden folgert Pollack: »Die Kirche profitiert, so lässt sich festhalten, von ihrer Fähigkeit, eine sichtbare Nähe zur politischen Herrschaft zu vermeiden und neben den Armen, Ausgegrenzten, Verfolgten, Hilfsbedürftigen und Kranken in der Gesellschaft zu stehen zu kommen; aber sie nimmt Schaden in ihrer Glaubwürdigkeit, wenn der Eindruck entsteht, sie wäre eine Institution mit politischer Macht und umfangreichen finanziellen Ressourcen.« (Pollack 2003: 201)

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Insofern ist die in Deutschland staatlicherseits eingetrieben Kirchensteuer für viele ein Ärgernis. Die Rolle der Kirche als »Ethikagentur« wird immer wieder auch in Frage gestellt. Dabei spielt nicht nur die Nähe der Kirchen zur weltlichen Macht eine Rolle, sondern auch ihr eigenes Machtgebaren. Diese Kritik an der Kirche gibt es allerdings, seitdem es Kirche gibt. Sie entstand unmittelbar mit der Etablierung der Kirche als einer weltlich-spirituellen Instanz. So schreibt etwa Kaufmann in Bezug auf die anhaltende Kritik an der römischen Kurie: »Zu nahezu allen Zeiten war die Kurie ein moralisches Ärgernis im Lichte der göttlichen Gebote und der moralischen Forderungen, welche die Kirche an ihre Gläubigen richtete. […] Geld, Ansehen und Macht dominierten die Handlungskalküle wie an jedem anderen königlichen Hofe, nicht der Glaube. Und was aus der gegenwärtigen Kirchenorganisation durchsickert, lässt vermuten, das auch heute vielfach allzu menschliche Motive wie Bequemlichkeit, Ehrgeiz, Karriere und Machtstreben, Rangstreitigkeiten und Protektion das Handeln des Personals bestimmen – wie in Wirtschaftsunternehmen und Staatsadministrationen auch.« (Kaufmann 2011: 145)

Insofern hat »die Spannung zwischen der biblischen Botschaft und den Realisierungen christlicher Vergemeinschaftung die ganze Christentumsgeschichte begleitet« (ebd.: 173). Der Widerspruch zwischen dem Anspruch der Kirchen als moralischer Instanz und der Wirklichkeit ihres Agierens wird, wie wir schon mehrfach sahen, aufzulösen versucht, indem zwischen »dem« Christentum und »der« Kirche getrennt wird. Das Motiv für diese Spaltung liegt im Interesse an einem Christentum, das die Menschen angesichts der Unwägbarkeiten des Lebens trotz ihrer unbestimmten Gläubigkeit unterstützt und das den Zusammenhalt der Gesellschaft erhält und für diejenigen da ist, um die sich niemand mehr kümmert. Darin kommt ein persönliches und gesellschaftliches Absicherungsbedürfnis zum Ausdruck wie auch das Bedürfnis, sich von gesellschaftlicher Verantwortung zu entlasten. Damit wird das Spannungsfeld deutlich, das die Position der christlichen Kirchen in einer säkularen Gesellschaft kennzeichnet: Zum einen sollen sie allein für religiöse Angelegenheiten zuständig sein, aber andrerseits auch in die Gesellschaft hineinwirken, und zwar vor allem in Bezug auf die Wahrung von Werten und die Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen. Die Glaubwürdigkeit der Kirchen in dieser Rolle wird jedoch durch ihre Nähe zur etablierten Politik wie auch aufgrund der Verfolgung eigener machtpolitischer und materieller Interessen immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist die Feststellung, dass die Kirchen auch in einer säkularen Gesellschaft eine Rolle spielen, die über rein religiöse und allein die Mitglieder der Kirche betreffende Fragen hinausgeht. Diese gewissermaßen

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säkulare Rolle wird ihnen auch von Menschen zugestanden, die selbst nicht Mitglieder der Kirche sind. Im Folgenden möchte ich diese säkulare Rolle der Kirchen anhand zweier Beispiele genauer betrachten: zum einen anhand der Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus und zum anderen anhand der Bedeutung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände heute. Die Rolle im Nationalsozialismus ist in unserem Zusammenhang deshalb von besonderem Interesse, weil sie wie keine andere für die Frage nach der moralischen Autorität der Kirchen steht. Die Zeit des Nationalsozialismus war eine Zeit höchster moralischer Herausforderungen. Wie also sind die Kirchen damit umgegangen? Zudem bietet diese Phase ein sehr anschauliches Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen christlicher und politischer Kultur und damit auch für Übergänge zwischen und Fusionen von religiösen und säkularen Argumentationen, Riten und persönlichen Einstellungsmustern. Auch kann daran verdeutlicht werden, dass Säkularität und Religiosität keine Gegensätze sein müssen, sondern sich im Gegenteil gegenseitig anspornen können. Schließlich ist diese Geschichte auch deshalb wichtig, weil sie die heutige Position der Kirchen in Deutschland wesentlich mitbegründet hat – unter anderem auch die überragende Position, die die Kirchen im Bereich der Wohlfahrtspflege einnehmen. Deshalb bezieht sich das zweite Beispiel auf die karitativen Tätigkeiten der christlichen Kirchen in Deutschland heute. Diese genießen ein hohes Ansehen in der Bevölkerung. Sie sind gewissermaßen der säkulare Arm der Kirchen in die Gesellschaft hinein und gestatten einen Blick auf das Agieren der Kirchen in der Gesellschaft.

C hristentum und K irche im N ationalsozialismus Eric Voegelin, der von Wien in die USA vertriebene politische Philosoph, beschrieb den Nationalsozialismus als eine politische Phase, die von der Erregung der Religiosität durchweht worden sei. An die Stelle Gottes war der Führer getreten, und die Volksgemeinschaft wurde vielfach als eine mystische Vereinigung erlebt.9 Alles konzentrierte sich um ein sakrales Zentrum von »Volksgeist« 9 | Diese »unio mystica« beschreibt er als ein Gemeinschaftserleben, in dem der Einzelne sich dem Strom des Geschehens hingibt und seine Seele so in das Ganze des Volkes einmünden lässt; »Im Finden und in der Vereinigung entpersönlicht sich die Seele; sie befreit sich vollständig vom kalten Ring ihres Selbst; sie erweitert sich über ihre frierende Kleinheit hinaus, wird ›gut und groß‹; im Verlieren ihres Selbst steigt sie auf in die größere Realität des Volkes: Verlor mich selbst und fand das Volk, das Reich« (Burleigh 2008: 23).

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und »Blut« und auf die »Erlösung« des Volkes durch den Nationalsozialismus. Das »Eintauchen« in die Volksgemeinschaft wurde von vielen als eine Wiedergeburt verstanden, bei der sie, wie Karl Barth schreibt, den Opfertod des Gewissens und der Vernunft hinnehmen und sich fallen und führen lassen wollten (zit. in Lehmann 2001: 21ff.). So basierte die Zustimmung vieler Deutscher zum Nationalsozialismus auch auf einem moralischen Enthusiasmus. Ständig galt es die eigene »Ehre« zu verteidigen und Schande von Volk und Vaterland abzuwehren, sich zu opfern und sich für das »große Ganze« hinzugeben. Es ging darum »anständig« zu bleiben und dem »jüdischen Materialismus und Egoismus« einen germanisch-christlichen Idealismus entgegenzusetzen. »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« hieß eine zentrale nationalsozialistische Losung. Dementsprechend waren Krieg und Shoah nicht eigentlich Folge eines Werteverfalls, sondern Folge der Aufladung von Politik mit einer spezifischen Moral. Diese radikale Form der Sakralisierung des Politischen hat Eric Voegelin als politische Religion10 (1938) bezeichnet: Sie knüpft gezielt an religiösen Mentalitäten, Institutionen und Rituale an, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Eine solche politische Religion ist nach Voegelin ihrem Wesen nach gewalttätig, denn es gibt nichts, weder über ihren noch jenseits ihrer Grenzen, was das Tun der Menschen aufhalten könnte. Es gibt keinerlei Beschränkung, denn »die Nichtanerkennung der Realität ist ihr Prinzip« (zit. in Burleigh 2008: 24). Gegen die Theorie einer Adaption des Christentums durch den Nationalsozialismus wird eingewandt, dass der Nationalsozialismus eine dezidiert anti-christliche, ja eine heidnische Ideologie gewesen sei. So lehnten viele Nationalsozialisten die »christliche Mitleidsreligion« als eine jüdische ab. Andere hingegen versuchten ihre Germanengläubigkeit mit dem Christentum zu verbinden. Auch war das nationalsozialistische Heidentum mit viel Christlichkeit durchsetzt: Auf den Gürtelschnallen der Wehrmachtsoldaten stand »Gott mit uns«, und Goebbels nutzte 1941 die, wie er sagte, »Kreuzzugsstimmung« gezielt aus, um für den Angriff gegen die Sowjetunion zu werben. Im Parteiprogramm der NSDAP stand unter Punkt 24: »Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums« (zit. in Prolingheuer 1993: 61).

10 | Dennoch ist die Frage, ob eine solche Sakralisierung des Profanen mit dem Begriff der Religion bezeichnet werden sollte, denn eine »politische Religion«, so wendet etwa Hardtwig ein, bleibt bei aller Erlösungsrhetorik doch ein »säkulares Glaubenssyndrom« (Hardtwig 2003: 160). Je mehr »Volk« und »Blut« sakralisiert wurde, desto mehr verschwand das Christliche. Die Übergänge sind sicherlich fließend. Entscheidend ist für Hardtwig, dass die Erlösung durch die eigene Tat herbeigeführt werden soll. Diese Selbstermächtigung lösche der Absicht nach die Transzendenz aus, also die Anerkennung eines Bereichs, der dem Menschen nicht zugänglich ist (vgl. ebd.: 159).

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Hitler wusste, dass er seine faschistische Revolution nicht gegen die Kirchen durchsetzen konnte. In seinen Reden forderte Hitler von der »arischen Menschheit« die Erfüllung einer »vom Schöpfer des Universums zugewiesenen Mission«. Er übernahm vielfach das Denken in den Kategorien der Apokalypse, das von einem bedrängenden, existenzbedrohenden Dualismus von Gut und Böse, von Wahrheit und Lüge, Licht und Finsternis ausgeht. Dieser wird transformiert in einen Dualismus des Vorher – Nachher, von katastrophaler Gegenwart und »erlöster« Zukunft (vgl. Hardtwig 2003: 138, 142f.). Auch bezog sich Hitler in seinen Reden ständig auf »die Vorsehung«, die den Gang der deutschen Geschichte und seine Führerrolle vorgegeben habe.11 Hitlers Durchhalteaufruf am 1. Januar 1944 schloss mit dem Worten: »Unser einziges Gebet an den Herrgott soll sein, dass er uns gerecht abwägen möge in unserer Tapferkeit, in unserem Fleiß und nach unseren Opfern, […] dass wir jenen gnädigen Richterspruch erfahren, der Sieg heißt und damit das Leben bedeutet« (Hitler zit. in Hockerts 2008, S. 238).

Hitler behauptete von sich innerlich tief religiös zu sein und glaubte vermutlich an seine Auserwähltheit. Hier lag eine Motivationsquelle seiner fanatischen Entschlossenheit – gerade auch in Zeiten wachsender Misserfolge und militärstrategischer Ratlosigkeit, so etwa die Analyse von Hockerts (2008: 239). Auf der anderen Seite kamen viele Christen und die christlichen Kirchen dem Nationalsozialismus entgegen, ja in gewisser Weise wurde die Form ihrer Gläubigkeit zur Grundlage nationalsozialistischer Überzeugung. So glaubten viele, dass gerade der deutsche Mensch »zum Göttlichen bestimmt« sei und aus deutschem Blut das Heil der Welt komme. »Diese religiöse Leitidee, diese Prädestinations- und Superioritätsüberzeugung trieb die Völkischen an« (Blaschke 2012: 456). Die Geschichte der Kooperation und Unterstützung des Nationalsozialismus durch die christlichen Kirchen und die große Mehrheit der Christen zeigte, dass hier in weiten Teilen eine gegenseitige Verstärkung vorlag. So war, wie bereits erwähnt, die Kirchlichkeit der Deutschen, gemessen an den Mitgliederzahlen und dem Kirchenbesuch, in der Zeit am höchsten, als auch die Zustimmung zum Nationalsozialismus sehr hoch war, nämlich 1936 (Großbölting 2013: 31).

11 | Damit hatte er ein eigenartiges Amalgam von religiöser und biologistischer Rhetorik geschaffen, das nach Hockerts (2008) als eine »völkische Religiosität« (238) bezeichnet werden kann.

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Zur Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus Was die Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus anbetrifft, so muss zwischen der protestantischen und katholischen Kirche unterschieden werden. Während der Protestantismus traditionell stark mit der nationalen Obrigkeit verbunden war, standen die Katholiken in einem gewissen Konflikt zwischen ihrer Begeisterung für die neue Nation und ihrer »ultramontanen« Loyalität dem Papst gegenüber. Die protestantische Kirche verband sich mit dem Nationalsozialismus in Form der »Deutschen Christen«, die sich in vielen Landeskirchen durchsetzten.12 Sie wollten ein »arteigenes Christentum« schaffen und in Anlehnung an die NSDAP eine nationale Revolution in den Kirchen durchsetzen. Der amtierende Reichsbischof Ludwig Müller erklärte auf der Grundlage der Luther’schen Zwei-Reiche-Lehre den Reichskanzler Adolf Hitler zum legitimen Vertreter der staatlichen Obrigkeit, dem selbstverständlich Folge zu leisten sei (Besier 2000: 47).13 Allerdings regte sich dagegen auch Widerstand. Es bildete sich die Bekennende Kirche, die sich mit ihrer »Barmer Erklärung« gegen den völkischen Glauben der »Deutschen Christen« und gegen die Kirchenpolitik des Nationalsozialismus wandte. Sie stellte sich damit aber nicht gegen den Nationalsozialismus als eine politische Bewegung. Insofern ist auch ihr Programm nach Graf als eine »Ideensynthese« von überkommenen protestantischen Glaubenshoffnungen mit modernen politischen Heilserwartungen zu verstehen (vgl. Graf 2010: 100). In den »Reformationspredigten« von 1933 wurde Hitler als der Befreier von den Belastungen von Friedensvertrag und Reparationsleistungen in eine Reihe 12 | Dabei ist zu bedenken, dass nach dem Ende des Kaiserreichs 80 Prozent der evangelischen Pfarrer politisch dem rechten Spektrum angehörten (vgl. Besier 2000: 2). Der Königsberger Kirchentag 1927 mit seiner »vaterländischen Kundgebung« machte deutlich, dass die offizielle Kirche auf die Seite der NSDAP schwenken würde. Diese bildete ein »Bollwerk« gegen den kirchenfeindlichen Sozialismus und stand an der Spitze einer als positiv erachteten Volksbewegung (vgl. ebd.: 6). Die neue Kirchenpartei »Deutsche Christen (Nationalsozialisten)« errang bereits 1932 bei den preußischen Kirchenwahlen ein Drittel aller Synodalsitze (vgl. ebd.: 22). Auf ihrer ersten Reichstagung Anfang April 1933 forderte die »Glaubensbewegung Deutsche Christen« eine einheitlich dominierte Reichskirche, die Übernahme des Führerprinzips sowie die Entlassung evangelischer Pfarrer jüdischer Herkunft (vgl. ebd.: 23). 13 | So wurde von Seiten der protestantischen Kirche der nationalsozialistischen Politik, ihrem Kampf gegen Versailles, dem nationalen Aufbruch und dem Streben nach Wiedererlangung nationaler Stärke ebenso wenig Widerstand entgegengesetzt wie dem Gesetz zur Auflösung der Parteien oder dem Gesetz »zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses«.

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eingeordnet mit Martin Luther als dem Befreier der Deutschen vom Joch der römischen Kirche.14 1939 entzogen die Kirchenleitungen in Thüringen, Mecklenburg, Anhalt und Sachsen den evangelischen »Nichtariern« die Kirchenmitgliedschaft. Der Repräsentant der »Bekennenden Kirche«, der württembergische Landesbischof Theophil Wurm, schrieb 1938 dem Reichsjustizminister: »Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen. Ich habe von Jugend auf das Urteil von Männern wie Heinrich von Treitschke und Adolf Stoecker über die zersetzende Wirkung des Judentums auf religiösem, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet für zutreffend gehalten« (zit. in Prolingheuer 1993: 62).15

Die »Entjudung von Theologie und Kirche«16 war das kirchlich-theologische Programm, und dafür wurde 1939 in Eisenach von elf evangelischen Landeskirchen gemeinsam mit der Theologischen Fakultät in Jena ein »Entjudungsinstitut« gegründet. Dies sollte die Einflüsse des »Alten Testaments« sowie jüdische Grundlagen der christlichen Bibel auslöschen. Ein Ergebnis ihrer »Forschungen« war, dass Jesus ein Arier gewesen sei, der entschieden Stellung gegen das Judentum bezogen habe. Dementsprechend wurde eine neue »judenfreie« Theologie entwickelt, die in ganz Deutschland verbreitet wurde. So gab das Institut u.a. ein »Glaubensbuch« »Deutsche mit Gott« heraus (vgl. Heschel 2001). Ein Schlaglicht auf die Verschmelzung von nationalsozialistischer Ideologie und protestantischer Theologie wirft auch ein Ereignis von 1936, als die NSDAP die Hakenkreuze von den Altären der Kirchen entfernen lassen wollten. Dagegen protestierten zahlreiche Kirchenvertreter mit der Begründung, dass das Hakenkreuz am Altar eine Quelle tiefer Inspiration für die Kirchgänger sei (vgl. ebd.: 81). 14 | Hartmut Lehmann (2001) beschreibt etwa anhand der Schriften von Hans Preuß, einem einflussreichen Kirchengeschichtlicher (Ordinarius für Kirchengeschichte an der Universität Erlangen seit 1919) jener Zeit, wie dieser im Rahmen des 1933 anstehenden Lutherjubiläums Parallelen zwischen Jesus, Luther und Hitler zog. Alle drei hätten sich einer ähnlichen Sendung hingegeben, zum Beispiel dem Kampf gegen Zins und Wucher oder gegen Frauen in der Öffentlichkeit. Alle drei seien zunächst verkannt gewesen und hätten sich gegenüber vielen Anfechtungen bewähren müssen. 15 | Allerdings distanzierte sich Wurm später von seiner antisemitischen Haltung und näherte sich den radikaleren Flügeln der Bekennenden Kirche an. 1944 wurde er aufgrund seiner Proteste mit einem Schreib- und Redeverbot belegt. 16 | Im November 1933 hatte die deutsch-christliche Bewegung bei ihrer Sportpalastkundgebung in Berlin die Abschaffung des Alten und Reinigung des Neuen Testaments von »jüdischen Elementen« gefordert und einen heldischen Jesus betont (vgl. Besier 2000: 24).

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Die Tatsache, dass die sogenannten »Judenchristen« vielfach aus ihren Kirchen ausgeschlossen wurden und nur wenige Christen den zum Christentum konvertierten Gemeindemitgliedern und Pastoren zu Hilfe kamen, zeigt, dass diese Christen den Rassegedanken über die Grundsätze ihres eigenen Glaubens stellten; die Taufe wie auch die Priesterweihe hatten demgegenüber keine Bedeutung mehr (vgl. Besier 2000: 103). Die Identifikation großer Teile der protestantischen Kirche mit dem Nationalsozialismus erklärt, warum die protestantische Kirchenzugehörigkeit das einzige soziale Merkmal war, das positiv mit nationalsozialistischen Überzeugungen korrelierte. Keine andere Gruppenzugehörigkeit, wie etwa soziale Klasse oder Geschlecht oder auch politische Überzeugungen,17 keine dieser Zugehörigkeiten weist einen überdurchschnittlich engen Zusammenhang mit nationalsozialistischen Überzeugungen auf, nur die Zugehörigkeit zur protestantischen Kirche. So waren Protestanten im Schnitt doppelt so anfällig gegenüber der NSDAP wie die katholischen Wähler (vgl. Wehler 2003: 574). Alle Reichstagswahlen seit 1928 zeigen einen äußerst starken statistischen Zusammenhang zwischen dem Anteil evangelischer Wähler und den Erfolgen der NSDAP. Dafür gibt es viele Erklärungen, zum Beispiel die ideologische Nähe: Die christlichen Hoffnung auf eine jenseitige Erlösung wird in die innerweltliche Sphäre der Politik transferiert (vgl. Hardtwig 2003: 140). Die Politisierung der Heilshoffnung geht einher mit einer charismatischen Erlösungserwartung. Hitler forderte von der »arischen Menschheit« die Erfüllung einer »vom Schöpfer des Universums zugewiesenen Mission« (ebd.: 142). »Wir leben in einer Zeit der Finsternis ohnegleichen. Überall sind finstere Mächte am Werk, die den Zusammenbruch aller menschlichen und göttlichen Ordnung betreiben«, so der Grundtenor der protestantischen politischen Theologie jener Zeit (ebd.: 143). Der Schulterschluss der katholischen Kirche mit dem Nationalsozialismus bezog sich weniger auf ihn als ein nationales Projekt, sondern mehr auf bestimmte Themen wie vor allem den Antisemitismus und den Krieg gegen den Bolschewismus. Daniel Goldhagen zeigt in seiner Untersuchung »Katholische Kirche und der Holocaust« (2002), wie zahlreiche Bischöfe, Kardinäle und auch Päpste vor der Macht der Juden warnten und sie mit den Bolschewisten gleichsetzten. In dieser Hinsicht stimmten sie mit der nationalsozialistischen Ideologie überein. Auf der politischen Ebene besiegelte die Kirche ihre Zusammenarbeit

17 | Abgesehen von der hohen negativen Korrelation zwischen dem Nationalsozialismus und seinen dezidierten Gegnern im linken politischen Spektrum, die frühzeitig verfolgt und umgebracht wurden.

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mit den Nazis 1933 mit einem Konkordat (20. Juli 1933).18 Diese Kooperation bedeutete auch, dass Hitler als Katholik nicht exkommuniziert wurde. Proteste von Seiten der katholischen Kirche waren nur bei den Dingen zu erwarten, die ihnen wirklich wichtig waren, etwa wenn das Sakrament der Ehe oder der Religionsunterricht in den Schulen in Frage gestellt wurde. Auch gegen das Euthanasieprogramm gab es bekanntlich Protest von einigen katholischen Würdenträgern (vgl. Goldhagen 2002: 151). Das nationalsozialistische Regime gewann durch das Konkordat innenpolitisch wie auch international eine nicht zu unterschätzende moralische Anerkennung. Im Gegenzug wurden die Verbände der katholischen Kirche vor der sogenannten Gleichschaltung geschützt. Bedingung war jedoch, dass sie sich politischer Stellungnahmen enthielten. Nicht unter das Konkordat fielen die katholisch geprägten christlichen Gewerkschaften, die dann auch rasch aufgelöst wurden. Die Kirche kooperierte mit dem Nationalsozialismus auch in der Form, dass sie den nationalsozialistischen Behörden ihre Kirchenbücher zur Verfügung stellte, sodass diese nachprüfen konnten, ob die Vorfahren von Mitgliedern der Kirchengemeinde vom Judentum zum Christentum übergetreten waren. War dies der Fall, hatten diese Mitglieder als Juden beziehungsweise Jüdinnen zu gelten. Über diese Kooperationen hinaus verschmolzen die Intentionen der katholischen Kirche mit denen des nationalsozialistischen Systems in Bezug auf den Antisemitismus und den Kampf gegen den »gottlosen« Bolschewismus. So ließ etwa der Bischof von Eichstätt im September 1941 in den Kirchen eine Verlautbarung verlesen, in der es heißt, dass »der Feldzug gegen den Bolschewismus unserer Soldaten wirklich ein Kreuzzug, ein heiliger Krieg für Heimat und Volk, für Glauben und Kirche, für Christus und sein hochheiliges Kreuz« sei (ebd.: 243). Auch der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen rechtfertigte den Krieg gegen die Sowjetunion und dankte den Soldaten, die »in einem neuen Kreuzzug mit dem Feldgeschrei ›Gott will es‹ den Bolschewismus niederringen« (ebd.: 243f.). Das bedeutete aber, dass im Gegensatz zum Bolschewismus der Nationalsozialismus nicht als »gottlos« angesehen wurde – trotz seiner »heidnischen« und antikirchlichen Ausrichtung. Das Bindeglied zwischen Religiosität und Nationalsozialismus war nach Hockerts die Vorstellung, die Rassen seien Teil einer »göttlichen Weltordnung« (Hockerts 2008: 240). Diese Auffassung wurde genährt durch die gemeinsame Judenfeindschaft von Kirche und nationalsozialistischer Ideologie. In Bezug auf den Antisemitismus der katholischen Kirche resümiert Goldhagen:

18 | Dies wird auch heute noch für die Bundesrepublik Deutschland als gültig betrachtet.

6. Zur Rolle der Kirchen in der säkularen Gesellschaf t »Die katholische Kirche, ihre nationalen Kirchen und ihre Geistlichen verkündeten in amtlichen Erklärungen und Briefen in Zeitungen und sonstigen Publikationen sowie in Predigten die Überzeugung, dass die Juden schuldig seien, wobei man ihnen anlastete, Gottes Sohn getötet zu haben, die Urheber des Bolschewismus zu sein, den Völkern, in deren Mitte sie lebten, schweren Schaden zuzufügen und die ganze Welt in finanzielle Not zu stürzen« (Goldhagen 2002: 141).

Die katholische Kirche wiegelte gegen die Juden auf, mahnte aber gleichzeitig zur Barmherzigkeit, denn sie war gegen die Tötung der Juden und hat sie selbst nicht befürwortet. Während in Deutschland die katholische Kirche derart antisemitisch war, dass sie Mitleid mit den Juden oder gar einen Kampf gegen judenfeindliche Gesetze gar nicht verstanden hätte, gab es in katholischen Kreisen auch Ausnahmen, allerdings vor allem in anderen Ländern wie Italien und dort hauptsächlich auf der Ebene der Laien und der niederen Geistlichkeit. Gemeinsam waren dem nationalsozialistischen Staat und der Kirche auch ihre Einstellungen zum Krieg. So rückte etwa Bischof von Galen den Soldatentod des gläubigen Christen in Wert und Würde nahe an den »Martertod um des Glaubens willen, der dem Blutzeugen Christi sogleich den Eintritt in die ewige Seligkeit öffnet« (ebd.: 243f.). Der Krieg wurde in beiden Kirchen gut geheißen. In sogenannten »Kriegspredigten« riefen sie zu Treue, Pflicht, Gehorsam und Opfer auf. Der Krieg galt für sie als Ansporn zu Buße und Sühne, als Mahnung zur Annahme des Leidens. Der Kriegsdienst erschien dann nicht mehr nur als Erfüllung einer vaterländischen Pflicht, sondern auch als gesteigerter Ausdruck christlicher Bewährung (vgl. Hockerts 2008: 242). Deshalb wurde auch eine »Kriegstheologie« entworfen mit »Gebeten für Führer, Volk und Vaterland« (ebd.: 245), in der die Kriegsgegner zugleich zu Feinden Gottes gemacht wurden. Und der Krieg wurde wieder einmal zu einer »heiligen« Aufgabe erklärt. Allerdings muss gesagt werden, dass im Laufe des fortschreitenden Krieges auch aus kirchlichen Kreisen immer mehr Stimmen laut wurden, die sich gegen die hemmungslose Brutalisierung des Krieges und den wütenden Rassenhass stellten. Sie mahnten die christlichen Überzeugung der Nächstenliebe an und dass der Christ jeden als seinen Nächsten anzusehen habe. So hieß es in einem Hirtenwort des katholischen Episkopats 1943, dass das Töten an sich schlecht sei, auch das Töten von erblich Belasteten, unschuldigen Geiseln und entwaffneten Kriegs- und Strafgefangenen sowie von Menschen fremder Rassen und Abstammung (vgl. ebd.: 246). Es gab also immer wieder auch Widerstand. Aber große Teile beider Kirchen boten vielfach die ideologische Grundlage für den nationalsozialistischen Erfolg, und zwar vor allem in Bezug auf die Kriegsbegeisterung, den Antibolschewismus und den Antisemitismus. Zugleich war der »Habitus der Glaubensseligkeit«, wie Graf dies nennt, ein fruchtbarer Boden für den

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»­Idealismus« einer nationalsozialistischen Ideologie, die das ganze Volk erneuern und erlösen wollte (Graf 2010). Aufgrund ihrer traditionellen Verflochtenheit mit der Nation gingen Teile der protestantischen Kirche sogar so weit, ihre Theologie im Sinne des Nationalsozialismus zu überarbeiten; während die katholische Kirche mit ihrem Konkordat versuchte, sich auf eine Kooperation mit dem nationalsozialistischen System einzulassen, um die eigenen Interessen zu wahren. Trotz dieser verschiedenen Formen der Kooperation und Symbiose gab es zugleich auch Kampf – und zwar sowohl von Seiten der Nationalsozialisten, für die die Kirchen Konkurrenten um die ideologische Vorherrschaft waren, wie auch von Seiten einiger Kirchenkreise, die sich gegen die Unmenschlichkeit des Systems stellten.

Positionierung der Kirchen nach dem Nationalsozialismus Interessanterweise erlebten beide Kirchen unmittelbar nach 1945 eine Renaissance, denn sie waren die Institutionen, die auch in der Zeit des Zusammenbruchs eine gewisse Stabilität gewährleisten konnten. Sie waren es, die von den Alliierten ohne weitere Prüfungen als Gesprächspartner anerkannt wurden, weil sie von ihnen – im Unterschied zu allen anderen Großorganisationen – als unbelastet angesehen wurden.19 Es waren auch die beiden Kirchen, die frühzeitig ein Netz von Hilfeleistungen für Flüchtlinge und Gefangene, für Schulspeisungen und Kinderbetreuung auf bauten, da sie noch am ehesten über eine funktionierende Infrastruktur verfügten. Vielen Menschen waren durch den Zusammenbruch jede Lebensgrundlage und auch die Orientierung verloren gegangen. Hier konnten die Kirchen ansetzen und ihnen Halt bieten. Entgegen dem Trennungsgedanken der Weimarer Republik wollte man die Großkirchen wieder bewusst als staatsnahe Organisationen in den Legitimationshaushalt des Staates einbinden, da man befürchtete, dass die neu zu errichtende Bundesrepublik ohne die von den Kirchen tradierten Wertmuster und Moralressourcen nicht auskommen könne. Zahlreiche Kirchenvertreter versuchten einen »christlichen Staat« zu etablieren (Große Kracht 2012a: 21ff.). Dabei stellten beide Großkirchen sich ganz auf die Seite »der Deutschen« 20 und lehnten die Kollektivschuldthese vehement ab. »Die Bischöfe müssten 19 | Was selbst wiederum als ein Ausdruck ihres Verankertseins in einer christlichen Kultur zu verstehen ist, in der die moralische Autorität der christlichen Kirchen nicht in Frage gestellt wurde. 20 | So war auch jener Hans Preuß, der die ganze nationalsozialistische Zeit über die Übereinstimmungen von Jesus, Luther und Hitler beschworen hatte, 1946 der Auffassung, dass das »arme, elende, verlassene, verachtete, verratene und verkaufte Deutschland, dem er ja kein Arges sondern nur alles Gute gönne, von seiner Führung verraten

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nicht Deutsche sein, wenn sie mit ihrem Volk nicht tiefstes Mitgefühl hätten«, so Äußerungen der katholischen Bischofskonferenz im Jahre 1945 (Großbölting 2013: 76). Ebenso stellten sie sich gegen die Entnazifizierungspraxis und unterstützen oftmals die Deutschen, die vor den Spruchkammern standen, indem sie ihnen eine nicht-nazistische Haltung bescheinigten und damit zu den sogenannten »Persilscheinen« verhalfen (ebd.). Auch lehnten sie die Umerziehungsprogramme der Alliierten ab ebenso wie die Nürnberger Prozesse. In zahlreichen Eingaben setzten sich kirchenleitende Persönlichkeiten für die Verurteilten ein und versuchten die Schuld am Geschehenen auf eine kleine Gruppe von Verbrechern einzugrenzen (vgl. Besier 2000: 37). Bekannt ist auch, dass hochgestellte Mitglieder der katholischen Kirche dafür sorgten, dass sich die größten Mörder der Justiz entziehen und nach Südamerika absetzen konnten. Darunter waren Adolf Eichmann, Josef Mengele und Klaus Barbie. Eichmann ließ, nachdem er wohlbehalten in Argentinien angekommen war, sich als Katholiken registrieren, obwohl er protestantisch war, mit der Begründung: »Ich erinnerte mich in tiefer Dankbarkeit an die Hilfe der katholischen Priester bei meiner Flucht aus Europa und entschied den katholischen Glauben zu honorieren, indem ich Ehrenmitglied wurde« (zit. in Goldhagen 2002: 233). Insofern fragt sich: Welche Rolle spielten die Kirchen im Zusammenhang mit der »Aufarbeitung« der Vergangenheit? Die katholische Kirche behauptete zunächst von sich, der nationalsozialistischen Diktatur erfolgreich getrotzt zu haben,21 hatte doch eine ganze Reihe von Priestern ihr Leben in Konzentrationslagern lassen müssen. Zwar formulierte die deutsche Bischofskonferenz vom 23. August 1945 auch ein Schuld­ anerkenntnis, thematisierte dabei aber nicht ihre eigene Rolle. In diesem Hirtenwort heißt es: »Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und Menschenwürde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind Verbrecher geworden […].«

worden sei. Schuldig hätten sich die Deutschen nur gemacht, weil sie, angeführt von falschen Propheten, falsche Götter angebetet hätten. Aus dem Abfall des Glaubens folge nun die Rettung durch Buße und Rückkehr zum wahren Glaube, dann würde Gott seinen Bund mit den Deutschen wieder erneuern (zit. in Lehmann 2001: 60f.). 21 | Dabei stützte sie sich in ihrer Argumentation vor allem auf eine Rundfunkansprache von Pius XII., der sich, unter dem Eindruck des Vormarsches der Alliierten im Dezember 1944, für die Demokratie ausgesprochen hatte (vgl. Großbölting 2013: 45).

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Aber indem die Kirche sich von diesen »vielen Menschen« distanzierte, entging sie einer Prüfung ihrer eigenen Rolle als Kirche.22 Auch die protestantische Kirche berief sich nach Kriegsende zunächst vor allem auf ihren widerständigen Teil, nämlich auf die Bekennende Kirche, die im Nationalsozialismus auf der Ebene der Pastoren – im Gegensatz zur Kirchenleitung – relativ weite Verbreitung gefunden hatte (vgl. Großbölting 2013: 47). Zugleich versuchte sie ebenfalls, mit der Stuttgarter Erklärung das Thema Schuld anzusprechen. Wie in Kap. 3 bereits angesprochen, wird in dieser Erklärung eine Kluft zwischen einer aus der Verantwortung den Menschen gegenüber entstandenen Schuld und einer Gott gegenüber begangenen Sünde deutlich. Das hatte wiederum erhebliche Konsequenzen für den Umgang der Kirche mit ihrer Geschichte. Deshalb sei nochmals wörtlich zitiert: »Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben« (zit. in Großbölting 2013: 77).

Und dementsprechend rief sie dazu auf, »Jesus nun als die wahre Wirklichkeit anzuerkennen«. Bibel und Bibellektüre wurden als der eigentliche Weg aus der Düsternis empfohlen (vgl. ebd.: 80). So gelang das Kunststück mithilfe von Selbstkritik die eigentliche Verantwortung von sich zu weisen. Zudem schwieg sie zum Verhältnis von Christen und Juden nach der Shoah. Diese Erklärung sieht zwar in gewisser Weise die Verantwortung des Protestantismus für den moralischen Bankrott des Nationalsozialismus, sie nutzt dies aber zugleich, um das Geschehen zu entpolitisieren. Entscheidend ist da22 | Wie wenig in der katholischen Kirche die Anerkennung der eigenen Verantwortung in Bezug auf die antisemitischen Verbrechen damals möglich war, zeigt sich noch an einem ganz anderen Beispiel, nämlich bei der Anerkennung des neuen Staates Israel 1948. Der Vatikan lehnte die Anerkennung ab mit der Begründung: »Solange die Juden die Gottheit Christi leugnen, können wir uns doch nicht für sie erklären. Nicht als ob wir ihnen Übles wollten. […] Die Geschichte Israels ist unser eigen, es ist unsere Grundlage. Aber um uns für das jüdische Volk zu erklären, wie sie es wünschen, müsste es sich bekehrt haben« (Goldhagen 2002: 314). Dahinter verbarg sich diese Vorstellung, die im selben Jahr vom Vatikansender verbreitet wurde: »Das moderne Israel ist nicht der wahre Erbe des biblischen Israel, sondern ein weltlicher Staat. […] Das Heilige Land und seine heiligen Stätten gehören daher dem Christentum, dem Wahren Israel« (Goldhagen 2002: 315).

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bei, dass sie die Ursache für die Unterstützung des Nationalsozialismus in einen metaphysischen Rahmen stellt: Wir haben nicht treuer gebetet und nicht genug geglaubt. Die mangelnde Festigkeit im Glauben, die Beziehung zu Gott wird als das eigentliche Problem identifiziert.23 Dementsprechend wird auch der »Zusammenbruch« Deutschlands 1945 als ein »Strafgericht« verstanden, Strafe dafür, dass sich die deutsche Gesellschaft der Abkehr von Gott schuldig gemacht habe. Die erneute Hinwendung zum Glauben schien damit nur folgerichtig, eine »Umkehr durch Verchristlichung« (ebd.: 76). So stellte der Vorsitzende des Rates der EKD Bischof Wurm bei der historischen Zusammenkunft mit Vertretern des internationalen Ökumenischen Rates anlässlich der Verabschiedung der »Stuttgarter Erklärung« in seiner Begrüßung die Frage: »Was kann geschehen, dass eine große Stunde für die Rechristianisierung der europäischen Welt nicht vorübergeht?« (Wurm in Greschat 1982: 95f.) Die christlichen Kirchen konnten ihre Deutungsmacht wiedergewinnen beziehungsweise weiterhin aufrechterhalten, indem sie das politische Geschehen metaphysisch deuteten. Sie immunisierten sich damit zugleich gegen eine Kritik an ihrer eigenen Rolle. Dementsprechend erfuhr das Selbstbewusstsein der Christen in paradoxem Gegensatz zur äußeren Trümmerlandschaft eine schon lange nicht mehr gekannte Steigerung (vgl. Großbölting 2013: 23). Dies auch insofern, als die Kirchen die Gläubigen in ihrem Bedürfnis nach moralischer Entlastung unterstützen, denn sie mahnten von der Kanzel: »Niemand vergelte Böses mit Bösem. […] Rächet nicht selbst! Ertraget einander! […] Verzeihet einander« (zit. in ebd.: 76). Die Abkehr von Gott, die Sündhaftigkeit der Menschen, falscher oder ungenügender Glaube, das waren nach Meinung der Kirchen also die »eigentlichen« Ursachen der »Katastrophe«. Der Nationalsozialismus wurde in erster Linie zu einem Vergehen gegenüber Gott gemacht. Somit kreist die Erklärung allein um die Frage der eigenen moralischen Integrität und Gottesfurcht. Die Verantwortung gegenüber den Opfern ist kein Thema. Das erklärt sich aus einem Moralverständnis, in dem der Mensch allein seinem Schöpfer gegenüber verantwortlich ist. Er hat gesündigt und muss nun sein Vergehen in Form vermehrten Glaubenseifers sühnen. Dann wird auch die Kirche ihn als reuigen

23 | »Das Gros der Pfarrer beschrieb die soziale und kulturelle Situation nicht in politischen, sondern in metaphysischen Kategorien. Insbesondere in nationalchristlichen Kreisen wurde selbst die Zukunftsperspektiven der Nation aus dem Blickwinkel der Verchristlichung gedeutet, indem etwa der Zusammenbruch als Katastrophe und Ankündigung des göttlichen Endgerichts gedeutet wurde: »Wenn wir nicht Buße tun und in tiefster Beugung unter Jesus Christus als den Herrn einen Neuanfang machen, werden wir verkommen«, so der Direktor des Predigerseminars der westfälischen Kirche Edmund Schlink (Großbölting 2013: 75).

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Sünder wieder aufnehmen. Die Kirche ist es nun, die als moralische Autorität Absolution erteilen, verzeihen und vergeben kann. Mit dieser Rahmung des Geschehens als eines metaphysischen Ereignisses hatten sich die Kirchen selbst rehabilitiert.24 Ihre uneingeschränkte Parteinahme für »die« Deutschen und die Verschiebung der Schuld hinein ins Abstrakte »des Menschen« und ins Metaphysische des »Gottesgerichts« ermöglichten ihnen, ihre eigene Verantwortung zu leugnen und die Empathie mit den Opfern zu blockieren sowie entsprechende Maßnahmen der »Entschuldigung« zu vermeiden. So setzten sich die Kirchen damals weder für eine Entschädigung der Opfer im ökonomischen Sinn ein, noch für eine symbolische »Wiedergutmachung« im Sinne einer Anerkennung ihrer Leiden und eines Eingeständnisses der Schuld ihnen gegenüber. Indem die Kirchen ihren spezifischen Beitrag zur Verdrängung der Vergangenheit leisteten, stärkten sie zugleich ihre Position in der Gesellschaft. So formulierte 1948 der einflussreiche Freiburger Historiker Gerhard Ritter in einem »Wort zur Verantwortung für das öffentliche Leben« einen Konsens, der den Anspruch der evangelischen Kirche auf Mitverantwortung in der Gesellschaft formulierte: »Das furchtbare Ereignis der vergangenen 12 Jahre hat weiten Kreisen innerhalb und außerhalb der deutschen Kirchen die Augen dafür geöffnet, dass nur da, wo Grundsätze christlicher Lebensordnung sich im öffentlichen Leben auswirken, die politische Gemeinschaft vor der Gefahr dämonischer Entartung bewahrt bleibt. Aus dieser Erkenntnis erwächst den evangelischen Kirchen in Deutschland die große und schwere Aufgabe, weit stärker als bisher auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens und insbesondere der politischen Gemeinschaft hinzuwirken« (zit. in Löffler 2011: 530). 24 | Die Positionierungen der Kirchen z.B. zu Antisemitismus und Krieg spielen nun mehr genausowenig eine Rolle wie ihre Verantwortung gegenüber den Opfern und ihren Nachkommen. So fehlen auch in der protestantischen Lutherliteratur der Jahre 1946/7 (400. Todestag Luthers am 18. Februar 1946) Zeichen der Hinwendung zu den Opfern des Nationalsozialismus. Ebenso fehlt die Auseinandersetzung mit dem christlichen Antisemitismus, obwohl die Nationalsozialisten sich ausdrücklich auf Luthers antijüdische Schriften berufen hatten. Es fehlt, so konstatiert Lehmann (2001), »im Zusammenhang mit der Erinnerung an Luthers 400. Todestag jeder Versuch, sich mit dem christlichen Antisemitismus als einer wichtigen Voraussetzung für den Holocaust auseinanderzusetzen« (79). Interessant ist hier, wie 1994 im Zusammenhang mit dem Massenmord in Ruanda der damalige Papst Johannes Paul II. zur Schuld der Beteiligten Stellung nahm. Er schrieb: »Alle Mitglieder der Kirche, die während des Völkermords gesündigt haben, müssen den Mut haben, die Folgen der Taten, die sie gegen Gott und gegen ihre eigene Zukunft begangen haben, auf sich zu nehmen.« Auch hier werden die Verfehlungen gegenüber den anderen Menschen nicht erwähnt (Goldhagen 2002: 295).

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Diese Diskussion führte dann zum sogenannten »Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen«. Insofern gingen die christlichen Kirchen in Deutschland gestärkt aus dem Nationalsozialismus hervor. Die katholische Kirche galt als die »Siegerin in Trümmern« und rückte, ebenso wie die evangelischen Landeskirchen, nahe an den Staat und seine Institutionen heran.25

Christliche Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus heute Maßgebliche Vertreter der EKD sehen heute die Rolle der protestantischen Kirche im Nationalsozialismus sehr viel kritischer: Der eigene Antisemitismus und dessen Beförderung durch die Kirchen wird zunehmend erkannt und damit auch die Mitschuld an der Shoah. Dies wird 1980 zum ersten Mal auf der Synode der evangelischen Kirche im Rheinland klar ausgesprochen (zit. in Kayales, Vegt 2007: 154).26 Auch der bereits mehrfach zitierte katholische Kirchenhistoriker Arnold Angenendt räumt ein, dass es eine Mitverantwortung der christlichen Kirchen für den Antisemitismus gibt, denn aufgrund des lange gepredigten Antijudaismus habe bei den Christen eine »Reserviertheit« gegenüber den Juden geherrscht (vgl. Angenendt 2009). Dazu zitiert er Befunde, die von einem »verhaltenen, moderaten christlichen Antijudaismus« auf Seiten der Protestanten sprechen. Dennoch geht er von einer grundsätzlichen Gegenposition der Christen und Kirchen zum nationalsozialistischen System aus, die jedoch aufgrund der antisemitischen Traditionen nicht zum Tragen gekommen sei. So schreibt er etwa: »Der Pogrom von 1938, die sogenannte Kristallnacht, wurde für viele, Katholiken wie Protestanten, zum heilsamen Schrecken, hat Antisemitismus oft genug zum Schweigen gebracht, aber keinen offenen Protest hervorgerufen« (ebd.: 554). Das ist nun recht wohlwollend, wenn nicht gar verschleiernd formuliert, denn die aktive Unterstützung antisemitischer Politik wird zu einer Verhinderung des Widerstands umformuliert.27 Ähnlich gingen auch die deutschen Bischöfe in ihrer Erklärung zum 50. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1995 davon aus, dass die Christen den Juden eigentlich helfen wollten, dies aber vereitelt wurde, weil seit dem Mittelalter eine antijüdische Einstellung auch im kirchlichen 25 | Die Rolle der DDR kann in dem Zusammenhang hier nicht berücksichtig werden, da die Kirchen dort aufgrund der sozialistischen Kritik kaum den öffentlichen Diskurs bestimmen konnten. 26 | »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden« (zit. in Henrix 1988). 27 | Auch ist Angenendt sich nicht zu schade das Argument, die Juden hätten sich täuschen lassen und nicht die »Endlösung« hinter den Anfängen des Nationalsozialismus gesehen, als Entlastung für die christlichen Kirchen anzuführen (vgl. ebd.: 225).

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Bereich weitergelebt habe. Insofern sei, so ihr Eingeständnis, die Kirche eine »sündige und der Umkehr bedürftige Kirche«.28 Dieser Aufruf zur Umkehr beschränkt sich jedoch auf vage Appelle und das Eingeständnis allgemeiner Vergehen, während die konkreten Vergehen, die vorsätzlichen Verbrechen und Verfehlungen der Kirche und ihrer Mitglieder nicht benannt werden (vgl. Goldhagen 2002: 301). Im Vatikanischen Konzil (1962-1965) waren bereits deutlichere Worte gefallen. Damals hatte sich, zwei Jahrzehnte nach der Shoa, in der katholischen Kirche eine, laut Kardinal Lehmann, »fast totale Kehrtwendung« vollzogen. In der Erklärung »Nostra aetate« wurde festgestellt, dass der Vorwurf des Gottesmords gegenüber den Juden über Jahrhunderte lang Grundlage für Diskriminierung und Verfolgung gewesen sei. Man dürfe die Leiden nicht den damals lebenden Juden noch den heutigen Juden zur Last legen. Auch dürfe man die Juden nicht als von Gott verworfen und verflucht darstellen. Die Erklärung verurteilt alle Verfolgungen, Hassausbrüche und Manifestationen des Antisemitismus, die sich irgend jemals gegen die Juden gerichtet haben (vgl. Großbölting 2013: 228). Deshalb änderte die Kirche damals auch ihre Karfreitagsliturgie mit ihrer inkriminierten Fürbitte für die Juden,29 die Papst Benedikt XVI. jedoch 2008 wieder einführte, womit er den christlichen Missionsgedanken gegenüber den Juden wieder verstärkte. Auch die Aufhebung der Exkommunikation des Holocaustleugners Richard Williamson durch Papst Benedikt muss als eine den konziliaren Verständigungsbemühen entgegengesetzte Intention gewertet werden. Das heißt, die Position der Kirchen und ihrer Vertreter ist heute keineswegs eindeutig. Sie gehen zwar kritischer mit ihrer Rolle vor allem in Bezug auf den von ihnen geförderten Antisemitismus um. Bedenkt man jedoch, dass etwa Angenendt, der als einer der wichtigsten Autoren zur Kirchengeschichte gilt, den Christen allenfalls einen verhinderten Widerstand vorwirft und zugleich die Verbrechen des Nationalsozialismus als primär säkular verursachte ver28 | Demgegenüber finden etwa die französischen Bischöfe 1997 in einer »Erklärung der Reue« klarere Worte: »Jahrhundertelang wurden Juden an den Pranger gestellt, verfolgt und für den Tod Jesu verantwortlich gemacht. Gegen sie wurde der Vorwurf des Gottesmordes erhoben – das war der fruchtbare Boden, in dem das Übel des Nationalsozialismus mit so katastrophalen Folgen Wurzeln schlug« (Goldhagen 2002: 298). 29 | Diese Fürbitte nennt die Juden perfides (»treulos«), ihren Glauben iudaica perfidia (»jüdische Treulosigkeit«) und bittet Gott darum, den »Schleier von ihren Herzen« wegzunehmen, ihnen die Erkenntnis Jesu Christi zu schenken und so der »Verblendung ihres Volkes« und »Finsternis« zu entreißen. 1570 legte Papst Pius V. diese Fassung fest, die bis 1956 unverändert gültig blieb. Papst Benedikt XVI. formulierte 2008 eine neue Fassung, bei der im Einleitungssatz um Erleuchtung der Juden zur Erkenntnis Christi, »des Retters aller Menschen«, gebetet wird.

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steht, dann ist diese Form der Auseinandersetzung bestenfalls halbherzig zu nennen. Wie sehr das Bewusstsein eigener moralischer Überlegenheit die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Aufarbeitung überlebt hat, zeigt sich etwa darin, wie Angenendt diese Phase heute resümiert: »Nach 1945 wurde den beiden Großkirchen, obwohl von ihnen kein Fanal zum Widerstand ausgegangen war, ein besonderes Ansehen entgegen gebracht, und zwar wegen ihrer Resistenz. Denn beiden Kirchen ist trotz allem zu bescheinigen, ›die wohl schwierigsten sozialen Barrieren für eine vollständige Durchsetzung des totalitären nationalsozialistischen Herrschafts- und Weltanschauungsanspruchs‹ gewesen zu sein. […] Konsequenterweise haben nach dem Krieg die Kirchen in puncto Demokratie und Menschenrechte nachgezogen. Derzeit zählen die Kirchen und die christlichen Sozialethik mit zu den wichtigsten Propagatoren der Menschenrechte und der demokratischen Verfassung« (Angenendt 2009: 151).

Man kann also nicht davon ausgehen, dass die Kirchen Vorreiter in der Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung und ihrer Schuld gegenüber den Opfern sind und waren. Dagegen ist eindeutig, dass sie mithilfe ihrer metaphysischen Interpretation der Verbrechen viel zur Verdrängung in Nachkriegsdeutschland beigetragen und dabei zugleich ihre eigene gesellschaftliche Position gestärkt haben.

Resümee Erstaunlich ist, dass das Verhalten der Kirchen im Nationalsozialismus ihre Rolle als moralische Autorität in der Gesellschaft nicht in Frage gestellt hat. Im Gegenteil. Möglicherweise war die Mehrheit der Deutschen dankbar für den Beistand der Kirche bei der Selbstentlastung von Schuld und Mitschuld. Wichtig für unseren Zusammenhang ist dabei vor allem, dass beim Umgang mit dem moralischen Versagen jener Zeit eine spezifisch christliche Form der Abwehr zum Tragen kam. Die Kirchen entlasteten sich vorzugsweise dadurch, dass sie in Form einer theozentrischen Verschiebung das eigene Tun von der Verantwortlichkeit in der Welt abkoppelten und Gott anheimstellten. Die Geschichte der Kirchen im Nationalsozialismus zeigt auch, dass es ein weites Spektrum der Beziehungen zwischen Staat und Kirche in jener Zeit gab, ein Spektrum, das von einer weitgehenden Identifikation bis hin zum Widerstand reichte. Dies allerdings mit recht unterschiedlichem Gewicht. Das heißt, die überwiegende Mehrheit der Verantwortlichen in den Kirchen – wie auch in der Bevölkerung – unterstützte das System, während sich Distanzierung oder gar Widerstand auf nur wenige beschränkte. Insofern könnte man die Position der Kirchen als Spiegel der Gesellschaft deuten. Nur, inwiefern

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können sie dann für sich noch eine spezifische moralische Autorität in Anspruch nehmen, die in moralisch herausfordernden Situationen Orientierung bieten kann? Schließlich ist bemerkenswert, dass die christliche Ethik nicht per se einen Widerpart zur menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus gebildet hat. Vielmehr war die Theologie flexibel genug, um protestantischerseits ein »arisches Christentum« zu entwickeln und katholischerseits den Antisemitismus und den Vernichtungskrieg gegen die Bolschewisten zu rechtfertigen, ja zu heiligen. Der in der Nachkriegszeit behauptete Gegensatz zwischen einer nationalsozialistischen »heidnisch-gottlosen« Ideologie und einer christlich motivierten Mitmenschlichkeit war so nicht gegeben. Die Diffusion christlicher und nationalsozialistischer Mentalitäten zeigte sich ja schon von Beginn an in einer Glaubenssehnsucht, einem Hoffen auf Wiedergeburt, Erlösung und Auserwähltheit. Der Nationalsozialismus war eine hoch moralische Ideologie, die in ihrer extremen Spaltung zwischen Binnen- und Außenmoral30 von ihren Mitgliedern »selbstlosen Einsatz« und viel »Idealismus« verlangte. Dabei griffen christliche Religiosität und politischer Enthusiasmus ineinander und verstärkten sich gegenseitig, was insofern ein besonders eindrückliches Beispiel christlicher Säkularität darstellt, als es sich bei der nationalsozialistischen um eine offiziell »heidnische« Ideologie handelte. Interessant in dem Zusammenhang ist, dass der Bolschewismus von beiden Kirchen dezidiert als antichristlich verstanden wurde, während das für den Nationalsozialismus nur sehr eingeschränkt galt; vielmehr wurde von Seiten der Kirchen im Gegenteil vielfach eine Verschmelzung oder zumindest eine Kooperation mit ihm gesucht. Insofern konnte auch die christliche Theologie kein Bollwerk gegen den Nationalsozialismus sein, und so schützte auch hier die Ethik der Nächstenliebe nicht vor einer Veralltäglichung von Unmenschlichkeit. Heute ist die gesellschaftliche Macht der christlichen Kirchen in Deutschland am deutlichsten im Bereich der Wohlfahrt sichtbar. Nirgends in Europa gibt es eine so weit ausgebaute und breit gefächerte kirchliche Soziale Arbeit wie in Deutschland. Das evangelische Diakonische Werk und der katholische Caritasverband sind die größten Arbeitgeber im psychosozialen Bereich und sie sind der zweitgrößte insgesamt in der BRD – nach dem Öffentlichen Dienst.31 Diese erstaunliche Präsenz der Kirchen im Bereich der 30 | Anschaulich wird diese Spaltung in eine Fürsorge für »die Eigenen« und den Vernichtungswillen gegenüber den »Anderen« im Slogan des Winterhilfswerkes: »Keiner soll hungern und keiner soll frieren, aber die Juden, die sollen krepieren.« 31 | Sie sind die größten Einrichtungen dieser Art in Deutschland. Mit ca. 507.000 bzw. 453.000 Mitarbeitern beschäftigen der deutsche Caritasverband und das Diakonische Werk der EKD über 70 Prozent der Menschen, die in diesem Bereich insgesamt arbeiten.

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­ sychosozialen Versorgung hat viel mit der starken Position der Kirchen in p der BRD der Nachkriegszeit zu tun, geht historisch aber weiter zurück auf den Kampf zwischen Staat, Kirche und Sozialdemokratie in der Phase des Auf bau des deutschen Sozialstaates im 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Etablierung der Wohlfahrtsorganisationen gibt einen Einblick in die unterschiedlichen Motive, die die Kirchen dazu bewogen, sich so eminent für die Soziale Arbeit unter ihrer Regie einzusetzen.

D ie » säkul are « R olle der K irche am B eispiel von D iakonie und C aritas Zur Vorgeschichte Die moderne »Öffentliche Wohlfahrt« ist Resultat der immensen sozialen Umwälzungen im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert. Millionen Menschen zogen vom Land in die Stadt, um in der Industrie Arbeit und Auskommen zu finden.32 Diese Binnenwanderungen bedeuteten auch den Verlust überkommener sozialer Sicherungen in familialen, dörflichen oder feudal-paternalistischen Kontexten. Zudem waren im Zuge der Säkularisation die meisten Klöster aufgelöst worden, sodass die katholische Tradition der Armen- und Krankenpflege weitgehend abgebrochen war. Im Zuge dieser eminenten sozialen Verwerfungen lösten sich viele Menschen aus ihren religiösen Bezügen, sodass diese Entwicklung von den Kirchen als bedrohliche Entchristlichung wahrgenommen wurde. Sie fürchteten nun nicht nur politisch an den Rand gedrängt, sondern auch noch von ihren Mitgliedern im Stich gelassen zu werden. Zugleich wurde das große soziale Elend von den Kirchen nicht nur als ein ökonomisches, sondern auch als ein moralisches Problem verstanden. Armut und Verwahrlosung erschienen auch als eine Folge der Verrohung der Sitten und des Verlusts von ­Religion. In diesem Kontext entstanden große christliche Wohlfahrtsorganisationen, wie etwa die »Innere Mission«, die mit ihrem Namen schon deutlich macht, dass es mit der Wohlfahrt zugleich auch um die Rückgewinnung der Hinsichtlich der Größenordnung ist der Caritasverband mit über 25.000 Einrichtungen und über 1,1 Millionen Plätzen/Betten der größte Wohlfahrtsverband in Deutschland, gefolgt vom Diakonischen Werk mit 27.100 Einrichtungen und Diensten und insgesamt etwa einer Million Betreuungsplätzen. (Quelle: Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege Deutschland, 2008). 32 | Beispielsweise wuchs die Einwohnerschaft Berlins von einer halben Million auf zwei Millionen innerhalb von 60 Jahren (1850-1910) an.

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­Menschen für den christlichen Glauben ging. Es ging jedoch bei der ­Gründung der zahlreichen karitativen Vereinigungen auch um die Kritik an einem Staat, der nicht in der Lage schien, die Probleme zu meistern. Deshalb sollte ihm das Heft aus der Hand genommen werden. »Die Kirche konnte sich damit in neuer Form als weiterhin unverzichtbar darstellen, da ohne ihre sittlich-religiöse Botschaft, ihre moralische, erzieherische Kraft und ihre zahlreichen Werke karitativer Nothilfe vielen Zeitgenossen eine dauerhafte Lösung der ›sozialen Frage‹ kaum möglich erschien« (Große Kracht 2005: 56).

So wurde das Engagement in der öffentlichen Wohlfahrt zu einem Beweis für die Zeitgemäßheit und die Unverzichtbarkeit der Kirchen und für ihre besondere Expertise in Bezug auf die »soziale Frage«. Aber auch das liberale Bürgertum sowie vor allem auch die Sozialisten hatten »die soziale Frage« bereits für sich entdeckt. Insofern mussten sich die Kirchen mit ihren Anliegen auch ihnen gegenüber behaupten. Der schärfste Gegner war für sie die Sozialdemokratie mit ihrer starken Verankerung in der Arbeiterschaft. Deren Visionen von einer gerechten sozialistischen Gesellschaft setzten die Kirchen die Vorstellung einer ständisch gegliederten Gesellschaftsordnung entgegen, in der »jeder in seinem Stand bleibe, in den Gott ihn gestellt hat«. So sollten die bestehenden Einkommens- und Vermögensunterschiede nach Ansicht der Kirchen nicht durch abstrakte Gleichheitsvorstellungen nivelliert werden. Ziel ihrer karitativen Hilfe war vielmehr die Sicherung des jeweiligen Lebensstandards und damit auch die Reproduktion von Standesunterschieden, so Große Kracht in seiner Analyse des »sozialen Katholizismus« (vgl. ebd.: 72). Die Protestanten hatten aufgrund ihres individualistischen Arbeits- und Leistungsethos im Vergleich zu den Katholiken ein etwas anderes Bild von den Armen. Hatten jene die Armut als einen gottgewollten Stand verstanden, so ging es den Protestanten darum, zwischen würdigen und unwürdigen Armen zu unterscheiden. Meiris führt in seinem Artikel zu protestantischen Motiven im Kontext von Wohlfahrtsstaatlichkeit (Meiris 2005) ein Zitat von Martin Luther an, in dem dieser über den Umgang mit Bettlern spricht: Man solle ihnen helfen, habe sich aber zugleich in Acht zu nehmen vor all den Betrügern und Verbrechern, denn er selbst sei auch schon von Landstreichern und Zugereisten »beschissen« worden. Man müsse sich die Leute genau anschauen, und zwar vor allem die Fremden, die nicht zur Gemeinde gehörten, aber auch die unnützen Leute, die nur faulenzten und müßig gingen, sollte man aus dem Land jagen (vgl. ebd.: 15). Der Bettel wird von einem gottgewollten Stand bei Luther zu einem Übel, dem durch Arbeit und soziale Regulierung entgegen zu steuern ist (vgl. ebd.: 24). Die Arbeit als Königsweg zur Lösung sozialer

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­ robleme stützte die vom liberalen Bürgertum vertretene EigenverantwortlichP keit jedes Einzelnen. Bei allen Unterschieden zwischen den protestantischen und katholischen Soziallehren war ihnen jedoch ein antiegalitärer Impuls gemeinsam: Die Menschen sollten in ihre sozial-hierarchischen Bezüge eingebunden bleiben, sei es in die ständische Gesellschaftsordnung, sei es in die patriarchale Ordnung der Familie oder auch in die als paternalistisches Verhältnis verstandene Sozialordnung in den Fabriken. So gingen die kirchlichen Soziallehren von prinzipiell gleichgerichteten Interessen von UnternehmerInnen und ArbeiterInnen aus und hielten vor allem die persönliche Beziehung des Fabrikanten zu »seinen« Arbeitern für wesentlich (vgl. Krämer 2008: 263). Damit setzten die Kirchen den sozialdemokratischen und sozialistischen Konfliktanalysen ein Harmoniedenken und ihren Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen die Vorstellung einer organischen gesellschaftlichen Einheit in gegenseitiger Verantwortung und Fürsorge entgegen. Die Fürsorge selbst wurde als Ausdruck christlicher Nächstenliebe verstanden. In ihr sollte der Glaube an das Reich Gottes verkündet und von seiner Liebe zu den Menschen Zeugnis gegeben werden. Denn es gilt das Christuswort: »Was ihr den geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25, 40). Der Gründer der Diakonischen Anstalten in Neuendettelsau Wilhelm Löhe formulierte dies in einem Spruch, der für die Diakonie leitend werden sollte: »Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Mein Lohn ist, dass ich dienen darf« (zit. in Graf 2011: 159). Diakonie ist also Dienst am Anderen, worin die eigene Frömmigkeit zum Ausdruck kommt. Dabei werden die Armen und Bedürftigen, wie Graf schreibt, von den MitarbeiterInnen der Diakonie »nur als Objekt ihres religiös motivierten Dienens und Liebens wahrgenommen, sie kommen aber nicht als eigenständige Subjekte in den Blick« (ebd.: 159) – also ganz im Sinne einer theozentrisch motivierten Mitmenschlichkeit. Die christlichen Soziallehren entwickelten demnach ein spezifisch christliches Profil für die Fürsorgetätigkeit, indem sie diese für die dort Tätigen wie auch für die Hilfesuchenden als einen Ausweis der Präsenz des Göttlichen in der Welt interpretierten. Es ging nicht allein um das Helfen, sondern um die Bestätigung des Glaubens durch das Helfen. Damit positionierten sich die Kirchen nicht nur gegenüber den »gottlosen« Sozialisten, sondern auch gegenüber einem teilweise säkularen liberalen Bürgertum und dem modernen Sozialstaat. Gegen das liberale Modell stellten die Kirchen ihre Überzeugung, dass die Menschen nicht als »vereinzelte«, autonome Individuen zu betrachten seien, sondern nur in ihrer sozialen Eingebundenheit verstanden werden können. Der Mensch ist deshalb nicht als ein unabhängiges Individuum und ein

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­ oralisch ungebundenes Subjekt mit seinen eigenen Entscheidungen und Lem bensentwürfen zu verstehen, sondern als eine auf vorgegebene Gemeinschaften verwiesene und in seinem moralischen Wesenskern auf vorab bestehende Gesetze und Gebote Gottes verpflichtete Person (vgl. Große Kracht 2005: 65). Das gesamte Freiheits- und Autonomiebewusstsein der europäischen Moderne erschien der katholischen Soziallehre als, wie Große Kracht schreibt, eine »menschliche Hybris, als hoffärtige Auflehnung gegen die ewig gültige Schöpfungsordnung Gottes« (ebd.). Schließlich wandten sich die kirchlichen Sozialethiken auch gegen das säkulare Konzept eines Wohlfahrtsstaats, der die Gesellschaft als eine Assoziation freier und gleicher Rechtssubjekte versteht, worin die Rechte und die Pflichten der BürgerInnen juristisch kodifiziert sind und  – unabhängig von der Mildtätigkeit der privilegierten Klassen  – einem jeden und einer jeden ein Recht auf Unterstützung und Partizipationschancen zugestanden wird. Insofern waren die christlichen Soziallehren, wie Große Kracht herausarbeitet, wesentlich antistaatspaternalistisch, antiindividualistisch und antisozialistisch (vgl. ebd.: 53). Trotz dieser Positionierung war das christliche Modell auch für die liberalen und säkularen Eliten interessant, denn zum einen hatten die meisten selbst einen christlichen Hintergrund; zum anderen waren die Kirchen Bündnispartner gegen umstürzlerische sozialistische Bewegungen und gegen egalitäre Ansprüche generell. Schließlich halfen sie auch praktisch die Not zu lindern und die Macht des Obrigkeitsstaats zu begrenzen. Damit wurden die Kirchen zu einem unentbehrlichen gesellschaftlichen Akteur, der sich in die sich entwickelnde Zivilgesellschaft einordnete.

Zur Position der christlichen Wohlfahrtstätigkeit heute In der weiteren Geschichte haben sich die Gegensätze zwischen kirchlichen und säkular-liberalen Sozialstaats- und Wohlfahrtsmodellen immer weiter abgeschliffen. Vor allem die evangelische Kirche versteht sich heute als Hüterin der Demokratie in einem modernen Rechtsstaat. Die katholische Kirche betont ihrerseits vor allem das Aufeinander-angewiesen-Sein der sozialen Klassen und beschwört gesellschaftliche Solidarität (vgl. ebd.: 75). So sucht etwa der Sozialkatholizismus heute auch die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, um die Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten zu verbessern und die Arbeitswelt zu demokratisieren. Das gemeinsame »Wort der Kirchen: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit« (1997) will die Perspektiven des Evangeliums mit denen der Menschenrechte kombinieren. Nicht mehr die herabneigende Geste der Barmherzigkeit soll Symbol für christliche Wohlfahrt sein, sondern die »Option für die Armen«, wie dies in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie formuliert wurde. So sollen nun egalitäre und wechselseitige Beziehungen zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen im Mittelpunkt

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stehen. Dementsprechend gibt es in kirchlichen Kreisen eine intensive Debatte darüber, ob der Begriff der »Solidarität« den der »Barmherzigkeit« ergänzen oder ersetzen kann beziehungsweise sollte – wie dies etwa in der umfangreichen Bestandsaufnahme zur Sozialethik und Religionssoziologie »Christentum und Solidarität« (2008) dokumentiert wird. Heute haben die christlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland eine marktbeherrschende Stellung und bieten nahezu drei Viertel aller psychosozialen Dienstleistungen an. Das war nur deshalb möglich, weil in den 60er Jahre die beiden Großkirchen in harter Lobbyarbeit einen gesetzlichen Vorrang der freien gemeinnützigen vor der öffentlichen Wohlfahrtspflege durchsetzten. Niemand sonst profitierte so sehr wie Caritas und Diakonie vom nun gesetzlich garantierten Privileg der freien gemeinnützigen Sozialen Dienstleister (vgl. Graf 2011: 12f.). Sie konnten sich zu den größten Wohlfahrtsverbänden entwickeln und dehnten den Einfluss der Kirchen in der Sozialkultur der BRD – entgegen dem Säkularisierungsschub in den übrigen Bereichen der Gesellschaft – noch weiter aus (vgl. Gabriel 2012: 35). Sie erlebten einen nie dagewesenen Zuwachs, sodass sich, wie Gabriel schreibt, eine Gewichtsverschiebung in den Kirchen hin zu »Sozialkirchen« ergab (vgl. ebd.: 34), wobei die Ordensangehörigen im Gegensatz zu den 1970er Jahren (30 Prozent) in den 1990er Jahren nur noch 4 Prozent der Beschäftigten stellen. Insofern fragt sich, was heute dieses starke Engagement der Kirchen motiviert beziehungsweise ob und inwiefern sich diese Motivation von den Anliegen der Entstehungszeit der großen kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen unterscheidet. Die Kirchen verstehen ihre karitativen Organisationen heute als christliche Vorposten in einer kirchendistanten Gesellschaft. Das heißt, das soziale Engagement der Kirchen ist heute weniger von der Angst motiviert die Arbeiter zu verlieren und den Sozialismus bekämpfen zu müssen, als ihre Glaubwürdigkeit in allen Schichten der Gesellschaft zurückzugewinnen. Diakonie und Caritas sind inzwischen der wichtigste Zugang der Kirchen zu einer säkularen Welt. So hat etwa das stetige Anwachsen der Caritas in den letzten 30 Jahren dazu geführt, dass deren Angestellte inzwischen bei weitem die Anzahl der Beschäftigten in der Kirche selbst übersteigen (etwa 25mal so viele; vgl. Marcus 2006). Auch heute und gerade heute geht es mehr noch als zu Beginn der christlichen Wohlfahrtspflege darum, die eigene Unersetzlichkeit und die gesellschaftliche Bedeutung christlicher Werte unter Beweis zu stellen. Über die Sicherung der gesellschaftlichen Reputation hinaus geht es den Kirchen aber darum, mit ihrer Hilfstätigkeit den christlichen Glauben in die Gesellschaft hineinzutragen. Mithilfe der Wohlfahrtsorganisationen wollen sie ihren Glauben verkündigen, und zwar, indem die dort Tätigen als Vorbilder gelebter Gläubigkeit Zeugnis für das Christentum ablegen. Das wird etwa in der Präambel der »Leitlinien für die Unternehmen der Caritas« (2008) formuliert:

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t »Es geht darum, im diakonischen Wirken der Kirche Christus zu vergegenwärtigen. […] In kirchlich-caritativen Einrichtungen und Diensten machen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas das soziale Engagement der Kirche erfahrbar und nutzbar. Sie geben der Botschaft von der Liebe Christi ein Gesicht.« Und weiter heißt es: »Der Dienst am Menschen ist missionarisch. Denn durch die Art und Weise der Zuwendung und Hilfe, Anteilnahme und Achtung der von Gott gegeben Autonomie, Freiheit und Würde des Hilfesuchenden wird die Zuwendung Gottes durch Menschen sichtbar und bezeugt.« 33

Das Problem mit einer solchen Konzeption ist, dass es in heutiger Zeit schwierig ist, genügend MitarbeiterInnen zu finden, die sich mit diesen Zielen ohne weiteres identifizieren können. Deshalb wird von Seiten der Kirchen vielfach Druck auf die Angestellten ausgeübt. Ihnen wird etwa mit Kündigung gedroht, falls sie sich nicht zu einer christlichen Lebensführung verstehen. Frerk spricht in dem Zusammenhang von einer »Zwangskonfessionalität« (Frerk 2005: 110ff.), die inzwischen einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung betrifft.34 Dabei geht es nicht nur um eine erzwungene Mitgliedschaft in der Kirche, sondern auch um die Einhaltung eines von christlicher Moral geprägten Lebensstils. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Kirchenmitglieder die Lebensnormen der christlichen Kirchen für sich nicht mehr als verbindlich erachten, birgt dieser Zwang zur christlichen Lebensführung erhebliches Konfliktpotential. So sind derzeit Hunderte von Gerichtsverfahren anhängig, die Widerspruch gegen das Recht der katholischen Kirche einlegen, MitarbeiterInnen anlässlich ihrer Wiederverheiratung nach einer Scheidung oder anlässlich einer gleichgeschlechtlichen Verpartnerung zu kündigen.35 Damit wird wiederum der rechtliche Sonderstatus der Kirchen als Arbeitgeber unterstrichen, wenn sie ein Recht auf Kündigung hat nach Kirchenaustritt oder einer kirchenrechtlich verbotenen Eheschließung. Die Politik der Bundesrepublik scheut sich also nicht, die Diskriminierung aus Gründen ­sexueller

33 | Ähnlich heißt es im Leitbild der Diakonie: »Wir sind Kirche.« Diakonie wird als »Wesens- und Lebensäußerung der Kirche« verstanden, sie ist vollgültiger Vollzug von Kirche. »Diakonisches Handeln lässt das Evangelium handgreiflich werden, von dem sie lebt und das sie zu bezeugen hat« (Schäfer 2005: 118). 34 | Etwa 1 Million Menschen arbeiten derzeit in kirchlich geführten sozialen Einrichtungen. 35 | Der ständige Rat der Bischofskonferenz beschloss 2002, dass es mit den Loyalitätsobliegenheiten gemäß der »Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse« vom 22.9.1993 unvereinbar ist, eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft einzugehen (vgl. Holzleithner 2011: 29).

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Orientierung zu verbieten, diese den Kirchen aber zugleich zu erlauben (vgl. Holzleithner 2011: 31).36 Die kirchlichen Loyalitätsrichtlinien waren wohl zeitgemäß, solange das Personal hauptsächlich aus Ordensschwestern und Diakonissen bestand beziehungsweise sich aus hoch religiösen Kreisen rekrutierte. Heute hingegen trifft die Kirche mit ihren Wohlfahrtskonzernen auf ein in Bezug auf ihren Lebensstil weitgehend säkularisiertes Personal. Insofern wird der Konflikt zwischen Kirche und säkularer Gesellschaft innerhalb dieser Organisationen ausgetragen. Hier haben die Kirchen als Arbeitgeber noch direkt die Macht in der Hand – im Gegensatz zur säkularen Gesellschaft. Insbesondere die katholische Kirche scheut sich anscheinend nicht, diese auch umfassend einzusetzen. Mission bedeutet also heute noch, dass die Bekehrung zum katholischen Lebensstil auch mithilfe von Machtmitteln durchgesetzt wird. Verschärft werden die Konflikte zwischen Kirchen und tendenziell säkularisierten MitarbeiterInnen dadurch, dass sie kaum offen ausgetragen werden können. Die Kirchen gehen in ihrer Gesellschaftsanalyse nach wie vor von einem Harmoniemodell aus, das auch für ihre eigenen Institutionen Geltung haben soll. Deshalb verstehen sie ihre Unternehmen als Einrichtungen, die von einer »Dienstgemeinschaft« mit »Dienstgebern« und »Dienstnehmern« getragen werden. Laut Leitlinien der Caritas zeigt sich diese Gemeinschaft darin, dass Leitung und Mitarbeiter »gemeinsam den kirchlichen Auftrag im Vertrauen auf die Führung Gottes [erfüllen]«. Ein wesentlicher Ausdruck hierfür sei das gemeinsame Feiern und Bekennen des Glaubens. Mit diesem Konzept einer »Dienstgemeinschaft« wird auch begründet, dass in den kirchlichen Institutionen ein anders Arbeitsrecht gilt als im Öffentlichen Dienst, sodass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch keine Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften geführt werden und Streiks nicht erlaubt sind. Vielmehr werden die Arbeitsbedingungen in besonderen Kommissionen ausgehandelt. Die gesetzliche Grundlage dafür ist der sogenannte »Dritte Weg«, der den Kirchen ein Selbstbestimmungsrecht in ihren Angelegenheiten einräumt. Resultat dieses »dritten Wegs« ist u.a., dass die Arbeitsbedingungen schlechter sind als in vergleichbaren Einrichtungen des Öffentlichen Dienstes und dass die Beschäftigten in der Regel deutlich schlechter bezahlt werden. Das bedeutet, dass das christliche Modell des Miteinanders auf der Basis eines Harmoniedenkens Ungleichheiten legitimiert, und es bedeutet, dass die Kirchen ihre Dienstleistungen billiger anbieten und somit ihre gesetzlichen Privilegien dazu nutzen 36 | Die kirchlichen Arbeitgeber unterlassen es dabei zu fragen, welcher Bezug zwischen Loyalität und der spezifischen Aufgabe und Position eines Angestellten besteht. So mag eine stärkere Loyalität bei Menschen gefordert werden, die unmittelbar im Bereich der Verkündigung tätig sind, nicht aber bei solchen, die lediglich in kirchennahen Organisationen wie Diakonie oder Caritas arbeiten (vgl. Holzleithner 2011: 32f.).

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können, sich als Wohlfahrtsunternehmen auf dem Markt Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Der besondere Charakter dieser Institutionen als christliche legitimiert jedoch nicht nur die Ungleichbehandlung ihrer MitarbeiterInnen, sondern begründet auch die spezifisch christliche Qualität ihrer Dienstleistungen. So gehen die Träger der christlichen Wohlfahrtsverbände davon aus, dass ihre MitarbeiterInnen eine besondere Qualität christlicher Hilfetätigkeit garantieren. Diese bestehe in einem über die berufliche Qualifikation hinausgehenden religiös motivierten Engagement für die Hilfsbedürftigen. Insofern verstehen die Kirchen sich auch als Kritiker an säkularen Dienstleistungsangeboten. Eine solche Position vertritt etwa der katholische Theologe Andreas Lob-Hüdepohl in dem Handbuch »Ethik in der Sozialarbeit« (Lob-Hüdepohl 2007). Er empfiehlt dort das Beispiel des guten Samariters als ein Modell für die Soziale Arbeit, jenseits einer wissenschaftsbasierten Professionalität und professionellen Ethik. Dies Modell sei ein Korrektiv für eine bürokratisch abgesicherte »Expertokratie«. Bei der biblischen Erzählung vom barmherzigen Samariter geht es darum, dass dieser dem Opfer eines Raubüberfalls aus einem menschlich-spontanen Impuls heraus hilft, während der Rabbi und der Levit, die eigentlich für die Fürsorge eher zuständig sind, an diesem Mann vorübergehen ohne ihm zu helfen. Der Samariter ist als Kaufmann beruflich nicht verpflichtet einzugreifen, und zudem gehört er zu einer anderen ethnischen Gruppe als das Opfer des Überfalls. Trotzdem hilft er. Wir lernen daraus, wie Lob-Hüdepohl ausführt, zum einen, dass der Nächste auch aus einer fremden Gruppe stammen kann und zum anderen, dass es nicht der beruflichen Qualifikation und Verpflichtung bedarf, um zu helfen. Damit, so Lob-Hüdepohl, überschreite diese Form des Unterstützungshandelns sozusagen von der »Unterseite der etablierten Gesellschaft« aus die vorfindlichen Grenzziehungen und üblichen Exklusionsmechanismen. Und er fährt fort: »Insofern ist das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter keinesfalls als Illustration mitleidvollen Hilfehandelns zu lesen, sondern als modellhafte Praxis systemsprengender Sozialbeziehungen, das um aller betroffenen Menschen willen über die prinzipiell entgrenzte, universale Zuständigkeit der vermeintlich sozial Nichtzuständigen aufklärt« (ebd.: 152).

Das Helfen aus »Gottesliebe« wird hier als ein »systemsprengender« Vorgang der aus einem professionellen Verständnis heraus ausgeübten sozialen Praxis gegenübergestellt. Steht also das Modell »barmherziger Samariter« gegen das der professionellen SozialarbeiterIn? Das meint auch sicherlich Lob-Hüdepohl nicht. Guter Wille alleine kann keine Gerechtigkeit herstellen. Er ist kein Ersatz für soziale Kontrolle und Strukturen. Gerade in einer Gesellschaft sozialer Un-

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gleichheit kann guter Wille nur Philanthropie bleiben, das heißt, Macht mit Mitleid verbrämen und strukturelle Erfordernisse verschleiern. Aber auch das beste System kann Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit nicht erzwingen. Zwar stützt sich auch das Christentum auf die Zuwendung und Liebe, die aus den zwischenmenschlichen Beziehungen entstehen, wie etwa die mütterliche Liebe und Fürsorge, aber sie versetzt diese Mitmenschlichkeit immer in den Prüfstand des Noch mehr, wie Niebuhr formuliert: Wenn du diejenigen liebst, die dich lieben, welcher Verdienst ist das dann? (vgl. Niebuhr 1979: 129) Der, wie er es formuliert, »natürliche« Mensch steht immer unter der Kritik absoluter Perspektiven. Auch die Angestellten der christlichen Wohlfahrtsverbände bedürfen der wissenschaftsbasierten Kompetenzen. Zudem müssen sich die religiösen Einrichtungen, wie etwa Rückert formuliert, zumindest bezüglich der Finanzierung eher mit dem Wirt der Herberge als mit dem barmherzigen Mann aus Samaria identifizieren. »Denn alle Unternehmen der Diakonie geben das Geld anderer Leute aus, das der Steuerzahler und das der über Zwangsabgaben für die Finanzierung sozialer Dienste ermächtigten Sozialkassen, aber nicht ihr eigenes« (Rückert 2005: 301). Auch wissen die dort Angestellten, dass ihre Mittel nicht unbegrenzt sind und dass der moderne Sozialstaat vielfach an seine Grenzen stößt. Schließlich geht es der modernen Diakonie auch nicht allein um den Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, sondern auch darum, dass die Räuberei am Wegesrand möglichst unterbunden wird.37 Diakonie wie die Caritas haben sich zu Wohlfahrtskonzernen entwickelt, die nach der Logik großer Unternehmen geführt werden. Insofern stellt sich die Frage, ob weiterhin der Anspruch auf eine besondere Qualität christlich motivierter Nächstenliebe in diesen Einrichtungen vertreten werden kann und was das konkret bedeutet. Es ist zu befürchten, dass hier, entsprechend der Idealisierung des Christentums, die Welt auf einfache Weise in die »böse« staatliche Administration und den »guten« idealistisch motivierten religiösen Menschen aufgeteilt wird. So ist diese Denkfigur der »kalten« bürokratisierten Hilfe durch den Staat im Gegensatz zur menschlichen, warmherzigen religiösen Hilfe ein alter Topos, den bereits der bekannteste Repräsentant des sozialen Katholizismus, Bischof von Ketteler, um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu artikulieren wusste, etwa in seinem Vorwurf, dass die Bürokratisierung und Rationalisierung der A ­ rmenfürsorge 37 | Das Modell individueller spontaner Hilfe berührt nicht die Frage organisierter umfassender Hilfeleistung, also die Frage von Wohlfahrt als einer gesellschaftlichen Aufgabe, die auf die strukturelle Ungleichheit der Gesellschaft antworten muss. Zielvorstellungen sind dabei Verteilungsgerechtigkeit und der Anspruch auf Integration, Partizipation und Menschenwürde, Absicherung des Einzelnen gegenüber den Risiken des Lebens und Gegensteuern gegen die strukturelle Asymmetrie in dieser Gesellschaft.

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die Armen zu einer Sache machten und deshalb herzlos, kalt und ineffektiv seien (vgl. Schneider 2009: 85). Diese Position findet auch heute noch weite Verbreitung in der Bevölkerung. So zeigt etwa eine große, in mehreren Ländern Europas durchgeführte Vergleichsstudie zur Bedeutung religiöser und staatlicher beziehungsweise säkularer sozialer Einrichtungen, dass viele der Befragten glauben, kirchenbasierte Dienste seien menschlicher und die dort Beschäftigten gingen spontaner auf die Hilfsbedürftigen zu (vgl. Bäckström & Davie 2010). Ebenso glauben sie, dass die Menschen, die in christlichen Einrichtungen arbeiten, eine stärkere Motivation haben, da sie nicht nur für Geld arbeiten, sondern aus Idealismus und menschlicher Hilfsbereitschaft. Sie seien warmherziger und stünden so gegen eine »kalte« Professionalität und unmenschliche Bürokratie (vgl. Grassmann 2010: 48 sowie Pessi 2010: 85). Besonders hoch angerechnet wird den Kirchen dabei, dass sie sich auch für Menschen einsetzen, die vom Staat zurückgewiesen werden, wie etwa für die Flüchtlinge im Kirchenasyl. Die Kirchen würden sich damit als das Gewissen der Gesellschaft und als Hüterinnen ihrer Werte (value guardians) erweisen. Sie gelten als flexibler in ihrer Hilfe als der Staat und näher an den alltäglichen und tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen (vgl. Pessi 2010: 87). Nun ist fraglich, ob diese Äußerungen der Befragten tatsächlich primär auf persönlichen Erfahrungen beruhen oder ob sich hier nicht die christliche Sicht auf eine tendenziell unmoralische säkulare Welt niederschlägt, die sich im Gegensatz zur gelebten Mitmenschlichkeit im Christentum befindet.38 Es gibt jedoch auch andere Stimmen. In der zitierten europäischen Vergleichsstudie meinen viele der Befragten, dass die kirchlichen Einrichtungen die KlientInnen mit ihrem Paternalismus unmündig machen, dass sie patronisieren und predigen (vgl. Frisina 2010: 156ff.). Die MitarbeiterInnen kirchlicher Einrichtungen zeigten keinen Respekt gegenüber den Hilfesuchenden und setzten nicht an den Stärken der Betroffenen an. Sie beließen sie lieber in ihrer Hilfsbedürftigkeit. Barmherzigkeit sei entwürdigend, und Liebe sei nicht genug, um nachhaltig und respektvoll helfen zu können. Außerdem sei diese Form der Sozialen Arbeit bequem für den Staat, da damit die Helfenden ausgebeutet und ihre Mitmenschlichkeit missbraucht werde. Mit diesen Äußerungen werden nicht nur unterschiedliche Urteile über die soziale Arbeit in christlicher Trägerschaft abgegeben, sondern es werden auch grundsätzliche Widersprüche angesprochen, die bei jeder gesellschaftlich organisierten Form der Fürsorge auftreten, etwa die zwischen individuellen Bedürfnissen und den Funktionsmechanismen einer Institution oder die zwischen individuellen Ansprüchen und den Interessen der Allgemeinheit. 38 | Ausführlich dazu in Kap. 8.

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Es wird der Widerspruch angesprochen zwischen Care als einem spontanen zwischenmenschlichen Akt, Fürsorge als notwendiger systematischer Beziehung und persönlichen Dienstleistungen, die weit in den kommerziellen Sektor hineinreichen. Damit sind Probleme verbunden, mit denen sich die professionale Soziale Arbeit seit ihrem Bestehen auseinandersetzt (vgl. Tronto 2013). Care ist keine Ware, wie Tronto in ihrer Abhandlung über Care-Ethik ausführt: Es gibt hier Grenzen der Rationalisierung und Technologisierung und damit auch der Kostenreduzierung. Sie ist personenbezogen und personenabhängig (vgl. ebd.: 8) und schwer zu kalkulieren: Was kostet ein Kind, das vernachlässigt wird? Dennoch muss sie organisiert, kontrolliert und kostengünstig durchgeführt werden, sonst ist sie nicht bezahlbar und ungerecht. Care ist auch in den wenigsten Fällen eine dyadische Beziehung, sondern eine trianguläre, es sind meistens noch weitere Personen einbezogen und politische und soziale Strukturen. Auch das Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Fürsorge (care) wird damit berührt. Empfängerinnen von Fürsorge haben nicht nur Bedürfnisse, sondern auch Rechte. Demgegenüber werden in einem auf christlicher Nächstenliebe basierenden Konzept der Fürsorge diese strukturellen Momente ausgeblendet und der persönliche Charakter der Hilfebeziehung nicht nur äußerlich, sondern geradezu kontraproduktiv behauptet. Die Rechte der Mitarbeiterinnen etwa auf geregelte Arbeitszeiten werden tendenziell als Merkmal kalter Professionalität denunziert. Dem wird gerne das Modell Familie als »naturwüchsiger« Kontext des Helfens und der Gegenseitigkeit gegenübergestellt: spontan, ohne Bedingung, klare Zuständigkeiten und Machtverhältnisse, individualistisch, spezifisch, jede Familie entwickelt ihre Form von Zuwendungsstrategien. Care ist hier ein Ausdruck von Liebe. Aber auch Familien sind nicht das Paradies. Die Probleme hier sind Paternalismus und Parochialismus (Engstirnigkeit). Schließlich werden die schlechten Bedingungen öffentlicher Fürsorge wie schlechte Bezahlung, geringes Sozialprestige und Standardisierung der Versorgungsleistungen den Menschen angelastet, die darin arbeiten – ohne zu sehen, dass gerade eine solch personalisierte Sicht auf das Versorgungssystem den Kampf um Anerkennung und Besserstellung direkt unterläuft. Insofern fragt sich, wie hilfreich die religiös basierte Kritik ist, hat sie doch die Tendenz, diese grundlegenden Widersprüche zu moralisieren und sie in individuelles (Fehl-)Verhalten zu übersetzen. Damit lenkt sie von den strukturellen Bedingungen ab und sucht die Widersprüche in Appellen an individuelles Verhalten aufzulösen (vgl. Großmaß, Anhorn 2013: 17). Das heißt nicht, dass die einzelnen Beschäftigten nicht auch einer moralischen Motivation bedürfen, um in diesen Bereichen engagiert und fürsorglich mit den ihnen Anvertrauten umzugehen. Eine solche Moral ist jedoch – wie wir noch ausführlich

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in Kap. 8 sehen werden – kein Monopol des Christentums beziehungsweise der R ­ eligion generell. Insofern können die in der institutionalisierten Fürsorge angelegten Widersprüche auf alle Fälle nicht dadurch gelöst werden, dass man den Part der Sorge um die Anderen (Care-Ethik) der Kirche und den der Gerechtigkeit dem Staat zuschreibt. Das aber ist genau Teil der katholischen Soziallehre: So bezeichnete Benedikt XVI. den Staat als hauptverantwortlich für die Gerechtigkeit, während die Kirche einen wesentlichen Beitrag im Sinne der Liebe leisten müsse, der immer zur Gerechtigkeit ergänzend hinzukomme. In seiner Enzyklika »Deus Caritas est« schreibt er, dass es keine gerechte Staatsordnung gebe, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könne (zit. in Palaver 2009: 70). Dem entspricht, dass die Bevölkerung die christlich basierten sozialen Dienstleistungen oftmals als Beweis für das besondere moralische Engagement der Kirchen wertet, während sie dieselben Dienstleistungen von Seiten säkularer Träger als selbstverständliches Recht in Anspruch nimmt. Wenn man davon ausgeht, dass die säkularen und kirchlichen Dienstleistungen prinzipiell gleichwertig sind – und das müssen wir mangels einschlägiger Hinweise und fehlender empirischer Untersuchungen annehmen –, dann verweist diese unterschiedliche Bewertung auf die anhaltende Wirksamkeit christlich tradierter Gesellschaftsbilder. Untermauert werden diese Einstellungen durch einen Zirkelschluss, bei dem die sozialen Tätigkeiten der Kirche von vornherein als moralisch motiviert verbucht werden und damit den moralischen Status der Kirchen in der Gesellschaft bestätigen – während die säkular basierten Dienste von vornherein unter dem Rubrum Recht eingeordnet werden. Das entspricht auch dem jeweiligen Selbstverständnis der Träger, zementiert aber zugleich eine kontrafaktische Spaltung in Bezug auf die angeblich unterschiedliche Qualität der Dienste. Schließlich gewinnen die Kirchen viel von ihrem sozialmoralischen Kredit dadurch, dass die große Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugt ist, dass die kirchlichen Einrichtungen von den Kirchen finanziert werden. Tatsächlich finanzieren die Kirchen nach Berechnungen von Carsten Frerk lediglich 2 Prozent der Aufwendungen für ihre Sozialeinrichtungen selbst, während die übrigen 98 Prozent von den Steuerzahlern und Sozialkassen sowie durch Zuweisung von Spenden aufgebracht werden (vgl. Frerk 2010). In der Wahrnehmung der Bevölkerung hingegen werden kirchliche Einrichtungen als kirchlich finanzierte verstanden und so der Einsatz der Kirchen für Hilfesuchende erheblich überschätzt. Die Kirchen und der Staat tun wenig dafür, dieses Missverständnis aufzuklären. Aufgrund dieses Missverständnisses stellt sich kaum jemand die Frage, ob es angemessen ist, dass die Kirchen darüber bestimmen, ob ihre Angestellten gemäß kirchlichen Vorstellungen leben müssen oder ob es christlichen Kindergärten freisteht muslimische Kinder zurückzuweisen oder ob evangelische

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Kinder, die in einen katholischen Kindergarten aufgenommen werden, nach katholischen Grundsätzen erzogen werden dürfen. Diese Fragen werden umso weniger gestellt, je weniger bewusst ist, dass neben den Christen Atheisten, Muslime, Säkulare, Juden und Andersgläubige diese christlichen Einrichtungen nahezu vollständig finanzieren. In dem Zusammenhang fragt sich auch, welches Interesse der Staat daran hat, diese Einrichtungen so hoch zu subventionieren. Zum einen mag die Situation auf die erfolgreiche Lobbyarbeit der Kirchen zurückzuführen sein wie auch auf die starke Verschränkung von kirchlichen und politischen Eliten in Deutschland.39 Zum anderen aber ist sicherlich auch ausschlaggebend, dass die kirchlichen Träger ihre Dienste billiger anbieten können. Zudem können sie als private Einrichtungen  – im Unterschied zum Staat  – etwa in Kindergärten und Schulen Elternbeiträge erheben, und sie können ein relativ hohes Potential an freiwillig Arbeitenden aktivieren. Deshalb finden wir im Zuge der Privatisierung des sozialen Sektors in den letzten Jahrzehnten einen Zuwachs von sozialen Diensten in kirchlicher Trägerschaft in nahezu allen Ländern Europas (vgl. Bäckström & Davie 2010). Gleichzeitig schränkt jedoch diese vermehrte Marktorientierung der religiösen Verbände deren Möglichkeit ein, als Anwälte der Armen und Ausgegrenzten zu fungieren. Denn ein Verband, der sich in der Konkurrenz mit anderen ein rentables Marktsegment sichern will, muss sich vor allem auf diejenigen Bereiche konzentrieren, in denen möglichst zahlungskräftige Abnehmerinnen zu finden sind. So ist in den letzten Jahren die Anwaltsfunktion für die Armen in der Gesellschaft sehr viel deutlicher von säkularen Organisationen wie den Gewerkschaften und der Linkspartei oder von Gruppierungen wie attac oder Arbeitsloseninitiativen vertreten worden als etwa von der Caritas oder der Diakonie, so jedenfalls die Einschätzung des Jesuitenpaters Friedhelm Hengsbach (vgl. Hengsbach 2008: 736). Der von ihm geforderte Schulterschluss der Kirche mit den Armem, Leidenden und Ausgegrenzten anstatt mit den wirtschaftlichen und politischen Eliten bleibt wohl eher ein »frommer« Wunsch. Es wäre also zu fragen, wo die christliche Wohlfahrtspraxis sich heute im Vergleich zu ihren Anfängen politisch positioniert. Damals war sie von einem antiegalitären Impuls getragen, der, wie etwa das gemeinsame Sozialwort der Kirchen zeigt, heute so nicht mehr vertreten wird. Im Gegenteil, beide Kirchen fühlen sich demokratischen Grundsätzen verpflichtet. Jedoch fragt sich, ob nicht durch die Struktur der Organisationen und ihrer Politik nicht dennoch die Ungleichheit in der Gesellschaft aufrechterhalten beziehungsweise verschärft wird. Das gilt einmal für die Ungleichbehandlung kirchlicher 39 | So waren etwa alle Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken bisher Landespolitiker der Unionsparteien (vgl. Liedhegener 2006: 235ff.).

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­ itarbeiterInnen im Vergleich zu solchen im Öffentlichen Dienst, aber ebenso M für die inzwischen zahlreichen muslimischen oder auch konfessionslosen Professionellen im psychosozialen Bereich, die von den kirchlichen Trägern zurückgewiesen werden. Auch wird die Ungleichheit der Geschlechter insofern weiter perpetuiert, als die Kirchen für die freiwillige, unbezahlte Arbeit vor allem Frauen heranziehen, während die Leitungspositionen vor allem Männern vorbehalten wird (vgl. Lukatis et al. 2000). Schließlich wird auch der kirchlich getragene Bildungsbereich immer mehr zu einem Feld sozialer Distinktion: So fällt auf, dass die Nachfrage nach religiösen Schulen in den letzten Jahren erheblich gewachsen ist.40 Das hängt einmal damit zusammen, dass die Eltern der bürgerlichen Mittelschichten sich von einer christlichen Schule eine besonders intensive Wertevermittlung versprechen. Zum anderen aber hängt es auch damit zusammen, dass sie so besser »unter sich« bleiben können. Und schließlich spielt das Schuldgeld insofern eine Rolle, als es nur besser Verdienenden erlaubt, ihre Kinder auf solche Schulen zu schicken. Denn selbst wenn es Sozialtarife in diesen Schulen gibt, können diese die soziale Selektion nicht kompensieren (vgl. Müller 2013).

Resümee Das große Engagement der Kirchen in Deutschland im Bereich der psychosozialen Versorgung trifft auf große positive Resonanz in der Bevölkerung. Die Kirchen werden damit nach Meinung der Mehrheit ihrer Rolle in einer säkularen Gesellschaft gerecht, nämlich sich um die sozial Schwachen und Ausgegrenzten zu kümmern. Sie können damit ihren Vertrauensverlust bis zu einem gewissen Grad kompensieren und gelten deshalb für viele als unverzichtbar für den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft. Den Kirchen selbst geht es allerdings mit ihrer karitativen Tätigkeit nicht nur darum, den Hilfsbedürftigen zu helfen, sondern auch, ihre Botschaft in die säkulare Gesellschaft hineinzutragen. Sie verstehen ihre Wohlfahrtsorganisationen als eine Möglichkeit, in die Gesellschaft hineinzuwirken und eine »Wesens- und Lebensäußerung« der Kirche zu sein. Dabei konnte die karitati40 | Deutschlandweit gibt es inzwischen 3.500 freie Schulen – etwa 1.300 mehr als 1998. Private Hochschulen, berufliche Schulen und Kindertageseinrichtungen verzeichnen ähnliche Zuwächse. Getragen werden diese Einrichtungen häufig von kirchlichen Akteuren wie Caritas oder Diakonie (Demos Newsletter, Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung Ausgabe 180, 17.11.2014). Auch werden 80 Prozent aller Kindergärten in Deutschland von den Kirchen und ihren diakonischen Einrichtungen betrieben, und die Ausbildung der ErzieherInnen obliegt größtenteils Fachschulen in kirchlicher Trägerschaft. Dieser Einfluss der Kirchen auf die Erziehung wird von vielen Konfessionslosen gut geheißen.

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ve Tätigkeit der Kirchen inzwischen soweit expandieren, dass ihre Wohlfahrtsorganisationen den Markt dominieren. Damit ergibt sich das Problem, dass die Mehrheit des Personals nicht mehr dem inneren Kreis überzeugter Christen entstammt. Vielmehr haben sich die meisten von ihnen von den Vorgaben kirchlicher Lebensnormen verabschiedet. Die Kirchen üben nun Druck auf sie aus, Zeugnis für die Kirche in Form von Kirchenmitgliedschaft und christlicher Lebensführung zu geben. Insofern zeigt sich hier ein Konflikt zwischen der Macht der Kirchen und der Mehrheit säkularisierter beziehungsweise kirchendistanter Mitglieder der Gesellschaft. Eine weitere Folge der marktdominierenden Stellung der christlich basierten sozialen Einrichtungen in Deutschland ist, dass große Teile der psychosozialen Fachkräfte von gleichberechtigen Chancen in ihrem Beruf abgeschnitten sind. Das gilt für Atheisten ebenso wie für Menschen nicht-christlichen Glaubens. Im Bildungsbereich bezieht sich die kirchenspezifische Auslese nicht nur auf das Personal, sondern auch auf die Zulassung von Kindern und Jugendlichen, die in Institutionen religiöser Trägerschaft aufgenommen werden. Die Kirchen tragen also nicht so sehr zum Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern vielmehr auch zu sozialen Konflikten und zur Verfestigung sozialer und kulturell-religiöser Hierarchien bei. Der Mehrheit der Bevölkerung ist nicht bewusst, dass die Kirchen diese Politik nur durchsetzen können, weil ihnen die Gelder der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Sie verwalten die ihnen aus Steuern und Sozialkassen anvertrauten Gelder, nutzen diese Position aber auch dafür, um ihre Vorstellungen von einer christlich geprägten Gesellschaft durchzusetzen. Mit diesem Arrangement von Kirche und Staat zeigt sich, dass die Trennung zwischen Kirche und Staat in Deutschland erheblich »hinkt«.41 Insgesamt lässt sich am Ende dieses Kapitels sagen, dass die Kirchen in Deutschland, was ihre säkulare Rolle anbetrifft, sehr aktiv und mächtig sind. Sie wirken über ihre pastoralen Aufgaben weit in die säkulare Gesellschaft hinein und dies vor allem mittels ihrer karitativen Tätigkeiten, bei denen sie vom Staat hoch subventioniert werden. Damit wird auch die enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche sichtbar, die nicht zuletzt auf den intensiven Austausch zwischen christlichen und politischen Eliten und eine intensive Lobbyarbeit der Kirchen zurückgeht. Historisch basiert diese enge Zusammenarbeit wiederum auf einer traditionell engen Verbindung zwischen Kirche und Staat – zumindest im protestantischen Milieu –, die durch den Nationalso41 | Von hinkender Trennung sprechen die Fachleute im Bezug auf das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland, da auf der einen Seite in der Verfassung festgelegt ist »Es besteht keine Staatskirche« (Art.140 GG, 137 Abs.1 WRV), während auf der anderen Seite die Kirchen als öffentlich-rechtliche Korporationen eine privilegierte Stellung einnehmen.

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zialismus keineswegs einen Einbruch erlitt, sondern im Gegenteil in der Nachkriegszeit noch enger geworden ist. Auch die Bevölkerung hat es den Kirchen offensichtlich gedankt, dass sie sie in jener Zeit von Schuld und Verantwortung weitgehend entlastet haben. Das konnte jedoch den Prozess ihrer Distanzierung von den Kirchen nicht aufhalten, der spätestens in den 1970er Jahren verstärkt eingetreten ist und bis heute anhält. Dennoch werden die Kirchen in ihrem sozialen Engagement weiterhin sehr geschätzt. Gedankt wird es den Kirchen mit einem hohen moralischen Prestige. Das Verhältnis von Kirche und Staat in der BRD lässt sich mit den Worten des Theologiehistorikers Gerhard Besier folgendermaßen zusammenfassen: »Trotz starken Mitgliederschwundes verstehen sich die Kirchen in der BRD weiterhin als ›Volkskirchen‹. Durch ihre garantierte Mitwirkung in zahlreichen öffentlichen Gremien beeinflussen sie nach wie vor den gesellschaftlichen Meinungs- und Entscheidungsprozess. […] Weder die Großkirchen noch die beiden großen Volksparteien wollen die Grenzlinie zwischen Gesellschaft und Volkskirche scharf ziehen, weil sich mit der Säkularisierung auch eine ›Verchristlichung‹ von Gesellschaft und Kultur vollzogen habe. Christliche Werte seien in die Gesellschaftsverfassung eingegangen und bedürften über die Kirchen der Pflege und Vergewisserung. […] Das Christentum habe sich zu weiten Teilen in die religiöse Kultur der Gesellschaft hinein aufgelöst« (Besier 2000: 45).

Der Versuch der Großkirchen, an die Zeit des Staatskirchentums anzuschließen, impliziert auch, dass sie sich von anderen religiösen Gemeinschaften absetzen, um sich als die einzigen relevanten Partner der Politik zu empfehlen. So herrscht nach dem evangelischen Kirchenhistoriker Besier nach wie vor ein Hierarchiedenken innerhalb der Kirchen vor, nach dem auf der obersten Stufe die beiden Großkirchen stehen, darunter die Freikirchen, die noch in den 20er Jahren zu den »Sekten« zählten, wie Baptisten, Methodisten etc. Unterhalb rangieren »Sondergemeinschaften« wie die Siebenten-Tags-Adventisten, darunter Sekten wie die Zeugen Jehovas und esoterische Weltanschauungen. »Mit dieser faktischen Hierarchisierung wird die in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit beträchtlich relativiert«, schlussfolgert Besier (ebd.: 125). Die Großkirchen haben nicht nur einen privilegierten Rechtsstatus, sondern gelten auch als die Religionsexperten schlechthin, etwa wenn sie als Sektenbeauftragte den Deutschen Bundestag beraten (vgl. ebd.). Die enge Zusammenarbeit von Staat und Kirche ist, wie wir sahen, nie wirklich aufgekündigt worden. Dem entsprechen Einstellungen in der Bevölkerung, die von einem besonderen moralischen Führungsanspruch der K ­ irchen – beziehungsweise genauer »des« Christentums ausgehen, trotz einer inzwischen

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mächtigen säkularen Denktradition. Auch im kulturellen Christentum hat, wie wir sehen werden, die Religion ihre Magie anscheinend nicht verloren. Damit wird jedoch auch ein christliches Welt- und Gesellschaftsbild weitergetragen, das den Kirchen die Moral, das Recht dem säkularen Sektor zuschreibt. Welche Auswirkungen dies auf die Vorstellung von der Rolle des Christentums für die Werte und den Zusammenhalt der Gesellschaft hat, wird Thema der nächsten Kapitel sein.

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Das Christentum soll aus Sicht der Bevölkerung eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen, um deren Zusammenhalt zu gewährleisten. Was aber heißt das? Inwiefern kann das Christentum einen Zusammenhalt stiften, angesichts von Säkularität und Pluralität in dieser Gesellschaft? Man könnte den Befund mit Graeme Smith so interpretieren, dass die Mehrzahl der Bevölkerung, einer konservativen Grundstimmung gemäß, sich wünscht, dass alles so bleibt, wie es ist (vgl. Smith 2008). Das scheint die Religion am ehesten zu garantieren, wie wir gerade auch am Beispiel der Funktion von christlichen Einrichtungen in Bezug auf die Aufrechterhaltung von sozialer Schichtung und kultureller Segregation sahen. Allerdings würde das all denen nicht gerecht, die in der Religion ein kritisches Korrektiv der Verfasstheit der Gesellschaft sehen. Es fragt sich deshalb zunächst, wie Religion überhaupt den Zusammenhalt in der Gesellschaft unterstützen kann, um dann zu erkunden, ob und inwiefern sie die gesellschaftlichen Verhältnisse bestätigt oder ihnen auch kritisch gegenübersteht. Schließlich ist zu fragen, ob und inwiefern religiöse Formen der Gemeinschaftsbildung mit säkularen in Konflikt geraten. Zweifellos spielt das Christentum bis heute eine bedeutsame Rolle im kollektiven Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft. So stand es Pate beim Prozess der Nationbildung, obgleich das Konzept der Nation ein säkulares Konzept ist und das Christentum als Religion in vieler Hinsicht quer zu den Organisationsprinzipien der Nation steht.

R eligion als gemeinschaf tsbildend Die nationalen »Heiligtümer« in Europa sind oft christlich codiert: »Ob es sich um die Kirche St.-Geneviève in Paris handelt, die zum Pantheon, zum Mausoleum der französischen Republik umgestaltet wurde, oder um die Westminster Abbey

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t unmittelbar neben dem gotischen House of Parliament, ob um die Garnisonskirche in Potsdam und in Berlin um den deutschen Dom und die Gedächtniskirche, einst eine kaiserliche Erinnerungsstätte, nun Zeuge der Zerstörung durch das Nazi-Heidentum, um die Paulskirche in Frankfurt, in der 1848 das deutsche Parlament tagte, sie sind alle Symbole für das Ineinanderfließen von kirchlicher und staatlicher Macht«,

stellt der britische Religionssoziologe David Martin fest (Martin 2008: 48f.). Aber nicht nur Monumente nationaler Identität zeugen von einer Fusion säkularer und christlicher Fundierung der Gesellschaft, sondern auch die Inszenierung national bedeutsamer Ereignisse kommt bis heute nicht ohne die Beteiligung der Kirche aus. So werden oft Gottesdienste bei offiziell bedeutsamen Anlässen wie an staatlichen Trauertagen, der Inauguration einer neuen Regierung oder bei Todesfällen von prominenten BürgerInnen abgehalten, bei denen erwartet wird, dass auch RepräsentantInnen der Gesellschaft, die sich nicht als christlich verstehen, teilnehmen. Die Inanspruchnahme der Kirche gibt dem jeweiligen Ereignis eine besondere »Weihe«. Die religiöse Dimension stattet das Ereignis mit einer Aura des Außeralltäglichen aus. Sie weist darauf hin, dass es etwas »Größeres« gibt als das, was im aktuellen Tagesgeschehen erfahren werden kann, und was jenseits und über der konkreten Gemeinschaft der Anwesenden zu stehen scheint. Ebenso scheinen religiöse Bezüge bei dem Umgang mit dem Außergewöhnlichen, dem Abgründigen, Ungeheuren und Unheimlichen hilfreich zu sein. Wenn etwa eine Katastrophe in die Gesellschaft einbricht, wie etwa ein Amoklauf mit zahlreichen Toten, ein großes Bahnunglück etc., dann ist die Religion gefragt. Sie scheint zu helfen, das Unfassliche zu symbolisieren. Das gilt, wie wir sahen, nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Einzelnen, die oft außergewöhnliche Ereignisse in ihrem Leben religiös zu markieren wünschen. Auch sie nehmen die Kirche nur bei besonderen Schicksalsschlägen, wichtigen Entscheidungen und im Zusammenhang mit Übergangsriten wie bei Geburt, Eheschließung und Tod in Anspruch. Man will also auf die Kirche als »Liturgin« nicht verzichten. Sie stellt einen Raum für Klage und Trauer, für Besinnung und Freude zur Verfügung. Damit gibt sie auch Raum für das Feiern der Gemeinschaft. Denn indem die Menschen die verschiedenen Anlässe zusammen in einem bedeutungsvollen Rahmen begehen, bestätigen sie sich auch als Gemeinschaft.1

1 | Gemeinschaft stellt sich nicht von selbst her, sondern muss erfahrbar werden. Denn die Zusammengehörigkeit ist zunächst ein Abstraktum, also gegenständlich nicht sichtbar. Mithilfe von Symbolen und Riten wird sie wahrnehmbar. So kann man Gemeinschaft durch materielle Dinge wie Menschen, Tiere, Worte usw. eine Repräsentanz verleihen. Im nationalen Kontext sind dies etwa Fahnen, Hymnen und nationale Feiertage.

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Nach Emile Durkheim, einem der Gründerväter der (Religions-)Soziologie, gibt es keine Gesellschaft, die nicht das Bedürfnis hätte, die Kollektivgefühle und die Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen (vgl. Durkheim 2007/1912). Diese Wiederbelebung der Gemeinschaft kann seiner Meinung nach nur mit Hilfe von Vereinigungen, Versammlungen und Festen erreicht werden. Dabei spielt die Religion eine ganz entscheidende Rolle, denn sie verfügt sowohl über die entsprechenden Riten und Symbole, die Gemeinschaftserlebnisse erzeugen können wie auch über Erzählungen, die zur Identifikation einladen; dies auch deshalb weil diese oft schon in der Kindheit vermittelt wurden und damit die Emotionalität besonders ansprechen.2 Erst durch die Etablierung einer über die alltäglichen Erfahrungen hinausgehenden Welt vermag die Gesellschaft die Menschen in das Kollektiv zu involvieren, sie emotional an die Gemeinschaft zu binden und sie auf diese zu verpflichten.3 In der Geschichte Europas gibt es zahlreiche Beispiele, die diese Thesen Durkheims eindrucksvoll bestätigen. Für uns ist in dem Zusammenhang vor allem der Prozess der Nationbildung interessant, da dieser bis heute für das Verständnis von Gesellschaft zentral ist, und zwar gerade in dem Verhältnis von Religion und Säkularität. Denn mit der Nation wurde eine neue Form der Gesellschaft geschaffen, die zwar auf einem säkularen Konzept beruht, sich aber in vielerlei Hinsicht auf die Religion stützt.

Nationgründung als säkulare und religiöse Gemeinschaftsbildung Die moderne Nation 4 ist ein säkulares Konzept. Im politisch-republikanischen Verständnis bezieht es sich auf die gemeinsame Verwaltung ihrer Mitglieder, symbolisiert durch einen gemeinsamen Vertrag (contrat social); im ethnischen Sinn versteht die Nation sich als eine Schicksals- und Abstammungsgemein2 | Religion ist für ihn eine moralische Gemeinschaft, die sich durch ein »solidarisches System« von Überzeugungen und Praktiken konstituiert, die sich auf »heilige Dinge« ­b eziehen (vgl. Sellmann 2007: 203-259; Weinrich 2011: 190f.). 3 | Freud entwickelte diesen Gedanken anhand des Totemprinzips: nachdem der Gott des Klans nichts anderes als der Klan selbst sein kann, allerdings vergegenständlicht und geistig vorgestellt unter der sinnhaften Form von Pflanzen oder Tiergattungen, die als Totem dienen. Sie dienen der Markierung der Wir-Gruppe. Zum Thema Religion als Bindung (re-membering), als Formatierung kollektiver Identität siehe auch Assmann 2007: 20ff.; sowie zum konnektiven Gedächtnis (ebd. 110: 115). 4 | Nationen sind vorgestellte Gemeinschaften (vgl. Anderson 1983), da die Mitglieder niemals alle anderen kennen, ihnen begegnen oder auch nur vor ihnen hören werden. Sie existieren aber im Kopf, in der Vorstellung ihrer Gemeinschaft. Die Nation wird als eine Gemeinschaft vorgestellt, weil sie unabhängig von realer Ungleichheit und A­ usbeutung

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schaft und stützt sich dabei vor allem auf die Gemeinsamkeit von Sprache, Geschichte und Kultur. Gleichgültig, auf welchem Konzept der Schwerpunkt liegt, in jedem Fall mussten mit dieser neuen Gemeinschaft alte Identitäten und Loyalitäten aufgelöst oder zumindest partiell durch die Identifikation mit der Nation ersetzt werden. So galt es die Bindung an Fürsten und Könige auf die neue Gesellschaftsformation zu übertragen und die identifikatorische Verankerung in einer bestimmten Region auf das Land insgesamt zu beziehen. Auch die Religion sollte nun nicht mehr das primäre Identitätsmerkmal sein – das Mittelalter über hatten sich viele Einwohner Europas in erster Linie als Christenmenschen verstanden, aber nicht als Angehörige eines bestimmten Volkes, allenfalls als Angehörige einer Sprachgemeinschaft, wie etwa als Menschen »deutscher Zunge«. Um die politischen Verhältnisse umzustürzen und die Menschen von der neuen Gesellschaftsformation zu überzeugen, bedurfte es viel utopischer Phantasie und Einsatzbereitschaft. Deshalb waren die bürgerlichen Revolutionen stark von eschatologischen Motiven überformt. Die Revolutionäre in Frankreich – ähnlich den Gründervätern der USA – waren von einem starken Sendungsbewusstsein und dem Bewusstsein eigener Auserwähltheit getragen. Erzeugt wurde diese Überzeugung durch die Übertragung des christlichen Erlösungsgedankens auf die Nation. Dabei bedienten sich die französischen Revolutionäre bewusst sakraler Riten und Symbole und transferierten diese in einen säkularen Zusammenhang.5

als kameradschaftlicher »Verbund von Gleichen verstanden wird« (vgl. Hauck 2006: 152). 5 | So legte im Mai 1794 Robespierre dem Konvent einen Plan für den Kult des Höchsten Wesens vor. In der Begründung verwies er auf die Gefahren, die von einer atheistischen Gesellschaft drohten, und die Notwendigkeit, die Menschen dauerhaft auf Tugenden zu verpflichten, denn die Idee des höchsten Wesens sei ein dauerhafter Appell an das menschliche Gerechtigkeitsempfinden (vgl. Schlögl 2012: 122f.). Dies lässt sich an dem sogenannten »Fest der Einheit und Unteilbarkeit der Republik« veranschaulichen, das unmittelbar nach der Revolution in Frankreich eingeführt wurde: Das Fest bestand aus einem riesigen, 16 Stunden dauernden Festzug, bei dem ein Schrein aus Zedernholz mitgetragen wurde, der die Verfassung enthielt. Der Zug führte an monumentalen Statuen vorbei, die entweder die Natur symbolisierten, die Freiheit oder Herkules darstellten, der mit Worten wie »Aufklärung, Kraft und Arbeit« geschmückt war. Am Marsfeld angekommen, verbeugten sich alle vor der Freimaurerwaage, die mit blau-weiß-roten Bändern geschmückt war. »Viele, nicht alle Symbole waren der christlichen Tradition entnommen, der Freiheitsbaum ebenso wie das Winkelmaß der Freimaurer, das sie mit der Dreifaltigkeit gleichsetzten, oder der Bergaltar der Tugenden der Revolution, der an Moses erinnern sollte, der vom Berg Sinai die Gesetzestafeln geholt hatte.« (Burleigh 2008: 116)

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Die christlichen Symbole, Narrative und Werte waren unentbehrlich, um den revolutionären Enthusiasmus zu entfachen. Dazu diente nicht nur das Versprechen auf eine nationale Erlösung, sondern auch der Glaube an eine die ganze Menschheit umfassende Mission. Damit erweckten diese Revolutionen den Anschein, wie der zeitgenössische Beobachter Alexis de Tocqueville über die französische Revolution schrieb, »die Wiedergeburt des Menschengeschlechts noch mehr als die Reform Frankreichs zu erstreben. So hat sie eine Leidenschaft entzündet, wie sie bis dahin die heftigsten politischen Revolutionen niemals zu erzeugen vermocht hatten. Sie hat den Bekehrungsdrang eingeflößt und die Propaganda entstehen lassen. Dadurch hat sie auch jenen Anschein einer religiösen Revolution zu gewinnen vermocht, der die Zeitgenossen in Schrecken versetzt […] und die ganze Erde mit ihren Soldaten, Aposteln und ihren Märtyrern überschwemmt hat.« (zit. in Burleigh 2008: 20)

Hilfreich war dabei, wie auch bei der Gründung der Vereinigten Staaten, das Denken in den Kategorien der Apokalypse, das von einem bedrängenden, existenzbedrohenden Dualismus von Gut und Böse ausgeht, von Wahrheit und Lüge, Licht und Finsternis. Treibende Kraft bei den Versuchen, religiöse Inhalte in einen säkularen Kontext zu übertragen, war vor allem die Auffassung Rousseaus wie auch Voltaires, dass die BürgerInnen eine Religion brauchen, damit sie lernen ihre Pflichten zu lieben. Deshalb müsse die Gesellschaft, wie Rousseau in seiner Abhandlung zum Gesellschaftsvertrag ausführte, eine »Zivilreligion« entwickeln.6 Diese Religion müsse auf Symbole, Rituale und Mythen zurückgreifen, die möglichst viele Gesellschaftsmitglieder akzeptieren, um die Wertevorstellung des Staates möglichst umfassend bei den Menschen zu verankern (vgl.

6 | Die Glaubenssätze dieser Religion müssen nach Rousseau einfach sein, gering an Zahl, klar im Ausdruck. Sie basiere lediglich auf dem Glauben an die Existenz einer mächtigen, vernünftigen, wohltätigen, vorausschauenden und vorsorglichen Gottheit; dem Glauben an ein künftiges Leben und die Belohnung der Gerechten sowie die Bestrafung der Bösen, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze. »Es gibt nur einen negativen Satz: Unduldsamkeit. Sie gehört den Kulten an, die wir ausgeschlossen haben« (zit. in Weinrich 2011: 46). Aber die Dogmen dieser Religion sind für den Staat wie für seine Mitglieder nur insofern von Bedeutung, als sie die Moral betreffen und die Pflichten, die der Gläubige anderen gegenüber zu erfüllen hat. Darüber hinaus kann jeder glauben, was er will, ohne dass der Souverän es zu wissen braucht. Da er für die andere Welt nicht zuständig ist, geht ihn das, was das Schicksal seiner Untertanen im Jenseits sein wird, nichts an, wenn sie nur in dieser Welt gute Bürger sind (vgl. ebd.: 45).

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Weinrich 2011: 203).7 Es sollte also eine säkulare Religion geschaffen werden, eine Religion, die die Menschen auf eine innerweltliche anstatt eine außerweltliche Transzendenz verpflichtete. Beispielhaft dafür ist etwa ein Monument des revolutionären Frankreichs für die Göttin der Vernunft, die die Gesetzestafeln des Moses raubt. Die neue Gesellschaft wollte sich Autorität verschaffen, indem sie sich alte Überlieferungen aneignete. Die von den Menschen geschaffenen politischen Regelungen sollten zur Würde des Absoluten erhoben werden, indem ihnen ihr Flüchtigkeitscharakter genommen und suggeriert wurde, dass sie auf alten, »ehernen« Gesetzen beruhten. Das heißt, die Menschen sollten nun die neuen Gesetze genauso wie die alten achten und ehren (vgl. Graf 2006: 70).8 Das heißt, die christliche Religion wurde im Interesse eines säkularen Projekts funktionalisiert. Einerseits konnten die französischen Revolutionäre damit an tradierte Medien zur Überzeugungs- und Motivationsbildung anknüpfen, und gleichzeitig – und das macht den Unterschied zu den USA aus – konnten beziehungsweise wollten sie die christlichen Religion durch eine quasi-säkulare, durch eine Zivilreligion ersetzen. Fragt man, was das spezifisch Christliche an dieser Zivilreligion ist, also welche Inhalte aus dem Christentum auf die revolutionäre Situation übertragen wurden, so sind dies in erster Linie der Gedanke an eine Erlösung mit und durch die neue Nation, zum anderen der Gedanke eines missionarischen Auftrags, also die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in die ganze Welt hinauszutragen, und schließlich die Vorstellungen einer apokalyptischen Situation, in der es nur ein Entweder-oder gibt und es den ganzen Einsatz gilt, um »den Feind«, das heißt, »das Böse« zu bekämpfen. Diese Inhalte wurden insofern säkularisiert, als sie auf innerweltliche Ziele bezogen wurden – wie etwa im Fortschrittsdenken oder im Glauben an eine republikanisch-demokratische Weltmission. Denn der Endzweck einer säkularen Perspektive liegt nicht in der außerweltlichen Transzendenz, sie bezieht sich darauf allein als auf einen Resonanzboden. Eisenstadt hat den Glauben an die Macht, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich ändern zu können, als Jakobinismus bezeichnet, bei dem der Mensch sich als Schöpfer der Verhältnisse begreift und glaubt, aus eigener Kraft die Verhältnisse umstürzen und ganz neu gestalten zu können. Dabei 7 | Das Christentum selbst jedoch taugte nach Auffassung Rousseaus dafür nur begrenzt, da es Loyalität gegenüber Gott und einer Kirche mit ihrem Zentrum in Rom fordert und so in Widerspruch zum Nationalstaat gerate. Deshalb sei »mit dem Christentum kein Staat zu machen« (zit. in Tyrell 2008: 202). 8 | Vgl. Kap. 2. An dieser Stelle sei nur kurz daran erinnert, dass sich das Christentum bei seiner Etablierung in der Spätantike ähnlicher Mechanismen bediente: Es stattete sich mit den Insignien der Kaiserwürde des römischen Imperiums aus und konnte so seinem Machtanspruch Glaubwürdigkeit verleihen.

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maßt sich die Politik das Primat an. Ihr geht es um nichts weniger als eine absolute Absetzung von der Vergangenheit. Diese Absolutheit begründet sie mit der Absolutheit ihrer transzendentalen Visionen. Die damit legitimierte Unbegrenztheit des eigenen Wollens ist zutiefst gewaltträchtig. Im Fall der französischen Revolution mündete sie im Terreur (vgl. Eisenstadt 1999: 42, 59). Dem Versuch des Jakobinismus, das etablierte Christentum mit Gewalt zu verdrängen, war allerdings nur mäßiger Erfolg beschieden. Die Menschen hielten sich lieber an die tradierte Religion als den neuen Erfindungen Glauben zu schenken. Das erkannte Napoleon und verfolgte deshalb eine andere Strategie im Umgang mit der Religion: Er versuchte sie zwar auch für seine Politik zu funktionalisieren, beließ sie aber in ihrer überlieferten Form. »Nüchtern sah er in der Geistlichkeit einen Aktivposten unter anderen, dessen Wirksamkeit man ebenso quantifizieren konnte wie die von Soldaten – der Papst galt ihm als Äquivalent von 200 000 Soldaten auf dem Schlachtfeld« (Burleigh 2008: 147). Dementsprechend schloss Napoleon, als er an der Macht war, sehr bald ein Konkordat mit dem Papst (1801), das modellhaft für viele andere westeuropäischen Staaten werden sollte. Wenn wir von einer Fusion religiöser und säkularer Traditionen im Zuge der Nationbildung sprechen, handelt es sich teilweise um eine bewusste Funktionalisierung der Religion durch politischen Ideologen und Aktivisten. Wobei die Tatsache zur Geltung kommt, dass aufgrund der jahrhundertealten christlichen Tradition außer der christlichen wenig andere Symbolsprachen zur Verfügung standen, um die Menschen auf eine neue Gesellschaftsformation zu verpflichten. Allenfalls gab es noch die vorchristliche Antike, von der die französischen Revolutionäre auch lebhaft Gebrauch machten oder aber vorchristliche »heidnische« Narrationen und Riten. Auf Letztere haben sich bekanntlich viele deutsche Nationgründer zu stützen versucht. Allerdings war in Deutschland das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Religion nie so ausgeprägt wie in Frankreich. Hier wollte kaum jemand das Christentum als solches vertreiben. Weder war die Kritik an den Kirchen so radikal wie in Frankreich, noch nahm die Revolution einen solch stürmischen Verlauf. So war hier die Gründung der Nation von Anfang an von einer Kooperation zwischen Staat und Kirche, in Bezug auf die protestantische Kirche geradezu von einer Symbiose geprägt.

Nationgründung in Deutschland: Kooperation und Symbiose Die Sakralisierung der Politik verlief in Deutschland weniger als ein Wettstreit oder gar Kampf zwischen Vertretern der kirchlichen und weltlichen Macht, eher arbeiteten sie, wenn es um die Nation ging, einander zu, nach dem Motto: »Wer Gott dienen will, muss bei der Nation anfangen.« So spielten Pastoren und Theologen als Volksredner zu jener Zeit eine große Rolle, und viele riefen

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im Zusammenhang mit den Befreiungskriegen (1813-1815) gegen Napoleon zum gemeinsamen Kampf auf (vgl. Burleigh 2008: 208, 203, 209).9 Der berühmte protestantische Theologe und Philosoph Friederich Schleiermacher hielt 1813 Kriegspredigten, und Theodor Körner, der bekannteste deutsche Kriegslyriker, rief in seinen Gedichten zum »heiligen« Krieg auf. So wurde die Nation sakralisiert und die Religion nationalisiert – insbesondere im Protestantismus. Denn in diesem Zusammenhang muss deutlich zwischen Katholizismus und Protestantismus unterschieden werden. Der Protestantismus war über seine Landeskirchen aufs Engste mit der nationalen Politik verbunden,10 während der Katholizismus den nationalpolitischen Entwicklungen skeptisch gegenüberstand, da er seinen eigenen Vorstellungen einer ständischen theokratischen Ordnung und seiner »ultramontanen« Orientierung auf Rom verhaftet blieb. Die Kriege gegen Napoleon galten insofern als »heilige« Kriege, als sie für das »Höchste«, die Idee der Freiheit, geführt wurden. Damit waren sie einem universalen, absoluten Prinzip verpflichtet, das zwar säkular gefasst, zugleich jedoch als ein göttlicher Auftrag verstanden wurde. Dies Amalgam schuf ein Pathos, das die meisten Menschen ansprach. Eine solch emotionale Aufladung war auch deshalb notwendig geworden, weil diese Kriege den Einsatz der meisten männlichen Bürger erforderten – im Gegensatz zu den Armeen der Kabinettskriege der absoluten Fürsten – und Teile der Zivilgesellschaft in die Kämpfe involvierte. Die Propagandisten dieser Kriege wandten sich also an das ganze Volk und hofften so eine Einheit schmieden zu können. Sie machten das Vaterland zu einer Opfergemeinschaft und stilisierten das Volk zu einer wehrhaften Familie. »Die Soldaten starben für sie den Märtyrertod, ihr Zug in die Schlacht war ein Braut- und Hochzeitszug zum Altar des Vaterlands« (Schlögl 9 | Jeder Einzelne solle sich der nationalen Gemeinschaft weihen, und wenn es soweit kommen würde, auch bereit sein, das höchste Opfer darzubringen – den Märtyrertod auf dem Altar des Vaterlandes. So »predigte« Moritz von Arndt: Man solle Luther und den Papst hinter sich lassen, denn die »höchste Religion sei es, das Vaterland mehr zu lieben als Grafen und Fürsten, als Vater und Mutter, Frau und Kinder« (Burleigh 2008: 210). 10 | In Deutschland bereitete wie gesagt vor allem der Protestantismus den Weg für die Verschmelzung religiöser und säkularer Vorstellungen. Seit der Reformation hatte die protestantische Kirche ein enges Verhältnis zur Obrigkeit. Bis 1850 wurden die Pfarrer in Preußen auf den König vereidigt und in den Gesetzen als Staatsbeamte angesprochen. Die oberste Kirchenleitung war in einer Abteilung des Kultusministeriums verankert (vgl. Schlögl 2013: 242, 246). Ihre Weltorientierung führte dazu, dass sie dem Nationalismus einen hohen sozialmoralischen Kredit gab und viel religiöse Energien auf die Kulturnation übertrug. Mit dem Kaiserreich war die Beziehung zwischen Thron und Altar noch enger geworden, sodass protestantisch und deutsch immer mehr miteinander identifiziert wurden (vgl. Graf 2007: 113).

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2013: 221). Brüderlichkeit und Nächstenliebe, Kreuz und heiliges Selbstopfer, Auferstehung und ewiges Leben fanden starke Resonanz als Grundbegriffe einer neuen – zumeist nationalen – politischen Semantik (vgl. ebd.: 94). Das bedeutet nicht, dass nicht auch über säkulare Mythen und Medien Gemeinschaft hergestellt wurde. So war das Konzept der Nation auch darauf gegründet, dass die Menschen sich als eine Schicksals- und Abstammungsgemeinschaft verstanden in dem Sinn, dass ihre Gemeinsamkeit »natürliche« Wurzeln habe und in einer gemeinsamen »Ur-«Geschichte und Kultur gründe. Über diese naturalisierenden Konstruktionen hinaus wurde Gemeinschaft durch gemeinsame Projekte hergestellt, wie in Deutschland durch die »vaterländischen Befreiungskriege« und wie generell durch den damals eingeführten verpflichtenden Militärdienst für alle Männer.11 Auch die Schulbildung wurde zu einem wesentlichen Fundament der Nationbildung. Denn vor allem in der Schule wurde eine gemeinsame Geschichte vermittelt und damit eine Erinnerungsgemeinschaft hergestellt. Dies alles mit dem Ziel, eine politische Gemeinschaft zu schaffen, die mit der selbst entwickelten Verfassung und den neuen Institutionen eine Selbstverwaltungs- und Selbstverteidigungsgemeinschaft bilden sollte (Schlögl 2013: 189f.). Nationale Ereignisse wurden aber zugleich auch mit religiöser Rhetorik besetzt und als religiöse Feste begangen. So wurden Gottesdienste zur Vorbereitung von Kriegen gefeiert, aber auch bei der Beisetzung von im Krieg Gefallenen, bei der Inthronisation der Landesherren und deren Geburtstagen. Es wurden auch Gottesdienste bei den Zusammenkünften der Burschenschaftler, von vaterländischer Vereinen oder anlässlich von Streiks abgehalten. Das alles führte dazu, wie Graf beschreibt, dass die kirchliche Gottesdienstkultur aus den Kirchen auswanderte und neue öffentliche Räume besetzte (Graf 2004: 93f.). Man kann also in diesem Prozess direkt die Kulturalisierung, den Übergang der Religion in die nationale Kultur mit dem Ziel einer Vergemeinschaftung beobachten. Graf resümiert diese Entwicklung so: »Durch Religion wird die Gesellschaft zur Gemeinschaft transformiert, Äußerliches (bloß politisch-rechtliche Vergesellschaftung) zu Innerlichem vertieft, der politische Bürger und ökonomische Konkurrent in einen Nächsten und Bruder verwandelt« (ebd.: 94). Über die primär territorial und politisch definierte Gesellschaft wurde also das Bild einer von Gott gestifteten Gemeinschaft gelegt. »Aus Bürgern und Konkurrenten werden Brüder.« Was heißt das? Es scheint, als wenn auf wundersame Weise aus einer nüchtern kalkulierenden, auf die jeweils eigenen Interessen pochenden Gesellschaft der Individuen eine vertraute, einander vertrauende Gemeinschaft geworden wäre. Dieser schroffe 11 | »Die Erfahrung des allgemeinen Militärdienstes, die Grundausbildung der Armee und elitäre Führung trugen dazu bei, aus Bauern und Arbeitern Nationalisten zu machen« (Bayly 2006: 252).

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Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies) verrät eine Idealisierung familialer, affektiver Bindungen, wie sie auch bei der Idealisierung der christlichen »Ur-«Gemeinden wirksam ist. Danach waren alle Mitglieder der Gemeinschaft »ein Herz und eine Seele« und jeder stand für den Anderen ein. Sie verzichteten auf ihren privaten Besitz, pflegten Gütergemeinschaft und sorgten für die Armen, Witwen und Waisen. Dies Bild wurde und wird gegen das Konzept einer anonymen »Gesellschaft« ausgespielt, in der jeder nur seine eigenen Interessen verfolgt und die gegenseitige Missgunst nur durch einen Vertrag gezügelt werden kann. Dieser Vertrag kann keine emotionalen Bindekräfte entfalten und so leben in der »Gesellschaft« die Individuen vereinzelt und unbehaust zusammen. Die »Fliehkräfte« der Gesellschaft führen deshalb zur Desintegration, der allein durch eine Vergemeinschaftung entgegengesteuert werden kann. Der Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft ist ein Topos, der (zumindest in Deutschland) zum Kern des christlich-säkularen Gesellschaftsverständnisses gehört. Hier wird die Brüderlichkeit als ein primär christliches Phänomen verstanden und die Gesellschaft als ein »weltliches«. Tatsächlich wurde die »Gemeinschaft« der Deutschen ebenso durch gemeinsame Kriege »geschmiedet«, durch den Kampf gegen die Feinde oder den Stolz auf die eigenen Leistungen. Denn zweifellos gibt es nicht nur die rationale Form der Vergesellschaftung, in der es um nüchternes Kalkül geht (vgl. Weber 1995/1921: 306), sondern ebenso bedarf es affektiver Bindungen, die, wie wir sahen, durch Inszenierungen der Gemeinschaft in Form von Festen, die Zitierung nationaler Symbole oder die Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte hergestellt werden. Es geht nicht darum, die Mechanismen der Vergemeinschaftung in Frage zu stellen oder ihre Notwendigkeit für das Schaffen gegenseitiger Verantwortung und Loyalität zu bestreiten, sondern darum, zu hinterfragen, ob die »Gemeinschaftsbildung« einfach der Religion zugeschrieben werden kann und die negativen Folgen moderner Individualisierung der Gesellschaft. Dies Phänomen ist uns bereits bei der Debatte um christliche versus säkulare Soziale Arbeit begegnet: Das »Menschliche«, die individuelle Sorge um den Anderen wird dem kirchlichen Bereich zugeschlagen, die psychosoziale Versorgung als Rechtsanspruch – und damit auch potentiell die negativen Folgen von Institutionalisierung, Bürokratisierung und Gerechtigkeit – hingegen dem Staat. Diese Spaltung durchzieht, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, auch die Debatte um christlichen Werte und deren angebliche Unentbehrlichkeit für die moralische Orientierung in der Gesellschaft. Für unsere Frage nach der Bedeutung christlicher Traditionen in einer säkularen Gesellschaft können wir an dieser Stelle die Hypothese formulieren, dass der Wunsch in der Bevölkerung nach einer christlichen Fundierung der Gesellschaft auf einer (unbewussten) Idealisierung der Gemeinschaft im

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­ egensatz zur Gesellschaft beruht, die sich wiederum auf die Idealisierung G der christlichen »Ur-«Gemeinden stützt. Für die Identifikation von deutscher Nation und Christentum war, wie wir sahen, insbesondere der Protestantismus unentbehrlich.12 So gab es in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, wie Graf schildert (vgl. Graf 2004: 73ff.), einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über das Schicksal der Religion in der modernen Zeit. Viele waren davon überzeugt: »Ohne Religion seien Gesellschaft und Staat zum Untergang verurteilt. Denn nur durch Religion könne die Gesellschaft zu einem Körper geformt, eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Obrigkeit und Bürgern gefördert, der öffentliche Friede gewahrt und jener moralische Sinn der Bürger – und erst recht der Kinder und Jugendlichen! – gebildet werden, ohne den es keine innere Bindung an das Gesetz, kein Pflichtbewusstsein gebe« (ebd.: 81).

Sie sahen in der Religion die normative Grundlage der Kultur, das moralische Fundament des Staates und die Basis der Rechtsordnung. Die Religion schien vielen so unentbehrlich zu sein, dass manche sogar forderten, dass sie für deutsche Staatsbürger zur Pflicht würde. Seit 1820 wurden dafür »moralstatistische« Untersuchungen durchgeführt, um die heilsame Auswirkung der Kirchentreue auf Sitte, Fleiß und öffentliche Ordnung zu messen (ebd.: 80ff.). Damals wurde also Religion als eine unerlässliche Grundlage der Gesellschaft verstanden. Denn, so die Argumentation, die wir auch aus der heutigen Debatte kennen, die Bürgerinnen und Bürger brauchen verbindliche Deutungsmuster, Werte und Verhaltensregeln, um eine Gemeinschaft zu bilden. Nur so sei eine politische Integration der Nation zu erreichen.13 Damit war selbstverständlich nur die Integration der Christen gemeint. Insofern wurden den Juden in vielen »demokratischen« Verfassungen die staatsbürgerlichen Rechte verweigert. In den USA wurde nicht nur ihnen, sondern auch den Atheisten das Bürgerrecht verwehrt. Das berühmte »All men are created equal« galt nicht für sie; denn, so die Argumentation von Locke, Atheisten könnten keine 12 | Dies vor allem in Form des Kulturprotestantismus: Er hatte den Anspruch, in der Gesellschaft konsensfähige kulturelle Normen und Werte zu vermitteln und so das Fundament für die politische Integration des Gemeinwesens zu legen. Dabei wurde die Reformation zum normativen Ursprung der Neuzeit stilisiert. Der Kulturprotestantismus verstand sich als eine welthistorische Mission und einem weltverneinenden Katholizismus überlegen. 13 | Dabei bestand der spezifische Beitrag der protestantischen Theologie nach Rehmann damals auch darin, durch »Stilisierung der Reformation zum normativen Ursprung der Neuzeit das Idealbild einer wahren, durch eine rein christliche Ursprungsgeschichte geprägten Moderne zu entwerfen« (Rehmann 1998: 216).

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Bürger sein, weil für sie Verträge und Eide, die das Band der Gesellschaft sind, keine Bedeutung hätten. »Gott auch nur in Gedanken wegnehmen, heißt alles dieses aufzulösen« (zit. in Weinrich 2011: 35). Die Gemeinschaft in der Religion galt als Vorbedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Formen der säkularen wie auch der religiösen Vergemeinschaftung stehen dem Konzept einer demokratischen Vergesellschaftung insofern entgegen, als sich die Gesellschaft – im Prinzip zumindest – durch die Aushandlung gemeinsamer Regelungen und das Austragen von Interessenskonflikten bildet. Je mehr jedoch zur Grundlage der Gesellschaft eine Gemeinschaft gemacht wird, die auf einer vorhistorischen Wesenheit oder auf einer außerweltlichen Vorsehung beruhen soll, desto mehr werden die Funktkionsmechanismen der Nation einer bewussten Reflexion entzogen. Die Nation wird essentialisiert. Insofern wirkt die Sakralisierung der Nation ebenso entmündigend wie deren Naturalisierung – also die Behauptung eines natürlichen Ursprungs und Ziels im Sinne einer naturgesetzlichen Entwicklung eines Volkes. Beide Strategien haben insofern dieselbe Funktion, als die Nation, also ein soziales Phänomen, als ein ewig gültiges Gebilde präsentiert und damit sein Entstehungszusammenhang unsichtbar gemacht wird.

Resümee Im revolutionären Frankreich wurde die Nation nicht nur gegen die Feudalherrschaft, sondern auch gegen die Macht der katholischen Kirche erkämpft. Zugleich wurden jedoch christliche Erzählungen, Symbole und Riten in Anspruch genommen, um die Menschen auf die neuen Ziele zu verpflichten und sie für die Revolution zu begeistern. Damit sollte zugleich die christliche Symbolsprache von der säkularen überlagert werden, um erstere immer mehr zu ersetzen. Nicht so in Deutschland. Hier muss man eher von einer Kooperation, ja teilweise sogar von einer Symbiose zwischen Religion und säkularen Kräften sprechen. Religion und Säkularität bilden hier keinen Gegensatz, sondern im Gegenteil, sie diffundieren und befeuern sich gegenseitig. Verantwortlich für diese unterschiedliche Situation ist vor allem der Protestantismus, der sich seit der Reformation eng an die staatlichen Mächte angeschlossen hatte. Die Bildung einer einheitlichen deutschen Nation wurde so zu einem quasireligiösen Projekt. Dennoch ist Nation ein eminent säkulares Konzept, auch in seiner deutschen, eher ethnisch fundierten Variante, als einer auf gemeinsamer Abstammung, Sprache und Kultur gegründeten Gemeinschaft. Insofern mündete die Fusion von säkularen und religiösen Vorstellungen bei der Nationbildung auch in Deutschland in eine Kulturalisierung des Christentums. Religiöse Gefühle werden mit säkularen Konzepten so verbunden, dass sie nicht mehr auf ­Glaubensüberzeugungen angewiesen sind. Man könnte auch sagen, dass die Religion in dem Zusammenhang ein Stück weit »säkularisiert« wurde.

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Das bedeutet, dass Menschen die Religion durchaus als ein Fundament ihrer Gesellschaft betrachten können, auch wenn sie selbst sich nicht als religiös verstehen. Sie rekurrieren auf religiöse Erzählungen, Bilder und Symbole, ohne unbedingt damit Religiosität zu verbinden oder sich diesbezüglich selbst verpflichtet zu fühlen. In diesem Sinn wird das Christentum von vielen als eine kulturelle Basis dieser Gesellschaft verstanden. Es bedurfte also nicht unbedingt der bewussten Ersetzung der Religion durch eine Zivilreligion, um die sich die französischen Revolutionäre bemühten, sondern auch die symbiotischen Beziehungen zwischen Religion und Säkularität wie in Deutschland führten zu einer tendenziellen Entbindung ihrer Verankerung in der Transzendenz. Somit wird das säkulare Konzept der Nation mit christlichen Bedeutungsgehalten durchdrungen. Ein wesentliches Moment dabei ist die Vorstellung, dass Gemeinschaft im Sinne eines Gefühls der Zusammengehörigkeit, des gegenseitigen Vertrauens und der Solidarität primär über Religion hergestellt wurde und wird. Während die Gesellschaft, als vertraglicher Zusammenschluss vereinzelter und ihre je eigenen Interessen verfolgender Individuen dem säkularen Bereich zugehört. Diese Vorstellung, die nicht nur das Bild kirchlicher versus säkularer Fürsorge prägt, ist ein wesentliches Merkmal eines christlich-säkularen Gesellschaftsverständnisses und damit auch des kulturellen Christentums. Große Kracht beschreibt diese Transformation in Bezug auf den politischen Bereich als einen Prozess, bei dem die transzendenten Wurzeln des Politischen durch die bürgerlichen Revolutionen gekappt wurden. Nun gilt es sich aus sich selbst heraus zu regieren. Diesen leer gewordenen Ort der Macht kann man entweder transzendenz- und metaphysikfrei halten (vgl. Große Kracht 2012: 271) oder »ihn durch Wiedereinführung einer den einzelne Bürgern übergeordneten, kritik- und diskursenthobenen Legitimationsquelle des Politischen erneut besetzen; sei es im Rekurs auf den Willen Gottes und die Gebote einer Heiligen Schrift, auf eine ewig gültige, für alle Menschen einsehbare Naturordnung der Dinge, auf vorgegebene geschichtsphilosophische Notwendigkeiten, materiale Vernunftwahrheiten, übergeordnete Identitäten und Interessen der Nationen oder Ähnliches« (ebd.).

Allerdings tritt ein religiös-säkularer Vergemeinschaftungs- beziehungsweise Vergesellschaftungsprozess wie der der Nationbildung in Widerspruch zu anderen Vergemeinschaftungsformen  – und hat dies von Anfang an getan. So fühlten sich dadurch nicht nur explizit säkulare und atheistische Menschen ausgeschlossen, sondern auch Andersgläubige und – über lange Phasen der Nationbildung in Deutschland hinweg  – auch die Katholiken. Denn ein grundsätzliches Problem der religiösen Vergemeinschaftung ist, dass die Ausdehnungsgrenzen des Glaubens sich in aller Regel nicht mit den politischen,

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territorialen oder ethnischen Grenzen der Nation decken. Die katholische Kirche etwa steht mit ihrem universalen Anspruch und ihrem Zentrum in Rom ohnehin quer zu Formen der nationalen Gemeinschaftsbildung. So bestand eine der tiefsten Spaltung der deutschen Nation im Gegensatz zwischen den Konfessionen. Eine religionsbasierte Vergemeinschaftungsform ist also immer auch ein Unruheherd, wenn sie nicht gar zu Kampf und Auflösung von politischen Gemeinschaften führt – wie die vielen Religionskriege in der Geschichte gezeigt haben. Nicht umsonst hatte bereits Rousseau festgestellt, dass mit dem Christentum kein Staat zu machen sei.

R eligion und A usgrenzung Die Frage, wer gehört dazu und wer nicht, wurde im Zuge der Nationbildung besonders virulent, da es ja zu definieren galt, wer das Volk ist, das sich hier gemeinsam verwaltet. Solange etwa ein König die politische Autorität innehatte, hatte das Thema »wir« und »sie« keine so große Bedeutung; alle waren UntertanInnen des Monarchen, wenn auch mit unterschiedlichem königlichem Schutz ausgestattet (vgl. Bayly 2006: 271). Die Nation, die auf die aktive Mitwirkung ihrer BürgerInnen vor allem auch in den Kriegen angewiesen war, musste nun eindeutiger und für alle nachvollziehbar definieren, wer zur Grundgesamtheit des nationalen Kollektivs gehört und wer deren Rechte genießen kann und deren Pflichten einzuhalten hat. Nicht nur bei der Erfindung des neuen »Wir« schöpfte die Nation aus dem christlichen Erbe, sondern auch bei der Konstruktion »der Anderen«, der Feinde der Nation. Dabei gab es nicht nur die äußeren Feinde, wie für das junge Deutschland in erster Linie die Franzosen, auf deren Kosten die »Wesenheit« der Deutschen definiert wurde, sondern es gab auch den »inneren Feind«, der vor allem von den Juden repräsentiert wurde. Bei diesem Feindbild konnten sich die national gesinnten Deutschen auf eine lange christliche Tradition stützen. Im Zuge dieser Funktionalisierung des christlichen Antijudaismus für die säkulare Gemeinschaftsbildung wurde dieser zunehmend seiner christlichen Begründung beraubt und durch eine säkularen Antisemitismus ersetzt beziehungsweise ergänzt. Auch dies ein Beispiel für die Säkularisierung religiöser Denkfiguren.

Vom christlichen Antijudaismus zum säkularen Antisemitismus Der säkulare Antisemitismus wurde in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts ausformuliert. Viele seiner argumentativen Wurzeln finden sich jedoch im christlichen Antijudaismus (vgl. Poliakov 1979), der über Jahrhunderte hin-

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weg zur Diskreditierung der Juden aufgerufen hatte. Für die Christen stellte, wie in Kap. 2 bereits ausgeführt, das Judentum von Anfang an eine besondere Herausforderung dar, weil es den Wahrheitsanspruch des Christentums und damit die eigene Existenzberechtigung in Frage gestellt hatte, was bildhaft in dem Vorwurf zum Ausdruck kam: Die Juden hätten Christus getötet. Solange die Differenz zwischen Juden und Christen jedoch als eine religiöse verstanden wurde, konnte dies »Problem« – zumindest im Prinzip – durch die Taufe »gelöst« werden, wenngleich die Christen die Glaubwürdigkeit der Konversion der Juden immer wieder in Frage stellten. Aber mit der Moderne wurden diese religiösen Differenzen sukzessive in biologisch begründete Unterschiede umgedeutet und die Juden der »semitischen Rasse« zugeordnet. Der Übergang zum biologistischen Rassebegriff war mit einem ethnischen Nationbegriff verknüpft, nach dem die Nation als eine in einem fernen Ursprung wurzelnde, organischen Einheit verstanden wurde. Dieser Einheit der sich als redlich, bodenständig und tapfer verstehenden »Deutschen« wurde »der« Jude gegenübergestellt als ein diese »gewachsene Gemeinschaft« zersetzender Feind. Im nationalistisch-völkischen Antisemitismus wurde das »jüdische Wesen« als dem deutschen völlig entgegengesetzt vorgestellt: Deutsche Innigkeit, deutsches Gemütsleben, deutscher Glaube und deutscher Idealismus standen gegen jüdischen Sarkasmus, jüdischen Skeptizismus und jüdischen Materialismus (vgl. Hoffmann 1990). »Der« Jude wurde zum Prototyp des »Fremden« gemacht – und zwar nicht eines Fremden, der aus der Ferne kommt, sondern eines »unsichtbaren«, inneren Fremden. Dieser Gegensatz zwischen Nähe und Fremdheit ist ebenfalls im Christentum angelegt, das dem Judentum seine Existenz verdankt und seinen Ursprung zugleich leugnen und ungeschehen machen möchte. Mit der Überführung des Antijudaismus in den Antisemitismus, das heißt, der Zuordnung von Juden und Jüdinnen zu einer »semitischen Rasse«, wurden unüberbrückbare, absolute Grenzen gezogen.14 Die religiös-kulturell begründeten Differenzen wurden nun dem »Blut« eingeschrieben. Von jetzt an galten die Unterschiede als angeboren und weiter vererbbar (von Braun 2005: 72). Eine solche Transformation eines primär religiösen Konzepts in ein biologistisch argumentierendes säkulares Konzept war allerdings durch eine biblische Argumentation vorbereitet worden: Der biblische Fluch »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« (Mt 27, 25) weist bereits auf eine 14 | Der Begriff »Antisemitismus« wurde 1879 von dem Journalisten Wilhelm Marr geprägt, der in seiner Hetzschrift Vom Sieg des Judentums über das Germanentum einen Bruch mit dem christlichen Antijudaismus forderte und den Antisemitismus »wissenschaftlich« zu begründen suchte, indem er Juden und Jüdinnen auf der Basis einer vermeintlich existierenden »semitischen« Sprachgemeinschaft als eigene »Rasse« konstruierte.

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»­Vererbung« der Schuld hin. Dementsprechend wurden im Zuge der Reconquista des christlichen Spaniens Moslems und Juden bis in die siebte Generation hinein mit Misstrauen verfolgt, denn den »wahren« Christen glaubte man an der »Reinheit des Blutes« (limpieza del sangre) zu erkennen.15 Das bedeutet nicht, dass es nicht auch andere als christliche Quellen für den völkisch-nationalen Antisemitismus gab und gibt, so neben dem Antisemitismus der Aufklärung16 etwa auch einen »linken Antisemitismus« (vgl. Holz 2005). Insofern konvergieren im biologistisch argumentierenden Antisemitismus verschiedene Formen der Judenfeindschaft. Das Beispiel des Antisemitismus zeigt, wie die positive Identifikation mit einer Gemeinschaft oft auf Abgrenzungen von negativ konstruierten Anderen basiert, und zwar sowohl in Bezug auf die äußeren wie auf die »inneren Feinde« der Gemeinschaft. Erinnern wir uns an das Gleichnis vom Sauerteig bei Paulus, der schon die frühen Christengemeinden dazu aufrief, wachsam zu sein, um die Sünder in den eigenen Reihen zu identifizieren, die der Gemeinschaft gefährlich werden könnten. Psychodynamisch gesehen ist das kollektive Wir-Bild umso ausgrenzender, je mehr es sich selbst idealisiert und die negativen Aspekte abzuspalten sucht. Diese werden dann auf die »Anderen« verschoben. Diese Verschiebungen machen die Anderen jedoch zu einer Bedrohung, weil sie die kollektive Selbstüberschätzung gefährden könnten. Sie könnten auf die Schattenseiten verweisen und das Verdrängte ans Licht bringen. Damit würden sie die Gegenkräfte innerhalb der Gemeinschaft wachrufen und die inneren Spannungen und Widersprüche deutlich werden lassen. Das heißt, starke Selbstidealisierungen benötigen massive Abspaltungen. Indem die negativen Anteile auf die Anderen übertragen werden, werden diese besonders gefährlich. Allein ihre Präsenz kann die ersehnte Einmaligkeit und phantasierte Außergewöhnlichkeit der eigenen Gemeinschaft gefährden.17 Angesichts der hohen Moralstandards im 15 | Schließlich waren auch im Nationalsozialismus die Übergänge zwischen religiös und rassistisch argumentierendem Antisemitismus fließend. So veröffentlichten 1941 die Kirchenoberen von sieben evangelischen Landeskirchen in Deutschland gemeinsam eine offizielle Erklärung, in der es hieß, die Juden könnten wegen der Eigenheit ihrer Rasse nicht durch die Taufe erlöst werden, denn sie seien für den Krieg verantwortlich und »geborene Welt- und Reichsfeinde«. Sie forderten deshalb »schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen Landes auszuweisen« (Goldhagen 2002: 219). 16 | Siehe Kap. 2, 5. 17 | So fühlen sich manche Menschen schon durch alltägliche Gewohnheiten bedroht, die nicht mit den ihren übereinstimmen, so etwa wenn andere Menschen sich anders kleiden oder andere Speisen essen. Dies »abweichende« Verhalten symbolisiert eine Grenzziehung. Die massiven Auf- oder Abwertungen, die sich daran knüpfen können,

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Christentum ist, wie wir sahen, seine Tendenz zur Selbstidealisierung besonders ausgeprägt. Darauf wies bereits Sigmund Freud hin, als er die Forderung nach Nächsten- und Feindesliebe paradoxerweise als eine der gegenseitigen Verständigung abträgliche Forderung bezeichnete.18 Der Antisemitismus ist jedoch nur ein Beispiel für die Vergemeinschaftung auf Kosten anderer. Das westliche Christentum mit seiner anhaltenden Geschichte der Verfolgung von Anders-, »Falsch«- und Nichtgläubigen und seiner ausgeprägten Tradition der Selbstidealisierung auf der Basis einer hochgesteckten Moral liefert mannigfache Vorlagen für eine solche Form der Gemeinschaftsbildung. Heute wird diese Grenze vor allem gegenüber »dem« Islam gezogen, der die Identität der westlich-christlichen Kultur zu gefährden scheint. Deshalb ist zu fragen, ob der vermehrte Ruf nach einer christlich fundierten Gemeinschaftsbildung heute nicht auch Tendenzen der Selbstidealisierung und Abschottung gegenüber den »Anderen« zum Ausdruck bringen soll. Das würde die These des konservativen Grundmotivs (vgl. Smith 2000) beim Rekurs auf das Christentum noch etwas pointieren: Es geht nicht einfach darum, dass alles so bleiben soll, wie es ist, sondern darüber hinaus auch darum, die Überlegenheit der christlichen Mehrheitsgesellschaft angesichts pluraler und globaler Lebensverhältnisse zu wahren, indem man zur religiösen Selbstbestätigung gegenüber den »Anderen« aufruft. Allerdings hat das Christentum mit seinem universalen Anspruch auch Strategien der Kooperation entwickelt. Auf diese werde ich im letzten Teil eingehen, wenn es um Fragen der Interkulturalität und Multireligiosität in einem christlich-säkularen Kontext geht. Hier geht es zunächst um die Frage, verweisen auf dessen große Symbolkraft. Gemeinschaft ist also nicht nur die Dichte der Interaktionen und daraus abgeleiteter Selbstverständlichkeiten und Normerwartungen, sondern sie ist Teil der eigenen Identitätsverankerung und bedarf deshalb einer ständigen Bestätigung. Die Symbole alltäglichen Verhaltens dienen als Erkennungsmerkmale. Schon kleine Abweichungen irritieren und können heftige Aggressionen auslösen. 18 | Freud hat im Wesentlichen zwei Argumente, die seiner Meinung nach die Dysfunktionalität der Feindesliebe belegen: Zum einen sind Liebe ebenso wie Aggression notwendig, um Nähe und Distanz in der Dynamik sozialer Strukturen herzustellen. Denn eine unterschiedslose Akzeptanz des Anderen unterläuft eine soziale Ordnung, in der die Menschen in differenzierter Weise aneinandergebunden sind. Durch Gefühle der Zuneigung und Abneigung wird diese Dynamik gesteuert, und insofern hat auch Zurückweisung des Anderen eine soziale Funktion. Feindesliebe tut den Nahestehenden Unrecht, da die Liebe nicht mehr auswählt, sondern gleichermaßen akzeptiert. Nicht alle Menschen sind für alle gleichermaßen liebenswert (vgl. XVI: 461). Insofern hätte das Gebot der Feindesliebe eine Inflation der Liebe zur Folge, das nicht die Not beseitigen, sondern nur den Wert der Liebe herabsetzen würde (vgl. XIV: 503).

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welchen Beitrag das Christentum für die Entstehung eines Zusammenhalts aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft geleistet hat. Das bezieht sich einmal auf Fragen der Grenzziehung, wer gehört dazu und wer nicht, aber auch auf die Frage, ob sich die Betroffenen mit der Gesellschaft identifizieren; ob sie mit ihrer sozialen Ordnung einverstanden sind und diese Gesellschaft als die ihre erleben und Loyalität für sie entwickeln. Auch für die Bestätigung der sozialen Ordnung spielte das Christentum eine große Rolle; ja es wurde, wie wir sahen, von den nationalen Eliten geradezu exzessiv in Anspruch genommen, um der neuen gesellschaftlichen Ordnung höhere Weihen zu verleihen – aber es wurde auch benutzt, um die etablierten Verhältnisse zu kritisieren.

R eligion als A ffirmation und K ritik der gesellschaf tlichen O rdnung Was die Bedeutung der Religion für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung betrifft, ist die Marxsche Theorie, die von der Religion als dem Opium des Volkes spricht, sicherlich die populärste. Marx geht davon aus, dass Religion der Not der Menschen entspringt, als »ein Seufzer der bedrängten Kreatur«, die sich mit Religion zu betäuben versucht, um ihr Leiden ertragen zu können (Marx in Schlieter 2010: 100). In der marxistischen Debatte ist Religion vielfach auch als Opium für das Volk verstanden worden, als Manipulationsinstrument der Mächtigen, um die ausgebeuteten Menschen auf eine andere Welt zu vertrösten und sie angesichts ungerechter Verhältnisse ruhigzustellen. Gleichgültig ob Religion als Bedürfnis der unterdrückten Menschen oder als Instrument der Mächtigen verstanden wird, Religion fungiert hier im Sinne der Affirmation der bestehenden ungerechten Verhältnisse. Sie täuscht, vertröstet und manipuliert. Sie rechtfertigt die weltliche Macht und ihre ­Ordnung.19 Grundzüge dieser Kritik waren bereits in der Aufklärung laut geworden, in der, wie wir sahen, der Religion und vor allem ihrer kirchlichen Organisation vorgeworfen wurde, ein Hemmnis für die menschliche und gesellschaftliche Entwicklung zu sein. Der Mensch würde in seinem Streben nach Vervollkommnung auf das Jenseits gelenkt, anstatt auf der Welt und bei sich selbst zu beginnen. So wurde den irdischen Möglichkeiten die Aufmerksamkeit zugunsten des Himmels entzogen. Religion wird hier als eine Art kollektiver Fluchthelfer verstanden – bei der Flucht aus gesellschaftlichen Nöten, aus psychischen Konfliktlagen oder aus existentiellen Krisen –, indem sie Illusionen als Sinnaussagen anbietet. 19 | Zur Funktion der Religion für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung vgl. auch Assmann 2000: 171ff.

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Zudem werde Religion als ein Herrschaftsmittel eingesetzt, indem sie die Menschen zu Gehorsam gegenüber den Gesetzen und Unterwürfigkeit gegenüber weltlichen und geistlichen Autoritäten anhalte. Bereits seit der Antike wurde den Priestern unterstellt, dass sie die Religion erfunden hätten um ihres eigenen Vorteils willen. Dieser Gedanke des Priesterbetrugs wurde in der Aufklärung wieder aufgegriffen (vgl. Reichardt 2012: 62ff.). Genau die entgegengesetzte Argumentation finden wir bei denjenigen, die auf das gesellschaftskritische Potenzial der Religionen verweisen. Dies ergebe sich aus der relativen Unabhängigkeit von der weltlichen Ordnung, die man durch den Bezug zu einem Außerweltlichen gewinnt. Nach Augustinus war ja der Gottesstaat die eigentliche, verbindliche und ideale Ordnung. Mit seinem ewigen Frieden, seiner Gerechtigkeit und Wahrheit war er der eigentliche Maßstab für die irdische Gesellschaft. Insofern besitzt der Christ eine doppelte Bürgerschaft, die ihm in besonderer Weise ermöglicht, die weltlichen Verhältnisse zu kritisieren. So kann das weltlich Immanente, die politische Herrschaft wie auch die religiöse Autorität, immer sub specie Dei unter Rekurs auf das göttliche Gesetz relativiert werden. Damit erzeugt die radikale göttliche Transzendenz, so Graf, ein produktives Unruhepotential (vgl. Graf 2006: 36). Diese Auffassung einer durch die theozentrische Distanz zur Welt induzierten kritischen Position geht gelegentlich soweit, diese als die einzig mögliche Form der Kritik zu begreifen und damit nicht-religiösen Menschen die Fähigkeit zur Kritik generell abzusprechen. So meinte etwa die kritisch engagierte evangelische Theologin Dorothee Sölle: »Menschen ohne Glaube verlieren eine utopische Dimension, weil sie auf Vernunft reduziert sind und nicht mehr das Ganze im Blick haben« (zit. in Weinrich 2011: 280). Der Mensch ohne Religion sei leichter zufrieden zu stellen, weil er ein so großes Ziel wie das Ganz-Sein, das nicht-zerstückelte Leben erst gar nicht ersehne.20 Hier wird der religiöse Transzendenzbezug zur Vorbedingung von Kritik gemacht, und jegliche Transzendenz als eine religiöse definiert. Erinnern wir 20 | Nach dieser Auffassung braucht der Mensch Ideale und Objekte der Verehrung, um über sich hinauszuwachsen. Diese Orientierung am Ideal als Grundbedingung der Kritik versteht auch Erich Fromm als eine wesentlich religiöse: Der Mensch braucht Ideale beziehungsweise Objekte der Verehrung, um über die notwendige Orientierung zu verfügen. Wir brauchen ein Ziel, an dem wir uns orientieren können. Ein Weltbild reicht dazu nicht aus. Das religiöse Bedürfnis, das Bedürfnis, die isolierte Existenz mit all ihren Zweifeln zu transzendieren und dem Leben einen Sinn zu geben, wurzelt in der Existenzbedingung des Menschen, durch die der Mensch gedrängt wird, über sich hinauszuwachsen. Deshalb ist er auch der Auffassung, dass es keinen Menschen gebe, der nicht ein religiöses Bedürfnis habe. Alle Menschen seien »Idealisten« (vgl. Weinrich 2011: 231f.).

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uns jedoch an die unterschiedliche Reichweite von Transzendenz:21 Sie ist nicht notwendig, wie die religiöse, außerhalb der Welt verankert, sondern auch eine innerweltliche Transzendenz (von Luckmann als mittlere bezeichnet) lässt die Menschen aus der Verstrickung des Hier und Jetzt heraustreten und sich an allgemeinen Werten und Perspektiven orientieren. Eine Distanznahme zu den vorgefundenen Verhältnissen ist kein Privileg oder gar Alleinstellungsmerkmal der religiösen Transzendenz, sondern bezieht sich auch auf innerweltliche Transzendenzen, die, wie etwa die antike Philosophie, das Gemeinwohl und das individuelle Glück zur Richtschnur haben. Möglich, dass die religiöse Transzendenz eine besondere Autorität erheischt, da sie sich mit dem Gewicht außerweltlicher Mächte ausgestattet weiß. Dennoch hat Religion kein Monopolanspruch auf Innehalten und Reflexion. Was die Behauptung einer grundsätzlich kritischen Position des Christentums anbetrifft, so wird diese durch eine affirmative christliche Theologie Lügen gestraft. Schon der Begriff der politischen Theologie, auf den sich etwa Dorothee Sölle stützte, wurde von einem Carl Schmitt 22 ebenso in Anspruch genommen, wie er heute von einem Johann Baptist Metz genutzt wird (vgl. Schüssler et al. 2011). Zudem ist dies, wie so oft, nicht nur eine theologische, sondern auch eine empirische Frage. Inwiefern kann das Christentum glaubwürdig als eine kritische Instanz gegenüber der Gesellschaft gelten angesichts einer jahrhundertelangen Geschichte der Kooperation, wenn nicht gar Symbiose mit der jeweils herrschenden Macht.23 Ernst Troeltsch versuchte in seiner Untersuchung über die »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« (Troeltsch 1994/1912) die theologischen und die empirischen Argumente zusammenzuführen, um die politische Positionierung des lateinischen Christentums zu charakterisieren: Seiner 21 | Kap 1. 22 | Carl Schmitt, konservativer Jurist und politischer Philosoph, der als »Kronjurist« des Nationalsozialismus gilt. Johann Baptist Metz, kritischer katholischer Theologie, der sich wesentlich auf die in Lateinamerika entwickelte »Theologie der Befreiung« beruft. 23 | »Die lateinische Kirche war das Mittelalter hindurch aufs engste mit der Feudalherrschaft verbunden. Die Klöster waren im Wesentlichen Einrichtungen für den Adel, und die Bischofsstühle fest in adliger Hand« (Schlögl 2013: 63). Die Kirche war Großgrundbesitzer und Stütze des Throns – ein Grund, warum in der französischen Revolution so viel Hass gegen die Kirche entbrannte. Aber auch die Reformation entwickelte eine Kirchenwesen ganz unter dem Patronat des Landesherren, das die Kirchenleitung völlig in den Staatsapparat integrierte. »In bestimmten Abteien galt die Ahnenprobe, daß väterlicher- und mütterlicherseits je sieben Adelsgenerationen nachzuweisen waren. Sogar den Stuhl Petri nahmen immer ausschließlicher Adelige ein« (Angenendt 2009: 202).

7. Das Christentum als Basis für den Zusammenhalt der Gesellschaf t?

Meinung nach hat das Christentum gerade auch wegen seiner außerweltlichen Orientierung die weltlichen Verhältnisse weitgehend akzeptiert und sich ihnen im Großen und Ganzen kritiklos unterworfen. Denn die religiöse Idee ist nach Troeltsch nicht eben bloß ein ins Transzendente gewandeltes Sozialideal, sondern sie ist vielmehr »der Verzicht auf das innerirdische Sozialideal, auf die politischen und ökonomischen Werte überhaupt, und die Zuwendung zu den Gütern des religiösen Seelenfriedens, der Menschen- und der Gottesliebe. Je mehr die Seligkeit jenseitig ist, desto mehr ist das irdische Glück entbehrlich« (ebd.: 32).

Das würde bedeuten, dass die Orientierung am Jenseits die irdischen Verhältnisse so unwichtig macht, dass in der Regel ihr Status quo bestätigt wird.24 Zudem werden die bestehenden Machtverhältnisse in prominenten Strömungen des lateinischen Christentums auch explizit gerechtfertigt  – angefangen mit Paulus, der erklärte: »Es ist keine Obrigkeit ohne Gott; wo aber Obrigkeit ist, da ist sie von Gott verordnet« (Röm 13,1). Und weiter mit Augustinus, der soziale Ungleichheit als Folge menschlicher Sünde und Erbschuld rechtfertigte. Das Recht zum Besitz von Sklaven etwa stammt seiner Meinung nach ebenso wie das Besitzrecht allgemein aus dem Sündenfall und ist Teil der von Gott zugelassenen Ordnung.25 24 | Hier schlägt wiederum die Lehre des Augustinus durch, für den in der Welt keine Gerechtigkeit zu finden ist, da sie allein Gott gehöre. Die wahre Gerechtigkeit findet sich allein bei den Mitgliedern des Gottesstaates weil er allein den wahren Gott verehrt. Damit wird die Welt entmoralisiert. Augustinus verwarf den Anspruch, durch Politik die die menschliche Glückseligkeit zu fördern. Dieses Vorhaben sollte kein Wert mehr sein. Im Gegenteil, es stellt einen Unwert dar, nämlich den Stolz des Menschen. Somit zerstörte Augustinus nach Flasch den Grundgedanken des politischen Denkens, wie er von den antiken Klassikern entwickelt worden war. Er nahm der Politik als solcher jedes wesentliche menschliche Interesse. Sie konnte allenfalls Vorbedingungen für die Erlösung des Menschen schaffen (vgl. Flasch 2003: 389f.). Es ging also um »die Unterwerfung unter das Faktische, sofern nur dieses in sich gleichgültig gewordene Faktische seine theologische Zielbestimmung einhielt« (ebd.: 391). S. dazu auch Ruhstorfer in Bezug auf Gal 3, 26-29: »Dires besagt jedoch kein sozialrevolutionäres Programm. Paulus hat seine Gemeinde nicht angeleitet weltliche Machtverhältnisse zu ändern, sondern es kommt ›in Christus‹ schlichtweg nicht darauf an. Ob einer z.B. Sklave oder Freier ist. Dergleichen Differenzierungen verlieren innerhalb der Gemeinde Christi jedwede Bedeutung. Sie sinken zur Gleichgültigkeit herab. So kann Paulus auch fordern, dass jeder in dem Stand bleiben soll, in welchem ihn die Berufung Gottes getroffen hat« (Ruhstorfer 2004: 336). 25 | So schreibt Augustinus: »Auf den Urfreveln der Menschheit, auf welchen aus der Staat überhaupt ruht, ruht auch die einzelne Institution der Sklaverei, und so kennen

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Für Augustinus ist in der Welt keine Gerechtigkeit zu finden ist, da sie allein Gott gehöre. Die wahre Gerechtigkeit findet sich allein bei den Gliedern des Gottesstaates, weil er allein den wahren Gott verehrt. Damit wird die Welt entmoralisiert. Augustinus verwarf den Anspruch, durch Politik die menschliche Glückseligkeit zu fördern. Dieses Vorhaben sollte kein Wert mehr sein. Im Gegenteil, es stellt einen Unwert dar, nämlich den Stolz des Menschen. Somit zerstörte Augustinus nach Flasch den Grundgedanken des politischen Denkens, wie er von den antiken Klassikern entwickelt worden war. Er nahm der Politik als solcher jedes wesentliche menschliche Interesse. Sie konnte allenfalls Vorbedingungen für die Erlösung des Menschen schaffen. Es ging also um »die Unterwerfung unter das Faktische, sofern nur dieses in sich gleichgültig gewordene Faktische seine theologische Zielbestimmung einhielt« (Flasch 2003: 389f.). Widerstand ist nur geboten, wenn das christliche Gewissen verletzt und die Ausübungen des Glaubens verhindert wird. »Nicht Fortschritt und Veränderung, sondern die Erhaltung der gesunden Gliederungen und die Genügsamkeit bei der jeweiligen Stellung im Zusammenhang des Ganzen sind die christlichen Tugenden«, so Troeltsch (1994: 308).26 Das bedeutete allerdings nicht, dass sich die Christen über die Jahrhunderte hinweg mit der gegebenen Ordnung einfach identifizierten. Vielmehr ist ihre Theologie, insbesondere in ihrer protestantischen Form, von einer tiefen Ambivalenz getragen, indem sie den Gläubigen empfiehlt, sich in die gegebenen Verhältnisse zu fügen, aber zugleich zu den bestehenden Verhältnisse in Distanz zu gehen.27 Nach christlicher Lehre gibt es eine »innere« Freiheit, die die »äußere« Unterwerfung unterstützt, eine Position, der vor allem Luther mit zwar nur die menschlichen Gesetze den Unterschied von Sklaven und Freien, aber gleich allen übrigen Gegensätzen, welche den Staat begründen, ist jene Institution reine Zuchtrute in der Hand Gottes und in diesem Sinne namentlich auch das Staatsgesetz, welches den Sklaven in Schranken hält, von Gott gesetzt, so dass es nicht überschritten werden darf, solange es dem Sklaven nicht zumutet, was Gott missfällt« (zit. in Troeltsch 1912/1994: 133). 26 | Troeltsch ebd.: 308. Die Kirche lehrt die organische Ordnung der ständischen Gesellschaft. Jeder hat hier seinen richtigen, von Gott so gewollten Platz. Reiche und Arme gehören zu dieser Ordnung. Und diese Zweiteilung der Gesellschaft hat ihre Richtigkeit, keinesfalls gibt es Anlass zur Veränderung. Reichtum ist eine Gabe Gottes und dazu da, den Armen mildtätig zu unterstützen und damit Gott zu ehren. Armut ist ein Schicksal, das ihm von Gott aufgegeben ist. Aus seiner Armut herauszustreben wäre ein Verstoß gegen die gottgewollte Ordnung. Alle leben in ihrem Stand gemäß Gottes Vorherbestimmung – nicht aufgrund persönlicher Leistungen (vgl. Münch 1986: 509). 27 | »Es ist«, so schreibt Troeltsch, »das vielleicht charakteristische Zeichen für die Stellung der Christen zur Welt, für die Weltverwerfung, die doch in die Welt sich fügt

7. Das Christentum als Basis für den Zusammenhalt der Gesellschaf t?

seiner »Zwei-Reiche-Lehre« Nachdruck verliehen hat. Die Widersprüchlichkeit der »inneren« persönlichen Gesinnung und der »äußeren« Pflichterfüllung führt dazu, »dass du«, so Luther, »zugleich Gottes Reich und der Welt Reich genug tuest, äußerlich und innerlich, zugleich Übel und Unrecht leidest und doch Übel und Unrecht strafest, zugleich dem Übel widerstehest und doch nicht widerstehest« (zit. in ebd.: 488).28 Innerhalb bestimmter Strömungen des Christentums wurde die »innere« Freiheit jedoch auch zur Richtschnur für das äußere Verhalten. So verfolgten in der frühen Neuzeit vor allem die Täufer und andere radikalen Protestanten revolutionäre Tendenzen, wobei diese Strömungen meist von den unteren ländlichen und städtischen Schichten getragen waren. Sie forderten die Errichtung einer gerechten christlichen Ordnung, um so das Kommen des Reiches Gottes vorzubereiten (vgl. ebd.: 397ff., 702). Diese frühen Versuche gesellschaftlicher Umgestaltung wurden bald niedergeschlagen. In bestimmten calvinistisch-puritanischen Strömungen wurde die christliche Vorstellung von Freiheit und Gleichheit jedoch weitergetragen. So waren etwa die Levellers in England (Mitte des 17. Jahrhunderts) Vorreiter in der Forderung nach politischer Demokratie. Ihre innere Unabhängigkeit von der Welt machte sie, so Troeltsch, furchtlos und widerständig gegenüber den weltlichen Herrschern (vgl. ebd.: 821).29 Ebenso versuchten die Neu-Calvinisten30 die Idee der christlichen und die an Änderungen des sozialen Systems nicht denkt und nicht denken kann« (1912/1994: 133f.). 28 | Beim Calvinismus entsteht eine neue Balance zwischen Innen und Außen: Hier sind die Menschen alle gleich vor Gott, vor dem sie alle Sünder sind und vor dem sie alle zum Gehorsam verpflichtet sind. Aber der souveräne Herrscherwille Gottes, der den einen verwirft und den anderen erwählt, kann an keiner Ordnung der Gleichheit gemessen werden. Die Gleichheit der Christenmenschen besteht in ihrer Unfähigkeit, aus eigener Kraft das Gute zu tun. Von hier aus, so die Schlussfolgerung Troeltschs, ergibt sich ein im ganzen wesentlich »konservativ-autoritärer Grundzug des Gesellschaftsideals. Die Irrationalität Gottes, der Weltordnung und der Erwählung werden aufs stärkste betont, die gegebenen Ordnungen und Gewalt aufs nachdrücklichste anerkannt« (Troeltsch 1912/1994: 672). 29 | Die Levellers sind zwar keine besondere kultische Gruppe, sondern eine politisch-soziale, aber ihre politischen Forderungen werden von ihnen religiös begründet. Sie wollen das christliche Ideal als ein soziales und politisches verwirklichen. 30 | Mit dem Freikirchentum und dem pietistischen Rigorismus eines starken, sich selbst kontrollierenden, in weltlichen Dingen utilitaristischen Individualismus ist der Neucalvinismus weit abgerückt vom dem alten aristokratischen und dem Luthertum noch recht nahe stehenden Calvinismus. Der Neucalvinismus verlangt eine christliche liberale Ordnung vom Staat und Gesellschaft, Befreiung des Individuums, Gleichheit des Rechts und der Lebensmöglichkeiten, internationale Friedensordnung und

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­ rüdergemeinde auf die Gesellschaft zu übertragen und entwickelten dabei B eine pazifistisch–internationale Gesinnung. Sie unterstützten die Antisklavereibewegung und beriefen sich auf die Menschenrechte. Auch die Frauenbewegung fand hier Unterstützung. Dies waren allerdings nur einzelne Strömungen innerhalb des puritanischen Christentums, die von den großen etablierten Christengemeinden vielfach verachtet wurden. Die Mehrheit der Puritaner fühlte sich zwar durch ihre Religion zum tätigen Einsatz in der Welt aufgerufen, zugleich vertrauten sie aber die Geschicke der Welt ganz dem Willen Gottes und seinem unerforschlichen Ratschluss an – mit der fatalen Folge, dass sie trotz einer oft persönlich höchst moralischen Lebensweise in Arbeit, Pflichterfüllung und Keuschheit zugleich die größten Verbrechen wie die Sklaverei und die Vertreibung und Vernichtung der einheimischen Bevölkerung akzeptierten und propagierten. Das heißt, dass die vom Christentum postulierte »innere« Gleichheit der Menschen sowohl zu dem Bedürfnis nach einer politischen Umsetzung in der Welt führen kann wie auch zu einer Verfestigung der weltlichen Ordnung und ihrer sozialen Hierarchien. Sie kann sowohl eine kritische wie eine affirmative Position rechtfertigen. Ob sich die eine oder die andere Tendenz durchsetzt, hängt nach Troeltsch einmal davon ab, welche Schwerpunkte in der Theologie gesetzt werden, und zum anderen, auf welche sozialen und politischen Strömungen diese Theologie trifft. Nach David Martin gilt diese Ambivalenz für alle Religionen, aber ganz besonders für das Christentum. So schreibt er: »Er (der Katholizismus) kann Eroberung ebenso wie Widerstand legitimieren. So konnten die Spanier und Portugiesen ihre Massenkonversionen als Kreuzzug darstellen, und gleichzeitig konnten diejenigen, die dagegen Widerstand leisteten oder sogar rebellierten – wie die Topic Amaru –, aus der Heiligen Schrift der Eroberer Unterstützung für ihre Ansicht gewinnen, dass sie die wahre Bedeutung des Glaubens besser verstünden als diese selbst. Immer wieder wählten die Kolonisierten aus dem christlichen Repertoire das aus, was ihren Bedürfnissen und ihrer Situation entsprach. Der Exodus aus der Unterdrückung heraus in ein gelobtes Land und die Ankunft eines besseren Reiches – das hat überzeitliche Anziehungskraft. Der Glaube kann den Unterdrückten helfen, sich anzupassen oder zu protestieren« (Martin 2007: 445).

Auch Marx hat diese Ambivalenz in der Religion gesehen, da er in ihr nicht nur Symptom und Ausdruck von Unfreiheit und Unterdrückung sah, sondern sie auch als etwas begriff, in dem die Wünsche auf eine bessere Zukunft auf be­ berwindung des Kampfs ums Dasein durch Selbstdisziplin und tätige soziale VerÜ einshilfe (vgl. Troeltsch 1912/1994: 790).

7. Das Christentum als Basis für den Zusammenhalt der Gesellschaf t?

wahrt werden. Insofern ist Religion für ihn ein Ausdruck von Leiden und der Protest gegen diese.31 Letztlich kann das Christentum zur Legitimation für alle möglichen politischen Richtungen taugen, je nachdem auf welche politische Gruppierung es stößt. Das macht ein aktuelles Beispiel aus der englischen Politik anschaulich: In den 1970er Jahren wurde dort eine intensive Debatte über die Funktion von Kirche in der Gesellschaft geführt. Peter Itzen hat die damaligen Diskussionen im Nachhinein analysiert und festgestellt, dass die christliche Lehre hier in sehr unterschiedlicher Weise in Anschlag gebracht wurde (vgl. Itzen 2012). Zunächst ging es um die Frage, ob das Christentum überhaupt Relevanz für politische Einschätzungen beanspruchen kann. Einige Konservative waren der Auffassung, dass die Bibel keine eigene politische Ethik aufstellen könne. Bezugnehmend auf das Zitat »Gebt dem Kaiser, was des Kaiser ist, und Gott, was Gottes ist« (Mt 22, 21) argumentierten sie, dass das Christentum sich jeglichen Einflusses auf die Politik enthalten solle  – insofern könne selbst das Apartheidsregime nicht als unchristlich kritisiert werden. Die Kirchen sollten sich um ihre Gläubigen kümmern, nicht aber um die Politik. Die meisten Liberalen und Linken vertraten die Auffassung, dass die Kirche mit einer alleinigen Konzentration auf die Seelsorge sich gegen die Verheißungen des Himmelreichs stelle. Um das Reich Gottes zu errichten, müssten auf der Welt Bedingungen geschaffen werden, unter denen Gottes Wille verwirklicht werden könne und die gesellschaftliche Ordnung so gestaltet werden, dass die Sünde aus der Welt zu tilgen sei. Sie forderten also von allen Christen ein kritisches politisches und gesellschaftliches Engagement, während die Konservativen von der Kirche Konzentration auf die Seelsorge erwarteten. Das galt jedoch nicht durchgängig. Margaret Thatcher, die damalige Premierministerin, ging zwar wie die meisten anderen Konservativen davon aus, dass die Kirchen sich hauptsächlich um die Predigt kümmern sollten, sie bestritt dennoch nicht die Bedeutung christlicher Werte für die Politik. Sie wusste sie jedoch in ihrem Sinn zu deuten: Die Menschen würden vom Christentum in erster Linie dazu aufgefordert für sich selbst verantwortlich zu sein. Sie könnten nicht den Staat für ihr Versagen verantwortlich machen. Notleidende Menschen müsse der Staat zwar unterstützen, aber er dürfe nicht so weit gehen, sie aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Denn schließlich habe schon Paulus gesagt: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« (2Th 3, 10). Wir sind aufgefordert, so Thatcher, unsere Talente zu entwickeln und den Reichtum zu mehren.

31 | »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend« (Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844), in Schlieter 2010: 100).

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Man könnte also die Frage nach dem Bezug der christlichen Religion zur Politik ad acta legen mit dem Verweis darauf, dass das Christentum – wie möglicherweise die meisten anderen Religionen auch  – in seiner Lehre so offen ist und seine Aussagen so widersprüchlich sind, dass jede/r das herauslesen kann, was sie/er braucht. Insofern ist es weniger eine theoretische als eine empirische Frage, wo sich »das« Christentum jeweils positioniert. Dabei zeigt die Geschichte des lateinischen Christentums, wie nun mehrfach herausgearbeitet, dass seine Ausbreitung über die ganze Welt sehr viel mit seinem Bündnis mit der politischen Macht zu tun hatte. Dafür steht nicht allein die Geschichte der Spätantike und des europäischen Mittelalters, sondern auch, wie wir noch sehen werden (Kap. 10), sein Bündnis mit den europäischen Kolonialmächten.

Resümee Zusammenfassend können wir sagen, dass Religion die bestehenden Machtverhältnisse sowohl bestätigen, wie auch kritisch hinterfragen kann. Sie kann Gemeinschaft stiften, sie aber auch zerstören. In ihr ist – zumindest im Christentum – eine grundsätzliche Ambivalenz angelegt, die beide Interpretationen erlaubt. In den Worten Friedrich Wilhelm Grafs: »Die Religion mag Konkurrenten in Brüder zu verwandeln, Solidarität mit den Schwächeren stiften und immer neu zur Akkumulierung ›sozialen Kapitals‹ beitragen. Sie kann aber auch aus Gegnern Todfeinde machen und selbst die Entfaltung der zerstörerischen, dämonischen Kräfte des Menschen als Gehorsam gegenüber Gottes Willen erklären. Religion kann den Menschen gleichermaßen zivilisieren und barbarisieren« (Graf 2004: 225).

Sein Potential, Gemeinschaften zu stiften, hat das Christentum in der Neuzeit auch in säkularen Zusammenhängen vielfach unter Beweis gestellt. Es lieferte den Erlösungsglauben und apokalyptische Vorstellung von der »letzten Schlacht« für das revolutionäre Pathos ebenso, wie es die »Heiligung« der Befreiungskriege unterstützte sowie den Glauben an eine von Gott erwählte Volksgemeinschaft. Dabei wurde die religiöse Semantik ebenso für säkulare Zwecke funktionalisiert, wie das säkulare Konzept der Nation christianisiert wurde. Das ging so weit, dass in einigen Kreisen die christliche Religion zu einer Vorbedingung der Staatsbürgerschaft erklärt wurde. Denn nur die Religion könne kollektive Gefühle der Nähe, des gegenseitigen Vertrauens und staatsbürgerliche Tugenden wie Gesetztestreue und Loyalität mit der Regierung gewährleisten. Diese Vorstellungen wirken bis heute nach, wenn die Religion als unentbehrlich für den Erhalt von Solidarität in der Gesellschaft erachtet wird, während man säkularen Vergemeinschaftungsprozessen eher skeptisch

7. Das Christentum als Basis für den Zusammenhalt der Gesellschaf t?

­ egenübersteht. Diese Priorisierung des Christentums in Bezug auf die Stifg tung eines gesellschaftlichen Zusammenhalts macht ein Gutteil der Christlichkeit des säkularen Selbstverständnisses dieser Gesellschaft aus. Im Wunsch nach einer christlichen Fundierung dieser Gesellschaft kommt eine Sehnsucht nach einer brüderlichen Gemeinschaft zum Ausdruck, die nicht zuletzt auf der Idealisierung des »Ur-«Christentums basiert. Zugleich wird damit aber auch die Ausgrenzung von allen fortgeschrieben, die in diese »brüderliche« Gemeinschaft nicht »passen«, und zudem eine Selbstidealisierung genährt, die sich auf die eigene »Auserwähltheit« stützen zu können glaubt. Insofern werden die Kosten einer christlich fundierten Vergemeinschaftung kaum thematisiert. Vielmehr wird, so ist zu befürchten, mit einem ungeklärten Bezug auf »das« Christentum als kulturelle Basis dieser Gesellschaft auch sein Exklusivismus weitergeführt. Wie weit dieser in das säkulare Selbstverständnis übergangen ist, wird Gegenstand der Erörterungen in Teil III sein. Die Frage nach dem Zusammenhalt dieser Gesellschaft und der Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft wird derzeit in Deutschland vor allem anhand der Frage nach gemeinsamen Werten diskutiert. So sind viele der Auffassung, dass die Stabilität der Gesellschaft auf Dauer nur dann gewährleistet werden kann, wenn deren Mitglieder bis zu einem gewissen Grad dieselben Werte teilen.

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8. D as Christentum als Basis gesellschaftlicher Werte?

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stützt sich auf ein Wertesystem, dessen höchster Wert die Menschwürde ist, von dem sich die anderen Werte ableiten; namentlich die Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die als Grundwerte der demokratischen Gesellschaften gelten. Vor allem die mit dem Begriff »Brüderlichkeit« verbundene Forderung nach gegenseitiger Verantwortung und Solidarität scheint vom Christentum in besonderer Weise gestützt zu werden. So schreibt etwa José Casanova, dass wir Religion in der öffentlichen Sphäre brauchen, einmal, weil die Religionen die modernen Gesellschaft nötigen, öffentlich und kollektiv über ihre eigenen normativen Strukturen nachzudenken, zum anderen, weil die Religionen auf dem Gemeinwohl gegenüber den herrschenden individualistisch-liberalen Tendenzen bestehen, und schließlich besteht seiner Meinung nach die »wichtigste Aufgabe der Religion darin, öffentlich für den Grundsatz der ›Solidarität‹ mit allen Menschen einzutreten« (Casanova 2004: 292f .)

C hristentum und gesellschaf tliche M or al Dem Christentum wird die Vermittlung sozialer Werte zugetraut, ja es wird vielfach damit geradezu identifiziert. Während es demgegenüber wenig Vertrauen in die Generierung von sozialen Werten auf säkularer Basis gibt. Das war, wie wir sahen, bereits bei namhaften Auf klärern so, die die christliche Religion vor allem deshalb für unentbehrlich hielten, weil sie den Bürgern und Bürgerinnen die Liebe zum Gesetz und die Verantwortung für die Gesellschaft vermittle. Die Überzeugung, dass vor allem die Religion für die Moral in der Gesellschaft zuständig sei, ist jedoch selbst Folge christlicher Denktraditionen, denn nach christlicher Auffassung ist die Welt ein Ort der Sünde.

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

Antisäkulare Diskurse Eine Welt ohne Gott ist für viele Christen ein unmoralischer Ort.1 Überall herrschten nur Egoismus und soziale Kälte, da die kapitalistische Wirtschaft, der technische Fortschritt und die moderne Bürokratie die Beziehung der Menschen untereinander zunehmend zerstörten.2 In dem Zusammenhang wird in den Sozialwissenschaften gern Max Weber mit den berühmten Worten am Ende seiner Studie über die protestantischen Ethik zitiert, wonach die Wirtschaftsordnung den Lebensstil der Menschen »mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. […] Aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gebäude werden. […] Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben« (Weber 1920/1984: 188f .).

Grund für den Verlust von Moral und Menschlichkeit ist für ihn das Verschwinden der Religion, an deren Stelle die technizistische Rationalität getreten sei. Die innere moralische Steuerung der Menschen sei durch äußere Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen und bürokratischen Systems ersetzt worden. Weber schließt also aus dem Niedergang der Religion auf die Auflösung der Geltung allgemein verbindlicher moralischer Prinzipien. Weber konnte, so Richard Münch, Politik nur noch »als korrupte und faule Kompromissbildung, Ökonomie nur als kalte Eigensucht und Wissenschaft nur als rücksichtslose Entzauberung des Denkens und als Auflösung jeglicher Werte erscheinen« (Münch 1986: 715). Damit drückt Weber eine Haltung aus, die nach Georg Stauth in der Soziologie des 20. Jahrhunderts weit verbreitet ist, nämlich die Vorstellung von der Moderne als einer Geschichte des kulturellen Niedergangs (vgl. Stauth 1993). Dem »Nostalgiesyndrom«, wie Stauth diesen Vorstellungskomplex nennt, gab Weber mit seinen berühmten Metaphern vom »stahlharten Gehäuse« und der »Entzauberung der Welt« einen eindrücklichen und nachhaltigen Ausdruck. Darin schwingt die Wehmut mit, dass »die Befreiung von Magie und Aberglaube durch die Verwissenschaftlichung des Alltagslebens zugleich auch eine Entleerung der Welt und eine Auflösung ihrer Sinnzusammenhänge und moralischen und religiösen Grundlagen« bedeute (ebd.: 85). 1 | Wenn es Gott nicht gäbe, wäre alles erlaubt (Dostojewski). 2 | Bereits Platon verstand den Atheismus als staatsgefährdend. Er identifizierte ihn mit einem mangelnden Glauben an eine göttliche Weltordnung und damit einem mangelnden Glauben an eine verbindliche soziale Ordnung. Praktisch begünstige Atheismus einen hemmungslosen und staatszersetzenden Egoismus (vgl. Reichardt 2012: 69).

8. Das Christentum als Basis gesellschaf tlicher Wer te?

In das Bild von der Morallosigkeit einer säkularen Welt passt es, dass die größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit im letzten Jahrhundert vor allem im Namen säkularer Ideologien wie der des Stalinismus und Nationalsozialismus begangen wurden. Das hat, wie wir sahen, im Deutschland der Nachkriegszeit viele dazu veranlasst – unbeschadet des Wissens um die teils tatkräftige Unterstützung des Nationalsozialismus durch die Kirchen und durch die Mehrzahl der deutschen Christen – zu glauben, nur eine christliche Orientierung könne diese Gesellschaft davon abhalten, noch einmal in einen solchen moralischen Abgrund abzustürzen.3 »Das Böse« konnte deshalb ungezügelt zum Vorschein kommen, weil es nicht vom christlichen Glauben gebändigt wurde.4 In dieser Entgegensetzung einer unmoralischen gottlosen und einer moralischen gottesfürchtigen Welt ist unschwer das Erbe eines christlichen Dualismus zu erkennen, der über Jahrhunderte das vollkommene himmlische Reich dem sündigen Diesseits gegenübergestellt hat. Im Gottesstaat des Augustinus herrscht Gottesverehrung und Gottesliebe, während auf der irdischen Welt Selbstliebe und das Streben nach Macht und Luxus das Handeln bestimmen. Diese moralische Polarisierung der Welten lebt in einem anhaltenden Misstrauen gegenüber einer säkularen, modernen Gesellschaft fort.5 3 | Es schien ein Alptraum zu sein, wie damals der Schriftsteller Heinrich Böll formulierte, in die Hände der Menschen zu fallen: »Ich überlasse es jedem einzelnen, sich den Alptraum einer heidnischen Welt vorzustellen […] den Menschen in die Hände des Menschen fallen zu lassen (Aus: Eine Welt ohne Christus, zit. in Stein 2007: 150). 4 | Diese Argumentation ist heute durchaus noch üblich. So schreibt etwa die Politikwissenschaftlerin Tine Stein, dass der Nationalsozialismus zeige, was passiert, wenn der Bezug zu Gott suspendiert und die Menschwürde auf der Basis gesellschaftlicher Übereinkunft definiert wird. Dann wird bestimmten Menschengruppen, unter dem Applaus der Mehrheit, die Eigenschaft des Menschseins abgesprochen (vgl. Stein 2007: 342). Eine solche Argumentation ist nicht nur tendenziell antidemokratisch, sondern angesichts der Geschichte des christlichen Antijudaismus wie auch der gesamten Gewaltgeschichte der Kirche unbedacht. Trutz Rendtorff geißelt diese antisäkulare Position, in der die »Welt ohne Gott« verantwortlich wird für »die Zerrissenheit der menschlichen Gesellschaft, für die Entstehung des Nationalsozialismus, für die Verderbtheit der Jugend, für den Materialismus der kleinen und großen Leute und die Verbrechensstatistik«, denn der Preis sei hoch, den man dafür zahlen müsse: »Die Kirche und das Christentum sind dann offenbar in dieser Geschichte der Neuzeit nicht dabei gewesen und deshalb entschuldigt.« Damit, so sein Argument, würde das gegenwärtige Christentum in der Gesellschaft unerkennbar (Rendtorff 1969: 22ff.). 5 | Diese Argumentation erreichte im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt im Bild von der gottlosen, sündigen Großstadt, der jeder zu verfallen droht, der sich ihr nähert. Es war eine Zeit starker Evangelisierung und Missionierung nicht nur weltweit, sondern auch

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

Das heißt nicht, dass diese Kritik an säkularen Positionen nicht auch ihre Berechtigung hätte. So kommt eine tiefgreifende Kritik an der Säkularisierung aus ihrem eigenen Lager: Es waren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die in der Aufklärung und ihrem Anspruch, die Natur zu beherrschen, einen neuen Mythos erkannten, der nur mit steigender Gewalttätigkeit gegen die äußere und innere Natur, die Welt, den Menschen durchzusetzen ist. Sie sprachen von der »Dialektik der Auf klärung« und meinten, dass gerade da, wo der Rationalismus uneingeschränkt herrsche, die gefährlichsten Irrationalismen entstehen (vgl. Horkheimer/Adorno 1944/1988). Die Angst vor der »Haltlosigkeit« der »Gottlosen« wird von Seiten der Christen zudem damit begründet, dass sie sich nicht vor Gott und seinem »letzten Gericht« zu verantworten hätten. Es entfällt gewissermaßen eine Autorität, die das moralische Verhalten einklagt. Die menschlichen Gesetze allein scheinen hier nicht auszureichen. Denn, wie Voltaire formulierte: »Die Gesetze wachen über die bekannten, die Religion wacht über die geheimen Verbrechen« (zit. in Forst 2003: 387). Wenn also das Damoklesschwert des »letzten Gerichts« nicht über den Menschen schwebe, dann würden sie, so die bis in unsere Zeit hinein weit verbreitete Auffassung, ihren moralischen Halt verlieren. Dieser Auffassung widersprach Kant, indem er fragte: Was kann die Moral eines Menschen wert sein, wenn er nur aus Furcht vor Strafe gerecht und gut handelt (vgl. Kant 1785/1986). Das Gute könne nur moralisch genannt werden, wenn es um des guten Willen getan werde, nicht aus dem Streben nach einem Nutzen. Beim gläubigen Christen jedoch werde das Gute nicht um seiner selbst willen verfolgt, sondern um das ewige Leben zu gewinnen und Gott zu dienen.6 Gleichgültig ob es sich um irdischen oder himmlischen Lohn handle, innerhalb der europäischen Gesellschaften, getrieben von der Angst, mit der Religion auch die Moralität zu verlieren. 6 | Für Kant sind Religion und Moral unmittelbar miteinander verknüpft. Religion ist, wie Kant definiert, zuoberst die »Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliche Gebote«. In diesem Sinn ist Religion für Kant auch vernünftig, weil sie den moralischen Überzeugungen Nachdruck verleiht. Moralisches Verhalten ist eine Verwirklichung von Gottes Willen, eine Art von Gottesdienst. Es ist eine »regulative Idee«, um das sittliche Sollen zu verstärken (Kant, Über Pädagogik, 1803, nachgedruckt in Schlieter 2010: 73ff.). Allerdings kann und darf man Religion nicht auf Moralität reduzieren, da man sonst »nur Furcht auf der einen und lohnsüchtige Ansichten und Gesinnungen auf der anderen Seite« haben wird und das gäbe nur einen »abergläubischen Kultus ab«. »Moralität muß also vorgehen, die Theologie ihr dann folgen, und das heißt Religion« (ebd.: 74). »Die wahre Religion enthält nichts als Gesetze, deren unbedingter Notwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also, als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart, anerkennen« (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft: ebd.: 76ff.). Das bedeutet, dass die Religion aus der Moral folgt und nicht umgekehrt (vgl. Brumlik

8. Das Christentum als Basis gesellschaf tlicher Wer te?

in einer solch heteronomen Moral werde der andere Mensch für die eigenen Zwecke benutzt. Demgegenüber sei der Andere als solches zu achten, ohne dass es eines weiteren Grundes bedürfe. Man kann die Menschen nicht, so Kants berühmter Imperativ, zum Mittel für einen Zweck machen, sondern sie haben ihren Zweck in sich.7 Das heißt, es gilt, aus Achtung der Würde des Menschen moralisch zu sein. Das Konzept einer autonomen Moral, wie es Kant vertritt, spricht auch die Frage nach der Entstehung der Werte an; und zwar, ob sie von einer Autorität formuliert, den Menschen »verkündet« werden oder ob die Menschen sich die moralischen Gesetze selbst geben.

Säkulare Positionen Für die Generierung der Moral aus den menschlichen Lebensverhältnissen spricht etwa die Tatsache, dass die sogenannte »goldene Regel« in so gut wie allen Kulturen entwickelt wurde, es also wohl eine aus der Notwendigkeit des menschlichen Zusammenlebens sich ergebende Regel ist. So werden Normen der Fairness bei Kindern oft allein aus der Erfahrung von Kooperation und deren Regulierungsbedarf entwickelt. Ebenso ergibt sich die Notwendigkeit, sich um andere Menschen zu sorgen, aus den Lebensbedingungen gegenseitiger Abhängigkeit. Diese These wird zum Beispiel in der feministischen Theorie der »Care-Ethik« ausformuliert, in der gezeigt wird, wie die Tatsache grundlegender Abhängigkeit des Kindes von der Fürsorge der Mutter Ausgangspunkt der Bildung elementarer Beziehungs- und Moralmuster ist (vgl. Gilligan 1999; Walker 2007). Zudem sollten wir uns daran erinnern, dass die christlichen Werte selbst 8 Produkt unterschiedlicher Kulturen, insbesondere der hebräischen und griechischen sind. Die Entwicklung der christlichen Werte geht auf spezifische kulturelle Kontexte zurück, die selbst wiederum auf bestimmte Lebenskontexte verweisen. So schreibt der oben bereits ausführlich zitierte Moraltheologe Auer: »Es sollte nicht verwundern, dass Jesus auf die ethischen Einsichten früherer Zeiten zurückgegriffen hat. Schon immer hatten doch die Menschen ungefähr die gleichen Probleme; immer schon wurde über eine sinnvolle und fruchtbare Lösung dieser Fragen 2011: 46). Kant hat also eine Richtung vorgegeben, Religion mit Moral zu identifizieren. Als Kern der Religiosität werden nicht mehr dogmatische Inhalte und metaphysische Weltdeutungen, sondern die Übereinstimmung von ethischer Norm und Lebensführung verstanden (Die Religion wurde moralisiert) (vgl. Sauer 2013). 7 | »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« 8 | Wie in Kap. 1 dargestellt.

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t nachgedacht, und immer schon wurde das Ergebnis solchen Nachdenkens, weil es sich im Vollzug des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens bewährt hatte, von Geschlecht zu Geschlecht weitervermittelt« (Auer 1984: 80). 9

Moralische Gebote können sich also auch von »unten« entwickeln und dann in gesellschaftliche Normen und Gesetze eingehen, auf die sich die Bürger und Bürgerinnen gegenseitig selbst verpflichten.10 So können wir auch in unserer Gesellschaft beobachten, wie es eine ständige Arbeit an den Wertvorstellungen gibt. Nehmen wir etwa den gesellschaftlich zentralen Wert der »Familie«. Die Vorstellung davon, was eine Familie ist und wer für wen Verantwortung zu tragen hat, hat sich in den letzten Jahren deutlich verschoben. Die auf unterschiedlichen verwandtschaftlichen und nicht-verwandtschaftlichen Beziehungen basierenden sogenannten »Patchwork-Familien« werden ebenso anerkannt wie die auf gleichgeschlechtlicher Partnerschaft beruhenden »Regenbogenfamilien«. Hier hat sich die Toleranz erheblich ausgeweitet. Diese Verschiebung ging mit heftigen Debatten einher. Es bedurfte des Einsatzes vieler schwuler und lesbischer Aktivistinnen mit den entsprechenden Auseinandersetzungen in Presse, Funk und Fernsehen, in Kunst, Literatur und Wissenschaft, also in allen Medien, die der Zivilgesellschaft als Diskussionsforen zur Verfügung stehen. Diese Debatten wurden und werden auch in den Kirchen geführt, allerdings hat man hier eher den Eindruck des Beharrens und zögerlichen Einlenkens, als dass die Kirchen die Debatte vorangebracht oder gar angestoßen hätten. Eine ähnliche Werteverschiebung können wir im Verständnis von Gewalt und sexueller Ausbeutung konstatieren. So haben sich die Standards in Bezug auf Gewalt gegenüber Kindern deutlich verschoben. Erst im Jahr 2000 wurde das Verbot der Gewalt gegenüber Kindern gesetzlich verankert. Auch dies u.a. aufgrund des anhaltenden Einsatzes engagierter Menschen für Kinderrechte. Ebenso ist die Sensibilität gegenüber der Gewalt gegenüber Frauen

9 | Und an anderer Stelle schreibt er: »So ist die goldene Regel die Spitzenformel der humanistischen Moral, die seit etwa 800 ante mehr oder weniger spontan in den verschiedenen Kulturzentren der Alten Welt aufgetaucht ist« (ebd.: 89). 10 | Dementsprechend, so meinte etwa der Aufklärer Holbach, reichen Erziehung, positive Gesetze und die Regeln sozialer Wertschätzung vollkommen aus, um den Menschen die vernünftige Einsicht zu vermitteln, dass ihr natürliches Streben nach Selbsterhaltung und Glück das Eintreten für das Glück der Anderen, mit denen man sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet, voraussetzte. Er war gar der Auffassung: »Solange die Religion die Köpfe beherrscht, wird es keine der Moral zuträgliche Gesellschaft geben.« Denn die Idee der Gottheit sei, weil sie zu Exklusionen und Streit führe, für eine gesunde Moral ganz unnütz (zit. in Forst 2003: 396).

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deutlich angestiegen.11 Schließlich wird sexuelle Gewalt heute insgesamt sehr viel schärfer verurteilt, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Diese neuen Moralmaßstäbe wurden mithilfe breiter gesellschaftlicher Diskurse entwickelt und durchgesetzt, oft auch gegen die Kirchen. Sie waren bei diesen Moraldebatten keine Vorreiter.12 Dennoch scheint es die Befürchtung zu geben, dass die säkulare Gesellschaft nicht über hinreichende Moralressourcen verfüge und man deshalb bei der Religion um Beistand ersuchen müsse. So wird in dem Zusammenhang zuweilen auch das Argument eingebracht, dass Religion oder besser Kirche notwendig sei, denn diese allein könne gewährleisten, dass über Moral in der Gesellschaft verhandelt wird. Zweifellos ist es richtig, dass die Kirchen einen Raum bieten, in dem Auseinandersetzungen zu Themen der Moral geführt werden können und auch geführt werden. Deshalb jedoch gleich anzunehmen, es gäbe sonst keinen anderen Ort, übersieht die permanenten Diskurse über Moralstandards in allen Kommunikationsmedien der Zivilgesellschaft. Allerdings werden diese oft nicht explizit als Moraldiskussionen ausgewiesen. Das nährt den Eindruck, Moraldebatten seien vor allem eine Sache der Kirchen. Das Vertrauen in die moralische Kompetenz der Kirchen ist allerdings nicht mehr ungetrübt. Zwar war das Versagen der Kirchen im Nationalsozialismus für die meisten Deutschen kein Grund, ihnen ihr Vertrauen zu entziehen. Aber in Sachen Lebensführung wird ihre moralische Autorität heute so gut wie nicht mehr anerkannt.

Zur moralischen Autorität der Kirchen Seit den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ging das Vertrauen in die Kirchen in der bundesrepublikanischen Bevölkerung auffallend zurück. Zuvor waren noch über 90 Prozent der Westdeutschen Mitglieder einer der christlichen Kirchen, und kirchliche Weltdeutungen prägten noch die allgemeinen Anschauungen über Erziehung, Familie und Sexualität. Im Zusammenhang mit den damals entstehenden sozialen Bewegungen, insbesondere der Neuen Frauenbewegung, wurden darüber jedoch zunehmend teils heftige Auseinandersetzungen geführt. Ein Höhepunkt der damaligen Debatte war die Auseinandersetzung um den §218. Vergebens versuchten die Kirchen ihre Deutungshoheit in Bezug auf das Thema Schwangerschaftsabbruch zu

11 | Die Vergewaltigung in der Ehe wurde 1997 zum ersten Mal zu einem Straftatbestand erklärt. 12 | Selbstverständlich muss man hier verschiedene Strömungen in den Kirchen und auch Unterschiede zwischen den Kirchen beachten.

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­ ahren.13 Der Kampf darum war so heftig, dass der damalige Vorsitzende der w EKD, Bischof Dietzfelbinger, meinte, wir stünden in einem »Kirchenkampf, gegenüber dem der Kirchenkampf des Dritten Reiches ein Vorhutgefecht war. Das Unheiligste dabei ist«, so seine Meinung, »dass dieser jetzige Kampf vielfach kaum erkannt, zu allermeist verharmlost wird und unter Tarnworten wie Pluralismus voranschreitet« (zit. in Großbölting 2013: 135). Tatsächlich fürchteten die Kirchenführer, dass mit einer Liberalisierung des Paragraphen die ganze Gesellschaft zugrunde gehe.14 Diese Auseinandersetzungen markierten eine tiefe Vertrauenskrise zwischen Kirche und Gesellschaft. Der Lebensstil der Menschen und die Lehrmeinung der Kirche traten immer weiter auseinander. Das heißt, die Menschen richteten sich nicht mehr nach den kirchlichen Rollenvorgaben: Sie heirateten nicht mehr Angehörige der eigenen Konfession und erzogen ihre Kinder so, wie es ihnen gut dünkte, beziehungsweise wie die weltliche Pädagogik empfahl. Viele konnten beispielsweise auch nicht mehr einsehen, dass das Zusammenleben vor der Ehe eine »Todsünde« sein sollte. Die moralischen Vorgaben der Kirchen waren bezüglich dieser Fragen einfach nicht mehr relevant (vgl. ebd.: 260). Sie scheinen es heute noch weniger zu sein, auch unter Kirchenmitgliedern, wenn man die Ergebnisse der von Papst Franziskus initiierten weltweiten Umfrage zum Thema »Familie« betrachtet.15 Zudem sind heute die Kirchen, insbesondere die katholische, einer enormen Belastungsprobe unterworfen. Im Vordergrund steht dabei der Vorwurf der sexuellen und physischen Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen 13 | Dabei hätte es für die katholische Kirche durchaus Kompromisslinien geben können, da der sonst so wegweisende Thomas von Aquin durchaus der Auffassung war, dass der Fötus zunächst rein vegetative Phasen durchmacht und ihm erst gegen Ende der Schwangerschaft die »Geistesseele« von Gott eingepflanzt werde (vgl. Martini/Ecco 1998: 41). 14 | Dabei argumentierten etwa Bischof Dietzfelbinger als Vorsitzender der EKD und der Kölner Erzbischof Höffner, dass es sittliche Wertvorstellungen für die Aufrechterhaltung der Ordnung von Recht und Gesellschaft gebe, die von allgemeiner Gültigkeit sind. An diese sei auch der Gesetzgeber gebunden. Wenn diese aufgegeben werden, zerstört das Staat und Gesellschaft (vgl. Großbölting 2013: 133). 15 | Papst Franziskus hatte zur Vorbereitung einer außerordentlichen Bischofssynode im Oktober 2014 die Meinungen der Katholiken weltweit zum Umgang der Katholischen Kirche mit dem Thema »Familie« erhoben. Zu den Ergebnissen stellte etwa das Bistum Mainz fest: »Eine tiefe Kluft zwischen der kirchlichen Lehre und dem Leben bzw. den Ansichten einer großen Anzahl von Kirchenmitgliedern hat die Auswertung der weltweiten, vatikanischen Umfrage zum Thema Familie im Bistum Mainz ergeben« (www.­ bistummainz.de/bm/dcms/sites/themen/umfrage/index.html).

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von Seiten christlicher Würdenträger, die in den letzten Jahren öffentlich gemacht wurden. Das hatte unter anderem zur Folge, dass zum ersten Mal deutlich mehr Katholiken als Protestanten aus ihrer Kirche ausgetreten sind (vgl. Liedhegener 2012). Umso mehr muss es erstaunen, dass die christlichen Werte weiterhin (oder wieder) von der Mehrheit der Bevölkerung (in Ost- und Westdeutschland) als wesentlich für den Zusammenhalt der Gesellschaft angesehen werden. Mehrere Erklärungen bieten sich an. Zum einen kann hier die schon mehrfach angesprochene Spaltung zwischen »der« Kirche und »dem« Christentum greifen, bei der die eigene moralische Orientierung nicht bei den Kirchen gesucht wird, sondern bei einem Christentum, das individuell interpretiert wird. Eine andere Möglichkeit ist, dass Werte der Mitmenschlichkeit und Solidarität generell als christliche gelabelt werden, unabhängig davon, in welchem Kontext sie generiert wurden. Dabei wird auch die aus einer säkularen Ethik resultierende Mitmenschlichkeit als »letztlich« christlich motiviert ­interpretiert – was wiederum Ausdruck der Christlichkeit der säkularen Kultur wäre. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass oft recht diffuse Vorstellungen darüber herrschen, was eigentlich christliche Werte sind. So resümiert etwa Schnädelbach seine Erfahrungen mit dem Verständnis christlicher Werte so: »Wenn man nach den christlichen Werten fragt, die von der Politik vertreten werden, so hört man etwas von Respekt, Vertrauen, Verlässlichkeit […]. Das sind aber preußische Tugenden. Während von den christlichen Tugenden ›Glaube, Liebe, Hoffnung‹ nicht die Rede ist« (Schnädelbach 2009: 13).

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Christen in ihrem persönlichen Umgang miteinander Zeugnis von einem Christentum ablegen, das der Gesellschaft vorbildhaft erscheint. Die Frage wäre dann, wie sehr gläubige Christen unabhängig von der Kirche in der Gesellschaft überzeugen können. Es gibt allerdings nur sehr wenige empirische Untersuchungen, die das Verhalten christlicher Menschen im Vergleich zu nicht-christlichen und nicht-gläubigen untersuchen.

Empirie: Die Christen als Vorbild? Die wenigen Untersuchungen, die es dazu gibt, zeichnen in der Regel kein besonders schmeichelhaftes Bild von religiösen Menschen generell. So kommen die großen internationalen Untersuchungen von Noris und Inglehart zu dem Ergebnis, dass religiöse Menschen stärker ethnozentrisch und politisch rechts orientiert sind als nicht-religiöse (vgl. Noris & Inglehart 2004). Beate Küpper bestätigt diesen Befund nach der Durchsicht weiterer internationaler

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­ ntersuchungen und fasst diese dahingehend zusammen, dass die überwieU gende Zahl der internationalen Studien zeige, dass Menschen, die sich als religiös verstehen, in der Regel stärkere Vorurteile haben als solche, die sich als nicht-religiös bezeichnen. Das gilt in besonderer Weise auch für Vorurteile gegenüber Frauen und Homosexuellen. Bei ethnischen Minderheiten hingegen kommt es darauf an, um welche es sich handelt und wie intensiv die selbst eingeschätzte Religiosität ist (vgl. Küpper 2010). Bestätigt werden diese Befunde in Deutschland in Bezug auf Rassismus, d.h. dass religiöse Menschen eher rassistisch sind als nicht-religiöse  – allerdings nicht in Bezug auf den Antisemitismus und die Islamfeindlichkeit, hier gibt es keine großen Unterschiede zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen (vgl. ebd.). Ebenfalls negativ wirkt sich die Religiosität aus in der Haltung der religiösen Menschen gegenüber Frauen, Homosexuellen und Langzeitarbeitslosen. Je intensiver sich die Menschen religiös verstehen, desto stärker sind ihre Vorurteile. Dieser Eindruck verstärkt sich gegenwärtig in der bundesrepublikanischen Politik, in der die Parteien, die sich als christlich verstehen, etwa in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlinge, meist deutlich restriktiver reagieren als nicht- religiös gebundene Parteien.16 Eine umfassende Übersicht empirischer Studien über das psychologische Profil von Atheisten im Vergleich zu gläubigen Menschen hat Benjamin Beit-Hallahmi vorgelegt (vgl. Beit-Hallahmi 2007). Er geht zurück bis auf die Untersuchung von Adorno et al. zum »autoritären Charakter«, in der die Autoren feststellen, dass diejenigen, die die Religion zurückweisen, weniger ethnozentrische Strukturen aufweisen als solche, die sie akzeptieren. Diese Aussage wurde in den späteren (meist US-amerikanischen Untersuchungen) insofern bestätigt, als nicht-gläubige Menschen in der Regel liberaler und pazifistischer sind und sich entschiedener gegen die Todesstrafe stellen (vgl. ebd.: 304). Religiös eingestellte Menschen sind demnach in keiner der untersuchten Kategorien humaner als die nicht-religiösen – eher im Gegenteil. Das bezieht 16 | In einer europaweit vergleichenden Studie der 90er Jahre zeigt sich, dass religiöse Menschen Minderheiten gegenüber nicht toleranter sind als nicht-religiöse (vgl. Höllinger 1996: 299). Nach Müller ist die Intoleranz bei Atheisten und intrinsisch Gläubigen am niedrigsten, während sie bei indifferenten und skeptischen Gläubigen am höchsten ist (vgl. Müller 2003: 191). Atheisten und intrinsisch Orientierte weisen insgesamt jeweils einen höheren Toleranzwert auf als der Bevölkerungsdurchschnitt. Es scheint, dass bei denjenigen, die Probleme mit der Kontingenzbewältigung haben, aufgrund mangelnder Verarbeitung eine Abwehr gegen noch mehr Uneindeutigkeit sich in einer rigiden Ablehnung von Anderen verfestigt (vgl. ebd.: 190). Unreflektierte Religiosität wäre dann mit einem starken Zugehörigkeitsbedürfnis, einem zweckgeleiteten Eigengruppengefühl verknüpft. Religion wird hier als ein Abgrenzungskriterium gegen andere benutzt.

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sich etwa auf die Frage nach der Unterstützung von behinderten Menschen, Langzeitarbeitslosen oder Wohnungslosen. Im Allgemeinen gibt es hier in der Tendenz eher einen leicht negativen Zusammenhang zwischen Religiosität und humaner Einstellung. Dabei kommt es jedoch auch auf die Art der Religiosität an, denn der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Religion ist ein wichtiger negativer Faktor (vgl. ebd. sowie Küpper/Zick 2010). Die Frage ist, wie die weitgehend übereinstimmenden Befunde sich erklären lassen, dass religiöse Menschen deutlich voreingenommener und rassistischer sind als nicht-religiöse. Deborah Hall, David Matz und Wendy Wood (2010) fragen in ihrer Metaanalyse von über 200 Untersuchungen (beginnend von 1964 bis heute): »Warum praktizieren wir nicht das, was wir predigen? Den Widerspruch zwischen einer von den Religionen gepredigten humanitären Einstellung und der Praxis der Ausgrenzung und Vorurteile – was im Übrigen für alle wichtigen Religionen des Westens (lediglich abgeschwächt im Judentum) gilt – das »Paradox des religiösen Rassismus« (Hall, Matz, Wood 2010).

Die Erklärung liegt nach ihren Befunden vor allem darin, dass die Religionen zwar Nächstenliebe und Sorge um die Mitmenschen predigen, diese beziehen sich aber in der Regel auf die eigene Gruppe.17 Denn die Religionen stärken mit ihren Gottesbildern die eigene Gruppe als eine auserwählte  – das Göttliche ist meist mit den Attributen der eigenen Gruppe ausgestattet. Zwar führt eine starke Orientierung an der Eigengruppe nicht notwendig zur Abwertung derjenigen außerhalb, aber in religiösen Gruppen kommt in der Regel das Gefühl der eigenen moralischen Überlegenheit hinzu, was wesentlich zur Abwertung der Außenstehenden beiträgt.18

17 | Oft kommt zu der Liebe zu Gott der Hass auf andere Menschen hinzu, wie etwa bei Luther, der gegen den Papst, die Türken, Juden, Frauen und aufständische Bauern wütete (vgl. Armstrong 2004: 104). Die Ursache für das stärker ausgrenzende Verhalten hat bei religiösen Menschen wesentlich damit zu tun, dass sie ihre Gruppe bevorzugen und damit nur ein »partikulares Vertrauen« in die anderen Menschen entwickeln und nicht ein »generalisiertes Vertrauen«, das sich auf Mitmenschen im Allgemeinen bezieht (Religionsmonitor 2015). 18 |  Entsprechend zeigt der Religionsmonitor 2015, dass die Menschen sich, je religiöser sie sind, desto ausschließlicher in ihrem religiös homogenen sozialen Umfeld und weniger in einem Umfeld mit andersreligiösen Menschen bewegen. Das jedoch würde ihre Offenheit und Toleranz stärken. Religiöse Nachbarschaften sind homogener als säkulare (vgl. ebd.: 29). »Religiöse Vielfalt im eigenen Familienumfeld vermindert ganz eindeutig religiöses Exklusivitätsdenken« (ebd.: 73).

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Entscheidend ist bei diesem Argument, dass die religiöse Grenzziehung auch eine ethnisch oder rassistisch motivierte Grenzziehung unterstützt. So kam eine aktuelle Untersuchung zur Einstellung Jugendlicher in der Schweiz zu dem Ergebnis, dass für sie bei der Frage nach einem zukünftigen Heiratspartner nicht nur die Religionszugehörigkeit, sondern auch Herkunft und Hautfarbe desto wichtiger werden, je stärker die eigene Religiosität ist (vgl. Duemmler 2015: 174). Zudem gilt, dass religiöse Orientierungen in der Regel mit konservativen Einstellungen einhergehen,19 die im Sinne einer kritischen Grundhaltung gegenüber sozialem und kulturellem Wandel ebenfalls zur Abwehr gegenüber den als fremd konstruierten Menschen beitragen.20 Auf alle Fälle werden in den verschiedenen Untersuchungen die Agnostiker als die tolerantesten identifiziert. Das erklären sich die ForscherInnen damit, dass sie in der Regel offener und kritischer den eigenen Überzeugungen und Einschätzungen gegenüber sind.21 Diese Befunde bestätigt im Großen und Ganzen eine weitere international vergleichende Studie von Sinnott-Armstrong (2009),22 allerdings schaut man sich dort die Motive zur Unterstützung anderer Menschen genauer an und kommt zu dem Ergebnis, dass für ein moralisches Verhalten weniger wichtig 19 | Das gilt für Katholiken, Muslime und Juden gleichermaßen und wurde von Untersuchungen in 71 Nationen bestätigt (vgl. Hall, Matz, Wood 2010: 135; siehe auch Religionsmonotor 2015: 43). 20 | Die Religionen unterscheiden deutlich zwischen Gläubigen und den Ungläubigen, und je schärfer diese Grenze gezogen wird, wie etwa im Fundamentalismus, desto deutlicher finden wir auch rassistische und soziale abwertende Einstellungen gegenüber den Menschen »draußen«. Auch die sogenannten »intrinsisch« religiösen Menschen, also Gläubige, die den Glauben um seiner selbst willen schätzen und bei denen es »keinen Platz für Zurückweisung Verachtung, und Herablassung« gegenüber anderen Menschen gibt, sind in der Selbsteinschätzung zwar deutlich toleranter als fundamentalistische Gläubige, misst man jedoch ihr Verhalten in interkulturellen Beziehungen, dann schneiden sie nicht besser ab (vgl. Hall, Matz, Wood 2010: 238). 21 | Sie rangieren auf der sogenannten »Quest Skala« am höchsten; das heißt, sie zeigen eine überdurchschnittliche Bereitschaft sich mit existentiellen Fragen auseinanderzusetzen und religiöse Zweifel und sozialen Wandel zu akzeptieren (vgl. Hall, Matz, Wood 2010: 128, 134). 22 | Im Widerspruch dazu stehen jedoch Ergebnisse von Untersuchungen über die Spendenbereitschaft: Je stärker die Kirchenbindung, desto höher ist die Spendenbereitschaft (69-84 Prozent). Diese liegt bei Menschen ohne Konfession nur bei 55 Prozent. Wenn man jedoch differenziert nach allgemeinem Engagement, so zeigt sich, dass bei den Inaktiven nur 30 Prozent spenden, während Vereinsmitglieder dies zu 68 Prozent und freiwillig Engagierte zu 76 Prozent tun (vgl. Adloff 2009: 37).

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ist, ob jemand sich als religiös versteht oder nicht, sondern ob sich die Menschen überhaupt mit einem moralischen System identifizieren. Das heißt, dass wir bei moralisch identifizierten Menschen eine deutlich stärker ausgeprägte Mitmenschlichkeit finden als bei solchen, denen moralische Einstellungen relativ gleichgültig sind. Die Zugehörigkeit zum Christentum ist also keineswegs Garant für moralisches Verhalten – sehr wohl aber die persönliche Bindung an ethische Normen, unabhängig davon, ob diese Teil eines religiösen oder säkularen Wertesystems sind. Das wird durch alltägliche Erfahrungen bestätigt, die zeigen, dass sich mindestens ebenso viele Menschen in säkularen Organisationen selbstlos für ihre Mitmenschen und die Umwelt einsetzen wie in religiösen; denken wir an Organisationen wie Greenpeace, Amnesty International, Cap Anamur, Ärzte ohne Grenzen etc. Trotz dieser – bezüglich der besonderen moralischen Kraft der Religion – ernüchternden Befunde hält sich hartnäckig die Auffassung, dass das Christentum die »eigentliche« Quelle der Moral sei – auch die der säkularen, indem etwa den säkularen Menschen, die sich für andere einsetzen, unterstellt wird, dass sie sich »letztlich« am Christentum orientierten. So antwortete zum Beispiel der Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem Interview auf die Frage, ob auch andere gesellschaftliche Instanzen außer der Kirche ein Ethos schaffen: »Ja, auch soziale und politische Bewegungen können den Gemeinsinn fördern gegen die Bereitschaft rücksichtlos seinen eigenen Vorteil zu verfolgen.« Danach gefragt, ob er damit auch die Umweltbewegung oder die Gewerkschaften meine, antwortet er: »Gewiss, allerdings sind solche Bewegungen ihrerseits nachhaltig von religiösen Vorstellungen geprägt. So hat der christliche Glaube, dass jeder Menschen von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen wurde, den Einsatz für die Gleichheit der Menschen sicher befördert« (taz vom 23.9.2009 – Hervorhebung B.R.).

In dieser Aussage kommt wiederum die Denktradition zum Ausdruck, die allein im Christentum die Quelle der Moral verortet. Soziales Verhalten hat demnach »letztlich« immer einen christlichen Ursprung.23 Damit wird das Christentum gegen jede kritische Anfrage immunisiert und die Wahrnehmung säkularer Prozesse der Wertegenerierung blockiert. Diese Priorisierung des Christentums in Sachen Moral wäre demnach ein weiteres Charakteristikum 23 | Humane Wertvorstellungen als eigentlich christliche zu bezeichnen, dazu gibt es ein klassisches Vorbild in dem Drama »Nathan der Weise« von Lessing: Dort nahm der Jude Nathan, trotz der Ermordung seiner Kinder durch Christen, das Christenkind Recha in seine Familie auf. Der Klosterbruder, der sie zu ihm bringt, sagt: »Nathan! Nathan, Ihr seid ein Christ! – Bei Gott, Ihr seid ein Christ! Ein bessrer Christ war nie! Wohl uns!« (IV/7)

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eines christlich-säkularen Selbstverständnisses – beziehungsweise Ausdruck der Christlichkeit der hier herrschenden Säkularität. Allerdings ist die Priorisierung des Christentums in der Gesellschaft nicht unumstritten. So wird derzeit eine intensive Debatte um die Frage geführt, ob die Menschenwürde, also die Basis der Menschenrechte, christlichen oder säkularen Ursprungs sei. Die Antwort darauf entscheidet darüber, ob wir den Grundkonsens der demokratischen Gesellschaft auf das Christentum oder auf säkulare Quellen zurückführen. Insofern sind wir damit im Zentrum der Frage um die moralische Fundierung dieser Gesellschaft. Vorab fragt sich, ob es überhaupt sinnvoll ist, diese Alternative so apodiktisch zu formulieren  – als ob es abgrenzbare und eindeutige christliche im Unterschied zu säkularen Quellen gäbe. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, wie sehr diese Perspektiven immer wieder ineinander übergehen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass in den öffentlichen Diskursen die Frage in dieser Polarität ständig gestellt wird, beziehungsweise ohne weitere Bedenken häufig das Eine oder das Andere kategorisch behauptet wird. Es geht in dieser Debatte eben wesentlich auch um gesellschaftliche Macht und Einfluss. Insofern macht es Sinn, sie in ihrer Polarität nachzuzeichnen.

M enschenrechte : D er S treit um die U rsprünge Christliche Begründung In vielen Diskussionen wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Menschenrechte christlichen Ursprungs seien. Das überrascht insofern, als viele der Rechte, wie etwa die Religionsfreiheit oder die Gleichstellung von Frauen, gegen die Kirchen erkämpft werden mussten und weiterhin erkämpft werden müssen. Dennoch wird der Schöpfungsglaube, also der Glaube daran, dass Gott die Menschen nach seinem Bild geschaffen habe, als Beweis für die christliche Fundierung der Menschenrechte angeführt, so etwa in der Formulierung des evangelischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf: »Die folgenreichste Transformation der in Genesis 1,27 bekundeten Gewissheit, dass Gott den Mensch schuf nach seinem Bilde, ist die Menschenwürde und die daraus abgeleiteten Menschenrechte« (Graf 2007: 120f.). Der Bezug zu einer außerweltlichen Transzendenz scheint die Gleichheit der Menschen zu gewährleisten, so der Kern der christlichen Argumentation. Als Gewährsmann führt etwa T. Stein den Theologen Spaemann mit dem Zitat an: »Weil der Mensch als sittliches Wesen Repräsentation des Absoluten ist, darum und nur darum kommt ihm das zu, was wir menschliche Würde nennen« (zit. in Stein 2007: 255). Es bedarf seiner Meinung nach immer einer religiös-metaphysischen Begründung, die über das »bloße« Naturrecht

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­ inausgeht, denn mit der Natur allein kann man auch Ungleichheit rechtferh tigen. Auch der evangelische Bischof Huber meint: Nur im Gottesbezug hat jeder Mensch eine Würde und Zweck in sich selbst. Nur wenn der Mensch nicht an der Endlichkeit des Lebens zerschellt und »ihm eine Verheißung mitgegeben ist, kann von der Würde des Menschen im strengen Sinn die Rede sein« (­Huber 2006: 83). Der Versuch, die Menschenrechte im Christentum zu verankern, hat eine lange Geschichte: Bereits 1895 hatte der Staatsrechtler Georg Jellinek die These vertreten, dass die Prinzipien der französischen Revolution in Wahrheit auf die der amerikanischen von 1776 zurückgingen. Deren geistige Wurzeln gingen wiederum auf Strömungen der reformierten Kirche Englands zurück. Denn hier wurde die Forderung nach Gewissensfreiheit durchgesetzt, die von den englischen Reformierten bereits im 16. Jahrhundert aufgestellt worden war. Die Gewissensfreiheit sei jedoch, so die Argumentation Jellineks, die grundlegende Basis für die Entwicklung der Menschenrechte überhaupt, da sie die am weitestengehende Forderung sei. Insofern hätten die unveräußerlichen Rechte des Individuums nicht politische, sondern religiöse Wurzeln (Rehmann 1998: 223f.). Diesen Gedanken führt heute der schon mehrfach erwähnte spanisch-amerikanische Religionssoziologe José Casanova fort, indem er behauptet, dass die Gewissensfreiheit die »erste Freiheit« und die Voraussetzung aller modernen Freiheiten sei (vgl. Casanova 2004: 276ff.). Die Gewissensfreiheit ist für Casanova der wichtigste Beitrag der Religionen zur Demokratisierung (vgl. ebd.: 290). Sie sei als ein unveräußerliches gegebenes Recht die Grundlage für alle modernen Rechte und Freiheiten. Allerdings scheinen die Kirchen das als »unveräußerlich« deklarierte Recht der Gewissensfreiheit selbst nicht allzu ernst zu nehmen, denn Casanova fühlt sich bemüßigt die Kirchen aufzufordern, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen. Das könnten sie jedoch nur, wenn sie aufhörten, sich als staatliche Zwangsinstitutionen zu betrachten und die Mitgliedschaft in der Kirche an die Kindstaufe zu binden. Die etablierten Kirchen sollten das Selbstverständnis von Freikirchen annehmen, um den Menschen zu ermöglichen, ihren Glauben frei und überlegt zu wählen. Nur dann sei die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistet. In Deutschland wird diese Debatte stark von der protestantischen Kirche und hier vor allem von ihrem ehemalige Ratsvorsitzenden Bischof Huber vorangetrieben. Er stellt eine unmittelbare Verbindung zwischen der christlichen Auffassung und der Verfassungsrealität in der BRD her: Die Würde des Menschen sei darin begründet, so führt er aus, dass der Mensch von Gott geschaffen und im schöpferischen Wort zur Antwort befähigt und berufen sei. Aufgrund dieser göttlichen Anrede gelte die grundsätzliche Gleichheit der Menschen in der Rechtsstellung ebenso wie die Menschenrechte generell.

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Deswegen s­preche das Bundesverfassungsgericht auch von der »überragenden Prägekraft«, die dem christlichen Glauben und den christlichen Kirchen für das politische Zusammenleben in dieser Gesellschaft zukomme. Zwar hätten, so räumt Huber ein, die Menschenrechte in, wie er sagt, »Distanz zu den und gegen die Kirchen« durchgesetzt werden müssen, dennoch verdankten sie sich »Impulsen, die unlöslich mit dem christlichen Bild vom Menschen zusammenhängen« (Huber 2006: 86). Das bedeutet, dass sich demokratische und christliche Werte entsprechen (Homologie) und insofern problemlos übersetzbar und dass die demokratischen Werte »letztlich« aus dem Christentum entstanden sind (vgl. Rösch 2011). Ebenso wie die Idee der Gleichheit sei auch die der Toleranz christlichen Ursprungs, so Hubers Auffassung. Zwar habe Luther selbst gegenüber den Juden, den Papisten und Bauern nicht gerade Toleranz geübt, und die Reformation habe bis hin zur Verbrennung von Dissidenten sich äußerst intolerant verhalten, aber »der Ansatz der Reformation« enthalte »in seiner Konsequenz nicht nur die Möglichkeit, sondern die Verpflichtung zur Toleranz« (vgl. Huber 2006: 87), nämlich durch die Gewissensbindung und Gewissenfreiheit. Dazu bemerkt Forst in seiner umfassenden Untersuchung zur Toleranz lapidar: »Zwar berufen sich, wie gesehen, eine Vielzahl von Toleranzbegründungen auf christliche Grundlagen, doch trifft dies für viele Begründungen der Intoleranz, die nicht minder ausgefeilt sind, ebenso zu« (Forst 2003: 525). In Bezug auf das Motiv der Nächstenliebe konstatiert Huber, dass die goldene Regel nicht allein auf einen christlichen Ursprung zurückgeht, aber sie sei durch das Christentum vermittelt und damit zum wirksamsten Moralprinzip geworden. Deshalb biete die »Kultur des Helfens« eine unentbehrliche Stütze für die Humanität der Gesellschaft (Huber 2006: 90). Das heißt, mit der Verankerung dieser grundlegenden Werte im Christentum wird auch die christliche Grundlegung dieser Gesellschaft behauptet;24 und nicht nur dieser Gesellschaft, denn aufgrund der universalen Bedeutung der Menschenrechte wird das Christentum zur Grundlage der globalen moralischen Ordnung erklärt. So argumentiert etwa die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: »Die Menschenrechte sind ein Produkt des Christentums und von hier aus in

24 | Rösch (2011) resümiert die Rolle der evangelischen Kirche in diesem Kontext: »Das Christentum beziehungsweise die EKD stehen in alledem immer als Positivfolie bereit: in einer vorbildlichen Haltung zur demokratischen Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten und speziell der Religionsfreiheit; in einer klaren und ehrlichen Haltung zum Dialog sowie institutionell mit einer erfolgreichen Aufklärung im Rücken und in einer Vorbildhaftigkeit in Selbstkritik und historischer Schuldaufarbeitung« (153).

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alle Religion und Kulturen exportiert worden« (Gerl-Falkovitz 2008: 104).25 Das Christentum meldet damit eine weltweite moralische Hegemonie an.26 Ähnlich argumentiert Tine Stein (2007), die nicht nur nachzuweisen versucht, dass die demokratischen Werte von Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Menschenrechten der christlich-jüdischen Tradition entstammen, sondern auch, dass die Überlegenheit des Christentums daran zu ersehen sei, dass alle alten Demokratien eine christliche Kulturprägung hätten, während nicht-christliche Staaten wie beispielsweise die der arabischen Welt auf dem afrikanischen Kontinent nicht demokratisch seien (vgl. Rösch 2011: 244). Religion wird hier kurzerhand zur Ursache politischer Konfigurationen und das Christentum zum globalen Motor des politischen Fortschritts erklärt. Die christlichen Argumentation beruht also auf der Überzeugung, dass das Christentum Ursprung und Quelle der Menschenrechte sei. Der Beweis ist schnell erbracht, indem auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen verwiesen wird. Ist es aber zwingend, dass aus der Geschöpflichkeit des Menschen seine Würde folgt?

Kritik an der christlichen Argumentation Kant war der Auffassung, dass die Menschenrechte, wenn sie aus der Tatsache der Schöpfung Gottes abgeleitet werden, dem Menschen nicht ungeteilt zukommen. Denn der Mensch werde nicht als hinreichender Grund für seine Würde gesehen – »als ob es letztlich der Ehrfrucht vor Gott bedürfe, um die Menschen zu achten« (zit. in Forst 2003: 445). Dies Argument ist deshalb so bedeutend, weil die Abhängigkeit der Menschenwürde von einem Schöpfergott diese relativiert. Das heißt, die Würde des Menschen gilt nicht mehr bedingungslos, sondern sie ist an bestimmte Bedingungen geknüpft: Zum einen muss sie der Logik der göttlichen Schöpfungsordnung folgen. Danach wurde zunächst Adam als Mensch geschaffen und danach Eva als seine Gefährtin.27 Dies hatte 25 | Auch schreibt sie, dass auch der Feminismus seine Existenz ohne Zweifel den Anstößen der christlichen Überlieferung verdanke; im außerchristlichen Raum gebe es ihn nur als Import. 26 | Dabei wird etwa übersehen, dass man sich in China und Japan früher gegen die Sklaverei wandte als im europäisch-amerikanischen Raum (Osterhammel 2009: 1189f.). 27 | »Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Manning nennen, weil sie vom Manne genommen ist« (1Mose 2, 22f.; Einheitsübersetzung). Diese Fassung war offensichtlich so wirkmächtig, dass sie das ganze Christentum über bis heute zur Begründung der

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e­ rhebliche Folgen für die Position der Frau in der Kirche wie auch in der christlichen Gesellschaft. So heißt es bei Paulus: »Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still. Denn Adam wurde zuerst gemacht, danach Eva« (1Tim 2,12-13).28 Dementsprechend hat hohe Religiosität, vor allem im Katholizismus und Islam, noch heute den negativsten Einfluss auf die Rechte von Frauen.29 Zum anderen wird die menschliche Würde abhängig von der Beziehung des Menschen zu Gott. Sie ist nicht einfach mit dem Schöpfungsakt gegeben, sondern sie kann durch Gott widerrufen werden. Er kann sie widerrufen, wenn der Mensch sich von ihm entfernt, ihn nicht achtet und sich ihm gegenüber versündigt.30 Der Mensch hat nach christlicher Auffassung mit dem Sündenfall seine Würde verspielt. Zur Folge der Erbsünde schreibt Angenendt: »Das Paradies wurde verschlossen, und der Mensch war fortan in seiner Gottesebenbildlichkeit gestört. […] Um dieses Problem dreht sich in der ganzen Christentumsgeschichte die Diskussion über Wert und Würde des Menschen, ob und in welchem Grade sich der Mensch der Gottebenbildlichkeit wieder annähern könne, was dafür dem Menschen an Kraft zur Verähnlichung zukomme.« (Angenendt 2009: 112 – Hervorhebung B.R.)

Die Sünde hat, nach Auffassung von Paulus, die Menschen so grundlegend korrumpiert, dass Gott erst wieder durch den Glauben an Jesus mit dem Menschen versöhnt werden konnte. Seine Würde erhält der Menschen aus Sicht der paulinischen Rechtfertigungslehre erst mit der Gnade, die Gott ihm zuteil werden lässt. Während der Mensch von seiner Seite durch Sündhaftigkeit die Ebenbildlichkeit pervertiert habe, werde sie von der Seite Gottes in der g ­ nädigen Treue Zweitrangigkeit der Frau diente. Das begann bereits mit Paulus: »Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, denn er ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz« (1 Kor 11, 7). 28 | In der ganzen Kirchengeschichte wird von den Kirchenvätern darüber räsoniert, ob die Frauen wirklich voll entwickelte Menschen sind oder nur, ähnlich wie Kinder, unzureichend entwickelt, wie Augustinus meinte oder Tertullian, der die Frauen, als die Nachkommen Evas, als des Teufels Tor zur Hölle verstand. 29 | Wie Anne Jenichen in einem Überblick über empirische Forschungen zum Thema Religion und Menschenrechte der Frauen aufzeigt (vgl. 2011: 16). 30 | Nach Augustinus war der Mensch durch die Erbsünde wesentlich verderbt, »eine ›Sündenmasse‹, bar jeder Initiative zum Guten, immer bedürftig der Gnade. Dieser augustinische Pessimismus fand in Martin Luther – ursprünglich bekanntlich Augustinermönch – eine Neuformulierung: Wolle man den Menschenkern mit einer Imago identifizieren, so müsste man diese dem Satan zuerkennen, denn mit dem Sündenfall habe sich die ›Gottähnlichkeit zur Satansmaske verkehrt‹« (Angenendt 2009: 117f.).

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zu seinem Geschöpf wiederhergestellt, so die Argumentation protestantischer Theologen (vgl. Stein 2007: 233; siehe auch Angenendt 2009: 119). Im Gegensatz zum Christentum hat im Judentum Gott seine ganze Gnade den Menschen bereits im Akt der Schöpfung erweisen – eine Gnade, die auch durch die Sünde einzelner und ganzer Völker nicht verwirkt werden kann (vgl. Brumlik 2011: 49).31 Das heißt, christlich gesehen kann nur die Gnade Gottes die Würde des Menschen gewährleisten. Während der sündige Mensch aus sich heraus keine Chance hat, seine Würde wiederzuerlangen. Das ist jahrhundertealte Lehrmeinung der Kirchen. Dabei ist diese Würde unmittelbar mit seiner Anerkennung als Mensch und damit seinem Lebensrecht verknüpft. So meinte etwa der für die katholische Theologie so maßgebliche Thomas von Aquin: »Wenn der Mensch sündigt, solchermaßen von seiner Würde abfällt, damit die Gemeinschaft schädigt und den Willen Gottes verletzt, kann er getötet werden ›wie ein Tier‹« (zit.n. Stein 2007: 240). Dementsprechend argumentiert Schnädelbach: »Die Lehre von der Erbsünde und ihr Gegenstück, die These von der Gerechtigkeit allein durch den Glauben, haben dazu geführt, dass das jüdische Motiv der Würde eines jeden Menschen als Gottes Ebenbild und die stoische Idee der Menschenrechte im Christentum nur in verstümmelter und dadurch pervertierter Gestalt festgehalten wurden. Das Resultat ist die christliche Lehre vom relativen Naturrecht: Menschwürde und Menschenrechte existieren im Christentum nur für die Glaubenden als von Gott Begnadigte. Und wer dazu gehört, darüber entscheidet die Kirche: Extra Ecclesia nulla salus. […] Das jüdische und stoische Erbe musste der christliche Tradition erneut abgetrotzt werden, und es gibt keinen Grund für Christen darauf auch noch stolz zu sein« (Schnädelbach 2009: 156). 32

Derjenige der nicht glaubt, ist verdammt.33 Und das ist nach Schnädelbach der eigentliche Bruch mit dem Konzept von der universalen Menschlichkeit der 31 | »Jeder, der menschliches Blut vergießt, zerstört das Ebenbild Gottes« (Rabbi Akiba, 2. Jhdt., ebd.: 52). Oder auch Rabbi Nehemia: »Ein Mensch gleicht in seinem Wert dem ganzen Werk der Schöpfung« (ebd.). 32 | Ähnlich argumentiert Flasch (2008), dass die Sündenlehre Augustins dem Menschen Eigenverantwortung und Freiheit genommen habe, und die intellektuelle Geschichte Europas in der geduldigen und leidvollen Arbeit bestand, die antike Idee von Verantwortlichkeit und Freiheit wenigstens stückweise zurückzugewinnen (37). 33 | In dem biblischen Gleichnis vom Hochzeitsmahl, an dem ein Mann ohne Hochzeitsgewand teilnehmen will, befiehlt der König, dieser Mensch solle an Händen und Füßen gebunden und ins ewige Feuer geworfen werden, wo Heulen und Zähneklappern herrscht. »Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt« (Mt 22, 1-3, 8-14).

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Menschen. Indem die Christen von der grundsätzlichen Sündhaftigkeit der Nicht-Gläubigen überzeugt sind, öffnen sie Tür und Tor für Verfolgung bis hin zur Dehumanisierung, also dem Absprechen von Menschlichkeit. Die Menschenwürde ist nach Schnädelbach im Christentum von einer tiefen Ambivalenz durchdrungen, die sich der Menschlichkeit des Anderen, des Nicht-Gläubigen oder Anders-Gläubigen, nicht sicher ist (ebd.: 154). Die Idee von der Geschöpflichkeit des Menschen führt also keineswegs direkt zum Menschenrechtsgedanken. Vielmehr formuliert sie Bedingungen, die die Nähe beziehungsweise Ferne von Gott zu einem Kriterium der menschlichen Würde machen. Insofern liefert die Annahme, dass die Menschen von Gott geschaffen wurden, mehr Anlass, über ihre Ungleichheit nachzudenken als darin die Quelle ihrer Gleichheit zu sehen. Schließlich liegt ein weiterer Einwand gegen die christliche Urheberschaft der Menschenrechte in der Geschichte des Christentums selbst. Wenn für das Christentum die Menschenrechte so grundlegend sein sollen, warum hat man sie dann nicht in seiner zweitausendjährigen Geschichte durchgesetzt oder zumindest durchzusetzen versucht? Aber die soziale Gleichheit wurde in der lateinischen Kirche, wie wir sahen, weder angestrebt noch umgesetzt.34 In der Kirche nicht, da eine klare Trennungslinie zwischen Klerus und Laien gezogen wurde, und innergesellschaftlich nicht, da die imperiale Ordnung des römischen Reichs wie auch die feudale Ordnung des europäischen Mittelalters nicht in Frage gestellt wurden. Die ganze Kirchengeschichte über wird von den Kirchenvätern darüber nachgedacht, ob die Frauen wirklich voll entwickelte Menschen sind. Allein die Jungfräulichkeit Marias war eine Option für Frauen, um auch in katholischen Kreisen Anerkennung zu finden – oder aber sie sollten ihr Schicksal in der Mutterschaft erfüllen. Das heißt, ihre Tugenden bestanden nicht in ihrem Beitrag zum Wohlergehen der Welt und ihrem Wissen, sondern in der Fähigkeit ihre Sexualität unter Kontrolle zu halten. Sie können entweder unschuldig sein oder böse, aber niemals völlig Mensch (Japinga 1999: 76f.). Dies Auffassung hatte schon im frühen Christentum erhebliche Folgen. Zuvor galt das Asylrecht, dass alle Menschen, die in einem Tempel Zuflucht suchen, vor staatlicher Verfolgung geschützt sind. Als mit der Etablierung des Christentums als Reichsreligion das Asylrecht von den Tempeln auf die Kirchen übertragen wurde, gewährten diese nur noch rechtgläubigen Christen Schutz. Und so stand, wie Ernst Troeltsch resümiert, »das kirchliche Asylrecht an Humanität hinter dem heidnischen zurück« (1912/1994: 141f.). 34 | Zwar gibt es das berühmte Pauluswort: »Hier sind nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ›einer‹ in Christus Jesus« (Gal 3, 28), aber diese religiösen Impulse für eine Egalisierung setzten sich weder innerkirchlich noch innergesellschaftlich durch, wie etwa auch Angenendt (2009) konstatiert.

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Auch die Reformation, die mit ihrer Forderung nach einem allgemeinen Priestertum der Laien starke egalitäre Impulse gesetzt hatte, sträubte sich mit Leidenschaft gegen die Übertragung der geistlichen Freiheit und Gleichheit der Christen auf die weltlichen Sozialverhältnisse.35 Ebenso lehnte die katholische Kirche die Freiheits- und Menschenrechte der Französischen Revolution strikt ab. Pius VI. bezeichnete diese Rechte 1791 »als völlig absurde, aus der Luft gegriffene Doktrin (›Absurdissimum eius libertatis commentum‹), als Widerspruch gegen göttliches Recht und Naturrecht und gegen die Lehre der Kirche, als Frevel, erneut von Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen« (zit. in Delgado 2008: 80).

Das hinderte allerdings Papst Johannes Paul II. 1980 nicht daran zu erklären, dass die auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruhenden Menschenrechte im Grunde »christliche Gedanken« seien (vgl. ebd.). Für Friedrich Wilhelm Graf ist es folgerichtig, dass die Kirche sich in ihrer Geschichte nicht für die Menschenrechte eingesetzt, sondern im Gegenteil, die Idee vom freien, autonomen Individuum als wirklichkeitsfremde Abstraktion über Jahrhunderte hin bekämpft hat. Denn die Vorstellung von Selbstbestimmung und Selbstmächtigkeit widerspreche der tiefen Erfahrung der Sündhaftigkeit des Menschen, »der keineswegs frei, sondern von der Macht des Bösen gefangen und von egozentrischen Trieben beherrscht sei. Deshalb dürfe eine christliche Ethik nicht von einer illusionären Autonomie des Menschen ausgehen« (Graf 2004: 214). Freiheit ist eine von Gott gewährte Freiheit. »Nicht Menschenrechte des reinen Individuums, sondern Gemeinschaftsbindungen des Sünders und die Pflichten des Einzelnen gegenüber dem Staat und bergenden Gemeinschaften standen im Zentrum des Hauptstroms christlicher Ethik im 19. und frühen 20. Jahrhundert.« Und er folgert daraus: »Unzulässig ist es daher, dem Christentum insgesamt eine besondere historisch-genetische oder ideenpolitische Nähe zum modernen Menschenrechtsindividualismus zuzuschreiben« (ebd.: 217). Die Frage ist also, wie überzeugend kann die Behauptung eines christlichen Ursprungs der Menschenrechte sein, wenn sie vom Christentum in seiner Geschichte selbst nicht angestrebt wurden. Und zwar nicht nur, weil äußere Umstände es daran gehindert hatte, sondern weil sie auch in den Hauptströmun35 | Der Widerspruch zwischen theologischer Gleichheit und rechtlicher Ungleichheit ist geblieben, »denn diese theologisch konzipierte Gleichheit hat keine wirkliche Rechtskraft entfaltet, eklatant zu sehen an den Sklaven, die innerlich zwar Gleichberechtigung hatten, aber gesamtgesellschaftlich weiterhin Unterdrückung erfahren haben (Höffe zit. in Angenendt: 199). Siehe dazu auch die Ausführungen im vorigen Kapitel sowie in Kap. 2.

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gen der christlichen Theologie nicht vorgesehen waren. So haben sich Klerus wie Laien über Jahrhunderte auf die Bibel bezogen, um die Ungleichheit der Frauen, die Todeswürdigkeit von »Häretikern« und »Ungläubigen« oder die Rechtmäßigkeit von Sklaverei und Kolonialismus zu begründen. Freiheit und Gleichheit wurden erst im Zuge der bürgerlichen Revolutionen systematisch in die Politik eingebracht. In den vom Christentum dominierten Jahrhunderten waren sie nicht politikbestimmend, sondern die Befürwortung der parlamentarischen Demokratie setzte sich im Katholizismus erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Zuvor lehnte er Volkssouveränität, Glaubens- und Kultusfreiheit ebenso wie die Pressefreiheit ab. Er verstand die Säkularisierung insgesamt als einen Irrglauben  – wie im Syllabus errorum von Pius IX. 1864 dargelegt (vgl. Loth 2012: 82). Der Katholizismus jener Zeit strebte eine christliche Fundierung der Politik in einem »katholischen Staat« an mit ständestaatlichen Vorstellungen, die man aus einem idealisierten Mittelalterbild abgeleitet hatte. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1959/1962-65) wurde die Vorstellung von einem katholischen Staat aufgegeben. Und Papst Johannes XXIII. bekannte sich dann ausdrücklich zum Gleichheitsprinzip und seinen politischen und sozialen Konsequenzen. In seiner Enzyklika Pacem in terris (1963) erklärte er, dass alle Menschen in der Würde ihrer Natur gleich seien, und forderte dementsprechend nun auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Beseitigung von Rassendiskriminierung und den Schutz nationaler Minderheiten (vgl. ebd.: 94).36 In dem Dekret »Dignitas Humanae« wurde zum ersten Mal die Religions- und Gewissensfreiheit anerkannt und so ein Schlussstrich unter den ein Jahrhundert dauernden Abwehrkampf gegen Demokratie und Liberalismus gezogen. Nun erkannte man auch den Meinungspluralismus an und katapultierte sich damit aus einer antimodernen Position in das 20. Jahrhundert hinein (Großbölting 2013: 150ff.).37 Die Kirchen fanden also recht spät Anschluss an die moderne Welt mit ihrem Menschenrechtsverständnis. Deshalb folgert Schnädelbach, dass die Menschenrechte nicht nur nicht im christlichen Kontext entstanden sind, sondern dass der Kampf gegen die Kirchen und ihre Positionen die Menschenrechte erst hervorgerbacht hat. Der moderne Staat ist, so die Auffassung Schnädelbachs, eine Verrechtlichung der Lebensweise des aufgeklärten Bürgertums, 36 | Auch Angenendt kommt in seiner Analyse von Gewalt und Christentum zum Schluss, dass erst heute, in demokratischen Gesellschaften, das Christentum zu seiner eigentlichen friedfertigen Bestimmung zurückgefunden habe. 37 | Ab dieser Zeit wurden auch neue Formen der Kommunikation mit den Gläubigen und der Gesellschaft gesucht, etwa in Form von Kirchentagen und Veranstaltungen der kirchlichen Akademien, die als »Agenturen kirchlicher Selbstmodernisierung« gelten (vgl. Großbölting 2013: 165).

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das sich auf dem Hintergrund der Schrecken der Religionskriege und der industriellen Revolution herausgebildet hat. Das heißt, gerade die negativen Erfahrungen mit dem Christentum und seiner Unfähigkeit mit den Menschen gleichberechtigt umzugehen, hat zum Kampf für die bürgerlichen Freiheiten geführt (vgl. Schnädelbach 2009: 137). Angesichts der in Bezug auf die Menschenrechte recht fragwürdigen christlichen Geschichte ist es erstaunlich, mit welcher Entschiedenheit dennoch eine moralische Überlegenheit des Christentums behauptet wird. Dabei werden – ähnlich wie dies Angenendt angesichts des Widerspruchs zwischen der Friedensbotschaft des Christentums und seiner Gewaltgeschichte tut 38 – gegenteilige Befunde heruntergespielt, banalisiert oder gar nicht erwähnt.

Christliche Apologetik Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist etwa die ansonsten sehr fundierte Analyse von Tine Stein (2007), in der sie die »Himmlischen Quellen des Irdischen Rechts« untersucht. Sie verteidigt die im Christentum grundgelegte Gleichheit aller Menschen, fügt jedoch angesichts des zweiten Schöpfungsberichts, nach dem Eva als Gefährtin Adams aus seiner Rippe geschaffen wurde, eine Fußnote ein, in der sie anmerkt: »Die Problematik des Geschlechterverhältnisses wird in den folgenden Interpretationen ausgespart« (ebd.: 71). An anderer Stelle nennt sie die paulinischen Botschaften zur Unterordnung der Frau unter den Mann einen mehr als sperrigen Textbefund im Zusammenhang mit der universellen Gleichheit der Menschen (vgl. ebd.: 118). Ähnlich lapidar hält sie in Bezug auf die Rechtfertigung sozialer Unterschiede fest, dass alle positiven Begründungen der Sklaverei bei den Kirchenvätern sich im Widerspruch zum Postulat der Offenbarung befinden (vgl. ebd.: 135). Und sie konstatiert: »Hier bleibt festzuhalten, dass mit der Idee der Geschöpflichkeit die Gleichheit der Menschen eine Begründung erhält, die durch die Erfahrung der real existierenden Unterschiede unter den Menschen nicht erschüttert werden kann. Letztlich ließ sich dieser Impuls der biblischen Botschaft auch nicht von den theologischen Versuchen einer der Sündhaftigkeit geschuldeten Ungleichheit dauerhaft relativieren beziehungsweise unterdrücken« (ebd.: 148).

Kirchenlehrer können irren, in der Bibel findet man »sperrige Befunde«, die Diskriminierung der Frauen tut nichts zur Sache. Die Realgeschichte scheint wertlos gegenüber dem Prinzip der Idee, die sich »letztlich« dann doch ihrer Meinung nach durchsetzt. Woher nimmt sie diese Gewissheit, und wo ist diese Durchsetzung in der realen Welt zu besichtigen? So räumt selbst Bischof 38 |  Vgl. Kap. 4.

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Huber ein, dass weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche die Menschenrechte eine »zielgerichtete Orientierung« ausgelöst hätten – im Gegenteil. Das päpstliche Lehramt betrachtete die Menschenrechtsidee als »zügellose Freiheitslehre«, die mit dem Naturrecht ebenso unvereinbar sei wie mit der Lehrgewalt des kirchlichen Amtes. Und im Protestantismus sah man in den Menschenrechten einen Individualismus am Werk, der die Sündhaftigkeit der Menschen verkenne (vgl. Huber 1992: 591 in Angenendt 2009: 117). Aber dennoch habe, so glaubt er folgern zu können, die Idee der Menschenrechte im Christentum »eine tiefreichende Voraussetzung«, auch wenn sie in der Geschichte vielfach gegen den Widerstand der Kirchen durchgesetzt werden musste. Ähnlich apologetisch geht Angenendt vor, wenn er etwa die Frage der durch die Erbsünde zerstörten Ebenbildlichkeit der Menschen anspricht. Er meint, dass die Gleichheit der Erbsünde auch eine Gleichheit sei, und indem die Anerkennung der Sündhaftigkeit des Menschen sich gegen die Menschenverherrlichung stelle, könne dies gegen Rassismus und für die Gleichheit der Menschen sprechen (vgl. Angenendt 2009: 119). In Bezug auf das Geschlechterverhältnis argumentiert er, dass das Christentum das Geschlechterverhältnis in Richtung Gleichberechtigung veränderte, da es auch den Männern eine relativ strenge Sexualmoral auferlegt habe. Die »gattenzentrierte Ehe« sei ein Wesenselement des Christentums gewesen. Über die Ungleichheit der Geschlechter in Kirche und Lehre verliert er jedoch weiter kein Wort (vgl. ebd.: 584; vgl. auch Kap.2).

Säkulare Begründungen der Menschenrechte Zu den Ursprüngen der Menschenrechtsidee schreibt etwa der Philosoph Herbert Schnädelbach: »Die Idee der Gleichheit der Menschen wurde bereits in der Sophistik vertreten, und zwar mit der These, dass die Differenz zwischen Freien und Sklaven Menschenwerk sei und es dafür keine ›natürliche‹ Rechtfertigung gebe.« Und er fährt fort: »Die sophistische Aufklärung und der Kynismus mit seiner Verachtung aller menschlichen Satzungen, die Ungleichheit begründen sollten, mündete in die Stoa, die als die wirkmächtigste Popularphilosophie der Spätantike den Gedanken der Humantitas in die Welt brachte. Für sie liegt die Würde in der Natur des Menschen« (Schnädelbach 2009: 124f.).39 Nach Schnädelbach ist die Stoa die entscheidende Quelle für die Pflichtethik – über Cicero bis zu Kant – wie auch für das Naturgesetz, das 39 | Sie diente damit zwar auch der ideologischen Rechtfertigung des Universalitätsanspruchs des Römischen Reichs, geht aber direkt in das Christentum ein, wenn etwa Paulus die Stoa zitiert, der zufolge wir Menschen alle göttlichen Geschlechts seien (vgl. Apg 17, 28).

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ohne Stoa nicht denkbar gewesen sei.40 Ebenso entscheidend ist für ihn die jüdische Tradition des Menschenrechtsgedankens. Ähnlich argumentiert Christian Meier in Bezug auf die demokratischen Grundwerte: Demokratie ist ein wesentliches Erbe der griechisch-römischen Tradition, die eine Kultur »ohne irgend nennenswert prägende Rolle einer Monarchie, grob gesagt eine Kulturbildung aus Freiheit statt aus Herrschaft« gebildet habe (Meier 2006: 97).41 Man könnte auch mit dem Philosophen Ernst Tugendhat das Zurückdrängen der Religion aus dem politischen Raum als Vorbedingung für die Menschenrechte verstehen (vgl. Tugendhat 1998), denn wenn die Machtverleihung der Macht an König und Gesetzgeber durch Gott zurückgewiesen wird, dann »ist die einzige Instanz, von der aus die Macht als legitim angesehen werden kann, das Interesse der Individuen selbst. Und wenn sich keine Gründe anführen lassen, warum manche Individuen mehr wert sind als andere, läuft das auf die gleichmäßige Berücksichtigung der Interessen aller hinaus. […] Es ist nicht so«, so fährt er fort, dass nur die Interessen übrigbleiben, »wenn transzendentale Legitimitätsquellen entfallen […] denn die gleiche Berücksichtigung der Interessen aller ist ja ihrerseits kein Interesse, sondern ein moralischer Orientierungspunkt und eben offenbar der einzige verbleibende Gesichtspunkt, auf den hin alle Betroffenen sagen können, dass ein Machtverhältnis legitim ist« (ebd.: 49).

Seiner Ansicht nach sind also die Menschenrechte nur im politischen Rahmen der Demokratie unter Zurückweisung transzendentaler Mächte möglich. Das Aufkommen der Menschenrechte im europäisch-amerikanischen Raum wäre demnach eng verknüpft mit dem Abbau der Legitimierung durch traditionale und/oder transzendentale Instanzen. Insofern lässt sich eine säkulare Begründung der Menschenrechte  – unabhängig von der ideengeschichtlichen Herleitung – auch aus der Geschichte der Emanzipation des Bürgertums ableiten. So schreibt etwa Johannes Fried in seiner Geschichte des Mittelalters, dass Freiheit in der mittelalterlichen Stadt ein immer dringlicheres Bedürfnis wurde, um dem Unternehmensgeist nicht Schranken zu setzen und wirtschaftliche Risiken erträglich zuhalten.

40 | Zur Definition von Würde bei Kant: »Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde« (zit. in Mathwig/Stückelberger 2007: 53). 41 | Die Herausforderung bestand darin eine Ordnung zu entwickeln, die sich selbst trägt. »Wie trägt sich die Erde, wenn keiner sie hält?« Und hier spielt die Ratio eine entscheidende Rolle. Es werden objektive Maße im Kosmos wie in der Polis und der Architektur gesucht, in dem, »was allem gemeinsam ist«.

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t »Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit heißen von Beginn an die zentralen Forderungen der gesamten Kommunebewegung. […] Ein Großteil der seit dem 18. Jahrhundert als Grundund Menschenrechte bekannten Rechte wurde während des Mittelalters in derartigen Stadtprivilegien zuerst formuliert. Die Wirkung läßt sich kaum überschätzen; sie zeitigte eine langfristige rechtliche, wirtschaftliche, politische und geistige Emanzipation des Bürgertums aus den Verhältnissen feudaler Herrschaft« (Fried 2009: 194f.). 42

Schließlich bestreitet eine weitere Argumentation nicht den Ursprung wichtiger Werte unserer Gesellschaft im Christentum, hält diesen Zusammenhang inzwischen aber für irrelevant. So könne die allgemeine Würde des Menschen seinen Ursprung im Christentum haben, aber sie bedürfe heute keiner theologischen Legitimation mehr. Es fragt sich also, was die Behauptung des Ursprungs der Menschenrechte im Christentum bedeutet beziehungsweise welche Relevanz überhaupt der Streit um die »Ursprünge« hat.

Zur Relevanz des Ursprungs Die Genese der Menschenrechte lässt sich nach Bogner so verstehen, dass bestimmte Verletzungserfahrungen einen Resonanzraum geschaffen haben, in dem neue historische Erfahrungen deutbar wurden und in der negativen Form eines »Nie wieder« oder eines »So nicht« zu einer Bindung an einen Wert wie der Menschenwürde führten, wie dies vor allem im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus geschah. Ein solcher Wert kann dann allmählich an Stärke gewinnen und sukzessive Verbindlichkeit entfalten (vgl. Bogner 2012: 376). Damit verschiebt sich der Fokus von der Vorstellung, dass Werte abstrakt formuliert worden sind, zu der Frage, wann und in welchem Kontext sie tatsächlich Bindungskraft entfaltet haben. Diese Überlegungen relativieren nicht nur die Frage nach dem »Ursprung«, sondern sie werden auch der Tatsache 42 | Jenseits der Polarität von säkularer und religiöser Begründung sieht Hans Joas (2011) die Formulierung der Menschenrechte als Resultat einer langen Vorgeschichte in der Philosophie wie auch in den politischen Diskursen. Der epochale Charakter des Dokuments der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789, das die Menschen- und Bürgerrechte in Bezug auf Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen die Unterdrückung formulierte, liegt darin, dass aus den verschiedenen Überlegungen und den Erfahrungen von Unrecht ein kohärentes Ganzes geschaffen wurde, das den Staat selbst neu begründen sollte (vgl. ebd.: 35). Dabei ist der eigentliche Kern der Deklaration die Errichtung eines Maßstabs für die Beurteilung staatlichen Handelns und staatlicher Institutionen. Es geht also um Rechte, die dem Staat vorausgehen und ihm übergeordneten sind.

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­ erecht, dass jedes moralische System, ob säkular oder religiös gefasst, soviel g Interpretationsspielraum enthält beziehungsweise in sich so ambivalent ist, dass in Bezug auf dessen Umsetzung nie eindeutige Konsequenzen prognostiziert werden können. Meines Erachtens kann es auch nicht darum gehen, säkulare von religiös basierten Argumentationen säuberlich zu trennen, denn die Frage bleibt, ob dies – angesichts des anhaltenden Prozesses von De- und Resakralisierungen in dieser Gesellschaft – möglich ist. Entscheidend ist vielmehr, welche Bilder über diese Gesellschaft zirkulieren und wie damit bestimmte Positionen gerechtfertigt werden. Wenn trotz der höchst widersprüchlichen Befunde sich dennoch die Auffassung durchsetzen würde, dass das Christentum die entscheidende Quelle für die Formulierung der Menschenrechte sei, was würde das bedeuten, etwa für die angebliche Universalität der Menschenrechte, wie sie von der UNO in ihrer Verfassung 1948 behauptet wurde? Bedeutet der Verweis auf den christlichen Ursprung, dass die Menschenrechte nur für Christen gelten und nicht für andere Gläubige und für Atheisten? Oder bedeutet dieser Anspruch, dass alle Menschen sich »letztlich« am Christentum orientieren sollten? Das heißt, wir berühren damit wieder die Frage nach der Suprematie des Christentums in der säkularen Gesellschaft wie auch in der globalisierten Welt. Der Glaube an die moralische Exzellenz des Christentums ist für die Position der christlichen Kirchen in der heutigen Gesellschaft zentral. Insofern geht es bei diesen Auseinandersetzungen auch um den Status der christlichen Kirchen. Welche Auswirkungen diese Debatten auf die Politik in der BRD und vor allem auf ihren Umgang mit kulturellen und religiösen Minderheiten haben können, dieser Frage soll nun zum Schluss des Kapitels nachgegangen werden. So wurde in den letzten Jahren immer wieder diskutiert, ob das Christentum Basis einer deutschen »Leitkultur« sei, die auch von den EinwanderInnen akzeptiert werden müsse. Zu fragen ist, ob die politische Verfassung, an die sich selbstverständlich alle Bürger und Bürgerinnen in dieser Gesellschaft zu halten haben, nicht ausreicht, um eine gesellschaftlichen Konsens zu gewährleisten. Anstoß für diese Diskussion war vor allem das sogenannte Böckenförde-Diktum.

D emokr atie als W ertegemeinschaf t ? Der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte bereits 1976: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«. Deshalb müsse er auf vorpolitische Grundlagen, wie etwa die ­Religion,

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z­ urückgreifen. Diese These stieß auf lebhafte Resonanz und wurde beziehungsweise wird bis heute immer wieder aufgegriffen und diskutiert. Besonders der evangelischen Kirche schien die Position entgegenzukommen, dass der demokratische Rechtsstaat auf eine christliche Wertefundierung angewiesen sei. Dem gab die EKD in mehreren Verlautbarungen Ausdruck (vgl. Roesch 2012: 130).43 So schreibt sie etwa in ihrer Handreichung 2006: »Das politische, ökonomische und rechtliche System in Deutschland wie in Europa insgesamt ist wesentlich geprägt von jüdisch-christlichen Wertvorstellungen. Im deutschen Grundgesetz hat das christliche Bild vom Menschen seinen Niederschlag gefunden.«44 Demokratie und die durch sie geprägte Staats- und Gesellschaftsform sind dann »letztlich« christlichen Ursprungs, und wahres Christentum zeigt sich nur in einer demokratischen Gesellschaftsform.45 Rösch warnt – auf dem Hintergrund ihrer Analyse von politischen Stellungnahmen der EKD sowie von Äußerungen namhafter Vertreter der protestantischen Kirche  – davor, das Christentum so eng mit einer politischen Gesellschaftsform zu identifizieren. Dann ist die Politik keine äußere Bedingung mehr, an die Christen sich anzupassen haben, sondern sie wird zu einer inneren Überzeugung. Bürger und Christ werden nahezu identisch. Bürgerpflicht wird zur Christenpflicht im Sinne einer »Legierung von Christentum und Demokratie« (Rösch 2012: 221). Aus einer Glaubensgemeinschaft wird eine Bürgergesellschaft. Nicht mehr 43 | Dazu ein Zitat aus der Handreichung der EKD »Christentum und politische Kultur« (27f.): »Wir stellen uns der Aufgabe und Herausforderung, dass Öffentlichkeit und Politik sich der Mobilisierung weiterer christlicher Prägekraft nicht widersetzen, sondern deutliche und hilfreiche Beiträge zur Entwicklung ethischer Maßstäbe im Umgang mit schwierigen Gegenwartsfragen von Kirchen und Christen sogar ausdrücklich fordern. Dass solche Beiträge nicht kirchlichem Machtstreben, sondern dem Bemühen um das Wohl der ganzen Gesellschaft unter Einschluss der Nichtchristen dienen, entspricht den Erwartungen an die Kirchen.« 44 | EKD Handreichung 2006: 12. Der säkulare Rechtsstaat ist nach Meinung der EKD im Gefolge der lutherischen Zweireichelehre entstanden und Säkularität ein in der christlichen Lehre angelegtes Prinzip. Wobei dafür Mt 22,21 angeführt wird: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« 45 | Bei der Behauptung einer solch programmatischen Verwandtschaft zwischen Christentum und Demokratie lassen sich zwei Diskurse unterscheiden: Demokratie ist aus der christlichen Tradition entstanden, das Christentum ist also für die Genese der Demokratie verantwortlich; der andere besagt, dass es eine Entsprechung, eine Homologie zwischen Demokratie und Christentum gebe. Moderne demokratische Grundelemente entsprechen den christlichen Prinzipien, sind mit ihnen identisch. Die Differenz ist nur semantischer Natur (vgl. Rösch 2012: 122).

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Bekenntnis und Taufe unterscheidet von einer nichtchristlichen Umwelt, sondern die Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen (vgl. ebd.: 249). Das Christentum wird hier mit der Kultur eines bestimmten politischen Systems identifiziert; seine Exklusivität nicht mehr an die Wahrheit, sondern an die Gesellschaftsordnung geknüpft. Das ist nicht ohne Risiken. Denn zum einen, so Rösch, muss die ganze Geschichte, in der die Kirche mit anderen politischen Ordnungen verbunden war, als Irrtum verurteilt werden, wenn das wahre Wesen des Christentums sich in der Demokratie äußert; zum anderen muss damit der eigene universale Anspruch, der sich auch über andere Gesellschaftssysteme erstreckt, zurückgenommen werden (vgl. Rösch 2011).46 Schließlich bedeutet es, dass anderen Religionen die Demokratietauglichkeit abgesprochen wird. Wenn Demokratie ein genuin christliches Unterfangen ist, kann sie schlecht mit anderen Religionen in Verbindung gebracht werden. Denn, so formuliert Rösch: »Die Konstruktion einer Deckungsgleichheit von christlicher Tradition und westlicher Kultur lässt die andere Religion immer zur fremden Religion werden. So wird die Genese der zentralen Werte der Aufklärung aus dem Christentum der entscheidende und vor allem auch logisch uneinholbare Vorsprung des Christentums gegenüber anderen Religionen. Die andere Religion ist damit nicht nur (kultur)fremd, sondern aus dieser Perspektive immer auch minder wertig« (Rösch 2012: 131). 47

Dementsprechend fordert die EKD in einer ihrer Handreichungen ausdrücklich vom Islam, sich am Christentum ein Beispiel zu nehmen und sich auf eine christlich-demokratische Ordnung einzulassen (vgl. EKD Handreichung 2006). Indem der Rat der evangelischen Kirche »den« Islam auffordert, zwischen Religion und Staat zu trennen, unterläuft er selbst diesem Anspruch. Denn er weiß die protestantische Religion eng mit der Staatsform der Demokratie verbunden. Auch das Böckenförde-Diktum war für die evangelische Kirche immer wieder Anlass, ihre besondere Nähe zur Demokratie zu behaupten. Diese wiederum schien sie dazu zu berechtigen, die EinwanderInnen, vor46 | Auch Friedrich Wilhelm Graf warnt entschieden davor, dem Christentum eine besondere Nähe zur Demokratie zuzuschreiben (vgl. 2013: 42), ebenso wie etwa auch Joas davor warnt, Christentum und Kultur zu nahe aneinanderzurücken oder gar miteinander zu identifizieren (vgl. 2013: 284). 47 | Dazu gehört die Tatsache, dass angedacht wurde, die Neutralität des Staates im Sinne der Gleichbehandlung aller Religion dadurch zu unterlaufen, dass das Maß staatlicher Zuwendung und politischer Anerkennung von dem Beitrag der Religionsgemeinschaften zur Wohlfahrt der Gesellschaft abhängig gemacht werden sollte.

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

zugsweise aus muslimischen Kulturkreisen, aufzufordern, sich zu den hier gültigen Werten zu bekennen. Werte sind aber keine Vorschriften, an die sich alle zu halten haben. Werte sind emotionale Einstellungen, die etwas billigen oder missbilligen, wie Schnädelbach in seinen Ausführungen zum Unterschied von Werten und Normen zeigt (vgl. Schnädelbach 2012: 175ff.). Werte sind Ausdruck von etwas Wünschenswertem, was das Entscheiden und Handeln der Menschen beeinflussen und für ein Individuum oder eine Gruppe kennzeichnend sein kann. Werte können deshalb auch nicht vorgeschrieben werden, sind sie doch Gegenstand der Meinungs- wie auch der Religionsfreiheit. Demgegenüber legen Normen fest, was in bestimmten Bereichen erlaubt und was verboten ist. Die BRD ist deshalb keine Wertegemeinschaft, sondern eine Rechtsgemeinschaft. Sie garantiert die individuellen Freiheitsrechte unabhängig von bestimmten Wertüberzeugungen  – denn diese sind in der modernen Welt stets wandelbar und umstritten. So geht der Normsetzung in Form von Gesetzgebungsverfahren in der Regel ein lebhafter Meinungsstreit voraus, in dem etwa die ParlamentarierInnen ihre oft höchst unterschiedlichen Werteüberzeugungen in die Debatte einbringen. Diese werden sie auch behalten, selbst wenn das verabschiedete Gesetz nicht ihrer Überzeugung entspricht. Das hindert sie jedoch nicht daran, sich an die Gesetze zu halten. Wenn hingegen Werte normativ verordnet würden, würden all die, die in ihrer Einschätzung von ihnen abweichen, außerhalb des Gesetzes stehen. Demokratie hat ja im Unterschied zur Diktatur gerade den Anspruch, nicht in die Köpfe hineinzuregieren und Pluralität als Quelle von Kompetenz, Lebendigkeit und Entwicklung zu begreifen. Dementsprechend hält es auch Böckenförde für unzulässig, die Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft von dem Bekenntnis zu »ihren« Werten abhängig zu machen. Dem Staat stehe die Forderung eines solchen Bekenntnisses nicht zu. Er warnt vor der Einführung einer »staatseigenen Zivilreligion«, die in der ständigen Berufung auf die »Wertordnung des Grundgesetzes« daherkomme. Und er mutmaßt, dass mit der ständigen Betonung des christlich-jüdischen Erbes offenbar eine Koalition gegen den Islam beschworen werde: »[…] und wer dabei nicht an die hier lebenden Juden, Muslime und andere Religionsgemeinschaften denkt und sie anerkennt, der beschwört mehr Konflikte, als dass er sie löst« (zit. in Schieder 2011: 260). Er befürchtet vor allem, dass es, wenn die hier beschworenen Werte für alle verbindlich gemacht würden, genau diese Werte wie Demokratie und Toleranz in ihr Gegenteil verkehren würde. Das ist für ihn nicht anderes als ein »Wertordnungsfundamentalismus«, denn man knüpft dann die Ausübung der Freiheitsrechte über die gesetzlich festgelegte Grenze hinaus an ungeschriebene Gesinnungs- und Wertordnungsvorbehalte. Damit wird das rechtsstaat-

8. Das Christentum als Basis gesellschaf tlicher Wer te?

liche Freiheitsprinzip in seinem Kern beeinträchtigt. Die Gesetzesloyalität aber ist die Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens, nicht die Wertbekenntnisse.48 Böckenförde wehrte sich also gegen die Tendenz, die BRD zu einer »Wertegemeinschaft« zu machen, Werte in Normen zu verwandeln und sie so der jeweils eigenen, freien Einschätzung zu entziehen. Er wehrte sich in den letzten Jahren auch immer wieder gegen das Missverständnis, sein berühmt gewordenes Diktum wende sich gegen eine multireligiöse Gesellschaft. Es sei ihm damals keineswegs darum gegangen, dass der christliche Glaube die Homogenität des Staates und der Gesellschaft herstellen solle, um den Zusammenhalt zu gewährleisten. Vielmehr müsse die Lösung der Integrationsprobleme über den Staat erfolgen und zwar durch gelebte Neutralität einer offenen säkularen Freiheitsordnung: »Solche freiheitsbezogenen Gesetze, werden sie konsequent und unparteiisch angewandt, vermögen eine neue Art von einigendem Band über einer pluralen, teilweise auseinanderstrebenden kulturellen Wirklichkeit hervorzubringen: die Gemeinsamkeit des Lebens in und unter einer vernunftgetragenen gesetzlichen Ordnung, die unverbrüchlich ist. […] Anstelle von ausgreifenden Wertebekenntnissen würde Gesetzesloyalität zur Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens genügen« (zit. in Rösch 2011: 245). 49

Es ist wichtig zu sehen, dass Ähnlichkeit, Familiarität und ein gemeinsamer Wertekonsens als Bedingungen gegenseitigen Vertrauens in »sich wandelnden, diversen Gesellschaften schlicht nicht mehr gegeben sind. Stattdessen sind hier Werte wie wechselseitige Toleranz sowie Akzeptanz von Andersartigkeit als bedeutende Grundlage des Zusammenhalts gefragt«, wie der Religionsmonitor (2015: 72) formuliert. Und an anderer Stelle heißt es: »Befürchtungen in Bezug auf negative Folgen sozialer Wandlungsprozesse wie Globalisierung

48 | Wenn von Muslimen unbedingte Loyalität zu den hier herrschenden Werten gefordert wird, sollte bedacht werden, dass das für die hier lebendenden Christen nicht gilt. So hat sich der deutsche Staat sogar per Konkordat mit dem Vatikan verpflichtet, die katholische Morallehre zu stützen – obwohl sie der bestehenden Rechtslage widerspricht, da sie z.B. Abtreibung, Verhütung oder schwul/lesbischen Partnerschaften ablehnt. Der Staat verlangt keine Übereinstimmung der Religion mit den Grundwerten der Demokratie, sondern nur gelebte Rechtstreue (EKD 24, 22 epd 32f). 49 | Diese Aussage wird empirisch auch dadurch bestätigt, dass laut Religionsmonitor 2015 Einwanderung und kulturelle Vielfalt nicht den sozialen Zusammenhalt gefährden (vgl. ebd.: 59). Die sozialen Netzwerke sind in Gesellschaften mit starker Einwanderung ebenso stark wie in kulturell homogeneren.

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und Einwanderung für den sozialen Zusammenhalt sind bislang – und soweit abschätzbar – unbegründet« (ebd.: 86).50 Der Verlauf dieser Debatte zeigte also, wie schnell die Forderung nach für alle verbindlichen Werten zu einem Anspruch auf kulturelle Hegemonie entgleisen kann. Das gilt auch für eine Kirche, die sich so weit mit der gegebenen politischen Ordnung identifiziert, dass sie sich selbst zu deren Voraussetzung erklärt. Damit werden genau die Werte von Religions- und Meinungsfreiheit unterlaufen, die es zu verteidigen gilt.

Resümee Die Diskussion um gemeinsame gesellschaftliche Werte weist unterschiedliche Facetten auf: Zum einen geht es um Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der gesellschaftlichen Orientierung, des Bezugs zur Tradition, aber es geht auch um Fragen der Macht der Religion beziehungsweise der Kirchen in der Gesellschaft und um kulturelle Hegemonie. Die Frage, was dabei nun spezifisch christliche Werte sind, führt weiter zu der Frage, wie Werte entstehen und wer historisch ein Anrecht hat, deren Ursprünge für sich zu reklamieren. Wenn wir davon ausgehen, dass die Menschenrechte die Grundlage für die Werte dieser Gesellschaft bilden, so steht die Christlichkeit ihrer Ursprünge erheblich in Frage. Nicht nur, weil sich die Kirchen im Laufe ihrer Geschichte vielfach gegen die Gleichheit der Menschen gewandt haben, auch nicht, weil gläubige Christen heute im Vergleich zu atheistischen und säkularen Menschen sich nicht in besonderer Weise dafür einsetzen, sondern weil in der Unterwerfung unter den christlichen Gott, das heißt, unter seine Schöpfungsordnung wie auch unter seine Gnadenerweise, die volle Menschlichkeit des jeweiligen Menschen immer in Frage steht. Dem widerspricht nicht, dass einige Strömungen innerhalb vor allem des protestantischen Christentums sich vom Beginn der Neuzeit an für die Demokratisierung der feudalen Verhältnisse eingesetzt haben. Sie waren jedoch in der Minderheit und wurden von den etablierten Kirchen vielfach verfolgt. Die hartnäckige Überzeugung, dass Menschlichkeit, Solidarität und Brüderlichkeit »im Grunde« christliche Werte seien, ist deshalb als Produkt der Säkularisierung einer christlichen Weltsicht zu verstehen, die »die« Welt, von der nichts Gutes kommen kann, als sündhaft begreift. Demgegenüber kann »das Gute« wie die Sorge um den anderen Menschen nur als Befolgung eines von einer außerweltlichen Macht aufgegebenen Gebots verstanden werden. Denn

50 | Darüber hinaus stellt die Untersuchung fest, dass »gerade Einwanderer und Angehörige religiöser Minderheiten durch besonders ausgeprägte interreligiöse Kontakte über brückenbildendes Sozialkapital verfügen« (ebd.: 86).

8. Das Christentum als Basis gesellschaf tlicher Wer te?

die Menschen sind demnach »von Natur aus« oder aber aufgrund des herrschenden Wirtschaftssystems »im Grunde« alle egoistisch und kaltherzig. Zugleich weisen die Auseinandersetzungen über die Ursprünge der Menschenrechte auf einen Machtkampf um kulturelle Hegemonie hin, auf einen Kampf um moralische Vorherrschaft, ja um den Anspruch führende, wenn nicht einzige Quelle von Moral zu sein. Das bezieht sich jedoch nicht nur auf die Kirchen, sondern auf die Bevölkerung selbst. Auch ihr kommen – ob gläubig oder nicht – die Hegemonialansprüche der christlichen Kirchen entgegen, denn sie bestätigen die eigene moralische Überlegenheit. Mit den Worten einer Redakteurin aus der bereits oben zitierten Untersuchung zu Position meinungsbildender Eliten in Deutschland: Der Einsatz für Schwache sei ein christliches Proprium, »und da, finde ich, sollte die Kirche viel aktiver sein […] sehr gezielt eingreifen, also in Richtung zum Beispiel Verwahrlosung von Kindern […] auch was tun […] was das Zusammenleben mit Ausländern anbetrifft […] aus ›ner ganz selbstbewussten Perspektive so nach dem Motto für uns Christen ist es etwas sehr Selbstverständliches, dass wir uns für Minderheiten einsetzen, für den Schwachen einzusetzen […]« (Gärtner et al. 2012: 101).

Die Debatte um die Ursprünge der Menschenrechte ist auch ein Beispiel dafür, wie religiöse und säkulare Positionen explizit aufeinandertreffen. Andere Beispiele wären das in den 90er Jahren heftig umstrittene Kruzifixurteil51 oder auch die Einführung von Ethik- statt Religionsunterricht an Schulen. Insofern stellt sich die Frage, wie die jeweils unterschiedlichen Auffassungen in einer Gesellschaft koexistieren können, die sich selbst als säkular versteht. Auf die Brisanz dieser Fragestellung wies Jürgen Habermas hin, als er von dieser Gesellschaft als einer »postsäkularen« sprach. Er fragte, wie überhaupt ein demokratisches Miteinander von religiösen und säkularen Menschen möglich ist. Und er fragte, ob die Gesellschaft auf das Christentum in den Aushandlungen um eine gemeinsame moralische Basis in der Gesellschaft verzichten kann.

51 | Das Bundesverfassungsgericht erklärte am 16. Mai 1995 Teile der Bayerischen Volksschulordnung von 1983 für verfassungswidrig, nach denen in jedem Klassenzimmer der Volksschulen in Bayern ein Kruzifix anzubringen war.

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9. R eligiös-säkulares Miteinander: Die Habermas-Debatte

Die kulturellen Grundlagen der deutschen Gesellschaft sind von säkularen wie christlichen Traditionen bestimmt, und zwar mittels einer, wie wir sahen, höchst wechselvollen Geschichte, denn das Verhältnis dieser Traditionen war und ist durch Kampf, Kooperation, Symbiose, gegenseitige Funktionalisierungen und Dispersionen geprägt. Wie es in der Gesellschaft wahrgenommen wird, soll im Folgenden anhand einer Debatte erörtert werden, die vor einiger Zeit der derzeit wohl anerkannteste Philosoph in Deutschland, Jürgen Habermas, angestoßen hat, womit er auf große Resonanz gestoßen ist. Er fragte, wie das Verhältnis zwischen einem säkularen Staat und gläubigen Menschen in der Gesellschaft zu regeln sei und welche Rolle die Religion vor allem in Bezug auf ihre moralischen Ressourcen in einer säkularen Gesellschaft innehaben könne. Nach Meinung von Habermas herrscht in der säkularen Gesellschaft die paradoxe Situation, dass der Staat sich im Prinzip neutral zu verhalten hat, obwohl die Gesellschaft auch aus gläubigen Menschen besteht, die sich in den allgemeinen Willensbildungsprozess der Demokratie einbringen wollen und sollen. Einerseits müssen sich die staatlichen Instanzen von religiösen Einflüssen abschirmen, da sie ja für alle verbindliche Beschlüsse fassen müssen, andererseits sollen sie aber auch den Religionsgemeinschaften einen gleichberechtigten Freiraum in der Gesellschaft bieten. Dieser Widerspruch ergibt sich notwendig aus der Säkularisierung eines Staates, dessen Mitglieder zugleich Gläubige und Nicht-Gläubige sind (vgl. Habermas 2012: 155, 251). Habermas hat jedoch nicht nur auf dies potentiell konflikthafte Miteinander hingewiesen, sondern zudem gefragt, ob ein solches Zusammenleben nicht auch produktiv sein kann, da auch die Religionen mit ihren Überlegungen etwas zu den Werten dieser Gesellschaft beitragen könnten. Habermas fragt also nach den Chancen und Problemen einer säkular-religiösen ­Gesellschaft.

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

Diese Fragen stellen sich seiner Meinung nach derzeit vor allem deshalb mit besonderer Dringlichkeit, weil Religionen in den öffentlichen Debatten heute eine weitaus größere Rolle spielen als früher. Das macht er zum einen daran fest, dass weltweite Konflikte in der medial vermittelten Wahrnehmung oft als religiöse Auseinandersetzungen präsentiert werden; zum anderen beobachtet er einen zunehmenden Einfluss von religiösen Stellungnahmen in der politische Meinungsbildung, und schließlich gibt es seiner Meinung nach zunehmend auch innergesellschaftlich Auseinandersetzungen um das Thema Religion aufgrund der Vitalität fremder Religionen im Zuge der Einwanderung (vgl. ebd.: 113). Dies sind für ihn Zeichen einer Krise des Übergangs von den nationalen Gesellschaften zu einer multikulturellen Weltgesellschaft (vgl. ebd.: 132). Diese Problemstellung, die Habermas in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Paulskirche 2003 in Frankfurt a.M. öffentlichkeitswirksam darlegte, hat erhebliche Unruhe verursacht. Ein Großteil des Unbehagens hat sicherlich damit zu tun, dass er in dem Zusammenhang von der heutigen Zeit als von einer »postsäkularen« sprach, was vielfach so verstanden wurde, dass nun die Zeit der Säkularität vorbei und die der Religion angebrochen sei. Das provozierte, da er sich damit gegen die weit verbreitete Säkularisierungsthese stellte, die von einer »Überwindung« der Religion im Zuge der fortschreitenden Moderne ausgeht. Allerdings wurde der Begriff »postsäkular« vielfach falsch verstanden. Er ist auch missverständlich, suggeriert das Affix »post« doch, dass das säkulare Zeitalter hinter uns liege. Das ist nun keineswegs der Fall, und das meint Habermas auch nicht. Er definiert postsäkular so, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, in der wir »mit dem Fortbestehen religiöser Gemeinschaften und der fortbestehenden Relevanz der verschiedenen religiösen Überlieferungen rechnen müssen, auch wenn sie selbst weitgehend säkularisiert sind« (Habermas 2012: 101). Habermas will die Bedeutung von Religion im öffentlichen Diskurs thematisieren. Das macht Sinn, da die christlich-religiösen Einflüsse auf die deutsche Gesellschaft vielfach unterschätzt worden sind. Säkularisierung heißt eben nicht einfach, wie mit den bisherigen Ausführungen gezeigt, die Ablösung von Religion, vielmehr ist Religion weiterhin auf vielfältige Weise präsent. Insofern hat Habermas zweifellos Recht, dass sich die Frage eines säkular-religiösen Miteinanders nach wie vor stellt. Die Frage ist allerdings, wie er die aktuelle Gemengelage beschreibt. Er geht von einer Dominanz des Säkularen aus, die nicht nur die religiösen Menschen benachteilige, sondern auch dem Interesse einer breiten Werte-Fundierung der Gesellschaft z­ uwiderlaufe.

9. Religiös-säkulares Miteinander: Die Habermas-Debatte

Z ur religiös - säkul aren K ommunik ation Die säkularen Argumente sind nach Habermas im Gegensatz zu den religiösen dadurch charakterisiert, dass sie für alle zugänglich und für jede/n nachvollziehbar sind, da sie sich auf Vernunftgründe stützen. So leuchtet etwa die Konzeption der Gerechtigkeit allen Bürgern und Bürgerinnen ein, da sie aus der gemeinsamen Menschenvernunft heraus entworfen worden ist (vgl. ebd.: 271).1 Religiöse Argumente hingegen stützen sich in erster Linie auf eine göttliche Offenbarung, die jedoch nur die anerkennen, die der jeweiligen religiösen Gemeinschaft angehören. Bisher mute, so Habermas, der säkulare Staat den Gläubigen zu, ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache zu übersetzen, um für alle verständlich und nachvollziehbar zu sein. Damit jedoch müssten sie ihre Identität in eine private und öffentliche spalten (vgl. Habermas 2009: 35). Das bedeute, dass die säkulare Gesellschaft die Konflikte, die sie mit sich selbst hat, auf Kosten der Gläubigen zu lösen versuche. Diese hätten nun einseitig die Last der inneren Widersprüchlichkeit zu tragen. Deshalb müssten, so das Argument von Habermas, die säkularen BürgerInnen ihnen entgegenkommen, indem sie einen Sinn für die Artikulationskraft der religiösen Sprachen entwickelten beziehungsweise sich bewahrten. Sie dürften religiösen Weltbildern nicht das Wahrheitspotential absprechen noch den religiösen Mitbürgern das Recht bestreiten, Beiträge zu öffentlichen Diskussionen auch in religiöser Sprache vorzubringen, und schließlich müssten sie sich daran beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen (vgl. Habermas 2005: 36). Die Frage ist in der Tat, wie können Menschen, die in ihren Argumentationen von unterschiedlichen, ja teilweise unvereinbaren Voraussetzungen ausgehen, zu gemeinsamen Beschlüssen in Bezug auf gemeinsame Anliegen kommen. Wie lässt sich also eine gemeinsame Sprache finden? Sein Vorschlag ist, dass man in einem säkular-religiösen Dialog ein reziprokes Lernen entwickeln solle, in dessen Verlauf die jeweils partikularen Sichtweisen in einem erweiterten Horizont miteinander verschmelzen können (vgl. Habermas 2012: 160).2 Das sei deshalb möglich, weil Philosophie und Religion einen gemeinsamen Ursprung haben. Sie seien beide »aus der Weltbildrevolution der Achsenzeit« (um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends) entstanden (vgl. ebd.: 2007: 49). Aufgrund dieser gleichzeitigen Entstehung 1 | Vgl. Bedingungen der Diskursethik als inklusiv, gleichberechtigt, wahrhaftig und strukturell gesicherte Zwanglosigkeit (vgl. ebd.: 282f.). 2 | Dies bezeichnet er als einen dezentrierenden im Unterschied zu einem eingemeindendem Sinn von Universalität (vgl. ebd.: 161).

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von Glauben und Wissen, von Philosophie und Religion gehörten sie beide zur Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft. Deshalb seien sie als komplementäre Gestalten aus jenem Schub der Achsenzeit heraus zu begreifen (vgl. ebd.: 50). Auf dieser Basis könnten nun beide aufeinander zugehen: Die Philosophie müsse von religiösen Überlieferungen in der Weise lernen, dass sie bestimmte Glaubensinhalte aus der religiösen Bekenntnisrede in öffentliche Diskurse übersetze3, während die Religionsgemeinschaften sowohl den religiösen Pluralismus wie auch Recht und Moral einer säkularen Gesellschaft sowie die Autorität der Wissenschaften akzeptieren müssten (vgl. Habermas 2012: 199). Welches Bild vom Verhältnis zwischen der säkularen und der religiösen Perspektive entwirft er hier? Mit dem Bild von einem gemeinsamen Ursprung legt er nahe, dass säkulare und religiöse Denkweisen »im Grunde« gleichgewichtig sind – und nicht nur gleichgewichtig, sondern auch miteinander vereinbar, ja komplementär, sich gegenseitig ergänzend. Er lässt damit, im Gegensatz zu den meisten europäischen Theoretikern der Moderne, das lineare Denken hinter sich. Ihm geht es nicht darum, dass Säkularität die Religion ersetzen werde oder ersetzen soll, sondern dass beide Perspektiven angemessen in die Gesellschaft eingebracht werden können und sollen. Der säkulare Staat habe jedoch die ursprüngliche Komplementarität aus dem Gleichgewicht gebracht, da er die säkulare Sprache bevorzugt beziehungsweise nur noch diese zulassen kann, da er ja neutral sein muss. Das dränge die religiöse Sichtweise in den Hintergrund, und deshalb müssten die säkularen auf die religiöse Menschen zugehen und versuchen sie zu verstehen und ihre Anliegen in die säkulare Sprache übersetzen. Als ein positives Beispiel für eine solche Übersetzung von religiösen in säkulare Inhalte führt er die Menschenrechte an. »Die Übersetzung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in eine gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen ist eine solche rettende Übersetzung« (ebd. 2009: 115f.).4 Daran zeige sich, so Habermas, dass die Religion einen universalistischen Kern habe, der es möglich mache, deren Aussagen in vernunftrechtlich 3 | Er warnt davor, an einem säkularistischen exklusiven Selbstverständnis festzuhalten und empfiehlt, sich selbstkritisch mit den Grenzen der säkularen Vernunft auseinanderzusetzen und die Berechtigung anderer Zugangsweisen zu Politik und Moral anzuerkennen. 4 | Die Aneignung christlicher Gehalte durch die Philosophie hat nach Habermas sich in so schwer beladenen Begriffen wie Verantwortung, Autonomie und Rechtfertigung, wie Geschichte, Erinnerung, Neubeginn, Innovation und Wiederkehr, wie Emanzipation und Erfüllung, wie Entäußerung und Verinnerlichung und Verkörperung, Individualität und Gesellschaft niedergeschlagen: »Sie hat den ursprünglich religiösen Sinn zwar transformiert, aber nicht auf eine entleerende Weise deflationiert und aufgezehrt« (2005b, 32).

9. Religiös-säkulares Miteinander: Die Habermas-Debatte

begründete Prinzipien zu fassen. Insofern hätten hier die Menschen eine jenseits unversöhnlicher Glaubensdifferenzen gemeinsame Sprache gefunden (vgl. ebd.: 2012: 159). Allerdings merkt er auch an, dass die universalen Menschenrechte nicht nur auf den christlichen Schöpfungsglauben und jüdisch-christliche Heilsvorstellungen zurückgeführt werden können, sondern  – neben stoischen Quellen  – auch auf das egalitär-universalistische Vernunftrecht, das die Schranken überwinden konnte, die partikulare Glaubensgemeinschaften gezogen haben (vgl. ebd.: 140).5 Deshalb fragt sich, warum er gerade die Menschenrechte als Beispiel für eine gelungene, ja »rettende« Übersetzung wählt, können diese sich doch auch auf säkulare Quellen berufen. Zudem ist es das säkulare Vernunftrecht, das die partikularen Grenzen der Glaubensgemeinschaften überwunden hat. Worin liegt dann also die »Rettung«? Irritierend ist in dem Zusammenhang auch die Vorstellung einer Komplementarität und Gleichursprünglichkeit, einer harmonischen Ergänzung beider Sichtweisen. Gerade in den Diskussionen um die Ursprünge der Menschenrechte ist von Harmonie und Komplementarität wenig zu spüren. Vielmehr werden hier heftige Auseinandersetzungen geführt, die vielfach von einem apodiktischen Entweder-oder ausgehen. Dabei wird häufig die säkulare durch eine religiöse Sichtweise zu vereinnahmen versucht, indem der »eigentliche« Ursprung als ein christlicher behauptet wird. Gerade in dieser Diskussion ist deshalb von einer Dominanz der säkularen Argumentation wenig zu spüren, vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass gerade in Deutschland die christliche Sichtweise gern zur »Leitkultur« erklärt wird. Demgegenüber scheint Habermas’ These von den »komplementären Gestalten« von Glauben und Vernunft6 eine Wiederauflage des gern gepflegten Mythos einer »abendländischen Synthese« zu sein, einer Symbiose von »Jerusalem und Athen«, vor der, wie wir sahen, Winfried Schröder eindringlich warnt

5 | Habermas vertritt den diskursethischen Grundsatz, wonach nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden können. In den Menschenrechten wirken Religion und Philosophie seiner Meinung nach zusammen und können sich gegenseitig weder ersetzen noch verdrängen. Allerdings kann die Moderne auch eigene Quellen für Sinn und Orientierung für sich beanspruchen, nämlich vor allem den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften, den egalitären Universalismus von Recht und Moral sowie die Autonomie von Kunst und Kritik (vgl. Habermas 2012: 134). 6 | Habermas spricht immer wieder von »komplementären Lernprozessen« (2007: 50), da Glaube und Vernunft zwei sich ergänzende Gestalten des Geistes seien.

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(Schröder 2011; vgl. Kap. 2).7 Er zeigte, wie sich von den Anfängen des Christentums an spätantike Philosophen gegen den ihrer Meinung nach »vernunftwidrigen« Glauben stellten und wie sehr andererseits die Kirchenfürsten über Jahrhunderte hinweg versuchten, diese säkularen philosophischen Quellen gewaltsam auszulöschen. Es scheint also keineswegs so zu sein, dass sich säkulare und religiöse Auffassungen in komplementären Lernprozessen entwickelt hätten, vielmehr standen und stehen sich Sichtweisen gegenüber, die teilweise hart um ihren Vorrang in der Gesellschaft kämpfen.8 Habermas springt gewissermaßen über diese Geschichte hinweg, indem er auf eine weit zurückliegende, auf die Achsenzeit zurückgreift und sie zum gemeinsamen »Ursprung« erklärt. Allerdings ist die damalige Harmonie seiner Meinung nach heute durch einen säkularen Staat gefährdet, der religiösen Positionen keinen hinreichen Raum in der Öffentlichkeit biete. Auch diese These muss zurückgewiesen werden. Denn angesichts all dessen, was wir im Laufe dieser Untersuchung über den Einfluss der christlichen Kirchen auf die Gesetzgebung9 und die öffentlichen Diskurse in diesem Land erfahren haben, über die Verschränkung politischer und religiöser Eliten, über den Einfluss einer christlichen Partei auf die Gesellschaft, kann von einer Unterdrückung religiöser Positionen kaum die Rede sein. Selbst die Grundlage dieser Republik in Gestalt des Grundgesetzes ist, um mit den Worten von Bischof Huber zu sprechen, von einem christlichen Menschenbild geprägt. Die »Neutralität« des Staates ist also keine absolute, sondern sie ist in eine christliche Kultur eingebettet und wird durch die tatkräftige Einflussnahme der Kirchen und einer sich als christlich verstehenden Politik anhaltend relativiert.

7 | In Bezug auf die Antike spricht Habermas jedoch davon, dass das Christentum sich durch die griechische Philosophie hellenisiert habe, was nicht in jeder Hinsicht segensreich gewesen sei (2005b: 31f.). 8 | Allerdings kann man, wie wir sahen, religiöse von säkularen Werteformulierungen nicht einfach trennen. Es werden Begriffe in einer säkularen Sprache gefasst, die selbst religiösen Ursprung haben, andere wiederum werden religiös artikuliert, verfolgen aber säkulare Ziele. Auch sind Prozesse zu beobachten, in denen ein primär religiöser Begriff im Laufe der Zeit immer säkularer wird. Dies Konzept greift auch Habermas (2009) auf, wenn er zum Beispiel davon spricht, dass das egalitäre Vernunftrecht religiöse Wurzeln (vgl. ebd.: 21) habe, aber dass die Legitimation von Recht und Politik sich schon längst aus profanisierten Quellen der religiösen Überlieferung speise. 9 | Um hier nur ein Beispiel zu nennen: Der deutsche Staat hat sich per Konkordat mit dem Vatikan verpflichtet, die katholische Morallehre zu unterstützen, obwohl sie der bestehenden Rechtslage vor allem im Bereich von Familienrecht und reproduktiven Rechten widerspricht. Entsprechende Konkordate wurden auch in den Neuen Bundesländern abgeschlossen, trotz des geringen Anteils der christlichen Bevölkerung.

9. Religiös-säkulares Miteinander: Die Habermas-Debatte

Insofern ist wohl eher dem Theologen Friedrich Wilhelm Graf zuzustimmen, der der Auffassung ist, dass sich die Kleriker viel zu sehr in die öffentliche Debatte einmischten und damit die Religion zu stark politisierten (vgl. Graf 2013: 24f; 35f.). Wir haben also die Paradoxie, dass der Theologe vor zu viel, der säkulare Philosoph hingegen vor zu wenig Religion in der Gesellschaft warnt. Noch entschiedener vertritt Schnädelbach die Auffassung, dass in der BRD die christlichen Kirchen im Vergleich zu ihrer Bedeutung für die Religiosität der Menschen einen viel zu großen Einfluss haben. Er spricht  – auch im Vergleich zur Laicité in Frankreich  – von einer »präsäkularen« Gesellschaft.10 Die Argumentation von Habermas ist selbst ein Beispiel für den eminenten Einfluss christlicher Vorstellungen auf das säkulare Denken. Etwa wenn es ihm selbstverständlich erscheint, dass die Menschenrechte sich aus der »Gottesebenbildlichkeit« ableiten lassen. Dass das nicht selbstverständlich ist, habe ich durch den Verweis auf die Ungleichheit der Geschlechter in dieser Schöpfungsordnung zu zeigen versucht, ebenso wie mit dem Verweis auf die aufgrund der menschlichen Sündhaftigkeit bedingte und immer gefährdete Gottesebenbildlichkeit sowie durch den Verweis darauf, dass die christlichen Kirchen sich in keiner Phase ihrer Geschichte für die Menschenrechte eingesetzt haben, sondern dass diese im Gegenteil gegen sie erkämpft werden mussten. Diese Einwände können jedoch anscheinend die christlich-säkulare Auffassung von einer Fundierung der Menschenrechte im christlichen Schöpfungsglauben nicht wirklich erschüttern. Damit nimmt sie geradezu den Charakter eines säkularen Glaubens an, da diese Überzeugung sich weder durch Vernunftgründe noch durch empirische Belege beirren lässt. Entgegen der faktischen Einflussnahme christlicher Institutionen und Traditionen zeichnet Habermas das Bild einer säkular dominierten Gesellschaft. Damit hat er möglicherweise eine unter christlichen Menschen verbreitete Stimmung zum Ausdruck gebracht, dass es ihnen schwer gemacht werde, ihre Position in der Öffentlichkeit selbstbewusst und unbefangen zu vertreten. In der Öffentlichkeit scheint ein säkularer Habitus vorzuherrschen, der religiösen Argumentationen von vorneherein kritisch oder gar misstrauisch begegnet. Aber auch Habermas hat beobachtet, dass Religion in den öffentlichen Diskursen heute eine weitaus größere Rolle spielt als früher. Das war für ihn ja explizit einer der Gründe, warum er sich veranlasst sah, sich in die Debatte einzumischen.

10 | Denn, so Schnädelbach wörtlich: »Fast überall erheben die Kirchenvertreter ihre Stimme und werden ängstlich gehört; schließlich will man sie als stärkste Kräfte im Bereich der sozialen Wohlfahrt nicht vergraulen. Fest steht, dass bei uns die öffentliche Präsenz der Kirche in keinem Verhältnis steht zu ihrer tatsächlichen Wirksamkeit in unserem praktisch-atheistischen Alltag« (2009: 56f.).

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Deshalb fragt sich auch, ob die religiösen Menschen tatsächlich unter einer säkularen Suprematie leiden, wie Habermas dies beschrieben hat, ob sie sich nicht mit ihrer nur partiellen Präsenz in der Gesellschaft ganz gut eingerichtet haben. Schließlich gehört es zum Grundverständnis des Christentums, sowohl der irdischen wie auch der himmlischen Welt anzugehören. Nach christlicher Lehre sind die Gläubigen Bürger zweier Welten.11 Ein Umstand, den die Theologen in vielen Jahrhunderten als eine Quelle der Inspiration verstanden haben, da er ihnen erlaubte, die Welt aus der Distanz zu betrachten und sich gegebenenfalls »ihrem Treiben« zu entziehen. Das heißt, der christliche Glaube selbst ist auf eine Doppelung von religiöser und weltlicher Perspektive angelegt. Daran schließt sich die Frage an, was im Kontext einer christlich-säkularen Kultur eigentlich unter »Neutralität« zu verstehen ist. Für Habermas beruht diese Neutralität auf einer vernunftbasierten Argumentation, die allen Menschen zugänglich ist, während die Religion auf einem Offenbarungswissen basiert, das sich nur den religiösen erschließt. Er geht dabei von einer Vernunft aus, die insofern als neutral gelten kann, als sie für alle in der gleichen Weise gültig ist. Ist aber »die« Vernunft tatsächlich so »neutral«? Ist sie nicht immer auch Ausdruck einer spezifischen Lebenswirklichkeit und spezifischer Interessen?12 Insofern gilt es auch zwischen unterschiedlichen vernunftbasierte Argumentationen – ebenso wie im übrigen zwischen unterschiedlichen religiösen Strömungen – zu »übersetzen«.13 Wenn wir etwa an die durch den Staat zu regelnde Institution der Ehe denken: Hier gehen die katholischen Christen davon aus, dass die Ehe ein Sakrament, also von Gott gestiftet ist und deshalb auch nicht von den Menschen gelöst werden kann. Dem widersprechen bereits zum großen Teil die Protestanten. Auch im säkularen Bereich treffen wir auf unterschiedliche Po11 | Christen, die in dieser Gesellschaft leben, müssen mit einem doppelten Moralstandard leben (Beispiele Abtreibung, Verhütung, Unauflösbarkeit der Ehe, Homosexualität). Dinge die im Staat erlaubt sind, sind in der Kirche verboten. Eine vom Staat geschlossene Ehe gilt nicht für die Kirche. Deshalb heiraten viele zweimal. Es gilt also in bestimmten Kontexten bestimmte Werte einzuklammern. Der amerikanische Philosoph John Rawls: Eine Seite muss immer eingeklammert werden und einen stillschweigenden Weg finden, mit diesen Widersprüchen umzugehen (Leben mit mehreren Verpflichtungssystemen). 12 | Siehe dazu die Ausführungen über die Perspektivität der Vernunft in Kap. 3 und 5. 13 | Der Einwand des Theologen Johann Reikerstorfer, gegenüber der Übersetzung ist, dass die Religion »nicht als religiöse Erfahrung in ein säkulares Vernunftverständnis eingehen kann« (2008: 47). Es bedarf deshalb seiner Meinung nach einer beide Seiten umgreifenden Weltsicht. Denn Religion könne sich einer säkularisierenden Sprache nicht unterwerfen.

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sitionen, wenn etwa Liberale argumentieren, dass der Staat sich in die Privatsphäre nicht weiter einmischen und keine weiteren Regelungen in Bezug auf die Ehe erlassen dürfe. Dem widersprechen wiederum Feministinnen, die den Schutz der Frau vor männlicher Gewalt über den Schutz der Ehe stellen und die Nichteinmischung des Staates als Form einer patriarchaler Parteilichkeit ­interpretieren.14 Wo also beginnt die »Übersetzungs«arbeit, um unterschiedliche Positionen und auch Weltanschauungen einander verständlich zu machen und zu gemeinsamen Regelungen zu kommen? Zu fragen ist also, ob es in der derzeitigen gesellschaftlichen Situation tatsächlich um die Konfliktlinien geht, die Habermas aufzeigt. Denn es ist ja nicht nur so, dass die christlichen Kirchen sich in dieser Gesellschaft selbstbewusst zu behaupten wissen, sondern dass auch die Bevölkerung »dem« Christentum nach wie vor einen hohen moralischen Kredit einräumt. Das hat u.a., wie wir sahen, mit der großen Bedeutung des karitativen Engagements der Kirchen zu tun, aber auch mit dem Bedürfnis der Identifikation mit einer christlichen Kultur, die gesellschaftlichen Zusammenhalt und Werteorientierung verspricht. Bei der derzeitigen Konfliktlage geht es also eher um die Diskrepanz zwischen dem Bezug der Menschen der Mehrheitsgesellschaft zu »dem« Christentum auf der einen Seite und »den« Kirchen auf der anderen als um eine generelle Benachteiligung der Religion in dieser Gesellschaft; ebenso wie es um Konflikte zwischen »dem« Christentum und »fremden« Religionen geht. Habermas spricht hingegen fast immer nur allgemein von »der« Religion, ohne zwischen Christentum und anderen Religionen zu unterscheiden. Insgesamt zeichnet er also das Bild einer Asymmetrie, in der die säkulare Dominanz religiösen Positionen wenig Raum in dieser Gesellschaft lässt. Zugleich beschwört er eine Harmonie, eine auf einen gemeinsamen Ursprung gegründete Komplementarität zwischen der religiösen und säkularen Perspektive und fordert dazu auf, die religiösen Beiträge in eine säkulare Sprache zu übersetzen. Das nicht nur, um den religiösen Positionen zu ihrem Recht zu verhelfen, sondern weil er meint, dass es wünschenswert, wenn nicht gar notwendig ist, dass die säkulare Gesellschaft auf religiös geprägte Diskurse zurückgreift, da die säkulare Sichtweise allein die anstehenden Probleme nicht bewältigen könne. Er fragt also, ob die säkulare Gesellschaft die Religion nicht braucht oder sie zumindest im eigenen Interesse nutzen sollte. Habermas selbst versteht sich zwar als »religiös unmusikalisch«, warnt jedoch davor, sich in der säkularen Gesellschaft von »wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung« ­abzuschneiden und sich nicht mehr auf moralische Empfindungen einzulas-

14 | So konnte zum Beispiel erst eine politische Mobilisierung von Seiten der Frauen erreichen, dass Gewalt in der Ehe geahndet wurde; die Vergewaltigung in der Ehe wurde erst 1997 unter Strafe gestellt.

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sen, die »bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck finden« (Habermas 2001: 22, 29).

R eligion als mor alische R essource Nach Habermas blieb in den Religionsgemeinschaften etwas intakt, was andernorts verloren gegangen ist: »Ich meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für ein verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge« (2005: 115, 23).15 Diese moralischen Empfindungen können seiner Meinung nach nicht durch professionelles Wissen von Experten allein wiederhergestellt werden. Denn die moralische Urteilskraft wurde abgeschwächt und abgestumpft, als »das Unbedingte des Göttlichen nicht mehr zum Maßstab gemacht und Vergehen gegen göttliche Gesetze in solche gegen menschliche Gesetze verwandelt wurden« (2001: 24). Der Markt konnte sich nun in alle Bezüge, in alle Poren der zwischenmenschlichen Beziehungen hineindrängen und sie in das Schema selbstbezogener Orientierung pressen. Zudem hinterlasse die verlorene Hoffnung auf Resurrektion angesichts zugefügten, vergangenen Leids seiner Auffassung nach eine spürbare Leere (vgl. ebd.: 25). Deshalb müsse sich Säkularität auf ihre Wurzeln besinnen. Er spricht in dem Zusammenhang von einer »entgleisenden Säkularisierung« (2005: 106). Religion kann die genannten Defizite beheben, weil sie sich seiner Meinung nach auf etwas stützen kann, was im säkularen Leben verloren gegangen ist, »nämlich ein Bewusstsein für die verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit« (zit. in Reder/Schmidt 2008: 30f.). Die Religion ist nach Habermas in einem sakralen Komplex von Mythos und ritueller Praxis verwurzelt. Da »den ungläubigen Söhnen und Töchtern der Moderne« der Zugang dazu verwehrt ist, sind ihnen auch die Quellen der Solidarität verschlossen (Habermas 2012: 95).16 An anderer Stelle heißt es: 15 | Die religiösen/politischen Radikalisierungen zeigen, dass wir »noch keinen angemessenen Begriff für die semantische Differenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was zutiefst böse ist« (ebd.: 24), gefunden haben. Im verkehrten Guten der monströsen Tat treibt der »gefallene Engel« sein Unwesen – da es den Teufel nicht gibt. Auch im ungezügelten Vergeltungsdrang (ebd.). 16 | Habermas schreibt zwar der Vernunftmoral das Potential zu, das Urteilsvermögen zu schärfen für die Verletzung individueller Ansprüche und individueller Pflichten, und es »motiviert mit der schwachen Kraft guter Gründe auch zum moralischen Handeln.

9. Religiös-säkulares Miteinander: Die Habermas-Debatte »Nach der Erschöpfung der sozialutopischen Energien und dem Rückzug zukunftsgerichteter Phantasien in Videowelten, Science-Fiction und kalifornische Visionen vom ›neuen Menschen‹ ist es ungewiss, ob sich das normative Selbstverständnis einer neoliberal okkupierten, auf verbesserte Technologien und beschleunigte Kapitalflüsse zusammenschrumpfenden Moderne noch aus eigenen Beständen regenerieren kann.« (Habermas 2012: 187f.)

Märkte und administrative Macht hätten die gesellschaftliche Solidarität aus immer mehr Lebensbereichen verdrängt (2005: 116). Trotz seiner häufigen Verweise auf die Gleichursprünglichkeit von Glauben und Vernunft räumt er in moralischer Hinsicht dem religiösen Verständnis durchweg einen Vorrang ein, denn das säkular bestimmte Leben schildert er als defizitär und trostlos.17 So reduziert er die heutigen Zukunftshoffnungen auf Visionen in »Videowelten«, »Science-Fiction« und »kalifornischen Entwürfen« vom »neuen Menschen«. Abgesehen davon, dass auch in diesen Erscheinungsformen der medialen Kultur ein kritisches, reflexives Potential enthalten sein kann, kommt hier nicht nur eine einseitige, negativistisch eingeengte Perspektive, sondern auch ein antimoderner Zug zum Vorschein.18 Aber dieser Kognitivismus richtet sich an die Einsicht von Individuen und erzeugt ­k eine Antriebe für ein solidarisches, d.h. ein moralisch angeleitetes kollektives Handeln« (2008: 97). Und weiter heißt es: »Die säkulare Moral ist nicht von Haus aus in gemeinsame Praktiken eingebettet. Demgegenüber bleibt das religiöse Bewusstsein wesentlich mit der fortdauernden Praxis des Lebens in einer Gemeinde verbunden und im Fall der Weltreligionen mit der im Ritual vereinigten globalen Gemeinde aller Glaubensgenossen« (ebd.). Für ihn ist »der Ritus eine Quelle gesellschaftlicher Solidarität gewesen, für die weder die aufgeklärte Moral der gleichen Achtung für jeden noch die aristotelische Güter- und Tugendethiken ein wirkliches Äquivalent liefern« (2012: 105). 17 | Habermas geht keineswegs so weit wie andere Autoren, für die Moralität ausschließlich aus religiösen Zusammenhängen entsteht. Für ihn hat der politische Liberalismus (in Form eines Kant’schen Republikanismus) die normativen Grundlagen des Verfassungsstaats geschaffen auf einer nichtreligiösen und nachmetaphysischen Basis. Diese Theorie steht in der Tradition des Vernunftrechts, das auf starke kosmologische oder heilsgeschichtliche Annahmen verzichtet (vgl. Habermas 2005: 107). Die Legitimationsgrundlagen der weltanschaulich neutralen Staatsgewalt stammen am Ende aus den profanen Quellen der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts (vgl. ebd.). 18 | Die Zukunftsvisionen werden einseitig reduziert ohne all die anderen umfassenden Debatten um Ökologie und Frauenrechte, um postkoloniale Utopien und eine gewaltfreie Gesellschaft auch zu sehen. Auch nimmt er anscheinend nicht die kleineren und großen Gruppierungen wahr, die sich weltweit für eine lebenswerte Zukunft für die Menschen einsetzen.

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Man erkennt in seinen Ausführungen unschwer Züge der oben erörterten antisäkularen Position, die mit dem Verlust der Religion den Verlust von Moralität und das Ausbrechen eines »ungezügelten« Egoismus befürchtet. Man könnte seine Argumentation auch auf das zurückführen, was Georg Stauth als »Nostalgiesyndrom« in der (deutschen) Soziologie bezeichnet hat (Stauth 1993). Habermas zeichnet, ähnlich wie Max Weber, Bilder vom moralischen Untergang der eigenen Zivilisation, indem er die Macht der Administration – bei Weber das stahlharte Gehäuse der Bürokratie – und die demoralisierende Macht des Marktes beschwört. Auch spricht Habermas den Verlust der Mystik und der Rituale an, den Max Weber mit seinem berühmten Diktum von der »Entzauberung der Welt« beklagt hat. Demnach muss das von der Magie befreite Subjekt immer mehr unter der Versklavung der von ihm geschaffenen Projekte leiden. Daraus kann es nur durch die visionäre Kraft der Religion gerettet werden. Gegen eine solche Einschätzung wehrt sich Habermas jedoch, da er sich selbst in der Mitte positioniert, in der Mitte zwischen fortschrittsoptimistischen und verfallstheoretischen Deutungen: Zwischen einer Sicht, die die Präsenz von Religion verdrängt und Säkularität mit Fortschritt gleichsetzt, und einer pessimistischen Position, nach der die Moderne aufgrund der unrechtmäßigen Aneignung religiöser Denkweisen und Lebensformen durch die Aufklärung obdachlos geworden sei (Habermas 2001: 12f.). Er glaubt, mit seinem Begriff der postsäkularen Gesellschaft über beide Positionen hinausgehen zu können, indem er von einer »dritten Partei« spricht, die sich in einer »pluralisierten Vernunft« zeigt, die »im Ergebnis zur gleichmäßigen Distanz von starken Traditionen und weltanschaulichen Inhalten nötigt. Lernbereit bleibt sie aber, ohne ihre Eigenständigkeit preiszugeben, osmotisch nach beiden Seiten hin geöffnet« (2005: 15). Allerdings entspricht diese mittlere Positionierung nicht dem Duktus seiner Argumentation, denn alleine die säkulare Lebenswelt wird als defizitär und bedürftig geschildert. Während er die Religion als Quelle von Sinnhaftigkeit und Solidarität beschreibt. Angesichts der Geschichte des Christentums in Europa möchte man fragen, warum er die Religion unbesehen als Quelle von Solidarität, nicht aber auch von Zwist und Feindschaft sieht.19 Insofern fragt sich, was mit dem Ruf nach Religion als Quelle von Sinn und Solidarität gemeint sein könnte. 19 | Das ist, so etwa auch die Argumentation von Graf, ein höchst riskantes, hoch ambivalentes Projekt, denn Religion könne immer auch desintegrativ wirken. Zudem müsse man bedenken, dass sehr viele religiöse Gemeinschaften hierarchisch und patriarchalisch strukturiert sind. Und schließlich stellt sich überhaupt die Frage, ob man Religion einfach für seine Zwecke nutzen kann. Graf wehrt sich jedenfalls gegen ein solch funktionalistisches Verständnis von Religion, denn »Niemand ist ernsthaft fromm, weil es sozialen Nutzen für ihn selbst oder gar fürs Gemeinwohl abwirft« (2012: 38).

9. Religiös-säkulares Miteinander: Die Habermas-Debatte

Nach Habermas hat die Säkularisierung eine spürbare Leere hinterlassen. Tatsächlich muss die Rückführung der Moral auf die Menschen selbst auf eine Autorität von außen verzichten, die die Regeln vorgibt. In der Autonomisierung der Moral, wie Kant sie beschrieben hat, müssen die Regeln von den Menschen selber entworfen werden.20 Das Bedürfnis, nun nach einer Fundierung der Werte in der Religion zu suchen, nennt Graf eine »theokratische Versuchung«, nämlich die »Hoffnung, durch eine religiös fundierte Sittensubstanz oder irgendwelche ›Werte‹ politische Integration stärken zu können« (Graf 2013: 349). Sie sei Teil der europäischen Ideengeschichte und prägt seiner Meinung nach die politischen Debatten in vielen westlichen Gesellschaften bis in die unmittelbare Gegenwart hinein.21 Im Übrigen wird die Habermas sche Position von Seiten christlicher Theologen durchaus unterschiedlich eingeschätzt. Auf der einen Seite wird interessiert wahrgenommen, dass er einen Dialog mit religiösen Instanzen sucht.22 Auf der anderen Seite wehren sich einige Theologen auch dagegen, dass er die Religion lediglich als eine sozialmoralische Ressource für die Gesellschaft benutzen will.23 ‘

20 | Kant ist selbst allerdings nicht so eindeutig. So schreibt Habermas, dass bei Kant die Autorität göttlicher Gebote in der unbedingten Geltung moralischer Pflichten ein unüberhörbares Echo gefunden habe. »Mit seinem Begriff der Autonomie zerstört er zwar die traditionelle Vorstellung der Gotteskindschaft. Aber den banalen Folgen einer entleerenden Deflationierung kommt er durch kritische Anverwandlung des religiösen Gehaltes zuvor« (Habermas 2001: 23f.). 21 | Ein Streit, der auf ideenpolitische Auseinandersetzungen im Europa des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts zurückgeht, als sich Liberale und Konservative gegenüberstanden, wobei die Konservativen glaubten, die Institutionen des liberalen Staates seien zu schwach, um die Marktdynamiken einer kapitalistischen Tauschgesellschaft begrenzen oder steuern zu können. »Liberal gedachte Freiheit löse alle Gemeinschaftsbildungen auf und befördere die Perversion der Gesellschaft zu einem Kampflatz, dessen freie Konkurrenz nur auf die unkontrollierbare Herrschaft weniger starker Gewinner über viele schwache Verlierer hinauslaufe« (Graf 2013: 34). Deshalb werden von diesen oft sehr frommen Sozialkonservativen Gegenmächte neue bindende Vergemeinschaftung beschworen – allen voran die Macht der Religion (vgl. ebd.: 34). »Wo die Liberalen nur Eigeninteressen und Nutzenkalkül sehen, müsse wieder Nächstenliebe und Gemeinsann herrschen« (ebd.: 35). 22 | Vgl. den Dialog mit Papst Benedikt XVI. (2005). Oder auch die Position von J. Schmidt und F. Riecken in Reder und Schmidt 2008. 23 | Vgl. etwa Reder 2008 oder Graf 2013: 34ff. oder auch Höhn 2013: 67: Die Politik interessiert sich für Religion, sofern sie kommunitäre Bindungskraft besitzt, die man als sozialmoralische Ressourcen einer Gemeinwohlorientierung gegen die Fliehkräfte eines liberalistischen Individualismus und gegen die Logik der Nutzenegozentrik aufbieten

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

Resümee Teil I Habermas hat mit seinen Einwendungen wichtige Fragen angesprochen, indem er mit aller Deutlichkeit auf das Missverständnis hinweist, wir lebten in einer säkularen Gesellschaft, in der Religion keine Rolle mehr spiele. Andererseits sind seine Anklänge an antisäkulare und nostalgische Positionen durchaus problematisch. Obgleich er sich selbst als religiös unmusikalisch bezeichnet, idealisiert er das Christentum, indem er dessen widersprüchliche und negative Anteile nicht in seine Überlegungen mit hineinnimmt. Für ihn ist es etwa selbstverständlich, dass die christliche Schöpfungsgeschichte die Menschenrechte begründe und dass deren Übersetzung in die säkulare Sprache eine »Rettung« bedeute, da die säkulare Gesellschaft vom Verlust von moralischer Sensibilität und Solidarität bedroht sei. In diesem Sinn ist seine Position typisch für ein christlich-säkulares Gesellschaftsbild: Ausgehend von einem Selbstverständnis, das sich als säkular begreift, wird gleichzeitig der christlichen Religion ein zentraler Stellenwert in der Gesellschaft eingeräumt. Das Christentum wird unkritisch als eine Quelle von Solidarität und Mitmenschlichkeit vorgestellt, und zugleich wird die Kompetenz der säkularen Welt zur Wertegenerierung und zum produktiven gesellschaftlichen und mitmenschlichen Umgang in Frage gestellt. Gerade das kann als Folge einer kulturellen Prägung durch das Christentum verstanden werden, das die »irdische Welt« als Ort von Egoismus und Sünde versteht. Hier greift dann eine Sehnsucht nach »mystischen« Zeiten und vorgegebenen Ordnungsmustern im Sinne einer »theokratischen Versuchung«. Insofern kann Habermas auch keine Antwort auf die Frage geben, wie wir in einer säkular/christlichen Gesellschaft miteinander umgehen sollten. Und zwar, meine ich, deshalb nicht, weil er auf die Widersprüche zwischen Religion und Säkularität nicht eingeht, sondern lediglich von »Übersetzung« oder einem »komplementären Lernprozess« spricht. Noch weniger kann er Antworten auf die Fragen des Zusammenlebens in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft geben. Denn die implizite Priorisierung des Christentums und seine Identifizierung mit der Kultur, marginalisiert die Existenz anderer Religionen. Habermas spricht meist nur von Religion allgemein, als wäre es gleichgültig, ob es sich um das Christentum, den Islam, das Judentum oder eine andere Religion handelt. Damit kann er schwerlich einen produktiven Beitrag zu einem besseren Verständnis in einer konflikthaften multireligiösen Sikann. »Mit der Theologie selbst setzte sich Habermas nicht auseinander. Er reduzierte Religion auf Ethik und Moral. Sie ist aber auch Medium der Selbstdarstellung in religiösen Symboliken, Praktiken und Semantiken. Hier wird Religion zur Verwertung nicht religiöser Ziele funktionalisiert (29).

9. Religiös-säkulares Miteinander: Die Habermas-Debatte

tuation leisten, und vor allem kann er die Folgen der kulturellen Dominanz des Christentums in dieser Gesellschaft nicht in Frage stellen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass er mit seinen Einlassungen dessen Dominanz noch verstärkt hat. So schätzen etwa die Befragten in der oben zitierten Untersuchung zum Stellenwert religiöser Orientierungen bei meinungsbildenden Eliten die Situation so ein, dass das Christentum in Deutschland durch eine Intellektualisierung wieder hoffähig gemacht worden sei, die mit der Münchner Diskussion zwischen Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger begonnen habe. Das Christentum habe plötzlich wieder eine intellektuelle Dimension gewonnen. Diese Entwicklungen hätten die Bereitschaft gefördert, sich öffentlich zum christlichen Glauben zu bekennen und die Bedeutung des Christentums für die Gesellschaft zu betonen (Gärtner et al. 2012: 81f.). Es bleibt also die Frage, wie Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen in einem sich als säkular verstehenden Gemeinwesen produktiv zusammenleben und kooperieren können. Nach Habermas‘ Modell sollen die einen ihre Position in die Sprache der anderen übersetzen. Ein anderer Zugang wäre, dass die Menschen so miteinander kommunizieren, dass unterschiedliche Facetten sichtbar werden, und zwar die negativen wie die positiven Anteile, die Widersprüche und Gemeinsamkeiten. Denn Voraussetzung für Verständigung und Kooperation ist meines Erachtens der kritische Blick auf die eigene wie auch auf die andere Position  – und nicht das Beschwören eines gemeinsamen Ursprungs. Es genügt nicht »Komplementarität« zu behaupten, sondern sie muss hergestellt werden, in selbstkritischen Auseinandersetzungen, in denen die jeweiligen Widersprüche ebenso wie die jeweiligen Machtinteressen kommuniziert und reflektiert werden. In einer solch offenen Kommunikation wäre es wohl eher möglich sich im Anderen soweit zu erkennen, dass Bereitschaft und Motivation zur Kooperation gestärkt werden. Das mag an dieser Stelle idealistisch oder psychologistisch klingen, im weiteren Verlauf, Teil III dieser Untersuchung, will ich jedoch diese Spur im Umgang zwischen einer christlich-säkularen Gesellschaft und ihren »Anderen« weiter verfolgen.

Resümee Teil II Bevor wir hier weiter fortfahren, soll jedoch nochmals innegehalten werden, um einige Ergebnisse in Bezug auf die Bedeutung des Christentums in unserer säkularen Gesellschaft zu resümieren. Die Säkularität in Deutschland ist eine christlich geprägte. Das bedeutet, dass bei aller Neutralität in weiten Teilen des Staates, wie der Bildung und der Wissenschaft, eine Priorisierung des Christentums vorliegt, die den anhaltenden Einfluss der Kirchen auf Politik und Gesellschaft wie auch den Einfluss der

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christlichen Traditionen auf die Einstellungen der Bevölkerung unterschätzt. Zu vermuten ist, dass selbst die Religionsfeindlichkeit eine christlich geprägte ist, da in sie die Macht- und Gewaltgeschichte des Christentums eingeschrieben ist, gegen die sie sich wehrt. Der Widerspruch zwischen einem säkularen Selbstverständnis und christlicher Dominanz kommt kaum irgendwo deutlicher als in den unterschiedlichen Gerichtsurteilen in Sachen Kopftuch zum Ausdruck, bei denen die Klage von Frau Ludin auf Tragen eines Kopftuchs als Lehrerin an einer deutschen Schule einmal mit dem Argument zurückgewiesen wurde, dass sie nicht die christlichen Werte vertrete, wie sie der baden-württembergischen Schulordnung zu Grunde liegen, zum anderen wurde ihr jedoch vom Verwaltungsgericht Mannheim vorgeworfen, dass sie gegen die Pflicht weltanschaulicher Neutralität verstoße. Die Christlichkeit der säkularen Gesellschaftsbilder zeigt sich etwa darin, dass der Religion der Bereich der Moral zugeschrieben wird, während die säkulare Gesellschaft als Ort der Unmoral, als Quelle von Egoismus und Kaltherzigkeit vorgestellt wird. Deshalb wird dem Christentum eine große Bedeutung in Bezug auf die Erhaltung der Werte und des Zusammenhalts dieser Gesellschaft attestiert, auch von Menschen, die sich selbst nicht als religiös verstehen. Demgegenüber wird der Atheismus von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung sogar als eine Bedrohung angesehen. Dies Vertrauen in das Christentum als ein zentrales moralisches Agens muss jedoch all das Misstrauen abspalten, das gegenüber den Kirchen und ihren Moralvorstellungen in großen Teilen der Gesellschaft inzwischen vorherrscht, aber es muss auch die Widersprüche innerhalb des Christentums in Form der jesuanischen Lehre negieren, die eben nicht nur die Nächsten- und Feindesliebe kennt, sondern auch die Verdammung der Nicht- und Andersgläubigen. Die macht- und gewaltvolle Geschichte des Christentums muss zum Fehltritt erklärt werden, der dem »eigentlichen« Christentum als der Lehre von einer Gesellschaft in Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit nichts anhaben kann. Schließlich muss diese Einstellung eine Doppelmoral leugnen, die im Namen der Heilssorge andere verfolgt und vernichtet oder im Namen hoher persönlicher Moralstandards Verbrechen gegenüber anderen toleriert und selbst durchführt. Diese Idealisierung des Christentums spricht für eine unkritische Übernahme christlicher Selbstdarstellungen, sie spricht aber auch für ein starkes Motiv illusionärer Wunscherfüllung, für den Wunsch nach Geborgenheit in einer konflikthaften und unübersichtlichen Welt. Es spricht daraus der Wunsch nach einer brüderlichen Gemeinschaft in einer hoch individualisierten Konkurrenzgesellschaft. Oder auch der Wunsch nach Einwurzelung in eine Tra-

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dition, die das Gewesene als beständig behauptet, um sich gegen das Neue, den ständigen Wandel und die anhaltende Pluralisierung der Gesellschaft zu stellen. Diese Wünsche sind so mächtig, weil sie die Menschen der schwierigen Arbeit der Herstellung von Gemeinsamkeiten entheben. Ja, weil sie möglicherweise das eigene interessengeleitete Verhalten unberührt lassen, da man ja die Moral an die Religion delegiert hat. Eine Religion, mit der man selbst oft wenig zu tun hat, insbesondere da man sich heute problemlos von den Kirchen distanzieren kann. Aber ein Christentum ohne Kirche gibt es nicht. Auch der Glaube lebt – wie Kany in Paraphrasierung des Böckenförde-Diktums schreibt – von Voraussetzungen, die sich der Glaubende nicht selbst garantieren kann. Er muss im Fall des Christentums auf eine Kirche rekurrieren, die ihm die Bibel »richtig« auslegt (vgl. Kany 2009: 470). Außerdem übernimmt die Kirche auch für nichtreligiöse Menschen in der derzeitigen Gesellschaft wichtige Funktionen: Sie bietet einen Reflexionsraum für Sinn- und Moralfragen, sie ist Liturgin beim Begehen außergewöhnlicher Ereignisse und stark für die Wohlfahrt in dieser Gesellschaft engagiert. Zudem bietet sie weiterhin auch Kunsterlebnisse und Traditionserfahrungen. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen das bewusste/unbewusste Einvernehmen mit der christlichen Tradition und die Delegation der Moral an das Christentum haben. Übernommen wird dabei etwa ein Moralsystem, das in sich hoch ambivalent ist, denn es ist in erster Linie dem Jenseits verpflichtet mit einem von der Welt gelösten Bewertungs- und Sanktionssystem. So ist es nicht gleichgültig, ob wir von Sünde oder Schuld sprechen, denn im einen Fall sind wir Gott, im anderen den Menschen gegenüber verantwortlich. Diese »moralische Parallelwelt« (vgl. Kaufmann) kann, wie etwa das Beispiel des Umgangs der Kirchen mit dem Nationalsozialismus gezeigt hat, zu höchst unmoralischem Verhalten den Betroffen gegenüber führen. Die Flucht in die Metaphysik erweist sich als ein Abwehrmuster, das die Moral in der Gesellschaft nicht befördert, sondern im Gegenteil sogar beeinträchtigen kann. Auch fragt sich entgegen allen »Beweisen« für die Übereinstimmung christlicher Werte mit denen der Demokratie, ob mit der Religion nicht auch antidemokratische Tendenzen transportiert werden können, wie die der Verstärkung sozialer Ungleichheit etwa in Bezug auf das Geschlechterverhältnis oder bezüglich des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Religion und Kultur. Zudem wird mit dem Christentum ein Universalitätsanspruch transportiert, der alle Menschen in eine einzige Weltgemeinschaft einbeziehen möchte – unter christlichen Prämissen: Alle seien eins »in Christus«. Dies nährt eine missionarische Attitüde, die die christliche Religion beziehungsweise Kultur zur Erlöserin der Welt machen möchte. Insofern kennt das christliche Säkularitätsverständnis auch keinen Gegensatz zwischen Christentum

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II. Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaf t

und Moderne, hat es »das« Christentum doch in die Moderne eingemeindet, ja teilweise sogar zu ihrer Voraussetzung erklärt. Zugleich erwartet das christlich-säkulare Selbstverständnis den Niedergang der anderen Religionen wie auch der als traditionalistisch verstandenen Formen des Christentums. Allerdings hat der kurze Blick in die Geschichte des Christentums auch gezeigt, dass in spezifischen sozialen Kontexten, vornehmlich in denen der Distanz zu Weltlichkeit und politischer Macht, das Christentum starke Impulse eines Engagements für soziale Gerechtigkeit und Frieden freisetzen kann. Dann treten auch seine pazifizierenden Momente hervor. Aber indem die positiven Seiten des Christentum allein als die eigentlichen behauptet und die negativen Anteile abgespalten werden, entsteht leicht eine Doppelmoral, bei der im Namen der Liebe Gewalt, im Namen der Moral Unrecht und im Namen der Gleichheit die eigene Superiorität durchgesetzt werden.

III. C  hristliche Dominanz in einer multireligiösen Gesellschaft

10. W estliche Zivilisation und christliche Mission

Das Christentum war von Anbeginn an auf Expansion angelegt. Bereits die Apostel brachen zu weiten Missionsreisen auf und legten so die Grundlage für die Ausbreitung des Christentums im römischen Imperium. Zur Reichsreligion geworden, entwickelte das Christentum eine enorme Dynamik, die sich nach dem Niedergang des römischen Reichs über die Imperien des Mittelalters bis in die Neuzeit fortsetzte. Dieser Expansionismus gelangte ironischerweise im Zeitalter der Säkularisierung zu einem neuen Höhepunkt, nämlich im Zusammenhang mit der Kolonisierung der Welt durch die europäischen und nordamerikanischen Mächte (vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts). In dieser Zeit wurde das Christentum mit seinen heute rund 2,26 Milliarden AnhängerInnen zur größten Religion der Welt. Die Frage ist, wie diese Geschichte das Verhältnis zwischen dem Christentum und den anderen Religionsgemeinschaften geprägt hat und weiterhin prägt, und wie sehr die neuzeitliche Geschichte christlicher Missionierung sich auch in die säkulare Kultur Europas eingeschrieben hat. Die Geschichte des Kolonialismus war von politischem Eroberungswillen, ökonomischen Interessen und religiösem Sendungsbewusstsein getragen und bei den »Entdeckungen« der »neuen« Welten flossen diese unterschiedlichen Motive unmittelbar ineinander. Wenn wir heute also fragen, wie kann das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen in der Gesellschaft gelingen, so ist ein Rückblick auf diese Geschichte unerlässlich, da sie nicht nur die Vergangenheit bestimmt hat, sondern noch heute die Wahrnehmung der Anderen wie auch die Wahrnehmung der europäischen Gesellschaften durch die Anderen wesentlich prägt. Die heutige Zeit kann insofern als eine postkoloniale bezeichnet werden, als die im Kolonialismus geschaffenen globalen Machtverhältnisse die internationalen politischen und ökonomischen Beziehungen weiterhin bestimmen wie auch die kulturellen Beziehungsmuster, einschließlich der Wahrnehmung religiöser Differenzen und des Umgangs damit.

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III. Christliche Dominanz in einer multireligiösen Gesellschaf t

Religiöse und weltliche Interessen griffen im Kolonialismus ineinander. Die Frage ist also, in welche Beziehung traten säkulare und religiöse Motive und wie haben sie sich gegenseitig beeinflusst. Deshalb sollen zunächst die säkulare Perspektive der »westlichen Zivilisation« und ihre Grundlegung im Kolonialismus herausgearbeitet und dann im zweiten Teil den Intentionen der christlichen Mission nachgegangen werden, um schließlich deren Wechselwirkungen genauer zu betrachten.

D ie M ission der » westlichen Z ivilisation « Die Vorstellung, anderen Völkern die Segnungen der eigenen Zivilisation vermitteln zu müssen, entstand im Europa der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen. Die Losungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sollten nicht nur für das jeweilige Land, sondern für die ganze Welt gelten. Dementsprechend eroberte die französische Armee unter Napoleon zunächst die Nachbarländer in Europa, um ihnen den Fortschritt in Form der neuen revolutionären Ideen und einer bürgerlichen Verfassung zu bringen. Das napoleonische Kaiserreich verstand sich selbst als »die Aufklärung zu Pferde«. Es war nicht nur von der Überlegenheit seiner politischen Ideen überzeugt, sondern begriff sich als Speerspitze der Zivilisiertheit.1 Deshalb sollte das restliche Europa die Grande Nation nachahmen. Dieser französische Imperialismus war, so schreibt Broers, von »Aufklärung und Arroganz« geprägt (Broers 2005: 76). Er brachte den unterworfenen Völkern den Code Civil und ein effektives staatliches Verwaltungssystem, aber er vermittelte ihnen zugleich auch ihre »Unterlegenheit« gegenüber dem urbanen Lebensstil Frankreichs mit seinen Salons und Theatern. Der Begriff der Zivilisation zielte damals vor allem auf Unterschiede in Bezug auf Gesellschaftsform, Kunst und Lebensstil in den unterschiedlichen Regionen Europas ab. Diese Bedeutung verschob sich jedoch im Laufe der 1 | Zivilisation bedeutete zunächst die Fähigkeiten und Mittel, mit deren Hilfe sich Menschen materiell und intellektuell so organisieren, dass sie ihr neutrales und soziales Umfeld gestalten und bewältigen können. Dieser Begriff wurde jedoch immer stärker auf die Charakterisierung der Lebensweise einer Gesellschaft übertragen und veränderte sich je nach Stand und Perspektive der jeweiligen Gesellschaften im Laufe der Jahrhunderte. Das Prädikat »zivilisiert« bezeichnete in der Neuzeit zunehmend eine Gesellschaft mit kulturell hohem Entwicklungsgrad. Je mehr er in den Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gesellschaften eingesetzt wurde, desto stärker implizierte er eine Entweder/Oder-Logik der hierarchischen Unterscheidung zwischen »zivilisiert« und »unzivilisiert« bzw. »barbarisch« (vgl. Osterhammel 2005).

10. Westliche Zivilisation und christliche Mission

Zeit, vor allem seitdem im 19. Jahrhundert die Engländer die entsprechenden Diskurse stärker bestimmten und dem Begriff eine primär ökonomische Note gaben. Der freie Markt mit seinem Wettbewerb galt nun als unabdingbare Voraussetzung eines zivilisatorischen Fortschritts. Deshalb sollte die Vertragsfreiheit unter gleichberechtigten Individuen die Grundlage der sozialen Ordnung sein. Dieser Begriff von Zivilisation wurde dann zunehmend mit den »Victorian values« von Pflichteifer, Fleiß und Genügsamkeit und damit auch moralisch aufgeladen. Dabei versuchte das Bürgertum seine eigenen Werte auf die ganze Gesellschaft zu übertragen und sie auch bei den als »unzivilisiert« geltenden unterprivilegierten Schichten im eigenen Land durchzusetzen. Auch sie sollten zu Arbeitseifer und Disziplin erzogen werden. Wie wir bereits im Zusammenhang mit den Analysen Foucaults (Kap. 3) gesehen haben, war Voraussetzung und Begleiterscheinung der europäischen Moderne ein gigantischer Umerziehungsprozess, bei dem den Armen und den Frauen, den Kindern und den psychisch und physisch »Abweichenden« und den Straffälligen in Schulen, Gefängnissen, Arbeitshäusern und psychiatrischen Anstalten die bürgerlichen Vorstellungen von Normalität aufgezwungen wurden, wodurch, wie Foucault sagt, das moderne Subjekt erst eigentlich hervorgebracht wurde. Diese Disziplinierungsoffensive hat nicht zuletzt auch das koloniale Projekt befördert, indem sie das Bedürfnis verstärkte auch »Ordnung« in der Welt zu schaffen. Denn diese Welt »draußen« schien in Unordnung zu sein.

Kolonialismus In der Neuzeit eröffneten die Portugiesen und Spanier die Ära des modernen Kolonialismus, der eng mit den Interessen des Handels verwoben war.2 Dieser Kolonialismus unterscheidet sich von den Eroberungen früherer Mächte wie des römischen Reichs oder der mittelalterlichen Imperien durch die Umgestaltung der eroberten Regionen im Interesse der Kolonialmacht. Die Kolonialmächte versuchten Bodenschätze auszubeuten und die Wirtschaftsweise nach ihren Interessen umzugestalten, zum Beispiel in Form der Etablierung von Plantagenökonomien. Das setzte die Transformation der dort ansässigen Gesellschaften mit einer teilweise radikalen »Umerziehung« der Menschen voraus. Die Massivität der Eingriffe in die jeweiligen Gesellschaften war je nach Form des Kolonialregimes unterschiedlich und reichte von den »ungleichen

2 | Nach dem Niedergang der Iberer seit dem Ende des 16. Jahrhunderts traten die protestantischen Nationen Holland, England und Dänemark an ihre Stelle.

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Verträgen« mit China über die »indirect rule«3 des britischen Imperiums in Indien bis hin zur Vertreibung und Ermordung der Einheimischen in den Siedlerkolonien wie etwa den USA. Ebenso grausam war die Deportation von Menschen in diejenigen Regionen der Welt, in denen Arbeitskräfte gebraucht wurden. Man schätzt, dass ca. 12 Millionen Menschen allein im transatlantischen Sklavenhandel deportiert wurden. Für viele von ihnen bedeutete dies das Todesurteil. Die Triebfeder all dieser Interventionen war es Ausbeutungsregionen im Interesse der Metropolen zu schaffen. Insofern unterscheidet sich der moderne Kolonialismus wesentlich von früheren Imperien, wie etwa dem Alexanderreich, dem römischen Reich oder auch dem arabischen und später dem osmanischen Reich, die zwar umliegende wie auch weiter entfernte Regionen ihrem politischen und militärischen System unterordneten und für sich Steuern erhoben, diese aber nicht völlig umgestalteten. Zum Begriffsumfeld von Kolonialismus gehört auch die »Kolonisierung« des Ostens im Mittelalter durch vorwiegend deutsche Fürstentümer und Ritterorden. In unserem Zusammenhang soll es aber um einen engeren Begriff von Kolonialismus gehen, und zwar um einen solchen, der sich auf Eroberungen unter den Prämissen der westlichen Moderne bezieht; das heißt, einen Kolonialismus, der, von den Interessen einer kapitalistischen Ökonomie getragen, auf technischer und ökonomischer Überlegenheit basiert und sich ideologisch auf die Durchsetzung der modernen, »westlichen«4 Zivilisation stützt. Die Dominanz ökonomischer Interessen führte dazu, dass, global gesehen, strukturell unterschiedliche Regionen entstanden, zum einen die »Metropolen« mit Produktion und Konsumption, zum anderen die »Peripherie« als Lieferant von Rohstoffen. Dabei entstand eine strukturelle Ungleichentwicklung, die unterschiedliche Arbeitsformen hervorbrachte, so in den kolonisierten Regionen die Sklaverei gegenüber der freien Lohnarbeit in den Kolonialländern. Diese Asymmetrie wirkt bis heute fort (vgl. etwa Hauck 2012). So hatten die auf die Metropolen ausgerichteten Monoökonomien der ehemals kolonisierten Länder auch später – nach ihrer politischen Befreiung – schlechtere Chancen auf dem Weltmarkt als die sehr viel mehr auf Produktivität und Diversität ausgelegten Ökonomien der ehemaligen Kolonialmächte. Insofern spricht man heute im Rahmen der sogenannten Dependenztheorien von einer »Entwicklung der Unterentwicklung« im Süden und Osten, bei der die asymmetrischen Ausgangspo3 | Die Verwaltung der Einheimischen durch traditionelle oder neu geschaffene einheimische Autoritäten. 4 | Die Idee des »Westens« als einer zivilisatorischen Einheit entwickelte sich erst relativ spät. Zuvor war die Zivilisation primär als eine christliche konnotiert, in der Renaissance wurde Europa zunehmend zum Bezugsrahmen für eine als einheitliche empfunden Zivilisation, und schließlich wurde erst nach 1900 eine Einheit zwischen Westeuropa und Nordamerika als der »Westen« kreiert (vgl. Headley 2008: 63ff).

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sitionen auf dem Weltmarkt durch westliche Kartelle und Marktmonopole wie auch durch politische Subventionen sowie durch das System der Patente und Lizenzen weiter aufrecht erhalten werden (vgl. ebd. 46ff.). Die kolonialen Eroberungen waren jedoch nicht ausschließlich ökonomisch motiviert, sie waren auch von Entdeckerlust und politischem Eroberungswillen getragen. So beschreibt etwa John Headley (2008), dass bereits in der Renaissance im Zuge der Entwicklung der Geographie als einer Wissenschaft mit ihren neuen Land- und Weltkarten eine neue Perspektive auf die Welt eröffnet worden war. Dabei entdeckte man, dass es noch viele bisher unbekannte, aber bewohnte Regionen in der Welt gab. Diese Erkenntnis wurde zugleich als ein göttlicher Auftrag verstanden, diese neuen Regionen aufzusuchen, deren BewohnerInnen zu bekehren und deren Natur zu erforschen.5 Bei den folgenden Entdeckungsreisen machten sich die Europäer ihre langanhaltende Erfahrung mit Kriegen und ihre hoch entwickelte Kriegstechnologie zunutze.6 Ihre militärischen Siege speisten zunehmend die Vorstellung einer prinzipiellen, zivilisatorischen Überlegenheit, die alle Lebensbereiche durchdringt und nicht zuletzt in einer moralischen Überlegenheit gründet. Dieses Überlegenheitsgefühl wurde auch als eine Verpflichtung verstanden – auch den anderen Menschen die Segnungen der Zivilisation zu bringen.

Zivilisatorische Mission Die Vorstellung, dass es möglich ist, eine Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten, geht insofern auf die Auf klärung zurück, als es ihr ja wesentlich darum gegangen war, die jeweilige Gesellschaft völlig neu zu formen, um eine vernünftigere Ordnung herbeizuführen. Insofern ist nach 5 | »Landkarten repräsentierten eine Sprache der Macht im Vorgriff auf ein Imperium: benennen, mathematisch lokalisieren, sich in Bezug auf die anderen kartographisch definieren wurde ein wesentlicher Schritt zu Besitznahme, Kontrolle und Herrschaft« (Headley 2008: 12). 6 | Im Zuge des Kolonialismus wurde Europa zur weltweiten Vormacht. Das war es nicht immer gewesen. Bis zum 17. Jahrhundert etwa waren China und Indien produktiver als Europa. Im 18. Jahrhundert machte jedoch Europa einen Sprung nach vorn. Dies hat nach Bayley verschiedene Ursachen: Zum einen hatten die grausamen Kriege des 17. Jahrhunderts die Kriegstechnologie weit entwickelt. »Die Europäer konnten besser töten« (2006: 83). Zum anderen exportierten sie ihren »Menschenüberschuss« in die Kolonien. Außerdem konnten sie zunehmend Kapital aus dem Sklavenhandel und kolonialer Ausbeutung akkumulieren. Besitz war aufgrund des Landmangels in Europa sehr wichtig geworden und zur Grundlage des sozialen Ansehens. In asiatischen und afrikanischen Gesellschaften blieb hingegen das Eigentum mehr im Gemeinwesen (vgl. Bayly 2006: 82 f.).

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Osterhammel der zentrale Gedanke der Auf klärung, der unmittelbar zur Idee der Zivilisierungsmission hinführte, die planmäßige Veränderung der Gesellschaft (vgl. Osterhammel 2005: 382). Das schien im kolonialen Kontext umso dringender geboten, als die Bevölkerungen der nun »entdeckten« Kontinente als in vielfältiger Hinsicht »zurückgeblieben« konstruiert wurden. Die Europäer schufen mit zunehmenden Eroberungserfolgen immer mehr das Bild von den Anderen als den »Unterentwickelten«, den »Primitiven«, den »Kindern«. So wurden die BewohnerInnen dieser Regionen von den Kolonisatoren nicht als Menschen mit ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Gesellschaftsformen, ihren Widersprüchen und Auseinandersetzungen gesehen, sondern als »Naturkinder« oder »Wilde«. Kant etwa war der Auffassung, dass die Einwohner Amerikas überhaupt nicht entwicklungsfähig seien, während die AfrikanerInnen dazu erzogen werden könnten, Sklavendienste zu leisten. Die einzige »Rasse«, die zum Fortschritt geeignet sei, sei die europäische. Auf der anderen Seite versteht er aber die »menschliche Natur« grundsätzlich als entwicklungsfähig und sieht die Menschlichkeit des Menschen in dem, was er werden soll. Allerdings bestimmt er das Ziel, wohin sich »der« Mensch entwickeln soll, von seiner eigenen Position als weißer, europäischer Mann aus (vgl. Dhawan 2014: 53f.). Diese Konstruktion der Anderen als geschichts-, ja subjektlos ist Spiegel der eigenen Machtansprüche, die sich im Zuge des Kolonialismus immer weiter verstärken sollten. So waren in der ersten Zeit die Entdeckungsreisenden teilweise noch von Neugier und Interesse an den Anderen motiviert (vgl. Berman 1998). Auch wurden die EinwohnerInnen Afrikas und mehr noch der Südsee gerne romantisch als die »edlen Wilden« verklärt und als Projektionsfläche für eigene Träume und Wünsche genutzt. Aber mit fortschreitender kolonialer Expansion und ökonomischer Ausbeutung stießen die Kolonisatoren auf immer mehr Widerstand von Seiten der Einheimischen. Das hatte zur Folge, dass die Eroberer nicht nur zu immer grausameren Mitteln der Unterdrückung griffen, sondern auch zu immer drastischeren Formen symbolischer Degradierung. Das heißt, je mehr sich das Machtdifferential ausprägte, desto stärker wurde die Hierarchie auch ideologisch als endgültige Trennlinie mithilfe rassistischer und sozialdarwinistischer Ideologien verfestigt. Dabei wurden diejenigen, die als weniger entwickelt galten, als Störungen in der universalhistorischen Geschichte des Fortschritts verstanden. Deshalb waren die Vertreter der Zivilisation dazu berufen, die Entwicklung voranzutreiben, mit oder ohne die Anderen. In den Worten von Horst Gründer: »Die Anschauung vom Überleben des Stärkeren, von der Teilung der Welt in ›lebende‹ und ›sterbende‹, in niedergehende und aufstrebende Nationen, von der Alternative ›Weltmacht oder Untergang‹, Wachsen oder Verkümmern, alle diese Varianten

10. Westliche Zivilisation und christliche Mission s­ ozialdarwinistischer Axiomatik beherrschten das Denken des intellektuellen Naturwissenschaftlers ebenso wie das des gemeinen Mannes« (Gründer 2006: 222).

Im ewigen Existenzkampf musste das eigene Überleben gesichert und zur Entfaltung gebracht werden. Dabei ging es um einen Kampf zwischen Finsternis und Licht, Erwähltheit und Verderben. Was nicht mit dem Eigenen identisch ist, ist Bedrohung, Feind. Es droht der Verlust der eigenen Ordnung und Identität, ja die Auflösung des Selbst wird befürchtet. In dieser Vernichtungsangst kehrt der eigene Dominanzanspruch um und die Europäer werden selbst zum Opfer überwältigender Mächte. Diese Projektionen wurden immer weniger mit den Realerfahrungen konfrontiert und aufgebrochen. Je stärker sie sich zu einem ideologischen System verfestigten, desto selbstverständlicher erlaubten sie Skrupellosigkeit und Gewalt. Gleichzeitig aber wuchs mit der Abspaltung gegenteiliger Erfahrungen und moralischer Bedenken die Angst vor Vergeltung, vor der »Wiederkehr des Verdrängten«, was eben in den Phantasmen des Sozialdarwinismus von der Überwältigung durch »das Wilde« zum Ausdruck kommt. In der ersten Zeit der Entdeckungsreisen hingegen hatte noch der zivilisatorische Gedanke der Entwicklungsfähigkeit überwogen. Voltaire etwa sah in dem »Wilden« den Inbegriff der Perfektibilität, der Fähigkeit zur Vervollkommnung. Er muss, so seine Auffassung, nur in strengster Klausur erzogen werden, damit »die Saat der natürlichen, vervollkommnungsfähigen Geistesgaben« aufgeht und er sich »aus dem Tier zu einem Menschen verwandelt« (zit. in Fink-Eitel 1994: 156). Dementsprechend waren später die Kolonisatoren der Ansicht, dass die jeweilige einheimische Bevölkerung erst zur Gesellschaftsfähigkeit und vor allem zur Marktökonomie hingeführt werden müsse, um Autonomie, Ehrlichkeit und Arbeitskraft zu entwickeln – notfalls auch unter Zwang, durch eine »­Erziehungssklaverei« (Petersson 2005: 39). Zuerst einmal wurden sie jedoch ihres Besitzes beraubt, da behauptet wurde, sie seien nicht fähig oder willens, ihr Land »richtig« zu bewirtschaften. Allerdings kennen wir diese »Erziehungssklaverei« auch aus den Arbeitshäusern Europas. Auch hier wurden die Menschen mit Zwang und Gewalt zur Arbeit »erzogen«. Jedoch sollten die kolonisierten Völker nicht  – auch nicht mit den unteren Ständen Europas – gleichziehen. Der Abstand wurde durch ein mächtiges ideologisches System, den Rassismus, hergestellt und aufrechterhalten.7 7 | Es wäre sicher eine lohnende Aufgabe genauer zu erforschen, wie diese Form der »Zivilisierung« sich von der kolonialen unterschied. Ein interessantes Beispiel ist die Untersuchung von Fischer-Tiné über den Umgang der englischen Kolonialverwaltung mit den Engländern in Indien, die nicht dem Bild der zivilisierten Nation entsprach, den sogenannten Landstreichern und Herumtreibern und Bettlern. Auch sie wurden in Ar-

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Rassismus Im rassistischen Bild von den Anderen wurden diese auf »natürliche« Eigenschaften festgelegt, und zwar auf solche, die dem eigenen Selbstbild am schärfsten entgegengesetzt schienen. So sah etwa der deutsche Offizier August Bishart bei allen AfrikanerInnen ohne Ausnahme vor allem drei Eigenschaften: »Kulturunfähigkeit, Grausamkeit und namenlose Faulheit« (Gründer 2006: 241). Zu dieser Verachtung gehörten aber auch eine gewisse Furcht und Faszination, die Angst vor dem Unbekannten. So wurden die zu erobernden Gebiete von den Kolonisatoren oft als leere, herrenlose Gebiete geschildert. Deren BewohnerInnen wurden gewissermaßen aus der Landschaft getilgt. Damit lauerte aber auch ständig Gefahr »aus dem Hinterhalt«. Je stärker der Dominanzanspruch und die gewaltvolle Auslöschung der Anderen, desto bedrohlicher die »Wiederkehr des Verdrängten«. Darin kam eine begründete oder unbegründete Angst vor der Rache der Unterworfenen zum Ausdruck, aber auch das Unbehagen bezüglich der eigenen Unmenschlichkeit, die vom Bewusstsein ferngehalten werden sollte. Je stärker diese Abspaltungen, desto stärker oft auch die Faszination, die im Anderen einen Spiegel eigenen Verlangens und ungestillter Bedürfnisse sah. Die Anderen hatten etwas, was man selbst nicht hatte. So waren diese Beziehungen auch von Neid geprägt, die etwa in Exotisierungen zum Ausdruck kamen, bei denen die bewunderten Eigenschaften der »Natürlichkeit«, der »Unverdorbenheit« oder der »Erotik« auf die Andern projiziert wurden. Mit solchen Exotisierungen wurden die Anderen jedoch auf Distanz gehalten, denn die Projektionen überformten die realen Begegnungen und Erfahrungen mit ihnen. Gerade die Unterwerfung des Anderen durch solche projektive Eigenschöpfungen macht den narzisstischen Gewinn der Exotisierung aus.8 beitshäusern kaserniert, da ihnen nicht nur Arbeitsdisziplin beigebracht werden sollte, sondern sie aus dem Blick der Öffentlichkeit entfernt werden mussten, um das Bild von der kolonialen Differenz aufrechtzuerhalten und vor der kolonisierten Bevölkerung die Schwächen und Widersprüchen der Kolonialherren zu verbergen. Diese »interne Zivilisierungsmission« wandte sich an die weißen Unterschichten und wurde so unauffällig wie möglich betrieben (vgl. Barth, Osterhammel 2005: 169ff.). 8 | Siehe hierzu ausführlicher Kwok Pui-Lan (2002: 73f.), die, in Anlehnung an Spivak, die Exotisierung als eine Erotisierung und Politisierung von Differenzen versteht, indem polare Strukturen der Idealisierung und Verachtung geschaffen werden. Exotisierung bildet zugleich eine Form der Distanzierung, da man den/die Andere/n nicht zu genau kennenlernen möchte, denn zum einen würde dies auf die eigenen Grenzen hinweisen und zum anderen würden das Wahrnehmen und Lernen vom Anderen ihn/sie auf eine gleiche Ebene heben. In der Distanz jedoch lässt sich die eigene Überlegenheit genießen.

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Die Ideologie des Rassismus scheint im Widerspruch zum Konzept der zivilisatorischen Mission zu stehen und ihr deutliche Grenzen zu ziehen, denn je mehr man glaubt, dass die Anderen von Natur aus auf einer tieferen Stufe stehen, desto weniger Sinn macht es, sie erziehen und auf eine »höhere Stufe« heben zu wollen. Im Zivilisationsbegriff hingegen wird der Mensch als bildbar verstanden. Es wird angenommen, dass in den Menschen ein Potential liege, das nur geweckt und entwickelt werden müsse. Allerdings – und das u.a. macht diese Idee so trügerisch – glaubte niemand wirklich, dass die »Eingeborenen« europäische Standards erreichen würden bzw. man nahm an, dass gegebenenfalls neue Distanzierungsformen entstehen würden. Denn, wie wir unten sehen werden, lebt der Begriff der Zivilisation von der Distinktion, der ständigen Erfindung neuer Standards, die in der Lage sind, eine Annäherung der »Ungleichen« immer neu zu unterlaufen. Dementsprechend lässt sich beobachten, wie die zunächst vom Zivilisationsdiskurs bestimmte Kolonisierung allmählich immer stärker auf rassistische Argumentationen einschwenkte. So verbreiteten sich die Rassetheorien erst, als man vielerorts behauptete, dass die Zivilisationsmission gescheitert sei. Erst Ende des 18. Jahrhundert wurden im Zusammenhang mit der Spätaufklärung die Theorien über die unveränderlichen »Rassen« immer populärer. Die Zahl der Publikationen über Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen EuropäerInnen und AfrikanerInnen stieg steil an. Erst im 19. Jahrhundert, so Barth, kann man von Rassetheorien als einem geschlossenen wissenschaftlichen Konzept sprechen (vgl. Barth, Osterhammel 2005: 201ff.). Die Rassetheorien wurden jedoch keineswegs sofort und ungeteilt von der Bevölkerung in den »Mutterländern« übernommen, sondern sie setzten sich erst allmählich in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten durch. Vorreiter waren vor allem die Siedlerkolonien, also Kolonien, in die EuropäerInnen ausgewandert waren, um sich dort niederzulassen. Oft verjagten sie die einheimische Bevölkerung, versklavten sie oder brachten sie um. Nordamerika und Südafrika ebenso wie die Kolonie Deutsch-Südwestafrika sind dafür Beispiele. In Südafrika etwa enteigneten die von den Engländern ins Innere des Landes getriebenen niederländischen Buren die einheimische Bevölkerung und degradierten sie zu einer »Unterklasse«. Ähnlich unerbittlich gingen in den USA vor allem die Weißen der Südstaaten vor. Hier tat die Pflanzeroligarchie alles, um zu verhindern, dass die Schwarzen auch nur ein Minimum an Bildung und Erziehung erhielten. Selbst die Menschen, die aus der Sklaverei entlassen worden waren, wurden systematisch von jeder Schulbildung und christlichen Erziehung ausgeschlossen (vgl. ebd.: 209). Auch in der ehemaligen deutschen Kolonie »Südwestafrika« war man z unächst von der »Bildbarkeit« der AfrikanerInnen ausgegangen, und ­ vor allem die Missionare setzen sich dafür ein, sie immer näher an ihre Normvorstellungen heranzuführen. Diese eher wohlwollende, wenn auch

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paternalistisch-­assimilatorische Position änderte sich, als das Gebiet zu einer Siedlerkolonie ausgebaut werden sollte. Nun sollten die AfrikanerInnen nur noch rudimentäre Kenntnisse in der deutschen Sprache erwerben und allenfalls ein einfaches Handwerk erlernen. Zuviel Bildung, so fürchteten die Deutschen, könnte die AfrikanerInnen rebellisch machen. So wurden nach dem Aufstand der Herero und Nama offen rassistische Positionen immer populärer, die dann auch deren Vernichtung rechtfertigen sollten (vgl. Zimmerer 2011). Deutsch-Südwestafrika diente als ein Entwicklungslaboratorium für Rassetheorien. Hier wurden zum Beispiel unter Leitung von Eugen Fischer, der später dem Nationalsozialismus die Rechtfertigung für Euthanasie und Rassenpolitik lieferte, umfangreiche Schädelmessungen vorgenommen, um die Gültigkeit der rassistischen Vererbungslehre nachzuweisen. Mit drastischen Worten warnte Fischer vor der Vermischung zwischen Weißen und »Bastards«, denn dann käme unweigerlich »schwarzes Blut« in die »weiße Rasse«. Und jedes europäische Volk, das das Blut »minderwertiger Rassen« aufgenommen habe, hätte dies mit geistigem und kulturellem Niedergang zu bezahlen (vgl. Barth 2005: 220f.). Hier zeigt sich der Kolonialismus als ein ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus. Das heißt jedoch nicht, dass alle Kolonisatoren mit demselben Fanatismus die »Unterlegenheit« der Anderen zu beweisen und eine »Mischung« von Europäern und Einheimischen zu verhindern suchten. Wie in der heutigen politischen Kultur finden wir auch im Kolonialismus ein breites Spektrum unterschiedlicher Einstellungsmuster und politischer Positionierungen. Horst Gründer etwa arbeitet in seiner Untersuchung zum deutschen Kolonialismus verschiedene Typen heraus, von humanitär-paternalistischen über patriarchal-autoritäre bis hin zu biologisch rassistischen Einstellungsmustern. So empfahlen etwa Vertreter patriarchal-autoritärer Einstellungen, die Einheimischen bis zu einem gewissen Grad als seinesgleichen anzuerkennen, als Menschen, denen man Mitgefühl schuldig sei und denen man trotz großer Strenge auch mal ein freundliches Wort gönnen und kleine Wünsche erfüllen könne; vorausgesetzt allerdings, dass sie bereit seien, die Überlegenheit der Weißen anzuerkennen. Andere gingen sogar so weit, dass sie im Sinne eines humanitär-paternalistischen Standpunkts den Menschen ihren ererbten Grund und Boden belassen und ihnen politische Rechte gewähren wollten. Aber auch hier war die Anerkennung der Überlegenheit der Kolonialherren die Voraussetzung für eine solche »Gewährung« von Rechten vgl. (Gründer 2006: 240f.). Besonders desaströs sollte sich in der Geschichte des Kolonialismus die Verknüpfung von Rassismus und Sklaverei erweisen. Die vormoderne Sklaverei etwa in der griechisch-römischen Antike oder im osmanischen Reich bezog sich im Wesentlichen auf die Versklavung von Menschen, die im Krieg überwältigt worden waren und in die Verfügungsgewalt der Sieger

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­ bergingen. Die Versklavung war insofern – im Prinzip zumindest – wieder ü rückgängig zu machen. So spielten im römischen Reich die Freigelassenen oft eine wichtige Rolle und konnten angesehene Ämter bekleiden. Nicht so bei rassistischen Formen der Sklaverei. Auch die Freigelassenen bleiben Menschen geringeren Werts, da dieser ja angeblich ihrer Natur eigen ist (vgl. Stam & Shohat 2012: 14).9 Es fragt sich also, inwiefern die »zivilisatorische Mission« ihrem Anspruch gerecht werden konnte, den Kolonisierten die »Segnungen der Zivilisation« zu bringen. Stuchtey etwa meint in seiner Analyse der »Europäisierung der Welt«, dass die starken ökonomische Interessen wie auch der zur Hochzeit des Kolonialismus im späten 19. Jahrhundert in Europa vorherrschende chauvinistische Nationalismus wesentlich dazu beitrugen, dass »der Imperialismus10 nicht Modernität, Fortschrittlichkeit und sogar Altruismus bedeutete, wie seine Befürworter geltend machten, sondern dass er Gewalt, Unterordnung und 9 | Allerdings hatte auch Aristoteles gelehrt, dass die Sklaven eine »minderwertige Natur« hätten, was für die europäische Geistesgeschichte überaus einflussreich war. Aber in Aristoteles‘ Werken sind auch Passagen zu finden, die die Gleichheit aller Menschen betonen (vgl. Avalos 2011: 45). So war in Griechenland und vor allem auch im römischen Reich die Freilassung von Sklaven möglich, und römische Freigelassene konnten sogar das Bürgerrecht erwerben. Sie genossen teilweise ein hohes Ansehen (ebd.: 55ff.). Im europäischen Mittelalter hat es einen biologisch fundierten Rassismus nicht gegeben. Die Abgrenzungen der einen Gruppe von der anderen verliefen im Wesentlichen über unterschiedliche Sitten, unterschiedliche Sprache und Religion und über das Recht (vgl. Bartlett 1996: 239). Erst im Spätmittelalter begann man der Abstammung immer mehr Gewicht zu geben. So wurde etwa bei immer mehr Zünften der sogenannte Deutschtumparagraph eingeführt, der die deutsche Geburt zu einer Voraussetzung für die Aufnahme machte (vgl. ebd.: 289). Abgrenzungsbedürfnis und Ausschließlichkeitsdenken wurden im Laufe der Zeit immer intensiver – beispielhaft exekutiert an den Muslimen in Spanien: »Im Spätmittelalter wurde den Muslimen in Spanien ihr Recht genommen, und allmählich verloren sie auch ihre Sprache. Ihren Höhepunkt erreichten die Angriffe aber, als die Muslime auch ihr ›Gesetz‹ im tiefsten Sinne, ihre Religion, in den Zwangskonversionen um das Jahr 1500 verloren. Im 16. Jahrhundert waren es dann die Sitten und Gebräuche, die der christlichen Mehrheit nicht mehr akzeptabel erschienen. Anfang des 17. Jahrhunderts schließlich war beschlossen worden, dass auch ihre Abstammung nicht mehr toleriert werden könnte« (ebd.: 294). 10 | Als eigentliches Zeitalter des Imperialismus gilt das späte 19. Jahrhundert, in dem eine feste Machtbeziehung zwischen der kolonialen Macht im Zentrum und der kolonisierten »Peripherie« etabliert war. Kolonialismus ist demgegenüber ein weiter gefasster Begriff, der zunächst einfach nur die Besiedlung fremder Gebiete meinte, jedoch in der weiteren Entwicklung, wie gezeigt, auch die Intention der Ausbeutung und Umgestaltung implizierte.

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Verachtung für das ›Fremde‹ repräsentierte, wie seine Kritiker feststellten« (Stuchtey 2010: 307). In seinem »Discours sur le colonialisme« schreibt dazu der afrokaribisch-französische Schriftsteller Aimé Césaire: »Man spricht mir von Fortschritt, von ›Errungenschaften‹, von geheilten Krankheiten, von gestiegener Lebensqualität. Ich spreche von ihrer selbst entfremdeten Gesellschaften, von mit Füßen getretenen Kulturen, von unterminierten Institutionen, von beschlagnahmten Ländereien […] von unterdrückten Möglichkeiten. […] Man wirft mir Fakten an den Kopf, Statistiken, Straßenkilometer, Kanäle, Eisenbahnen. Ich spreche von Tausenden von Menschen, die der Congo-Ozean-Bahn geoopfert wurden. […] Man hält mir Tonnagen von Baumwoll- oder Kakao-Exporten, Anbauflächen von Oliven oder Weintrauben vor Augen. Ich spreche von […] zerstören Lebensmittelkulturen, von installierter Unterernährung, von alleine am Wohl der Metropolen ausgerichteter landwirtschaftlicher Entwicklung, von weggerafften Produkten, von weggerafften Rohstoffen« (Césaire 1955: 19f. zit. in Hauck 2012: 73).

Zivilisation als Gewaltregime Das Konzept der »zivilisatorischen Mission« birgt­also einen eklatanten Widerspruch in sich, wenn man behauptet, es bringe den anderen Völkern und Regionen Fortschritt und Freiheit. Es mögen viele der damaligen Kolonisatoren davon überzeugt gewesen sein, dass sie an der Spitze einer umfassenden weltgeschichtlichen Fortschrittsbewegung standen (vgl. Osterhammel 2005: 363), sie praktizierten jedoch in erster Linie eine Politik der Unterwerfung, Ausbeutung und Gewalt. Diese Diskrepanz erinnert an diejenige zwischen der christlichen Lehre von der Nächsten- und Feindesliebe und der christlichen Politik der Verfolgung Anders- und Nichtgläubiger, wie sie im Kap. 4 erörtert wurde. Insofern stellt sich auch im Zusammenhang mit dem Zivilisationsbegriff die Frage, wie wird mit diesem Widerspruch umgegangen, war dies »nur« eine Fehlentwicklung oder ist im Zivilisationsbegriff selbst die Idee der Gewalt strukturell angelegt. Im damals gängigen Zivilisationsbegriff wurde durch die Einteilung der Menschheit in verschiedene Entwicklungsstufen ein universales System sozialer Hierarchien geschaffen.11 Ein solches System war den Europäern aus ihrer feudalen Geschichte vertraut. In diesem Kontext hatte auch der Zivilisations11 | Die Lehre von der »Scala naturae«, der »Großen Kette des Seins«, die ab Mitte des 17. Jahrhunderts eine Renaissance erlebte, geht auf die bereits von Aristoteles vertretene Auffassung zurück, dass alle natürlichen Wesen als Glieder einer aufsteigenden Entwicklung zu verstehen seien, und wurde etwa von Spinoza, Leibniz und Locke aufgegriffen und weiterentwickelt (vgl. Hentges 1999).

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begriff seine soziale Bedeutung bekommen, wie Norbert Elias in seiner umfassenden Theorie der Zivilisationsgeschichte Europas herausgearbeitet hat. Das Motiv der Aufrechterhaltung und Vergrößerung hierarchischer Unterschiede, d.h. der Machtdifferentiale, steht nach Elias hinter dem Bedürfnis des ZurSchau-Stellens von zivilisiertem Verhalten, der »Distinktion« (Elias 1981). Er sieht in der Intention der ständigen Verfeinerung der »Sitten« eine soziale Strategie des Adels, um sich vom aufstrebenden Bürgertum abzugrenzen. Dieses Benehmen verleiht ihnen eine Distanz gegenüber den weniger Bevorrechtigten und ist somit einer der wichtigsten Antriebe für die Entwicklung wie auch für die Verbreitung von neuen Verhaltensstandards. Der symbolische Distinktionsgewinn treibt wiederum die Verfeinerung der Sitten und die Ausdifferenzierung von Verhaltensweisen, Geschmack und Mode ständig voran. Und obgleich der Zivilisationsprozess nach Elias zur Pazifizierung im Rahmen der Monopolisierung von Gewalt beitrug, blieb ihm jedoch in diesem ständigen Streben nach Überlegenheit ein gewaltträchtiges Moment ­immanent.12 Damit hat Elias den Zivilisationsbegriff »dynamisiert«. Das heißt, der Begriff Zivilisation impliziert nicht einen festgelegten Kodex, sondern eine dynamische Größe, denn jede von den Nachkommenden erreichte Entwicklungsstufe verliert ihre Bedeutung, da die hegemonialen Schichten bereits neue Überlegenheitsstandards entwickelt haben. Damit kann bereits das Bemühen um eine »nachholende Entwicklung« als Ausweis von Unterlegenheit verstanden werden.13 Das aber bedeutet, das Zivilisationsmodell zieht unüberwindbare Grenzen, obgleich es Gleichheit in einer fernen Zukunft verspricht. Dieser Widerspruch kann nur aufgehoben werden, wenn sich die Machtverhältnisse grundlegend ändern und die »Nachkommenden« den Begriff der Zivilisation nach ihren Vorstellungen mit prägen – wie dies beim europäischen männlichen Bürgertum gegenüber dem Adel der Fall war. Zuvor aber werden die »Nachkommenden« mit dem Entwicklungsgedanken abgespeist. Das zeigt etwa klassisch die Rede Abraham Lincolns (1861 bis 1865), des sechzehnten Präsident der Vereinigten Staaten, der den Menschen zu erläutern versuchte, warum eine Gesellschaft, die 1776 feierlich erklärt hatte, dass alle Menschen frei und gleich geschaffen worden seien, zur gleichen Zeit andere Menschen versklavte und ausbeutete. Er meinte, die Unabhängigkeitserklärung habe nicht die Absicht gehabt alle Menschen in jeder Hinsicht als gleich zu erklären: »Sie meinten nicht, dass alle Menschen die Gleichheit 12 | Insofern war die Zivilisierungsmission, wie wir sahen, durchaus auch ein innereuropäisches Phänomen, einmal ausgehend vom nachrevolutionären Frankreich und zum anderen ganz allgemein vorangetrieben von den bürgerlichen Schichten gegenüber den unterprivilegierten und marginalisierten Ständen und Klassen. 13 | Diese prinzipielle Unmöglichkeit der Anpassung wird auch als »Assimilationsparadox« bezeichnet.

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bereits genießen würden, […] sondern sie formulierten diese Rechte, damit deren Verwirklichung eintreten würde, sobald es die Umstände erlauben« (zit. in Headley 2008: 131). Das heißt, die Gleichheit kann in ein Versprechen für die Zukunft umformuliert und so mit einer »ungleichen« und gewalttätigen Wirklichkeit ausgesöhnt werden. Ein solches Versprechen war ja, wie wir sahen, auch ein wesentliches Moment in der Gewaltlegitimation des Christentums (vgl. Kap. 4). Das Gewaltpotential liegt bereits im Markieren des Anderen als anders und »weniger« entwickelt in Bezug auf die von der hegemonen Macht als verbindlich deklarierten Werte. Dagegen kann man einwenden, dass die meisten uns bekannten Völker und Reiche sich jeweils ein Gegenüber geschaffen haben, das diese Anderen als Andere markiert und zugleich abgewertet hat. So haben etwa die Griechen mit dem Begriff der Barbaren all die bezeichnet, die nicht griechisch sprachen. Das heißt aber nicht, dass sie all diese Nachbarvölker erobern und nach ihrem Selbstbild umformen wollten. Imperiale Eroberungsmotive und ökonomische Interessen mussten hinzutreten und der Gedanke einer weltumspannenden Mission, der freiwilligen oder gewalttätigen Eingemeindung aller Anderen in ein gemeinsames Glaubensoder Lebenssystem. Die »Europäisierung der Welt« (vgl. Headley 2008) war von der Idee getragen, dass die Menschheit wesentlich eine auf dem Naturrecht basierende rationale Einheit darstelle, die unter einem gemeinsamen System zu vereinen sei (vgl. ebd.: 102). Insofern scheint, nach Headley, die große Erbschaft unserer Zivilisation weniger in den Errungenschaften von Wissenschaft und Technik zu liegen als in der vereinheitlichenden Kraft des Anspruchs einer politischen Gemeinschaft, die sich über unzählige Grenzziehungen des Regionalismus und Tribalismus hinweg durchgesetzt hat (vgl. ebd.: 115). Dieses Vereinheitlichungsmotiv findet seinen Ausdruck vor allem in einem Zivilisationsbegriff, der mit seiner partikularen Perspektive immer die ganze Menschheit meint. Anderenfalls drohe die Gefahr in einem zivilisatorischen Abgrund unterzugehen. Die eigene Emanzipation wird hier mit der aller Menschen in eins gesetzt. Ein solcher Zivilisationsbegriff kann sich wiederum auf den christlichen Missionsgedanken stützen, der das Heil der Christen an die Bekehrung der ganzen Welt knüpfte und so eine weltumspannende gegenseitige Abhängigkeit im Sinne einer »Schicksalsgemeinschaft« schuf, damit aber gleichzeitig einen eigenen Führungsanspruch anmeldete. Dementsprechend verdichtete sich im Laufe des Kolonialismus die europäische Perspektive immer mehr hin zu einem Eurozentrismus als einem hegemonialen Wissens- und Erkenntnissystem, das die Vorstellungswelt und Rationalität des Westens auf die ganze Welt übertrug und keine außereuropäische Erfahrung als wertvoll oder bedeutsam wahrnehmen konnte. »Der Westen« ist der alleinige entscheidende Bezugspunkt und von ihm kommen Fortschritt und Heil. Dieser Eurozentrismus impliziert mit

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seinem Allmachtsanspruch Gewalt, versucht diese jedoch mit seiner humanistischen Programmatik unsichtbar zu machen.

Abwehr- und Legitimationsmuster Diese Widersprüchlichkeit wird heutzutage gerne in dem Bild vom dünnen Eis der Zivilisation angesprochen. Die Zivilisation bewegt sich demnach auf einem Eis, das immer wieder einzubrechen droht – wie es etwa die Verbrechen der »Kulturnation« Deutschland im Nationalsozialismus zeigten. Dies Bild stützt sich auf ein psychoanalytisches Denken, das die mühsam aufgebaute Fassade der Wohlanständigkeit und Bürgerlichkeit durch die »von unten« anbrandenden aggressiven und sexuellen Triebe ständig in Gefahr sieht. Diese Vorstellung versteht sich als kritisch dem eigenen Selbstbild gegenüber, denn entgegen dem eigenen Selbstverständnis scheint »in Wirklichkeit« viel Destruktives und ungezähmt »Wildes« im Untergrund zu schlummern. Was aber, wenn bereits das Selbstbild, das frei zugängliche Bewusstsein von barbarischen Momenten durchsetzt ist? Was, wenn Antisemitismus, Rassismus und Sexismus konstitutive Bestandteile des modernen, aufgeklärten Denkens sind, das jedoch angesichts von Widersprüchen zuweilen unbewusst gemacht wird? Es waren so prominente Denker wie Hegel und Kant, die die Hierarchie der »Rassen« zu begründen und zu erklären wussten. Hegel etwa sah in Afrika ein »Kinderland […] jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt« (zit. in Hentges 1999: 261). Er, ebenso wie Kant, schreibt den Europäern oder der »weißen Rasse« Eigenschaften zu, die sie zur Eroberung der Welt besonders befähigen.14 Auch Voltaire steht ihnen nicht nach, wenn es darum geht, die Zurückgebliebenheit der Nicht-Europäer auszuschildern. Für ihn sind die Afrikaner dumme Tiere, denn nach dem Maßstab gleichbleibender, ziviler Vernunft sind sie auf der untersten Stufe einzuordnen. An dieser Rigorosität der Aufklärung ändert sich auch nichts, wenn Voltaire eine gewisse Pluralität und Relativität der Weltkul-

14 | So findet auch Hegel die Sklaverei der Europäer nicht so schlimm, da doch die in Afrika selbst praktizierte Sklaverei fast noch schlimmer sei. Moralische Normen seien bei den Afrikanern kaum entwickelt beziehungsweise nicht existent. Eltern verkauften ihre Kinder, so wie Kinder ihre Eltern. »Es ist die Grundlage der Sklaverei überhaupt, dass der Mensch das Bewußtseyn seiner Freiheit noch nicht hat, und somit zu einer Sache, zu einem Werthlosen herabsinkt […] Aber, daß jemand Sklave ist, liegt in seinem eigenen Willen, so wie es im Willen eines Volkes liegt, wenn es unterjocht wird« (zit. in Hentges 1999: 262). Hegel »erklärt« also nicht nur den europäischen Kolonialismus mithilfe seiner Theorie der Entwicklung des Geistes, sondern schiebt die Verantwortung dafür auch noch den Unterworfenen zu.

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turen anerkennt, indem er etwa (wie im Übrigen auch Kant) die chinesische Kultur sehr viel höher einstuft (vgl. Fink-Eitel 1994: 157). Das heißt, die Konstruktion unüberschreitbarer Differenzen und deren Hierarchisierung ist in das Denken der europäischen Auf klärung eingeschrieben. Insofern kann man wohl kaum von einem Gegensatz zwischen einer bewussten Zivilisiertheit und einer unbewussten Barbarei sprechen. Barbarei ist nicht etwas Ungestümes, dem Bewusstsein Fremdes, das unglücklicherweise durchbrochen werden kann, wenn die Kontrolle des Bewusstseins einmal versagt, sondern sie ist einem Denken immanent, das anderen Menschen die menschliche Würde abspricht. Das Bild vom »dünnen Eis der Zivilisation« macht die Barbarei zu einem bewusstseinsfernen, uneigentlichen Phänomen der Zivilisation und erinnert damit an die oben (Kap. 4) erwähnte Diagnose von Küng, der angesichts der von der Kirche verantworteten Gewalt von einer Neurose spricht, oder von Angenendt, der diese zu einem Sündenfall erklärt. Die stärkste Legitimation für die Durchsetzung von Ungleichheit und Gewalt ist jedoch der Rassismus, der von wesenhaften, biologisch fundierten Unterschieden zwischen den Menschen ausgeht und damit einen unterschiedlichen Umgang mit ihnen rechtfertigt. Hier ist die Idee der Gleichheit gänzlich außer Kraft gesetzt und damit auch der Zivilisationsbegriff. Denn im Zivilisationsbegriff wird, im Unterschied zum Rassismus, zumindest im Prinzip noch von einer potentiellen Auf hebung der unterschiedlichen Stufen ausgegangen. Was den Rassismus neben der Endgültigkeit der Grenzziehungen charakterisiert, ist die performative Kraft dieser Vorstellung, also die Fähigkeit sie in der Wirklichkeit durchzusetzen. Dieser Zusammenhang wurde schon in der Zeit des Kolonialismus gesehen. So klagte etwa Alexander von Humboldt anlässlich seiner Reise nach Mittel- und Südamerika (1803) die Sklaverei scharf an und hielt in einer Tagebuchaufzeichnung fest, dass das Unbehagen, das einen jeden empfindsamen Menschen in den europäischen Kolonien überkomme, daher rühre, »dass die Idee der Kolonie selbst eine unmoralische ist, diese Idee eines Landes, das einem anderen zu Abgaben verpflichtet ist, eines Landes, in dem man nur zu einem bestimmten Grad an Wohlstand gelangen soll, in welchem der Gewerbefleiß, die Aufklärung sich nur bis zu einem bestimmten Punkt ausbreiten sollen […] sonst würde sich eine starke, wirtschaftlich selbstständige Kolonie unabhängig machen. Jede Kolonialregierung ist eine Regierung des Misstrauens. […] Je größer die Kolonien sind, je konsequenter die europäischen Regierungen in ihrer politischen Bosheit sind, umso stärker muss sich die Unmoral der Kolonien vermehren. Man sucht seine Sicherheit in der Uneinigkeit, man trennt die Kasten, schürt den Hass und ihre Streitigkeiten, man

10. Westliche Zivilisation und christliche Mission beklagt (heuchlerisch) ihren gegenseitigen Hass, man verbietet ihnen durch ­H eirat sich zu verbinden, man fördert die Sklaverei. […] Nirgends muss sich ein Europäer mehr schämen ein solcher zu sein, als auf den Inseln, seien es französische, seien es englische, seien es dänische, seien es spanische« (A. von Humboldt zit. in Stuchtey 2010: 14).

Möglicherweise fiel die Kritik von Humboldts an den Kolonialregimen deshalb so deutlich aus, weil es zu der Zeit noch keine deutschen Kolonien gab. Interessant an seinen Ausführungen ist jedoch vor allem, dass er nicht nur die Brutalität und das Unrecht der Sklaverei anklagt, sondern auch die Interessenpolitik der Europäer, die die Menschen gezielt in einen »unterentwickelten« Status zwingt und dort festhält. Humboldt formulierte also hier bereits das, was, wie oben erwähnt, in der Dependenztheorie als »Produktion von Unterentwicklung« bezeichnet wird. Dies widerspricht diametral dem Konzept einer »nachholenden« Entwicklung oder auch der Vorstellung einer zivilisatorischen Mission, da nicht die Demokratie und Menschenrechte zu den Menschen gebracht wurden, sondern gegenseitiger Hass, Missgunst, Bildungsarmut und einseitige wirtschaftliche Entwicklung. Und von Humboldt verweist auch auf die negativen Folgen für die Kolonisatoren selbst. Wie andere Kritiker warnte er davor, dass durch das »Abenteuer« des Kolonialismus genau die eigene Vorbildlichkeit, die die zivilisatorische Mission motiviert habe, in Frage gestellt werde.

Rückwirkungen auf das Selbstverständnis in den Kolonialgesellschaften Perspektivumkehr und Selbstkritik Georg Christoph Lichtenberg formulierte: »Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung« (zit. in Sudelbücher). Montaigne hatte im 16. Jahrhundert in seinem Essay »Über die Kannibalen« (Montaigne 1579/2005), das Bild vom zivilisierten Europa und den barbarischen Eingeborenen Brasiliens umgekehrt. Er ließ die »Indianer« nach Europa kommen und die europäische Kultur begutachten, wobei diese es zum Beispiel merkwürdig fanden, dass es hier üppige, mit allen Annehmlichkeiten gesättigte Menschen gäbe und dass die andere Hälfte der Menschen, von Armut und Hunger ausgemergelt, bettelnd vor den Türen stünden. Auch kam er zu dem Schluss, dass Europa barbarischer sei als die Kannibalen, da diese keine weitergehenden Wünsche hätten als die Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse, während die Europäer immer neue Gebiete eroberten. Zudem würden die Kannibalen das Fleisch ihrer Feinde nur essen, um sich deren Stärke anzueignen, während die Europäer andere Menschen quälten und töteten

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im Namen einer Religion der Liebe.15 So sehr er mit dieser Perspektivumkehr die europäische Zivilisation kritisch beleuchtet, so sehr reifiziert er damit auch das Bild der Kolonisierten als »Kannibalen«. Sie sind gewissermaßen die negative Vergleichsfolie, auf deren Stand zu sinken die schärfste Kritik an den Europäern darstellt. Diderot kritisierte vor allem den narzisstischen Standpunkt der Europäer, der nicht-westliche Gesellschaften allein unter der Perspektive ihrer eigenen Interessen wahrnehme. Zudem glaubte er nicht daran, dass die Europäer ihre Unrechtregimes wieder abschaffen würden, sondern dass dies nur durch den Widerstand der kolonisierten Bevölkerung gelingen könne. Er warnte die Tahitianer vor den Europäern, die mit dem Kreuz in der einen und dem Dolch in der anderen Hand sie zwingen würden, ihre Meinungen und Sitten anzunehmen (vgl. Stam & Shohat 2012: 23). Insofern wurde von Beginn an der Kolonialismus von kritischen Stimmen begleitet, im Hinblick nicht nur auf die Grausamkeit und das Unrecht, das damit den Anderen angetan würde, sondern auch darauf, dass damit das Selbstverständnis der sich als aufgeklärt und humanistisch verstehenden Europäer wie auch die politische Kultur des jeweiligen Landes gefährdet würden. Insbesondere in der englischen Gesellschaft regte sich viel Kritik während der langen Geschichte des englischen Kolonialismus. So fragten sich viele Demokraten besorgt, ob denn in den Kolonien andere Gesetze herrschten und die Grundlagen der Demokratie, der Repräsentation und Gewaltenteilung einfach außer Kraft gesetzt würden? Könnten bestimmte Kolonialverwalter einfach nach ihrem Gusto regieren und große Wirtschaftskompanien ihren Interessen ungehindert nachgehen? Sie befürchteten, dass damit außergesetzliche Zonen geschaffen würden und damit das Rechtsbewusstsein aller Beteiligten zerstört (vgl. Stuchtey 2010: 123ff., 169). In diesen Auseinandersetzungen wurde deutlich, dass Demokratie und Menschenrechte allein für die Metropolen galten, nicht aber in den »Kolonien«, »Protektoraten« »Dominions«, »Mandatsgebieten« etc. Auch der deutsche Kolonialismus (1871-1919) fand seine Kritiker. Bismarck selbst war bekanntlich kein Freund des Kolonialismus und ließ sich erst durch den sich verschärfenden Wettkampf um politischen Einfluss mit den anderen europäischen Kolonialmächten zu einer deutschen Kolonialpolitik bewegen. Insbesondere anlässlich der Gewaltexzesse in Form der Vernichtungskriege gegen die Herero und Nama regte sich Kritik in den unterschiedlichen politischen Lagern, von den Sozialisten über die Liberalen bis hinein in das katholische Zentrum (vgl. Stuchtey 2010: 286ff.). So brachte etwa Matthias Erzberger 15 | Und er klagte: »So viele Städte wurden zerstört, so viele Nationen ausgelöscht, so viele Millionen Menschen unter das Schwert gezwungen [… ]und all das für den Handel mit Perlen und Pfeffer« (vgl. ebd.).

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vom Zentrum die Kolonialskandale ständig ins Parlament ein und kritisierte heftig deren Brutalität. Grundsätzlich antikolonial war das Zentrum aber nicht, denn »zu sehr vertrat es auch die Interessen der katholischen Missionare und Missionsschulen, und zu sehr war ihm daran gelegen, den Einfluss des Islam zurück zu drängen« (ebd.: 287). Ebenso bestimmten innenpolitische Interessen ganz entscheidend die Kolonialdebatten im Reichstag, und auch wenn aufgrund der Kritik einige Reformen16 durchgesetzt wurden, so stellte doch keine der Parteien den Kolonialismus als solchen in Frage, sei es, weil die Idee zivilisatorischer Überlegenheit so stark verinnerlicht war, dass die Kolonisierung geradezu als Pflicht empfunden wurde, sei es, weil die internationale Machtpolitik oder auch die Innenpolitik in Deutschland im Vordergrund stand. Die Kritik am Kolonialismus lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die »Gesetzlosigkeit« des Kolonialismus Gesetztestreue und Demokratie in den »Mutterländern« unterhöhlen könne, dass der Kolonialismus unwirtschaftlich sei und oft nur bestimmten Interessen von großen Wirtschaftsverbänden diene, und schließlich, dass die Europäer mit ihrer Grausamkeit ihre eigenen Ansprüche einer hochstehenden Zivilisation unterlaufen würden. Diese Kritik ermöglichte es den Europäern, sich selbst aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Sofern sie bereit für neue Erfahrungen waren, war damit auch eine Erweiterung der eigenen Vorstellungswelt und des eigenen Denkens verbunden. Es ist kein Zufall, dass in der Ära der ersten kolonialen Eroberungen das Denken in Utopien entwickelt wurde.

Denkanstöße aus den Kolonien Mit der »Entdeckung« Amerikas wurde die Idee einer »neuen Welt« zu einem Thema im Europa jener Zeit. Thomas Morus führte in seiner »Utopia« (1516) die Kritik der gesellschaftlichen Zustände in England mit der Schilderung der Gesellschaft Utopias zusammen, die der Seefahrer Hythlodeus entdeckt haben sollte. Vorbild war dabei das Mexiko der Azteken, gemischt mit einem idealisierten Bild des Naturzustandes. Die andere große Utopie, »Der Sonnenstaat« des Dominikaners Campanella, war ebenfalls durch die Schilderungen aus den Kolonien motiviert. Er war ein Abbild der Jesuitenkolonie in Paraguay. Auch die Ausführungen von Rousseau über eine Gesellschaft ohne Zwang und die Lehre von der natürlichen Gutheit des Menschen kann man als eine Utopie verstehen, die er angesichts des scheinbar freien Lebens der Einwohner Amerikas entwickelte. Diese positiven Utopien, die genauso europäische Projektionen sein mögen wie die Dystopien einer barbarischen Primitivität, waren durch die neuen Erfahrungen ausgelöst worden.

16 | Vgl. etwa die Ära Dernburg 1907-1910 (vgl. Stuchtey 2010: 251, 258).

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Auch bei Marx und Engels in ihrer Konzeption eines »primitiven Kommunismus« lässt sich der Einfluss der Begegnung mit anderen Gesellschaftsformen auf das eigenen Denken nachzeichnen: Aufgrund von Lewis Henry Morgans Buch »Ancient Society« und seiner Darstellung der Gesellschaft der Irokesen entwickelten sie das Bild einer Gesellschaft mit Gemeineigentum und politischer Gleichheit ohne Staat, Adel, Könige und Soldaten und von einer Gemeinschaft, wo auch die Frauen gleich und frei waren. Es gab also solche Gesellschaften, die für die Europäer einen Kontrast zu ihrer eigenen Lebensweise darstellten und sie damit zur Entwicklung von alternativen Gesellschaftsformen animierten (vgl. Stam & Shohat 2012: 9). Aber nicht nur die vorkolonialen Gesellschaften, sondern auch die politischen Ideen und Strategien der Kolonisierten in ihrem Widerstand gegen den Kolonialismus beeinflussten die politische Theoriebildung in Europa. Die Befreiungskriege der Sklaven waren insofern die Vorhut der republikanischen Revolutionen, als die indigenen Rebellen in Süd- und Nordamerika frühzeitig Ideen von Selbstbestimmung und Autonomie entwickelt hatten. In Nordamerika stellten sie vor allem den Demokratiebegriff einer Sklavenhaltergesellschaft in Frage, während sie in den französischen Kolonien Haiti und Guadeloupe die Widersprüche eines kolonialen Republikanismus deutlich machten (vgl. ebd.: 15). Insbesondere im Zuge der Revolution von Haiti (1788), in der die erste schwarze Republik gegründet wurde, kämpften sie für die Freiheit aller Menschen auf der Welt und für das Prinzip, dass niemand auf der Welt, gleich welcher Hautfarbe, das Eigentum eines anderen sein dürfe. Trotz dieser Etablierung einer Republik noch vor der französischen Revolution blieben die Europäer der festen Überzeugung, dass sie nicht nur die ersten, sondern auch die einzigen wären, die wüssten, wie man sich selbst verwaltet und demokratische Verhältnisse entwickelt.17 Die Europäer verstanden sich als die einzigen Urheber einer fortschrittlichen Gesellschaftskonzeption. Sie konnten und wollten ihr Denken nicht als Produkt von Wechselwirkungen begreifen, denn dies hätte die Anderen als Ideengeber und damit als eigenständige Subjekte anerkannt. Damit wäre der grundlegende Glaube an eine zivilisatorische Hierarchie in Frage gestellt worden. Die Anerkennung der Anderen als politischer Subjekte wäre die Voraussetzung gewesen, um die Mechanismen dieser »entangled histories« (Randeria, Eckert 2009) zu verstehen.

17 | Das europäische Konzept von Demokratie ist vor allem an formale Wahlen und eine repräsentative Regierungsform gebunden. Demgegenüber gibt es andere Formen der Selbstverwaltung, wie sie in vielen Teilen der Welt unabhängig voneinander entstanden sind. Sie werden jedoch in der Regel von den Europäern nicht als demokratische Gesellschaftsformen wahrgenommen.

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Auch die ökonomische Entwicklung in Europa wurde nur durch die Ausbeutung der kolonisierten Gesellschaften ermöglicht. So war der Import von Gold und Rohstoffen aus den Kolonien eine notwendige Bedingung für die Entwicklung des europäischen Kapitalismus. Dieser Werttransfer aus der ökonomischen Peripherie ist bis heute eine Bedingung des wirtschaftlichen Reichtums geblieben (vgl. Hauck 2012: 35f.).18 Insofern ist die moderne westliche Vorstellungswelt ebenso wie die westliche Ökonomie ohne den Kolonialismus nicht zu denken. Die Erfahrung mit den neuen Kulturen beeinflusste also, oft unbewusst, die Lebensweise, die Wirtschaft und die politischen Visionen der Europäer. Unbewusst, weil die Europäer sich nicht gestatteten, ihre Vorstellungen als durch Andere beeinflusst zu begreifen. Sie verstanden sich als alleinige Schöpfer einer Neuen Welt. Zu sehr war dies Überlegenheitsbewusstsein Teil des europäischen Zivilisationsbegriffs. Ihre technische, militärische und zunehmend auch wirtschaftliche Überlegenheit ließ die Europäer glauben, der Zeit voraus zu sein und damit das Recht, ja sogar die Pflicht zu haben, den Anderen die eigenen Vorstellungen aufzuoktroyieren. Je mehr sie in diesem Prozess voranschritten und je größer dabei die Machtdifferentiale wurden, desto extremere Formen des Rassismus und Sozialdarwinismus entwickelten sie, in denen es nur mehr um das Recht und die Macht des »Stärkeren« ging. Demgegenüber schien das Konzept der zivilisatorischen Mission auch den Kolonisierten einen Weg in die europäische Moderne zu eröffnen. Das sollte sich jedoch insofern als trügerisch erweisen, als die europäische Zivilisation kontinuierlich neue Hürden schuf, um diejenigen, die »aufholen« wollten, auf Abstand zu halten. In diesem Prozess der »Europäisierung der Welt« (Headley) spielten die christlichen Missionen eine zentrale Rolle, denn, wie es später der erste deutsche Missionswissenschaftler Joseph Schmidlin ausdrücken sollte, die weltlichen Mächte waren für die äußere Kolonisierung zuständig, die christlichen Missionen für die »innere« (zit. in Gründer 2006: 257). Auch waren die ersten kolonialen Eroberungen der Neuzeit, nämlich die Süd- und Mittelamerikas durch Spanien und Portugal, von christlich-katholischen Missionsgedanken getragen. Säkularisierungen wie die Idee der »zivilisatorischen Mission« setzten sich erst allmählich durch. Insofern ist die Geschichte der »Zivilisierung« und Missionierung von Bevölkerungen außereuropäischer Regionen auch eine Geschichte der Verwobenheit und Wechselwirkung von weltlicher und geistlicher Macht.

18 | Das bedeutet allerdings, dass heute für die Entwicklung der Ökonomie in den sog. Entwicklungsländern ein massiver Reichtumszustrom aus anderen Regionen notwendig wäre, diese ihrerseits also auf die Ausbeutung anderer Regionen angewiesen wären.

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C hristliche M ission und koloniale M acht Für Kolumbus19 stand der Wunsch, die christliche Botschaft in die Welt zu tragen, nicht im Widerspruch zu seinem Wunsch Reichtümer zu erschließen. Das eine war das Mittel für das andere. Ziel seiner Reise über das Meer war es ursprünglich gewesen, Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien. Zur Eroberung des Heiligen Grabes brauchte er Geld, und das versprach er sich durch eine direkte Route nach Indien und China, wo, laut Marco Polo, Gold im Übermaß vorhanden war. Nachdem er in dem neu entdeckten Kontinent große Reichtümer erworben hatte, dankte er Gott dafür und bat Königin Isabella, diese für die Rückgewinnung des Heiligen Grabes in Jerusalem zu verwenden (vgl. Todorov 1985: 21).

Christlich-koloniale Allianzen Die Päpste autorisierten die spanischen und portugiesischen Eroberer dazu, alle Sarazenen und Heiden zu unterwerfen und sie zu versklaven, um die Menschheit zum wahren Glauben zu führen.20 Die römische Kirche ging selbstverständlich davon aus, dass es ihr zustünde solche Unternehmungen zu genehmigen, denn sie war davon überzeugt, dass die ganze Welt von Gott geschaffen sei und der Papst als sein Stellvertreter diese zu verwalten habe. Dementsprechend gaben die spanischen Eroberer den Einheimischen bekannt: »Mit Gottes Hilfe werden wir gegen Euch mit allen Mitteln Krieg führen und werden Euch dem Joch des Gehorsams gegenüber der Kirche und seiner Majestät unterwerfen. Wir werden Eure Frauen und Kinder wegnehmen und sie versklaven […] Wir werden all Eure Güter beschlagnahmen und Euch jeglichen Schaden zufügen, den ein Souverän gegen

19 | Kolumbus hieß spanisch Cristóbal (Christusträger) Colón (Neubesiedler) (vgl. Todorov 1985: 37). 20 | Bulle 1493 »Eximiae devotionis«, mit der Papst Alexander VI. den spanischen Königen die neuen Länder und deren Bevölkerung anvertraute. Hierdurch sollten die Ländereien in die Kirche eingegliedert und die dortige Bevölkerung missioniert werden. In diesem Schreiben wurden die anstehenden Auseinandersetzungen zwischen Spanien und Portugal über die Gebietsansprüche in der neuen Welt behandelt. Alexander VI. bezeichnete seinen Akt als Spende und außergewöhnliche Gabe an die Könige von Kastilien und León, er sicherte ihnen die volle Verfügungsgewalt zu. Der Papst versprach alle denkbare Unterstützung und erklärte, dass diese Anordnung auch für die Erben gültig sei. Gleichzeitig erweiterte der Papst die Privilegien auf die von den Portugiesen erkundeten Gebiete an den Küsten Afrikas in einer weiteren Bulle »Inter caetera«, datiert auf den 4. Mai 1493.

10. Westliche Zivilisation und christliche Mission ungehorsame Vasallen verüben kann. […] Leid und Tod […] sind Eure eigene Schuld und nicht Ihrer Majestät oder uns anzulasten« (zit. in Stam & Shohat 2012: 5, Üb. B.R).

Zudem wurde ihnen in Aussicht gestellt, dass sie nicht zur Konversion gezwungen würden, wenn sie von sich aus freiwillig zum christlichen Glauben übertreten würden.21 Die spanischen Kolonisatoren machten also von Anfang an in aller Deutlichkeit klar, dass sie mit Gewalt die sozialen Strukturen zerstören und bedingungslosen Gehorsam einfordern würden. Sie würden nicht nur das ganze Land und sämtlichen Besitz für sich beanspruchen, sondern würden den Einheimischen auch ihre kulturellen und religiösen Traditionen nehmen. Eine Alternative hätten sie nicht, sie hätten lediglich die Wahl, sich freiwillig zu fügen oder mit Gewalt gezwungen zu werden. Schließlich, und das scheint ebenfalls bemerkenswert, versuchten sich die Kolonisatoren präventiv vor moralischer Diskreditierung zu schützen, indem sie von vornherein erklärten, dass die Schuld auf die Schwächeren abzuwälzen sei. Die nun folgenden Eroberungen hatten die Vernichtung von nahezu 90 Prozent der Bevölkerung zur Folge, insgesamt etwa 70 Millionen Menschen. Sie starben durch die Eroberungskriege, durch unmenschliche Behandlung und Mikrobenschock (vgl. ebd.: 161ff.). Für die Spanier war dieser massenhafte Tod der Einheimischen Ausdruck der Strafe Gottes für deren Ungläubigkeit. Deshalb habe er die zehn Plagen geschickt. Damit erklärten sie auch ihre eigene Gewalttätigkeit, denn nur durch hartes Zugreifen könne das Böse überwunden werden.22 So notierte etwa der Geschichtsschreiber Orviedo:

21 | Eingelassen in diese Vorstellungswelt ist eine grundlegende Asymmetrie, die nach Fink-Eitel (1994) prototypisch im »ersten Gespräch zwischen Alter und Neuer Welt« zum Ausdruck kam: Kolumbus‘ erster Akt, als er das neue Land betrat, bestand darin, dass er die spanische Flagge hisste und den Anwesenden befahl, die vorbereitete Urkunde zur Kenntnis zu nehmen, in der niederlegt sei, dass er im Namen des Königs und der Königin von Spanien von diesem Land Besitz ergreife. Damit eignete er sich ein Land an von Menschen, die weder Fahnen noch Urkunden noch eine Vorstellung von Privateigentum hatten (vgl. 98). 22 | Ihre Sünden liegen für sie offen zu Tage, so etwa in einem Dokument, das Todorov, wie er sagt, aus Hunderten gleichlautenden ausgewählt hat. Hier schreibt der Dominikaner Tomas Ortiz: »Auf dem Festland essen sie Menschenfleisch. Sie sind mehr als irgendein anders Volk unzüchtig, Gerechtigkeit gibt es bei ihnen nicht. Sie gehen ganz nackt, haben keine Achtung vor wahrer Liebe und Jungfräulichkeit und sind dumm und leichtfertig. Wahrheitsliebe kennen sie nicht, außer wenn sie ihnen selbst nützt. Sie sind unbeständig und glauben nicht an die Vorsehung, sind undankbar und umstürzlerisch […].«

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III. Christliche Dominanz in einer multireligiösen Gesellschaf t »Gott wird sie bald vernichten. […] Satan ist nun von dieser Insel (Hispaniola) vertrieben; nun, da die Mehrheit der Indianer tot ist, ist sein ganzer Einfluss verschwunden. […] Wer will leugnen, dass das Pulver, das man gegen die Heiden verwendet, für unseren Herrn Weihrauch ist?« (ebd.: 183)

Die Gewalt wird nicht nur mit dem Auftrag Gottes gerechtfertigt, sondern die militärische Übermacht gilt als ein Beweis für den göttlichen Segen. Die Eroberungskriege waren also gleichzeitig auch Missionskriege. Gewalt und Mission, Ausbeutung und Bekehrung gingen Hand in Hand. Die Bibel, so fasst Kwok Pui-Lan zusammen, war ein integraler Teil des kolonialen Diskurses. Die Einführung des christlichen Glaubens wurde genutzt, um die politischen und militärischen Aggressionen zu rechtfertigen. Dabei war das Bild von Christus, das in den Missionen vermittelt wurde, das eines Kriegers, eines Eroberers. Jesus war der Kriegskönig, in dessen Namen neue Gebiete erobert und unterworfen wurden. Die Bibel unterstützte den westlichen Glauben an die Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit der »heidnischen« Kulturen (vgl. Kwok Pui-Lan 2005: 61, 155). So galt die Zerstörung der Politik, Kultur und Religion der einheimischen Bevölkerung als notwendige Voraussetzung für deren »Zivilisierung«. Auch wenn schon frühzeitig von christlicher Seite Kritik an diesem brutalen Vorgehen laut wurde – worauf ich unten noch näher eingehen werde –, so stand die prinzipielle Überlegenheit der christlichen und der europäischen Zivilisation jedoch nie in Frage und damit auch nicht das Bestreben, die vorhandenen Verhältnisse zu ersetzen. Dabei spielten weltliche und geistliche Macht durchaus unterschiedliche, wenn auch komplementäre Rollen.23 »Es fuhr wohl kaum ein Forscher oder Eroberer aus ohne Priester, welche das Kreuz errichteten und das Christentum verkündeten, sobald sie den Fuß auf das Land gesetzt hatten!«24 Die politische Macht brauchte die Missionare, und die Missionare brauchten die weltliche Macht. So war die christliche Mission auf den militärischen Schutz und die administrative Unterstützung der Kolonialmächte angewiesen, während für die Kolonialherren die ideologische 23 | Man kann dies auch als Kulturimperialismus bezeichnen. Das bedeutet, dass der militärisch-politische und wirtschaftliche Imperialismus sich flankierend kultureller Instrumente bedient, etwa der Mission, des kolonialen Erziehungswesens und der Wissenschaft. Im weiteren Sinn meint Kulturimperialismus, dass die globale Kultur eine hegemoniale ist, wie etwa die globale kapitalistische Monokultur amerikanischer Prägung mit ihrer weltweiten Dominanz (vgl. Osterhammel in Barth/Osterhammel 2005: 375). Ein anderer Begriff wäre Akkulturation, worunter eine mehr oder weniger erzwungene, von oben nach unten vorangetriebene Konformität mit den Sitten der Imperialmacht verstanden wird (vgl. Broers, Barth/Osterhammel 2005: 87). 24 | So der englische Forschungsreisende und Kolonialbeamte Harry Hamilton Johnston (zit. in Gründer 1994: 24).

10. Westliche Zivilisation und christliche Mission

Einflussnahme durch die Missionare zur Etablierung und Aufrechterhaltung ihrer Machtposition unerlässlich war. Der Missionswissenschaftler Joseph Schmidlin charakterisierte 1913 diese Rollenteilung folgendermaßen: »Die Mission ist es, die unsere Kolonien geistig erobert und innerlich assimiliert, soweit eine solche Assimilation in Anbetracht der tiefgreifenden Verschiedenheiten überhaupt durchführbar ist. Der Staat vermag die Schutzgebiete sich wohl äußerlich an- und einzugliedern; das tiefere Ziel der Kolonialpolitik, die innerer Kolonisation, muss ihm die Mission vollbringen helfen. Durch Strafen und Gesetze kann der Staat den physischen Gehorsam erzwingen, die seelische Unterwürfigkeit und Anhänglichkeit der Eingeborenen bringt die Mission zustande« (zit. in Gründer 2006: 257 – Hervorhebung B.R.).

Schmidlin lässt an der Stelle offen, wie die Mission die »seelische Unterwürfigkeit« zustande brachte, und hegt auch durchaus Zweifel, ob die angestrebte Assimilation überhaupt durchführbar war.

Die »innere« Kolonisation Die Missionsstationen waren in der Regel gut und modern ausgestattete Zentren westlichen Zuschnitts. Die Missionare verstanden sie als Modelleinrichtungen ihrer Zivilisation. Schulen, Krankenhäuser und Ausbildungsstätten sollten demonstrieren, was europäisches Know-how zu vollbringen vermochte. Die Erfolge der Missionare basierten teilweise darauf, dass sie mit ihren Medikamenten Heilerfolge erzielen konnten, und auch darauf, dass eine Anstellung in der Missionsstation für viele Kost, Logis und Versorgung auch in Hungerzeiten bedeutete. Zudem vermittelten die Angebote der Missionsschulen Kompetenzen, die in den nun völlig veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen unabdingbar waren (vgl. Luig 1994: 245). Die angegliederten Farmen und Werkstätten sollten das weitergeben, was die Missionare sich unter einem »christlichen Leben« vorstellten: So wurden den Männern handwerkliche Fähigkeiten beigebracht, während die Frauen zu Hausfrauen erzogen wurden. Damit wurde nicht nur eine neue Geschlechterhierarchie implementiert, sondern Frauen wie Männern verloren vielfach ihre ökonomische Eigenständigkeit, die auf ihren Fähigkeiten in der Landwirtschaft basierte. Damit wurden sie von der Missionsstation abhängig (vgl. Eiselen 2005: 78f.). Wenn die Bekehrungswilligen sich den Forderungen der Missionare unterwarfen und ihre herkömmliche Lebensweise aufgaben, brachten sie sich notwendig in Konflikt mit ihren Familien und ihrem bisherigen sozialen Umfeld. Verweigerten sie etwa den Ahnen zu opfern oder die Frauen/Männer zu heiraten, die die Familie für sie vorgesehen hatte, so mussten sie sich letztlich ganz aus ihrem bisherigen Milieu auf die Missionsstation zurückziehen, da es keinen Kompromiss zwischen den jeweiligen Vorstellungen gab. Die von

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den Missionaren vor allem angesprochenen jungen Männer, die nun von ihrer Gemeinschaft isolierten waren, bildeten oft eigene Gruppierungen. Sie waren vielfach das Fundament für eine Bildungselite, auf die die Kolonialverwaltung gern zurückgriff. Manche nutzen diese Kompetenzen jedoch auch, um sich in den Unabhängigkeitsbewegungen zu engagieren (vgl. Luig 1994: 246ff.). Die Kolonialadministration jedenfalls suchte bei den Missionaren Hilfe bei der Verankerung ihrer Ideen und Interessen in der unterworfenen Bevölkerung. Sie sollten sie vor allem zu loyalen Untertanen, willigen Arbeitskräften und Anhängern der westlichen Zivilisation erziehen.25 Tatsächlich ging es beiden Parteien darum, europäische Lebensformen auf der ganzen Welt zu verbreiten.26 Das Christentum wurde genauso mit Europa identifiziert wie das politische Europa mit dem Christentum – zumindest im Hinblick auf die kolonisierten Anderen.27 Aber auch in Europa gingen Missionierung und Kolonisierung Hand in Hand. So zog Herder eine Parallele zur Kolonialisierung, indem er das Schicksal der Slawen in Europa mit der Eroberung Südamerikas verglich. Im einen wie im anderen Falle habe das Christentum den Unterdrückern als Deckmantel gedient (vgl. Janion 2014: 72). »Die Christianisierung bedeutete auch Kolonisierung, wie die Mission der Kreuzritterordens ›im Osten‹ und die sich um diese rankenden Zivilisationsmythen belegen. Die Herabsetzung der kolonisierten Slawen vollzog sich in der europäischen Kultur über Jahrhunderte hinweg – verschiedenen Phasen polnischer Blüte zum Trotz. Das Slawentum wurde »als Reservoir unfreier Arbeitskraft genutzt, als ein Ort der Ausplünderung und Ausbeutung«, sein vorgeblich passiver, unterlegener Charakter galt als Ausdruck seiner Sklavennatur und als Rechtfertigung seiner Eroberung und Unterwerfung (ebd.: 66). In der Weimarer Republik und insbesondere anschließend im Dritten Reich sei die Wiederaufnahme des im Mittelalter unterbrochenen ›Marsches‹ oder ›Dranges‹ nach

25 | Noch mehr als Spanier und Portugiesen schufen die Engländer eine »nahtlose Verbindung« zwischen Religion und Handel, so Gründer: »Unter dem Einfluss des Puritanismus entstand jene die Jahrhunderte überdauernde Weltsicht, in der sich die Angelsachsen als das neue auserwählte Volk betrachteten (›God’s chosen people‹), das zur Beherrschung der Welt bestimmt war« (2004: 79). Hier verschmolz auf neue Weise politischer Machtanspruch mit christlichem Auftrag. Es bestand also eine machtpolitische Allianz zwischen Kolonialismus und christlicher Mission. 26 | So waren in manchen Missionsstationen Kirche und Schule Synonyme. Der Unterricht wurde in Kirchengebäuden abgehalten, und es wurde niemand zur Schule zugelassen, der nicht zum Christentum bekehrt worden war (vgl. Dube 2013:194). 27 | Allerdings muss auch hier darauf hingewiesen werden, dass es sich nicht um »das« Christentum handelte, sondern um das westliche, lateinische Christentum.

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Osten gefordert worden. Die antislawische deutsche P ­ ropaganda  im  Dienste der Eroberung des ›Lebensraums‹ im Osten nutzte das Bild des Slawen.

Die christliche Religion als europäische Kultur 28 Für das lateinische Christentum galt Rom als das Zentrum der geistigen Welt. Und die Missionare waren zutiefst von einem fundamentalen Zusammenhang zwischen westlicher Kultur und Christentum überzeugt. Die Vermittlung westlichen Lebensstils war für die meisten von ihnen keineswegs nur ein unliebsamer Nebeneffekt ihres geistlichen Auftrages, denn sie waren sicher, dass sie mit der Religion den Anderen auch eine höhere Kultur vermittelten. Es ging also nie allein um eine spirituelle Umkehr, sondern diese umfasste immer auch die Lebensweise; das heißt die Missionierung zielte auch auf eine kulturelle Konversion29 ab. Kernstück dieser Konversion war die Dekulturalisierung der Anderen, d.h. die Abwertung wenn nicht gar Zerstörung der herkömmlichen Religion und Kultur.30 Diese Abkehr wurde von den Missionaren oft drastisch in Szene gesetzt, und zwar mithilfe der Zerstörung der einheimischen Kultstätten. Das hatte vielfach eine nachhaltige Wirkung auf das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der betroffenen Bevölkerungen, denn die Kultstätten waren 28 | Wie sehr das Christentum und Westeuropa als kulturelle Einheit verstanden werden, zeigt sich etwa daran, dass andere kulturelle Formen des Christentums nicht als gleichwertig anerkannt wurden. Diese anderen Christen sollten oft wie »Heiden« missioniert werden. Das gilt etwa für das im Vergleich zum westeuropäischen sehr viel ältere Christentum im Iran, den Nestorianismus, der die stärkste christliche Gemeinschaft im Orient darstellte (vgl. Mahrad in Wagner 1994: 519ff.). 29 | So meinte bereits Montesquieu, die missionarischen Versuche, eine Religion zu verbieten, glichen einem Versuch der Europäer »die Gesichter der Afrikaner zu bleichen« (»Persische Briefe« 1721 zit. in Forst 2003: 358). 30 | Allerdings war der Erfolg der christlichen Mission nicht nur von der Durchsetzungskraft der politischen Mächte, sondern auch von dem jeweiligen vorkolonialen religiös-kulturellen System abhängig. In Gesellschaften, in denen die traditionellen religiös-kulturellen Strukturen intakt waren, hatten die christlichen Missionare kaum eine Chance. Das war vor allem in Asien weitgehend der Fall: Dort scheiterten die Missionare an traditionellen Verwurzelungen in Buddhismus, Hinduismus und Konfuzianismus, z.T. auch Islam, die über ausgesprochen wirksame »ideologische« Gegenargumente verfügten (vgl. Gründer 1994: 34). Dort aber, wo das Christentum auf »segmentäre, politisch nur wenig interkommunikative Religionen traf, hat es einen tief greifenden Umwälzungsprozess eingeleitet. In vielen Kulturen stellte der Einbruch der abendländischen Religion daher zweifelsohne die größte Revolution in den Lebensgewohnheiten sowie in den Denk- und Wertvorstellungen der betroffenen Bevölkerungen dar« (ebd.: 35).

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zentrale Symbole der Gemeinschaft (vgl. Gründer 2004: 31). Dieses Phänomen ist bereits aus der frühen Missionierung Europas bekannt.31 Man denke etwa an die Zerstörung der Irminsul, des als Weltenbaum gedeuteten Heiligtums auf der Eresburg, oder an die Donar-Eiche, die Bonifatius bei Geismar im Zusammenhang mit der Missionierung der Germanen gefällt hatte. Diese Form der gewalttätigen Missionierung im europäischen Mittelalter beschreibt der Mediävist Borgolte so: »Die sinnlich wirkende Mission durch Wunder, Teufelsaustreibungen, Abfackeln der Tempel und Zertrümmerung der Grotten und Schreine war das bevorzugte Mittel der Evangelisation, das der Taufe vorausging« (Borgolte 2008: 109).32 Die Zerstörung des Alten beschränkte sich nicht auf die Kultstätten, sondern sie bezog sich vielfach auf die ganze Lebensweise, zumal diese meist mit religiöser Bedeutung durchdrungen war. So schildert etwa der Dominikaner Diego Dúran die enge Verwobenheit von Religion und Kultur bei den Einwohnern Mexikos folgendermaßen: »In allem ist Aberglauben und Abgötterei; in der Aussaat und in der Ernte, im Einbringen in die Kornkammern, sogar im Bebauen der Felder und im Errichten der Häuser, und Gleiches gilt für die Totenfeiern und Begräbnisse, für die Hochzeiten und die Geburten von Kindern (I, Prologo). Deshalb war es mein Wunsch, all diese Bräuche abgeschafft und gewandelt zu sehen: alle!« (I, 20; zit. in Todorov 1985: 244). 33 31 | So schreibt etwa Maria Janion (2014), dass die Missionierung der Slawen bis heute ein Trauma hinterlassen habe: Die christlichen Bekehrungen gingen auf den Ausdruck zurück compelle intrare, die Slawen zur Annahme des Glaubens zwingen (vgl. ebd.: 63). Wie eilig die Katechese verlaufen sei, zeige sich darin, dass man mehr an der Säuberung des Terrains von den Spuren des Götzendienstes und an der Zerstörung von Tempeln interessiert gewesen sei als an der Vermittlung von Glaubensinhalten (vgl. ebd.: 54). Sie zitiert Berichte über das Entsetzen und Grauen der Heiden angesichts der Vernichtung ihrer Heiligtümer und der Schmähung und Schändung des alten Kultes. »Diese heidnische Verzweiflung hallte durch die Jahrhunderte nach und musste – als historisches Trauma – in der Kultur der slawischen Völker ihre Spuren hinterlassen« (vgl. 65). 32 | Was die Europäer im Übrigen nicht daran hinderte, Statuen und Altäre der einheimischen Götter in die ethnologischen Museen der europäischen Metropolen zu verfrachten und sie auch damit zum Schweigen zu bringen (vgl. Ozankom 2008: 144). Sie wurden damit symbolisch in eine vorgeschichtliche Zeit zurückversetzt und als Kunstobjekte ihres spirituellen Charakters beraubt. 33 | Zwar gab es auch bezüglich der gewaltvollen kulturellen Assimilation eine Reihe von päpstlichen Dokumenten, die diese ablehnten, aber, so Ozankom in seinem Überblick, die meisten Missionare hielten sich nicht daran, und insofern blieb es bei Ausnahmen – eine quantité negligeable ohne nennenswerten Einfluss (vgl. Ozankom 2008: 138f).

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Hier wird nicht gesehen, wie sehr auch die christliche Religion mit ihrer Kultur und damit einer spezifischen Lebensweise verbunden ist. Das christliche Verständnis von Religion suggeriert, dass das Christentum eine Religion jenseits der Kultur, unabhängig von der sozialen und ökonomischen Sphäre sei, eine Religion, die einer anderen Sphäre angehöre – außerhalb und über der Gesellschaft (vgl. Kwok 2005: 202, 205). Das hinderte die Christen jedoch nicht, ihre Religion ins Verhältnis zu anderen Religionen zu setzen. Dabei positionierten sie, wie bereits im Zusammenhang mit dem Verständnis des Christentum in der Aufklärung erörtert wurde (Kap. 5), das Christentum auf der obersten Stufe als die am höchsten entwickelte Form aller Religionen. Genau darin aber zeigt sich wiederum die Kulturgebundenheit des Christentums, da es mit diesem Suprematieanspruch sich ganz mit einer eurozentrischen Sichtweise identifiziert. Insofern verfolgte die christliche Mission auch das Ziel, wie Ozankom in Bezug auf die Mission in Afrika schreibt, »die herkömmlichen Glaubenselemente als unbeschreiblichen Unfug zu entlarven, die dem normalen gesunden Menschenverstand und den elementaren Prinzipien der Vernunft entgegen gesetzt sind« (Ozankom 2008: 144). Die Missionare schrieben also ihren eigenen Riten und Glaubensinhalten Vernunft zu, was nicht nur ihre Vormachtstellung begründen sollte, sondern umgekehrt auch aus der eigenen Dominanz geschlossen wurde. Was machtvoll ist, ist auch vernünftig, dies war, wie wir sahen, eine der Strategien kultureller Dominanz in der Aufklärung. Auf alle Fälle wurde das Christentum als eine ungleich »höhere« Form der Religiosität empfunden. Insofern entsprach die europäische Hierarchisierung der Menschheit in zivilisatorische Stufen der Hierarchisierung der verschiedenen Religionen.

Eurozentrismus im Christentum Wie bei den »Stufen der Zivilisation« wurden auch die Religionen in eine Skala eingeordnet, nach der auf der untersten Stufe die sogenannten animistischen und »Natur«-Religionen standen, während das Christentum als Höhe- und Endpunkt auf der obersten Stufe angesiedelt war. Ihm waren die anderen monotheistischen Religionen vorgelagert, wobei den abrahamitischen Religionen zuweilen auch noch die sogenannten »großen« Weltreligionen wie Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus zugeordnet wurden.34 Aber auch ihnen gegenüber war die Distanzierung überdeutlich. So schreibt Gründer: »Selbst die im Vergleich zu den Afrikanern als kulturell höher eingestuften Asiaten – ­I nder, Chinesen, Japaner – waren, was ihre religiösen Vorstellungen anbetraf, arme und verirrte ›Götzenanbeter‹ oder ›Götzendiener‹, deren ›Götzentempel‹ es zu zerstören galt« (Gründer 2004: 12). 34 | Vgl. Kap. 5 zur »wissenschaftlich« basierten Hierarchisierung der Religionen.

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Begründet wurde die Hierarchie der Religionen in christlichen Kreisen vor allem mit keiner Ausdeutung der biblischen Erzählung von Noah. Dieser hatte drei Söhne: Danach war Japeth, Noahs ältester Sohn, der Vater Europas, dem folgte Sem, der Vater Asiens, und schließlich Ham, der Vorfahr der Afrikaner, dessen Sohn Kanaan von seinem Vater dazu verflucht wurde, der Knecht seiner Brüder zu sein (vgl. 1.Mose 9, 25-27). Damit ist nicht nur eine klare Hierarchie vorgegeben, sondern es wird auch ein gemeinsamer Ursprung aller Menschen behauptet, der selbstverständlich in der judäo-christlichen Kultur liege. Donaldson und Kwok nennen diese Vorstellung den »Noahkomplex« (Donaldson, Kwok 2002: 7), der folgende Behauptungen impliziert: Er erklärt die Überlegenheit des jüdisch-christlichen Gottes über die anderen Götter, die Überlegenheit des Monotheismus gegenüber dem Polytheismus und die der Schrift gegenüber mündlichen Traditionen. Schließlich wird das jüdisch-christliche »Heilige Land« über alle anderen Territorien gestellt. Dem Eurozentrismus säkularer Ideologien entspricht hier ein »Christozentrismus« der sich dementsprechend als ein hegemoniales Wahrheitsregime begreift, das keine außerchristlichen Erfahrungen als wertvoll oder bedeutsam wahrnehmen kann. Die Folge einer solch eurozentristischen Sichtweise ist u.a., dass ein einer anderen Kultur verbundenes Christentum nicht als »eigentlich« christlich verstanden wird. Insofern standen die durch die Mission Neu-Bekehrten vielfach unter dem Verdacht der »Unchristlichkeit«. Das Misstrauen war schon geweckt, wenn sich die Religiosität der neuen Christen in Verhaltensweisen äußerte, die den europäischen Missionaren nicht vertraut oder selbstverständlich waren. Deshalb wurden sie auch vielfach mit Hilfe eines strengen Verhaltenskodex kontrolliert, denn das »Gefährliche«, »Wilde«, »Teuflische« drohte nach Ansicht der Missionare in jeder Verrichtung wieder zurückzukehren. Je stärker ihre Überzeugung war, dass den Bekehrten immer noch eine »verderbte Natur« innewohne, desto stärker mussten diese überwacht und kontrolliert werden, da nicht unberechtigt befürchtet wurde, dass alte Vorstellungen immer wieder durchbrechen könnten (vgl. Kwesi A. Dickson 1991). Zudem ist anzunehmen, dass auch den Missionaren klar war, dass nicht allein die »Frohe Botschaft« bei einer Konversion wirksam war, sondern dass außerdem die technische und materielle Überlegenheit der europäischen Zivilisation ebenso wie die Möglichkeit, auf der Missionsstation an Bildung oder medizinische Versorgung zu gelangen, für einen Übertritt zum Christentum mit entscheidend sein konnten. Der Erfolg der Konversionen blieb also für die europäischen Missionare immer prekär, denn einmal bestand die Gefahr, dass das Herkunftsmilieu für die neuen Christen weiterhin bedeutsam blieb und zum anderen, dass anderskulturelle Vorstellungen und Gepflogenheiten die gemeinsame Religiosität so überformten, dass der Eindruck des Un-Christlichen entstand, und schließlich, dass die Konversion durch unterschiedliche Motive, auch die eines

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sozialen oder materiellen Vorteils, mit-motiviert und so dem Verdacht der Uneigentlichkeit ausgesetzt war. Allerdings waren sich die Missionare keineswegs immer einig über den Zusammenhang von Religion und Lebensstil beziehungsweise westlicher Zivilisation. Osterhammel schreibt dazu: »In vielen Fällen sahen sich Missionare als Agenten einer innerweltlichen Verbesserung der Lebensverhältnisse. […] Auf der anderen Seite gab es viele Missionare, die die weltliche Zivilisierung ganz in den Dienst des Heilsgeschehens stellten« (Osterhammel 2005: 411). Das heißt, für die einen stand die »Konversion zur Zivilisation« im Vordergrund, während die anderen darin lediglich eine mehr oder weniger wichtige Voraussetzung zur religiösen Bekehrung sahen. Dazu weiter Osterhammel: »Die Missionare jedenfalls diskutierten immer wieder über den Primat von Christianisierung oder weltlicher ›Verbesserung‹« (ebd.). Dabei wurde deutlich, dass es durchaus Unterschiede und Konflikte zwischen dem weltlichen und dem religiösen Ansatz gab. Auch waren die Vorstellungen, die sich die christlichen Missionare von den anderen Religionen und Kulturen machten, nicht zuletzt davon geprägt, in welchem Kontext sie ihnen begegnet waren. Die Schilderung einer Religion bzw. Kultur konnte sich etwa entsprechend den politischen Verhältnissen verschieben: So beschrieben die Jesuiten, die im 17. und 18. Jahrhundert in China missioniert hatten, die Chinesen als hoch kultiviert, weise und tugendhaft, während zwei Jahrhunderte später im Zeitalter der massiven Kolonisation, die stark von den wirtschaftlichen Interessen der Briten bestimmt war, die Chinesen von den Missionaren als ignorante, feige und selbstsüchtige »Heiden« beschrieben wurden, beherrscht von grausamen und despotischen Herrschern. Demgegenüber hatten die Jesuiten noch davon gesprochen, dass die Chinesen von Philosophen-Kaisern regiert würden (vgl. Gründer 2004: 141f.). Ausschlaggebend für die Wahrnehmung der Einheimischen durch die Missionare war auch die Frage, ob sie sich schwer oder leicht zum christlichen Glauben bekehren ließen. Bekannt ist, dass Luther sein Bild von den Juden und Moslems drastisch änderte, als er erfahren musste, wie sehr diese dem christlichen Bekehrungseifer Widerstand entgegensetzten. Das galt auch für Las Casas, der sich so sehr darum bemüht hatte, die indigene Bevölkerung in den von den Spaniern eroberten Gebieten zu verstehen. Er hegte keinerlei Sympathien für die Muslime, da sie sich im Gegensatz zu den Indigenen nicht bekehren ließen und damit auch keine potentiellen Christen seien (vgl. Todorov 1985: 166). Insofern variierten die Fremdkonstruktionen je nach Kontext – etwa nach Widerständigkeit der »Ungläubigen« wie auch nach Machtposition der Kolonisatoren. Aber auch die Wahrnehmung der eigenen Rolle in der Kolonisation konnte für die christlichen Missionare problematisch werden, und zwar vor allem dann, wenn die Brutalität und Unmenschlichkeit der Kolonisatoren in allzu

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starken Kontrast zur Liebes- und Friedensbotschaft des Christentums geriet; oder auch wenn das Versprechen der »Gleichheit in Christus« durch Sklaverei und Rassismus offensichtlich konterkariert wurde. So stießen bereits die Gräueltaten der spanischen Eroberer in der ersten Phase des Kolonialismus auf Widerstand, prominent vorgetragen von dem Dominikanermönch Las Casas, dessen Kritik als wegweisend auch für die folgenden Jahrhunderte der Kolonialgeschichte gilt.

Distanzierungen: Christliche Kritik am Kolonialismus Las Casas kritisierte die Gewalt und den Rassismus gegenüber der einheimischen Bevölkerung mit der Begründung, dass es zwischen ihr und den Christen doch viele Ähnlichkeiten gebe. Auch jene seien mit christlichen Tugenden ausgestattet, die er vornehmlich in ihrem Gehorsam und ihrer Friedfertigkeit sah. Las Casas war sogar bereit, die eigene Position soweit zu relativieren, dass er zugestand, dass die Einheimischen, obwohl sie nicht den wahren Gott erkennen könnten, an einen Gott glaubten, den sie für wahr hielten (vgl. ebd.: 225). Jeder habe das Recht sich auf dem Weg Gott zu nähern, der ihm angemessen erscheine. Damit erkennt er die Perspektive des Anderen als sinnvoll an.35 Seine Einwände gegen Gewalt und Rassismus waren so beharrlich, dass das spanische Königspaar wie auch der Papst die Versklavung der indigenen Bevölkerung in Südamerika verboten.36 Allerdings führte dies Verbot dazu, dass nun verstärkt AfrikanerInnen versklavt wurden. Dagegen hatte Las Casas keine Einwände. Das heißt, seine erfolgreiche Agitation gegen die Sklaverei

35 | Durch diesen, wie Todorov es nennt, Perspektivismus kann er auch den Begriff der Barbarei relativieren: Jeder ist der Barbar des anderen, und um es zu werden, genügt es, eine Sprache zu sprechen, die der andere nicht kennt. In seinen Ohren ist es nur Kollern (vgl. Todorov 1985: 227). Gegen Ende seines Lebens kam Las Casas dazu, die Indianer so zu lieben und zu schätzen, dass er seine Liebe nicht mehr an seinem eigenen, sondern an ihrem Ideal ausrichtete (vgl. Todorov 1985: 294). 36 | In ihrem Testament betonte Isabella, dass den Einwohnern Amerikas keinerlei Unrecht geschehen dürfe, und Karl V. bestätigt 1530: Niemand solle es wagen, einen Indianer zu versklaven. Allerdings nahm er dies Verbot 1534 wieder zurück (vgl. Avalos 2011: 195). Und Papst Paul III. erklärt 1537: »Gehet hin und lehret alle Völker. Sie sagten alle ohne Unterschied, denn alle sind fähig die Lehre unseres Glaubens zu empfangen. […] Jene Indianer, als wahre Menschen […] dürfen weder ihrer Freiheit noch des Eigentumes an ihren Gütern beraubt werden« (Todorov 1985: 195). Auch er nahm sein Dekret wieder zurück (1538 und 1548) und erlaubte explizit die Sklaverei in Rom (vgl. Avalos 2011: 196).

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innerhalb Lateinamerikas hatte u.a. das Elend des transatlantischen Sklavenhandels zur Folge. Grundlage für die Anerkennung der anderen Menschen als gleichwertig war für Las Casas ihre Ähnlichkeit mit den Christen. »Er liebt die Indianer«, wie Todorov schreibt, »weil er Christ ist, und seine Liebe veranschaulicht seinen Glauben« (Todorov 1985: 202). Er selbst kann seine Gottesliebe, sein Christsein in der Liebe zur indigenen Bevölkerung unter Beweis stellen.37 Las Casas erkennt die Anderen als potentielle Christen an, nicht aber als Menschen mit ihrem eigenen Selbstverständnis, ihrer eigenen Subjektivität und ihrer kulturellen Identität. Vielmehr sieht er vor allem in ihrer Friedfertigkeit und ihrem Gehorsam positive Tugenden. Diese verweisen auf ihre innere Nähe zum Christentum.38 Dieser paternalistisch-assimilatorischen Position steht prototypisch Juan Ginés de Sepúlveda gegenüber, der sich Las Casas im berühmten Disput von Valladolid (1550) entgegenstellt, den Karl V. anberaumt hatte. Er begründete die Herrschaft und Machtausübung der Spanier mit dem Naturrecht: »Es ist gerecht, angemessen und stimmt mit dem Naturgesetz überein, dass die rechtschaffenen, intelligenten, tugendhaften und menschlichen Männer über alle herrschen, die diese Qualität nicht besitzen« (zit. in Dussel 2013: 41). Zudem aber auch mit der »richtigen« Religion, denn, so sein Argument, wenn in der Neuen Welt Menschen angetroffen worden wären, »die keine Götzen anbeten, sondern den wahren Gott […] dann wäre der Krieg unzulässig« (ebd.: 42). Diese Überlegenheit der Europäer qua Religion und Tugendhaftigkeit stellt Las Casas in Frage, einmal weil die Eroberer durch ihre grausamen, tyrannischen und ungerechten Kriegen gezeigt hätten, dass sie keine wahren Christen sind und zum anderen, weil die Einheimischen sehr wohl ihr Gemeinwesen klug und mit ausgezeichnetem Verstand regiert hätten, auf das Gemeinwohl aller bedacht. Vor allem gesteht er den Indios einen universalen Anspruch auf Wahrheit zu, denn da sie glauben einen wahren Gott anzubeten, müssen sie

37 | Damit zeigt sich hier die Relativierung der mitmenschlichen Beziehung durch deren Theozentrik, durch ihre Gottesbezogenheit (vgl. Kap. 3). 38 | Seine Vorstellung von Mission war die, dass man zunächst »durch Handel und Tauschgeschäfte freundschaftliche Bande mit der einheimischen Bevölkerung knüpfe, indem man ihnen viel Liebe zeige, ihnen gut zurede und einige Dinge von geringerem Wert schenke, die ihren Gefallen finden. […] Die Prediger sollen ihnen, unter dem Vorwand sie zu unterweisen, ihre Kinder abverlangen und sie als Unterpfand bei sich behalten; sie sollen sie auch dazu überreden, Kirchen zu bauen, wo sie lehren können, damit sie dort in Sicherheit sind« (Todorov 1985: 208).

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diesen auch verteidigen, solange für sie nicht das Gegenteil bewiesen ist (vgl. ebd.: 63).39 Interessant ist in dem Zusammenhang auch die Position des Dominikaners Diego Dúran40, der zwischen Christen und Azteken so viele Ähnlichkeiten entdeckte, dass er glaubte, die Azteken müssten einer der verlorenen Stämme Israels sein.41 So stellte er fest: »Auch sie hatten in gewisser Weise Sakramente und einen Gottesdienst, der in vielen Dingen mit unserem Gott übereinstimmt« (I, Prologo, ebd.: 246). Erklären konnte er sich das nur damit, dass sie in früheren Zeiten schon einmal vom christlichen Gott gehört haben mussten. Gemeinsamkeiten im Verhalten beziehungsweise Ähnlichkeiten im Ritus werden für ihn zum Zeichen der Rechtgläubigkeit. Je ähnlicher die Anderen sind, desto eher können sie auch als Gleiche und Rechtgläubige anerkannt werden. Obgleich diese Position des Assimilationismus, also der Überzeugung, dass Gleichheit nur über Gleichartigkeit (equality by sameness) hergestellt werden kann, zu einem humaneren Umgang mit der unterworfenen Bevölkerung aufrief – im Unterschied zu dem Pochen auf der Differenz eines Sepúlveda –, schreibt Todorov, dass das Vorurteil der Gleichheit ein noch größeres Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis gewesen sei als das Vorurteil der Superiorität. Denn im Vorurteil der Gleichheit werde der Andere mit dem eigenen Ich-Ideal identifiziert (vgl. ebd.: 199). Und an anderer Stelle fragt er: Liegt nicht schon 39 | Dem Anderen wird hier also ein Wahrheitsanspruch eingeräumt: »Alle Ungläubigen, welcher Sekte oder Religion sie auch immer angehören […] mögen, haben gemäß natürlichen und göttlichen Rechts und auch nach dem sogenannten Völkerrecht völlig zu Recht die Herrschaft über ihre Dinge inne. […] Und mit dem gleichen Recht besitzen sie auch ihre Fürsten- und Königtümer, ihre Stände, Amtswürden, ihre Jurisdiktion und Herrschaftsrechte« (vgl. ebd.). 40 | Er, der selbst seit seiner Kindheit in Mexiko lebte, war nicht nur der unerbittliche Dogmatist, der den Abergläubigen die Inquisition aufzwingen wollte, sondern auch der »Entdecker« einer quasi unterirdischen Schicht von Gemeinsamkeiten. So schreibt er: »Sie unterteilen ihr Land in Regionen, wie in Spanien, ihre Kleider erinnern an Messgewänder und ihr Tanz an die Sarabande.« 41 | Eine weitere Position nimmt Sahagún ein: Für ihn ist gewiss, dass alle Menschen unsere Brüder sind, dass sie wie wir aus dem Stamme Adams hervorgegangen sind und unsere Nächsten sind, die wir lieben sollen wie uns selbst […]. Doch diese Grundhaltung verleitet ihn nicht, wie Todorov weiter ausführt, die Indianer als identisch zu betrachten oder wie Las Casas sie zu idealisieren: Die Indianer haben Vorzüge und Fehler genauso wie die Spanier, aber in einer anderen Verteilung (vgl. Todorov 1985: 283). Allerdings geht er nicht so weit, seine eigenen Beurteilungskriterien selbst in Frage zu stellen beziehungsweise als kulturbedingte zu begreifen. Er bleibt das einzige Subjekt. Dennoch entdeckt Todorov hier die ersten Anzeichen eines Dialogs (vgl. Todorov 1985: 284f.).

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Gewalt in der Überzeugung, man selbst besitze die Wahrheit, während das für die anderen nicht zutrifft, denen man sie überdies noch aufzwingen muss? (vgl. ebd.: 202) Das erinnert an die oben geführte Diskussion um die unterschiedlichen Wirkungen eines von Rassismus getragenen Überlegenheitsdenkens und der an Entwicklung und Erziehung appellierenden Vorstellungen einer zivilisatorischen Mission. Auch der Zivilisationsbegriff zieht unüberschreitbare Grenzen, da es in der Zivilisation um die kontinuierliche Herstellung von Distinktion, um Abstandswahrung geht. Die Parallele zur christlichen Mission liegt darin, dass die Anderen zwar zum Christentum bekehrt werden können, das »eigentliche« Christentum aber ein europäisches ist.

Indigene Position Das hat jedoch die missionierte Bevölkerung nicht daran gehindert, ihr eigenes Christentum zu entwickeln. Ein sehr frühes und zugleich sehr grundsätzlich Zeugnis dafür ist »Die neue Chronik und gute Regierung«, die zwischen 1583 und 1612 von dem indigenen Schriftsteller Felipe Guamán Poma de Ayala aus dem heutigen Peru niedergeschrieben wurde. Diese Schrift, behauptet der argentinische Philosoph und Theologe Enrique Dussel, stellt den ersten Gegendiskurs zur Moderne dar. Der christliche Indio glaubt, dass das Christentum nicht von den Spaniern gebracht worden sei, sondern dass es schon immer auch bei den Inka existiert habe, und verbindet in seiner großen Erzählung die Sicht der Inka und des Christentums. In seiner Chronik geht er von dem klassischen Zeitalter der Azteken, Maya und Inka aus und schaltet dem die »erste Welt« der biblischen Schöpfungsgeschichte vor. In seiner Schilderung des klassischen Zeitalters liegt auch die Kritik am Kolonialismus, wenn er schreibt, dass damals das Geburtsrecht nicht bedeutete, dass man jemandem eine Urkunde oder einen Ausweis gab, sondern die Mittel, sein Leben bis zum Tod zu reproduzieren. Deshalb habe es damals auch keine Almosen gegeben, während heute die Christen dermaßen begehrlich nach Gold und Silber seien, dass sie sich selbst zur Hölle verurteilt hätten. Die Indios weinten über ihren Götzenbildern, als man sie ihnen in der Zeit der Conquista zerbrach, während die Spanier sich mit ihrem Vermögen und Silber auf der ganzen Welt neue Götzenbilder geschaffen hätten (vgl. Dussel 2013: 77f.). Ihre Unchristlichkeit und Unmenschlichkeit zeigten die Spanier auch darin, dass sie mit verheirateten Frauen huren und die Jungfrauen entjungferten. »Und so gehen diese verloren und werden zu Huren und gebären viele kleine Mestizen, und die Indios vermehren sich nicht« (zit.n. ebd.: 83). Die Doppelzüngigkeit und Unglaubwürdigkeit der christlichen Eroberer fasst er folgendermaßen zusammen: »Stelle hierüber Betrachtung an, dass der Corregidor (Repräsentant der spanischen Herrschaft) mit den Worten erscheint: ›Ich werde dir nämlich

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Recht verschaffen‹, und er raubt. Und der Pater erscheint: ›Ich werde dich zum Christen machen. Ich werde taufen, trauen und in der Christenlehre unterweisen‹, und er raubt, schindet ihn und nimmt ihm Weib und Tochter fort« (zit. in ebd.: 92). Hier wird die eigene Geschichte zwar christlich gerahmt, aber das Christentum wird zugleich als ein Instrument genutzt, um die Eigenständigkeit der eigenen Entwicklung und deren moralische Überlegenheit zu beweisen. Das Christentum wird zum Medium der Kritik an den christlichen Eroberern. Damit nutzt der Unterworfene zur Selbstbehauptung die Sprache, die ihn selbst unterworfen hat – ein Dilemma, das grundsätzlich nicht nur die Bibel, sondern auch die Sprache selbst betrifft. Im Widerstand gegen hegemoniale Mächte ist es unvermeidbar auch die Instrumente zu nutzen, die der Unterdrückung dienen (vgl. Dhawan 2014: 62ff.). Das gilt auch für den gesamten Ideenkomplex der Aufklärung, die, wie wir sahen, all diejenigen degradierte, die nicht dem Ideal männlicher, bürgerlicher »weißer« Vernunft entsprachen. Und es gilt für die christliche Theologie, die, wie wir später sehen werden (Kap. 12), ein Instrument sein kann, zur Befreiung von ihrer imperialen, eurozentrischen Form aufzurufen. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass von den Europäern die Bedeutung von Religion in Bezug auf Europa und in Bezug auf die Kolonien generell jeweils unterschiedlich eingeschätzt wurde. Das gilt etwa für das Verhältnis von Säkularität und Christentum. Die christlichen Kirchen erhielten in den Kolonien eine Macht, die sie in Europa zu der Zeit gerade verloren. Sie hatten in den Kolonien weitgehend das Bildungswesen unter sich und konnten so die geistige Entwicklung der Kolonisierten wesentlich steuern. Eine Säkularisierung fand in den Kolonien nicht statt. Es gab es keine relevanten Auseinandersetzungen in den Metropolen über die kulturelle Vorherrschaft der christlichen Kirchen in den Kolonien. Auch den säkular eingestellten Kolonisatoren schien das Christentum entgegenzukommen, da es ja »Unterwürfigkeit« und »Anhänglichkeit« bei der einheimischen Bevölkerung herzustellen versprach. Das erinnert an die »Feminisierung der Religion« in Europa (vgl. Kap. 5). Hier wurde im Zuge der Aufklärung und Säkularisierung die Religiosität »nach unten« delegiert. Für Frauen und Kinder sollte die Religion wichtig bleiben, wie bereits Voltaire empfohlen hatte, während sie für die männliche, bürgerliche Elite zumindest in ihrer traditionellen Form zu überwinden sei. Dies vor allem deshalb, weil bei Frauen und Kindern die »Liebe zu den Tugenden« gefördert werden müsse, also die Anerkennung der bestehenden sozialen Ordnung. Das verweist zum einen darauf, dass Religion eine wichtige Funktion in der Herstellung sozialer Hierarchien hat und zum anderen darauf, dass auch die Art der Religiosität – zum Beispiel »aufgeklärter« Deismus im Gegensatz zu einem traditionalistischen »Aberglauben« – eine gesellschaftliche Platzierungsfunktion übernimmt.

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Die Kritik an geistlicher und weltlicher Macht von Seiten der Indigenen war vor allem auch deshalb möglich geworden, weil die Versprechungen des Christentums in eklatantem Widerspruch zur kolonialen Realität standen. Die Konversion zum Christentum hatte bei Vielen Hoffnungen auf eine weltliche Gleichstellung genährt, zumindest in dem Sinn, dass ihre Würde als Menschen gewahrt bliebe. Zugleich förderte der Glaube an die Auserwähltheit der Christen die Erwartung eines besonderen Entgegenkommens von Seiten der europäischen christlichen Brüder und Schwestern. Aber die Kolonialherren zwangen weiterhin die Menschen zur Arbeit, enteigneten oder versklavten sie, unabhängig davon, ob sie ChristInnen waren oder nicht. Das mit der Bekehrung verknüpfte Versprechen eines sozialen Aufstiegs erwies sich oft als Illusion (vgl. Luig 1994: 246). Das brutale Gesicht der militärischen und politischen Eroberung provozierte Widerstand, auch gegen die Mission. Die Missionare mussten sich distanzieren, wollten sie glaubwürdig die »Frohe Botschaft« verkünden. Große Auseinandersetzungen gab es zum Beispiel im Zusammenhang mit den Opiumkriegen in China, als die englischen Missionare den erzwungenen Import von Opium durch die Briten rechtfertigen mussten. Viele Missionare fanden auch hierfür eine Begründung, andere stellten sich jedoch dagegen. Sie wehrten sich gegen das Bild, Handlanger von Verwestlichung und Kolonialismus zu sein.42

Sklaverei Die Kritik am Kolonialregime von Seiten christlicher Kirchen und Bewegungen kulminierte in der Kritik an der Sklaverei mit der Folge ihrer letztendlichen Abschaffung in England 1834 – so jedenfalls die christliche Geschichtsschreibung wie etwa die von Angenendt. Allerdings hatte, wie wir sahen, das Christentum die Sklaverei seit seinem Bestehen über die Jahrhunderte hin

42 | Je deutlicher wurde, wie sehr eine bruchlose Identifikation von Macht und Kirche die letztere immer unglaubwürdiger machte, desto mehr wurde nach Alternativen gesucht. So versuchte man, sich in der Mission möglichst nur noch auf den Glauben im Sinn eines vorkirchlichen Christentums zu konzentrieren, wie dies etwa in Form der sogenannten »Faith Missions« geschah. Diese wollten nur durch ihr Vorbild in christlicher Lebensführung wirken. Nach der eigentlichen Kolonialperiode wurden in den 1930er Jahren auch neue Missionsorden wie die der »Kleinen Brüder« und der »Kleinen Schwestern« gegründet, die alle konventionellen Methoden der Missionierung wie Predigt und Taufe ablehnten und lediglich »brüderlich« und »schwesterlich« mit den Menschen zusammenleben wollten. Alles andere sollte Gott überlassen werden, denn er würde, so glaubten sie, das Werk selbst vollenden (vgl. Dietrich in Wagner 1994: 216).

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gerechtfertigt,43 und auch für die Versklavung speziell der afrikanischen Bevölkerung ließen sich Begründungen in der Bibel finden (vgl. Noahkomplex). Zudem war die Verschleppung von Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen in die Karibik und nach Nordamerika unter anderem damit begründet worden, dass sie der »Wildnis« und damit dem sicheren seelischen Verderben entrissen worden seien. So wurden den Sklavenschiffen Namen wie »Jesus«, »Gnade Gottes«, »Freiheit« oder »Gerechtigkeit« gegeben (vgl. Blumenfeld 2006: 198). Allerdings regte sich gegen diese Rechtfertigungen der Sklaverei seit der ersten Phase des Kolonialismus auch Widerstand. Bereits Las Casas hatte, wie wir sahen, sich gegen die Versklavung »seiner« Indios erfolgreich zur Wehr gesetzt. Er hatte damit allerdings auch den transatlantischen Sklavenhandel mit begründet. Der Widerstand gegen die Sklaverei in der Neuzeit war zunächst vor allem von den englischen christlichen Abolitionisten getragen (beginnend 1772) wie etwa Thomas Clarkson und William Wilberforce, dem wichtigsten Gegner der Sklaverei im englischen Parlament. Interessant in dem Zusammenhang ist jedoch, dass die Argumente, auf die sich die Gegner stützen, stärker von säkularen humanistischen Überlegungen getragen waren als von aus der christlichen Bibel abgeleiteten Argumenten. Oder wie Avalos formuliert: Die Bibel liefert eher Argumente für als gegen die Sklaverei (vgl. Avalos 2011: 249). Das gilt letztlich auch für die versklavte Bevölkerung selbst, die vielfach, wie vor allem die Afro-AmerikanerInnen, sich in ihrem Befreiungskampf auf die Bibel stützen. Denn sie machten, so die Argumentation von Hector Avalos, recht einseitig Gebrauch von der Bibel. Wenn sie die Geschichte des Exodus als ein Paradigma der Befreiung interpretierten, dann »übersahen« sie, dass dieselbe Geschichte auch die Sklaverei erlaubt, nämlich die Versklavung der Kanaaniter durch das jüdische Volk (vgl. ebd.: 259ff.). Allerdings muss man hier zwischen verschiedenen christlichen Strömungen differenzieren; es waren vorwiegend die Quäker, die sich konsequent für die Abschaffung einsetzten. Vor allem waren es aber die Sklaven und Sklavinnen selbst, die von Beginn an gegen ihre Unterjochung kämpften. Je mehr zu Beginn des 19. Jahrhunderts die religiösen Argumente gegen die Sklaverei mit utilitaristischen Argumenten verbunden wurden, nämlich denen, dass die Sklaverei wirtschaftlich irrational sei, desto mächtiger entwickelte sich eine Massenbewegung für das Verbot des Sklavenhandels. 1834 wurde die Sklaverei im britischen Empire als gesetzeswidrig erklärt. Von England selbst 43 | Vgl. Eph 6,5 und 1 Pet 2,18, 1 Tim 6,1. Jesus hat nie einen Sklavenhalter verdammt. Auch wurde die berühmte Stelle Gal 3,28, die gerne als Gleichheitspostulat des Christentums verstanden wird, nie im Sinne einer Befreiung der Sklaven benutzt. Die spätantiken Kirchenlehrer einschließlich Thomas von Aquin unterstützten die Sklaverei (vgl. Avalos 2011: 159 ff).

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wurde die Abschaffung der Sklaverei als ein »reinigender Akt der Selbstzivilisierung« interpretiert und daraus der Anspruch abgeleitet, die Zivilisierung der anderen in die Hand zu nehmen. So sah Großbritannien mit Herablassung auf Frankreich und Spanien herab, die diesbezüglich deutlich zurückstanden (vgl. Osterhammel 2005: 402f.).44 Was die Bekämpfung der Sklaverei aus christlicher Perspektive anbetrifft, so waren es lediglich einige kleinere Gruppen, namentlich die Quäker, die sich für eine Abschaffung einsetzten. Sie waren jedoch innerhalb der Christenheit eine nicht nur marginale, sondern auch recht verachtete Minderheit.45 Die großen christlichen Kirchen setzten sich weiterhin für den Erhalt ein. Insofern wird eine Geschichtsschreibung, die sich auf »das« Christentum beruft, das die Sklaverei erfolgreich bekämpft habe, weder den Macht- noch den Mehrheitsverhältnissen im Christentum gerecht; aber sie überdeckt auch den entscheidenden Beitrag, den die versklavte Bevölkerung selbst im Widerstand gegen die Sklaverei leistete wie etwa bei dem Sklavenaufstand in Jamaica 1831 und der erfolgreichen Revolution in Haiti (1791-1804), die die Anti-Sklavereibewegung enorm stärkte. Mit einer Inanspruchnahme des Abolitionismus durch »das« Christentum beraubt man sie ein weiteres Mal ihrer eigenen Leistungen. Zudem sollte die »Befreiung der Sklaven« nicht den Rassismus überwinden. Denn wie zuvor schon die Engländer, so waren auch die US-amerikanischen weißen Abolitionisten der Auffassung, dass schwarze mit weißen Menschen nicht zusammen leben könnten beziehungsweise sollten. Vielmehr sollten die befreiten Sklaven mit Hilfe der American Colonization Society sofort nach Afrika verbracht werden in die eigens dafür neu gegründeten Staaten Liberia und Sierra Leone. Heute wird die Opposition gegen eine postkoloniale Machtpolitik im Christentum vor allem im Rahmen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und der afrikanischen und asiatischen postkolonialen Theologien thematisiert. Diese zeigen, dass ein eurozentristisches, koloniales Christentum unglaubwürdig geworden ist, weil es diese Gewalt- und Machtgeschichte unhinterfragt weiterträgt. Darauf werde ich im letzten Kapitel ausführlich eingehen. An dieser Stelle soll jedoch zum Abschluss des Kapitels nach Spuren der kolonialen Ära in unserer heutigen Zeit gesucht werden. Als Beispiel hierfür habe ich 44 | Diese Konkurrenz war, wie Osterhammel schreibt, kollektivpsychologisch von großer Bedeutung, da Großbritannien etwa in Bezug auf die von ihm erzwungene Opiumeinfuhr nach China, zu der es auch kritische Stimmen gab, keineswegs so eindeutig reagierte wie in Bezug auf den Sklavenhandel. 45 | Es ist kein Zufall, dass der Widerstand von diesen Gruppierungen des charismatischen Protestantismus ausging, da sie der Idee einer frühchristlichen Brüdergemeinde anhingen und ohne klerikale Hierarchie der Gleichheit aller Gemeindemitglieder verpflichtet waren.

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die weihnachtlichen Spendenaktionen der katholischen und der evangelischen Kirche ausgewählt, weil diese eine große Anerkennung in Deutschland erfahren und wie kaum eine andere Aktion ein Schlaglicht auf die christliche Sicht des Verhältnisses zwischen Deutschland und dem globalen Süden werfen.

P ostkoloniale B eziehungsmuster : zum B eispiel M isereor und B rot für die W elt Die Zerstörung der Lebensgrundlagen wie auch die Entwertung der Lebensweise der Kolonisierten ist eine zentrale Grundlage der heute noch anzutreffenden strukturellen Asymmetrie zwischen den Weltregionen, wie sie etwa in der begrifflichen Gegenüberstellung der Ersten und der Dritten Welt zum Ausdruck kommt. Angesichts der Tatsache, dass sich  – trotz der Ausnahme der sogenannten Schwellenländer – die Schere zwischen den reichsten und ärmsten Regionen sowie die zwischen den sozialen Schichten innerhalb der Länder vielfach weiter öffnet, wie aus allen Berichten der Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen (UNDP) hervorgeht, wird das Konzept einer »nachholenden Entwicklung« fragwürdig.46 Demgegenüber scheint der ökonomische Abstand zwischen Regionen und Schichten ein Strukturmerkmal kapitalistischer Produktionsweise zu sein – zumindest solange die Ausgangsbedingungen derart unterschiedlich sind. Auch wenn der Kolonialismus nicht allein für diese Asymmetrien verantwortlich zu machen ist, so hat er doch wesentlich die Weichen dafür gestellt. Wie also reagieren die christlichen Kirchen auf diese Kluft zwischen »den Welten«? Die großen kirchlichen Spendenkampagnen für die »Dritte Welt« führen den christlichen Missions- und Hilfeauftrag bis heute fort. Jedes Jahr werden zur Weihnachtszeit Plakate gedruckt und verbreitet, die Armut und Bedürftigkeit mit Menschen aus der »Dritten Welt« sowie meist mit Menschen dunkler Hautfarbe in Zusammenhang bringen. Darin spiegelt sich ein Selbstbild wider, in dem die Weißen als Wohltäter und  – im Sinne unsichtbarer Beobachter – als Experten zu wissen scheinen, was gut für die Anderen ist, so die Analyse von Carolin Phillip (vgl. Phillip 2006). Damit wird der Dualismus zwischen Erster und Dritter Welt fortgeschrieben, die Ungleichheit zementiert, nun in Form einer Spaltung zwischen SpenderInnen und HilfeempfängerInnen. Die Rollen werden nicht umgekehrt. So kommen nur selten soziale Emanzipationsbewegungen und Protestbewegungen aus dem Süden zu Wort oder gar deren Kritik an der »Ersten Welt«. Allenfalls gelten sie als Expertinnen in 46 | Human Development Index zeigt, dass es noch nie einen so große Kluft zwischen den Ärmsten und den 20 Prozent der reichsten Menschen gegeben hat (vgl. Schreijäck 2007: 64).

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eigener Sache und nicht als Menschen, die gerade die Beziehung zwischen den reichen und armen Regionen kritisch analysieren und damit einen wesentlichen Blick auf die »Erste Welt« werfen könnten. Die Anderen werden meist als passive und dankbare EmpfängerInnen von Zuwendung und Expertise vorgestellt. Zwar wird in den Kampagnen der letzten Jahre immer wieder auch die Partnerschaft zwischen den Betroffenen und den Helfenden betont. Worin diese jedoch besteht und inwiefern eine solche tatsächlich gegeben ist, wird nicht vermittelt. Denn die Perspektive der Anderen kommt so gut wie nie zum Vorschein. In welcher Rolle sehen sich die Kirchen dabei selbst? Sie wollen, wie sie sagen, »Anwälte und Sprachrohr« für diejenigen sein, die keine Stimme in der Welt haben. Sie wollen damit an »der Verwirklichung der großen Aufgabe« arbeiten, »den Armen Gerechtigkeit« zu bringen, wie es in der Erklärung zum Selbstverständnis der Kampagnen heißt (zit. in ebd.: 95). Damit wird ein Wir konstruiert, das sich als helfend, als solidarisch im Dienst an den Armen und Unterdrückten versteht, selbst aber nichts zu dem Unrecht beigetragen hat. Dies Wir versteht sich nicht als Teil der reichen Welt, die von der Armut der Anderen profitiert.47 Dies Wir versteht sich auch nicht als eine Instanz, die über Jahrhunderte an dieser Ungleichentwicklung mit gearbeitet hat und bis heute das Bild eines Christentums vermittelt, in das die Suprematie des Westens eingeschrieben ist. Dementsprechend braucht es auch von den Anderen nichts zu erfahren, weil es ja weiß, was gut für sie ist. Das bedeutet, dass die eigene Rolle nicht als problematisch wahrgenommen und nicht Verantwortung für die Geschichte wie auch für die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Ungleichheiten übernommen wird. Vielmehr überstrahlt die Rolle des Helfenden alle Schattenseiten. Das gelingt vor allem durch eine Moralisierung der strukturellen Verhältnisse. Sie werden zu einer Frage des »guten Willens« und der persönlichen Opferbereitschaft gemacht. Das soll nicht heißen, dass solche Spenden nicht hilfreich und nützlich sein können. Wenn sie jedoch der einzige oder vorherrschende Kommentar der westlichen Kirchen zum Verhältnis zwischen »Erster« und »Dritter« Welt sind, dann exkulpieren die Kirchen sich damit selbst und geben nicht zuletzt auch den jeweiligen SpenderInnen das Gefühl, ihren Anteil an der Not in der Welt auf diese Weise abgegolten zu haben. Diese Kampagnen der Kirchen haben nicht nur die Funktion ein bestimmtes Bild von sich selbst und den Anderen zu zeichnen, sondern auch in die bundesrepublikanische Gesellschaft hineinzuwirken. In einer der Erklärungen heißt es dazu: »Durch das Werk will die Kirche in der Bundesrepublik Deutschland aber auch vom Evangelium her der gesamten Gesellschaft und 47 | Wenngleich in einigen neueren Veröffentlichungen gelegentlich erwähnt wird, dass die Armut auch mit »unserem« Konsumverhalten zu tun habe.

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den Verantwortlichen das Unrecht vor Augen stellen, dass die Güter dieser Welt so ungleichmäßig verteilt sind« (zit. in ebd.: 100). Damit hat die Kirche wieder die Rolle als Wahrerin von Werten eingenommen, die in der säkularen Gesellschaft zum Einsatz für die Armen mahnt. Insofern wird damit das Bild von einer Kirche generiert, die sich wachsam und kritisch gegenüber den Verhältnissen und mildtätig den Armen gegenüber zeigt und so der säkularen Welt ein mahnendes Beispiel ist. Sie kann jedoch diese Position der Moral gegenüber der säkularen Gesellschaft nur in Anspruch nehmen, indem sie ihre eigene Beteiligung an diesem Unrecht im Unsichtbaren belässt. Diese beiden großen Spendenkampagnen mögen sicherlich dazu beitragen, dass Menschen in Not Unterstützung finden und vor besonderen Problemlagen bewahrt werden – wie bei anderen Spendenkampagnen auch. Und es genügt nicht auf die staatliche Entwicklungshilfe zu verweisen, um die kirchlichen Aktivitäten als überflüssig zu erklären. Aber in jedem Fall wäre kritisch nachzufragen, was sie tatsächlich langfristig bewirken, wie es viele KritikerInnen von Entwicklungshilfeprojekten immer wieder anmahnen. Und es wäre zu fragen, welche Bedeutung diese groß angelegten, immer wiederkehrenden Kampagnen – etwa im Unterschied zur staatlichen Entwicklungshilfepolitik – für die Gesellschaft haben und inwiefern damit die christlichen Kirchen ihre Position als »Ethikagenturen« zu stärken versuchen. Dabei ist auch hier wiederum zu bedenken, dass der größte Teil der eingesetzten Gelder nicht aus Spenden und Kircheneinnahmen stammt, sondern von der Regierung zugeschossen wird.48

Resümee Insgesamt betrachtet haben die christlichen Kirchen einen grundlegenden, spezifischen Anteil am Kolonialismus und damit auch an der heutigen postkolonialen Situation. Diese kann keinesfalls allein den säkularen, kolonialen Mächten zugeschrieben werden, waren die Kirchen doch für die »innere« Kolonisation zuständig. Die religiösen und weltlichen Mächte kooperierten und funktionalisierten sich jeweils gegenseitig – aber sie widersprachen sich auch.

48 | Die kirchliche Entwicklungshilfe bezahlt zu zwei Dritteln das zuständige Bundesministerium aus einem speziellen »Kirchentitel« (20.10.2013, FAZ, Ralph Bollmann »Wie reich Deutschlands Kirchen wirklich sind«). Dazu zum Beispiel der Jahresbericht Misereor 2007: Einnahmen in Mio.: Staatliche Steuermittel 58 Prozent, Spenden 19 Prozent, Kollekte 15 Prozent, Kirchliche Haushaltsmittel 6 Prozent, Zinsen 2 Prozent. Siehe dazu genauer: http://de.wikipedia.org/wiki/Bischöfliches_Hilfswerk_MisereorFinanzierung (zuletzt 17.01.2017)

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Der deutlichste Unterschied in den ideologischen Positionen scheint im prinzipiellen Gleichheitsversprechen des Christentums zu liegen, dem eine oft rassistisch argumentierende Kolonialpolitik deutliche Grenzen zog. Im Fall des Christentums ging es also vor allem um ein »Vorurteil der Gleichheit«, wie Todorov das nannte, im anderen Fall mehr um das Vorurteil der Verschiedenheit einer biologisch nicht überbrückbaren Differenz. Allerdings konnte das Versprechen dieses »Vorurteils der Gleichheit« nicht eingelöst werden, einmal weil das Christentum dies ohnehin in die spirituelle Sphäre verbannte, zum anderen aber, weil dies Versprechen die Entwertung, wenn nicht gar Zerstörung der herkömmlichen sozialen, kulturellen und religiösen Strukturen voraussetzte. Die in dem Versprechen enthaltene Forderung nach Anpassung konnte so unbedingt sein, dass sie die Betroffenen vor die Alternative von »Taufe oder Tod« stellte und in diesem Sinne ebenfalls in sich eine mörderische Gewaltträchtigkeit barg. Das »Vorurteil der Gleichheit« war aber auch insofern problematisch, als die europäischen Christen die eigene Verwobenheit mit der europäischen Kultur nicht wahrnehmen konnten und wollten, sondern in »ihrem« Christentum die Verwirklichung des »eigentlichen« Christentums sahen, das überzeitlich, jenseits von Kultur und Gesellschaft eine universal gültige Wahrheit verkündet. Das hatte u.a. zur Folge, dass ein »indigenes Christentum« für sie kein echtes Christentum sein konnte. Es blieben das Misstrauen und der Vorwurf der Uneigentlichkeit. Damit wurden die Einheimischen mit einem Assimilationsparadox konfrontiert, was bedeutete, dass von ihnen zwar die Anpassung an das europäische Christentum gefordert, eine solche Angleichung aber gleichzeitig als unmöglich erachtet wurde. Das koloniale Christentum galt als so stark in seiner europäischen Herkunft verwurzelt, dass Nichteuropäer gar nicht die Chance hatten »echte« Christen zu werden. Darüber hinaus verweigerte die Kolonialpolitik mit der Dominanz ihrer wirtschaftlichen Interessen und ihrer rassistischen Ideologie ohnehin die Gleichbehandlung, so dass das christliche Gleichheitsversprechen weitgehend unglaubwürdig blieb. Dennoch sind – etwa in den Positionen von Las Casas wie in den christlichen Strömungen zur Abschaffung der Sklaverei – auch frühzeitig Stimmen der Kritik an der kolonialen Symbiose von Politik, Wirtschaft und Kirche laut geworden. Allerdings haben sie  – und das gilt genauso für die paternalistisch-liberalen und humanistischen säkularen Positionen in Bezug auf den Kolonialismus – nie die grundsätzliche Superiorität des Christentums und der westlichen Zivilisation in Frage gestellt.49 Die damit einhergehenden Kontroversen weisen jedoch auf das breite Spektrum widersprüchlicher Interessen, 49 | Das war die Grundprämisse, von der ausgehend durchaus Differenzierungen vorgenommen wurden. So hatte Las Casas zumindest ein Stück weit den Einheimischen eine eigene Perspektive, ja möglicherweise sogar einen eigenen Weg zu Gott »zugestan-

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aber auch auf die Möglichkeit einer durchaus unterschiedlichen Positionierung hin. Es gab, wie eingangs angesprochen, auch das Interesse, die Neugier auf den Anderen. Es gab die kritische Selbstreflexion, ausgelöst von der Konfrontation mit den Anderen, aber auch von der Konfrontation mit sich selbst in dieser Geschichte der Usurpation. Diese kritischen Stimmen verwiesen damit auf die Doppelmoral, die im Namen von Idealen der Nächstenliebe, der Menschenrechte und des Fortschritts die Anderen zugleich entwertet, ausraubt und ihnen die Lebensgrundlage zerstört. Insgesamt kann man sagen, dass die Prämissen des europäische Kolonialismus wie auch der christlichen Mission aus einem gemeinsamen Erfahrungsund Deutungshorizont heraus entwickelt wurden: Beide gehen von einer klaren Hierarchie der Zivilisationen bzw. Religionen aus. Sie sehen beide in der Unterordnung der Anderen unter ihre Vorgaben den einzigen Weg zu Fortschritt bzw. Erlösung. Wobei hier einmal stärker die prinzipielle Unterschiedlichkeit betont wird, die im säkularen Rassismus, aber auch in einem christlichen Dualismus zwischen »Heiden« und »Recht«gläubigen zum Ausdruck kommt; zum anderen wird der Gedanke der Erziehung, der Entwicklung und Missionierung, also der Angleichung betont. Beiden Konzepten gelingt es jeweils auf ihre Weise, schwer oder gar nicht überwindbare Grenzen zu ziehen. Im Begriff der christlichen ebenso wie der zivilisatorischen Mission ist zugleich die Idee gegenseitiger Abhängigkeit und Verbundenheit immanent, die es den »Recht«gläubigen und »Zivilisierten« zur Pflicht macht, die Anderen auf ihren Weg zu führen. Das Resultat ist eine mit allen Mitteln forcierte Vereinheitlichung, die zu einer »Europäisierung der Welt« (Headley) führen sollte. Diese »Europäisierung« suggeriert, dass nun alle Europäer geworden wären. Weder ist das möglich noch angestrebt. Denn unter diesem Vereinheitlichungswahn wird verborgen, dass mit der Moderne den kolonialen Subjekten, wie Dussel formuliert, für immer ihr »Mensch-sein« genommen wurde (vgl. Dussel 2013: 95). Die europäische Moderne beruht darauf, dass der Großteil der Menschen als nicht wirklich menschlich deklariert wird. Diese strukturelle Asymmetrie kann erst aufgehoben werden, wenn die von den Europäern deklarierten Anderen dieselbe symbolische, kulturelle und politische Macht haben zu definieren, was unter Menschlichkeit verstanden wird. So schrieb der Soziologe der Universität Berkeley Ramón Grosfoguel über die Aktualität und Kontinuität dieses Vereinheitlichungswahns: »In den letzten 513 Jahren des […] Weltsystems sind wir vom ›werde Christ oder ich töte dich‹ im 16. Jahrhundert zum ›zivilisiere dich oder ich töte dich‹ im 18. und 19.

den« und somit den Weg zu Perspektivismus und Pluralismus in der interkulturellen und interreligiösen Auseinandersetzung vorbereitet (Näheres dazu in Kap. 12).

10. Westliche Zivilisation und christliche Mission Jahrhundert, zum ›entwickle dich oder ich töte dich‹ im 20. Jahrhundert […] zum ›demokratisiere dich oder ich töte dich‹ zu Beginn des 21. Jahrhunderts übergegangen« (zit. in ebd.: 13).

Bevor wir auf die Frage zurückkommen, was diese grundlegende Asymmetrie für das bedeutet, was wir heute Dialog der Kulturen und Religionen nennen, sollen im nächsten Kapitel deren Auswirkungen auf die aktuellen Debatte um die »Fremden« in Deutschland erörtert werden. Dabei ist in den letzten Jahrzehnten »der« Islam als der Prototyp des Fremden in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt.

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11. Z um Umgang mit den Anderen: »Der« Islam in der christlich-säkularen Gesellschaft

»Der« Islam ist in den letzten Jahrzehnten zum Prototyp des Fremden in der westlichen Welt geworden. Es scheint, als hätten sich die Frontstellungen vom politischen auf das religiöse Feld verlagert, so wie dies Samuel Huntington in den 90er Jahren vorausgesagt hatte. Er prognostizierte in seiner weltweit einflussreichen Schrift »The Clash of Civilizations«1, dass der bis dahin vorherrschende Systemgegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus abgelöst werden würde durch die Konflikte zwischen religiösen Kulturkreisen. Und er sagte voraus, dass der Islam dabei in Konfrontation mit dem westlichen Christentum eine entscheidende Rolle spielen werde. Die Geschichte scheint ihm Recht zu geben. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass die Konflikte nicht einfach als religiöse charakterisiert werden können. So haben beim Terroranschlag am 11. September 2001 die islamistischen Terroristen nicht den Vatikan, sondern die Zentren der wirtschaftlichen und militärischen Macht, das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, angegriffen beziehungsweise zerstört – dies allerdings in Namen des Islam. Es geht also nicht um rein religiöse Konflikte, aber auch nicht um rein säkulare. Dennoch kann man von einer Verschiebung von einer wesentlich politischen Systemkonfrontation hin zu einem religiös konnotierten Gegensatz sprechen. Die Frage ist, was diese Verschiebung bedeutet, vor allem angesichts der Tatsache, dass »der« Westen sich primär als säkular begreift, besonders in seiner europäischen Variante. 1 | Von Samuel Huntington 1993 zum ersten Mal formuliert; 1996 publizierte er das entsprechende Buch. Er ging davon aus, dass nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sich nun die Kulturen beziehungsweise Zivilisationen bekämpfen und gewissermaßen die Nachfolge des politisch begründeten Ost-West-Konflikts antreten würden. Auch wenn er in seinen empirischen Aussagen immer wieder widerlegt wurde (vgl. etwa Halliday 1996), so schienen ihm vor allem die Anschläge auf das World Trade Center doch recht zu geben.

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Interessant ist, dass wir diese Verschiebungen sowohl im internationalen Kontext wie im nationalen beobachten können. Auch in Deutschland wird die Konfrontation mit »dem« Islam als das wesentliche Problem gesellschaftlicher Integration angesehen. So zeigen die Meinungsumfragen massive Polarisierungen bezüglich der Einstellungen der Bevölkerung: Laut einer Allensbach-Umfrage von 2006 verbinden 83 Prozent der Bevölkerung den Islam mit Fanatismus und Radikalismus, während sie zu 80 Prozent das Christentum als eine Religion der Nächstenliebe und der Menschenrechte (71 Prozent) verstehen (vgl. Noelle & Petersen 2006). Anschaulich wird diese Position in den Worten eines leitenden Redakteurs einer deutschen Wochenzeitung, der sagt, weil der Islam nicht die Aufklärung durchgemacht habe, die das Christentum gewissermaßen pazifiziert habe, gehöre die Berichterstattung über die Gefahren religiöser Gewalt, die mit der Expansion des Islam verbunden seien, zu den Topthemen der medialen Berichterstattung »und in Folge dessen […] befassen wir uns damit und müssen uns damit auch auseinandersetzen […] denn es bedroht uns selbst, unsere Lebensform unsere […] Freiheit […] unseren Begriff von Toleranz […] und all das macht natürlich die Religion jeden Tag zum Thema« (zit. in Gärtner et al. 2012: 56).

Wenn wir uns auf die Situation in Deutschland konzentrieren: Wie lässt sich hier diese Verschiebung der Diskurse hinein ins religiöse Feld erklären? Wie konnte das Thema Religion das Thema Politik ablösen und zu einer solch umstrittenen Dimension in der säkularen Gesellschaft werden? Oder in den Worten von Yuval-Davis: Wie lässt sich die Verschiebung von einer »multikulturellen zu einer multireligiösen Gesellschaft« erklären? (Vgl. Yuval-Davis 2011: 113-144.)

D er » religious turn « in der E inwanderungsdebat te »Zuerst war ich Gastarbeiterin, dann wurde ich zur Ausländerin, und jetzt bin ich Muslima« – so beschrieb mir vor einigen Jahren eine Professorin an der Humboldt-Universität, die in den 70er Jahren als Studentin aus dem Iran nach Deutschland gekommen war, ihre bisherige symbolische Karriere in der BRD. Damit bezeichnete sie das, was als »religious turn« in der Einwanderungsdebatte charakterisiert werden kann, nämlich die Tatsache, dass die Einwanderung immer mehr in einen religiösen Kontext gestellt wurde und die EinwanderInnen in erster Linie danach beurteilt werden, welcher Religion sie mutmaßlich angehören – zumindest, wenn es um den Islam geht. Der Einwanderungsdiskurs wurde so mit dem Islamdiskurs verschränkt und teilweise ganz durch ihn ersetzt.

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Dieser religious turn zeigt sich etwa daran, dass »Integration« von Seiten des Staates inzwischen wesentlich als eine Frage der Integration von Muslimen begriffen wird, wie dies sich etwa anhand der viel beachteten Einberufung der »Deutschen Islamkonferenz« im September 2006 durch den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble zeigte. Auch die Konstruktion von Prüfverfahren bei der Einwanderung eigens für Muslime, der sogenannten »Muslim-Test«, der um dieselbe Zeit (2005/2006) vom Land Baden-Württemberg entwickelte wurde, ist ein Indiz dafür. Schließlich zeigt sich die »Islamisierung« der Einwanderungsdebatte auch an der Tatsache, dass über mehrere Jahre hin die »Kopftuchdebatte«, also die Frage, ob muslimische Frauen im Öffentlichen Dienst ein Kopftuch tragen dürfen, die Medien beherrschte. Und nicht zuletzt sind die Aktivitäten der Kirchen aufschlussreich. So hat die evangelische Kirche im Abstand von nur sechs Jahren (2000 und 2006) zwei Handreichungen zum Thema Dialog mit den Muslimen herausgegeben. Die Frage ist also, wie es zu dieser Fokussierung auf den Islam kam. Zunächst waren die EinwanderInnen, und zwar gleichgültig welcher Herkunft und Religion, als »GastarbeiterInnen« bezeichnet worden, denn Einwanderung schien ein vorübergehendes Phänomen zu sein. Deutschland sei kein Einwanderungsland, behauptete die Politik über Jahre hin. Dementsprechend versuchte sie auch den EinwanderInnen die politische Anerkennung als BürgerInnen dieses Landes vorzuenthalten. Sie wurden als »AusländerInnen« behandelt, das heißt politisch ausgebürgert. Wesentliche Rechte wurden ihnen verwehrt. Nun aber, nachdem bereits die dritte und vierte Generation von EinwanderInnen hier aufwachsen, verlagert sich die Abgrenzung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft auf kulturelle Konflikte, auf die scheinbare Unvereinbarkeit der Kulturen. Und dafür scheint die Religion die einzig greif bare und zugleich besonders repräsentative Größe zu sein. Sie scheint am besten die vermeintlichen Gegensätze symbolisieren zu können. Dass die Religiosifizierung des Einwanderungsdiskurses in dem Maße voranschritt, in dem sich die EinwanderInnen in Deutschland etablierten, hat aber auch damit zu tun, dass auf Seiten der muslimischen EinwanderInnen der Entschluss zu bleiben zu einer deutlich sichtbareren Präsenz führte  – insbesondere im Zusammenhang mit dem Bau repräsentativer Moscheen. Sie rückten aus dem Hinterhof in die Mitte der Städte. Der Islam wurde von einer »Gastarbeiterreligion«, deren Merkmal die Hinterhofmoschee war, zu einer »Diaspora-Religion«. Die zweite und dritte Generation der EinwanderInnen orientiert sich nicht mehr wie ihre Eltern primär an der Herkunftsgesellschaft, sondern sie vertreten offensiv ihren Anspruch auf Zugehörigkeit. Damit werden die Moscheen auch zum symbolischen Ausdruck der Niederlassung in dieser Gesellschaft. Sie sind also gerade nicht Zeichen eines Rückzugs in die Religion, sondern im Gegenteil Ausdruck dafür, dass sich die EinwanderInnen als festen Bestandteil der Gesellschaft verstehen. »Wer Moscheen baut, möchte

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bleiben«, so Ömer Alan (zit. in Häusler 2008: 191). Die Muslime fordern das Recht auf Anerkennung und öffentliche Präsenz. Insofern gibt es reale Konflikte um die Multireligiosität in Deutschland; also um die Frage, ob neben den christlichen und jüdischen die muslimischen Religionsgemeinschaften als gleichberechtigte Akteure in der Zivilgesellschaft anerkannt werden. Das ist aber nur ein Teil des Problems. Denn bei dieser Religiosifizierung oder Kulturalisierung der Einwanderungsdebatte werden vielfach die damit verbundenen ökonomischen, sozialen und politischen Interessengegensätze auf Fragen der kulturellen Differenz verschoben und damit eingeengt. Das heißt auch, dass diese »Religiosifizierung« erhebliche Konsequenzen für den Umgang mit den entstehenden Konflikten hat. Es gibt in jüngster Zeit ein interessantes Beispiel zu diesem Prozess der Verschiebung von säkularen auf religiöse Diskurse, das diese Problematik anschaulich macht: Im Nahostkonflikt waren es zunächst hauptsächlich säkular argumentierende Parteien auf beiden Seiten, die in diesem Konflikt einander gegenüberstanden, die jüdisch-israelische Gesellschaft und die politisch links argumentierende PLO mit ihrer Überzeugung vom antiimperialistischen Kampf. In den 70er Jahren wurde dieser Konflikt jedoch zunehmend von religiös argumentierenden Parteien übernommen, und zwar zum einen von den religiösen Zionisten, die die besetzten Gebiete als Land Israel für sich beanspruchten und auf der anderen die Anhänger von Hamas, die ein ungeteiltes Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordan forderten. Zuvor war für religiöse Juden die Beendigung des Exils einzig und allein die Sache des Messias. Im Laufe der Zuspitzung des Konflikts wurde, wie die Analyse des Religionswissenschaftlers Hans Kippenberg zeigt, der Sechstagekrieg immer mehr zu einem Krieg der »Erlösung«. Das biblische »Land Israel« sollte nun von den Ungläubigen »erlöst« werden, denn dies Land galt als heilig, und die jüdische Besiedlung sollte die Erlösung beschleunigen, so etwa die Auffassung der zum Gush Emunim »Block der Gläubigen« vereinigten Juden. Hamas und die Muslimbrüder hingegen trieben in der Zeit die Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft voran, zunächst sogar ohne Widerspruch von Seiten Israels, weil es in ihnen ein willkommenes Gegengewicht zur PLO sah. Damit wurde aber aus einem Territorialkonflikt ein Konflikt über die Berechtigung religiös begründeter Ansprüche auf dieses Land (vgl. Kippenberg 2007: 480). Eine Lösung des Konflikts scheint heute schwieriger denn je. Nun geht es nicht mehr nur um Rechts- sondern auch um Wahrheitsansprüche. Und hier scheint es nur ein Entweder-oder zu geben. Zudem wird die Identität des Einzelnen wie auch der Gemeinschaft aufs engste an den Konflikt gebunden. Die ganze Glaubwürdigkeit als guter Jude beziehungsweise als guter Muslim scheint in Frage zu stehen, wenn man sich in diesem Konflikt nicht eindeutig auf der »eigenen« Seite positioniert. Kompromisse scheinen kaum mehr möglich, übergreifende Gemeinsamkeiten schwinden. Und dennoch gibt es

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religiöse wie nichtreligiöse Menschen, die weiterhin unermüdlich an einer gegenseitigen Verständigung arbeiten. Sie scheinen jedoch immer mehr in der Minderheit zu sein. Auf alle Fälle erschwert die primär religiöse Argumentation die Verhandlungen in Bezug auf politische, soziale und ökonomische Konflikte. Sicherlich ist die derzeitige Situation in Deutschland keineswegs mit der dramatischen Konfliktlage im Nahen Osten zu vergleichen. Die Frage stellt sich dennoch auch hier, ob der Diskurs nicht in apodiktische Gegensätze abgleitet. Die Fremdheit, das »Anderssein« wird dabei zum Problem, nicht unterschiedliche Interessen. Diese Essentialisierungen konstruieren den »Anderen« als grundsätzlich verschieden. Damit machen sie die Differenzen scheinbar unauflösbar, was eine konstruktive Auseinandersetzung erheblich erschwert. Das zeigt sich in der Einwanderungsdebatte in Deutschland etwa darin, dass von vielen IslamkritikerInnen nicht die Migrationssituation oder ökonomische Benachteiligungen sowie rassistische Einstellungsmuster und Diskriminierungen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft, sondern »der« Islam für die unzureichende gesellschaftliche Partizipation der EinwanderInnen verantwortlich gemacht wird. Die Islamisierung der Einwanderungsdebatte konnte sich u.a. deshalb so schnell und gründlich in Deutschland durchsetzen, weil sie auf Feindbilder zugreifen konnte, die seit Jahrhunderten gewissermaßen im kollektiven Unbewussten abgelagert sind. Denn »der« Islam war in der Geschichte vielfach politischer Gegner – wenn oft auch Verbündeter – der europäischen Mächte. Dabei wurde oft der religiöse Gegensatz in den Vordergrund geschoben, der bereits im Zusammenhang mit den Kreuzzügen des Hochmittelalters exponiert worden war. Wir finden also auch in der Geschichte ein beziehungsreiches Wechselspiel religiöser und säkularer Argumente. Diese Geschichte des Feindbilds Islam und seiner Implikationen wurde inzwischen in zahlreichen Publikationen ausführlich dargelegt (vgl. Attia, Schneiders, Borgolte 2011). Hier möchte ich lediglich das Zusammenspiel zwischen säkularen und religiösen Motiven beleuchten.

R eligiöse und säkul are M otive der I sl amfeindlichkeit Bei der Entwicklung antimuslimischer Ressentiments spielte das Christentum über die Jahrhunderte hinweg eine entscheidende Rolle. Das Christentum verstand den Islam als eine nachgeordnete Offenbarungsreligion, und deshalb gehörte er theologisch betrachtet nicht zum Heidentum, sondern galt als eine christliche Irrlehre, eine Häresie. »Der arabische Prophet wurde im wahrsten Sinn des Wortes verteufelt, wobei ›Teufel‹, ›Antichrist‹, ›Ketzer‹, ›Lügner‹, Heuchler‹ zu den milderen Bezeichnungen gehörten, mit denen man ihn

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­ edachte« (Naumann 2009: 26). Auch Luther wirkte an diesem Bild wesentlich b mit, insbesondere, da zu seiner Zeit der Ansturm der Türken als große Gefahr erlebt wurde. Die osmanische Expansion war für ihn eine heilsgeschichtliche Bedrohung. Sie bedrohte nicht nur die physische Existenz, sondern mit ihrer falschen Religion auch das Seelenheil aller. Insofern war die »Türkengefahr« ein wesentliches Thema der frühneuzeitlichen europäischen Christenheit. Dies Bedrohungsszenario ist als Grundmuster der Beziehungen zwischen Christen und Muslimen in die christlich-europäische Geschichtsschreibung eingegangen. Die Muslime werden in der Regel als Fremde und Eindringlinge wahrgenommen. Das trifft zwar, nach Borgolte, auf die Phase der osmanischen Eroberungen ab Mitte des 15. Jahrhunderts zu, bis diese 1529 vor Wien zum Stehen kamen (vgl. Borgolte 2011). Zuvor aber bot die arabische Kultur die Grundlage für die Entwicklung der europäischen Kunst, Kultur und Wissenschaft. Die Araber waren es, die im Mittelalter mit Philosophie, Mathematik, Medizin und den Naturwissenschaften vertraut waren und sie den aufkommenden europäischen Gelehrten vermittelten. Und Muslime waren es auch, die durch ihr Großreich und ihre ausgebauten Handelswege für die Verbreitung von Gütern – wie etwa des Papiers und zahlreicher Kulturpflanzen –, Ideen und Techniken bis weit hinein nach China und Indien sorgten. Das heißt, obgleich die Muslime nur an der Peripherie Europas– vor allem in Spanien und Sizilien – siedelten, haben sie die Geschichte Europas nachhaltig beeinflusst und Wesentliches zu seiner kulturellen Entwicklung beigetragen. Entgegen dem Bild eines besonders gewalttätigen Islam waren die Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen weder häufiger noch gewaltsamer als andere Konflikte oder als die Religionskriege der beiden christlichen Glaubensgemeinschaften. Selbst bei den sogenannten islamisch-christlichen Konfrontationen gingen Muslime und Christen immer wieder militärische Bündnisse ein und bewiesen damit, dass die Kämpfe im Grunde aus anderen als aus religiösen Beweggründen geführt wurden (vgl. Borgolte 2006b: 159).2 Aus den Schulbüchern erfahren die Schüler und Schülerinnen heute jedoch, dass Kampf, Krieg und Gewaltanwendung das beherrschende Element in der Beziehung zwischen Islam und Christentum gewesen seien. Die Kreuzzüge, die Eroberung von Byzanz und die Belagerung von Wien durch die Türken, das sind die entscheidenden Ereignisse, die sie lernen, wenn es um das Verhältnis zwischen Christentum und Islam geht. Die kulturtragende Rolle, die der Islam für Europa im Mittelalter gespielt hat, wird so gut wie nicht erwähnt. Diese Geschichtsschreibung ist »äußerst fragmentarisch und konfliktfixiert« (Hafez 2013: 275). Außer in der Geschichte kommen Muslime weder in der Literatur noch der Geographie noch in anderen Fächern vor, als hätten sie keine Beiträ2 | Bereits im Spätmittelalter gab es Auseinandersetzung um den Islam und genau gegenläufige Positionen (vgl. Flasch 2008: 131).

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ge dazu geleistet bzw. würden keine leisten. Das Bild von einem gewalttätigen Islam wird also aufgrund der Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen bis heute vermittelt. Dass dieses Bild – entgegen der Realgeschichte – so dominant wurde, liegt nicht zuletzt daran, dass die profane Geschichtsschreibung auf der christlichen Sichtweise basierte. So galt und gilt »der« Islam nach christlicher Auffassung als eine gewalttätige Religion, obwohl er im Unterschied zum Christentum kaum zu Zwangsbekehrungen gegriffen hat.3 Die christlich geprägten Geschichtsschreiber konnten sich aber die Expansion des Islam nur in Analogie zur christlichen Expansion der Missionskriege vorstellen.4 Auch wurde die »Islamisierung« des Balkans als das Werk eifernder Muslime gesehen, die mit Feuer und Schwert und einer grauenvollen Barbarei zu Werke gingen, während moderne Historiker betonen, dass diese Islamisierung eher auf freiwilliger Basis vonstattenging, konnten sich die Bevölkerung damit doch oft den intoleranten orthodoxen Zwingherren entziehen.5 Die Projektion eigener christlicher Gewalttätigkeit auf den Islam wurde zu einem vorherrschenden Mechanismus der Feindbildkonstruktion. Die damit einhergehenden massiven Feindseligkeiten blieben nicht ohne Folgen, auch für das säkulare Selbstverständnis. Bis heute prägen sie nicht nur die Geschichtsschreibung, sondern auch das Konzept von Staat und Nation, da die moderne Staatenbildung in Europa wesentlich auf dem christlichen Homogenitätsdenken basiert. Dies hatte sich vor allem seit dem späten Mittelalter verbreitet. Damals kam im Christentum eine bis dahin nie gekannte Feindseligkeit nicht nur gegenüber dem Islam auf, sondern auch gegenüber den Juden und gegenüber christlichen »Häretikern«. Es entstand, wie Borgolte im Rekurs auf neuere historische Forschungen formuliert, geradezu eine »Verfolgergesellschaft« (Borgolte 2006b: 160).6 Dabei war »die abendländische Christenheit regelrecht besessen von der Vorstellung einer notwendigen reduc3 | Vor allem die rasche Expansion des Islam im 7. Jahrhundert wurde von der europäischen Geschichtsschreibung als Ausbreitung durch Glaubenszwang interpretiert, bei der »Mohammed, das Schwert in der einen, den Koran in der anderen Hand, seinen Thron über den Trümmern des Christentums und Roms errichtet habe« (Naumann 2009: 32 zit. in Schneiders). 4 | Demgegenüber waren die Moslems der Auffassung, dass Juden und Christen Besitzer von heiligen, geoffenbarten Schriften (Thora und Evangelium) seien und Jesus ein Prophet, sodass ihnen Rechtssicherheit und die freie Ausübung der Religion gewährleistet wurden (vgl. ebd.). 5 | Das osmanische Reich hatte eine Anziehungskraft für Bauern, Handwerker und Soldaten, da es hier keine Fronarbeit und keine marodierenden Truppen gab, sondern klare Abgaberegelungen (vgl. Wunderer 2011: 379, 380, 389). 6 | Dies hatte viel damit zu tun, dass der Papst zu jener Zeit davon getrieben war, die lateinische Christenheit nach seinen Vorstellungen zum Heil zu führen; im 12. und

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tio ad unum in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Die Vielfalt war in die Nähe des Bösen gerückt und so die Uniformierung der Gesellschaft mit den Mitteln der Religion durchgesetzt« (ebd.: 161). Diese »reductio ad unum« prägte auch die moderne Staatenbildung. Denn die Glaubenskriege im frühmodernen Europa (insbesondere der Dreißigjährige Krieg 1618-1648) haben nicht zu einem säkularen Staat geführt, sondern zu einem konfessionell einheitlichen Staat – ganz nach dem Muster: cuius regio, eius religio – erstmals eingeführt beim Augsburger Religionsfrieden und dann im Westfälischen Frieden bestätigt. Entsprechend war die Vertreibung der Juden und Muslime aus Spanien, so Casanova, die logische Konsequenz einer Dynamik der Staatenbildung auf der Basis ethnisch-religiöser Säuberungen (vgl. Casanova 2009: 11). Das heißt, dass die christlich-säkulare Geschichte nicht nur antimuslimische Einstellungen generiert hat, sondern in Bezug auf das eigene Selbstverständnis ein Homogenitätsdenken, das andere Religionen wie auch zunächst sogar die jeweils anderen christliche Konfessionen ausschloss.7 Aber nicht nur die Vorstellungen von Staat und Nation sind von christlichem Gedankengut durchdrungen, sondern auch die Vorstellung von »der Moderne«. Das wiederum nährt die Auffassung, dass »der« Islam mit dieser Moderne nicht vereinbar sei. Dieser These hat, wie bereits in Kap. 5 angesprochen, vor allem Max Weber den Weg bereitet.

Weber: Modernisierungstheorie Es war vor allem Max Weber, der die These von der Unvereinbarkeit des Islam mit der Moderne in seiner Religionssoziologie ausgeführt und begründet hat. Für Weber ist nur das Christentum modernisierungsfähig, da es die Verweltlichung der Religion ermöglicht. In seiner Religionssoziologie versuchte er zu begründen, warum Kapitalismus und Demokratie nur im christlichen Europa entstehen konnten – und nicht in Regionen, die von anderen Religionen geprägt sind (vgl. Weber 1920/1963). In dem Zusammenhang zeichnet er das Bild von einem Orient, in dem die Menschen fatalistisch ihrem Schicksal ergeben sind und keine Initiative und Tatkraft entwickeln, die jedoch Grundbedingung für die Entwicklung des Kapitalismus seien. Die orientalischen Gesellschaften hätten keine innere Struktur, keine Klassen und Schichten, was für Weber ein wesentlicher Grund dafür war, warum sie nicht modernisierungsfähig seien. Auch fehlten im Orient seiner Meinung nach die Voraussetzungen für die Ent13. Jahrhundert erreichte das Papsttum den Höhepunkt seiner politischen und finanziellen Macht. 7 | In den USA, die für ihre konsequente Religionsfreiheit berühmt sind, galt diese Freiheit zwar für die verschiedensten christlichen Konfessionen, nicht aber für den Katholizismus.

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wicklung von Demokratie, denn dort habe sich ein Individualismus, wie er für das Christentum typisch sei, nicht entwickeln können. Im Christentum verstehe sich jeder in einer individuellen Beziehung zu Gott und sei nur ihm verantwortlich. Diese Individualisierung führe sehr viel eher zur Demokratie als die orientalische »Despotie«, in der der Einzelne vor allem im Zusammenhang mit dem Gesamten stehe. Und schließlich liegt für Weber der entscheidende Unterschied in der großen Bedeutung der Rationalität im christlichen Europa, die alles auf ein Ziel ausrichte und so die Relation zwischen Zweck und Mittel ständig zu optimieren versuche. Dies habe auch das anhaltende Gewinnstreben hervorgebracht, im Gegensatz zu Gesellschaften, in denen der eigene Erfolg dem Wirken unterschiedlichster magischer Mächte zugeschrieben werde. Bei dieser Gegenüberstellung zwischen Christentum und Islam negiert Weber im Interesse einer Differenzverstärkung weitgehend die Differenzen innerhalb des Christentums. Hätte er beispielsweise den Katholizismus als eine typische Erscheinungsform des Christentums in den Vergleich mit einbezogen, so etwa die Argumentation von Stauth (1993), dann wäre die Gegenüberstellung zwischen Islam und Christentum im Sinne von hier Rationalität, dort Magie oder hier Individualisierung und Demokratisierung, dort »Untertanengeist« keineswegs so eindeutig ausgefallen. Ebenso tendenziös ist die Charakterisierung der Muslime als nur mittelbar ihrem Gott verpflichtet, denn gerade der Islam – zumindest in seiner sunnitischen oder auch alevitischen Form – kennt keinerlei klerikale Hierarchie oder geistige Mittlerfiguren. Weber vergleicht jedoch die »fortgeschrittensten« christlichen Religionsformen mit einem als homogen konstruierten Islam, wobei er dort wiederum die Aspekte hervorhebt, die den Islam von der westlichen Welt scharf unterscheiden. Hier wird für das Christentum im Namen der Moderne Partei ergriffen, und es wird gegenüber allen anderen Religionen als zeitgemäß ausgezeichnet. Damit werden die anderen Religionen aus dieser Moderne ausgeschlossen, wie etwa zu jener Zeit auch das Judentum. Das Christentum wurde in die Moderne eingemeindet und antichristliche Impulse lediglich bestimmten Formen wie etwa konservativen katholischen Strömungen oder Formen der Volksreligiosität vorbehalten. Ebenso wurden antireligiöse Impulse generell auf die anderen Religionen übertragen, wobei dort nicht mehr zwischen verschiedenen Strömungen differenziert wurde. Für Weber waren letztlich alle anderen Weltreligionen der neuen Zeit nicht gewachsen. Das Christentum hingegen wurde in die Vision eines evolutionären Fortschritts eingebunden, bei der die anderen auf den tieferen Stufen der Entwicklung angesiedelt sind. Die Widersprüchlichkeit dieser Argumentation liegt vor allem darin, dass »die« Moderne einerseits als a-religiös oder gar antireligiös gilt, als eine Epoche, die die Religion überwunden hat oder zumindest überwinden wird – dass sie zugleich aber als eine christliche Epoche verstanden wird. Damit werden andere Religionen immer ausgeschlossen. Das Christentum ist gewissermaßen die einzige

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Religion, die in der Lage ist, sich selbst zu überwinden und ihre Erbschaft an die Säkularität abzugeben. Die Behauptung der Unvereinbarkeit des Islam mit der Moderne und damit mit der Demokratie ist bis heute eine der mächtigsten Waffen im antimuslimischen Kampf. Empirisch gibt es dafür keine Belege. So zeigen die weltweiten Untersuchungen von Norris & Inglehart zu politischen Einstellungen, dass bezüglich der Wertschätzung von Demokratie und der Kritik an autoritären Regimen zwischen den Menschen aus islamisch geprägten Regionen und solchen aus christlichen westlichen Ländern kaum Unterschiede gefunden werden konnten. Die größten Vorbehalte gegenüber demokratischen Werten wurden bei der Bevölkerung von Republiken der ehemaligen Sowjetunion festgestellt (vgl. Norris & Inglehart 2004: 222).8 Analog zur religiösen antimuslimischen Argumentationen finden wir entsprechende säkulare Strömungen, die die Überlegenheit des Westens vor allem mit seinen Fortschritten in Kunst, Wissenschaft und Ökonomie begründen. Dies Überlegenheitsdenken bildete sich vor allem im Rahmen des Kolonialismus heraus, wo ein bis heute wirksames Bild vom »Orient«9 geformt wurde. Dabei ist »der Orient« auf einer unteren Stufe angesiedelt, aber zugleich in die Vision einer universalistischen Menschheitsentwicklung eingebunden. Dies geschah, wie Edward Said in seiner bahnbrechenden Untersuchung zum »Orientalismus« beschrieben hat, durch eine Re-Konstruktion des Orients mithilfe europäischer Kunst, Literatur und Wissenschaft (vgl. Said 1978/1994). Die Europäer eigneten sich die Geschichte und Kultur des Orients auf ihre Weise an und brachten sie damit in eine, wie sie meinten, objektiv gültige Darstellung. Diese kulturelle Enteignung nährte die Phantasien von Macht und Kontrolle, ohne sie als solche zu thematisieren. Damit wurde der Islam nicht nur militärisch und politisch, sondern auch ideologisch unterworfen. Er galt nun nicht mehr als zeitgemäß. Wir finden also Parallelen zwischen den primär religiösen und den primär säkular begründeten Argumentationen. In der Regel fließen sie jedoch ineinander. Das zeigt sich vor allem am sogenannten Säkularismus, ein Begriff, den der Anthropologe Talad Asad geprägt hat. Er weist mit diesem Konzept darauf hin, dass die Säkularität in Europa sowohl christlich geprägt ist also auch antireligiöse Impulse aufgegriffen hat.

8 | Im Übrigen hängen die Unterstützung der Scheidung und der Emanzipation von Frauen sowie die Toleranz gegenüber Homosexualität mehr mit dem Lebensstandard zusammen und sind kein Spezifikum der westlichen Kultur. 9 | Die imaginäre Geographie Europas hat im Zeitalter des Kolonialismus den Kulturraum im Osten – von dem »Heiligen Land«, den muslimisch geprägten Ländern des Nahen Ostens bis Indien und China – als Orient bezeichnet.

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E xkurs: Säkularismus Säkularismus ist nach Talal Asad eine Weltsicht, die auf der Grundlage der christlichen Religion und zugleich im Kampf gegen sie entstanden ist (vgl. Asad 2007). In ihr sind Prinzipien der säkularen Moderne und christlicher Denk- und Handlungssysteme miteinander verbunden. Für ihn haben sie sich in einem engen Zusammenhang mit der politischen Machtausübung entwickelt, und er schreibt: »Säkularismus entstand im Kontext des modernen Europas, in dem es darum ging, die Armen zu kontrollieren, feindliche christliche Sekten zu regulieren und die ökonomische militärische und kolonialen Expansion Europas voran zu treiben« (ebd.: 192).

In diesem Sinn ist Säkularismus eine Ideologie der Kontrolle und Macht, die sich jedoch als eine Ideologie der Befreiung versteht. Säkular ist der Säkularismus insofern, als er dem Mythos einer übernatürlichen Welt die Welt der Vernunft entgegengesetzt. Zugleich verbirgt sich darin aber der aus dem religiösen Denken entnommene Glaube, im Besitz einer »transzendentalen Wahrheit« zu sein, in der es nur das Wahre und das Falsche gibt. Die binäre Denkstruktur dieser Weltsicht wird zu einer »totalisierenden« Ideologie, die vor allem eine Politik des Entweder-Oder verfolgt. Dies kann aber nach Meinung Asads nicht der komplexen Wirklichkeit von sich ständig überschneidenden, fragmentierten Kulturen, hybriden Selbstverständnissen und sich fortwährend auflösenden und neu bildenden sozialen Formationen gerecht werden. Das christliche Erbe zeigt sich nach Asad etwa in einem säkularistischen Fortschrittsmythos, in dem es nicht einfach nur um technischen oder wirtschaftlichen Fortschritt geht, sondern immer auch um einen moralischen Fortschritt. Es geht mit der Entwicklung der Gesellschaft zugleich auch darum, das Böse in der Welt zu überwinden. In den Anderen werden nicht einfach Feinde gesehen, sondern die Inkarnation des Bösen. Die Menschen sind zu Besseren zu machen und Gewalt und Unterdrückung im Notfall auch mit Gewalt zu bekämpfen. Die Welt gilt als ein dunkler Ort, der erlöst werden muss. Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind die zentralen Forderungen, mit denen »der Westen« die Welt humanisieren möchte. Indem so die eigene Vernunft universalisiert wird, wird sie jedoch gewalttätig. Diese universelle Ermächtigung zur Erlösung der Menschheit basiert, so Asad, auf einem pessimistischen Menschenbild, nämlich der Annahme, die anderen Menschen seien verblendet und moralisch verkommen. So muss »der Aufgeklärte ständig gegen die Dunkelheit der Welt draußen kämpfen, die den ›zivilisierten Raum bedroht‹« (ebd.: 59) – wie einen Garten, der ständig Gefahr läuft, von einem Dschungel überwuchert zu werden. Das führt vor allem dazu, dass im Namen der Freiheit Gewalt und Unterdrückung gerechtfertigt werden. Asad geht es nicht einfach darum, dass im westlichen Säkularismus Andere

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als gut, schlecht oder indifferent bewertet werden, das machen alle Menschen, sondern er analysiert, wie Gewalt und welche Art von Gewalt durch diese Ideologie gerechtfertigt wird (vgl. ebd.: 148). Der Säkularismus enthält jedoch nicht nur christliche Motivstrukturen, sondern auch anti-religiöse Impulse, vor allem in der Idee der Autonomie des Menschen. Demnach ist der Mensch frei von Abhängigkeit und frei von »höheren« Mächten. Das gilt nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für das moderne Europa, das sich aus sich selbst heraus erfunden zu haben glaubt. Der Mythos der Selbsterschaffung ist beseelt von einem positiven Selbstverständnis, das die Geschichte der Gewalt und Inhumanität des Kolonialismus ebenso abspaltet wie auch die innerhalb Europas, die das 20. Jahrhundert nach Eric Hobsbawm (Hobsbawm 2009) zu dem »gewalttätigsten, blutigsten und genozidalsten der Menschheitsgeschichte« machte. Schließlich werden im europäischen Selbstbild auch all die Regionen abgespalten, die angeblich nicht richtig zu Europa gehören, wie der ganze Bereich des orthodoxen Christentums und »Randregionen« wie Südosteuropa, sodass etwa die bosnischen Muslime zwar in Europa leben, aber nicht eigentlich als europäisch gelten. Europa wird so zu einem Verdrängungsbegriff.10 Dennoch sieht sich die Ideologie des Säkularismus alleine in der Tradition der allmählichen Befreiung aller Menschen bis hin zur universalen Emanzipation. Wobei die Befreiung voraussetzt, dass die Anderen uns hinreichend ähnlich sein müssen. Wenn sie zu verschieden sind, ist eine Erlösung nicht möglich. Die eigene Ambivalenz gegenüber der Religion ebenso wie die widersprüchliche Geschichte von Befreiung und Unterdrückung wird im Säkularismus in eine eindimensionale Geschichte der Moderne gepresst, die von ihrer Opposition gegen Kirche und Tradition lebt und nur von einer zunehmenden Zivilisierung und Befreiung erzählt. Charakteristisch für diese Narration ist das Abspalten negativer Aspekte vor allem mithilfe eines eindimensionalen Zeitverständnisses: Die Zeit bewegt sich aus einer finsteren Vergangenheit linear in eine fortschrittliche Zukunft und hat dann auch keinen Platz mehr für die Widersprüche in der »Befreiung«. Eine solcher Säkularismus lässt sich heute nirgends so gut wie in der Auseinandersetzung um die Position der »anderen«, der nicht-westlichen Frau 10 | In dieser Selbst-Erschaffung Europas kommt wiederum sein spezifisches christliches Erbe zum Vorschein, nämlich das römische Christentum, das sich ebenso im Gegensatz zum oströmischen wie im Gegensatz zum Islam versteht. In diesem Erbe wird die uralte Idee des Anti-Christen tradiert, der spätestens seit der Zeit der Kreuzzüge die westliche Christenheit zu bedrohen schien. Dieses christliche Misstrauen gegenüber dem Islam wie auch gegenüber dem Judentum in Form des Antijudaismus wurde mit der Moderne in den biologisch argumentierenden Antisemitismus und den antimuslimischen Rassismus transferiert.

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beobachten, vor allem deshalb, weil die Frauen oft zu Repräsentantinnen der jeweilige Kultur oder Religion gemacht werden. Sie scheinen die Traditionen und die Essenz der anderen Kultur besonders gut zu symbolisieren, da sie als besonders der Tradition verhaftet gelten. Erinnern wir uns, dass »der« Islam von 80 Prozent der Bevölkerung in Deutschland mit der Unterdrückung der Frau assoziiert wird. Demgegenüber gilt »die« westliche Frau als emanzipiert. Entsprechend ist die Mehrheit auch der Auffassung, die muslimische Frau müsse befreit werden.11 Allerdings ist diese Befreiungsgewissheit erstaunlich, da die Moderne auch der westlichen Frau zunächst in erster Linie neue Formen der Unterdrückung brachte.

D ie M ission zur B efreiung der anderen F r au Die zivilisatorische Mission war, wie wir sahen, von dem Willen getragen, allen Menschen die Segnungen der westlichen Moderne zukommen zu lassen. Symbol für den Fortschritt war dabei insbesondere die Befreiung der als unterdrückt geltenden kolonisierten Frauen. Die meisten westlichen Frauen hatten diese Mission enthusiastisch begrüßt, und von Seiten der Frauenbewegung gab es kaum kritische Stimmen. Im Gegenteil – die westlichen Frauen glaubten ihrem Anliegen nun auch weltweit Geltung verschaffen zu können und die Frauen der ganzen Welt in die Befreiung zu führen. Spektakuläre und viel referierte Beispiele hierfür sind etwa der Kampf gegen die Witwenverbrennung (Sati) in Indien oder das Verbot des Füße-Einbindens in China oder heute vor allem das Verbot der Genitalverstümmelung. Zwar wurden mit dem Kolonialismus diese Formen der Gewalt gegenüber Frauen zumindest teilweise erfolgreich bekämpft, andererseits wurde aber gleichzeitig eine Geschlechterordnung eingeführt, die Frauen teilweise stärker noch als zuvor in die Unterordnung verbannte. Kwok spricht in ihrer Analyse von einer spezifischen Selektivität der Befreiung und zieht die Bilanz, dass mit dem Kolonialismus letztlich patriarchale Strukturen verstärkt worden seien (vgl. Kwok Pui-Lan 2002: 65). Denn für die kolonisierten Frauen galt, dass sie sich die christliche Ideologie weiblicher Sündhaftigkeit zu eigen machen und sich einer besonderen Verpflichtung zu einem »moralischen« Lebenswandel unterwerfen mussten. Der Kampf gegen die »sittlichen Verrohung« der

11 | Solche Bestrebungen haben, wie wir sahen, eine lange Tradition, da bereits während der Kreuzzüge der Mythos vom christlichen Ritter in die Welt gesetzt wurde, der die Sarazenenprinzessin aus dem Verlies des Despoten in die Freiheit entführt. Auch später war es ein zentrales Anliegen von KolonisatorInnen und MissionarInnen, muslimische Frauen aus dem Harem zu befreien.

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­ olonisierten Frauen und die Erziehung zu »Häuslichkeit« und »Familientuk genden« standen an erster Stelle.

Das ambivalente Erbe des Kolonialismus Nicht die Befreiung der Frauen war das eigentliche Thema der zivilisatorischen Mission, sondern ihre Ver-Westlichung und Christianisierung (vgl. Stearns 2008). Wenn sich die KolonisatorInnen für die Stärkung der Frauen einsetzten, dann immer nur im Rahmen kolonialer Dominanz. Es bestand kein Interesse daran, die potentiell emanzipatorischen Momente in der unterworfenen Kultur zur Kenntnis zu nehmen. Die viel zitierten Beispiele kolonialer Frauenbefreiung übertönen all die Fälle, in denen Frauen durch die westliche Zivilisierung in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und aus ihren angestammten Machtpositionen verdrängt wurden. Das gilt namentlich für die vielen Frauen in afrikanischen Ländern und auf dem amerikanischen Kontinent, die es gewohnt waren an politischen Entscheidungen in ihrem Gemeinwesen teilzunehmen, sich öffentlich zu artikulieren und die verschiedensten, von den westlichen Missionaren als männlich apostrophierten Tätigkeiten auszuführen. Markt und Handel war in vielen afrikanischen Gesellschaften die Sache von Frauen, sie waren in der Landwirtschaft eigenständig tätig und nicht allein auf das Haus reduziert. Es gab, wie etwa Dube resümiert, in diesen Gesellschaften keine Gleichheit zwischen den Geschlechtern, aber Frauen waren nicht so weitgehend aus der Gesellschaft ausgeschlossen, wie es das europäische Modell vorsah (vgl. Dube 2002: 111). Zu einer Re-Patriarchalisierung führte nach Dube zudem auch die Rigidität der westlichen Geschlechterordnung. So existierten in einigen vorkolonialen Gesellschaften in Afrika Konzepte flexibler Geschlechterrollen, das heißt, wenn in einer Familie kein Junge geboren wurde, konnte ein Mädchen eine »männliche Tochter« werden und das Land der Eltern erben. In anderen Gesellschaften wie der der Baswanas gab es eine/n Gott/Göttin, der/die weder weiblich noch männlich war. Die Priester/innen waren Männer und Frauen. Aber diese Götter und Göttinnen wurden von den Europäern als Dämonen und die Priesterinnen als Hexen denunziert. Die Verdammung der Göttinnen und die Einführung eines männlichen Gottes und seines Sohnes hatten auch wirtschaftliche Folgen für die Frauen, da sie nun nicht mehr ihren Unterhalt als Priesterinnen verdienen konnten (vgl. ebd.: 113). Wie wenig die westlichen Konzepte in Bezug auf die Position der Frauen einfach als fortschrittlich im Vergleich zur Rückschrittlichkeit der indigenen Kulturen gesehen werden können, soll das folgende Beispiel veranschaulichen: Eine zentrale Forderung christlicher Missionare wie auch säkularer

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Emanzipationskonzepte ist und war die Abschaffung der Polygamie 12: Sie ist bekanntlich in vielen vorkolonialen Gesellschaften üblich und hat viel mit der sozialen Einbindung von Frauen in kriegerische Gemeinschaften zu tun. Für die Männer bedeutet Polygamie in der Regel Reichtum und soziales Prestige, und zweifellos ist diese Familienform Ausdruck einer patriarchalen Gesellschaft. Allerdings muss sie nicht unbedingt etwas mit der moralischen Repression der Frauen zu tun haben, wie das Beispiel Melanesien zeigt, das Hiery in seiner Studie zur Mission im Kolonialgebiet von Deutsch-Neuguinea untersucht hat (vgl. Hiery 1994). Die Frauen waren dort die Aktiven in Bezug auf die Sexualität. Sie ergriffen die Initiative und entschieden auch autonom darüber, ob sie Kinder bekommen wollten oder nicht. Sexuelle Abstinenz wurde als Krankheit angesehen und Homosexualität war in vielen melanesischen Kulturen, wie Hiery schreibt, Voraussetzung für die Erlangung von Männlichkeit. Die aktive und nach westlichen Vorstellungen ausschweifende Sexualität der Frauen wurde geschätzt und nicht moralisiert. Moralvorschriften gab es jedoch in Bezug auf bestimmte Beziehungen, nämlich auf die zwischen Frauen und Männern, die dem gleichen Totem angehörten. Diese Beziehungen wurden verurteilt, während Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Totems erlaubt waren. Da in einer Familie der Vater und die Söhne jeweils anderen Totems angehörten als die Mutter und die Töchter, konnte der Vater auch mit seiner Tochter oder die Schwester mit ihrem Bruder wie auch die Mutter mit ihrem Sohn sexuell verkehren (vgl. ebd.: 533). Das heißt, die Moralvorstellungen der einheimischen Bevölkerung und der Missionare waren völlig inkompatibel. So wurden jeweils ganz unterschiedliche Sachverhalte zum Gegenstand moralischer Bewertung. Auch kann diese Gesellschaft nicht pauschal aufgrund ihrer polygamen Geschlechterordnung als patriarchal verurteilt werden, waren doch die Frauen die Aktiven in Fragen von Sexualität und Reproduktion. Schließlich wird auch deutlich, dass die einfache Substituierung einer Moralordnung durch eine andere nicht einfach als »Fortschritt« verbucht werden kann – was nicht heißt, dass die westliche Geschlechterordnung nicht auch emanzipatorische Wirkung entfalten kann. Die Missionare in Melanesien scheiterten kläglich bei ihrem Versuch, die Polygamie zu verbieten. Angesichts einer solchen Forderung wandten sich die Menschen einfach vom Christentum ab. Andererseits setzten die Missionare 12 | Abraham, Jakob und Moses hatten viele Frauen. Auch Augustinus erlaubte die Polygamie, wenn sie der Fortpflanzung diente. In einem Brief schreibt er z.B.: »Eine Mehrzahl von Ehefrauen war kein Verbrechen, als es Brauch und Gewohnheit war. Doch heute ist es ein Verbrechen, weil es nicht mehr Brauch und Gewohnheit ist.« Verblüffend ist hier, dass Augustinus hinsichtlich der Polygamie einzig darauf abstellt, was gerade Gewohnheit ist, nicht jedoch eine Bewertung aus christlicher Perspektive vornimmt.

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ein Recht der melanesischen Frauen auf Scheidung durch, was die Männer zuvor allein für sich beansprucht hatten. Damit hatten die Missionare den Frauen Rechtsmittel an die Hand gegeben, um sich in einer Welt zu behaupten, die erst durch den Kolonialismus geschaffen worden war. Dies war nach Hiery ein durchschlagender Erfolg in Bezug auf die Stärkung der Frauen im Geschlechterverhältnis (vgl. ebd.: 543). Das heißt, dass westliche Dominanz nicht nur neue patriarchale Machtverhältnisse errichtet, sondern zugleich auch die Kritik daran zumindest teilweise mitgeliefert hat. Die westlichen Bemühungen zur Befreiung der Frauen sind also zwiespältig. Zum einen setzt diese »Befreiung« die Abwertung der herkömmlichen Kultur voraus und damit auch die in ihr enthaltenen stärkenden Momente für Frauen. Die Frauen mussten als Vorbedingung ihrer »Befreiung« sich einem System unterordnen, das ihre kulturelle Herkunft degradierte und sie aus ihren angestammten Rollen vertrieb. Zum anderen hat die zivilisatorische Mission zu einer Stärkung der Frauen in den neuen Gesellschaften geführt – und dies nicht nur mithilfe ihrer rechtlichen Gleichstellung, sondern vor allem auch mit dem Zugang von Mädchen und Frauen zu Bildung und zu gesundheitlicher Versorgung. Aber die westliche Kultur versprach nicht einfach nur ihre Gleichstellung, sondern forderte auch die Einordnung der Frauen in das westliche Patriarchat, das sich vor allem in seiner rigiden heteronormativen Geschlechterordnung und in der Verbannung der Frauen in die Privatsphäre, also in spezifisch westlichen Formen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zeigt. Das heißt jedoch, die westlichen Befreiungsversprechen sind nicht nur im kolonialen Kontext, sondern in sich selbst ambivalent. Das haben die europäischen Frauen selbst erfahren, denn Aufklärung und Moderne bedeuteten auch für sie nicht einfach Fortschritt und Befreiung, sondern gleichzeitig auch ihre Zurücksetzung als das »zweite Geschlecht«. Insofern gibt es, was die Position der Frauen angeht, interessante Parallelen zwischen der Modernisierung der europäischen Gesellschaften und der Kolonisierung.

Das ambivalente Erbe von Aufklärung und Christentum Historisch betrachtet ist es erstaunlich, dass ausgerechnet die Position der Frauen zum Prüfstein der Moderne in Europa geworden ist, denn die Frauen standen zur Zeit der bürgerlichen Revolutionen keineswegs für Aufgeklärtheit und Fortschrittlichkeit. Im Gegenteil, den Frauen wurden Irrationalität und Traditionalität zugeschrieben, wohingegen die Männer das Allgemeine der Vernunft und Menschlichkeit für sich beanspruchten. Die Französische Revolution hatte mit ihrer Losung »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« die Schwestern nicht gemeint, und in der Aufklärung, der Kernideologie der westlichen Moderne, wurde den Frauen eine mindere Natur zugeschrieben. Andererseits hatte dieselbe Aufklärung auch die Gleichheit aller Menschen behauptet, und

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dieses universale Versprechen war es auch, das die Hoffnungen der Frauen beflügelte und Ansatzpunkte für ihren politischen Kampf um Gleichberechtigung bot. Insofern hatte die Aufklärung durchaus ambivalente Wirkungen in Bezug auf die Frauen, denn sie sollten nun Anerkennung von einem System erwarten, das sie selbst herabgesetzt und ausgegrenzt hatte. Mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung wurden die Frauen in Europa aus der Öffentlichkeit vertrieben. Im Mittelalter hatten ihnen noch die meisten Berufe offen gestanden, nun aber wurden sie aus den Heilberufen, aus politischen Ämtern und auch aus den meisten Zünften verdrängt. So verloren sie, ähnlich wie die Frauen in den kolonisierten Ländern, ein Gutteil ihrer ökonomischen und politischen Macht.13 Ihr Anteil an bezahlter Arbeit ging zum Beispiel in England zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert kontinuierlich zurück, sodass die Frauen vielfach ihre ökonomische Unabhängigkeit einbüßten (vgl. Brennan & Patemann 2003: 108). Sie konnten ihren eigenen Unterhalt kaum mehr selbst bestreiten, denn die bürgerlichen Frauen wurden zu Hausfrauen und damit von ihren Männern abhängig gemacht, und die Frauen der unterprivilegierten Schichten wurden in schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse gezwungen, sodass sie von ihrem Verdienst kaum mehr leben konnten. Diese Entwicklung wurde begleitet und gerechtfertigt von einer Philosophie, die der Frau eine von der des Mannes grundlegend verschiedene Natur zuschrieb. Beide sollten sich im Sinne einer Komplementarität gegenseitig ergänzen (vgl. Herzog 1993: 82). Der Entmachtung im politischen und ökonomischen Bereich entsprach eine anthropologische Entwertung, die die Frauen zu abhängigen, passiven und vor allem emotional unreifen und unvernünftigen Personen machte.14 Dafür hatte das Christentum die Blaupause geliefert. Danach ist es die Frau, die die Sünde in die Welt brachte, und ihre Existenz verdankt sie ihrer Rolle als Helferin des Mannes. Die Verbannung der Frau aus der Öffentlichkeit führte jedoch zugleich, wie wir sahen, zu einer Feminisierung der Religion. Denn parallel zur Abspaltung der öffentlichen von der privaten Sphäre verlief der Säkularisierungsprozess im Sinne einer Trennung von Kirche und Staat. Diese beiden Tendenzen wurden insofern miteinander verknüpft, als einerseits Religiosität immer mehr den Frauen zugeschrieben wurde und andererseits die Kirche ihren 13 | Auch die häusliche Tätigkeit verlor aufgrund der industriellen Fertigung von Nahrungsmittel vielfach ihre produktiven Komponenten. 14 | Die Frauen traten mit der Aufklärung also ein höchst zwiespältiges Erbe an, denn trotz des universalen Anspruchs auf die Gleichheit aller Menschen waren sie von dem Allgemeinen des Menschseins ausgeschlossen. Dies war nun im männlichen Geschlecht verkörpert, während für die Frauen eine »Sonderanthropologie« (Honegger 1991) entwickelt worden war. Insofern ist diese Form des Sexismus ein konstitutiver Bestandteil des Aufklärungsdenkens und nicht ein bedauernswerter Überrest vormoderner Traditionen.

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verloreneren Einfluss auf die Politik nun vielfach über die Reglementierung der Frauen und des Familienlebens zu kompensieren suchte (vgl. Kap. 5). Die Frauen wurden zum moralischen Geschlecht erklärt, das die Nachkommen nach christlichen Grundsätzen zu erziehen hatte. Auch sollten sie den unmoralischen Ehemann und Gewalttäter zu einem Leben der Frömmigkeit, der harten Arbeit und der Kirchlichkeit erziehen (vgl. Smith 2008: 171; vgl. auch Bailey 2010).15 Die aufgeklärte Moderne trieb also die Frauen gewissermaßen in die Religion, gab ihnen aber zugleich den Auftrag, wenn sie als modern gelten und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnehmen wollten, diese zu überwinden. Den männlichen christlichen Bürgern wurde per se Modernität zugeschrieben, während Frauen und Nicht-Christen sie erst zu erwerben hatten. Um jedoch in dieser männlich definierten Moderne anzukommen, kam den europäischen Frauen, so widersprüchlich das klingen mag, die Religion durchaus auch zu Hilfe: Im Zusammenhang mit der »Feminisierung der Religion« wurden den Frauen neue Aktionsräume eröffneten, zum Beispiel in Form von Klostergründungen oder in Form weiblicher Missionstätigkeit, die den Frauen die Möglichkeit bot, die Enge ihrer Verhältnisse zu verlassen und in die Welt zu reisen. Ebenso konnten sie sich etwa als Diakonissinnen beruflich engagieren. Diese Feminisierung entwickelte sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – also genau in der Zeit, in der die Frauenbewegung erhebliche Fortschritte machte (vgl. Allen 2008: 203). So konnten die europäischen Frauen mithilfe der Kirchen sowohl von der Religion wie auch im Kolonialismus profitieren.16 Damit sind auch die Unterschiede zwischen kolonisierenden und kolonisierten Frauen angesprochen: Auch wenn es Parallelen gibt, indem beide von 15 | Und die Frauen nahmen diese Rolle an und machten Religion und Moral immer mehr zu ihrem Anliegen. Dies zeigte sich in einer geradezu explosionsartig anwachsenden Neugründung von Nonnenklöstern, aber auch in einer zunehmenden Diskrepanz der Religiosität von Frauen und Männern, etwa indem die Frauen nun verstärkt »emotionale und romantische Frömmigkeitsformen« (Ziemann 2009: 117) praktizierten, zum Beispiel in Gestalt intensiver Marienverehrung. 16 | In der deutschen feministischen Theorie spielt, mit Ausnahme der feministischen Theologie, Religion so gut wie keine Rolle (vgl. Allen 2008). Religion – gleichgültig welche – wird vielfach als eine grundlegend antifeministische Weltanschauung betrachtet. Dafür gibt es viele gute Gründe. Gleichwohl zeigt die Geschichte, dass frau mit einer solchen Einschätzung weit an der Realität der Frauenbewegung vorbeigeht. Fast alle engagierten Frauen der im 19. Jahrhundert beginnenden ersten Frauenbewegung in Europa, von wenigen Ausnahmen im radikalen Flügel abgesehen, verstanden sich als religiös, und auch die religiösen Frauenverbände haben in der damaligen Zeit einen erheblichen Beitrag zur Gleichstellung der Frauen geleistet. Die christliche Religion hat also durchaus einen Teil zur Emanzipation beigetragen.

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der säkularen Moderne wie auch vom Christentum in die Zweitrangigkeit verbannt wurden und beide vorherige Machtpositionen verloren haben, so konnten doch die europäischen Frauen in ihrer Identifikation mit der westlichen Zivilisation von der Unterdrückung der anderen Frauen profitieren und teilweise sogar ihre eigene Emanzipation auf Kosten der anderen Frauen begründen, wie das etwa bei den Missionarinnen oder Kolonisatorinnen der Fall war (vgl. Walgenbach 2005). Die kolonisierten Frauen wurden so zum Spiegel der Vergangenheit der europäischen Frauen. Letztere schienen all das überwunden zu haben, was sie an den anderen bekämpften: Ungebildetheit, Rückschrittlichkeit und Aberglaube. Zugleich konstituierten sie eine pädagogische Beziehung zwischen sich als »Wissenden« und den Anderen als den noch zu Erlösenden. Das heißt, je mehr sie sich von den Anderen absetzten, desto mehr konnten sie sich Hoffnung darauf machen, gesellschaftliche Anerkennung zu gewinnen. Leila Ahmed spricht in diesem Zusammenhang von einem »kolonialen Feminismus« (Ahmed 1992) Diese Privilegierungen auf Kosten von kolonialer Ausbeutung und Rassismus werden in der westlichen Frauenbewegung oft »übersehen«, da sie glaubt sich für die Befreiung aller Frauen einsetzen zu können und zu wollen. Frauenrechte seien unteilbar. Dass die Voraussetzung dieser Unteilbarkeit unter anderem die Abschaffung anderer Privilegiensysteme wie der von Armut, Rassismus und kultureller Hegemonie erfordert, wird bei einer Einengung allein auf Frauenrechte unsichtbar gemacht. In der aktuellen Debatte in Deutschland finden wir ähnliche Phänomene, wenn es um die Emanzipation »der« Muslima geht.

Polarisierungen: »Die westliche emanzipierte Frau« versus »die unterdrückte Muslima« Eine große Mehrheit der Deutschen (80 Prozent) assoziieren mit dem Islam die Unterdrückung der Frau (Religionsmonitor 2008), obgleich inzwischen zahlreiche Studien nachgewiesen haben, dass es bezüglich der Einstellung zur Emanzipation der Frauen keine Unterschiede zwischen muslimischen und christlichen-säkularen Frauen gibt (vgl. z.B. Jessen & Wilamowitz-Moellendorff 2006; Karakasoglu-Aydin 1998; Nökel 1999a,b; Klinkhammer 1999). Dennoch wird muslimischen Frauen oft unumwunden empfohlen, nicht nur ihr Kopftuch abzulegen, sondern auch ihre Religion, wenn sie ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit führen wollen. In den 80er Jahren gab es in Deutschland eine nahezu identische Debatte über die Unmöglichkeit von Emanzipation in der Religion. Damals bezog sie sich jedoch auf das Judentum. Damals glaubte der säkulare Feminismus den Ursprung des Patriarchats vor allem in der jüdischen Religion ausmachen und

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ihm das Christentum als die eigentlich emanzipatorische Religion gegenüberstellen zu können. Franz Alt machte diese Idee mit seinem Buch »Jesus, der neue Mann« (1989) so populär, dass Micha Brumlik es als den ersten antisemitischen Bestseller in Deutschland seit 1945 bezeichnete (vgl. Brumlik 1991; ausführlicher Rommelspacher 2007). Heute ist davon kaum mehr etwas zu hören, der Diskurs hat sich auf den Islam verlagert. Die Bestimmung der anderen Frau als einer unterdrückten kann in sich ein repressives Moment enthalten, insbesondere wenn durch die ständige Beschwörung der Unterdrückung ein Bild in der Gesellschaft entsteht, das diese Vorstellung reifiziert. Eine Folge davon ist, dass junge muslimische Frauen deutlich schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, weil sie traditionell und familienorientiert seien und deshalb keinen beruflichen Ehrgeiz entwickeln würden. Demgegenüber gelten die deutschen Frauen als emanzipiert. Da sie mit Intelligenz und beruflicher Kompetenz identifiziert werden, werden sie den anderen Frauen vorgezogen (vgl. Attia & Marburger 2000 sowie zusammenfassend Castro Varela & Clayton 2003). Dazu kommt die Signalwirkung des Kopftuchverbots im Öffentlichen Dienst, die inzwischen auch in der privaten Wirtschaft zu erheblichen Benachteiligungen für Frauen mit Kopftuch geführt hat (vgl. Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales 2008). Die Diskussion um die Emanzipation der muslimischen Frau ist also durchaus auch kontraproduktiv. Demgegenüber haben diese Diskussionen für die Frauen der Mehrheitsgesellschaft insofern positive Effekte, als sie selbst sich in diesen Debatten als besonders emanzipiert darstellen können, gerade auch im Gegensatz zu der Muslima. Zum anderen aber profitieren sie auch konkret davon, weil die Diskriminierung der Anderen ihnen bessere Chancen in ihrem eigenen Emanzipationsprozess verschafft. So sind die Frauen der Mehrheitsgesellschaft in den letzten Jahrzehnten u.a. deshalb beruflich aufgestiegen, weil an ihrer Stelle eingewanderte Frauen oder auch männliche wie weibliche Flüchtlinge die untersten Positionen in der beruflichen Hierarchie eingenommen haben. Die Frauen der Mehrheitsgesellschaft verdanken also ihre Emanzipation zum Teil der Einwanderung und den Menschen mit prekärem rechtlichem Status. Sie wird auch dadurch gefördert, dass Migrantinnen häufig Arbeiten in der Haus- und Pflegearbeit übernehmen, die die Frauen der Mehrheitsgesellschaft früher an das Haus gebunden haben. Insofern lassen sich nun zumindest für die mittelständischen einheimischen Frauen Beruf und Familie leichter miteinander vereinbaren. In diesem Sinn unterstützt die ethnische Hierarchie die Emanzipation der Frauen der Mehrheitsgesellschaft. Von dieser »ethnischen Unterschichtung« profitieren in gleicher Weise auch die alteingesessenen deutschen Männer, denn der Aufstieg ihrer Frauen ist weniger das Resultat einer Umverteilung der Arbeit im Geschlechterverhältnis, sondern eben dieser neuen sozialen Hierarchien. Insofern sind auch sie

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an deren Aufrechterhaltung interessiert, nehmen sie doch viel Druck aus den Debatten um eine gerechte Arbeitsteilung im Geschlechterverhältnis. Das mag eine Erklärung dafür sein, dass sich so viele Männer in die Debatte um die Unterdrückung »der« muslimischen Frau eingeschaltet haben, und zwar Männer, die sich sonst noch nie für das Thema Frauenemanzipation interessiert oder gar dafür stark gemacht haben. Die Emanzipation der Frauen der Mehrheitsgesellschaft geht also zumindest teilweise auf ihre ethnische Privilegierung zurück und nicht nur auf eine Umverteilung der Arbeit im Geschlechterverhältnis (vgl. Rommelspacher 2007). Sie basiert auf einer Hierarchie von einheimischen und eingewanderten Frauen und befördert somit eine Illusion von Emanzipation. Dies könnte ein Grund sein, warum Frauen und Männer der Mehrheitsgesellschaft so sehr am Bild von der unterdrückten Muslima festhalten und irritiert sind, wenn es durchkreuzt wird.

Hybridität als Provokation Das islamische Kopftuch gilt in westlichen Diskursen vielfach als ein Symbol der Unterdrückung der Frauen. Zugleich weist es aber auch auf die Präsenz von Andersheit in der Öffentlichkeit hin und widerspricht damit der Forderung nach Assimilation. Bereits in der Kolonialzeit war die Funktion des Schleiers widersprüchlich: Er symbolisierte die Privatheit, in die der Kolonisator nicht eindringen konnte, und markierte so selbstbewusst eine Grenze die von den Kolonisatoren selten überschritten wurde.17 So sehr der Schleier die Unterdrückung der Frauen markieren mag, so sehr dient er zugleich den Frauen als Mittel, sich gegen männliche Berührungen und Übergriffe zu wehren und dagegen, von den Kolonialherren »entdeckt« zu werden (dis-covered). Dies weist auf die Polyvalenz des Schleiers, die Vielfältigkeit seiner Bedeutungen hin. So signalisieren heute muslimische Frauen mit einem Kopftuch in Europa, dass sie zu einer Minderheit gehören, und zugleich, dass sie das Selbstbewusstsein haben, ihre Vorstellungen bewusst in die dominanten Gesellschaft einzubringen (vgl. Viefhus-Bailey 2010). Damit stellen sie eine Autonomie und Individualität unter Beweis, die ihnen abgesprochen wird.18 Das heißt, diese 17 | So verstehen von Braun & Mathes (2007) in ihrer Analyse den Schleier als eine Blockade gegenüber männlichen Penetrationsfantasien, und sie stellen fest, dass »das einzige Kulturgebiet, das vom westlichen Sextourismus nicht erobert wurde, der islamische Raum ist […]. Ausgerechnet der Orient, auf den sich noch im 19. Jahrhundert alle erotischen Fantasien des Westens richteten, ist für den Prostitutionstourismus heute ein schwarzer Fleck« (423). 18 | Diese Widersprüchlichkeit des Schleiers als Symbol von Unterwerfung und von Widerstand ergibt sich aus seiner Mehrdeutigkeit, denn er kann ein patriarchales, ein politisches, ein kulturelles und ein religiöses o.a. Symbol sein.

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Frauen verkörpern eine Einheit disparater Elemente: die Einordnung in eine vorgegebene Rolle wie auch den Widerstand dagegen. Ein Beispiel dieser widersprüchlichen Einheit schildert Reyhan Şahin in ihrer Dissertation, die der Frage nachging, welche Bedeutung das Kopftuch für muslimische Kopftuchträgerinnen hat (Şahin 2014). Diese Frage untersuchte sie unter kleidungssemiotischen Gesichtspunkten, das heißt, sie setzte das Kopftuch in Beziehung zu dem gesamten Kleidungsstil der Frauen. Ein Typus der von ihr gefundenen Kleidungsstile ist dabei besonders interessant. Sie nennt ihn das »vestimentäre Mixing«. Dabei wird das muslimische Kopftuch mit farbiger, sehr modischer westlicher Kleidung kombiniert. Meist pflegen diese Frauen einen ästhetisch sehr anspruchsvollen, sorgfältig ausgewählten Kleidungstil. Eine dieser Frauen etwa hat ihr Kopftuch im Nacken gebunden und darüber eine Baseballkappe aufgesetzt. Dazu trägt sie eine graue »baggy« Jogginghose, wie sie von Anhängern der Hip-Hop-Kultur ganz bewusst in Übergrößen getragen wird. Dazu kombiniert sie ein enges T-Shirt mit bunten Motiven (vgl. ebd.: 233). Eine andere Frau beschreibt ihren Kleidungsstil folgendermaßen: »Also wenn man meine Kleidung im Kleiderschrank sehen würde, würde man sagen, das passt nicht. Ich habe Outfits, die sind […] du würdest sagen richtig bitchlike, und dann habe ich Outfits, die sind Hardcore Moslem und dann, was ich heute anhabe, so spießig […] und dann habe ich auch Outfits, die gehen so mehr in die Gangster Richtung […] also ist alles Mögliche drin […] dann habe ich auch noch so traditionelle Sachen […]« (ebd.: 225).

Das Interessante ist nun, dass diese Frauen mit ihrem Mixing sowohl bei konventionellen Muslimen als auch bei Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft auf Ablehnung stoßen. Beide scheint zu irritieren, dass sie weder in die eine noch in die andere Kategorie einzuordnen sind. Das provoziert. Denn diese Frauen spielen mit den Grenzen. Sie verweisen auf Differenzen und heben sie zugleich wieder auf. Damit wehren sie sich gegen ein Entweder-oder. Sie weisen darauf hin, dass man auch mehrere Identitätsbezüge gleichzeitig haben kann und dass kulturelle Verortungen ständig im Fluss sind. Entscheidend ist dabei, dass die Frauen ihre Identität selbst markieren. Sie übernehmen die Deutungsmacht und wehren sich damit gegen Zuschreibungen von anderen. Die Provokation liegt also darin, dass diese Frauen Eindeutigkeiten auf brechen und die Deutungsmacht für sich zurückgewinnen. Sie besetzen damit einen Ort zwischen den Identitäten, die als gegenseitig sich ausschließend erscheinen. Sie zeigen sich als Muslima und Deutsche, als Muslima und moderne Frau beziehungsweise Feministin, als selbstbewusst, mutig, unkonventionell, als gebildete Muslima.

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Die muslimische Religion kann in dem Zusammenhang als ein Identitätssymbol verstanden werden, das die nationalen Grenzen überschreitet. Denn sie ermöglicht es den Musliminnen, zwischen einer übernationalen Gemeinschaft, der Umma, und der Zugehörigkeit zu einem Land zu oszillieren. Genau aus diesem Grund eignet sie sich auch für ihren Protest gegen den Ausschluss aus der Nation als »Aus«länderinnnen wie auch gegen westliche religiös-kulturelle Hegemonieansprüche. Insofern kann man hier von einem postmodernen Phänomen sprechen, als regionale, ethnische oder religiöse Identitäten wichtiger geworden sind als Staatsbürgerschaft und vorgegebene Nationalitäten (vgl. Roy 2006: 107). Dabei bilden sich transnationale, mobile Identitäten aus, die nicht auf eine spezifische Kultur oder Sprache angewiesen sind.19 Die hybride Position bedeutet in Bezug auf den westlichen Emanzipationsbegriff eine Herausforderung, da sie eine Alternative zu ihren Konzepten behauptet. Religion und Tradition werden mit dem Anspruch auf Emanzipation auf neue Weise verbunden. Damit stellt sie den universalen Anspruch, die Deutungshoheit des westlichen Feminismus in Frage. Gleichzeitig weist sie auf immanente Widersprüche hin. Denn das Kopftuch zum Beispiel irritiert auch deshalb, weil es die »Würde der Frau« unterstreichen soll, und zeigt damit Alternativen zu dem europäischen Modell der sexuellen »Befreiung« auf. Diese hat bekanntlich nicht nur, wie ursprünglich geglaubt, zu einer größeren Selbstbestimmung der Frau, sondern auch zu neuen Formen der sexuellen Ausbeutung und einer Sexualisierung der Öffentlichkeit geführt. Insofern ist dieses Thema auch in den westlichen Gesellschaften weit davon entfernt, gelöst zu sein.20 Eine einfache Entgegensetzung der »emanzipierten« westlichen Frau und der »unterdrückten« Muslima macht die Ambivalenzen im westlichen wie im muslimischen Modell von Emanzipation sowie die Hierarchie dieser Konzepte unsichtbar.

19 | Eine solche Orientierung hin auf transnationale Bezüge mag gerade in Deutschland provozieren, das von seinen MitbürgerInnen gerne eindeutige Loyalität und Zuordnung verlangt (vgl. die Diskussion um die doppelte beziehungsweise mehrfache Staatsbürgerschaft, die in den meisten anderen westlichen Ländern problemlos gewährt wird, wo der deutsche Widerstand auf weitgehendes Unverständnis stößt). 20 | Die Tatsache, dass das Geschäft mit sexuellen Dienstleistungen in dieser Gesellschaft die bei weitem größte Branche der Unterhaltungsindustrie darstellt, weist darauf hin, dass es sich hier um ein tabuisiertes und zugleich öffentliches, moralisch höchst widersprüchlich besetztes Thema handelt, wofür das westliche Modell wohl noch keine überzeugenden Lösungen gefunden hat.

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Resümee Wir finden also interessante Parallelen zwischen den Emanzipationsprozessen im europäischen und im kolonialen Kontext. In beiden Fällen wird zunächst eine Ein- und Unterordnung in das westlich-christliche patriarchale Konzept von Geschlechterverhältnissen mit der dafür typischen Polarisierung der Geschlechtscharaktere und seiner spezifischen Spaltung in einen öffentlichen und privaten Sektor gefordert. Erst die grundsätzliche Anerkennung dieses Systems ermöglicht dann eine Emanzipation in ihm und von ihm mit den daraus folgenden Widersprüchen  – vor allem dem, dass Frauen, wollen sie im öffentlichen Bereich reüssieren, zunächst ihre Aufgaben im Privaten erfüllt haben müssen. Die Anerkennung des westlich patriarchalen Systems bedeutet aber für die europäischen Frauen etwas anderes als für die kolonisierten. Letztere müssen sich damit einer Kolonialherrschaft unterwerfen, von der wiederum die westlichen Frauen auch als Frauen profitieren können. Dieser Widerspruch zwischen den Frauen scheint heute auf, wenn die Frauen der Mehrheitsgesellschaft sich emanzipieren, also auch im öffentlichen Bereich agieren können, weil sie in ihrer privaten Rolle durch Frauen entlastet werden, die aufgrund von Einwanderung, geringem sozialem Status und/oder rechtlicher Unterprivilegierung gezwungen sind, die am wenigsten angesehenen Arbeiten zu übernehmen. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass in diesem Fall neue soziale Hierarchien etabliert und aufrechterhalten werden im Namen der Befreiung – der wichtigsten Legitimationsgrundlage in dem, was Asad als westlichen Säkularismus bezeichnet. Denn offensichtlich hat der Ruf zur Befreiung der muslimischen Frauen für diese wie für die alteingesessenen Frauen gegensätzliche Folgen. Im Säkularismuskonzept ist auch das für den Westen typische Changieren zwischen Säkularität und Christlichkeit enthalten. Säkularität wird dabei als konstitutiv für die westliche Moderne behauptet, die Tradition und Religion überwunden hat und sich deshalb auch kompetent und berechtigt fühlt, alle Religionen in gleicher Weise kritisch beurteilen zu können. Die Empirie – mit dem Ergebnis einer extremen Polarisierung zwischen (gutem) Christentum und (fanatischem) Islam, die in abgeschwächter Weise auch für die Entgegensetzung von Christentum und Judentum gilt – straft diese Vorstellung einer Äquidistanz Lügen. Es kann keine Rede davon sein, dass die modernen aufgeklärten EuropäerInnen das Thema Religion soweit überwunden hätten, dass sie nun in kritischer Distanz sich allen gegenüber ein neutrales Urteil erlauben könnten. Sie sind bei aller Religionsdistanz bewusst oder unbewusst in der Regel parteilich für das Christentum. Dieser kulturelle Bias, diese positive Voreingenommenheit ist ein erwartbares Resultat einer jahrhundertealten christlichen Geschichte. Sie ist aber auch Resultat einer starken Position der christlichen Kirchen in der heutigen Gesellschaft. Diese scheinen im Zweifel immer

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noch vertrauenswürdiger zu sein als die Vertreter aller anderen Religionsgemeinschaften. Auf dieser Basis ist eine mutlireligiöse und multikulturelle Gesellschaft schwer zu errichten – zumindest solange nicht eine Deprivilegierung des Christentums in Deutschland zum Thema gemacht wird. Auf diesem Hintergrund erscheint der »religious turn« in der Einwanderungsdebatte auf besondere Weise Plausibilität zu gewinnen: Je mehr die EinwanderInnen zu Muslimen gemacht werden, je mehr sie nicht mehr als Menschen unterschiedlicher kultureller und nationaler Herkunft, unterschiedlicher ökonomischer Interessen, verschiedenster politischer Positionierungen etc. betrachtet, sondern primär als religiöse Subjekte begriffen werden, desto mehr kann die in der Religion angelegte Polarisierung greifen, ohne dass explizit eine Ungleichbehandlung gefordert wird. Denn im Namen der Säkularität kann die Religiosität der Anderen bedenkenlos abgelehnt werden. Davon wird in den öffentlichen Diskursen in Deutschland weithin Gebrauch gemacht.

G esellschaf tliche P ositionen zum I sl am Spätestens seit der Jahrtausendwende entwickelte sich in Deutschland eine breite antimuslimische Diskursfront, die zuweilen die öffentliche Diskussion stark bestimmte.21 Vorläufig letzter Höhepunkt war 2010 die Publikation Thilo Sarrazins »Deutschland schafft sich ab« (mit dem Untertitel: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen), in der das Untergangsszenario eines von allen Seiten durch die muslimische Einwanderung bedrohten Deutschlands beschworen wird und der frenetischer Beifall gezollt wurde (vgl. zusammenfassend Bade 2013). Der Islam wird hier dämonisiert, indem die Vorstellung einer Übermacht genährt wird, die »uns« demnächst zu verschlingen drohe. Dieser Untergangsangst sind wir bereits im Zusammenhang mit dem Kolonialismus begegnet, in dem die Bedrohlichkeit durch die überall lauernde Gefahr, von den »Wilden« überwältigt zu werden, ins Phantastische übersteigert wurde (terror of engulfment).22 Hier scheint es nicht mehr angemessen, von Islamkritik zu sprechen, sondern hier geht es um antimuslimischen Rassismus, da essentiell verschiedene 21 | Zahlreiche Autoren wie Henryk M. Broder, Ralph Giordano, Udo Ulfkotte oder auch Autorinnen wie Necla Kelek, Seran Ates oder Alice Schwarzer zeichneten ein Bild vom Islam, in dem sie ihn mit Rückständigkeit, Gewalt und Frauenunterdrückung identifizierten. 22 | Dementsprechend finden wir auch heutzutage eine Titelstory des »Spiegel« »Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung« (26.3.07), in der anscheinend ernsthaft gefragt wurde: »Haben wir schon die Scharia hier?«

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Kollektive konstruiert werden, die als polar entgegengesetzt gewertet werden. Diese Polarisierungen bestätigen und fördern zugleich entsprechende gesellschaftliche Diskriminierungen. Dabei werden die im biologischen Rassismus angenommen Unterschiede zwischen den Menschen aufgrund ihrer Natur durch das funktionale Äquivalent der Kultur beziehungsweise Religion ersetzt. Kultur gilt hier als etwas unverbrüchlich Feststehendes und die Menschen Prägendes, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Kultur wird als alleinige oder hauptsächliche Erklärung für gesellschaftliche Phänomene bemüht.23

Antimuslimischer Rassismus Einstellungen in der Bevölkerung In Deutschland sind im Vergleich zu anderen europäischen Ländern negative Einstellungen gegenüber den Muslimen sehr stark ausgeprägt. Etwa 60 Prozent der Deutschen lehnen den Islam ab. Dieser Prozentsatz ist doppelt so hoch wie in Frankreich, Portugal oder beim Nachbarn Dänemark. Den Bau von Moscheen befürworten hier 20 Prozent, während es in Dänemark 50 Prozent sind. Deutschland steht, zumindest was die hier verglichenen Länder anbetrifft, in puncto Islamfeindlichkeit an erster Stelle in Europa. So haben zum Beispiel in Deutschland nur ca. 30 Prozent ein positives Bild von den Muslimen, während in den Niederlanden, wo immerhin eine islamfeindliche Partei seit Jahren offen und erfolgreich agiert, 62 Prozent der Befragten eine positive Haltung gegenüber Muslimen haben (vgl. Pollack 2010). Diese Polarisierungen sind teilweise schon so sehr zu einer bundesrepublikanischen Normalität geworden, dass sie die Berichterstattung weitgehend prägen. So zeigt etwa Kai Hafez in seiner Analyse von verschiedenen Publikationen, dass »[d]ie Medien sich in hohem Masse auf die radikalen Facetten des Islams konzentrieren, einer Religion, die im Wesentlichen die Funktion zu haben scheint, als radikaler ideologischer Gegenentwurf zur westlichen

23 | Vgl. Rassismusbegriff in Kap. 6. Wollte man entgegen diesen Polemisierungen tatsächlich herausarbeiten, was das Besondere am Islam ist, dann müsste man, wie Oliver Roy (2006) zeigt, nationale, regionale und ethnische Unterschiede ausschalten, indem man etwa muslimische Lebensweisen in der Türkei mit solchen in arabischen, afrikanischen und asiatischen Ländern vergleicht. Wenn man jedoch die Lebensweise der »klassischen« ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei als prototypisch für den Islam ansieht, dann wird es schwer sein zu unterscheiden, was hier einer ländlich und was einer spezifisch türkischen Kultur geschuldet ist, oder auch, welchen Einfluss die Migration und die Situation als ethnische Minderheit im Aufnahmeland auf die Einstellungen der MigrantInnen haben.

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­ esellschaft zu dienen« (Hafez 2013: 222).24 Wenn wir also einen Blick auf den G derzeitigen Stand der gesellschaftlichen Diskurse und der Spezialdikurse in der Politik, den Medien, in Wissenschaft und Bildung zum Islam in Deutschland werfen, so wie dies etwa Hafez tut, muss man sich seinem Resümee anschließen: »Wir finden ein hohes Mass an monologischer Reproduktion von stereotypen Annahmen über eine Minderheitengruppe, zu der ein grosser Teil der Menschen weder Beziehungen pflegt noch pflegen möchte« (ebd.: 316). Das entspricht den oben dargestellten empirischen Untersuchungen, nach denen »der« Islam von einem ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung als fanatsich und gewalttätig wahrgenommen wird und nach Auffassung vieler nicht nach Deutschland gehört (vgl. Allensbach 2006). Dieser offene antimuslimische Rassismus ist auch deshalb möglich, weil er im Unterschied zum Antisemitismus in der Gesellschaft nicht tabuisiert ist. Es gibt hier keine historisch vermittelte Schranke, die der Herabwürdigung der Muslime Einhalt gebieten würde. Vielmehr läuft diese häufig unter Meinungsfreiheit und gilt als Ausdruck von Modernität und Liberalität. In diesem Zusammenhang spricht Hafez von einer allgemeinen »Toleranz gegenüber dem Rassismus«. Deutschland stellt keine tabuisierenden Normen bereit, um diesen Rassismus zu unterbinden (vgl. Hafez 2013: 107, 261). In diesen abwertenden Einstellungsmustern der Bevölkerung spiegelt sich auch die soziale Hierarchie wieder. Die empirischen Untersuchungen zeigen Benachteiligungen von EinwanderInnen in allen Lebensbereichen. Die Untersuchungen zeigen ebenso, dass von allen MigrantInnen diejenigen türkischer Herkunft und all jene, die als muslimisch markiert werden, in der Regel am stärksten unter Diskriminierung zu leiden haben. Dementsprechend fühlt sich auch eine Mehrheit der Menschen türkischer Herkunft unterprivilegiert (vgl. Thränhardt 2006: 286).25

24 | Dabei misst diese Berichterstattung mit zweierlei Maß: So wird auf der einen Seite von islamistischem Terrorismus gesprochen, nicht aber etwa von katholischem Terrorismus in Zusammenhang mit anderen Konflikten wie etwa in Irland oder von jüdischem Terrorismus im Zusammenhang mit gewalttätigen Übergriffen von Seiten israelischer Streitkräfte oder jüdischer Zivilisten. Auffallend ist auch die Asymmetrie in den Argumentationsfiguren: So wird die Tatsache der Diskriminierung von Frauen im vermuteten muslimischen Kontext auf die Religion, wahlweise auf bestimmte Suren des Koran zurückgeführt. Es werden aber keine Bezüge zur Bibel hergestellt, wenn man dies im Kontext der christlichen Gesellschaft tut. 25 | Demnach erleben 57 Prozent Diskriminierungen am Arbeitsplatz, 49 Prozent bei der Wohnungssuche und 48 Prozent bei der Arbeitssuche (vgl. ebd.).

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Strukturelle Diskriminierungen Eine umfassende Untersuchung von Helena Flam und ihren MitarbeiterInnen (Flam 2007) zeigt die Wirksamkeit einer Diskriminierungskette in Deutschland gegenüber MigrantInnen: von der Schule über die Ausbildung bis hin zum Arbeitsplatz. In den deutschen Schulen ist, so fassen die ForscherInnen ihre Befunde zusammen, ein monokultureller Habitus verbreitet, der Kindern mit Migrationshintergrund kein adäquates Anregungsmilieu bietet. Migrantenkinder sind für deutsche LehrerInnen in erster Linie ein Problem, eine Belastung oder gar eine Bedrohung, und sie werden schneller als ihre deutschen KlassenkameradInnen in Sonderschulen abgeschoben. Bei der Suche nach einem Arbeitsplatz setzt sich die Diskriminierung fort. Wenn sich beispielsweise »Türken« und »Deutsche« mit identischen Unterlagen und Profilen um Arbeitsstellen bewerben, haben die Deutschen fast überall bessere Chancen (vgl. ebd.: 171f.). Zudem werden EinwanderInnen aufgrund des Inländerprimats, also des gesetzlich verankerten Vorrangs deutscher BewerberInnen und solcher aus der EU, bei der Arbeitsvermittlung von vorneherein zurückgesetzt. Dies gilt zwar für EinwanderInnen generell, aber wie diese Untersuchung zeigt, müssen in der Regel türkische EinwanderInnen in allen Bereichen mit den stärksten Zurücksetzungen rechnen. Auch können die MigrantInnen am Arbeitsplatz in der Regel ihr Humankapital nicht ausschöpfen, wie es in der Managementsprache heißt: Sie werden in signifikant niedrigere erste Arbeitsverhältnisse vermittelt, und der Unterschied zwischen »Deutschen« und »Ausländern« vergrößert sich im Verlauf der weiteren Jahre (vgl. ebd.: 129). In den oberen Gehaltsstufen, so zeigt eine Untersuchung in der Metallindustrie, sind türkische Männer überhaupt nicht vertreten, obwohl sie im Durchschnitt höhere Abschlüsse als ihre deutschen Kollegen haben. Es gibt, so die zusammenfassende Folgerung aus unterschiedlichen Untersuchungen, eine betriebliche Hierarchie, eine »Diskriminierungsleiter«, bei der die oberen Stufen die Deutschen einnehmen, darunter stehen die Migranten, die zur Stammbelegschaft gehören, und ganz unten findet man neue Zuwanderer und Flüchtlinge – wobei unter den Migranten wiederum die Türken sich den schlimmsten Diskriminierungen ausgesetzt sehen (vgl. ebd.: 176). Die Betriebschefs begründen diese Hierarchie gegenüber den Forschern damit, dass MigrantInnen Probleme mit dem Arbeitsdruck hätten, dass es häufig Konflikte mit den KollegInnen gebe, oder aber damit, dass ihr Deutsch für höhere Einstufungen nicht gut genug sei. In Bezug auf Leitungspositionen wird zudem das Argument vorgebracht, dass die deutschen KollegInnen nicht »unter« einem Migranten arbeiten würden. Ein Kopftuch gilt in dem Zusammenhang als eine absolute Karrierebremse. So meinte etwa ein Mitarbeiter der Agentur für Arbeit:

11. »Der« Islam in der christlich-säkularen Gesellschaf t »Nehmen wir mal an, eine türkische Frau, die nur Teilzeit vormittags arbeiten kann, nicht gescheit Deutsch kann und dann noch ein Kopftuch auf hat. Aussichtsloses Unterfangen, die zu vermitteln. Das kann man vergessen, die kauft mir keiner ab, in der jetzigen Wirtschaftslage sowieso nicht« (ebd.).

Ein Manager in einem privaten Betrieb meint dagegen: »Wir haben auch Mitarbeiterinnen im Lohnbereich, die Kopftuch tragen, das ist überhaupt kein Thema, aber ich denke jetzt, wenn es drum geht Karriere zu machen, glaube ich nicht, dass das, glaube ich einfach nicht, dass das ein gutes Kriterium wäre […]« (ebd.: 184f.).

Dabei wird Frauen mit Migrationshintergrund vielfach generell unterstellt, dass sie aufgrund ihres Traditionalismus stark an ihre Familie gebunden und in ihren beruflichen Entscheidungen von ihren Vätern und Ehemännern abhängig seien. Sie gelten deshalb als wenig flexibel und mit geringem beruflichem Ehrgeiz ausgestattet (vgl. Attia & Marburger 2000; zusammenfassend Castro Varela & Clayton 2003). Das Rollenstereotyp der traditionellen, unterdrückten Migrantin dient demnach unmittelbar der Zurücksetzung der Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt. Symptomatisch dafür ist wiederum das Kopftuch, denn es schien niemanden zu stören, solange es die Putzfrau trug. Erst als auch angehende Lehrerinnen und Ärztinnen anfingen ein Kopftuch zu tragen, erregte es öffentlichen Anstoß. So haben sich die Erwerbschancen für Muslima in der letzten Zeit dramatisch verschlechtert, da das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst vielfach auch von der Privatwirtschaft übernommen wird. Im »Tendenzbetrieb« Kirche und in den christlichen Wohlfahrtsverbänden, dem größten Arbeitgeber im psychosozialen Bereich in der BRD, galt ohnehin schon lange der Ausschluss Andersgläubiger bei qualifizierten Anstellungsverhältnissen. Die Diskriminierung bezieht sich jedoch nicht nur auf die individuellen Gläubigen, sondern auch auf die islamische Religionsgemeinschaft insgesamt. Zwar ist das Grundgesetz der Gleichheit verpflichtet, auch gegenüber unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, dennoch wird hier angesichts des Staatskirchenrechts mit seiner besonderen Privilegierung der christlichen Großkirchen der Gleichbehandlung ein Riegel vorgeschoben. Nun mag man argumentieren, dass der Islam eine in Deutschland relativ neue Erscheinung ist und solche komplexen Rechtskonzepte wie das Staatskirchenrecht nicht von heute auf morgen auf neue Anforderungen umgestellt werden können. Die Frage ist jedoch, ob die Politik das überhaupt will. Man kann Zweifel daran bekommen, nicht nur wenn man sieht, wie lange solche Prozesse in ­Deutschland

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zu dauern scheinen, aber auch angesichts von Überlegungen des Verfassungsrechtlers und ehemaligen Bundesverfassungsrichters Paul Kirchhof, dass man die Religionen auch je nach ihrem Beitrag zum Gemeinschaftswohl unterschiedlich behandeln könne. Der Staat müsse also nicht alle Religion gleich behandeln, sondern je nach ihrer Bedeutung, die sie für die Gesellschaft beziehungsweise das Gemeinwohl haben (zit. in Walter 2012: 236).

Motive antimuslimischer Ressentiments: Privilegien und Identität Hier wird unverblümt ein kultureller Machtanspruch durchzusetzen versucht, der sich, wie gezeigt, in eine unmittelbare ökonomische und soziale Diskriminierung muslimischer EinwanderInnen umsetzt. Das Motiv islamfeindlicher Einstellungen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft erklärt sich demnach als Absicherung der eigenen Privilegierung. Die Frage ist, ob damit alles zu erklären ist. Ob das Gefühl der »Überfremdung«, wie es eindrucksvoll von dem Religionsmonotor 2015 für über die Hälfte der Bevölkerung erneut konstatiert wird, sich allein aus diesem Absicherungsbedürfnis erklärt, oder ob diese Haltung der kulturellen Abwehr nicht auch Fragen der Identitätsgefährdung anspricht. Kollektive Zugehörigkeit bezieht sich auf die Vorstellung sich zu Hause und sicher zu fühlen. Es bezieht sich auf die Vorstellung, enge und vielfältige emotionale Bindungen zu haben und viele Dinge als selbstverständlich zu verstehen, über die nicht weiter kommuniziert werden muss (vgl. Yuval-Davis 2011). Dabei hat Zugehörigkeit unterschiedliche Facetten. Askriptive Momente wie Herkunft, Ethnizität, Geburtsort… sind am stärksten einer Rassifizierung ausgesetzt und am wenigsten durchlässig. Sprache, Kultur und Religion können eher noch gewählt werden und sind so stärker offen für Identitätsbildung. Ein Wertesystem wie Demokratie oder Menschenrechte als Kennzeichen für Zugehörigkeit hat die vergleichsweise durchlässigsten Grenzen (vgl. ebd.: 21). So beschreibt Yuval-Davis unterschiedliche Strategien des Zugehörigkeitsmanagements in Bezug auf die EinwanderInnen in den letzten Jahrzehnten in England: die soziale Verortung nach Herkunft, die emotionale Identifikation (Kricket-Test in England) und die normativen Werte (Menschenrechte, Demokratie) (vgl. ebd.: 25). Die Herstellung kollektiver Identität vollzieht sich in einem ständigen Prozess gegenseitiger Anerkennung und Kritik beziehungsweise Degradierung und in Wechselwirkung mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten (verwandtschaftliche, soziale, nationale, regionale, kulturelle …) und persönlich-individuellen Positionierungen. So ist die Nation nie homogen. Sie enthält Geschlechter- und Sexualitätsordnungen, soziale Klassen, ethnische, rassifizierte und religiöse Minderheiten etc. Die Zugehörigkeitsdiskurse versuchen die Inklusivität und die Exklusivität herzustellen und zu bekräftigen. Ausgedrückt etwa in einem multikulturellen Nationalismus (vgl. ebd.: 98).

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Die Re-Christianisierung der Mehrheitsgesellschaft kann in diesem Sinn auch als eine defensive Identitätsbewegung (vgl. Castells 1997) verstanden werden, in der versucht wird, die Ängste vor Selbstverlust, die Irritationen des traditionellen Selbstverständnisses und der Zugehörigkeitsempfindungen abzuwehren. Dies versucht man, indem die eigenen Vorrechte bekräftigt und »naturalisiert« werden, anstatt an der Umarbeitung der Vorstellungen vom eigenen Kollektiv zu arbeiten und die Veränderungen in die Wir-Vorstellungen zu integrieren, das heißt, die ehemaligen Minderheiten an der Konstruktion der Selbstbilder teilhaben zu lassen. Es ginge dabei um ein Teilen symbolischer Macht. Dies steht wieder im Zusammenhang mit sozialen, ökonomischen und politischen Machtpositionen. Je mehr die Teilhabe aller hier gewährleistet wird, desto mehr wird dies auch auf der symbolischen Ebene gelingen und umgekehrt. Allerdings bedürfen diese Umarbeitungsprozesse einer hohen Ambiguitätstoleranz, der Fähigkeit und Bereitschaft Unentschiedenheiten, Brüche und Hybriditäten zu akzeptieren. Dies wiederum gelingt umso eher, je mehr die Widersprüchlichkeit im herkömmlichen Wir und im eigenen Selbst anerkannt und auf Selbst-Mystifizierungen verzichtet werden kann.26 Daran schließt sich die Frage an, welche Rolle die christlichen Kirchen bei diesen politischen Entscheidungen spielen. Interessant in dem Zusammenhang ist, dass bei Untersuchungen zur Einstellung zur jeweils anderen Religion die Muslime offener gegenüber dem Christentum sind als die Christen gegenüber dem Islam (vgl. BMI 2007 sowie weiterführend und zusammenfassend bei Hafez 2013). Das könnte zum einen mit den Mehrheitsverhältnissen in Deutschland zu tun haben, das heißt, dass Muslime als Minderheit eher das Christentum tolerieren, da es zu den auch sie bestimmenden Lebensverhältnissen in Deutschland gehört. Aber die größere Toleranz der Muslime könnte auch mit einem historisch-theologischen Vermächtnis zu tun haben, in dem der Islam das Christentum als Quelle der Inspiration betrachtet, während das Christentum den Islam über die Jahrhunderte als eine Häresie begriffen hat (vgl. Hafez 2013: 192).

P ositionen der christlichen K irchen In den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, also während der sogenannten Gastarbeiterära in der BRD, war die Position der Kirchen gegenüber den EinwanderInnen vor allem eine der Fürsorge und Anwaltschaft ­gegenüber 26 | Zugleich sind diese sozialpsychologischen Prozesse immer in konkrete Machtstrukturen eingebunden. Das heißt etwa, dass je mehr die Anderen für die Mehrheitsgesellschaft wahrnehmbar einen positiven Beitrag leisten und somit auch gemeinsame Interessen verfolgt werden, desto eher werden die pluralen Realitäten anerkannt.

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dieser »schwachen Randgruppe«. Der Islam in der Bundesrepublik sei in allererster Linie ein gesellschaftliches, ein »menschliches« Problem, da die überwältigende Mehrheit der »unter uns lebenden Moslems am schärfsten die gesellschaftspolitische Problematik der ausländischen Arbeitnehmer« verkörperten, heißt es etwa in einer Publikation des Referenten der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 1974 (zit. in Rösch 2011: 131). Dementsprechend boten die Kirchen Unterstützung mithilfe von Beratungsstellen, Sprachkursen und Unterkünften. Wo jedoch früher die karitative Zuwendung im Vordergrund stand, sind heute Fragen des religiösen Geltungsanspruchs wichtiger geworden. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Islam zunehmend als eine Konkurrenz auf dem höchst prekären Markt der religiösen Bekenntnisse begriffen wird. Diese Konkurrenz wird durch die Tatsache verschärft, dass der Islam anscheinend deutlich erfolgreicher agiert: Die Moscheen sind meist voll, während die Kirchen vielfach leer sind. Andererseits kann der Islam für die christlichen Kirchen aber auch ein Verbündeter sein in einer Welt, die sich weitgehend von der Religion abgewandt hat. In diesem Sinn stehen die Kirchen in Deutschland, wie Rösch (vgl. ebd.) diagnostiziert, einer doppelten Herausforderung gegenüber: Auf der einen Seite sind sie von einer konstanten und zunehmenden Entkirchlichung bedroht und auf der anderen Seite von religiöser Konkurrenz. Dementsprechend haben sie inzwischen eine relativ starke Abwehrhaltung gegenüber »dem« Islam entwickelt. Die Diskussion verschärfte sich besonders nach den Terroranschlägen in New York, Madrid und London zu Beginn des Jahrhunderts. In dieser Zeit wurden die MigrantInnen zunehmend in »Muslime« umcodiert und das Bild von »dem« Islam als einer homogenen Glaubensgemeinschaft konstruiert (religious turn). In der evangelischen Kirche wird im Herbst 2003 Wolfgang Huber zum Ratsvorsitzenden der EKD gewählt, und er macht die Beziehung zum Islam zu einem seiner Kernthemen. Dabei gerät der »interreligiöse Dialog« bei ihm zu einer »blockartigen Gegenüberstellung von Christentum und Islam«. Seine Veröffentlichungen sind eher Warnungen vor einem Gespräch, als dass sie sich auf den Anderen einlassen würden. So forderte er ein »Ende der multireligiösen Schummelei«, denn der Dialog mit dem Muslimen müsse von nun an ein »kritischer Dialog [sein], ein Dialog um die Wahrheit, in dem ›bestimmte Formen der Naivität‹ […] nicht einfach fortgesetzt werden« könnten (Huber 2000: 2). Ebenso ist auch der lange Zeit für den Dialog mit dem Islam verantwortliche Vertreter der katholischen Kirche, der Islamwissenschaftler Christian Troll27, der Auffassung, dass die Flitterwochen des Dialoges nun vorbei seien.28 Diese deutliche Verschärfung im Ton hat u.a. auch damit zu tun, dass, 27 | Bis 2005 Mitglied des päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog. 28 | Radio Vatikan 21.09.06.

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wie bereits erwähnt, die MuslimInnen in Deutschland in diesen Jahren öffentlich immer präsenter wurden und ihre Religiosität immer selbstbewusster vertraten. Die Verschärfung in der Auseinandersetzung zeigt sich in der Empfehlung der EKD, dass an die Stelle der bisherigen gemeinsamen »interreligiösen Gebete« »multireligiöse« gesetzt werden sollten, was bedeutet, dass Christen und Muslime nur nacheinander oder nebeneinander, aber nicht mehr miteinander beten dürften (vgl. Handreichung der EKD 2006: 117). Die Begründung dafür ist, dass die Christen »ihr Herz doch schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und wie ihn Muslime verehren« (ebd). Die Muslime seien zwar Gottes geliebte Geschöpfe, aber als Nichtchristen müssten sie erst »zu wahrer Menschlichkeit befreit werden« (ebd.: 19). Ein anderes Beispiel ist, dass die EKD es verbietet, dass ihre Kirchen, wenn sie verkauft werden müssen, an muslimische Gemeinden weitergegeben werden können.29 Sie können zwar säkularen Zwecken zugeführt, nicht aber in eine Moschee umgewidmet werden, denn dann würde, so das Argument, der Eindruck entstehen, »die Christen würden vor dem Islam zurückweichen, oder Islam und Christentum seien letztlich austauschbare Religionen« (ebd.: 69).

Christliche Islamdiskurse In ihren Auseinandersetzungen mit dem Islam verfolgen die beiden christlichen Kirchen etwas unterschiedliche Argumentationslinien: Während die katholische Kirche vor allem auf ihre Wurzeln in der hellenistischen Philosophie verweist und damit auf ihre tragende Rolle in einer vernunftbasierten abendländischen Kultur, streicht die evangelische Kirche ihre zentrale Rolle bei der Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten heraus, was sie zum Garanten der Werteordnung eines demokratischen Rechtsstaates mache. »Dem« Islam hingegen fehlten diese Grundlagen, um sich in eine moderne demokratische Gesellschaft einzuordnen. Die ganze Denkschrift der EKD »Klarheit und gute Nachbarschaft« (2006) durchzieht der Verdacht, dass die Muslime demokratiefeindlich seien. Die Muslime seien Neuankömmlinge in der Demokratie, unerfahren und unvorbereitet, denn die muslimische Identität sei in einer kulturellen Welt verwurzelt, welche die Wandlungen einer Religion unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen Zeitalters und eines säkularen Staatswesens im 29 | Vielfach werden daraus Wohnungen, Seniorenheime, Sportstätten. Auch wenn Supermärkte, Diskotheken oder Autohäuser bisher nur in niederländische und belgische Kirchen eingezogen sind, so gibt es auch hierzulande umstrittene Umwidmungen. Im brandenburgischen Milow etwa beherbergt die einstige Dorfkirche heute eine Sparkasse.

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Ganzen nicht so mit vollzogen habe wie das Abendland. Es scheint, als hätte das Christentum die säkulare Demokratie selbst aus sich hervorgebracht, während der Islam ihr völlig fremd gegenüberstehe (vgl. dazu auch Mittmann 2010: 76). Die EKD konzediert zwar großzügig: »Der freiheitliche Staat verlangt von den Muslimen und ihren Organisationen nicht, dass sie sich wie die Kirche um eine überzeugende theologische Begründung der Vereinbarkeit von Religion mit den Grundwerten der freiheitlichen Demokratie bemühen und diese öffentlich erklären. Ihm genügt die gelebte Rechtstreue der Religionsgemeinschaften in seinem Gebiet« (EKD 2006: 24).

Zugleich meint sie jedoch auch betonen zu müssen: »Wer verfassungsfeindlich oder gesetzeswidrig handelt – und sei es auch aus religiösen Gründen –, muss die vorgesehenen Sanktionen tragen« (ebd.: 29). Damit stellt die EKD geradezu eine Identität zwischen Kirche und Gesellschaft her. So schreibt Rösch in ihrer Analyse der zu dieser Thematik vorliegenden Dokumente der EKD, dass hier die Beschreibung von Christentum und Demokratie so gut wie ineinander fällt.30 »Dann«, so folgert sie, »fallen auch die Selbstbeschreibungen als Christ und Bürger ineinander, und die EKD kann als Stimme des Bürgers und im Dienst für den Bürger gegenüber Muslimen (als Noch-Nicht-Bürgern) Bewertungen des Islam vornehmen, als ›Integrationslotse‹ fungieren, Positionen beziehen in der Frage der Verleihung des Körperschaftsstatus oder Forderungen aufstellen für einen richtigen, der demokratischen Gesellschaft angemessenen Islam« (ebd.: 235). Damit macht sich die Kirche für die Gesellschaft unentbehrlich, indem sie moderierend Funktionen bei religiösen Konfliktparteien übernimmt. Sie stellt damit eine Angewiesenheit des demokratischen Staates auf die Leistungen der Kirche her (vgl. Kap. 4). Die Identifikation der derzeitigen Gesellschaftsordnung mit dem Christentum wirft jedoch Probleme auf: Zum einen fragt sich, welche Rolle das Christentum in anderen Gesellschaftsordnungen spielt oder gespielt hat: War das nur ein Irrtum? Zudem ist zu fragen, ob dieses enge Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft auch anderen zugestanden werden müsste, und was dann Säkularisierung bedeuten kann. Wird nicht gerade vom Islam 30 | Dabei wären viele Fragen an die EKD zu stellen in Bezug auf die Übereinstimmung mit der demokratischen Grundordnung, etwa was das Diskriminierungsverbot aufgrund von Religion anbetrifft, oder generell die Frage nach den »Sonderrechten« der Kirchen in Bezug auf ihre Rolle als Arbeitgeber. »Grundsätzlich dürfen nur Mitglieder, die einer der christlichen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) angeschlossenen Kirche angehören, im kirchlichen Dienst als Angestellte tätig sein, da dieser Dienst durch den Auftrag bestimmt ist, das Evangelium in Wort und Tat zu verkündigen« (EKD 2006: 60).

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immer wieder die Trennung von Staat und Religion eingefordert und diese als eine besondere Errungenschaft der westlichen Gesellschaftsordnung ­herausgestellt? Demgegenüber sieht die EKD es als ihre genuine Leistung an, die Grundlagen für Demokratie und Menschenrechte geschaffen zu haben. Demokratische und christliche Werte entsprechen sich (Homologie), denn erstere sind aus dem Christentum entstanden (Genese). Damit wird das Christentum zu einer »säkularen Religion«, resümiert Rösch. Sie schreibt: »Das Christentum beziehungsweise die EKD stehen in alledem immer als Positivfolie bereit: in einer vorbildlichen Haltung zur demokratischen Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten und speziell der Religionsfreiheit; in einer klaren und ehrlichen Haltung zum Dialog sowie institutionell mit einer erfolgreichen Aufklärung im Rücken und in einer Vorbildhaftigkeit in Selbstkritik und historischer Schuldaufarbeitung.«

In Bezug auf den letzten Punkt zitiert sie folgende Passage aus der EKD-Handreichung (2006): »In Deutschland haben evangelische Christen und ihre Kirchen die oft mit schwerer Schuld verbundenen Irrwege der Vergangenheit selbstkritisch und öffentlich aufgearbeitet. Von den früheren Fehlhaltungen haben sie sich abgewendet und mit den schuldhaften Verstrickungen ein für alle Mal Schluss gemacht« (24).

Um dann den Muslimen zu empfehlen: »Entsprechend sollten sich alle religiösen Gemeinschaften selbst in die Pflicht nehmen, ihre eigenen Irrtümer, ihre Gewaltbereitschaft und Schuld selbstkritisch zu prüfen und glaubhaft zu überwinden« (ebd.). Diese Überheblichkeit wird durch ein forciertes Einklagen der Gleichstellung der Frauen ergänzt, als hätte diese schon seit Jahrhunderten zum Wesenskern der evangelischen Kirche gehört. Während der christliche Gott, so die Argumentation, ein Gott der Vergebung und Güte sei, sei der islamische Gott ein Richter und Vergelter. Daraus resultiere nicht zuletzt die grundlegende Differenz, dass den Menschen eine unteilbare Würde aufgrund der Gottesebenbildlichkeit zukomme, während das im Islam nicht der Fall sei, da »der Islam den Menschen nicht als Gottes Ebenbild betrachte« (EKD 2006: 20). Deshalb glaubt die EKD auch klarstellen zu müssen, dass die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen wie auch Ehrenmorde, Mädchenbeschneidungen und Zwangsheirat nicht geduldet werden könnten – und zwar »unter keinen Umständen« (ebd.: 48). Mit allem Nachdruck glaubt die EKD drauf hinweisen zu müssen, dass die hier allgemein geltenden Rechtsnormen einzuhalten seien. So geriert sie sich als eigentliche Wahrerin der Werte und Hüterin des Rechtsstaates.

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Die Katholische Kirche räumt, wie die evangelische, den Muslimen durchaus einen Zugang zur religiösen Wahrheit ein. Die entscheidenden Voraussetzungen dafür waren auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) geschaffen worden, als in der »Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen« »Nostra Aetate« die Abkehr vom Dogma der alleinseligmachenden Kirche erklärt wurde. Dem Islam wurde dabei ein partieller Wahrheitsgehalt eingeräumt. Und die Forderung nach einem gegenseitigen Verstehen und einer gemeinsamen Verantwortung für die Welt formuliert. In den 60er Jahren wurde deshalb auch in der BRD die Gemeinsamkeit aller Gläubigen der Weltreligionen betont gegenüber dem voranschreitenden Atheismus und »Materialismus« (vgl. Mittmann 2010: 68f.). Demgegenüber hat nun Papst Benedikt XVI. in seiner viel beachteten Rede in Regensburg 2006 vor allem die Seiten betont, die seiner Meinung nach Christentum und Islam unterscheiden. Er ist der Auffassung, dass im katholischen Christentum eine besondere Affinität von Vernunft und Glaube aufgrund der hellenistischen Tradition des Katholizismus bestehe. Demgegenüber sei der Islam, der die Vernunft nicht in diesem Sinn in seine Religion integriert habe, von besonderer Gewaltbereitschaft und Intoleranz geprägt. Er zitierte dafür eine antiislamische Streitschrift des byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos von 1391. Danach würde der Islam Religion und Vernunft auseinanderreißen.31 Wörtlich heißt es da: »Zeige mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.« Demgegenüber sei es unvernünftig, Menschen zum Glauben zu zwingen, da Gewalt bei der Glaubensverbreitung widersinnig sei. Eine vernünftige Seele müsse man überzeugen und könne nicht mithilfe von Gewalt die Gläubigkeit erzwingen. Damit stellt er ein gewaltloses, vernünftiges Christentum einem irrationalen und gewalttätigen Islam gegenüber, einem Islam, der nicht griechisch, also nicht europäisch sei. Und es entsteht der Eindruck, dass für den Papst eine vernünftige Diskussion nur innerhalb eines europäisch-christlich-hellenistischen Kontexts möglich ist, so etwa die Schlussfolgerungen von Nayed (vgl. Nayed 2007: 22, 38). Angesichts eines Sturms der Entrüstung von Seiten der Muslime aber auch von Christen versuchte Ratzinger seine Aussage zu relativieren, indem er meinte, es wäre bei dem Zitat um eine Auseinandersetzung zwischen Religion und Gewalt an sich gegangen. Bei näherer Lektüre zeigt sich jedoch, wie Jobst Paul ausführt, dass Manuel II. die Kritik, dass das Christentum selbst gewalttätig sei, als eine »Verhöhnung« zurückgewiesen hat (vgl. Paul 2007). Auch musste Ratzinger einräumen, dass der Kaiser sicherlich wusste, dass in der Sure 2, 256 des Korans steht, dass es keinen Zwang in Glaubenssachen geben dürfe. Er rela31 | Was er im Übrigen in dem Zusammenhang auch dem Protestantismus vorwarf.

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tivierte jedoch auch diese Aussage, indem er darauf hinwies, diese Sure stamme aus einer frühen Zeit, als Mohammed selbst noch machtlos und bedroht war, während es später Aussagen zum Heiligen Krieg gegeben habe. Damit verweist Ratzinger unfreiwillig auf die Geschichte der katholischen Kirche selbst, die, solange sie machtlos war, zur Toleranz aufrief, als sie zur Macht gekommen war, jedoch keine Toleranz mehr kannte; ein Prinzip, das sie in der Neuzeit explizit in ihrem Toleranzkonzept von These und Hypothese ausformulierte (Ich komme im nächsten Kapitel genauer darauf zurück). Dabei unterband sie vor allem jede Toleranz gegenüber Zweifeln an der von der Kirche vertretenen Wahrheit. Für getaufte Christen gab es keine Wahlfreiheit, keinen eigenständigen Zugang zur Vernunft, und sie durften ihren Glauben bei Androhung des Todes nicht in Zweifel ziehen. Der These von der besonderen Gewalttätigkeit des Islam im Vergleich zum Christentum stimmt auch die evangelische Kirche zu. Nach Bischof Huber gab es zwar auch im Christentum »beklagenswerte Konstellationen, in denen Glaube und Gewalt verbunden waren. Aber das ist keineswegs die generelle Grundlinie des christlichen Glaubens« (zit. in Rösch 2011: 163). Demgegenüber sei die historische Grundlinie beim Islam die der Gewalt, denn Mohammed sei nicht nur Prophet, sondern auch Kriegsherr gewesen. Dabei wird also die Gewalt als ein dem Islam immanentes, während sie für das Christentum als diesem äußerliches, uneigentliches Phänomen erklärt wird (vgl. dazu Kap. 4). Aber es wird nicht nur die Gewalt im Christentum als bedauernswerte Fehlentwicklung einem wesentlich gewalttätigen Islam gegenübergestellt, sondern auch die historische Tatsache umgekehrt, dass, von Ausnahmen abgesehen, der Islam nie jemanden gezwungen hat überzutreten. Es gab keine »Missionskriege« wie im Christentum. Im Allgemeinen breitete sich die muslimische Religion gewaltfrei aus (vgl. Borgolte 2006b). Erst nach dem Kolonialismus änderte sich das zunehmend. Die dem Christentum unterstellte Friedfertigkeit nutzt die EKD nicht nur dazu, sie als Leitdifferenz gegenüber dem Islam herauszuarbeiten, sondern sie macht sie zugleich zur Grundlage gegenseitiger Versöhnung. So heißt es in den theologischen Leitlinien der EKD »Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen« (Leitlinien der EKD 2003), dass man nach den schon viel zu lange anhaltenden schrecklichen Auseinandersetzungen und Kriegen zwischen den Religionen geltend machen müsse, dass Jesus Christus unter keinen Umständen zu Feindschaft und tödlichem Streit getrieben habe: »Er ist derjenige, der die gnädige, unverfügbare Nähe Gottes zu allen Menschen trotz ihrer religiösen Entzweiung geschichtlich wirksam werden lässt. […] Sie ist unüberholbar, weil sie die ganze sich religiöse und nichtreligiös entzweiende Menschheit in das versöhnende Licht der Nähe Gottes stellt und ihr einen gemeinsamen Horizont gibt« (ebd.: 17).

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Es ist eine »Einheit in Christus«, die hier beschworen wird, die gleichzeitig die Zwietracht setzt. Die evangelische Kirche will den Islam an die moderne Gesellschaft heranführen und versteht sich deshalb selbst als einen »Integrationslotsen« (EKD-Leitlinien 2006: 47). Dafür sei sie auch deshalb besonders geeignet, weil die Kirche die in der Bibel beschriebenen Erfahrungen von Vertreibungen, Wanderungen und Sesshaftwerden in ihr Selbstverständnis »wesensmäßig« aufgenommen habe.

Die Kirchen als Integrationslotsen? Die Vorstellung einer besonderen kirchlichen Kompetenz für Integration muss erstaunen, da die Kirche »den« Islam zunächst einmal pauschal zu einem Integrationshindernis erklärt. Im Kontrast dazu scheint sie umso nachdrücklicher ihre eigene Identifikation mit dem bestehenden System und ihre gesellschaftliche Unentbehrlichkeit unterstreichen zu wollen. So ist sie auch bemüht, bei Konflikten vor allem die Unterschiede herauszustellen, wie etwa im Zusammenhang mit dem Moscheebau und der Frage nach dem Muezzinruf. Hier betont sie, dass er mit dem Kirchengeläut nicht vergleichbar sei, da der Muezzin nicht nur zum Gebet rufe, sondern auch öffentliches Zeugnis für den Glauben ablege. Die Kirchenglocken täten das hingegen nicht. Auch das Argument Lärmschutz, das gegen das Glockengeläut eingewandt wird, gilt nach Meinung der EKD für den Muezzinruf, nicht aber für die Glocken, da es ja nicht nur auf die Lautstärke, sondern auch auf die »Art des Geräusches« ankomme (vgl. ebd.: 67, 68). Ebenso machte sich die EKD dafür stark, das muslimische Kopftuch im Öffentlichen Dienst zu verbieten, nicht jedoch christliche und jüdische Symbole. Das begründet sie damit, dass das Kopftuch keine religiöse Bedeutung habe, sondern ein Zeichen gegen die Gleichberechtigung der Frauen sei (vgl. ebd.: 64). Zudem seien die christlichen Symbole nicht in erster Linie religiöse, sondern kulturelle Zeichen. Damit beanspruchen sie eine allgemeine gesellschaftliche Legitimation, die anderen religiösen Symbolen nicht zukomme. Dem folgte teilweise die Rechtsprechung, als im Fall der Lehrerin Fereshda Ludin (Verbot des muslimischen Kopftuchs im Öffentlichen Dienst) das Kopftuch zu einem patriarchalen Symbol, das Kreuz und der Nonnenhabit dagegen zu kulturellen Symbolen erklärt wurden, die nicht unter das Verdikt religiöser Voreingenommenheit gegenüber den SchülerInnen fielen. Diese Position wurde vom damaligen Papst Benedikt XVI. direkt unterstützt, als er an Ernst-Wolfgang Böckenförde am 30.4.2004 einen Brief schrieb und auf dessen Vorbehalt gegen das Kopftuchverbot einwandte, dass man nicht alle religiösen Symbole gleich behandeln könne. Man schaffe ja auch nicht den Sonntag ab.

11. »Der« Islam in der christlich-säkularen Gesellschaf t »Ein Staat kann sich nicht völlig von seinen eigenen Wurzeln abschneiden und sich sozusagen zum reinen Vernunftstaat erheben, ohne eigene Kultur und ohne eigenes Profil, wenn er alle für Ethos und Recht relevanten Traditionen gleich behandelt und alle öffentlichen Äußerungen der Religionen gleich einstuft. Was in der Diskussion der letzten Jahre ziemlich unzulänglich mit dem Wort ›Leitkultur‹ angesprochen war, ist in der Sache fundiert« (zit. in Schieder 2011: 258).

Dementsprechend sind in der Bundesrepublik auch alle zur Zeit der Entscheidungsfindung von christlichen Parteien regierten Ländern so verfahren und haben das islamische Kopftuch verboten, nicht aber christliche und jüdische Symbole. Demgegenüber sieht der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde diese Entscheidung als unzulässig an. Er sieht in dem Verbot des muslimischen Kopftuchs Ungleichbehandlung und Diskriminierung, die nur dann rechtmäßig gewesen wären, wenn sie sich auf alle Bekenntnisbekundungen erstreckt hätten (2009: 188). Die christlichen Kirchen behaupten also ihre Vorrangstellung, indem sie die entsprechenden Symbole (Kreuz und Kopftuch) in kulturelle und religiöse aufspalten und das christliche Symbol der Kultur, das muslimische der Religion zuordnen. Begründet wird diese unterschiedliche Behandlung mit einem Vorrecht aufgrund der Anciennität. Weil es das Christentum nun schon so lange gibt, sei es in die Kultur übergegangen und deshalb auch zu Recht die »Leitkultur« geworden. Damit wird versucht christliche Religion und westliche Kultur miteinander zu identifizieren. Das ist insofern eine totalisierende Argumentation, als sie die Kultur weitgehend in ihrer Dimension des Christlichen aufgehen lässt. Religion überschneidet sich zwar mit Kultur und geht in sie ein, aber in der Kultur ist noch Raum für andere, auch andersreligiöse, antireligiöse und säkulare Traditionen (vgl. Kap. 1). Aus der Einhaltung des Sonntags als Feiertag kann man deshalb nicht die Forderung ableiten, nun die gesamte Lebensweise von christlichen Vorgaben bestimmen zu lassen. Auch an dieser Stelle ist zu fragen, wie man vom Islam eine Trennung zwischen Kirche und Staat verlangen kann, wenn von Seiten der christlichen Kirchen eine weitgehende Identität von Religion und Staat beziehungsweise Gesellschaft in Form der Kultur behauptet wird. Die Integrationsleistung der Leitung der evangelischen Kirche, soweit sie aus diesen Dokumenten sichtbar wird, scheint vor allem darin zu liegen, dass sie dem Islam gegenüber auf Anpassung pocht, und das nicht nur in Bezug auf gesellschaftliche Werte und politische Orientierungen, sondern sie erwartet, unterstützt von staatlichen Stellen, von den islamischen Gemeinden, dass sie sich sowohl in inhaltlicher wie auch in formaler Hinsicht an die Struktur der christlichen Kirchen anpassen. So fragte etwa Hans Maier schon 1999 bei einer Anhörung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: »Muss der Islam Kirche werden, um in den Genuss der Privilegien zu kommen, die der Artikel 7

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­ rundgesetz den christlichen Kirchen und dem Judentum zugesteht?« (zit. G in Hafez 2012: 42)32 Aber es geht nicht nur darum, dass die muslimischen Gemeinden sich der Struktur der christlichen Kirchen anpassen, sondern darum, dass sie auch deren Vorrangstellung in der Gesellschaft akzeptieren. Und dies trotz des Verfassungsauftrags, dass der Staat keine Religion einer anderen vorziehen dürfe.

Privilegierung der christlichen Kirchen In der Erklärung der EKD von 2003 heißt es noch, dass die Kirche den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staats bejahe, was bedeute, dass der Staat keine Religion privilegiere (vgl. EKD 2003: 21). In der Handreichung von 2006 jedoch meint sie bereits, dass das Christentum eine Sonderrolle in dieser Gesellschaft spiele, was seine Bevorrechtigung etwa in Bezug auf christliche Symbole im Öffentlichen Dienst geradezu zwingend mache. Der neutrale Staat sei auf Prägekräfte angewiesen, die er dem Christentum verdanke. Man müsse also Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandeln. Daher sei eine Differenzierung nicht nur zulässig, sondern geboten (vgl. EKD 2006: 64). Die Christen bejahen die freiheitliche Grundordnung, so die Argumentation der EKD, und leisten im sozialen Bereich nachhaltig Hilfe zum gedeihlichen Zusammenleben der Menschen. Insofern ist es, wie es wörtlich heißt, »durchaus angemessen, dies bei der Verleihung des Status zu beachten, mit dem Rechte verbunden sind, wie sie sonst nur der Staat hat. Wer ein solches Engagement für das Gemeinwohl nicht zu bieten hat, sondern Anlass zu der Vermutung gibt, stattdessen integrations- und demokratieabträgliche Aktivitäten zu entfalten, sollte den Status nicht erhalten« (ebd.: 80).

Hier werden die eigenen staatlichen Privilegien unumwunden verteidigt und den anderen mithilfe von Diffamierungen rundweg abgesprochen. Es wird nicht nur den muslimischen Gemeinden ihr soziales Engagement, das vor allem in Form von Kinder-, Jugend- und Frauenarbeit in den Moscheegemeinden seit Jahren geleistet wird, aberkannt, sondern es werden ihnen zugleich pauschal integrations- und demokratieabträgliche Aktivitäten unterstellt. Darüber hinaus wird behauptet, die muslimischen Gemeinden würden sich diese Privilegien unberechtigt aneignen wollen, wenn sie den gleichen Status wie die christlichen Kirchen anstrebten. Denn, so die Argumentation:

32 | In Österreich etwa ist es kein Problem, die muslimischen Gemeinden auch in ihrer Pluralität als eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts zu akzeptieren.

11. »Der« Islam in der christlich-säkularen Gesellschaf t »Nicht Privilegien sind es, die Kirchen und andere Gemeinschaften als Körperschaften öffentlichen Rechts genießen, sondern Wirkungsmöglichkeiten, deren Gebrauch ebenso der ganzen Gesellschaft wie ihnen selbst zugutekommt. Privilegiert wären hingegen Gemeinschaften, die solche Wirksamkeit verweigern und gleiche Voraussetzungen eben nicht erfüllen, gleichwohl aber den Status erhalten« wollen (ebd.).

Danach wäre die gesellschaftliche Privilegierung nach dem geschätzten Beitrag zum Gemeinwohl zu bemessen – was, wie bereits erwähnt, etwa von dem ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof angedacht worden ist (vgl. Walter 2012: 236). So scheint die evangelische Kirche keine Skrupel zu haben, den Gleichheitsgrundsatz in Bezug auf Religionsgemeinschaften zu unterlaufen. Die Frage ist, ob sie sich dann noch als Hüterin und Quelle von Demokratie und Rechtsstaat bezeichnen kann.33 Indem die christliche Religion zur Grundlage der herrschenden Kultur erklärt wird, entziehen sich die Kirchen der religiösen Konkurrenz. Diese kulturchristliche Fundierung der Gesellschaft, so Rösch im Resümee ihrer Analyse, »ermöglicht dann auch die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von Christentum und anderen Religionsgemeinschaften (hier vor allem dem Islam). Die Konstruktion einer Deckungsgleichheit von christlicher Tradition und westlicher Kultur lässt die andere Religion immer zur fremden Religion werden. So wird die Genese der zentralen Werte der Aufklärung aus dem Christentum zu einem entscheidenden und vor allem auch logisch uneinholbaren Vorsprung des Christentums gegenüber anderen Religionen. Die andere Religion ist damit nicht nur (kultur)fremd, sondern aus dieser Perspektive immer auch minderwertig« (Rösch 2011: 131).

Dennoch wird unentwegt von gegenseitigem Respekt, von Toleranz und Dialog gesprochen. Diese Termini werden hier jedoch zu Kampf begriffen der Selbstbehauptung und der Grenzziehung. So setzt Bischof Huber in seiner Einleitung zur Handreichung (2006) voraus, dass die EKD vom Respekt für den Glauben und die Überzeugungen der Muslime ausgeht. Er fügt aber dann noch hinzu: »Doch Überzeugungen, auch Glaubensüberzeugungen, können es nicht rechtfertigen, dass man anderen den Respekt versagt, grundlegende Menschenrechte in Frage stellt 33 | Natürlich könnten die Kirchen auch auf ihre Privilegien verzichten und das Staatskirchenrecht an die Erfordernisse der Einwanderungsgesellschaft anpassen und in diesem Sinne sich entweltlichen, wie Papst Benedikt XVI. in seiner Freiburger Rede vorgeschlagen hat. Ob er damit tatsächlich auch einen Verzicht auf die weltlichen Privilegien gemeint hat, ist schwer zu sagen. Auf alle Fälle scheinen beide Kirchen derzeit dazu nicht bereit zu sein.

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III. Christliche Dominanz in einer multireligiösen Gesellschaf t und die Achtung der eigenen Überzeugung durch Einschüchterung und Drohung oder Gewaltanwendung einfordert« (EKD Handreichung 2006: 9).

Solche Diffamierungen nähren den Verdacht, dass auch die Kirchen einen Gutteil zu den in Deutschland besonders ausgeprägten antimuslimischen Ressentiments beigetragen haben. Wichtig ist jedoch hier klarzustellen, dass es bei dieser Analyse alleine um die offiziellen Verlautbarungen der evangelischen Kirche geht beziehungsweise um die Äußerungen des Papstes und keineswegs um die Position »der« Christen in dieser Gesellschaft. Denn es gibt gerade bezüglich des Umgangs mit dem Islam auch viele andere Stimmen, wie etwa die breite Kritik an der Handreichung von 2006 gerade auch im christlichen Spektrum gezeigt hat (vgl. dazu zusammenfassend Micksch 2007). Ebenso spielen viele christliche Gemeinden im Zusammenhang mit dem Bau von Moscheen eine vermittelnde und konstruktive Rolle. Anderenfalls würde es die inzwischen doch recht zahlreichen Moscheen in Deutschland nicht geben (vgl. etwa Leggewie 2009).

Resümee Die christlichen Kirchen scheinen unter Integration vor allem Assimilation zu verstehen, eine Assimilation, die die Vorbildhaftigkeit der christlichen Kirchen weitestgehend bestätigt und zugleich ihre privilegierte Position in der Gesellschaft nicht antastet. Es scheint, als wollten die Kirchen vor allem ihre Vormachtstellung in der deutschen Gesellschaft wahren, die sie nun seit Jahrhunderten, und noch verstärkt nach der Zeit des Nationalsozialismus (Kap. 5), in dieser Gesellschaft einnehmen. Sie berufen sich auf die christliche Tradition und setzen sie mit der hier herrschenden Kultur gleich. Oder aber sie beziehen sich, wie es vor allem die protestantische Kirche tut, auf die Identität von Christentum und dem politischem System der Demokratie. Damit werden andere Religionen – insbesondere der Islam – nicht nur an den Rand gedrängt, sondern als dieser Gesellschaft prinzipiell fremd erklärt. Die Ironie ist, dass ausgerechnet die evangelische Kirche, die sich dermaßen mit der Demokratie identifiziert, dass sie sich sogar selbst als deren Schöpfer hinstellt, mit ihrer Forderung deren Kernstück, den Gleichheitsgrundsatz, offen unterläuft. Insgesamt scheinen die Führungen der christlichen Kirchen in keiner Weise ein kritisches Korrektiv für die antimuslimische Stimmung in Deutschland zu sein, sondern diese eher noch zu verstärken. In diesem Fall wäre der Ruf nach einer verstärkten Geltung christlicher Werte in der Gesellschaft der Ruf nach einer Selbstbestätigung im Ressentiment. Damit würden die christlichen Kirchen nicht zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen, sondern eher zur Spaltung entlang religiös-kultureller Zugehörigkeiten. Der eigentliche Machtanspruch der Kirchenleitungen kommt in der pauschalen Identifizie-

11. »Der« Islam in der christlich-säkularen Gesellschaf t

rung von Tradition und Christentum, wie im Falle der katholischen Kirche, und von politischer Kultur und Christentum, wie im Fall der evangelischen Kirche, zum Ausdruck. Damit wird die gesamte europäische Tradition der Kirchenkritik und kritischen Auseinandersetzung mit dem Christentum als gegenstandslos erklärt und der Idealisierung des Christentums Tür und Tor geöffnet. Die Identifikation der westlichen Kultur mit dem Christentum würde eine totalisierende Sichtweise unterstützen, die keinen Raum mehr lässt für atheistische, areligiöse und andersreligiöse Positionen.

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12. P  luralismus in einer säkularmultireligiösen Gesellschaft

Nun stellt sich zum Schluss die Frage, wie die Mehrheitsgesellschaft mit der zunehmenden religiös-kulturellen Diversität umgehen kann angesichts ihrer starken kulturellen Verankerung im Christentum. Diese kulturelle Verankerung zeigt sich, wie wir sahen, u.a. in einer positiven Voreingenommenheit gegenüber »dem« Christentum, einer Idealisierung, die vielfach auf Kosten der anderen Religionen, namentlich des Islams geht. Die Frage ist also, wie die Polarisierung zwischen einem »friedlichen« Christentum auf der einen Seite und einem »gewalttätigen« Islam auf der anderen aufgebrochen werden kann. Ein wichtiger Schritt dabei ist, das Bild von »dem« Islam zu differenzieren und die Frage von Friedlichkeit und Gewalt auch auf den jeweiligen sozialen und politischen Kontext zu beziehen. In dieser Untersuchung ging es jedoch um die Arbeit an den Vorstellungen vom Christentum. Die Frage war, welche Basis und welches Motiv hat die Idealisierung des Christentums, worauf stützt sie sich? Welche Traditionen finden wir im Christentum für den Umgang mit den Anderen sowie mit dem eigenen Selbstverständnis? Ist es zwingend, dass »das« Christentum in einer imperialen Pose verharrt und sich als geistlicher Herrscher der Welt begreift? Wenn nicht, welchen Stellenwert haben dann die anderen Religionen? Welche Argumente finden wir im Christentum, um seinen Machtanspruch selbstkritisch zu reflektieren und ein friedliches und produktives Zusammenleben in Pluralität zu ermöglichen und zu fördern? In dem Zusammenhang hat es keinen Sinn, einfach auf säkulare Argumentationen auszuweichen oder gar deren Strategien den religiösen gegenüber als Lösung zu empfehlen. Auch säkulare Diskurse können, wie wir sahen, ausgrenzend, repressiv und gewaltträchtig sein. Man kann die religiösen also nicht einfach durch säkulare ersetzten – auch nicht im aufgeklärten und weiterhin zunehmend nicht-kirchlichen Deutschland. Denn die religiösen Diskurse bleiben weiterhin relevant, und zwar nicht nur, weil für die Mehrheit der Bevölkerung christliche Orientierungen eine große Bedeutung haben,

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III. Christliche Dominanz in einer multireligiösen Gesellschaf t

sondern weil man aufgrund der jahrhundertealten Tradition und der jüngsten Geschichte mit einer starken Position der christlichen Kirchen in Deutschland zu rechnen hat. Die Einwanderung hat das Thema Religion in Deutschland wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei wurden, wie wir sahen, die EinwanderInnen immer stärker »islamisiert«, während sich die Mehrheitsbevölkerung zunehmend selbst »christianisierte«. Mit einem solchen Rückzug auf religiöse Positionen bringt man jedoch Identitätsbehauptungen ins Spiel, die schwerlich weiter hinterfragt werden können, vor allem nicht in Bezug auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Positionen. Insofern kann diese »Religiosifizierung« dazu dienen, die Hintergründe sozio-politischer Auseinandersetzungen zu verschleiern und die damit verbundenen Interessen unsichtbar zu machen. Im Zweifel geht es bei den jeweiligen Konflikten dann nicht mehr um unterschiedliche politische, ökonomische oder soziale Interessen und somit um Fragen eines fairen Interessenausgleichs, sondern darum, ob Menschen mit unterschiedlichen Identitäten zusammenleben können und wollen oder nicht. So hat etwa, wie wir sahen, die Religiosifizierung des Nahostkonflikts in den letzten Jahrzehnten die politische Verständigung zwischen den Konfliktparteien deutlich erschwert. Allerdings ist es wiederum kein Zufall, dass gerade heutzutage die Religion zum zentralen Medium nationaler wie internationaler Auseinandersetzungen geworden ist – obgleich dies der Säkularisierungsthese so offensichtlich widerspricht. Denn in Zeiten zunehmend globaler Bezüge in allen gesellschaftlichen Bereichen verlieren Kategorien wie Nation und nationale Interessen immer mehr an Bedeutung. Religion hingegen ist eine übernationale, eine globale Größe. Das ist vor allem für Menschen bedeutsam, die in andere Länder migrieren oder flüchten müssen. Der übernationale Bezug der Religion wird aber auch für die Etablierten innerhalb eines Landes von immer größerer Bedeutung, da sie mit ihrem Bezug auf die Religion als Identitätsmerkmal dem Vorwurf des nationalen Chauvinismus, Eurozentrismus oder politischer und ökonomischer Interessen eher entgehen können. Aber auch für neue politische Einheiten wie das vereinte Europa ist der Bezug zur Religion, also in dem Fall zum Christentum, ein willkommener Identitätsfokus, da er die bisherigen nationalen Grenzen zu transzendieren vermag; transzendieren in dem Sinn, dass die integrative Idee einer idealisierten Gemeinschaft aufgerufen wird, die keine sozialen Klassen, Ethnien und politischen Grenzen mehr kennt, sondern sich nur noch auf eine Gemeinschaft auf der Basis geteilter Werte bezieht. Das Spezifische Europas wird deshalb in seiner Werteorientierung gesehen, die laut vorherrschendem Diskurs wesentlich auch auf seiner Christlichkeit beruht. Welche Konsequenz hat diese Form der Gemeinschaftsbildung jedoch für den Umgang mit den Anderen, für den Umgang mit der eigenen ­Hegemonie

12. Pluralismus in einer säkular-multireligiösen Gesellschaf t

und mit Machtdifferenzen? Auf der kulturellen Ebene besteht die Gefahr, den Anderen die als europäisch behaupteten Werte abzusprechen und damit Legitimation für Ausgrenzung beziehungsweise für die Verfestigung asymmetrischer Machtverhältnisse zu bieten. Andererseits enthalten jedoch gerade die Menschenrechte den Anspruch, alle Menschen in den Rechtsraum einzubeziehen. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Anerkennung und Ausgrenzung ist Toleranz gefragt  – Toleranz, weil diese sich sowohl auf ungleiche Machtverhältnisse beziehen wie auch den Anspruch auf Respekt implizieren kann. Toleranz kann gewährt, aber auch entzogen werden. Insofern ist sie Ausdruck von ungleichen Machtverhältnissen – im Fall der Machtgleichheit ist es ohnehin meist im Interesse aller Beteiligten sich auszutauschen und zu kooperieren. Gerade im Fall der Machtasymmetrie ist jedoch Toleranz gefordert, da sie den Mächtigen Zugeständnisse abverlangt, die sie nicht zwingend einräumen müssen. Nun kann Toleranz ein Instrument sein, Macht auf eher liberale als repressive Weise durchzusetzen; oder aber eine Strategie, gegenseitige Anerkennung auch unter ungleichen Verhältnissen anzustreben. Die ungleichen Ausgangspositionen sind also notwendig in die Analyse einzubeziehen. Das gilt insbesondere auch für das Verhältnis zwischen der christlich-säkularen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland und »dem« Islam. Hier zeigt sich die relativ starke Position des Christentums nicht nur darin, dass dieses auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken kann, sondern dass es auch gut etablierte »Volkskirchen« auf seiner Seite hat. Demgegenüber kann sich »der« Islam in Deutschland nur auf eine numerisch und – als ehemalige »Gastarbeiterreligion« – auch ökonomisch relativ schwache Bevölkerungsschicht stützen.1 Zur schwachen Positionierung des Islam in dieser Gesellschaft trägt aber auch die internationale Debatte bei, die spätestens seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 einen vorwiegend negativen Einfluss auf die innerdeutsche Debatte ausübt. Wie ist also angesichts dieser Machtasymmetrie Verständigung überhaupt vorstellbar? Zum einen geht es darum, gesellschaftliche Diskriminierungen abzubauen. Zum anderen aber geht es im Fall von Wertekonflikten auch um konkurrierende Geltungs- und im Fall der Religion um widerstreitende Wahrheitsansprüche. Und hier kommt die Toleranz ins Spiel. Sie geht davon aus, dass es möglich ist, unterschiedliche und auch einander ausschließende Auffassungen dem Anderen jeweils so plausibel zu machen, dass er bereit ist, die1 | Das Judentum spielt als Minderheitenreligion eine weniger umstrittene Rolle, da es sich nicht nur ebenfalls auf eine jahrhundertealte Tradition in Deutschland beziehen kann, sondern vor allem, weil es aufgrund der Geschichte der Verfolgungen und versuchten Auslöschung der Judenheit eine besondere Stellung im Selbstverständnis des heutigen Deutschland einnimmt.

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se zu respektieren, obwohl er damit nicht übereinstimmt. Diese Toleranz wäre eine Form des Respekts. Rainer Forst hat in seiner grundlegenden Analyse gezeigt, dass Toleranz immer eine Form der Machtpolitik, aber auch das Produkt von Aushandlungsund Plausibilisierungsprozessen ist, bei denen im Fall des Erfolgs am Ende ein Akt des Machtverzichts steht, nämlich des Verzichts auf den Anspruch alleiniger Deutungshoheit (vgl. Forst 2003). Somit geht es in diesen Aushandlungsprozessen auch um die Umverteilung symbolischer Macht.

Toler anz und M acht Toleranz als Erlaubnis Zunächst stellt sich die Frage, wer wem gegenüber tolerant ist und was die Motive sind. Wenn es allein darum geht, die eigene Machtposition abzusichern, dann wird Toleranz solange gewährt, wie die Anderen die Vorherrschaft nicht in Frage stellen. Toleranz wird hier in einem strategischen Wechselspiel von Erlaubnis und Verbot ausgeübt. Das heißt, es wird nur das erlaubt, was die eigene Position nicht gefährden kann. Dabei werden, so Forst, die Anderen diszipliniert und zugleich in die Gesellschaft »befreiend eingeschlossen« (ebd.: 18). Sie stehen ständig unter Beobachtung und sollen auf den Schutz der Starken angewiesen bleiben. Das klassische Beispiel dafür in der Geschichte ist die Tolerierung der Juden im europäischen Mittelalter. Forst schreibt dazu: »Aus religiösen Gründen zutiefst verachtet und gehasst, waren sie stets in Gefahr, Opfer der häufigen Pogrome und der Vertreibungen zu werden. […] ›Geduldet‹ wurden sie allein durch die Gewährung von Schutzbriefen durch die Kirche und die Fürsten, primär aus pragmatischen Gründen: als nützliches Übel. Ihnen wurden nur bestimmte Tätigkeiten erlaubt, die für die erlaubnisgebenden Institutionen von Vorteil waren, besonders Handel und Finanzgeschäfte, was im Gegenzug wiederum zu sozialen Abneigungen und gesteigertem Hass führte« (ebd.: 87). 2

2 | »Gleichwohl«, so schreibt er an anderer Stelle, »waren die Judenordnungen auch ›Toleranzordnungen‹: In ihnen wurde den Juden ein streng reguliertes soziales und wirtschaftliches Leben erlaubt, für das sie ›Schutzgelder‹ und den Preis der Unterprivilegierung und der Stigmatisierung (sie mussten vielerorts deutliche Zeichen wie gelbe Ringe, Sterne oder besondere Hüte tragen) zahlen mussten. Was sie dafür erhielten, war ein gewisser, stets zurücknehmbarer Schutz vor Angriffen und Vertreibungen« (Forst 2003: 178).

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Moses Mendelssohn, der jüdische Philosoph der Aufklärung, kritisierte nicht nur, dass diese »Duldungen« die Juden im Zustand der Unterordnung und Fügsamkeit hielten, sondern dass von ihnen verlangt würde, ihre »unaufgeklärte Religion« hinter sich zu lassen, wenn sie die vollen bürgerlichen Rechte erlangen wollten (vgl. ebd.: 409). Auch in der heutigen Islam-Debatte sind viele der Mehrheitsdeutschen davon überzeugt, dass »der« Islam nicht mit der Moderne vereinbar sei und deshalb die Muslime, wenn sie in dieser Gesellschaft ankommen wollen, letztlich ihren Glauben ablegen müssten. Von Seiten der protestantischen Kirche wird etwa die »Gewährung« eines Existenzrechts des Islams in Deutschland vor allem an die Bedingung geknüpft, sich an den christlichen Kirchen ein Beispiel zu nehmen. Zwar könne der Islam, so legt die oben zitierten Handreichung der EKD nahe, nie mit ihnen gleichziehen, da »der Islam den Menschen nicht als Gottesebenbild betrachte« (EKD 2006: 20), er müsse sich aber an Recht und Gesetz halten, die Ungleichheit und Gewalt gegenüber Frauen bekämpfen und die eigene Gewaltbereitschaft glaubhaft überwinden und damit, wie die evangelische Kirche mit ihren Schuldverstrickungen, »ein für allemal Schluss machen« (ebd.: 24). Der Habitus ist der einer drohenden Ermahnung. In dem Zusammenhang gerät der Toleranzbegriff gründlich in Verruf, da er nur dürftig Kontrolltendenzen kaschiert. Eine solche Toleranz will lediglich abklären, was »gewährt« werden kann und unter welchen Bedingungen Zugeständnisse wieder entzogen werden können. Wenn aber die christlichen Kirchen dem Islam dieselbe Anerkennung wie etwa der jeweils anderen christlichen Konfession zugestehen würden, wie wäre das mit ihrem Anspruch auf Wahrheit zu vereinbaren? Sind die Christen nicht verpflichtet zu missionieren, den Anderen den Weg zur »allein selig machenden Wahrheit« zu weisen? In diesem Dilemma steckt jede Religion mit einem Absolutheitsanspruch.3 Sie muss, will sie ihren Wahrheitsanspruch aufrechterhalten, auch ohne expliziten Missionsauftrag alle Menschen in ihn einschließen, sonst wäre ihr Anspruch nicht absolut – andererseits muss sie diejenigen besonders hervorheben, die im jeweiligen Sinn zum »richtigen« Glauben gefunden haben. Wie das Christentum dies Dilemma in seiner 3 | Dieses Dilemma ergibt sich nicht zuletzt aus dem elementaren Widerspruch zwischen der Partikularität einer Religion und ihrem universalen Anspruch. Wir kamen im Verlauf dieser Erörterungen schon mehrfach darauf zu sprechen, dass das Spezifische eines bestimmten Gottes im Widerspruch steht zu dem Anspruch, dass dieser Gott der Erlöser aller Menschen sei. In der christlichen Bibel geht es um Jesus, der zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gepredigt und gewirkt hat. Dennoch erhebt er den Anspruch für alle Menschen Gültiges zu sagen. Was aber ist zum Beispiel mit all den Menschen, die vor ihm lebten oder in Regionen der Welt, wo sie nie seine Worte hören konnten?

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­ eschichte »gelöst« hat, hängt, wie wir sehen werden, stark von seiner jeweiG ligen Machtposition ab.

Macht und Wahrheitsanspruch Auch im Christentum gibt es eine Toleranz, die die Anderen gelten lässt – allerdings indem diese Anderen letztlich als Christen verstanden werden. Die klassische Grundlage dafür ist die berühmte Stelle im Paulusbrief an die Galater (3, 28): »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.«4 Diese Passage zeigt, dass die Anerkennung der Anderen (Juden oder Heiden) davon abhängt, dass sie Christen sind. Gleichheit ist nur unter der Bedingung des christlichen Glaubens möglich. Der/die Andere wird nur als Christ eingeschlossen, seine/ihre Andersheit damit jedoch ausgeschlossen beziehungsweise zu einer Vorstufe des Christentums erklärt. Diese Toleranz ist eine Form der Inklusion, die den Anderen als Anderen zugleich ausschließt. Die Andersgläubigen, in dem Fall die Juden und Heiden, werden nicht als solche anerkannt, sondern nur als (potentielle) Christen.5 Wir waren dieser Einstellung als einem »Vorurteil der Gleichheit« bei Las Casas begegnet, der die EinwohnerInnen der Karibik und Lateinamerikas als »eigentlich« christliche verstanden hat. Ebenso finden wir diese Position in der in Europa spätestens seit der Aufklärung üblichen Hierarchisierung der Religionen, nach der die anderen Religionen als weniger entwickelte Vorstufen des Christentums gelten. Schließlich könnte eine solche exkludierende Inklusion auch bei der inzwischen üblich gewordenen Einschließung der Juden in die »christlich-abendländische Kultur« wirksam sein. Denn wenn dabei von einem christlich-jüdischen Erbe gesprochen wird, wird selten näher spezifiziert, was das spezifisch Jüdische daran ausmacht. Damit wird das Jüdische als Unbenanntes ausgeschlossen. Zudem wird – was noch gravierender sein

4 | Dieser Vers behauptet, dass der jüdische Glaube nun im christlichen Glauben überwunden sei, denn zuvor heißt es (Gal 3,23-29): »Ehe aber der Glaube kam, waren wir unter dem Gesetz verwahrt und verschlossen auf den Glauben hin, der dann offenbart werden sollte. So ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christus hin, damit wir durch den Glauben gerecht würden. Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister. Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. […] Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.« 5 | Inklusivismus und Exklusivismus sind also nicht unbedingt Gegensätze, so wie das auf den ersten Blick erscheinen mag, denn es gibt eine breite Palette von Übergängen, und auch die Inklusion kann exkludieren.

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mag  – das horrende antijüdische Erbe der christlich-abendländischen Geschichte unsichtbar gemacht. Der christliche Toleranzbegriff steht unter der Prämisse eines absoluten Wahrheitsanspruchs. Er hat das Ziel dem wahren Glauben zum Durchbruch zu verhelfen. Dies vor allem um des Heils eines jeden Menschen willen. In der Geschichte des lateinischen Christentums führte diese Position der »Heilssorge«, wie wir sahen, seit Augustinus zu einer anhaltenden Geschichte der Intoleranz. Zwar heißt es bei Johannes: »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen« (Joh 14, 2). Aber am Ende dieser Passage steht auch: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Die Intoleranz war in der katholischen Kirche offizielle Glaubensdoktrin bis in die jüngste Gegenwart hinein. Sie stützte sich dabei auf die Argumentation des Thomas von Aquin, der die Toleranz beziehungsweise Intoleranz von der Machtposition der Kirche abhängig machte: Wenn die Kirche an der Macht sei, so seine Überlegung, dürfe sie anderen Religionen gegenüber nicht tolerant sein, da sie für die Durchsetzung der Wahrheit zu sorgen habe.6 Wenn die Kirche sich jedoch in einer Minderheitenposition befinde, müsse die freie Religionsausübung gewährleistet und deshalb Toleranz gefordert werden. Damit erinnerte er an die frühchristliche Geschichte, in der, solange die Christen in der Minderheit waren, Toleranz eingefordert wurde.7 Später jedoch, als das Christentum zur Staatsreligion aufgestiegen war, wurde ein Totalverbot für alle nichtchristlichen Religionen ausgesprochen.8 Auch Luther war für das Recht auf Widerstand, solange er noch um das Überleben des Protestantismus kämpfte. Als nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 dieser seine Existenzgarantie hatte, war von Widerstand keine Rede mehr (vgl. Gabriel 2012: 314). Jede christlichen Toleranz, so Gabriel, war nur vorläufig bis zum unvermeidlichen Endsieg (vgl. ebd.: 353). Aufgrund dieser Geschichte muss nach Einschätzung des Cambridger Kirchenhistorikers MacCulloch das Christen6 | Allerdings könne das Übel eines falschen Glaubens toleriert werden, wenn damit ein schlimmeres Übel wie etwa Aufruhr zu verhindern sei (Spieß 2012: 104f.). In der neoscholastischen Interpretation wurde dies Modell von Thomas, so Spieß, auf ein Opportunitätsmodell reduziert, nach dem man religiöse Toleranz erlaubte, wenn sie nicht zu vermeiden beziehungsweise aus katholischer Perspektive vorteilhaft war (107). 7 | So schrieb damals der Theologe Tertullian in seiner Apologetik: »Es gehört aber auch nicht zum Wesen der Religion, Religion zu erzwingen, diese muss nämlich freiwillig, nicht infolge von Gewalt ausgeübt werden.« Das war im Jahr 212 (n.u.Z.), während keine 200 Jahre später alle anderen Religionen verboten wurden. 8 | Im kaiserlichen Edikt von 392 heißt es, dass keiner an keinem Ort den Göttern ein Opfertier darbringen oder sie durch Opfergaben verehren oder ihnen Lichter anzünden, Weihrauch auflegen, Kränze aufhängen dürfe (zit. in Cancik 2009: 393).

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tum als die intoleranteste aller Weltreligionen gelten (vgl. MacCulloch 2010: 4; Forst 2003: 82). Dass auch andere Formen des Umgangs miteinander möglich waren, zeigt nicht zuletzt die Geschichte des Islam: Er tolerierte andere Religionen im Sinne einer partiellen Anerkennung der Anderen, eingeschränkt auf die sogenannten Buchreligionen, also in erster Linie auf Juden und Christen. Sie wurden als Religionen verstanden, die in einem bestimmten Maße an der Offenbarung Teil, sie aber nicht vollständig erfasst hätten. Deshalb genossen Juden und Christen als »dhimmi« den Schutz des Herrschers, mussten aber besondere Steuern zahlen und wurden nicht zum Kriegsdienst herangezogen. Werbung durch Glocken war ebenso verboten wie Prozessionen durch muslimisches Wohngebiet und natürlich die Mission (vgl. Auffahrt 2012: 61). Christen und Juden konnten jedoch ihr eigenes Religionsrecht für ihre Gruppe ausüben und hatten eine eigene Gerichtsbarkeit. Eine gewalttätige Mission gab es in der Regel nicht. Toleranz in diesem Sinne heißt also nicht Anerkennung als Gleichwertige, aber Duldung als Verschiedene. Aus der Machtfülle heraus wird eine begrenzte Freiheit der Anderen geduldet. Demgegenüber war bis in die jüngste Gegenwart hinein die katholische Kirche der Auffassung, dass der Irrtum kein Existenzrecht habe und nur die Wahrheit, das heißt die katholische Wahrheit, Recht beanspruchen könne. Pius XII. erklärte 1953 in seiner »Toleranzansprache«, dass das, was nicht der Wahrheit entspreche, objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion habe (vgl. ebd.: 112). Das änderte sich erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Hier vollzog sich ein Wandel vom Recht der Wahrheit zum Recht der Person. Dabei wurden die Personen als mit Vernunft und freiem Willen begabt gesehen, und deshalb können und müssen sie auch ihre Religion frei wählen (vgl. ebd.: 121).9 Heute, in der nachkonziliaren Ära, gibt es auch im katholischen Christentum stärkere inklusive Auffassungen, die allen Menschen, gleich welchen Glaubens und welcher Herkunft, Menschenwürde zusprechen – vor allem mit dem Argument, dass sie alle von Gott geschaffen worden seien.10 Ebenso gibt es Strömungen, die auch den anderen Religionen die Möglichkeit eines Zugangs zur Wahrheit nicht grundsätzlich absprechen und die, wie etwa bereits 9 | Theologisch wurde das damit begründet, dass »Gottes Ruf die Menschen im Anspruch der Wahrheit und daher als Verpflichtung an das Gewissen trifft, nicht aber als (äußerer) Zwang. Gott achtet in seinem eigenen Handeln die Würde seiner Kreatur, die er als Freiheitswesen, unbedingt wollte«, so ein Konzilskommentar (zit. in Spieß 2012: 123). 10 | Was allerdings insofern problematisch sein kann, als diese Vorstellung alle Menschen als Geschöpfe eines christlichen Gottes versteht und damit den Primatanspruch fortschreibt.

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Las Casas, sich vorstellen können, dass es verschiedene Wege zu Gott gibt. Insofern können wir bezüglich des Umgangs mit Diversität heute in der Religion schematisch drei unterschiedliche Positionen unterscheiden, und zwar einen Exklusivismus im Sinne eines alleinigen Wahrheitsanspruchs. Nur die Heilsansprüche einer Religion können wahr sein: Extra Ecclesia nulla salus, so das exklusivistische Prinzip der katholischen Kirche. Daneben gibt es einen Inklusivismus, bei dem andere Glaubensweisen implizite und damit indirekte Äußerungsformen des eigenen Glaubens sein können;11 und einen Pluralismus, der Wahrheitsansprüche gleichberechtigt nebeneinander stellt und die Frage nach der einen Wahrheit für unbeantwortbar hält (vgl. Weinrich 2011: 318).12 Die Anerkennung des Anderen im Sinne des Pluralismus überwindet die Position der Toleranz, die dem Anderen nur Rechte als Erlaubnis gewährt und ihn allein aus strategischen Gründen anerkennt. Wird die andere Religion als ein ebenso gültiger Weg zur Wahrheit anerkannt wie der eigene, dann wird Toleranz zum Respekt. Diese Form der Toleranz spricht dem Anderen den Anspruch auf Wahrheit zu – auch gegen die eigenen Überzeugungen. Das bedeutet, dass die Anderen nicht nur in ihrem subjektiven Rechten respektiert, sondern dass ihre Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll geschätzt werden. Das bedarf einer gewissen Selbstrelativierung  – ohne die eigenen Orientierungen aufzugeben. Insofern setzt Toleranz ein reflexives Verhältnis zu sich selbst voraus, in dem man seinen eigenen Standpunkt relativiert und, wie Forst formuliert, die Mitte zwischen Ablehnung und Akzeptanz hält (vgl. Forst 2003: 660). Das verursacht Selbstzweifel, setzt aber auch Selbstvertrauen voraus. Es gilt die Spannung zwischen verschiedenen moralischen Polen auszuhalten. Inwiefern eine solche Position auch im Christentum theologisch begründet werden kann, dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

11 | Inklusion: Die anderen Religionen werden zwar anerkannt, aber eher als unterlegene Vorstufen und verzerrte Formen der eigenen Wahrheit, so etwa der Inklusivismus des Zweiten Vatikanischen Konzils (vgl. Schmidt 2012: 346). Der inklusive Monotheismus überwindet den Exklusivismus, er kann sich, je nach Akzentsetzung, bis hin zur Assimilation bewegen (= »innere Anverwandlung«; Übernahme der »Werte«, nicht nur gelebte Rechtstreue). 12 | Von Pluralismus sollte man nur reden, wenn zwei Bedingungen gegeben sind: a) wenn die politische Gemeinschaft Regeln für die Koexistenz rivalisierender Religionsgemeinschaften vorgibt und b) wenn die Weltbilder der beteiligten Religionsgemeinschaften die Pluralität auch verarbeiten (vgl. Kippenberg 2003: 132).

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Toleranz als Respekt: Christlicher Pluralismus Pluralität als gottgewollt Das wichtigste theologische Argument für Pluralität ist, dass die Vielfalt von Gott geschaffen wurde. Das beginnt mit der babylonischen Sprachverwirrung, mit der die Schöpfungs- und Urgeschichte endet.13 Auch das Pfingstereignis14 in der christlichen Bibel weist auf die gottgewollte Existenz von Vielfalt hin. Im Übrigen finden wir auch im Koran eine explizite Begründung für Pluralität als eine gottgewollte. Dort heißt es in Sure 5, 48: »[…] wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch will Er euch prüfen in dem, was Er euch hat zukommen lassen. So wetteifert im Guten! Zu Gott werdet ihr allesamt zurückkehren, und dann wird Er euch aufklären worüber ihr uneins wart.«

Ein prominenter Vertreter eines christlichen Pluralismus ist heute Hans Küng. Er macht seine Position am Beispiel eines der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Barths, deutlich, der, obwohl er zunächst in seiner »Kirchlichen Dogmatik« behauptet hatte, dass Christus das eine Licht sei, neben dem es kein anderes geben könne, am Ende seines langen Leben schließlich zu dem Schluss kam, dass es »neben dem einen Licht auch andere Lichter gibt, neben dem einen Wort Gottes auch noch andere Worte, neben der einen Wahrheit Gottes noch andere Wahrheiten, dass Christus weder in die Buchdeckel der Bibel noch in die Mauern der Kirche e­ ingeschlossen

13 | Gen 11, 6-9: »Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde, und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. Darum nannte man die Stadt Babel (Wirrsal), denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut.« 14 | Apg 2, 6-11: »Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden.«

12. Pluralismus in einer säkular-multireligiösen Gesellschaf t ist, weil Gott als der Gott aller Menschen auch außerhalb der Kirchenmauern wirkt« (Küng 2000: 211).

Ferner zeigt Küng, dass im Neuen Testament darauf verwiesen wird, dass auch Nicht-Juden beziehungsweise Nicht-Christen den wirklichen Gott erkennen können. So war Christus voller Freude über den Glauben einer syrophönizischen Frau und eines römischen Offiziers. Auch nahm er die suchenden Griechen freundlich auf und stellte seinen jüdischen Landsleuten den samaritanischen Häretiker als unvergessliches Beispiel der Nächstenliebe hin (vgl. ebd.: 212). Gott hat also, so seine Argumentation, sehr wohl unterschiedliche Zugänge zur Wahrheit anerkannt und damit auch gewollt. Mit diesen Beispielen weist Küng aber auch auf eine zweite Form der theologischen Begründung für Pluralität hin, nämlich die, dass die Wahrheit sich in unterschiedlichen Formen zeigen kann und dass die einzelnen Menschen jeweils einen spezifischen und damit begrenzten Zugang zu ihr haben.

Begrenzte Erkennbarkeit der Wahrheit, Wahrheit als pluriforme Paulus schreibt im 1. Korintherbrief: »Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin« (13, 12). Das heißt, der Mensch kann in seiner irdischen Begrenztheit die Wahrheit nie voll erfassen, denn für die Menschen bleiben all die Aspekte jenseits seines Gesichtskreises unsichtbar. Oder theologisch begründet: Weil das Vollendete noch kommt, kann der religiöse Glaube der Menschen nicht allumfassende Wahrheit beanspruchen, sondern sie allenfalls nur antizipativ in Anspruch nehmen. Diese Begrenztheit menschlicher Erkenntnis schlägt sich auch in einem eher pragmatischen Motiv für Toleranz nieder, dem nämlich, dass man als Mensch auch die Feinde Christi nicht mit Sicherheit erkennen könne und deshalb Gott das Urteil überlassen müsse. Dabei wurde meist auf das Gleichnis vom Unkraut (vgl. Mt 13, 24-30; 36-43) verwiesen, das zwischen dem Weizen wächst. Wenn es ausgerissen würde, könnte man möglicherweise auch den Weizen mit ausreißen. Deshalb müsse man es Gott überlassen, am Ende der Tage die Spreu vom Weizen zu trennen. Dies Gleichnis konnte jedoch solch eminente Kirchenlehrer wie Augustinus nicht daran hindern, es zu missachten, da er, wie später auch Thomas von Aquin, der Überzeugung war, er könne sehr wohl zwischen Unkraut und Weizen unterscheiden und brauche deshalb nicht auf den Jüngsten Tag zu warten, sondern könne gleich zur Tat schreiten (vgl. Schmidt-Leukel 2000: 193).15 15 | Demgegenüber lassen sich biblische Positionen anführen, die die Wahrheit als etwas verstehen, das sich in unterschiedlichen Formen konkretisiert. So heißt es bei

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Die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis verweist auf die übergreifende Wahrheit Gottes, die sich allen Menschen in unterschiedlichen Formen zeigen kann. Zusammen mit dem Argument, dass niemand darüber richten kann, was für die Anderen verbindlich sein soll, wäre dies Grundlage genug, um auch vom Christentum Toleranz zu fordern. Das wurde in seiner Geschichte – trotz der vorherrschenden Politik der Intoleranz – auch immer wieder so gesehen. So schrieb etwa Gregor VII. in Bezug auf die christlich-islamischen Beziehungen im 11. Jahrhundert an den nordafrikanischen Hammaditenfürsten An-Nasir: »Die Liebe schulden wir einander noch mehr, als wir sie den übrigen Völkern schulden, die wir doch an den Einen Gott, wenn auch gewiss in verschiedener Weise, glauben und Ihn bekennen, die wir Ihn doch als Schöpfer der Zeiten und als den Lenker dieser Welt täglich preisen und verehren. Denn so sagt der Apostel: Er ist unser Friede, der beides vereinigt hat« (zit. in Kuschel 2007: 53).

Des Weiteren bescheinigt er in dem Brief, dass die Muslime eine Praxis der Güte und Liebe pflegten, wobei der Grund dieser Liebespraxis darin bestehe, dass Gott das Gute in die Herzen aller Menschen eingesenkt und jeden Menschen erleuchtet habe. Dieser Brief sollte in den Erörterungen der katholischen Kirche zur Toleranz im Zweiten Vatikanischen Konzil eine wichtige Rolle ­spielen. In diesem Brief wird die Vielfalt nicht nur als eine von Gott gegebene, unvermeidliche Tatsache akzeptiert, sondern die Vielfalt wird als konstitutiv für die Erkenntnis von Wahrheit begriffen. Demnach wäre die Existenz anderer Positionen nicht nur unvermeidlich, sondern sogar sinnvoll und hilfreich für das Verstehen dessen, was Wahrheit bedeuten könnte. Das würde heißen, dass es gut ist, dass Menschen unterschiedliche Auffassungen haben. So ist etwa auch die berühmte Ringparabel von Lessing zu verstehen – allerdings nicht in Bezug auf die erkenntnistheoretische, sondern auf die pragmatische Ebene: Es ist gut, dass es verschiedene Religionen gibt, damit sie miteinander wetteifern; und diejenige Religion, die das Gute am besten zu ver-

Paulus im Römerbrief (2,14-16): »Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie beweisen damit, dass in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert, zumal ihr Gewissen es ihnen bezeugt, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen – an dem Tag, an dem Gott das Verborgene der Menschen durch Christus Jesus richten wird, wie es mein Evangelium bezeugt.«

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wirklichen vermag, wird sich als die wahre herausstellen.16 Mit diesem Pluralismus wird der eigene Wahrheitsanspruch vom Geltungsanspruch gelöst: Es gibt etwas, das für uns unbedingt gilt, nicht jedoch für die anderen. Der Wahrheit kommt zwar eine transzendente Wirklichkeit zu, sie manifestiert sich aber in unterschiedlichen Religionen. Insofern müsste die Pluralität von Religionen gefördert und allen dieselbe Chance zur Entfaltung gegeben werden. Es gibt also verschiedene Akzente bei der Akzeptanz von Pluralismus: Zum einen wird die Pluralität aufgrund der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis als unvermeidlich angesehen und deshalb nolens volens hingenommen; zum anderen gilt sie aber als gottgewollt und kann deshalb auch produktiv sein. So kann sie zum Wettstreit um das Richtige oder das Beste anregen, das sich erst am Ende, das heißt am Jüngsten Tag, zeigen wird (vgl. Forst 2003: 104). Gleichwohl gibt es aber auch Grenzen der Toleranz, ist der Gläubige doch auch verpflichtet, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Insofern erfordert diese Toleranz die Fähigkeit zu einem differenzierten Ja und Nein, wie Forst formuliert. Denn zu dieser Toleranz gehört es erstens, die »Differenz deutlich festzustellen und zu behaupten und zweitens dennoch Gründe zu beachten, die gegen eine nicht zu rechtfertigende Unterdrückung des Anderen sprechen. Dies ist es«, so fährt er fort, »was die Toleranz zu einem Akt der Freiheit und der inneren Stärke macht: der freien Selbstbeschränkung und zu einem Teil auch Selbstüberwindung aus moralischen Motiven […] ohne dabei seine tiefsten Überzeugungen aufzugeben« (ebd.: 512).

Das heißt aber auch, dass Toleranz begrenzt sein muss, denn wenn man alles akzeptieren würde, wäre das nicht mehr Toleranz, sondern Gleichgültigkeit oder aber Selbstverleugnung. Allerdings muss die Grenzziehung gut begründet sein, denn eine Zurückweisung ohne gute Gründe ist wiederum nichts anders als Intoleranz.17 Um die Grenzen der Toleranz auszuloten, ist es notwendig, miteinander ins Gespräch zu kommen und gegenseitig Argumente vortragen zu können. Das heißt, es müssen jeweils für den Anderen einsichtige Gründe für das eigene Verhalten und die eigene Überzeugung angeführt werden. Dabei bleiben sich gegenseitig ausschließende Geltungsansprüche bestehen, aber sie sollen dem jeweils Anderen gegenüber plausibel, verständlich und nachvollziehbar 16 | Hier geht es vor allem um einen friedlichen Wettstreit im Vertrauen auf die Humanität aller dreier Religionen (vgl. Walter Sparn zit. in Nehring 2008: 220). 17 | Die Begründung muss sich nach Forst am Vorrang einer Moral der individuellen Würde und der Wechselseitigkeit messen lassen und an der Möglichkeit, dass es auch in religiösen Dingen »vernünftige Differenzen« geben kann (vgl. ebd. 524).

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gemacht werden. Bei einer solchen Auseinandersetzung um Wahrheitsansprüche geht es um gegenseitige Verständigung, nicht um Rechtfertigung oder Überzeugung. Auf dieser Basis lässt sich dann auch klären, wann und inwiefern die Religionsgemeinschaften miteinander kooperieren und die teilweise gemeinsamen Interessen auch in der Gesellschaft gemeinsam verteidigen können und wo jede ihren Weg gehen will und muss.18 Toleranz, als Medium eines produktiven, für alle Beteiligten gewinnbringenden Zusammenlebens, steht bestenfalls am Ende solcher Dialoge oder Auseinandersetzungen. Notwendig hierfür ist nicht nur eine gegenseitige Plausibilisierung der verschiedenen Wahrheitsansprüche, sondern – angesichts der asymmetrischen Verhältnisse – vor allem auch ein symbolischer Machtverzicht der dominanten Seite; wenngleich gegenseitiger Respekt grundsätzlich die Relativierung der eigenen Positionen von beiden Seiten verlangt. Machtverzicht bedeutet im Fall interreligiöser Auseinandersetzungen, den Anspruch auf alleinige Deutungshoheit aufzugeben. Das bezieht sich nicht nur auf die Position gegenüber der anderen Religion, sondern auch auf das Verständnis des Christentums selbst. Bisher wurde unterstellt, es sei unstrittig, was unter »dem« Christentum zu verstehen ist, insbesondere im Dialog mit anderen Religionen. Das ist aber keineswegs der Fall. Vielmehr gibt es eine Pluralität von Interpretationen. Und diese vervielfältigen sich umso mehr, je mehr das Christentum unterschiedliche Kulturen mit einbezieht. Auch hier ist Toleranz gefragt. Und es ist anzunehmen, dass die Toleranz nach »innen« genauso wichtig für das friedliche Zusammenleben in einer globalen und pluralisierten Welt ist wie die Toleranz nach »außen«. Wer bestimmt darüber, was unter dem Christentum zu verstehen ist? Ist es alleine, wie im Falle der katholischen Kirche, die Autorität in Rom und im Fall der deutschen Protestanten die EKD oder ist Kirche nicht das Gesamt ihrer Mitglieder? Die feministische Theologie hat gezeigt, dass ganz andere Interpretationen als die vorherrschenden möglich und notwendig sind. Ebenso kämpft die postkoloniale Theologie für die gleichberechtigte Sichtweise der Menschen aus außereuropäischen Regionen und deckt damit auch den Eurozentrismus der bisher als universal geltenden Positionen auf. Diese Debatten machen nicht nur den Zusammenhang zwischen Macht und Theologie deutlich, sondern sie können auch als beispielgebend für die säkularen Auseinandersetzungen um eine eurozentrische Diskurshoheit gelten.

18 | Siehe dazu beispielsweise das Konzept des philosophisch/theologischen Dialogs zur Verständigung über Wahrheitsansprüche im »dialogischen Journalismus« (Hafez 2013: 319).

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P ostkoloniale H er ausforderungen : C hristentum und E urozentrismus »Das« westliche Christentum ist aus Wechselwirkungen mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Philosophien entstanden und hat historisch viele Wandlungen durchgemacht, je nachdem in welcher Kultur es Eingang gefunden hat. Es gibt kein abstraktes, wahres Christentum jenseits von Kultur. Dafür ist die Entstehungszeit des Christentums das beste Beispiel: Von einer jüdischen Sekte verwandelte es sich in ein hellenistisch geprägte Religion und schließlich in die Staatsreligion des römischen Reiches. Damit wandelten sich aber auch, wie wir sahen (Kap. 2), seine Glaubensinhalte, seine Riten und Praxen sowie die Formen seiner Institutionalisierung. Wir hatten zum Beispiel erwähnt, dass aus Jesus dem guten Hirten im Zuge dieser Entwicklung immer mehr ein Weltenherrscher (Pantokrator) wurde. Auch veränderte sich die christliche Lehre nach dem Niedergang des römischen Reichs, als es sich zunehmend auf die mittel- und nordeuropäischen Völker konzentrierte und dabei viele von deren Vorstellungen und Riten in sich aufnahm. Deutlich trat die Kulturgebundenheit der christlichen Religion auch in der Ära des Kolonialismus hervor, als das Christentum weitgehend mit der westlichen Zivilisation gleichgesetzt wurde. Die christlichen Missionare verstanden sich als die eigentlichen Vermittler der westlichen Kultur und wurden auch so von den Anderen wahrgenommen. Deshalb wurde ein nicht-europäisches Christentum auch nicht als eigentliches Christentum verstanden. In der heutigen Zeit sehen wir die kulturellen Wandlungen der christlichen Lehre in Europa zum Beispiel in dem eklatanten Bedeutungsverlust von Hölle, Fegefeuer und ewigen Strafen. So hat sich das Verständnis dessen, was Religion bedeutet, im Rahmen der Geschichte des lateinischen Christentums in Wechselwirkung mit den unterschiedlichen Kulturen und politischen Systemen erheblich gewandelt. Und in Zukunft wird das Christentum noch pluraler werden, da die Mehrheit der Christen im Süden der Erde lebt und längst nicht mehr belehrt werden will, sondern Mitsprache einfordert. Insofern fragt sich, wie und in welcher Hinsicht kann man das Christentum überhaupt mit Europa identifizieren?

Eurozentrismus im Christentum Es scheint selbstverständlich zu sein, dass die europäische Kultur auf der hebräischen und christlichen Bibel und der griechisch-römischen Antike beruht. Aber das Judentum und das Christentum entstanden nicht in Europa, sondern in den Regionen Vorderasiens und Nordafrikas. Die Mittelmeerregion war das Zentrum der Antike und damit die Anfänge des Christentums und nicht Europa. Augustinus, der wichtigste Kirchenlehrer des römischen Christentums,

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kam aus der Region des heutigen Algeriens, und Paulus würde heute als Türke bezeichnet werden. Das Christentum ist nach heutigem geographischem Verständnis ein Import aus Asien und Afrika nach Europa. Antonius, der für die Entwicklung des Mönchstums so entscheidend war, lebte in Ägypten. Das heißt, dass die Zentren Alexandria und Karthago oder das syrische Aleppo und Antiochien in den ersten Jahrhunderten des Christentums ebenso bedeutsam waren wie Rom und Mailand. Von europäischen Wurzeln des Christentums kann also keine Rede sein. Vielmehr zeigt sich in dieser Vorstellung eine Rückprojektion der mittelalterlichen und neuzeitlichen Situation auf dessen Vorgeschichte. Damit wird versucht die Idee aufrechtzuerhalten, dass Europa immer schon das Zentrum des Christentums gewesen sei und sich von hier aus in die ganze Welt ausgebreitet habe. Dies ist auch deshalb unangemessen, weil das westliche Christentum nicht das einzige, sondern nur eine Variante der bestehenden Christentümer darstellt. Bereits die uns überlieferte Apostelgeschichte bezieht sich lediglich auf die Missionen in den westlichen Regionen, während über die christlichen Missionen in Syrien, in den Gebieten östlich des Euphrats, das heißt im gesamten persischen Reich bis an die Grenzen Indiens und China nicht berichtet und damit die Ausbreitung des Christentums nach Osten völlig ignoriert wird.19 Dieser Eurozentrismus im Verständnis »des« Christentums verzerrt nicht nur die eigene Geschichte im Interesse einer europäischen Identitätsabsicherung, sondern er versperrt den Nicht-EuropäerInnen die Chance, ein für sie authentisches Christentum zu entwickeln. Das wird auch deutlich, wenn man die bildliche Vorstellungswelt einbezieht. So fragt etwa die aus Honkong gebürtige US-amerikanische Theologin, Kwok Pui-Lan, warum sah der Jesus, den die Missionare mit sich brachten, blond, weiß und blauäugig aus und nicht wie ein Jude aus Vorderasien? Und weiter fragt sie: Und was bewirkt ein solcher »arischer Christus« bei den Menschen außerhalb Europas und bei den Anderen in Europa? (vgl. Kwok Pui-Lan 2005: 169) Umgekehrt fragt sich, wie

19 | Das Christentum hatte sich ja nicht nur nach Griechenland und Rom und später in den Norden des europäischen Kontinents ausgebreitet, sondern auch nach Nordafrika, Ägypten und Äthiopien sowie im Osten über Syrien bis hin nach Indien und China (vgl. Sugirtharajah 2013b: 135ff.). Interessant ist in dem Zusammenhang, dass es im Christentum auch buddhistische Wurzeln zu geben scheint. Denn die Buddhisten schickten ihre Emissäre in den ersten Jahrhunderten u.Z. in die Mittelmeerregion. Sie haben dort zwar nicht missioniert, aber ihre Lehren verbreitet. Vor allem ihre ethischen Konzepte haben die philosophischen Systeme, insbesondere die der Stoa, beeinflusst und damit auch die des Christentums (vgl. auch Stearns 2000: 13; Gantke 2008: 59ff.).

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reagieren die Europäer auf einen »schwarzen Christus« oder auf eine »weibliche Christa«?20 Die kulturelle Situiertheit religiöser Inhalte und Symbole zeigt sich auch bei der Frage der Übersetzung, denn in die Sprache sind kulturelle Vorstellungen eingebunden, die durch eine Übersetzung nicht einfach neutralisiert werden können. So bedeutet der Begriff »Gott« etwa bei den Kuna Vater und Mutter, und ihr »Gott« kann nur als vollkommen vorgestellt werden, wenn der männliche Gott sich auf eine weibliche Göttin bezieht und umgekehrt. Ein rein männlicher Gott ist für sie nicht vorstellbar (vgl. Chamorro 2007: 216).21 Insofern stellt sich die Frage, wie sieht ein Christentum aus, das allen Menschen gerecht wird, die sich als Christen bezeichnen. Um dieser Frage nachzugehen, rufen seit einigen Jahrzehnten TheologInnen aus aller Welt zu einem globalen Dialog auf.22 Dabei war für die Wendung hin zu den Menschen und ihrem Verständnis von Religion für die katholische Theologie vor allem das Zweite Vatikanische Konzil entscheidend, das festlegte, dass die Christen in der Lage sein sollten, die Liturgie zu verstehen und aktiv an ihr teilzuhaben (Art 21 zit. in Küster 1999: 23). Alle sind aufgerufen ihr Religionsverständnis zu formulieren  – was auch bedeutet, dass es sich je nach sozial-kulturellem Kontext der Beteiligten ständig wandelt. Wobei es in der postkolonialen Theologie vor allem darum geht, diejenigen Menschen zum Sprechen zu bringen, die bisher nicht gehört wurden, wie etwa die Dalits in Indien, die MigrantInnen in den Metropolen, die Indigenen, die Menschen in der Diaspora und besonders die Frauen in diesen verschiedenen Communities. So fragt etwa Kwok Pui-Lan in ihren theologischen Betrachtungen: Kann ich als Asiatin auch Christin sein (vgl. Kwok Pui-Lan 2005: 38)? Ist dies ein Widerspruch, und wenn ja, worin liegt er? Dabei geht sie davon aus, dass das Lesen der Bibel für AsiatInnen nicht so »natürlich« sei wie etwa die Lektüre 20 | Dazu schreibt etwa Marcella Althaus Reed: »Der schwarze Christus der Schwarzen Theologie provozierte, weil er den Rassismus aufdeckte, der im weißen Jesus verborgen ist. […] Die weibliche ›Christa‹ ist eine weitere Obszönität. Sie entblößt die Maskulinität Gottes« (168). 21 | Eine andere Inkompatibilität zeigte sich darin, dass viele Inder nicht an die heilige Kommunion glaubten, sich nicht an den Gedanken gewöhnten, Jesu Leib und Blut zu verzehren, da sie Vegetarier waren (vgl. ebd.: 172). 22 | Erinnert sei hier an das Pauluswort: »In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller; dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem andern wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist; einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen« (1 Kor 12, 7-10).

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der Veden für InderInnen. Deshalb versucht sie nun biblische und asiatische Traditionen miteinander dialogisch zu verweben. Die christliche Bibel ist ihrer Meinung nach nicht mehr nur mit jüdischen und hellenistischen Texten in Beziehung zu setzen, sondern mit vielen anderen Texten in dieser Welt. Wahrheit lässt sich auch in anderen Kulturen und Religionen finden, und deshalb muss sie immer wieder kontextuell ausgehandelt werden. Bisher geschahen solche »Indigenisierungen« meist im Zusammenhang mit elitären Kulturen innerhalb Asiens, während Kwok Pui-Lan vor allem mit feministisch orientierten asiatischen Theologinnen vor allem den Dialog mit den Volkskulturen sucht (vgl. ebd.: 39).23 Mit der postkolonialen Theologie wird also die eurozentristische christliche Lehre von der Peripherie gegenlesen. So wird das Christentum mit dieser Indigenisierung24, d.h. der Einbettung in nicht-europäische Kulturen, pluralisiert.

Pluralisierung des Christentums: Postkoloniale Theologie Heute machen sich viele ChristInnen in Afrika, Asien und Lateinamerika von den eurozentrischen Großkirchen unabhängig. Denn wie der aus dem Kongo stammende Bonner Fundamentaltheologe Claude Ozankom am Beispiel Afrikas beschreibt, hat dort die Allianz von Evangelisierung und Kolonialisierung einerseits dazu geführt, dass das Christentum als Religion der Kolonisatoren schroff abgelehnt wird, andererseits gab es aber auch von Anfang an eine breite Strömung, die der Auffassung war, dass die christliche Botschaft nicht mit der identisch sein müsse, die die europäischen Missionare vermittelten. Deshalb haben sich Gruppen von Christen das Evangelium auf ihre Weise angeeignet. Entsprechende Entwicklungen werden auch für Lateinamerika beschrieben: Dort gibt es diejenigen, die das Christentum als koloniale Religion grundsätzlich ablehnen und ihre religiösen Wurzeln in der vorkolonialen Vergangenheit suchen, und solche, die eine Synthese zwischen überkommenen und christlichen Formen der Religiosität suchen (vgl. Irarrazaval 2007). Sowohl bei den Indios wie auch bei den Afro-LateinamerikanerInnen lebten trotz weitgehender Christianisierung die ursprünglichen Religionen über die Jahrhunderte weiter fort. Auch entwickelten sich im Laufe dieser Zeit neue Formen der Religiosität, die helfen sollten, das Trauma der Kolonisierung 23 | Ihrer Meinung nach hat die unheilige Allianz von Kapitalismus, Patriarchat und Neo-Konfuzianismus in Asien u.a. dazu geführt, dass die Wirtschaft in die Hände einer Oligarchie alter Männer geraten ist, bei denen vor allem die Frauen die flexible und am schlechtesten bezahlte Arbeitskraft für das globale Ökonomie darstellen. Diese Machtposition der Männer schlägt sich auch in der Theologie und ihren »Dialogen« nieder. 24 | Andere Begriffe, die in diesem Zusammenhang verwendet werden sind »Inkulturation«, »Akkommodation«, »Übersetzung« oder »Kontextualisierung«.

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und Deportierung zu verarbeiten. Damit lässt sich möglicherweise auch das Paradox erklären, dass die christliche Mission nicht nur zu einer Übernahme des Christentums, sondern auch zu einer Revitalisierung der ansässigen Religionen geführt hat. Diese erlebten etwa auch in Indien in der Auseinandersetzung mit dem Christentum und der westlichen Moderne eine starke Renaissance (vgl. Küster 2011: 43). Ein beredtes Zeugnis für die eigenständige, schöpferische Aneignung des Christentums legen in Afrika die sogenannten »Afrikanischen Unabhängigen Kirchen« (AUK) ab. Bei ihnen vermischt sich vielfach der Heiligenkult der christlichen Kirchen mit dem herkömmlichen Ahnenkult, beziehungsweise das eine wird mit dem anderen gleichgesetzt. Sie sehen keine Probleme, »ihren« Gott sowohl als einen ihrer Ahnen wie auch als den der Bibel zu begreifen und die verstorbenen Ahnen ebenso wie die der christlichen Heiligen um Beistand anzurufen (Ozankom 2008: 140, 146). Diese Kirchen mit ihrer hybriden Theologie verstehen oft nicht, dass das europäische Christentum auf einer klaren Unterscheidung zwischen christlicher und nicht-christlicher Religiosität besteht. Nach einer »Reinheit des Glaubens« zu suchen, bedeute nur, seine Zeit zu verschwenden.25 Auch in Asien kommen viele mit der europäisch-christlichen Ausschließlichkeit nicht zurecht. Zum Beispiel gehen die hinduistischen Lehren davon aus, dass Jesus ein Gott unter vielen ist und dass er sich nicht nur in einer einmaligen Weise den Menschen offenbart hat (vgl. Gantke 2008: 54). In Japan ist es üblich, sich mehreren Religion gleichzeitig zugehörig zu fühlen. So formuliert Eiko Kawamura: »Die einzige Religion, die weniger auf Harmonie als auf Unterscheidung hingewirkt hat, ist das Christentum. Doch selbst dieses verliert inzwischen immer mehr seinen exklusiven Charakter« (Kawamura-Hanaoka in Gephart und Waldenfels 1999: 192). Die Suche nach einer doktrinären Reinheit scheint also durchaus ein Spezifikum des Westens zu sein, basierend auf dem Bestreben, den Zugang zur Wahrheit zu monopolisieren. Aber ein monokulturelles oder kulturfreies Christentum gibt es nicht. Kernanliegen der postkolonialen Theologie ist es, die christlichen Texte von der Peripherie her zu lesen. So macht es nach Musa W. Dube, Theologieprofessorin an der Universität Botswana (Südafrika), einen Unterschied, ob man die Bibel aus einer imperialen Position oder einer der kolonial Unterworfenen liest (Dube 2000). Denn es geht nicht mehr allein um die Botschaft der Sender, also der europäischen Missionare, sondern auch um die Bedeutung, die sie für die EmpfängerInnen hatte und hat. Insofern liest sie diese Texte 25 | So heißt es in einem Dokument der »Teología india« (1992): »Ist die Kuna-Tradition Kuna oder auch christlich? Dieses Problem stellt sich den Indianern und Indianerinnen nicht. […] Sich auf die Suche nach der Reinheit der Kultur zu begeben heißt, seine Zeit zu verschwenden und die Evolution des Volkes abzulehnen« (zit. in Chamorro 2007: 198).

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in Korrespondenz zu imperialistischen und kolonialen, zu patriarchalen wie feministischen Texten. Wir waren in Kap. 4 bereits auf ihre Interpretation der Geschichte des Exodus eingegangen. Dabei zeigt sie, dass es bei dieser Geschichte um den Auszug des israelischen Volkes aus Ägypten nicht allein um eine Geschichte der Befreiung geht, sondern dass diese Geschichte auch aus der Perspektive der »Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter« gelesen werden kann, also der Völker, die zuvor im »verheißenen Land« lebten. Dann wird diese Geschichte auch eine Geschichte der imperialen Eroberung, der Vertreibung und Ermordung.26 Deshalb stellt Dube diese Erzählung in den Kontext von imperialistischen Texten wie der »Aeneis« von Vergil oder des »White Man’s Burden« von Rudyard Kipling und »Das Herz der Finsternis« von Joseph Conrad, also Texten von Landnahme, Vertreibung und imperialer Herrschaft. In diesen Kontext gestellt, bekommt die Geschichte des Exodus auch die Bedeutung, dass das ehemals versklavte Israel aufgrund seiner erduldeten Leiden ein Anrecht darauf erworben hat, zum Täter zu werden (vgl. ebd.: 60). Auch andere postkoloniale TheologInnen setzen an der Geschichte des Exodus an – vor allem weil gerade diese Erzählung für viele antikoloniale Befreiungsbewegungen zentral war und heute noch im Zentrum der lateinamerikanischen Befreiungstheologie steht. So fragt etwa der britische Religionswissenschaftler R.S. Sugirtharajah: »Wie viele waren gezwungen, aus ihrem Land auszuwandern und einen ›umgekehrten Exodus‹ (Robert Allen Warrior) anzutreten, um denen Platz zu machen, die sich ihrerseits aus der Sklaverei befreiten? Gott ist derjenige, der Israel emanzipiert, aber während er das tut, zerstört er Ägypter und Kanaaniter« (Sugirtharajah 2013a: 65).

Weitere Beispiele dafür, wie die Bibel imperiale wie auch patriarchale Tendenzen unterstützt, gibt Dube in ihrer Analyse etwa des Umgangs Jesu mit einer kanaanitischen Frau. Sie bittet ihn um die Heilung ihrer Tochter. Jesus weist sie als »heidnische Frau« zurück, da er nur zu den Kindern Israels gekommen sei. Die Juden seien »Kinder«, die es verdienen am Tisch zu sitzen und Brot zu 26 | Dazu heißt es in Exodus 3,8: »Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter.« Und weiter in Exodus 23, 23f.: »Wenn mein Engel dir vorausgeht und dich in das Land der Amoriter, Hetiter, Perisiter, Kanaaniter, Hiwiter und Jebusiter führt und wenn ich sie verschwinden lasse, dann sollst du dich vor ihren Göttern nicht niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Du sollst keine Kultgegenstände herstellen wie sie, sondern sie zerstören und ihre Steinmale zerschlagen.«

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teilen, während die kanaanitische Frau zu den Hunden gehöre, die lediglich die Krumen essen dürften, die vom Tisch fallen.27 Weitere markante Beispiele für die imperialen Traditionen im Christentum liefern seine Rechtfertigungen der Sklaverei (vgl. Kap 10). Insofern ist Jesus nach Kwok Pui-Lan ein »hybrides Konzept«: Er ist Eroberer und Diener, göttlich und menschlich, historisch und kosmologisch, Jude und hellenistisch, prophetisch und sakramental, der Gott der Eroberer und der Gott der Erniedrigten und der Schwachen (Kwok Pui-Lan 2005: 171). Diese Hybridität stellt sie gegen ein monomanisches, privilegiertes Verständnis von Christus. Das bedeutet, dass die Geschichte der Bibel-Interpretation nicht bestimmte Traditionen priorisieren darf und deshalb unter der Perspektive einer »Hermeneutik des Verdachts« immer wieder neu gegen den Strich gelesen werden muss. Die entscheidende Frage dabei ist, wem steht es zu zu beurteilen, was die Wahrheit ist, und wer setzt die Kategorien fest, nach denen etwas bewertet wird. Denn es ist die Sache der Menschen, die zu einer bestimmten Kultur gehören, zu beurteilen, was sie als glaubwürdig und für sich selbst hilfreich erachten. Insofern geht es um die Herstellung einer kommunikativen Chancengleichheit.28 Der Bibeltext wird nun fließend, offen für ständige Neu-Interpretationen je nach den sich verändernden Kontexten und historischen Umständen.29 Pluralisierung des Christentums bedeutet also, 27 | Die kanaanitische Frau bat Jesus um Heilung ihrer Tochter, die von einem Dämon gequält wurde. Er reagierte nicht, und erst als die Jünger ihn darum baten, da die Frau so schreie, sagte Jesus: »Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Doch die Frau kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! Er erwiderte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen. Da entgegnete sie: Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt« (Mt 15, 21-28). Aber auch die Aufforderung »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« (Mt 22, 21) interpretiert Dube in einem postkolonialen Kontext kritisch, denn hier geht das Christentum einen Bund mit dem römischen Imperator, einer imperialen Macht ein (vgl. 2000: 133). 28 | Das Christentum ist nicht mehr durch eine klare Grenze markiert, schon gar nicht durch eine eindeutig kulturelle oder regionale Grenze. Deshalb sind die Grenzen zwischen christlichen und nichtchristlichen Lebensweisen fließend. 29 | In diesem Sinn kann man auch von einer kontextuellen Theologie (vgl. Küster 2011) sprechen, die genau diesen unterschiedlichen Sinninterpretationen nachgeht. Jeder Text ist das Resultat einer Wechselwirkung zwischen Autorin und Leserin. Beide stehen in einem jeweils spezifischen Kontext. In der Korrespondenz dieser Kontexte müssen Wahrheitsansprüche entwickelt werden. Aus der Textperspektive ist die Frage zu stellen, bleibt die neu entwickelte Interpretation evangeliumsgemäß, während aus

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diese unterschiedlichen Perspektiven anzuerkennen. Man müsse sich, so Sugirtharajah, an eine Vielfalt der Sprachen, eine »Heteroglossie« gewöhnen, wolle man den unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksweisen gerecht werden (vgl. Sugirtharajah 2013: 170). Nur so transportiert man nicht einfach die Geschichte des kolonialen Christus weiter. Deshalb müssen auch diejenigen, die die Bibel als einen Text der Befreiung lesen wollen, die Grenzen ihrer bisheriger Interpretationen überschreiten, indem sie »über Texte, über Gender, über Rassen, über Kulturen, über Klassen, über Ethnien, über Nationen, über sexuelle Orientierungen hinaus mit den Anderen verhandeln« (Dube 2000: 108). Nur so könne die postkoloniale Theologie die totalisierenden Formen westlicher Interpretationen herausfordern und die mit diesen verbundenen imperialen Interessen sichtbar machen. Darin besteht auch der Kern ihrer Kritik an der Befreiungstheologie. Postkoloniale TheologInnen wie Sugirtharajah erkennen zwar an, dass diese versuchen, die Bibel aus der Sicht der Armen und Marginalisierten zu lesen, ihr Vorwurf ist jedoch, dass sie nicht gleichzeitig die imperialen Traditionen im Christentum aufzeigen. Während die Befreiungstheologie den Eindruck erweckt, dass Befreiung der Bibel inhärent sei, ist die Bibel jedoch ein hybrider, ein ambivalenter und unsicherer Text (Sugirtharajah, 2013a: 66; 2013b: 126ff.). So ist der leidende Christus zwar zum einen ein Identifikationsangebot für die unterdrückte Bevölkerung, zum anderen aber ist er auch der Herrscher, der Pantokrator, der die ganze Welt seiner Lehre untertan machen möchte. Dementsprechend haben sich Könige und Kolonisatoren als sein Stellvertreter auf Erden verstanden, vor denen die »Heiden« ihre Knie zu beugen hatten. Die Befreiungstheologie führe, so ihre Kritiker, diese imperialen Intentionen unbewusst fort, sofern sie diese unsichtbar macht und somit die Unterdrückten mit der herrschende Kirche versöhnt (vgl. Küster 1999: 42). Demgegenüber will, analog der postkolonialen Theologie, auch die feministische Theologie die Ambivalenz des Machtbezugs in der Bibel herausarbeiten, also sowohl den Beitrag der Frauen im Christentum als auch den Beitrag des Christentums zur Unterdrückung der Frauen. Die patriarchale Erblast des Christentums besteht in der jahrhundertealten Tradition, die Frauen als das Geschlecht anzusehen, das als das zweite geschaffen wurde mit dem Auftrag dem ersten Menschen, dem Mann, eine Gefährtin zu sein. Zudem sei es Eva gewesen, die die Sünde in die Welt gebracht habe. Paulus zog aus der Sündhaftigkeit und Zweitrangigkeit der Frau die Konsequenz, dass sie in der Kirche zu der LeserInnenperspektive zu fragen ist, inwiefern kann das Evangelium in ihrem Kontext relevant werden. Entgegen der Vorstellung, dass die christliche Lehre auf unumstößlichen Dogmen basiere, geht dies Konzept von »generativen Themen« aus, die wie ein loses Gewebe die christlichen Traditionen strukturieren und zusammenhalten (vgl. ebd.: 61).

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schweigen habe (vgl. 1 Kor 14,34 und 1 Tim 2,12-14). Verheiratete Frauen sollten ihren Ehemännern untertan sein (vgl. Eph 5,22-24). Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche weitere Stellen im Neuen Testament, in denen die Frauen zum Schweigen gebracht, ihre Aussagen vergessen und sie in eine zweitrangige Position gedrängt werden (vgl. zusammenfassend Japinga 1999: 38f.). Allerdings hatte Paulus auch die Führerschaft von Priscilla, Phoebe, Junia, Euodia und Syntychne in den frühen christlichen Gemeinden anerkannt (vgl. Röm 16,1-24; Phl 4, 2).

Befreiungstheologie In Lateinamerika wurde in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die sogenannte »Befreiungstheologie« entwickelt. Sie legt ihren Schwerpunkt vor allem auf die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Sie war ein Protest gegen ein Gesellschafts- und Weltverständnis nach europäischem Maßstab. Entgegen den ewigen Versprechen auf »Entwicklung« wurde immer deutlicher, dass die Weltbevölkerung sich immer weiter in Arme und Reiche teilen würde, dass Armut dem westlichen Wirtschaftsmodell immanent ist und in erster Linie die ehemals kolonisierten Länder betrifft. Die Versammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín (Kolumbien) 1968 war ein Fanal, das sich mit aller Vehemenz gegen die anhaltende und fortschreitende Verarmung, Enteignung und Entfremdung der Mehrheit der Bevölkerung in Lateinamerika wandte. Sie prangerten Unrecht und Gewalt an und sahen in Armut und Marginalisierung einer Form der institutionalisierten Gewalt, eine »soziale Sünde«. Sie riefen Priester und Gläubige dazu auf, sich für das Kommen des Reiches Gottes bereits auf dieser Erde einzusetzen und den Erlösungsgedanken auch als einen weltlichen zu begreifen. Wie können wir Menschen, die tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen, glaubwürdig vermitteln, dass Gott sie liebt, fragten sie. Der Aufruf zum sozialen Protest hatte auch eine innerkirchliche Dimension: Die katholische Kirche hatte in Lateinamerika immer mehr an Überzeugungskraft verloren und litt unter Priestermangel und rief nun zu einer »neuen Evangelisierung« auf. Die Theologie sollte sich mehr an dem wirklichen Leben der Menschen orientieren, sie sollte sich nicht allein auf eine Innerlichkeit zurückziehen, sondern die Lebensumstände der Menschen zum Thema machen. Es gelte, und das war eine entscheidende Losung, »von der Peripherie her zu denken« (Leonardo Boff). »Aus dem durch Medellín eingeleiteten Prozess der Entkolonialisierung und dem Mut, sich mit eigenen Augen zu sehen, ist die Arbeitsmethode: ›Sehen – Urteilen – Handeln‹ entstanden« (Suess 2007: 230). Die Entschließung von Medellín hatte eine epochale Wirkung. Zahlreiche »Basisgemeinden« wurden gegründet, Orte, an denen sich Arme und Landlose, Revolutionäre und Priester trafen und ihre Erfahrungen und Sichteisen

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austauschten. Dabei war das Revolutionäre dieser Neuen Theologie ihre Weltzugewandtheit, die Politisierung der Kirche, die das Unrecht der Armut aufheben möchte. Armut wurde dabei als vielschichtig verstanden, als Mangel an Nahrung, angemessenem Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Partizipation. Armut bedeutet auch, nicht gehört und gesellschaftlich an den Rand gedrängt zu werden, keine Wahl zu haben. Deshalb galt es nun eine »vorrangige Option für die Armen« durchzusetzen.30 Die Befreiungstheologie war zu jener Zeit stark vom Marxismus beeinflusst  – die christliche Dimension zeigte sich bei aller fundierten Gesellschaftsanalyse in der Moralisierung der Thematik, etwa indem die Ursache für die große Not der Armen im Egoismus und Konsumismus der wohlhabenden Menschen, ihrem oft individualistischen statt gemeinschaftsorientierten Glauben gesehen und nun von ihnen Brüderlichkeit und Solidarität eingefordert wurden.31 Motiv für das soziale Engagement sollte die Liebe Gottes, als Ursprung aller Mitmenschlichkeit, sein. Auch sahen die Anhänger den spezifischen Beitrag der Kirche in ihrer Aufgeschlossenheit für Erlösung und Befreiung (vgl. Beozzo 2007: 45). Diese geforderte Neuausrichtung der Kirche stieß jedoch in der Kirche umgehend auf Widerstand, vor allem von Seiten des Vatikans. In der Folgezeit gab es Sprechverbote, Versetzungen, innerkirchliche Prüfverfahren und Zurechtweisungen. Nach dem brasilianischen Theologieprofessor Paulo Suess währte der Traum von der Befreiung nur einen kurzen Augenblick (vgl. Suess 2007: 233). »Im Kontrast zu einer über 400-jährigen Kolonialkirche in Lateinamerika bedeutet Medellín […] den gelungenen Versuch, aus der innerkirchlichen Unmündigkeit einer von ihrer kolonialen Vergangenheit geprägten Missionskirche auszubrechen« (ebd.: 229). Bei der Folgekonferenz in Santo Domingo (Dominikanische Republik) 1992 war kaum mehr von »Befreiung«, sondern 30 | »Armut hat verschiedene Gesichter: ökonomische, rassische, geschlechtliche (Frauen sind ärmer als Männer), kulturelle«, so einer der wichtigsten Theoretiker von Medellín, Gustavo Gutiérrez (in Schreijäck 2007: 62). 31 | »Eine neue Form des Kolonialismus ist entstanden«, so etwa der brasilianische Kardinal Aloísio Lorscheider, »die das eigene Reich, die eigne Vorherrschaft, den eigenen Lebensgenuss garantieren soll, eine ungeheuer egoistische, anti-geschwisterliche, anti-evangelische Mentalität, die dem anderen keinerlei Respekt entgegen bringt. Das Zusammenleben der Menschen wird vom Gesetz des Dschungels regiert. […] Die prophetische, vorrangige und solidarische Option für die Armen meint jedoch nicht, sich für einen und gegen die anderen zu entscheiden. Sie ist kein Klassenkampf. Es handelt sich vielmehr um die Wahl der einen zugunsten der andern. Geschwisterlichkeit und gegenseitiger Respekt kennzeichnen diese Option« (Lorscheider 2007: 19f.).

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vielmehr von »Kultur« die Rede. Es gelte die Differenzen  – vor allem in Bezug auf die spezifische Religiosität der Afro-LateinamerikanerInnen und der Indios – zu sehen und diese anzuerkennen. Diese Themenverlagerung wurde ambivalent beurteilt: Die einen sahen in ihr in erster Linie das Scheitern des Befreiungsanspruchs und eine Entpolitisierung im Sinne einer postmodernen Feier der Differenz, während die anderen darin einen notwendigen Schritt der Differenzierung ausmachten, der vor allem auch die Rechte der kulturell Marginalisierten anerkenne. So bekannte man sich in Santo Domingo zum ersten Mal zur Mitschuld der katholischen Kirche am Sklavenhandel und entschuldigte sich bei den Indios und Afro-LateinamerikanerInnen für den Rassismus der Kirche. Ausdrücklich sollte ihre Form der Religiosität anerkannt und gefördert werden. Vier Jahrzehnte nach Medellín ist die Bilanz ernüchternd (vgl. den Sammelband Schreijäck 2007). Paolo Suess (2007) etwa resümiert, dass trotz aller Energie und Kreativität, die damals freigesetzt wurden, der Sprung von der Kolonialkirche zur Befreiungskirche nicht gelungen sei. Zu sehr hielt die, wie er es nennt, pyramidale Kirche an ihrer Autorität und ihrem autoritären Gottesbild fest und verhinderte ein Weiterleben von Medellín. Die Befreiungstheologie scheiterte nicht nur daran, die sozialen Verhältnisse nachhaltig zu ändern, sondern bereits daran, die Strukturen der Kirche zu erneuern. »Weder die Ortsbischöfe noch die Armen und Arbeiter, Indios und Schwarz-Amerikaner, Frauen und Jugendlichen sind nur ›Berater‹ für eine in vormodernen Strukturen erstarrte Kirchenleitung«, kritisierte Suess (Suess 2007: 229). Die »Basis« wurde nur gehört, so auch die Kritik von Orlando O. Espin (2007: 103-128), um die Seelsorge zu verbessern. Die Theologie selbst blieb von ihren Anliegen völlig unberührt. Anstelle der Befreiung empfahl die Kirche karitative Hilfe, und diese endet nach Suess in einem »bloßen Assistenzialismus, wenn nicht Partizipation und Mündigkeit als Voraussetzung oder wenigstens als Ziel für jedwede Befreiung gewährleistet sind« (Suess 2007: 233). Aber es gilt auch, die Entschließung von Medellín selbst kritisch zu bewerten: Sie hat sich – zumindest damals – nicht mit der Geschichte der Kirche in Lateinamerika auseinandergesetzt, nicht die Zerstörungen der Religionen der Einheimischen durch die Mission angeklagt noch die massenhafte Tötung der indigenen Bevölkerung. Die kirchlichen Institutionen waren der größte Sklavenhalter Lateinamerikas – die Sklaverei war in Medellín jedoch kein Thema.32

32 | Dennoch bleiben die Schulderklärungen auffallend vage und erinnern stark an die entsprechenden Erklärungen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus.

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Aber, so die Einschätzung von Suess, der Streit zwischen den Parteien geht weiter, der Geist von Medellín ist nicht gebrochen. Entscheidend dabei sei, ob »Liebe« als »assistenzialistische Einpassung in das Weltsystem« oder als »strukturelle Veränderung« gedacht wird (ebd.: 235). Der derzeitige Papst versucht diesen Gegensatz in seiner Person zum Sprechen zu bringen. Damit setzt er einen hohen Anspruch  – der real eingelöst werden will. Das weitgehende Scheitern der Befreiungstheologie in Lateinamerika hat dies Problem vor Augen geführt. Das Versprechen bleibt dennoch wach, weil auch im Scheitern die Hoffnung auf Erlösung gestützt werden kann. Hier zeigt sich das bereits im »Ur-«Christentum sich abzeichnende soziale Spannungsverhältnis zwischen einer Christuslehre »von unten«, die das Dienen des Erlösers betont, und einer Christuslehre »von oben«, die vor allem die Herrschaft von Christus über die Welt in den Mittelpunkt stellt.

Emanzipatorische Dimensionen Es kann keinen Zweifel daran geben, dass viele Menschen in ihrem Kampf gegen Unterdrückung aus dem Christentum Kraft geschöpft haben. Jesus hatte sich für die Armen und Unterdrückten eingesetzt. Er versprach den Zöllnern, den Prostituierten, den Armen, Kranken, den Frauen und Kindern einen besonderen Platz im Himmelreich. Seine Wunder in Form der Heilung von Kranken und Speisen von Hungrigen sollten auf dies kommende Reich hinweisen, das mit der Menschwerdung Jesu bereits angebrochen sei. Sie waren ein Versprechen auf eine von der Not erlösende Zukunft. Ebenso war die Auferstehung Christi ein starkes Symbol für die Hoffnung auf die Überwindung von Leiden. Die Spirituals der versklavten AfroamerikanerInnen haben diese Hoffnungen eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht. Es ist eine Hoffnung gegen alle harte Realität. Aber diese Hoffnung gibt den Menschen ihre Würde zurück. Im Versprechen Christi, dass er bei ihnen ist, gewinnen sie ihren Selbstrespekt zurück. Somit konnten sich die Unterdrückten mit dem leidenden Christus identifizieren, der durch seine Auferstehung die Möglichkeit des Wandels und der Umkehr der Verhältnisse verkörpert. Die lateinamerikanische Nobelpreisträgerin Rigoberta Menchu etwa schreibt dazu, dass im Kampf gegen Armut und für soziale Gerechtigkeit die Bibel für sie die wichtigste Waffe war. Sie zeigte ihr den Weg und führte sie. Zwar sei ihr gesagt worden, dass die Bibel die Armen lehrt, die Armut anzunehmen, aber als sie selbst die Bibel gelesen habe, habe sie diese als einen Ansporn verstanden, die Verhältnisse zu ändern (zit. in Japinga 1999: 41). Auch die Bürgerrechtsbewegung in den USA war stark von einem christlichen Glauben an Erlösung und Gerechtigkeit getragen, ebenso

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wie antikoloniale Befreiungsbewegungen etwa in den Philippinen und in vielen Ländern Afrikas. Legendär geworden sind vor allem die Reden Martin Luther Kings, der etwa am Abend vor seiner Ermordung eine Ansprache hielt, die unter dem Titel I’ve been to the mountaintop bekannt wurde. Am Ende der Ansprache sagte er: Gott »hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinüber geschaut, und ich habe das gelobte Land gesehen. Ich werde vielleicht nicht mit euch dahin gelangen. Aber ich möchte, dass ihr heute Abend wisst, dass wir, als ein Volk, ins gelobte Land einziehen werden. Und daher bin ich so glücklich heute Abend. Ich mache mir um nichts Sorgen. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen« (zit. in Schieder 2014: 165).

Resümee Postkoloniale Theologien wie auch die feministische Theologie und die Befreiungstheologie zeigen, dass die grundsätzliche Spannung zwischen einem theologischen Wahrheitsanspruch und der kulturellen Eingebundenheit von Religion nur durch den Verweis auf die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis zu »lösen« ist. Nach ihrem Verständnis ist die Offenbarung partikular, einmalig und unwiederholbar  – universal ist sie in dem Willen Gottes zur Gemeinschaft mit allen Menschen, das heißt, auch mit jenen, die niemals in Kontakt mit dem Christentum kamen oder kommen werden.33 Pluralisierung des Christentums ist also kein Selbstzweck, da es ebenso gilt, das Gemeinsame, das Übergreifende im Blick zu behalten, das, was Christen auf aller Welt miteinander verbindet. Das Problem ist allerdings, dass die Universalisierung in der bisherigen Geschichte des lateinischen Christentums im Dienst der Dominanz einer europäisch-imperialen Perspektive stand. Demgegenüber haben die dadurch marginalisierten Mitglieder eine eigene, neue Lesart des Christentums entwickelt. Denn die etablierte Sichtweise konnte offensichtlich nicht die Strahlkraft des Christentums unterlaufen, sich auch für die Marginalisierten einzusetzen. Das Christentum nährt bei ihnen die Hoffnung auf eine bessere Welt und gibt ihnen die Kraft dafür zu kämpfen.

33 | Ihnen wird daher, so etwa die Folgerung von Höhn, »in einer andern, mit der christlichen unverrechenbaren (d.h. a-personalen) Gegebenheitsweise erschlossen gedacht werden« (Höhn 2007: 188). Daraus folgt für ihn die Forderung nach einem transversalen Denken, das sich von einer privilegierten Perspektive löst und zu Verflechtungen partikularer Selbst- und Fremdwahrnehmungen, Innen- und Außensichten führt (vgl. ebd.: 190).

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Die Herausforderung, die sich in diesen Debatten artikuliert, besteht darin, dass Menschen in Dominanzpositionen plötzlich mit Stimmen konkurrieren müssen, die zuvor nicht hörbar waren, und verunsichert werden durch den Blick auf sie selbst, den sie zuvor nicht wahrgenommen haben. Ihre Identität wird durch Menschen relativiert, denen das bisher nicht »zustand«. Das bedeutet Machtverzicht im Sinne einer Toleranz des Respekts.

Schluss Die postkoloniale Perspektive in der Theologie deckt aufs Neue das Spannungsverhältnis auf, in dem das Christentum als Religion steht: Es ist eine Religion, die Dominanz und Herrschaft rechtfertigt und zugleich die Position der Marginalisierten zu stärken verspricht. Eine Religion, die zu Widerstand motiviert und zugleich bestehende Unrechtsverhältnisse sakralisiert. Jesus kam auf die Welt, um zu dienen und zu herrschen. Eine der Vermittlungsdimensionen in diesem Widerspruch ist die christliche Moral, die die Nächstenliebe predigt, diese aber so weit von den realen Verhältnissen abkoppelt, dass sie  – einem »höheren« Zweck dienend  – auch Ungerechtigkeit legitimieren kann, obgleich sie zugleich den Einzelnen zu hohen moralischen Anstrengungen verpflichtet. Die eigenen Machtinteressen können sich vor allem deshalb im Gebot der Nächstenliebe verbergen, weil die Folgen individuellen Tuns an eine »höhere« Macht delegiert werden. Diese Moral entbindet die Einzelnen aus ihrer unmittelbaren Verantwortung den Anderen und den gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber, ist sie doch nur Gott verpflichtet. Damit wird auch ungerechten Verhältnissen der Anschein von Moralität gegeben. In dem Zusammenhang spricht Niebuhr davon, dass diese individualistische christliche Moral denen entgegenkommt, die von den jeweiligen Verhältnissen profitieren, ja ihnen sogar das Bewusstsein moralischer Superiorität verleiht. Heute jedoch scheint die Mobilisierung des Christentums als Identitätsressource der zunehmenden Distanz zu Kirche und Religion zu widersprechen. Sie kann sich jedoch auf eine lange Tradition berufen, die das Christentum zu einem wesentlichen Teil der europäischen Kultur gemacht hat. Dies primär auf der Kultur basierende Christentum verspricht den als prekär empfundenen Zusammenhalt zu festigen und den Fliehkräften selbstzentrierter Interessensverfolgungen entgegenzusteuern. Eine solche Vision übersieht, dass die Selbstzentrierung selber Frucht einer theozentrischen, individualistischen christlichen Moral ist, der die Idee von Brüdergemeinschaft und Nächstenliebe jedoch nur scheinbar entgegensteht. Zudem ist das Bild von der unmoralischen Welt ein christlicher Topos, der die säkularen Quellen von Moral nicht anzuerkennen vermag. Daraus folgt auch die Vorstellung, dass allein durch einen außerweltlichen Bezug den

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­ enschen Ideale vermittelt werden können und dass jede idealistische OrienM tierung »letztlich« christlichen Ursprungs sei. So wird gegenwärtig der Menschenrechtsdiskurs vielfach von Christen vereinnahmt, unbeirrt von dem Wissen um eine christliche Geschichte klerikaler Hierarchisierung, religiöser Ausgrenzung und Gewalt und auch unbeirrt von der biblischen Lehre einer patriarchalen und die Menschen als Sünder verdammende Schöpfungsordnung. Das Christentum als eine Religion der Nächstenliebe, des Friedens und der Versöhnung ist eine Idealisierung, die keinen Raum lässt für seine inneren Widersprüche und für die Anerkennung beziehungsweise Integration ihrer Realgeschichte. Diese muss als »uneigentliche« entwertet oder gleich ganz verdrängt werden. Diesen Idealisierungen liegt das Bemühen um moralische Superiorität im Kampf um symbolische Macht zugrunde. Die moralische Superiorität wird hier sowohl säkularen Positionen wie auch den anderen Religionen gegenüber zu behaupten versucht. Trotz aller Kritik der Aufklärung an der Institution der katholischen Kirche und dem Christentum als einer entmündigenden Religion wurde das Christentum dennoch von vielen ihrer namhaften Protagonisten zur »höchsten« aller Religionen erklärt. Und das scheint sie im Bewusstsein der meisten Europäer bis heute geblieben zu sein. Nicht umsonst wird anderen Religionen empfohlen den gleichen Weg der Reformation und Säkularisierung zu gehen, ohne die dazu gehörenden religiös-politischen Absolutheitsansprüche und jahrhundertelangen Konfessionskriege sowie die Allianz des Christentums mit Unrechtsregimen wie dem Nationalsozialismus in die Empfehlungen mit einzubeziehen. Auch hier wird eine idealisierte Vorstellung vom Christentum der anscheinend primär schlechten Realität der Anderen gegenübergestellt. Diesem symbolischen Machtanspruch moralischer Überlegenheit sekundiert vor allem in Deutschland ein gesellschaftspolitischer Machtanspruch der christlichen Kirchen. Es scheint auch heute selbstverständlich zu sein, dass ihnen – trotz erheblichen Mitgliederschwunds – ihre historisch gewachsenen Privilegien weiterhin zukommen. Sie werden nicht wirklich in Frage gestellt. Dabei ist für das positive Ansehen der Kirchen ihre Rolle im Wohlfahrtsbereich ausschlaggebend, scheinen sie hier doch in ihren unermüdlichen Einsatz für die Schwächsten in der Gesellschaft eine besondere moralische Kompetenz unter Beweis zu stellen. Und diese vorherrschende Stellung im Wohlfahrtssektor nutzen die Kirchen wiederum, um ihre Vorstellungen von christlicher Lebensführung mit allem Nachdruck durchzusetzen. Auch an diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr der Anspruch auf Nächstenliebe mit Machtinteressen verwoben sein kann. Dabei gibt die Politik einen willigen Partner der Kirchen ab. Auch dies hat in Deutschland eine lange Tradition, von der Nationsgründung über die Allianz von Thron und Altar im Kaiserreich bis hin zum Nationalsozialismus und

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zu der neu entstanden BRD. Allein die DDR setzte sich von dieser Tradition ab und löste wohl auch einen Schub zur Entkirchlichung aus, konnte jedoch die Verankerung der Menschen im kulturellen Christentum nicht wirklich in Frage stellen. Gerade das Beispiel der DDR macht auch deutlich, dass eine säkulare Perspektive nicht die eigentliche Alternative sein kann und muss. Vielmehr geht es darum, die widersprüchlichen Implikationen sowohl einer christlichen wie auch einer säkularen Perspektive auszuloten. Und diese – resümieren wir die Traditionen, die sich in dem bündeln, was wir heute in Deutschland unter dem Christentum verstehen – bestehen aus einer Geschichte des Glaubens an die eigene Suprematie und an ein Sendungsbewusstsein, das allein von der eigenen Überzeugung das »Heil« der Welt abhängig machen möchte. Insofern ist zu befürchten, dass der Ruf nach dem Christentum als Basis für Zusammenhalt und moralische Orientierung der Gesellschaft zumindest unbewusst Ansprüche transportiert, die die eigenen Überlegenheitsvorstellungen weiterträgt und nicht wirklich eine Chance für demokratischen und respektvollen Umgang miteinander fördert. Erinnern wir uns daran, dass christliche Überzeugungen bei den Menschen oft nicht zu mehr Toleranz, sondern eher zu mehr Abwehr gegenüber den »Fremden« führten.34 Insofern ist zu fragen, welche Gemeinschaft wird angestrebt, wenn man vom Christentum als der Basis des Zusammenhalts spricht? Und warum werden Werte verantwortlichen und respektvollen Miteinanders als primär, wenn nicht gar ausschließlich christliche Werte behauptet? Christliche Normen und Praxen sollen als Standard für alle anderen gelten – unabhängig davon, ob sie andersoder nichtgläubig sind. Ihre jeweiligen Erfahrungen und Perspektiven scheinen zum Wohlergehen aller nichts beitragen zu können. Bei der heutigen Religiosifizierung sozialer Konflikte, in der eine christliche Kultur einer islamischen als unvereinbar gegenübergestellt wird, wird vielfach von Seiten der christlich dominierten Gesellschaften ein Selbstverständnis mobilisiert, das behauptet, über die eigentliche Quelle von Moralität und demokratischen Fortschritt zu verfügen. Deshalb, so die notwendige Folge, haben sich die anderen diese Errungenschaften anzueignen und gegebenenfalls ihre eigene Identität aufzugeben. Je mehr die Konflikte zu »Glaubenskonflikten« gemacht werden, ohne deren soziale und politische Komponenten mit einzubeziehen, desto mehr werden sie zu Konflikten, bei denen es um nichts 34 | Die Ursache für das stärker ausgrenzende Verhalten hat bei religiösen Menschen wesentlich damit zu tun, dass sie ihre Gruppe den anderen gegenüber bevorzugen und damit nur ein »partikulares Vertrauen« in die anderen Menschen entwickeln und nicht ein »generalisiertes Vertrauen« das sich auf die Mitmenschen im Allgemeinen bezieht (Religionsmonitor 2014).

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weniger als um den Kampf um Wahrheitsansprüche und Identitätsbehauptungen geht. Eine Lösung kann dann nur in der zumindest partiellen Identitätsaufgabe des jeweils Unterlegenen liegen. Allerdings hat das Christentum – wie jede andere Religion – auch die Möglichkeit, Pluralität als solche anzuerkennen und sie als von Gott gewollte zu akzeptieren. Das lateinische Christentum hat jedoch in seiner bisherigen Geschichte nicht allzu viel Gebrauch davon gemacht. Insofern führt heute der Weg zur Pluralität nur über die Aufarbeitung eben dieser Geschichte und deren Integration in das eigene Selbstverständnis, um Raum für Selbstrelativierung und Toleranz zu schaffen.

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Fatima El-Tayeb Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 256 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

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Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph Poole, Manfred Weinberg (Hg.) Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1709-2

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2015, 376 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1148-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.) POP Kultur & Kritik (Jg. 5, 2/2016) September 2016, 176 S., kart., zahlr. Abb., 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3566-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3566-3

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