Widerspruch und Widerständigkeit: Zur Darstellung und Prägung räumlicher Vollzüge personaler Identität [Reprint 2012 ed.] 3110181576, 9783110181579, 9783110904826

Die Studie erörtert Darstellung und Prägung räumlicher Erfahrung im religiösen sowie im kognitionspsychologischen Kontex

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Widerspruch und Widerständigkeit: Zur Darstellung und Prägung räumlicher Vollzüge personaler Identität [Reprint 2012 ed.]
 3110181576, 9783110181579, 9783110904826

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Asha De Widerspruch und Widerständigkeit

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle · H.-P. Müüer f

Band 128

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Asha De

Widerspruch und Widerständigkeit Zur Darstellung und Prägung räumlicher Vollzüge personaler Identität

w DE

_G Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018157-6

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Dcutschc Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2005 bv Walter de Gruvter G m b H & Co. KG, D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Uinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Für Peter

Vorwort

,Nomen est omen' — der Titel der folgenden Untersuchung verleitet die Autorin zu solch einem Beginn. — Sie wendet sich aber gleich der angenehmen Tradition zu, die an diesem Ort gepflegt wird, nämlich all denjenigen zu danken, ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht zu dem geworden wäre, was es ist. Mein allergrösster Dank gilt den Professoren Christian Link (Universität Bochum), Kuno Lorenz (Universität Saarbrücken) und Georg Pfleiderer (Universität Basel) für die geduldige Lektüre, den fachlichen Ratschlag sowie für die Begleitung dieser Arbeit bis zu ihrer Abnahme an der Theologischen Fakultät Basel. Auch der Theologischen Fakultät Basel sei hiermit mein Dank ausgesprochen. — Am Collegium Helveticum der ΕΤΗ Zürich wurden die Probleme, die interdisziplinäres Arbeiten allgemein mit sich führt, nicht nur in einem sachlichen Kontext diskutierbar sondern auch in wohltuender Weise aufgefangen. Für die damit stattgefündene Horizonterweiterung und Unterstützung danke ich insbesondere der ehemaligen Leiterin Professorin Helga Nowotny und dem Gastprofessor meines Kollegiatenjahrgangs Tom P. Hughes. Sehr gerne denke ich an die guten Geister, die während der Schlussphase auf den Plan getreten sind und mir unschätzbare Hilfe geleistet haben, sei es durch freundlichen Ansporn, sei es durch ein spontanes Zur-Stelle-Sein, wenn es um die äussere Form und vieles mehr ging. Für all dies danke ich meiner Mutter, Professor Burkhard Schiek, Professorin Silke-Petra Bergjan, Frau Claudia Enders, Frau Christine Flender, Frau Alexandra Seger und Frau Christine Stark. Schliesslich ist das Buch derjenigen Person gewidmet, mit der ich das heimliche Movens der Untersuchung (auch wenn dieses in der gewählten Behandlung des ,Raumthemas' noch nicht ersichtlich wird) - nämlich eine ungebrochene Liebe zur Architektur — teilen darf. Zürich, 21. November 2004

Asha De

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

I.

Einleitung

1

1.1.

Der Horizont der Untersuchung: Menschliches Selbstverständnis — wortgebunden und computertechnologisch geprägt

3

1.1.1 1.1.1.1.

Der lebensweltliche Ausgangspunkt Beobachter- und Vollzugsperspektive — personale Identität und das lebensweltliche Problem menschlichen Selbstverständnisses Zur Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaften/Technik Bekannte Grundtypen der Verhältnisbestimmung

10 10

Erfahrung - in den Kontexten einer sich ,empirisch' und einer sich ,hermeneutisch' nennenden Praxis

15

1.2.1. 1.2.1.1. 1.2.1.1.1. 1.2.1.1.2. 1.2.2. 1.2.2.1. 1.2.2.1.1. 1.2.2.1.2. 1.2.3.

,Empirische'Praxis Theorie und Erfahrung Der objektive Anspruch Der mit der Form der Darstellung erhobene Anspruch ,Hermeneutische' Praxis Theorie und Erfahrung Die Erste-Person-Perspektive nach Matthias Jung Der mit der Form der Darstellung erhobene Anspruch Resümee

15 15 20 22 24 24 27 28 30

1.3.

Zum Aufbau der Untersuchung

32

1.3.1. 1.3.2.

Die (methodische) Grobstruktur Die (systematische) Feinstruktur

32 34

1.1.2. 1.1.2.1. 1.2.

3

6

χ

II.

II. 1.

II. 1.1. II. 1.2. II. 1.2.1. II. 1.2.2. II.1.2.3.

Inhaltsverzeichnis

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität: Räumlichkeit und Zeitlichkeit

39

Vorbemerkung

41

,Vorsprachliche' und .sprachliche' Identifikation eines Einzeldings allgemein und des Einzeldings ,Person' im Besonderen

43

Vorbemerkung Die Dominanz der Beobachterperspektive in P. F. Strawsons Theorie der Einzeldinge Verräumlichung der Identität bei Strawson Die Relevanz des Strawson'schen Modells für ein Verständnis der A^erfahren der Kognitionspsychologie Der Anknüpfungspunkt für Ricoeurs Modell narrativer Identität

43 44 47 52 52

11.2.

Eine These für den Vergleich

53

II.2.1.

Räumlichkeit in metatheoretischer Aussenperspektive und aus der Innenperspektive jeweiliger Praxiskontexte Verräumlichung von Identität Verzeitlichung von Identität Die Absicht der Untersuchung

53 53 54 54

Drei Versionen des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch - drei Variationen einer Beziehung zwischen Ästhetik und Logik

57

Mit Sinn und Verstand: das kantische Schematismusverfahren, unkantisch interpretiert und dreifach variiert

67

11.2.2.1. 11.2.2.2. II.2.3. 11.3.

11.4.

11.4.1. 11.4.1.1. 11.4.1.2. 11.4.1.3. 11.4.1.4. 11.4.2. II.4.2.1.

Ästhetik und Logik (ÄL) Das Vermögen der Sinnlichkeit Das Vermögen des Verstandes Die Begrenztheit des Handlungsbegriffs des Schematismus Die Bedeutung des Handlungsbegriffs für eine Beziehung zwischen Ästhetik und Logik Zeichen und Identität (ZI) Die Grundsätze in ihrem notwendigen Zusammenhang unter dem Begriff und der Anschauung der Einheit

67 69 70 73 76 78 78

Inhaltsverzeichnis

11.4.2.2. 11.4.2.3.

XI

11.4.3.3. 11.4.4.

Die Unterscheidung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit 80 Der Zusammenhang mit den Grundsätzen: Materie und Widerspruch 85 Widerspruch und Widerständigkeit (WW) 85 Der semiotisch-pragmatische Ansatz nach Kuno Lorenz ... 86 Der aktive und passive Aspekt im räumlich-zeitlichen Vollzug der Gegenstandskonstitution 90 Darstellung und Prägung widerständiger Vollzüge 92 Zusammenfassung (AL, ZI, WW) 93

III.

Das Modell der Semiose

97

III. 1.

Überleitung: Wahrnehmung und Sprache

99

III.2.

Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

11.4.3. 11.4.3.1. 11.4.3.2.

111.2.1. 111.2.2. 111.2.3. 111.2.4.

IV.

Die Selbstreferentialität der Semiose Eine semiotische Typologie - ihre jeweiligen Implikationen für die Darstellungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit „Abstractive fallacies"und die ästhetische Bedingung der Möglichkeit des Fehlschlusses Sind die räumlich-zeitlichen Grenzen des semiotischpragmatischen Subjekts grundlegende Grenzen?

102 107 109 112 115

Die angewandte Semiose Implementierung und Mimesis

123

Vorbemerkung

125

IV. A.

Implementierung („States of Being Conscious")

128

IV.A.l. IV.A.1.1. IV.A.l.1.1. IV.A.l.1.2.

Vorbemerkungen Drei Interpretationskategorien Die fünffache Selbstreferentialität des Modells Zur Darstellungsweise: Theorie der Implementierung und implementierter Vollzug von Erfahrung Zwei Zeitkonzepte Zeit: formal und inhaltlich Die Räumlichkeit der physikalischen Zeit

128 133 135

IV.A.l.2. IV.A.l.2.1. IV.A.l.2.2.

137 138 138 139

XII IV.Α. 1.2.2.1. IV.A.l.2.2.2. IV.A.l.3. IV.A.l.3.1. IV.A.2. IV.A.2.1. IV.A.2.2. IV.A.2.3. IV.A.2.4. IV.A.3 IV.A.3.1. IV.A.3.2. IV.A.3.2.1. IV.A.3.2.2. IV.A.3.2.3. IV.A.3.2.4. IV.A.3.2.5. IV.A.3.2.6.

IV.A.3.2.7. IV.A.3.2.8. IV.A.3.3. IV.A.3.3.1. IV.A.3.3.2.

Inhaltsverzeichnis

Das Zeitkonzept in der Beschreibung reversibler Vorgänge Das Zeitkonzept in der Beschreibung irreversibler A^orgänge Die Methode der Lokalisierung Exkurs in die Grundlagen der Lokalisierung Das Experiment und seine Interpretation nach E. Pöppel und E. Ruhnau Subjektive Zeit - eine Illusion? Zeit als Lösungskategorie? Anwendung des Unterscheidungskriteriums für Raum und Zeit Der abstraktive Fehlschluss aufgrund der Vernachlässigung der pragmatischen Dimension Der topische Schematismus in Anlehnung an Helmut Papes Ontologie des Visuellen Widerspruch und Widerständigkeit (WW) „States of Being Conscious" als Handlungsschema Zeichen und Identität (ZI) Die Vollständigkeit und Genauigkeit eines Anblicks Die Vollständigkeit und Genauigkeit des Anblicks im Labor „States of Being Conscious"als physikalische Zustandsbeschreibung Ein Aspekt visueller Ontologie Ko-Tatsächlichkeit und Indikatoren Individuation unter physikalischer Perspektive: Das Naturalisierungsprogramm Quines und singuläre Termini Indikatoren und visuelle Erfahrung Projektive Geometrie und Identität Ästhetik und Logik (ÄL) Identität als Substituierbarkeit in formalen Kalkülen nach Sybille Krämer Zum formalen Zusammenhang von Ästhetik und Logik — die Räumlichkeit indexikalischer Zeichen

141 143 148 149 159 161 167 167 176 178 179 181 183 185 187 191 193

195 201 205 212 212 220

IV.B.

Mimesis („Exodus")

228

IV.B.l.

Vorbemerkung

228

XIII

Inhaltsverzeichnis

IV.B. 1.1.

Drei Interpretationskategorien

229

IV.B. 1.1.1.

Die vierfache Selbstreferentialität der Erzählung

230

IV.B.1.1.2.

Zur Darstellungsweise: Theorie der Mimesis und mimetischer Vollzug von Erfahrung

232

IV.B.1.1.3.

Das theologische Problem

232

IV.B.1.1.4.

Räumlichkeit: formal und inhaltlich

233

IV.B.2.

Zwei Zeitkonzepte

234

IV.B.2.1.

Die Aporien der Zeit und die Räumlichkeit der erzählten Zeit

235

IV.B.2.2.

Ein narrativer Schematismus ,en miniature'

239

IV.B.3.

Die Erzählung als narrativer Schematismus in Anlehnung an Paul Ricoeurs metaphorische Theorie des Zeitlichen .... 245 Widerspruch und Widerständigkeit (WW) - Der kalkulierte Widerspruch der metaphorischen Logik 245

IV.B.3.1. IV.B.3.2.

Mimesis I-III: Die Metapher der Zeitlichkeit als Handlungsschema und kalkulierter Widerspruch

250

IV.B.3.2.1.

Mimesis I

251

IV.B.3.2.2.

Mimesis II

259

rVB.3.2.3.

Mimesis III

261

IV.B.3.2.4.

Zusammenfassung

261

IV.B.3.2.5.

Die Frage nach der Räumlichkeit

262

IV.B.3.2.6.

Das Verfahren der Inszenierung — Die Szene wird betreten: Semiose Α und Β

262

IV.B.3.2.7.

Ein Bück ,auf die Kulissen der Inszenierung sinnlicher Wahrnehmung

264

IV.B.4.

Das Auszugsgeschehen— ein Interpretationsschlüssel (Dtn 26,5-9) und eine Schlüsselszene der Erzählung (Ex 12,1-20)

271

IV.B.4.1.

Mimesis als Verflechtung von Synchronizität und Diachronizität

:

IV.B.4.2.

Berücksichtigung neuerer exegetischer Ergebnisse

IV.B.4.3.

Zur Unterscheidung von inhaltlicher und formaler Räumlichkeit

271 277 279

IV.B.4.4.

KontextuaHsierung von D t n 26,5-9 und Ex 1,1-20

280

IV.B.4.4.1. IV.B.4.4.2.

D o c h ein anderes Grundthema? Nuancierungen des Themas der Räumlichkeit

284 285

IV.B.5.

Der narrative Schematismus in D t n 26,5-9 und Ex 12,1-20

288

- i n D t n 26,5-9

288

IV.B.5.1.

XIV IV.B.5.2.

Inhaltsverzeichnis

- i n Ex 12,1-20

304

IV.B.5.2.1.

Zeichen und Identität (ZI)

308

IV.B.5.2.1.1.

Ex 11,1-13,16 als Handlungsschema

308

IV.B.5.2.1.2.

N u n c stans, nunc praeteriens und Identität

314

IV.B.5.2.1.3.

Vergegenwärtigung und Ko-Präsenz in Ex 12,1-20

326

IV.B.5.2.2.

Ästhetik und Logik (ÄL)

329

IV.B.5.2.2.1.

Gegenwart Gottes und Gegenwart des Menschen

331

IV.B.5.2.2.2.

Von der Unmöglichkeit einer göttlichen Semiose

335

IV.B.5.2.2.3.

Der Zusammenhang zwischen Ästhetik und metaphorischer Logik: Stil oder Notwendigkeit?

337

V.

Fazit: Darstellung und Prägung räumlicher Vollzüge personaler Identität

345

V.l.

Der Ansatz

348

V.2.

Räumlichkeit

350

V.3.

Der Zusammenhang mit dem menschlichen Selbstverständnis

351

V.4.

Die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Erfahrungsvollzüge

353

Mimesis und Implementierung als Verfahren der Identifikation der Darstellving von Handlungs- und Erfahrungsvollzügen

354

V.4.2.

Theorie und Erfahrung

359

V.4.3.

Erfahrung als Widerständigkeitsund Endlichkeitserfahrung

364

V.4.3.1.

Die Widerständigkeits- und Endlichkeitserfahrung empirischer Praxis

365

V.4.3.2.

Die Widerständigkeits- und Endlichkeitserfahrung glaubender Praxis

369

V.4.4.

Der grundlegende Unterschied zwischen empirischer und glaubender Auslegungspraxis

372

Prägung personaler Identität - Räumlichkeit und die damit verbundene Zeitlichkeit

377

Literaturverzeichnis

387

Abkürzungen

404

Personenregister

405

V.4.1.

V.5.

I. Einleitung

Selbstbestimmung ist der großangelegte Versuch, die Folge von Situationen, also die Ilandlungs- und Redezusammenhänge der Menschen über Orte und Zeiten hinweg in eine zusammenhängende Situation, die Welt, zu verwandeln, was natürlich selbst nur als offener Prozeß mit zahllosen Verzweigungen, den Weltversionen, möglich ist. Es ist dabei üblich, die Teileinheiten der Ilandlungszusammenhänge als Lebensweisen von den Teileinheiten der Redezusammenhänge als Weltansichten begrifflich zu trennen. Und deutlich wird, daß Selbstbestimmung, so verstanden, Selbsterkenntnis nur vereint mit Welterkenntnis nach sich zieht: Anthropologie und Kosmologie sind siamesische Zwillinge, deren Trennung beide sterben ließe. 1

1. Der Horizont der Untersuchung Menschliches Selbstverständnis — wortgebunden und computertechnologisch geprägt 1.1. D e r lebensweltliche A u s g a n g s p u n k t N a c h vielfältigen E r k u n d u n g e n in den R ä u m l i c h k e i t e n der P h y s i k u n d d e r T h e o logie, u n d n a c h h ä u f i g e n A n f r a g e n an m e i n e Person, w i e ich d e n n diese b e i d e n v e r s c h r ä n k e u n d g a r m i c h selbst in ihnen positioniere — so sie d e n n f ü r viele M e n s c h e n a u c h h e u t e n o c h u n v e r e i n b a r erscheinen —, ist ein G e d a n k e G e o r g e Steiners z u m L e i t m o t i v m e i n e s n u n folgenden A n t w o r t v e r s u c h s g e w o r d e n : „Es ist, als sei das wesentliche charakteristische Attribut des Menschen - der Logos, das Organum der Sprache in unseren Mündern zerbrochen ... Der Rückzug vom Wort ist unaufhaltsam nicht nur in den speziellen, zunehmend aus Zahlen und Symbolen bestehenden Kunstsprachen der exakten und angewandten Wissenschaften vom Menschen ... Die Wortvorstellungen, die sich an die Rhetorik, an das Zitat, an die kanonische Uberlieferung von Texten knüpften, stehen unter wachsendem Druck. In entscheidenden Punkten ist unsere Kultur eine Kultur nach dem Wort." 2 D i e s e p r o v o k a t i v e T h e s e Steiners gibt zu denken. Sie gibt zu b e d e n k e n , dass das k a n o n - b z w . w o r t g e b u n d e n e Selbstverständnis des M e n s c h e n a n A k t u a l i t ä t verliert, i n s o f e r n es mit d e m mathematisch-physikalischen, d u r c h c o m p u t e r t e c h n o logische V e r f a h r e n g e p r ä g t e n Selbstverständnis des M e n s c h e n in S p a n n u n g steht.

1

K. Lorenz, „Einführung in die philosophische Anthropologie", Darmstadt, 1990, 84.

2

G. Steiner, „Les sens du sens — Realpräsenz", Paris, 1988, 101.

4

Einlei tung

Steiners Beurteilung der heutigen Lage ist nicht kritiklos hinzunehmen, hingegen ist ihr Gültigkeitsbereich zu klären. Hat die Rolle des Wortes eventuell nicht nur durch die „aus Zahlen und Symbolen bestehenden Kunstsprachen", sondern auch — im Gegenzug — durch die mit ihnen zusammenhängenden neuen Visualisierungsverfahren der Humanwissenschaften eine berechtigte Kritik erfahren? Hätte diese doppelte Kritik der empirischen Wissenschaften nicht ihren guten Grund, insofern der Vorrang des Begriffs vor dem ,trügerischen Schein' des sinnlich Wahrgenommenen sowohl das philosophische Denken bestimmt hat, 3 als auch mit dem alttestamentlichen Bilderverbot und erneut mit dem reformatorischen Ikonoklasmus eine wortorientierte Wirklichkeitswahrnehmung geprägt wurde? Könnte nicht eine modifizierte These aufgestellt werden, dass die Rolle des Wortes im Sinne einer kanongebundenen Referenz zwar in den Hintergrund gerückt oder eventuell verschoben, aber keineswegs aufgehoben wurde? Selbst die aus Zahlen und Symbolen bestehenden Kunstsprachen und die mit ihnen operierenden Wissenschaften des Menschen sind mit ihren handlungsleitenden Zielen, Kriterien und Werten in einem engen Geflecht mit jenen Traditionen und Normen verwoben, die sie hinter sich gelassen zu haben vermeinen. Nimmt man nur als einen Teil der textgebundenen Vorstellungen die jüdisch-christliche Tradition und ihren schriftlichen Kanon, so hat Hartmut Böhme mit Recht in seinem Aufsatz „Zur Theologie der Telepräsenz" 4 die Notwendigkeit einer Analyse der 3

Vgl. H. Pape, „Die Unsichtbarkeit der Welt. Eine visuelle Kritik neuzeitlicher Ontologie", Frankfurt/M., 1997, vgl. unser Kap. IV.A. 3.

4

Vgl. H. Böhme, Die Theologie der Tekpräsen15 in „Körper denken", hg. v. F. Hager, Historische Anthropologie, Bd. 27, Berlin, 1996, 245. „Genetiker sind Gralssucher, wodurch das Humangenom selbst zum Gral wird ... Der Gral ist ein christologisches Erlösungssymbol ... Dieses Heil besteht nicht darin, dass man 0,6 Promille Erbkrankheiten rechtzeitig erkennen und ausschließen kann. Das ist eine rationalistische Schutzbehauptung. Derartig hochbesetzte kulturelle Symbole wie der Gral kommen nur zur Anwendung, wenn eine tiefenstrukturell wirksame Hochenergie daran arbeitet: es kann sich hierbei nur um zwei Behauptungen handeln, die dem sakralen Rang der mobilisierten Metaphorik gerecht werden. Dies ist erstens: der Entzifferung des menschlichen Genoms wird gleichgesetzt das Eindringen in das eigentliche Geheimnis Gottes, 111 das Rätsel Leben, das an seinem höchsten Geschöpf buchstabiert wird. Und zum zweiten: das Genom kennen, heißt es verändern. Der Mensch tritt damit in die Potentialität der Selbstschöpfung ein ... Dies entspricht dem am Cyberspace entwickelten Moment der Uberwindung des endlichen und hinfälligen Leibes, der Weltflucht und der Sehnsucht nach einer göttlichen Souveränität." Böhme sei hier zitiert, um die religiösen Implikationen naturwissenschaftlicher Sprache beispielhaft zu verdeutlichen, die im allgemeinen Bewußtsein noch nicht so verankert sind, wie es ein Hinweis auf die abendländische Philosophie und ihre Logozentriertheit bzw. das Bilderverbot in einem Einleitungswort voraussetzen darf. Vgl. zum Aspekt der Überwindung der Endlichkeit des Leibes auch Wolfgang Welsch, Virtualisientng und Kevalidierung, in „Medien-Welten. Wirklichkeiten", München, 229-248. Ein weiteres sehr sprechendes Beispiel liefert Richard Dawkins, der Autor des berühmt gewordenen Buches „The Selfish Gene", Oxford, 1989, 12. Der Anfang seines zweiten Kapitels The replicators lautet: „In the beginning was simplicity ..." und liefert somit als Bezugnahme auf Gen 1 und Joh 1 eine schöne Veranschaulichung sowohl für die These Böhmes als auch für diejenige Steiners (auf dem Hintergrund, dass sich die „simplicity" der Genetik in Zahlen- und Symbolsprachen äussert). Das bekannteste Beispiel hierfür, die Doppclhelix, wurde in Bezug auf seine stereotype Verwendung in der Alltagssprache, und somit in Bezug

Der Horizont der Untersuchung

5

„theologischen Rhetoriken der neuen Propheten und Hohepriester" 5 skizziert. Böhme verweist aber auch darauf, dass eine solche Analyse von der Voraussetzung auszugehen hätte, dass jeweilig vorkommende religiöse Motive und theologische Denkfiguren aus ihrer dogmatischen oder institutionellen Bindung herausgebrochen sind. Nichtsdestoweniger kursieren sie weiterhin als handlungsleitende Schlüsselmotive und mit ihnen verbundene Denkmuster, in denen sich der Mensch selbst versteht und die eine computertechnologisch bestimmte Wissenschaft, die immer mehr auf ihre gesellschaftliche \^erantwortung angesprochen ist, bedenken muss. 6 Ebenso ist die Tatsache, dass sich der traditionelle, religiöse Sprachgebrauch von seiner institutionellen Einbindung löst und durch einen offenen, medial verfügbaren Zugriff in der technischen Welt Karriere macht, von der Theologie zu bedenken. Diese besondere Aufgabe kommt der Theologie nach aussen zu, weil sie auf die den verschiedenen Motiven zugrundeliegenden Denktraditionen hinweisen kann. Wenn z.B. die Computertechnologie einen Eintritt in virtuelle Realitäten ermöglicht, Sphären, in denen menschliche Handlungen von jeder körperlichen Begrenzung ,befreit' sind, lässt sich das — im Sinne einer strukturellen Verwandtschaft — mit den gnostischen Tendenzen zur Zeit des frühen Christentums vergleichen. 7 Die Bemühungen, welche die Theologie zu deren Verständnis geleistet hat, können auch für die Analyse des handlungsleitenden, menschlichen Selbstverständnisses angesichts virtueller Welten von Nutzen sein.8 Nach innen kommt der Theologie jene Aufgabe zu, solange es ihr um eine Situation des Menschen coram Deo geht (vgl. Kap. IV.B), Anknüpfungspunkte in Raum und Zeit für die Artikulation ihres Anliegens auszumachen. Sie muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die Artikulation der mit den neuen Technologien veränderten Erfahrungs-

auf die Rückwirkung religiös besetzter Metaphern der Wissenschaft auf das Allgemeinbewusstsein von Uwe Pörksen untersucht. Vgl. U. Pörksen, „Der Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype", Stuttgart, 1997, 97-287. Vgl. insbesondere das Kapitel: „Die Doppelhelix als Himmelsleiter. Was stimmt nicht, das Zeichen oder der Begriff?". 5 6

Böhme, 239. Vgl. I I. Nowotny, Vorwort, in „Wissenschafts- und Technikforschung in der Schweiz", hg. v. B. Heintz/B. Nievergelt, 1998, 10.

7

Vgl. H. Weder, Virtual Reality. Ein theologischer Versuch am neutestamentlichem Blickwinkel, in EvTh 57/6 (1997), 537-548. Eine solche Parallelisierung von gnostischen Denkfiguren mit technologischen Entwürfen müsste die Untersuchungen berücksichtigen, die schon für den philosophischen Kontext des 20. Jahrhunderts geleistet wurden. So hat H. Jonas einen Vergleich zwischen dem Dualismus der Gnosis und dualistischen Vorstellungen im Existentialismus gezogen. Vgl. ders., „Gnosis", Frankfurt/M., 1999, 377-430. M. Pauen spricht von einem „Verweisungszusammenhang", den die Gnosis darstellt und der sich in den verschiedensten Spielfiguren des philosophischen Denkens im 20. Jh. wiederfindet. Vgl. M. Pauen, „Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne", Berlin, 1994, 12.

8

Vgl. S. Helmreich, The spiritual in Artificial Life: Recombining Science and Religion in a computational culture Medium, in „Science as Culture", 1997, 363-395. R. Doyle, „On Beyond living Rhethoncs of Vitality and Post Vitality in Molecular Biology", Ph.D. dissertation, University of California at Berkeley, 1993, 231-232; F. Rötzer, Traum von ifo Ewigkeit « f o Von der digitalen E-ndlichkeit, in Hager, 232-236.

6

Einleitung

und Handlungszusammenhänge zu einer spezifischen Art von Vorverständnis dessen stösst, was menschliche Wahrnehmung von Raum und Zeit bedeutet. 9 1.1.1. Beobachter- und Vollzugsperspektive — personale Identität und das lebensweltliche Problem menschlichen Selbstverständnisses Um in diesem komplex verflochtenen Horizont von ,menschlichem Selbstverständnis' 10 reden zu können, wird eine doppelte Unterscheidung notwendig. Sie gilt den Handlungs- und Redezusammenhängen, in denen ein jeweiliges Selbstverständnis erscheint bzw. erzeugt wird. Es kann nämlich stets zwischen Lebensweise und Weltansicht im jeweiligen Kontext, zwischen Vollzugs- und Beobachterperspektive, zwischen einem praktisch-ästhetischen und einem unter einer bestimmten Perspektive der Beschreibung formulierten Selbstverständnis unterschieden werden. Das praktisch-ästhetische Selbstverständnis, das in den Lebensweisen einer Person implizit ist, ist mehr als die Summe aller seiner Prägungen und Bestrebungen. Auch wenn es nie seine vollständige Darstellung finden

9

Vgl. R. Bultmann, Anknüpfung und Widerspruch, in: „Glaube und Verstehen", II, Tübingen, 1968, 117-137; G. Ebeling, Die coram-Rslation als ontologischer Schlüssel %ur Anthropologie, in „Dogmatik des christlichen Glaubens", I, § 14 B, Tübingen, 1987, 346-355.

10

Wie mit den Zitaten von Lorenz und Steiner schon angedeutet, haben wir nicht vor, einen Beitrag zur seit Locke bestehenden Debatte über die Unterscheidung von ,Person' und ,Mensch' zu leisten. Die Debatte tangiert unser Vorgehen nicht, ohne dass wir ihre Relevanz damit bestreiten. Da wir viel mehr ausgehend von einem bereits bestehenden Personmodell, nämlich demjenigen Paul Ricceurs, dieses ,semiotisch-pragmatisch' nach Kuno Lorenz (Helmuth Plessner) verallgemeinern werden, um damit die Leistungsfähigkeit des Ricceur'schen Modells auf noch einzuführende Fragestellungen hin in verschiedenen Kontexten zu prüfen, werden wir uns auf einer anderen Problemebene bewegen. In einem .semiotisch-pragmatischen' Modell geht dann die besagte Unterscheidung in diejenige von ,Selbstverständnis' und .Weltansicht' auf. Dieses Vorgehen ist darin begründet, dass angesichts einer transdisziplinären Problemstellung der grösste gemeinsame Nenner zwischen den in Fragen kommenden .Disziplinen' gesucht werden muss (zur Transdisziplinarität, vgl. 1.3.1). Die Person-Mensch Unterscheidung aber entspricht noch nicht einmal dem kleinsten gemeinsamen Nenner von Naturwissenschaft und Theologie. Vgl. hierzu auch Bernd Gillitzer, der die Notwendigkeit der strikten Unterscheidung in Fragen stellt: „Am plausibelsten lassen sich Probleme personaler Identität lösen, wenn man davon ausgeht, dass wir uns mit dem Begriff der Person auf Menschen im Hinblick auf ihre irreduzibel geistigen Eigenschaften beziehen." in „Personen, Menschen und Identität", Stuttgart, 2001, ins. 239-292. Vgl. zu Lorenz (Plessner) Anm. 268. ,Menschlich' soll hingegen im theologischen Kontext stets die Differenz zu .göttlich' markieren. Denn letzteres fällt (wie die Unterscheidung Mensch-Person) aus der gesuchten Schnittmcnge, von der ausgehend eine gemeinsame Problemstellung formulierbar wäre. Wenn wir schliesslich vom Ricceur'schen Modell ausgehen, heisst dies nicht, dass wir in ihm eine .Definition' des Personbegriffs non plus ultra sehen. „Eine Definition kann für die Philosophie immer nur ein Definitionsvorschlag sein, der an einem Detail die Geltung einer ganzen Philosophie behauptet", L. Wiesing, Einleitung: Die Philosophie der Wahrnehmung, in „Die Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen", hg. v. dems., Frankfurt/M., 2002, 11. Wiesing bezieht sich auf Th. W. Adorno, „Philosophische Terminologie", I, Frankfurt/M., 1992, u.a. auf S.15: „Machen sie einmal den ganz einfachen Versuch, den Begriff ,Raum' oder den Begriff .Zeit' zu definieren, ohne dass Sie bei der Definition selber bereits Begriffe voraussetzen, die sich ihrerseits schon auf Räumliches oder auf Zeitliches beziehen, also ohne in einen Zirkel zu geraten."

Der Horizont der Untersuchung

7

kann, kommt es in jeder Situation der Bezugnahme einer Person zu ihrer Umgebung, in Entscheidungen und Haltungen, zum Ausdruck. Etwas anderes ist es, wenn der Standpunkt gewechselt wird und die besagte Bezugnahme einer Person auf ihre Umgebung nicht vollzogen, sondern beobachtet wird. Dem geht voraus, dass erst mit der Wahl einer Perspektive der Beschreibung auf ein Geschehen, unter einer bestimmten Weltansicht, etwas als .Bezugnahme' bzw. als ,Handlung' erscheint. In diesem Falle hat die Konzeptualisierung eines beliebigen Geschehens als ,Handlung' stattgefunden. 11 Da die Beschreibung von etwas als Handlung aber immer schon ein Verständnis dessen voraussetzt, was es bedeutet, selbst zu handeln, trägt das Selbstverständnis der beobachtenden Person zur Beschreibung bei, was in einer entsprechenden Form der Darstellung explizit wird. Eine eigene, vergangene Handlung oder diejenige einer gegenwärtig oder in der Vergangenheit beobachteten Person wird /zöfAvollziehbar. Eine Person verhält sich so zu ihren eigenen Handlungen und denjenigen anderer Personen. Dies ist der Punkt, an dem Grundaspekte und -probleme personaler Identität erscheinen. „Denn es ist ein Kennzeichen von Personalität, daß sich eine Person einerseits zu ihrer numerischen Identität als einer gegebenen verhalten muß, andererseits aber imstande ist, ihre praktische Einheit in der Zeit zu bestimmen und zu verändern. Methodisch muß insofern eine argumentative Entzerrung zwischen räumlich-zeitlicher Individuation der Person und ihren praktischen Selbst- und Zeitverhältnissen vorgenommen werden." 12 Dabei bleibt zu beachten, dass die räumlich-zeitliche Individuation einer Person immer die Individuation einer Person als Handelnder ist und den Fragen nach ihren praktischen Selbst- und Zeitverhältnissen diejenigen nach ihren praktischen Selbst- und Raumverhältnissen nebenzuordnen sind. Eine Erläuterung der hiermit genannten Aspekte und die Ausführung ihrer Relevanz auf lebensweltlicher Ebene entspricht der Aufgabe unserer Untersuchung. Mit praktisch-ästhetischem Selbstverständnis ist also gemeint, dass sich dieses im Vollzug einer Handlung konstituiert, ohne dass es schon in eine Form der Beschreibung übergegangen ist. Auf einen solchen Vollzug hin (was nicht zeitlich zu verstehen ist) sind unbegrenzt viele Formulierungen seiner Beschreibung möglich. In diese Beschreibungen einer Handlung aus der Beobachterperspektive gehen immer bestimmte Weisen menschlichen Selbstverständnisses mit ein bzw. können mit ihnen explizit werden. Sie werden immer in bestimmten Rede- und Praxiszusammenhängen artikuliert und finden dort ihre spezifischen Formen der Darstellung. So verstehen sich Personen z.B. in der ,wortgebundene Tradition' des jüdisch-christlichen Praxiskontextes und bestimmen sich unter Bezugnahme

11

Vgl. D. Davidson in seinem Aufsatz Handeln (1971): „Als ersten Schritt zur Klärung der Dinge können wir versuchen, von Sätzen und Handlungsbeschreibungen zu reden anstatt von I Iandlungen ... ist ein Ereignis eine Handlung, dann ist es unter mancher Beschreibung (oder manchen Beschreibungen) elementar (d.h. eine Körperbewegung, A.D.) und unter mancher Beschreibung (oder manchen Beschreibungen) ist es absichtlich", in ders., „Handlung und Ereignis", Frankfurt/M., 77.

12

D. Sturma, Person und Zeit, in „Zeiterfahrung und Personalität", Frankfurt/M., 1992, 130.

8

Einleitung

auf die Weltansicht des biblischen Kanons. Die moderne Kognitionspsychologie liefert sozusagen den Antipoden, indem sie in „durch Zahlen- und Symbole geprägten Kunstsprachen der exakten und angewandten Wissenschaften" einem Selbstverständnis 13 des Menschen und seiner Weltansicht Ausdruck gibt, die beide ihre Darstellung in den formalen Verfahren der Computertechnologie finden. Der Zusammenhang zwischen Lebensweisen und Weltansichten, zwischen ,praktisch-ästhetischem Selbstverständnis' und bestimmten Formen seiner Darstellung ist komplex. So besteht z.B. zwischen dem im alltäglichen Handeln impliziten Selbstverständnis einer Person und den Modellen der Kognitionspsychologie keine direkte Vermittlung. Das gleiche gilt für etwaige Wechselwirkungen, die zwischen Alltagsbewusstsein und theologisch-anthropologischen Auslegungen des biblischen Kanons stattfinden. 14 Es handelt sich viel mehr um eine selektive Diffusion technologischer Modelle und theologischer Entwürfe in die Gesellschaft. Umgekehrt wirken Rückkoppelungen aus der Gesellschaft bestimmend auf Entwicklungen in der Kognitionspsychologie und in der Theologie. Doch dieser komplexe Prozess ist, wie gesagt, nur partiell einsehbar. Aber wenn davon auszugehen ist, dass auch technologische und theologische Modelle lebensweltlich bedingt sind, heisst dies, dass sich in ihnen allgemein menschliche Faktoren äussern bzw. verstärkt zeigen. 15 Nur als solche stossen diese Modelle auf eine Resonanz im allgemeinen Bewusstsein und wirken auf dieses prägend. Andersherum sind subjektive Erkenntnisleistungen in der Bildung und Verwendung von Begriffen, die in Technologie und Auslegung Gültigkeit haben, wirksam. Sie werden in alltäglichen, lebensweltlichen Kontexten ausgebildet und in wissenschaftlichen Begründungs- und Handlungskontexten weiterentwickelt. 16 Wenn hier ,jüdisch-christlich' und ,computertechnologisch' formuliertes Selbstverständnis des Menschen unterschieden werden, dann sind damit dominante Bestimmungen gemeint, die für ein jeweiliges Selbstverständnis im westlichen Kulturkreis konstitutiv sind. Es sollen hier also keine erschöpfenden Anthropologien, eine jüdisch-christliche oder eine der technisierten Gesellschaft, entworfen werden. Viel mehr geht es unter anderem darum, die Aspekte zu bestimmen, die eine Identifikationsmöglichkeit eines modernen, technischen 13

Vgl. G. Roth, „Letztlich will ich wissen, wie ich selbst zustande komme", in ders., „Das Gehirn und seine Wirklichkeit", Frankfurt/M., 1996, 5. Aufl., 23. Vgl. „Die wirklich große Herausforderung an die kognitive Neurobiologie ist es, diese Vorgänge des Vor- und Unbewußten genauer zu verstehen, denn dann verstehen wir die eigentlichen Antriebe unseres Handelns. Dies betrifft vor allem das System als das zentrale Bewertungssystem in unserem Gehirn. Kognitive Leistungen sind aufs Engste verbunden mit Emotionen, die ihrerseits eine Brücke zum völligen Unbewußten in uns bilden." 9.

14

Vgl. J. Mittelstraß: „Wissenschaft bestimmt Weltbilder nur unvollständig." in „Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie", 1989, 245.

15

Vgl. E. Husserl, „Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie", Hamburg, 1996, 3. Aufl.; Auch H.-D. Mutschier, Die Welterklärung der Physik und die Lebenswelt des Menschen, in „Urknall oder Schöpfung", hg. v. W. Grab, Gütersloh, 1995, 43-62. Vgl. Pape, Unsichtbarkeit, 75.

16

Der Horizont der Untersuchung

9

menschlichen Selbstverständnisses mit dem Selbstverständnis erschweren, das sich auf die biblische Tradition bezieht, dies trotz der genannten religiösen Implikationen des ersteren. Bedacht werden muss: Sowohl die Weltsicht von Naturwissenschaft und Technik als auch die der jüdisch-christlichen Theologie haben in verschiedenen Epochen einen tiefgreifenden Einfluss auf das alltägliche Selbstverständnis der Menschen hinterlassen, was ihre strikte Unterscheidbarkeit unwahrscheinlich macht. Somit ist es aber auch nicht evident, weshalb das sich in ihnen formulierende menschliche Selbstverständnis unvereinbar sein sollte. Gleichzeitig muss beachtet werden: In dem einen Falle sind es — in Bezug auf die Schrifttradition — sowohl die Auslegung der Kirche und diejenige theologischer Wissenschaft als auch die immer weniger vorhandene praktische Ausübung religiöser Vollzüge, die das menschliche Selbstverständnis prägen. In dem anderen Falle sind es computertechnologisch geprägte Praktiken wissenschaftlicher Modelle, deren charakteristische Züge in das allgemeine, gesellschaftliche Bewusstsein diffundieren, indem durch die alltäglich gewordene Anwendung der Computertechnologie eine Akzeptanz für von dort gelieferte Vorstellungen bereits vorhanden ist.17 Anders ausgedrückt, sind es verschiedene Praxis- und Auslegungskontexte, die eine Weltansicht und ein entsprechendes Selbstverständnis bestimmen. Aus diesem Grunde soll in dieser Einleitung präzisiert werden, welche Praxis jeweils gemeint ist, und zwar wird dies dadurch geschehen, dass dem sie bestimmenden Zusammenhang von ,Theorie und Erfahrung' nachgegangen wird. Aus dieser Bestimmung soll auch hervorgehen, warum die computertechnologisch geprägte Hirnforschung und die biblischen Erzählungen pro to typische 18 Darstellungsformen für das jeweilige menschliche Selbstverständnis liefern. Die nachfolgende Untersuchung macht sich dann die Explikation der Frage zur Aufgabe, in welcher Weise die genannten Prototypen identitätsstiftende Funktionen für das, was personale Identität ausmacht, erfüllen, und darin wiederum vergleichbar werden.

17

So ist ein gesteigertes öffentliches Interesse für die Hirnforschung festzustellen, wofür als ein anschauliches Beispiel die 40.000 Besucher der Brain-fair-Tage an der ΕΤΗ/Zürich vom 21.24.3.2000 stehen können. (Vgl. Unijournal 3/00, Die Zeitung der Universität Zürich, hg. v. der Universitätsleitung Zürich, 2.) So wurde allein das Buch von Roth „Das Gehirn und seine Wirklichkeit" (vgl. Anm. 13). zwei Jahre nach seinem Erscheinen in der fünften Auflage gelesen. Ein ähnliches Interesse konnte auf der Seite der theologischen Literatur (abgesehen von der Bibel) noch für „Das Wesen des Christentums" von Adolf von Hamack verzeichnet werden. Doch das war Anfang des letzten Jahrhunderts. Dass es dennoch die Texte des biblischen Kanons (bzw. der Tora) sind, die in einem jüdisch-christlich geprägten Kontext das Selbstverständnis des Menschen prägen, setzen wir voraus (zumindest ist die Bibel immer noch häufiger gelesen worden als „Das Gehirn und seine Wirklichkeit").

18

Hier verwendet im Sinne der Prototypentheorie von E. Rosch, die im Unterschied zum aristotelischen Kategorienbegriff von der körperlich-subjektiven Bedingtheit der Kategorien unserer Wirklichkeitsdeutung ausgeht, wobei Kategorien wiederum Prototypen aufweisen. Vgl. M. Johnson/G. Lakoff, „Woman, Fire and Dangerous Things. What categories reveal about the mind", Chicago, 1990. Vgl. aber auch zum allgemein damit angesprochenen Problem M.Johnson, „The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason", Chicago, 1987.

10

Einleitung

1.2. Zur Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaften/Technik 1.2.1. Bekannte Grundtypen der Verhältnisbestimmung Rückblickend in die Diskussion des 20. Jh.s sind bis heute verschiedene theoretische Grundmodelle für das Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und Theologie vertreten worden. R. Esterbauer hat hierzu eine Typologie aufgestellt, welche aufgrund ihrer Übersichtlichkeit angeführt sei.19 Seine mit der Typologie vorgetragene Interpretation und Kritik einzelner Ansätze vertreten wir hingegen nicht durchgängig, weshalb von ihm angeführte Aspekte nur genannt werden, insofern sie uns charakteristisch erscheinen. Wir ergänzen sie durch eigene Uberlegungen. Ausgewählt sind wiederum solche Aspekte, die zur Erhellung unseres methodischen Vorgehens dienen. Esterbauer unterscheidet zwischen Differenz-, Identitäts-, Mediations-, Rekapitulations- und Fundierungsmodellen, wobei sie nicht in ,Reinform' auftauchen bzw. einzelnen Autoren eindeutig zuzuordnen sind. Die mit ihnen erwähnten Autoren ergeben keine vollständige Liste, sondern verweisen auf prägnante Standpunkte. Das Differenzmodell unterscheidet die Bereiche Naturwissenschaften und Theologie streng (u.a. K. Barth, O. Bayer) 20 , da sich aus ihren gänzlich unterschiedlichen Methoden kein gemeinsamer Nenner' von ,empirisch betrachteter Natur' und ,Gottes Schöpfung' ergibt. Sie suchen dem Fehler der Kategorienverwechslungen (Aquivokationen) zu entgehen, dem Identitätsmodelle (u.a. Daecke, Moltmann) 21 , welche eine Einheit zwischen Naturwissenschaften und Theologie anstreben, häufig unterliegen. Die Gleichsetzung semantisch zu unterscheidender Begriffe soll auch von den verschiedenen Versuchen der Mediation vermieden werden. Auch sie betonen die methodischen Unterschiede zwischen den beiden Wissenschaftsarten, versuchen aber dennoch eine Vermittlung, sei es durch Analogie· , Komplementaritäts-, Darstellungs- oder Prozessmodelle. Sie alle schlagen

19

Vgl. R. Esterbauer, „Verlorene Zeit — wider eine Einheitswissenschaft von Natur und Gott", Stuttgart, 1996, 25-86.

20

Vgl. u.a. K. Barth, „Kirchliche Dogmatik" III/l, Zollikon, 1945, Vorwort: „Die Naturwissenschaft hat freien Raum jenseits dessen, was die Theologie als Werk des Schöpfers zu beschreiben hat. Und die Theologie darf und muß sich da frei bewegen, wo eine Naturwissenschaft ... ihre gegebene Grenze hat. Es ist aber auch meine Meinung, daß künftige Bearbeiter der christlichen Lehre von der Schöpfung in der Bestimmung des Wo und Wie der Grenze noch dankbare Probleme finden werden." Vgl. auch 103ff; O. Bayer, „Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung", Tübingen, 1990, 2. Aufl.; auch W. Pannenberg, Schöpfungstheologie und moderne Naturwissenschaft, in „Gottes Zukunft. Zukunft der Welt", hg. v. H. Deuser, München 1986, 276291, (später anders, siehe Mediationsmodell).

21

Vgl. u.a. S. M. Daecke, Säkulare Welt - sakrale Schöpfung- geistige Materie, in EvTh 45, 1985, 261276; ). Moltmann, „Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre", München, 1987, 3. Aufl.; auch G. Altner, „Die Überlebenskrise der Gegenwart. Ansätze zum Dialog mit der Natur in Naturwissenschaft und Theologie", Darmstadt, 1987.

Der Horizont der Untersuchung

11

Vermittlung auf einer metatheoretischen Ebene vor, auf welche sich ein reines Differenzmodell nicht einlässt und die es freilich sinnvoll zu konstruieren gilt. Das Analogiemodell (Ganozcy) 22 , welches Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen den Denkmethoden aufzeigt, stellt keinen überzeugenden Versuch dar, wird doch nach deren Aufweis eine nicht plausible Übertragung theologischer Begriffe in den naturwissenschaftlichen Bereich vorgenommen. 23 Hingegen liegen ausgearbeitete Komplementaritätsmodelle vor. 24 Als komplementär werden in ihnen zwei Betrachtungsweisen auf eine Wirklichkeit vorgestellt, die beide irreduzibel, wesentlichen Erfahrungen dieser Wirklichkeit entsprechen. Als den „gemeinsame [n] Horizont von Naturwissenschaft und Theologie" weist Link den „Horizont der Zeit" 23 auf. Scheffczyk 26 führt anders die komplementären Weisen der Naturbetrachtung auf die Einheit der Person zurück, die sowohl naturwissenschaftlich handeln als auch glauben kann. Das Komplementaritätsmodell wird von Link durch einen darstellungstheoretischen Ansatz ergänzt: „Die Transparenz der Natur - so der hier gewählte Ausgangspunkt - setzt voraus, daß die Welt von sich aus Medium einer Darstellung sein kann und insofern über sich selbst hinausweist." 27 Natur ist der „Raum der Selbstdarstellung und Selbstverherrlichung, und will dementsprechend theologisch als Ort der Realisation jener besonderen Gestalt begriffen werden, in welcher der Schöpfer als Geschöpf erscheinen kann." 28 Nicht ein neuer Entwurf natürlicher Theologie wird hier vertreten, sondern Natur als möglicher Verweisungszusammenhang auf etwas verstanden, das über sie hinausgeht. 29 Ausgehend von diesem theologischen ,Blick' auf die Natur kommt nach Link erst unter Einbezug des Zeithorizonts als desjenigen, in dem sich etwas zur Darstellung bringt, die Komplementarität von Theologie und Naturwissenschaft zum Tragen. 30 Die Vergänglichkeit der Natur kann (in ihrer

22

Vgl. u.a. Λ. Ganocxy, „Suche nach Gott auf den Wegen der Natur. Theologie, Mystik, Naturwissenschaften - ein kritischer Versuch", Düsseldorf, 1992.

23

Vgl. ebd. 25ff.

24

Vgl. u.a. Ch. Link, „Schöpfung", Gütersloh, Bd.1-2, 1991. L. Scheffczyk, „Einführung in die Schöpfungslehre", Darmstadt, 1987, 3.Aufl. Auch Altner, der aber für beide Sichtweisen eine integrierende Verbindung anstrebt, vgl. a.a.O., IX. Link, Schöpfung, Bd.2, 415, vgl. 451.

25 26

Vgl. Scheffczyk, Schöpfungslehre, 28ff.

27

28 29

Vgl. Ch. Link, Die Transparenz der Natur für das Geheimnis der Schöpfung, (Transparenz) in „Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung", hg. v. G. Altner, Stuttgart, 1989, 187. Vgl. 190ff; auch „Die Spur des Namens", Neukirchen, 1997, 171-194. 188, (Die Spur). Wird das Darstellungsmodell nach Esterbauer als „Repräsentationsmodell" bezeichnet, ist davon ein Symbolmodell zu unterscheiden, in dem eine sakramentaler .Symbolbegriff vertreten wird. Esterbauer, 60f. Vgl. G. Greshake, „Gott in allen Dingen finden. Schöpfung und Gotteserfahrung", Lreiburg/Br., 1986. Die Welt wird nicht ,nur' als Ausdruck Gottes, sondern als „wirkmächtiges Medium ... verstanden", 40. Link, Schöpfung, Bd. 2, 535. Vgl. ders., Transparenz, m Die Spur, 179f. 188ff.

30

Vgl. ebd. 189ff.

12

Einleitung

Schönheit) zur Erfahrung der Selbstdarstellung Gottes geraten oder (als physikalisches, offenes System) zur Darstellung physikalischer Gesetzmässigkeiten. Das Vermitdungsproblem stellt sich hier nun als Problem der Vermittlung zwischen den verschiedenen Formen der Erfahrung, in welchen Natur einmal transparent für Gottes Selbstdarstellung, das andere Mal,empirisch' erfasst wird. 31 Für unsere Belange ist wesentlich, dass hier mit der Kategorie der Darstellung ein metatheoretischer Ansatz ins Spiel gekommen ist, der, so wollen wir zeigen, soweit formalisierbar ist, dass auf seiner Ebene verschiedene Formen der Erfahrung thematisiert und vermittelt werden können und zwar — und hier bleiben wir nicht allein im Zeithorizont — in Rückführung auf die Einheit der Person, wie es Scheffczyk vorschlägt: „der moderne, vom naturwissenschaftlichen Denken bestimmte Mensch [kann] ... als Mensch"12 der Wahrheit der Schöpfung ansichtig werden. Und zwar ist es wiederum der Begriff der Erfahrung innerhalb eines solchen darstellungstheoretischen Modells, mit dem sowohl der methodischen Differenz beider Bereiche als auch ihrer Vermitdung über die Einheit der Person Rechnung getragen werden kann. 33 Einen metatheoretischen Schritt unternehmen zwar auch andere Modelle, wie naturphilosophische Modelle (u.a. Liedke) 34 , die Prozesstheologie (u.a. Cobb, Griffin) 35 , welche sich auf eine an den Naturwissenschaften orientierende Philosophie stützt, oder die von Esterbauer Fundierungsversuche genannten Modelle

31 32

Vgl. ebd. 185ff. Scheffzcyk, 28.

33

Vgl. Ch. Link, Wege rar Erfahrung der Schöpfung. Die Erfahrung der Weit als Schöpfung, (unter Bezugnahme auf C. F. v., Weizsäcker, Gestaltkreis und Komplementarität, in „Zum Weltbild der Physik", Stuttgart, 10. Aufl., 332-339), in Die Spur, 133-152. Außerdem ders., „Schwierigkeiten im Gespräch zwischen Naturwissenschaften und Theologie" (Schwierigkeiten), bisher unveröffentlichtes Manuskript: „Es sind nicht erst die inhaltlichen Ergebnisse der neuzeitlichen Wissenschaft und das daraus resultierende ,Weltbild', die uns von den biblischen Berichten trennen; es sind — weit folgenreicher — ihre Fragestellungen und Methoden ... Können wir überhaupt voraussetzen, daß im Sprachraum der Bibel und im Horizont heutiger Physik dasselbe erfahren wird, so daß hier ein unbegründeter Glaube gegen ein sich ausweisendes Wissen stünde, oder wird die Situation nicht angemessener beschrieben, wenn man davon ausgeht, daß hier zunächst einmal Erfahrung gegen Erfahrung steht." R. Esterbauer nennt sie „Rekapitulationsmodelle", da sie die naturwissenschaftlichen Begriffe naturphilosophisch .rekapitulieren'. Vgl. 62ff. Dies geschieht durch die Einführung einer allgemeinen Grundkategorie der Erfahrung von Natur, wie der des ,Sinns'. Vgl. G. Liedke, „Im Bauch des Fisches. Ökologische Theologie", Berlin, 1979, nach Esterbauer, 64.

34

35

J. B. Cobb/D. R. Griffin, „Prozeß-Theologie. Eine einführende Darstellung", Göttingen, 1979. Die Prozesstheologie orientiert sich an der Philosophie A. N. Whiteheads. Vgl. ders., „Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie", Frankfurt/M., 1979. Als Gegenentwurf lässt sich der ,physizistische' Vermittlungsversuch von Teilhard de Chardin verstehen. Dieser wurde u.a. von H.-D. Mutschier als ,mystisch' charakterisiert, insofern in der ,Schau' Wissenschaft und Glaube übereinkommen. Vgl. z.B. P. Teilhard de Chardin, „Der Mensch im Kosmos", München, 1959, 4. Aufl. Auch hier wird eine nicht naturwissenschaftliche Kategorie eingeführt.

Der Horizont der Untersuchung

13

(u.a. Rahner, Pannenberg) 36 . Sie alle können den Naturwissenschaften aber nicht plausibel machen, warum der jeweilige metatheoretische Vermittlungsschritt sich aus der ihr eigenen Praxis ergibt bzw. warum genuin theologische Aussagen zur Beschreibung der Dynamik der Natur dienen sollen.37 Ein darstellungstheoretischer Ansatz für verschiedene Formen der Erfahrung hingegen bleibt in den verschiedenen Praxiskontexten verhalten und muss so keine naturwissenschaftsfremden Elemente in die Beschreibung oder Begründung naturwissenschaftlicher Praxis einführen, aber auch theologische Rede nicht durch die Verwendung naturwissenschaftlicher Metaphern mühselig machen. 38 Er verweist hingegen zurück auf die ihm zugrundeliegende Einheit der Person, wie es aber noch auszuführen gilt. Eine stillschweigende Voraussetzung war bisher, dass sich eine Verhältnisbestimmung in den Bereichen Schöpfungstheologie und Kosmologie (bzw. Evolutionstheorie) aufzuhalten hat. Dies liegt an der historischen Ausgangslage, in der mittlerweile überwundene 39 - Konfliktmodelle aufgrund einer vermeintlichen Spannung zwischen biblischen Schöpfungsberichten und neuzeitlicher Wissenschaft die Diskussion bestimmten. Auch wenn heute friedliche Lösungen vorgestellt werden, bedeutet doch die Fokussierung auf den Bereich der ,Schöpfung' bzw. des ,Kosmos', dass sich die Theologie auf den Gegenstand der Naturwissenschaften einzulassen hat und nicht umgekehrt. So wurde bisher nicht angesprochen, dass die erwähnten Modelle stets von der Theologie ausgegangen sind. Für die Naturwissenschaften besteht aus rein methodischen Gründen kein Interesse an einer solchen Auseinandersetzung. Damit besteht also eine unsymmetrische Ausgangslage. 40 Denn „[wjollte oder müsste die Theologie darauf verzichten, die von der zeitgenössischen Wissenschaft beschriebene Welt als die Welt Gottes

36

Damit werden solche Modelle bezeichnet, die den Naturwissenschaften aus theologischer Perspektive aufweisen, dass sie auf einem ,weiteren' Horizont beruhen, als dem durch sie selbst emholbaren. Doch auch diese Versuche bieten keinen gemeinsamen Nenner, wie eine formale Ebene der Darstellung und die Kategorie der Erfahrung es tun, um wirklich eine Inverhältnissetzung der beiden Bereich initiieren zu können. Vgl. z.B. K. Rahner Die Hominisation als theologische Frage, in „Die Hominisation als theologische Frage. Über den biologischen Ursprung des Menschen", Freiburg/Breisgau, 1961(QD12/13), 13-90. Einen weiteren bekannten Fundierungsversuch hat W. Pannenberg geliefert. Ausgehend von der Kontingenz empirischer Einzelereignisse im Lichte der Naturgesetze und historischer Einzelereignisse im Lichte einer Schöpfungsordnung, werden erstere noch einmal als historisch kontingent verstanden, als in den allgemeinen, schöpfungstheologischen Horizont eingebettet. Vgl. Systematische Theologie, Bd. 2, 81 ff.

37

Vgl. Scheffczyk, 59f.

38

Link, Schwierigkeiten: Es sei „in der Tat nicht mehr möglich, das Gcspräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie auf der Objektebene zu fuhren, also erklären zu wollen, wie man sich den Ursprung der Welt oder die Entstehung des menschlichen Bewußtseins mit oder ohne göttlichen Eingriff vorzustellen habe." (Unter Bezugnahme auf W. Grab, Vorwort in „Urknall oder Schöpfung". Zum Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie", hg. v. dems., Gütersloh, 1995, 10). „Die für den Dialog relevanten Fragen lassen sich nur auf einer philosophischen Metaebene formulieren."

39

Abgesehen von hartgesottenen Creationisten und Empinsten.

40

Vgl. Link, Schwierigkeiten.

14

Einleitung

(Ps 24,1) in Anspruch zu nehmen, dann würde sie die Gottheit des biblischen Gottes, der als Schöpfer von Himmel und Erde bekannt wird, unweigerlich verfehlen. Zwar hat die Naturwissenschaft das theologische Argument... eliminiert... Sie ist im Hinblick auf die Theologie frei. Die Theologie hingegen kann sich über naturwissenschaftliche Einsichten nicht einfach hinwegsetzen ... Sie ist in dieser Hinsicht gebunden."41 Die Asymmetrie liegt daran, dass beide Bereiche Anspruch auf grundlegend unterschiedliche Perspektiven hegen. „Im naturwissenschaftlichen Weltbild hat ein Gott keinen Raum ... Ein Weltbild lebt von der Vorstellung, daß man die Welt als Einheit erfassen, sie gewissermaßen aus der Vogelperspektive betrachten kann ... Der biblischen Uberlieferung ist diese Perspektive, der ,Blick von außen', fremd. ... Sie argumentiert aus der existenzbetroffenen Wahrnehmung. Ihr Interesse gilt der Beziehungswirklichkeit, den Erfahrungen, die wir im Umgang mit den Phänomenen machen. Während die methodisch erzwungene Distanz der Wissenschaft verhindert, daß der Fragende in dem von ihm erstellten Bild der Welt selbst antreffbar ist, werden die Fragen und Antworten hier perspektivisch auf ihn zentriert. Es wird sozusagen in den Ort eingewiesen, an dem es — wenn überhaupt — zur Begegnung mit Gott kommen kann." 42 Was bedeutet es aber dann, wenn die Naturwissenschaft den Fragenden zwar einerseits ausschliesst, andererseits doch zum Gegenstand in der Beobachterperspektive macht, wie dies in der Hirnforschung geschieht. Wenn sie sich hier implizit auf ,den' Gegenstand der Geisteswissenschaften und Theologie einlässt, gilt es auf einmal die verschiedenen Perspektiven zu vermitteln. Auch wenn dies nicht vorschnell geschehen darf, stellt sich zumindest die Frage, ob das Sich-Einlassen der Naturwissenschaften auf ,den' Gegenstand der Geisteswissenschaften auch Auswirkungen auf deren existenzbetroffene Perspektive hat.43 Hier beginnt sich wieder das lebensweltliche Problem zu melden. Es ist nicht möglich, die Bereiche der Religion und Naturwissenschaft lediglich als jeweils eigenständige und gleichberechtigte Sprachspiele aufzufassen, zumal wir „faktisch immer in mehreren Sprachspielen zugleich leben [vgl. dazu II.l], und [...], diese für die meisten Menschen keine Spiele sind, sondern im Falle der Religion existentielle Bedeutung haben"' 44 . Wir wollen zeigen, wie auch die naturwissenschaftlichtechnische Praxis im existentiellen Bereich Bedeutung erlangt und hieraus eine lebensweltliche Konkurrenzsituation zwischen ihr und religiöser Praxis entstehen kann.

41

Link, Schwierigkeiten, (zit. nach J. Audretsch, Der Blick auf das Gan^e, in „Kosmologie und Kreativität. Theologie und Naturwissenschaft im Dialog", hg. v. J. Audretsch/H. Weder, Leipzig, 1999, 26).

42

Ebd. Vgl. Link, Schöpfting, 405ff.

43

Dass wir uns nicht in Bereichen der Quantentheorie aufhalten werden, diesbezügliche Überlegungen also überflüssig sind, wird später deutlich werden. Ebd. (unter Bezugnahme auf Audretsch, a.a.O., 29).

44

Erfahrung — in den Kontexten

15

2. Erfahrung - in den Kontexten einer sich ,empirisch' und einer sich ,hermeneutisch' nennenden Praxis Die folgende Näherbestimmung der uns interessierenden Praxiskontexte bleibt notwendigerweise unvollständig. 45 Da es sich lediglich um Prolegomena zu weiteren Ausführungen über die Darstellung und Prägung räumlicher Vollzüge personaler Identität handelt, müssen wir uns auf die hierfür wesentlichen Aspekte des jeweils handlungsleitenden Erfahrungsbegriffs beschränken. Um die Lektüre nicht schon zu Beginn der Untersuchung mit Detailerörterangen zu belasten, sind solche, sofern es notwendig ist, in die Anmerkungen verlagert worden. Es soll in dieser Einleitung nur ein erster Überblick charakteristischer Grundzüge erstellt werden, und zwar insbesondere auch für die jeweils fachfremden Leser. Mit einem von Matthias Jung entwickelten Modell, in welchem Erfahrung allgemein als Titel gilt für eine „eigenständige Form der Bezugnahme auf Wirklichkeit, die an individuelle Weltperspektiven gebunden ist und dennoch Geltungsansprüche ausbildet, die über alle Individuen und sozialen Gruppen hinausreichen können" 46 , wird sich eine Möglichkeit des Vergleichs ergeben. Insbesondere lässt sich die so formulierte Vergleichsgrundlage mit einem von Kuno Lorenz entwickelten Ansatz zur Erlangung von Handlungskompetenzen für unsere Zwecke weiter ausbauen.

2.1. ,Empirische' Praxis 2.1.1. Theorie und Erfahrung Im Kontext exakt genannter Wissenschaften provoziert der Begriff der Erfahrung vornehmlich Unbehagen. Mit dem Begriff der Erfahrung sind umgangssprachlich Vorstellungen wie ein „erfahrener Mensch" oder nicht näher bestimmbare Gefühlserlebnisse verbunden, welche in ihrer Allgemeinheit mit Recht keine geeignete Grundlage für eine wissenschaftliche Betrachtung abgeben würden. Mit ihrem Anspruch auf Präzision der angewandten Methoden und damit auch der eindeutigen Erfassbarkeit ihrer Gegenstände streben diese Wissenschaften nach Erkenntnissen in Abhängigkeit von diesen Verfahren und nicht etwa nach verschiedenen Erfahrungsformen von sich subjektiv aufdrängender Wirklichkeit. Dennoch gilt gerade für die empirische Wissenschaft die Bezugnahme auf Erfahrungsdaten, auch Beobachtungsdaten genannt, als Grundlage von Erkenntnis und zwar, insofern es um wissenschaftliche Erkenntnis im Sinne eines gesicherten Wissens geht, in der das Subjekt der Erfahrung ersetzbar ist. Dies gilt unter der 45

Einen weiteren Überblick bietet: Hermeneutik und Naturalismus, hg. v. B. Kamtschneider und F. J. Wetz, Tübingen, 2002.

46

M. Jung, „Erfahrung und Religion", Freiburg u.a., 1999, 9f.

16

Einleitung

kritischen Einsicht verschiedenster wissenschaftstheoretischer Konzeptionen, wie z.B. derjenigen K. Poppers, Th. S. Kuhns, I. Lakatos, P. Feyerabends. 47 Ein hieran anknüpfendes wissenschaftstheoretisches Grundlagenproblem stellt der Zusammenhang zwischen Theorie und experimenteller Erfahrung und damit auch zwischen der (mathematischen) Darstellung der Theorie und den Messdaten dar. Dennoch erweist sich die Relevanz eines solchen angenommenen Zusammenhangs in seiner praktischen, technischen Umsetzbarkeit, der so genannten .Anwendbarkeit'. \^orausgesetzt wird dabei, dass die Beziehung zwischen mathematischer Theorie und Messdaten (der Grundlagenforschung) die gleiche ist wie diejenige zwischen Theorie und technischer Anwendung. Die hier beanspruchten Beziehungen sind nicht letzt begründbar. Zwischen Theorie und Erfahrung bleibt ein .garstiger Graben' bestehen. Nichtsdestotrotz hat sich die neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik mit ihrer Entstehung die experimentelle (und damit theoretisch konstruierte) Erfahrung auf ihre Fahnen geschrieben. Seit Galilei und Bacon wird mit ihr quantitativ erfassbare, sinnliche Wahrnehmung (Beobachtung) verknüpft, und mit dieser auch ein kognitiver Gehalt, der in einem logischen-mathematischen System formulierbar sein muss. 48 Solche Erfahrung galt und gilt als Kriterium der ,Gewissheit' von Erkenntnis, wenn auch das, was mit ,Gewissheit' gemeint ist, mit der Zeit eine Relativierung erfahren hat. Beobachtungen, welche quantitative Daten über eine gegebene Ordnung liefern, sind die .gewisse' Basis empirischer Praxis. Sie sind es, an denen sich eine Theorie (unabhängig von einer wissenschaftstheoretischen Reflexion) zu bewähren hat bzw. die einer Theorie genügen müssen. Im Bereich klassisch-physikalischer Phänomene - und nur um solche wird es uns gehen - werden sie praktisch, wie einst, als ungebrochene Reflexion am Spiegel der Natur verstanden. Auch wenn dieses Prinzip heute wissenschaftstheoretisch hinterfragt ist, wirkt es weiterhin handlungsleitend für das Verständnis der im Labor konstruierten Natur. 49 Was ebenso vormals wie heute gilt, ist, dass sich Gewissheit auch daraus ergibt, dass die Daten intersubjektiv kommunizierbar sind, und zwar eindeutig, was impliziert, dass das Subjekt der Erkenntnis als ersetzbar gilt. Die ,unmittelbare' Erfahrung deshalb durch ein Symbolsystem, nämlich das mathematische, vermitteln zu müssen, ist dann eigentlich ein paradoxer Anspruch. Das Dilemma wird im Bereich der klassischen Physik praktisch dadurch beseitigt, dass neben dem Bild des Spiegels für das Verhältnis Beobachter-Natur eine zusätzliche Annahme gemacht wird: Es wird eine zwingende Kausalität zwi47

Vgl. Anm. 57; N. Avgelis, Rationale Rekonstruktion und Empirie, in „Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts", hg. v. J. Freudiger u.a., München, 1996, 42f. 49ff. 58f.

48

Bei F. Bacon noch nicht in demselben Masse ausgeführt. Vgl. P. Janich, Galilei, EPhW, 1, 702; J. Mittelstraß, Bacon, EPhW, 1, 242. Vgl. Galilei, II Saggiatiore (1623), „Philosophie |d.h. die Wissenschaft von der Natur] ist in jenem großen Buch niedergeschrieben, das stets offen vor unseren Augen liegt — ich meine das All - ... Dies Buch ist in mathematischer Sprache geschrieben ...", zit. nach H.Jonas, „Das Prinzip Leben", Franfurt/M., 1997, 132, Anm. 5. Vgl. Vortrag: Nobelpreisträger Zinkernagel, 4.12.2002, Universität Zürich.

49

Erfahrung - in den Kontexten

17

sehen den beobachteten Phänomenen angenommen, d.h. der ,Satz vom zureichenden Grund' in Geltung gebracht. Diese durch Sätze der Form „immer wenn ... dann ..." auszudrückende Kausalität lässt sich durch Konditionalsätze der Form „wenn ... dann ..." wiedergeben, wie sie in der formalen Logik üblich sind, unter der \^oraussetzung, dass das formale „wenn" temporal gedeutet wird. Somit ist eine durch die formale Logik bestimmte, d.h. widerspruchsfreie, mathematische Formulierung das adäquate, eindeutige Darstellungssystem. Mit ihr wird der Anspruch auf eine subjektunabhängige - deshalb gewisse - Form der Erfahrung erhoben. Der kausale Ordnungszusammenhang, in dem diese Erfahrung gesehen wird, wird als logische Ordnung verstanden, welche die Bedingung der Möglichkeit eines quantitativen Erfahrungsbegriffes ist.50 Nur aufgrund unserer logischen Kompetenz, widerspruchsfreie Schlüsse zu ziehen, können Protokollaufzeichnungen der Experimente als Quelle theoretischer Deutung dienen, wobei der Wahrheitswert der schriftlich fixierten Daten heute über statistische Korrelation ermittelt wird. 51 Gewissheit kann nur innerhalb dieses Kontextes begründet werden. Dem liegt schon seit Bacon 52 die Vorstellung induktiver Argumente zugrunde. Wenn Erkenntnis und Erfahrung durch die induktive Methode verbunden werden, wird das Beweisverfahren der vollständigen Induktion vorausgesetzt, an dem der direkte Zusammenhang zwischen in der Erfahrung evidenter Erscheinung und allgemeiner logischer Folgerung in der Anlage des Argumentationsganges ersichtlich wird: „Ist Erkenntnis hier gesichertes, verallgemeinertes Wissen, dann ist Erfahrung unmittelbare Gegebenheit als Ausgangspunkt der Induktion. Das damit gegebene Problem wurde schon bei Aristoteles und in seiner Folge thematisiert: Ein Induktionsschluß heißt sicher, wenn ein Gegenbeispiel unvorstellbar ist, wenn ein notwendiger Zusammenhang zwischen bisher beobachteten Dingen besteht, der eine Extrapolation von den bisherigen Beobachtungen erlaubt." 51 Eine schon von der Stoa kritisierte Voraussetzung dieses A^erfahrens ist: Setzt man nicht Homogenität der Natur oder Ähnliches Unbegründetermassen voraus, kann keine endliche Anzahl von Einzelbeobachtungen die Gültigkeit einer allgemeinen Aussage sichern.54 Genau das entspricht aber dem wissenschaftstheoretischen Grundlagenproblem des Verhältnisses von Theorie und Erfahrung. Wenn gilt, dass ein sicherer Induktionsschluss nur auf Grund aller einschlägigen Einzelaussagen möglich ist, dann lässt sich eine Theorie nicht durch Messdaten verifizieren. Galilei erklärte deshalb dieses Verständnis von Induktion aus praktischer Sicht für unbrauchbar (bei unendlich vielen Fällen nicht anwend-

50

Der Zusammenhang zwischen Q u a l i f i k a t i o n und formal-logischen Aussagen ergibt sich dabei stets durch einzelne Subjekt-Prädikat-Aussagen. Vgl. P. F. Strawson, „Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft", Königstein, 1981, 169.

51

Vgl. L. Danneberg, Erfahrung und Theorie, in Freudiger, 14ff.

52

Vgl. Mittelstraß, Bacon, 243.

53

Danneberg, Erfahrung und Theorie, 14.

54

Vgl. G. Haas, Induktion, EPhW, 2, 232.

18

Einleitung

bar, bei endlich vielen nicht notwendig). Später unterzog Hume 55 den Status des Induktionsbegriffs in seiner Kritik des Kausalitätsbegriffs einer erneuten Klärung. Das Induktionsprinzip sei nicht begründbar, aber zur Gewinnung allgemeiner Aussagen unverzichtbar. Damit bleibt der Zusammenhang von Theorie und Erfahrung, formuliert durch die Frage nach der Verifizierbarkeit einer Theorie durch Messdaten, ein Problem. Dies ist bisher so geblieben, wenn auch wahrscheinlichkeitstheoretische Versuche zum wissenschaftstheoretischen Problem der Bestätigung von z.B. Carnap und Reichenbach zu beachten sind. 56 Popper zog die Konsequenzen aus der Hume'schen Kritik mit seiner Theorie der Falsifikation 57 , womit er sich auch gegen die wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansätze 55

Vgl. zu Hume, IV.A.2.2.

56

Vgl. W. Stegmüller, Das Problem (kr Induktion. Humes Heraus/orderung und moderne Antworten, in I I. Lenk, „Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie", Braunschweig, 1971, 13-74. Vgl. ders., „Logik der Forschung", Tübingen, 1994, 10. Aufl. In der „Logik der Forschung" geht es um eine Auseinandersetzung mit dem logischen Empirismus (Wiener Kreis), insbesondere um zwei Grundprobleme der Erkenntnistheorie: a) das Induktionsproblem (Mit welchem Recht lassen sich aufgrund einer beschränkten Anzahl von Beobachtungen allgemeine Sätze formulieren?) und b) das Abgrenzungsproblem (Nach welchen Kriterien unterscheidet man Sätze der empirischen Wissenschaft von solchen der Metaphysik). Zu a): Popper übernimmt Humes Kritik an der Induktion, die da lautet: Die Induktion entspricht keinem logischen Schlussverfahren und als empirisch begründete benötigt sie selbst ein Induktionsprinzip, was zu einem unendlichen Regress führt. Die Evidenz, von der die Induktion ausgeht, wird von Popper dahingehend kritisiert, dass jede Wahrnehmung schon immer theoretisch voreingenommen ist (Theoriegeladenheit von Beobachtungen). Mit Popper ist die Methode der Verifikation wissenschaftlich-allgemeiner Sätze in eine Methode der Falsifikation wissenschaftlich überprüfbarer Hypothesen übergegangen. Dabei untersteht der Begriff der Überprüfbarkeit bestimmten Rationalitätskriterien, in denen der Erfahrungsbegriff konkretisiert wird: Aus allgemeinen Sätzen (Theorie) werden unter Aufstellung von Randbedingungen singulare Prognosen abgeleitet, die mit der Erfahrungsbasis verglichen werden. Trifft die Voraussage nicht ein, ist die Theorie falsifiziert. Relativ zur Erfahrungsbasis können Theorien nur falsifiziert und nicht verifiziert werden. An die Stelle des Verfahrens der Induktion tritt bei Popper das der Bewährung, das ausdrückt, dass sich eine Theorie als resistent gegen Widerlegungsversuche erwiesen hat. Zu b): Das Falsifikationsprinzip ist zugleich das Abgrenzungskriterium zwischen Erfahrungswissenschaft und Metaphysik. Ein Satz ist erfahrungswissenschaftlich zulässig, wenn er relativ zur akzeptierten Erfahrungsbasis falsifizierbar ist. Das heisst aber nicht, dass metaphysische Theorien semantisch leer klassifiziert werden (vgl. z.B. das Kausalitätsprinzip).

57

Für den Zusammenhang von Erfahrung und Wahrnehmung gilt: In Bezug auf die Erfahrungsbasis wissenschaftlicher Hypothesen vertritt Popper einen konventionalistischen Ansatz: Basissätze werden im Verfahren der Prüfung von Theorien, motiviert durch Wahrnehmungen, von der Forschergemeinschaft festgelegt, können jedoch aufgrund ihrer Theoriegeladenheit immer revidiert werden. Damit wendet sich Popper gegen die Protokollsatzkonzeption als theoriefreie Beobachtungsbasis des Erfahrungswissens, welche vom Wiener Kreis vertreten wurde. Die angestrebte Erkenntnis der Wissenschaften ist somit ein möglichst hoher empirischer Gehalt, der sich in der Einfachheit der Theorie zeigt. Leitidee bleibt bei Popper die objektive Wahrheit. Poppers Schüler I. Lakatos und P. Feyerabend haben zentrale Modifikationen am Falsifikationismus Poppers vorgenommen und anders als er die Idee des Wissenschaftsfortschritts nicht mehr vertreten. Dennoch bleibt auch bei ihnen Erkenntnis ein Bestreben, für das allein schon ihre eigenen Theorien Beweis genug sind. Vgl. I. Lakatos, „Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme", Braunschweig, 1982; P. Feyerabend, „Wider den Methoden-

Erfahrung - in den Kontexten

19

stellte. Der Popper'sche Erfahrungsbegriff bezieht sich auf die (nicht verallgemeinerbare) jeweilige Evidenz der experimentellen Praxis. In dieser Konzeption liefert die Beobachtung 1 der Forschergemeinschaft momentane Gewissheit. Paradoxerweise liefert dennoch gerade die Methode der Falsifikation ein Moment der Kontinuität und Stetigkeit, welches wiederum ein weiteres Kriterium der Gewissheit ist. Denn falsifiziert werden kann etwas nur an etwas, das zuvor identifiziert wurde, und falsifiziert werden kann etwas nur mittels — und damit in Kontinuität zu — bestehenden Regeln. So muss doch zwischen ,Beobachtung' und ,Erfahrung' unterschieden werden, dadurch dass letztere auf folgende Beobachtungen wirkt. Anders gesagt, der in der Beobachtung implizierte Deutungsprozess wird durch schon gemachte Erfahrungen mitgestaltet. Im Falle klassischphysikalischer Deutungen handelt es sich um kausal gedeutete Korrelationen wiederholbarer Phänomene. Wenn von Erfahrung die Rede ist, ist somit immer auch von ihrer deutenden Wirkung und einem impliziten Zeitfaktor die Rede. Neben dem Kriterium momentaner Evidenz und der Falsifizierbarkeit (und damit auch in Kontinuität) einer Theorie zeichnet sich heute jedoch immer mehr ein weiteres Kriterium ab. Dieses unterminiert die anderen beiden nicht, ,erscheint' aber im Laboralltag wie ihre positive, quasi-verifizierende Wendung. ,Gewissheit' ist dann erreicht, wenn die Verlässlichkeit der Labordaten durch die so genannte .Anwendung' erreicht wird, sei es ,simuliert' 58 , sei es ,real' im ausserakademischen Bereich der Gesellschaft. Die bestätigende Funktion der Anwendung holt das Verifikationskriterium auf der Stufe der Entscheidungsfindungspraxis wieder zurück. Dieses Phänomen entspricht auf modelltheoretischer Ebene dem Kriterium der so genannten ,Implementierbarkeit', mit dem nicht mehr in den Spiegel der Natur, sondern in der Regel in den Spiegel des Computers geschaut wird. Hier wird die ,reale' Anwendung sozusagen im Labor vorpraktiziert. Mit anderen Worten, Gewissheit der Erkenntnis wird durch ,applicatio' und Jmplicatio' erlangt. 59 Im Unterschied zu dieser Entwicklung gingen die empiristischen Positionen von Hume (klassischer Empirismus, Sensualismus) bis Carnap, Reichenbach (logischer Empirismus) von logischen Wissenschaftsaussagen aus, in denen Erkenntnis ausschliesslich innerhalb formal logischer Wissenschaftsaussagen deduktiv gültig ist, die sich wiederum auf empirische Sätze zu

zwang", Frankfurt/M., 1983; Th. S. Kuhn, „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen", Frankfurt/M., 1997, in Abgrenzung vom kritischen Rationalismus aber auch gegen Popper, der den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess nach wissenschaftsinternen Rationalitätskriterien kontinuierlich verlaufend konstruiert, verweist Kuhn auf die Wissenschafts- bzw. „paradigmen"externen Faktoren von Erkenntnis, die wissenschaftliche Revolutionen notwendig machen, womit wiederum der Begriff des Erkenntnisfortschritts in Frage gestellt wird. Vgl. auch J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt, 1985; Ludwik Fleck, dessen Studie schon 1935 erschien, „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv", Frankfurt/M., 1980. 58

Vgl. IV.A.

59

Vgl. LI. Nowotny, Vortrag, STS-Spring-School, 2.3.1999, Universität Zürich.

20

Einleitung

beziehen haben. Die hier betonte Theorieabhängigkeit der Erfahrung wurde durch das Quine'sche Naturalisierungsprogramm eingeholt. 60 Es liefert den theoretischen Hintergrund für das ,Implementierungskriterium', als dessen Prototyp die naturalisierte Erkenntnistheorie'· 1 der Hirnforschung bzw. die empirische Psychologie 62 angesehen werden kann. Aus dem Dilemma zwischen Induktion und Deduktion führt die von Peirce entwickelte, zusätzliche Argumentationsklasse der Abduktion heraus. Ausgehend von Wahrnehmungsurteilen werden durch die Abduktion allgemeine Sätze erschlossen, aus denen dann weitere allgemeine Sätze deduziert werden. Seit Kant hat zumindest dies sich nicht geändert: „Die Philosophie läßt also ganz allgemein und wie selbstverständlich die Erfahrung im Urteil enden, betrachtet sie als eine oder im Empirismus als die einzige Quelle des Wissens, und Erfahrung ist ihr ein Begriff der Erkenntnisth&out."a Wie auch immer Erfahrung und Erkenntnis in Beziehung gesetzt werden, ausgegangen wird von mathematisch-logischer Formulierbarkeit der Theorie und messbarer Materie, also sinnlicher Wahrnehmbarkeit (auch wenn sie über die Instrumente verlängert ist). Für technische Erfahrung' gilt also, dass sich Gewissheit durch einen messenden Umgang mit der materiellen Welt ergibt, der sich mathematisch darstellen lässt. Dies entspricht seinem so genannten Anspruch auf .Objektivität'. 2.1.1.1. Der objektive Anspruch Wissenschaftliche, technische Empirie setzt die Ersetzbarkeit des Erfahrungssubjektes voraus. 64 Man kann dies als Kriterium für .Objektivität' verstehen, darf dabei aber nicht vergessen, dass Objektivität ein Konstrukt des subjektiven Verstandes ist. Die mittlerweile klassisch gewordene Erörterung dieses Punkts findet sich bei Thomas Nagel: „Es sind Uberzeugungen und Einstellungen, die im primären Sinne objektiv sind; die Wahrheiten, die man auf diesem Wege gewinnt, nennen wir nun in einem derivativem Sinne objektiv. Um zu einem objektiveren Verständnis eines Aspektes des Lebens oder der Welt zu gelangen, treten wir von unserer ursprünglichen Sichtweise dieses Aspekts zurück und bilden uns eine neuartige Auffassung, welche die ältere Auffassung und ihre Weltbeziehung zum Gegenstand hat. Mit anderen Worten, wir integrieren uns selbst in die Welt, die wir gerade zu verstehen suchen. Die vorgängige Weltbeschreibung wird von nun an als eine Art von Schein gedacht, als eine subjektivere

60

Vgl. Avgelis, 70ff. Unser Kap. IV.A.3.2.6.

61

Zu Lakatos und Feyerabend in Bezug auf die Erkenntnistheorie der Kognitionswissenschaften, vgl. S. Wolf, „Mensch-Maschine-Metapher: Zur Exemplifikation des menschlichen Geistes durch den Computer. Eine wissenschaftsphilosophische Rekonstruktion der Kognitionswissenschaften als Technologie", Dissertation Bamberg, 1994, 73-78.

62

Vgl. Avgelis, 74.

63

Kant, KrV, Β 27.

64

Vgl. Jung, 12. Der Begriff der Ersetzbarkeit suggeriert eine grundsätzliche Unabhängigkeit des technisch Erfahrenen vom Subjekt bzw. eine Identifizierung der technischen Erfahrung mit der in ihr erfahrenen Wirklichkeit bzw. den in ihr enthaltenen physikalischen Strukturen.

Erfahrung — in den Kontexten

21

Auffassung als die neue, die mit Bezug auf diese berichtigt und bestätigt zu werden vermag. Wird dieses Verfahren jeweils wiederholt, kommt es zu weiteren, immer objektiveren Weltauffassungen." 6 5

Wird dieser Begriff von Objektivität akzeptiert, gilt zuerst einmal das Gleiche für jede Erfahrung und ihre Darstellungsformen, insofern alle Erfahrungen und ihre Darstellungsformen durch die Existenz menschlicher Subjektivität bedingt sind. Die technische Darstellungsform muss aber zusätzlichen Auflagen genügen (wie dann auch die religiöse Erfahrung und ihre Ausdrucksformen zusätzlichen Auflagen genügen müssen, nur anderen). In ihr ist der kognitive Aspekt, der ein Element von Erfahrung unter anderen ist, in den Vordergrund gerückt, und zwar ist dieser mit ihr als ein messbarer definiert. Insofern technisch Erfahrenes messbar ist, genügt es damit gleichzeitig der Bedingung, auf intersubjektiv Feststellbares beschränkt zu sein. Die so verstandene Objektivität technischer Erfahrung setzt dabei insbesondere eine designative, zweistellige Bedeutungstheorie voraus, welche vor allem Repräsentation und externe Einstellung des Beobachters betont. 66 Damit ist gemeint, dass experimentelle Erfahrung den Anspruch erhebt, sich auf eine Wirklichkeit zu beziehen, für die gilt, dass „eine nur den Naturwissenschaften, ihren mathematischen Hypostasierungen und experimentellen Eingriffen zugängliche physische Materie jenseits aller Erfahrung die einzige Wirklichkeit ist." 67 Dies sei — so Pape — in den meisten Natur- und Kognitionswissenschaften und in der physikalistisch orientierten Wissenschaftstheorie eine unbefragte Selbstverständlichkeit geworden. Es wird also z.B. - trotz im gleichen Atemzug geäusserter konstruktivistischer Aussagen — ein wissenschaftlicher Realismus vertreten, in dem die Wirklichkeit zwar nur physikalischer Beschreibung und experimenteller Konstruktion der Erfahrung zugänglich ist, aber als diese Konstruktion ontologisch reale Geltung hat. 68 Der Gegenstand technischer Erfahrung als objektiver ist die Welt bzw. das Buch der Natur, das es zu entziffern (und nicht zu lesen) gilt. 69 Ein menschliches Selbstverständnis ist in dieser Fragestellung ursprünglich nur implizit. Erst indem das Selbst zur Welt gemacht wird, indem es naturalisiert wird, wird es in den korrespondierenden Modellen explizit. Theorien wie Quines Naturalisierung und Roths Konstruktivismus bezeichnen diesen Zusammenhang von Selbst und Welt unter dem Zusammenhang von Theorie und Erfahrung. Dem entspricht eine instrumentale Praxis. Technisches Handeln, techne, ist durch die Instrumente, die es verwendet, definierbar. Diese gereichen als Mittel

65 66

67 68 69

Th. Nagel, „Der Blick von nirgendwo" (1986), übersetzt v. M. Gebauer, Frankfurt/M., 1992, 12. Vgl. Ch. Taylor, Bedeutungstheorien, in „Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus", Frankfurt/M., 1992, 62. Unter „Repräsentation" versteht Taylor Referenz auf Aussersprachliches. H. Pape, Die Unsichtbarkeit der Welt, Frankfurt/M., 1997, 15f. Vgl. III.2.3. Vgl. H.-D. Mutschier, „Physik-Religion-New Age", 1992, 2. Aufl., 185.

22

Einleitung

zu bestimmten Zwecken, bestehen aus einem in seinen physikalischen Eigenschaften wahrgenommenen Material, insofern eine Messung an ihm stattfindet, und ermöglichen die Gestaltung entsprechend wahrgenommenen Materials. Sie dienen zur Ausführung eines Handlungs- bzw. Konstruktionsschemas 70 , deshalb ist in diesem Sinne auch der menschliche Körper als ein Instrument bzw. Werkzeug verstehbar. 71 Technisches Handeln unterscheidet sich von künstlerischem Handeln durch die ihm eigene formale Zweckrationalität als Funktionalität, welche mit einer physikalischen Wahrnehmung der jeweiligen Materialien einhergeht. Damit ist schon gesagt, dass zwischen moderner Technik und neuzeitlicher Naturwissenschaft ein untrennbarer Zusammenhang besteht. 72 Die physikalischen, mathematisch formulierten Gesetze finden in der Technik Anwendung. Umgekehrt ist naturwissenschaftliche Beobachtung auf technische Instrumente angewiesen, geht also mit technischem Handeln einher. Technisches Handeln der Neuzeit basiert auf der Eichung von Messgeräten. So sind die Zwecke quantitativ innerhalb eines Masssystems nach geeichten Standards formulierbar und die universellen Konstanten 73 der Naturgesetze bestimmbar. Diejenige Technik, die heute quasi omnipräsent ist, ist die Computertechnologie, d.h. eine auf formalem Rechenkalkül beruhende Technik. Ein mit ihr neu hinzukommendes Kriterium der Gewissheit sei mit folgendem Abschnitt verdeutlicht. Mit dieser Technik erhält der Zusammenhang von technischem Handeln, Erfahrung und ihrer Darstellung eine (vermeintlich) neue Qualität der ,Unmittelbarkeit'. 2.1.1.2. Der mit der Form der Darstellung erhobene Anspruch Wie erwähnt wurde, bieten mathematische Formulierungen eine adäquate Ausdrucksweise dieses Ansatzes. 74 ,Adäquat' heisst hier ,adäquat für eine Darstellung der Erfüllung der geltenden Kriterien für Gewissheit'. Dabei wird, wenn von einer mathematischen Beschreibung in klassisch-physikalischer Hinsicht betrachteter Materie die Rede ist, stets eine bestimmte mathematische Zeichentheorie vorausgesetzt. 75 Hier ist nicht der Ort, und es überschreitet auch unsere Kompe70

Vgl. P. Janich, Technik, 215.

71

M. Mauss, Die Techniken des Körpers, in ders., „Soziologie und Anthropologie", 2, Frankfurt/M., 1989, 197-220, insbes. 205f. Vgl. M. Heidegger, „Die Technik und die Kehre", Pfullingen, 1962.

72 73 74

Die seit neuestem auch nicht mehr so konstant sind, wie es schien. Jung, 201: „Jede symbolische Form hat eine expressive Dimension - die freilich auch, etwa im Fall mathematischer Algorithmen, nahezu vollständig in den Hintergrund gedrängt werden kann."

75

Aber auch Umgekehrtes gilt. Vgl. S. Krämer, Berechenbare Vernunft, Berlin, 1991: „Versteht man .empirisch' nicht im Sinne dessen, was uns in der Erfahrung schon vorgegeben ist, was gleichsam ,νοη Natur aus da ist', sondern im Sinne von etwas, das wir herstellen, um es als anschauliche Grundlage theoretischer Erfahrung zu nutzen, dann ist der Gebrauch sinnlich wahrnehmbarer Herstellungen, .technai', allerdings von konstitutiver Bedeutung für die Stellung der Mathematik." 64; dies gilt für ein bestimmtes Verständnis der Mathematik: „Die Mathematik wird zum Vorbild nicht in ihrer Eigenschaft, Methoden für das Theorem-Beweisen, sondern für

Erfahrung - in den Kontexten

23

tenzen, die komplexen Zusammenhänge zwischen physikalischer und mathematischer Zeichentheorie zu diskutieren. Was hier hingegen zur Sprache kommen muss, sind einige Aspekte der den Formalisierungsverfahren der Computertechnologie zugrunde liegenden Zeichenkonzeption, insofern diese heute für die naturwissenschaftliche Praxis und insbesondere in der ,Erkenntnistheorie' der Hirnforschung prägend geworden sind. Sie stehen auf dem Hintergrund eines in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgetragenen Grundlagenstreits. 76 David Hilbert vertrat die Auffassung der vollständigen Formalisierbarkeit der Mathematik. Das hiesse Ableitung aller mathematischen Sätze, auch über unendliche Grössen, innerhalb eines endlichen Axiomensystems. Wenn dies möglich wäre, wären alle mathematischen Verfahren grundsätzlich auf ein endliches System eines Rechenkalküls übertragbar. Hilbert stellte diesbezüglich ein Programm auf, mit dem er sich von den Vorstellungen verabschieden wollte, die u.a. de Brouwer, Poincare und Weyl vertraten. Sie gingen von der Existenz eines Zusammenhangs zwischen mathematischem Denken und endlicher, raum-zeitlicher Anschauung aus, der es nicht zulässt, von endlichen Grössen ausgehend über unendliche Grössen Aussagen zu treffen. Hilbert konnte die Vollständigkeit seines Systems nicht beweisen. Gödel bewies im Gegenteil die prinzipielle Unmöglichkeit seines Vorhabens. Dennoch ist die formale Auffassung, die auch besagt, dass mathematische Verfahren auf ein Rechenkalkül übertragbar sind, in den Bereichen am Werk, in denen computertechnologische Verfahren (formale Rechenkalküle) ihre Anwendung finden. Als solche hat sie sich sozusagen praktisch', gefördert durch äussere, gesellschaftliche (namentlich militärische) Forschungspräferenzen, die Interesse an dieser Technologie hatten, prägend auf alle Bereich ausgewirkt. 77 Und zwar gründet dies genau in der Tatsache, dass jeder Zeichenprozess auf endlichen, materiellen Trägern verläuft. 78 In den dies ausnützenden Formalisierungen fallen nicht nur Zeichen- und Objektebene, sondern auch Zeichen und Träger zusammen, insofern die Verfahren physikalisch ausgeführt werden. Auswirkungen auf die physikalische Deutung der materiellen Wirk-

76

das Probleme-Losen zu liefern. Damit knüpft Descartes an eine Traditionslinie des mathematischen Denkens an, die nicht der Tradition des Verständnisses der Mathematik als einer .episteme' entspringt, einer apodeiktischen Wissenschaft also, die den wissenschaftlichen Status ihrer Sätze durch axiomatisch-deduktive Begründungsverfahren sicherstellt, sondern die aus der Tradition mathematischen Wissens als einer .techne' sich speist, einem Know-how, wie bestimmte Probleme gelöst werden." 213. Vgl. Kap. IV.A.3.3.1. Zur sogenannten „Grundlagenkrise": Vgl. Th. Mehrtens, „Moderne Sprache Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme", Frankfurt/M., 1990, 289-307; B. Heintz, „Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagengeschichte des Computers", Frankfurt/M. u.a., 1993, dies., „Die Innenwelt der Mathematik. Zur Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin", Berlin u.a., 2000, 60-70; O. Becker, „Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung", Frankfurt/M., 1975, 327-383.

77

Abgesehen von der Informationstheorie, Z.B. die Entwicklung des Arpanet als Vorläufer des Internet. Vgl. Th. P. Hughes, „Rescueing Prometheus", New York, 1998.

78

Vgl. III.2.

24

Einleitung

lichkeit blieben nicht aus. So ist jedes Implementierungsverfahren im Sinne einer computertechnologischen Simulation eine Folge der Formalisierung. Hier kommt zum Tragen, was nach Hilbert als Voraussetzung seines „metamathematischen" Programms einer formalisierten Beweistheorie einzuführen war, nämlich die Anschaulichkeit und Konkretheit „finiter" Symbole. 79 Diese Bedingung stellt nichts weniger als die physikalisch-stoffliche Basis dar, die der computertechnologischen Entwicklung der numerischen Mathematik notwendig zugrunde liegt. Der hier angesprochene Zusammenhang zwischen einer bestimmten mathematischen Zeichenkonzeption und ihrer physikalischen Grundlage liefert den .anschaulichen' Grund dafür, warum gerade Formalisierungen zum ,Kriterium der Gewissheit' im Bereich der Naturwissenschaften und Technik geworden sind. QuasiUnmittelbarkeit zwischen Zeicheninterpreten, Zeichen und Bezeichnetem - ein klassisches Kriterium für Evidenz - scheint hier gewährleistet zu sein. Dieser Gedanke wird in unseren Ausführungen zu Quine wieder aufgenommen werden. Damit sei die empirische Praxis durch den für sie charakteristischen TheorieErfahrungs-Zusammenhang in groben Zügen bestimmt.

2.2. ,Hermeneutische' Praxis 2.2.1. Theorie und Erfahrung Protestantische Theologie geht vom Geschehen einer Glaubenserfahrung aus, welches zwar nur subjektiv existentiell seine Bedeutung gewinnt, sich aber gleichzeitig auf seine Artikulation in Form des biblischen Textes zu beziehen hat. Der schriftliche Kanon gilt als fixierter Ausdruck entsprechender Erfahrungen, deren Relevanz sich in narrativ-mimetischer 80 Aneignung ergibt. Niedergeschrieben, wie in den biblischen Quellen, tradiert durch die ,regula fidei' und die überkommenen Glaubensbekenntnisse, sind sie Voraussetzung theologischen Arbeitens. Die Theologie hält sich als Wissenschaft an den kognitiv verstehbaren Gehalt des Uberlieferten, welches von einer Glaubenspraxis zeugt bzw. auf das sich eine Glaubenspraxis bezieht. Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Vermittlung von rationaler Analyse und Vollzug der Glaubenserfahrung wird in den jeweiligen Prolegomena Systematischer Theologien diskutiert, insofern die Bedingungen theologischer Erkenntnis und religiöser Erfahrung nicht zusammenfallen. 81 Be-

79

80 81

Vgl. D. Hilbert/D. Bernay, Die elementare Zahlentbeorie „Grundlagen der Mathematik", I, Berlin, 1934. 20-44. soll nachgebildet werden durch ein äußeres Handeln Anm. 994, Exkurs. Vgl. IV.B. Vgl. D. Ritsehl, Die ,stories' Israels, der Kirche Theologie", München, 1984, 45-54.

- das finite Schließen und seine Grenzen, in 44. vgl. auch 45: „Das logische Schließen nach bestimmten Regeln." Vgl. Kap. V., und der Gläubigen, in ders. „Zur Logik der

Vgl. nicht zuletzt die berühmte Formulierung des Problems in der zweiten Auflage des Römerbriefkommentars K. Barths, aber allgemein die Behandlung des Zusammenhangs von Vernunft

Erfahrung - in den Kontexten

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stimmt sich Theologie als hermeneutische, ist die Erfahrung, auf die sie sich bezieht, auch im Rahmen einer Theorie des Verstehens nicht endgültig einholbar. Im Unterschied zum Zusammenhang von physikalischer Theorie und empirischen Daten, der sich zwar nicht letztbegründen lässt, aber in der Praxis der klassischen Physik als eindeutige Funktion angenommen wird, wird der Zusammenhang zwischen schriftlichem Ausdruck und der ihm zugrunde liegenden religiösen Erfahrung nicht als eindeutig begriffen. Gleichzeitig wird angenommen, dass der Kanon aktuelle Erfahrungen und Auslegungen prägt, aber auch dies auf nicht eindeutig zugängliche Weise. Der Zusammenhang zwischen einstigem Geschehen und seinem Ausdruck einerseits und Text und aktuellem Eindruck bzw. resultierender Auslegung andererseits ist nicht eindeutig. Der ,garstige Graben' ist vielfach aufgefächert. 82 Dabei sind die Auslegungen des Textes weder allgemein verifizierbar noch allgemein falsifizierbar. Kontinuität des religiösen Symbolsystems wird hingegen dadurch garantiert, dass sich Glaubenserfahrungen notwendigerweise, auch wenn es noch so vermittelt geschieht, in Bezug auf den biblischen Text zu artikulieren haben. Seine vorwiegend narrative Form fördert dies in besonderer Weise, womit nicht einfach die spezifische Funktion und Vielfalt der im Kanon vorhandenen literarischen Formen übergangen sein soll. Dennoch findet sich das erzählende Element in kleinen oder grösseren Zusammenhängen durchgehend, sei es offensichtlich in Form des als deuteronomistisches Geschichtswerk bezeichneten Textcorpus oder in Form der Evangelien, sei es aber auch innerhalb anderer Gattungen: auch die Propheten oder die Briefliteratur leben von erzählenden Elementen. Anders ausgedrückt: Religiöse Erfahrung findet zwar verschiedene Orte der Formulierung (,Sitze im Leben 1 ) und ihnen entsprechende Formen, ist aber primär auf der noch nicht institutionalisierten Ebene eine erzählte, in diesem

82

und Offenbarung in den Prolegomena systematischer Theologien. Dass diese Bedingungen χ Li unterscheiden sind, heisst nicht, dass diese Unterscheidung strikt ist. Vgl. G. Ebeling, Dogmatik, I, § 8 Reden über Gott, 158-191; Dalferth, „Gedeutete Gegenwart", Tübingen, 1997, 87: „Lebenspraktische Relevanz wird so zur immer wieder erhobenen Forderung an die christliche Botschaft, und Lebenserfahrung wird zur entscheidenden Instanz, an der sich die Gegenwartsdeutung des christlichen Glaubens erweisen muß." Vgl. auch I. U. Dalferth, Die theologische llermeneutikdiskussion nach Rudolf Bultmann. Tendenzen und systematische Grundprobleme·, ders., Erkundungen des Möglichen. Perspektiven bermeneutischer Rßligionsphilosophie, in „Perspectives in Contemporary Philosophy of Religion", ed. Τ. Lehtonen/T. Koistinen, Helsinki, 2000, 31-87; G. Ebeling, Hermeneutische Theologie?, in „Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften", Frankfurt/M., 1978, 320-343; E. Schüssler Fiorenza, „Fundamentale Theologie. Zur Kritik theologischer Begründungsverfahren", Mainz, 1992, 274-304. Je nach Kontext wird Erfahrung nicht nur von Erkenntnis, sondern auch von Wahrnehmung und Erleben jeweils in spezifischer Weise unterschieden und damit auch in Beziehung gesetzt. Eine eingehende Diskussion dieser Unterscheidung würde das Ausmass nicht nur einer Dissertation viele Male sprengen. Hier interessieren die für den physikinternen Bereich einerseits und für den theologieinternen Bereich andererseits wesentlichen Verwendungen, die für den Vergleich hilfreich sind. Insofern es um jeweils endliche Erfahrung geht, deren Vollzug in der Darstellung vernachlässigt oder überschritten wird, geht es um sie als vernachlässigte und als überschrittene.

26

Einleitung

Sinne ,rnimetische'. In Bekenntnissen und Lobgesängen etc. werden diese Erzählungen in neue Gestalten überführt, die bestimmten Funktionen der Glaubenpraxis dienen. Wenn in der Theologie - im Unterschied zum empiristischen Ansatz, der sich auf den Mittelwert seiner abduktiv verwendeten, prinzipiell verfügbaren Quellen stützt - ein hermeneutischer Zugang zu den vorhandenen Quellen gewählt wird, dann liegt das spezifisch Theologische dieses Zugangs in der Tatsache, dass das gegebene Material nicht als eines betrachtet wird, mit dem die .Gewissheit' religiöser Erfahrung postulierbar oder konstruierbar wäre. Die ,Gewissheit' religiöser Erfahrung ist nicht verfügbar, und die die Theologie interessierende Wirklichkeit ist gerade diese Unverfügbarkeit, die Passivität der Erfahrung. Die Begründung theologischen Erkenntnisstrebens kann also nicht in einer in irgendeiner Weise als gegeben oder konstruiert beanspruchten Unmittelbarkeit zwischen den schriftlichen Daten und der sie interessierenden Wirklichkeit liegen. Dieses Kriterium, welches für das empirische Streben nach Erkenntnis gilt, macht stattdessen einem Erkenntnisgrund im Sinne einer fides quaerens intellectum (Anselm von Canterbury) Platz. Damit ist gesagt, dass das zuteil gewordene Glaubensgeschehen ein Streben nach seinem Verstehen in Gang setzt. So könnte man meinen, dass der unterschiedliche Status der quantitativ konstruierten Erfahrungsweise für den technologischen Erkenntnisprozess und der rein qualitativ bestimmten für die theologische Auslegungspraxis auch daran ersichtlich wird, dass ersterer seine Erfahrungsdaten sowohl konstruiert als auch deutet, und somit tatsächlich so etwas wie Unmittelbarkeit zwischen Konstruktion und Deutung gegeben ist, was für das theologische Material und seine Auslegungen nicht gilt. Aber zum einen ist auch die ursprünglich nicht gemessene Natur Material, welches ohne den technischen Zugriff existent war. Insofern fallen auch hier Material und Deutung auseinander. Zum anderen werden immer schon vorgängig vorhandene religiöse Quellen in ihrer bestimmten Form an ihrem ,Sitz im Leben' als literarische Formen ausgelegt und sind damit immer schon konstruiertes Material. Ausserdem sind die Texte des biblischen Kanons durch ,implizite' Theologien geprägt. 83 In diesem Sinne fallen auch hier Konstruktion der Daten und ihre Deutung zusammen. Was die beiden ,Praxiskontexte' hingegen unterscheidet, ist dass für den sie leitenden Erfahrungsbegriff jeweils andere (theoretische) Kriterien für die Gewissheit gelten, welche für die religiöse Erfahrung noch zu explizieren sind. Im empirischen Kontext wird Gewissheit durch den Anspruch auf Ausschluss menschlicher Subjektivität erreicht. Die entsprechende Form der Erfahrung ist eine räumlichzeitlich quantifizierte. Religiöse Praxis und ihre Auslegung verweist auf die vollständige Souveränität der subjektiv erfahrenen göttlichen Handlung. Die entsprechende Form der Erfahrung ist eine erinnernde Deutung subjektiver Zeitlichkeit

83

Im Sinne eines .nichtakademischen' Theologiebegriffs nach Ritsehl, a.a.O., 22.

E r f a h r u n g - in den Kontexten

27

und Räumlichkeit. Dabei wird gleich ersichtlich werden: Das Subjekt ist stets im Weg, wenn es um Gewissheit geht und dennoch eine unanfechtbare Bedingung der Gewissheitserfahrung. Aufgrund dieses Paradoxes lautet unsere im Weiteren zu entwickelnde These: Mit der Darstellung räumlich-zeitlich endlicher Erfahrungsvollzüge wird in beiden Kontexten zugleich die Erfahrung ihrer Transzendierung beansprucht. Die in Bezug auf diesen Anspruch erhobenen ,Gewissheitskriterien' gehen in die jeweils typischen Formen der Darstellung mit ein. Genau das wird für unsere Fragen nach Darstellung und Prägung räumlicher Vollzüge personaler Identität von Interesse sein. Gewissheit religiöser Erfahrung hat im protestantischen Bereich ihren eigenen Kriterien zu genügen. Es ist gerade die Subjektivität der Erfahrung, die für sie wesentlich ist, und zwar insofern sie sich durch das souveräne Handeln eines transzendenten Wesens konstituiert weiss, welches erst ihr eigenes Handeln in Gang setzt. Dennoch führen diese beiden Kriterien zu einer analogen Problemstellung, wie wir sie für die ,Objektivität' der technischen Erfahrung im Sinne Nagels angedeutet haben. Eine besondere Entfaltung dieses Aspekts wird in unseren Ausführungen zu Schleiermacher geschehen. Hier stützen wir uns auf die von Jung 84 — unter kritischer Bezugnahme auf die ,lebensphilosophischen' Ansätze von Wilhelm Dilthey 85 und William James 86 - entwickelte Theorie religiöser Erfahrung, da mit ihr eine erste Gegenüberstellung mit dem empirischen Erfahrungsbegriff plausibel wird. Wir beschränken uns auf religiöse Erfahrung, wie sie im jüdisch-christlichen Kontext zur Darstellung kommt und protestantisch ausgelegt wird. 2.2.1.1. Die Erste-Person-Perspektive nach Matthias Jung Religiöse Erfahrung erhält ihre Bedeutung und Relevanz und gilt als ,gewiss', gerade weil in ihr die Perspektive der ersten Person zentral ist. Jung hat diesem Punkt unter dem Aspekt des ,Lebensphilosophischen' Rechnung getragen. Dieses Stichwort verweist auf genau den Standpunkt der ,ersten Person' (Singular und Plural) im Erfassen von Wirklichkeit. Der vorschnelle Schluss, dieses Erfassen nur als eine affektive, vielleicht noch volitive, aber bestimmt nicht kognitive Bezugnahme auf die Wirklichkeit zu vermuten, ist keineswegs berechtigt, denn eine Entkoppelung der Komponenten ist nicht plausibel zu machen. Viel mehr bleibt das Subjekt der Erfahrung ihrbezüglich stets vollständig. So macht die ,ErstePerson'-Perspektive nicht notwendig einer rein innersubjektiven (d.h. affektiv, volitiv) Konzeption Platz, da zumindest ihre kognitive Komponente transsubjektive Geltungsansprüche beinhaltet.

84

Vgl. J u n g , 12f.

85

Vgl. u.a. W . Dilthey, „Die Geistige Welt. Einleitung m die Philosophie des L e b e n s " , GS, V / V I ,

86

Vgl. u.a. W . J a m e s , „Die Vielfalt religiöser Erfahrung", übers, v. E. H e r m s , F r a n k f u r t / M . , 1996.

Stuttgart, 1957, 2. Aufl.

28

Einleitung

Mit der ,Ersten-Person'-Perspektive ist der Ort der Erfahrung im Menschen, ebenso - im Sinne Kierkegaards - ihr nie abgeschlossener Entscheidungscharakter für ein jeweiliges Symbolsystem bzw. für in diesem vorhandene Ausdrucksgestalten explizit gemacht. 87 So könnte man sagen, die ,Erste-Person'-Perspektive liefert das Moment der geschichtlichen Authentizität der Erfahrung und damit Gewissheit. Wesentlich ist, dass die Ausdrucksgestalten, auf die sich die Erfahrung bezieht, selbst nicht in ,Erster-Person'-Form (Vollzugsform) tradiert sein müssen, man denke z.B. an alttestamentliche Erzählungen und an die Evangelien in ,Dritter-Person'-Form (Beobachterform). Hingegen ist nach Jung für den Geltungssinn religiöser Uberzeugungen (und diese gründen auf der ,Gewissheit' gemachter Erfahrungen) der Zusammenhang von subjektiver Bedeutsamkeit und transsubjektiven Geltungsansprüchen konstitutiv. „Bedeutung von und Bezug zur Wirklichkeit werden erst im Wechselspiel von Erleben und symbolischer Formung. Indem Subjekte sich im Erleben für die Gültigkeit einer bestimmten Ausdrucksgestalt entscheiden, wählen sie zugleich eine Deutung ihres Selbst- und Weltverhältnisses" 88 , wobei sich die Frage nach dem Weltverständnis erst mittelbar ausgehend von der ,Ersten-Person'-Perspektive stellt.89 Das dieser Erfahrung entsprechende Handeln ist ein ,erinnerndes' Handeln, welches narrativ zum Ausdruck kommt. 90 2.2.1.2. Der mit der Form der Darstellung erhobene Anspruch Wenn religiöse Glaubenserfahrung biblisch zum Ausdruck kommt, handelt es sich um eine narrative Darstellung und durch sie ermöglichte Aneignung endlicher Lebensvollzüge coram Deo. Insofern an und mit diesen Texten religiöse Erfahrung möglicherweise vollzogen wird, „entscheiden sich Subjekte durch interpretative Wahlen für solche symbolischen Transformationen ihres Bewußtseins, in denen eine das Subjekt übergreifende Realität und damit dessen eigene Endlichkeit anerkannt wird." 91 Die fundamentale je eigene ,Gewissheit' solcher Gren^tfahrung wird biblisch in verschiedensten Schattierungen artikuliert und zwar stets als Anerkennung eines göttlichen Handelns am Menschen, welches erst den Glauben setzt. 92 Als kanonisierte Form der Darstellung gilt diese als ,adäquat' und zwar ,adäquat in Bezug auf die geltenden Kriterien der Gewissheit'. Eine Formulierung religiöser Erfahrung geschieht immer in Bezug auf diese bestehenden ,adäquaten' Artikulationsgestalten. In diesem Sinne ist für die Gewissheit einer

87

Vgl. Jung, 315. Zu „Ausdrucksgestalten", vgl. insbes. 285-312. Vgl. auch zu Glaube und Erfahrung G. Ebeling, „Dogmatik des christlichen Glaubens", III, Tübingen, 290-319.

88

Jung, 315.

89

Vgl. ebd., 381.

90

Vgl. Kap. IV.B.

91 92

Vgl. ebd., 387. Vgl. K. Barth, KD III/2, Zollikon, 1948: § 47 Der Mensch in seiner Zeit, 524-780.

Erfahrung - in den Kontexten

29

Glaubenserfahrung Kontinuität gefordert, denn sie kann sich nur artikulieren, insofern sie sich an etwas (wieder)erkennt. Kontinuität besteht dann zwischen dem Muster der Wiedererkennung und dem (Wieder)erkannten. 93 Auch wenn der Vollzug solch einer Erfahrung nicht konstruierbar ist, gilt, „wenn religiöse Erfahrung gemacht wird, dann wird sie in ein stetiges Symbolsystem integriert." 94 Denn ,,[e]rst durch den Prozess des Formulierens wird es möglich, auf gelebte (rel.) Erfahrung ständig zurückzukommen und sich damit auf sie zu konzentrieren. Als Objektivierungsschemata bewirken die Ausdrucksgestalten eine Verstetigung und mithin die Identifizierbarkeit und Reidentifizierbarkeit des Erlebens, ohne welche die kulturellen Deutungssysteme der Religion nicht denkbar wären. Als Subjektivierungsschemata hingegen strukturieren sie den Erfahrungshorizont des Individuums, indem sie ihm vorgeprägte Symbole zur Verfügung stellen. Erst als artikulierte kann Erfahrung subjektiver Selbstverständigung dienen und Identität erzeugen."' 5

Jung schlägt folgende Einheit einer dreigliedrigen Struktur vor, die das Wechselspiel zwischen endlicher Erfahrung und Bezugnahme auf ein Symbolsystem darstellt: Die Artikulation vermittelt zwischen Erleben und symbolischer Form. 96 Damit ist gemeint, dass symbolische Formen als Ausdrucksgestalten (Darstellungen) einen prägenden Eindruck in einer Person hinterlassen. Das so geprägte Selbstverständnis findet seine eigenen, auch neuen, Ausdrucksgestalten, aber immer unter Bezugnahme auf schon vorhandene symbolische Formen. Das Selbstverständnis wirkt somit prägend zurück auf das vorhandene Repertoire an Ausdrucksgestalten und seine Interpretationen. Der Begriff der Artikulation meint vor allem, dass religiöse Erfahrungen sich nicht in referentieller Weise am Phänomen ,ablesen' lassen, sondern im strukturierten Prozess durch Artikulation des gelebten Lebens hervorgebracht werden. 97 Dieser strukturierte Prozess umfasst sowohl seine sprachliche als auch seine (neuro)physiologische und institutionelle Gestalt. „Nichts ist uns als es selbst unmittelbar gegeben, auch nicht Gott, sondern immer nur in einer bestimmten Gegebenheits- oder Darstellungsweise oder kurz: Perspektive. Diese perspektivische Gegebenheits- oder Darstellungsweise ist dem Dargestellten nicht äußerlich, so daß ein externer Vergleich zwischen Gegebenem und Gegebenheitsweise, Dargestelltem und Darstellungsweise möglich wäre. Das zu meinen, ist der Fehler des naiven Realimus, und dieser Fehler gründet in einem verkürzten zweistelligen Zeichenbegriff, der nur Zeichen und Bezeichnetes unterscheidet und nicht berücksichtigt, dass Etwas ein

93 94

95 96 97

D. Ritsehl hat dies „Verifikation durch Wiedererkennen" genannt, wobei hier ein anderer Wahrheitsbegriff als derjenige der empirischen Wissenschaft vorausgesetzt ist. Vgl. a.a.O., 106-108. Jung, 387. Vgl. ebd., 264: .„Erfahrung' als den Titel für jenen Humanvollzug zu verstehen, in welchem Subjekte ihres Welt- und Selbstverständnisses gewahr werden, indem sie es in öffentlichen zugänglichen Ausdrucksgestalten fur sich und andere fassbar machen." Ebd., 291. Vgl. ebd., 302ff. Symbolische Form' wird von Jung im Anschluss an E. Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen" verwendet. Vgl. ebd., 267.

30

Einleitung

Anderes nur aufgrund eines Dritten bezeichnet, wie Peirce grandlegend erkannt hat. Nichts ist uns gegeben, sei es über Wahrnehmung oder Kommunikation, das nicht die Struktur erfüllen würde: Etwas ist fürjemanden als etwas gegeben, indem es als etwas von jemanden fürjemanden erschlossen wird"?* Der Prozess der Artikulation, der nach Jung schon auf der „Ebene des prädiskursiven Bildbewußtseins" einsetzt, ist als „streng reziproke Beziehung" 99 von subjektivem Erleben und intersubjektiver symbolischer Form zu verstehen. Artikulation und Prägung vermitteln zwischen dem ,Είη-druck' der ,ersten Person' Singular und dem ,Aus-druck' der ,ersten Person' Plural (als intersubjektives Symbolsystem). Dabei ist die Kategorie des Ausdrucks nicht auf den Plural festgelegt, denn alle Ausdrucks formen sind zuerst durch die Existenz menschlicher Subjektivität bedingt. Der Ausdruck ist die Gegebenheitsform, die Darstellung des in ihm Ausgedrückten, und insofern die Art und Weise, in der ein Subjekt seine Bewusstseinszustände ,weiss'. Somit schliesst jede Ausdrucksgestalt einen kognitiven Aspekt des Wissens mit ein. „Freilich ist dieses artikulierende Wissen durch eine unaufhebbare Ambiguität von ,Hervorbringen' und ,Beschreiben' gekennzeichnet." 100 Es handelt sich um eine sinnhafte Wirklichkeitsdeutung, in der sowohl der „priviledged access" 101 der ,Ersten-Person'-Perspektive, als auch der intersubjektive kognitive Aspekt wesentliche Elemente bilden. Die Artikulation hat nach Jung selektierende, interpretierende, prägnanzbildende und symbolschaffende Funktion. So sind ,,[d]ie Ausdrucksgestalten religiöser Erfahrung ... als vereindeutigende Interpretationen zu behandeln, in denen die Subjekte ihre gelebte Erfahrung als religiös bedeutsam verstehen und damit mit symbolischer Prägnanz ausstatten. Als Wünsche ,zweiter Stufe' schließen solche Interpretationen immer ein Moment bewusster Entscheidung mit ein." 102 So setzt religiöse Erfahrung als solche nicht notwendig ihren theoretischen Begriff voraus, aber immer schon Optionen ihrer Auslegung. Religiöse Erzählung ist in diesem Sinne traditionsverbundener Ausdruck und liefert vorgängige Artikulationsstrukturen für aktuelle Erfahrungen.

2.3. Resümee Beide Praxiskontexte lassen sich durch den für sie charakteristischen Zusammenhang von Theorie (Auslegung) und Erfahrung näher bestimmen, nämlich da-

98

Dalferth, Gedeutete Gegenwart, 122. Vgl. dort auch Anm. 11.

99

Jung, 273f,

100 Jung, ebd. 101 Zur Problematik und Anwendung des Begriffs, ebd., 270ff. 102 Ebd. Wünsche erster Stufe betreffen nach Ch. Taylor (mit Ii. Frankfurt) unmittelbare Bedürfnisse. Wünsche zweiter Stufe bewerten Wünsche erster Stufe oder haben Wünsche erster Stufe zum Gegenstand. Vgl. ebd., 300.

Erfahrung — in den Kontexten

31

durch, dass zwischen Theorie (Auslegung) und Erfahrung ein je spezifisches Spannungsverhältnis besteht. Wird mit Matthias Jung ,Erfahrung' als Titel für eine „eigenständige Form der Bezugnahme auf Wirklichkeit, die an individuelle Weltperspektiven gebunden ist und dennoch Geltungsansprüche ausbildet, die über alle Individuen und sozialen Gruppen hinausreichen können," 103 verstanden, dann wurde soeben skizziert, inwiefern sich die Formen der der .technischen' und der .religiösen' Erfahrung entsprechenden Bezugnahme unterscheiden (messend, glaubend) und inwiefern diese in verschiedene Formen der Darstellung münden (mathematisch-computertechnologisch/narrativ-kanomsch), die mit bestimmten Geltungs- bzw. Gewissheitsansprüchen einhergehen (1. Objektive Erfahrung im Sinne einer intersubjektiv gültigen Praxis/subjektive Erfahrung im Sinne einer Konstitution des Subjekts durch göttliches Handeln; 2. Kontinuität der Erfahrung in Bezug auf ein Symbolsystem - zweistellig/dreistellig; 3. Erfahrung als kognitive/als vollständige). Hieraus ergibt sich, dass eine prototypische Darstellung menschlichen Selbstverständnisses für die .technische' Praxis den Anspruch auf Objektivität erhebt. Das Selbst, welches ursprünglich kein Gegenstand naturwissenschaftlicher Praxis war, wird .naturalisiert', d. h. gilt als messbar und mathematisch darstellbar, (ganz unabhängig davon, ob dieser Anspruch gerechtfertigt ist oder nicht). Die traditionell einer ,Person' zugeschriebenen Bewusstseinprozesse müssen in diesem Sinne ,implementierbar' sein, was in der Praxis .computertechnologisch unterstützt messbar' oder .simulierbar' heisst. Entsprechend gilt für die .religiöse' Praxis, dass ihre Darstellungen den Anspruch auf ein göttliches Handeln am menschlichen Subjekt erheben. Das .Selbst-Verständnis' (Kierkegaard) ergibt sich coram Deo, und zwar im protestantischen Kontext, indem es sich auf die diese Situation bezeugenden Erzählungen des biblischen Kanons bezieht, (ganz unabhängig davon, ob dieser Anspruch gerechtfertigt ist oder nicht). Um nun zu einem Vergleich der Prototypen über die Praxiskontexte zu gelangen, wird der Untersuchung ein semiotisch-pragmatischer Ansatz zur Ausbildung von Handlungskompetenzen nach Kuno Lorenz zugrunde gelegt (II.4.3.1II.4.3.3). Erst mit ihm werden in zwei- oder dreistelligen Bedeutungstheorien formulierte Gewissheitsansprüche miteinander vergleichbar. Die Voraussetzung, die wir mit diesem Ansatz machen, ist, dass jeweilige Darstellungen eines bestimmten Selbstverständnisses immer durch eine sprachliche Praxis bestimmt sind und „Sprache ... als Ergebnis einer Überführung von Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, also von Handlungen im weitesten Sinn, in Zeichenhandlungen" 104 zu verstehen ist. Ausgehend von diesem .gemeinsamen Nenner' verschiedener Praxiskontexte lässt sich der Gedanke verfolgen, dass spezifische Darstellungen menschlichen Selbstverständnisses aus spezifischen sprachlichen 103 Ebd., 9f. 104 Kuno Lorenz, Versionen des methodologischen Dualismus, in Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1999/1, 19. Vgl. II.2.3.1. Im Folgenden kursiv zitiert.

32

Einleitung

Kontexten (und zwar konkret der Kognitionspsychologie und der Auslegungspraxis des biblischen Kanons) hervorgehen. Wenn aber sprachliche Kontexte als spezifische Ergebnisse „von Überführungen von Umgangsweisen mit der Welt ... von Handlungen ... in Zeichenhandlungen" verglichen werden können, dann gilt dies auch für die in ihnen dargestellten Entwürfe menschlichen Selbstverständnisses („uns selbst eingeschlossen"). Denn „als Index für ein Ich auftretende ... Aktualisierungen der Handlungen und Zeichenhandlungen, gleichgültig ob dabei letztere verbal, pictural, mental oder noch anders auftreten" 103 , können als Grundlage für einen Vergleich dienen. Der Aufweis einer solchen Vergleichbarkeit verlangt aber, dass weitere theoretische Ebenen unterschieden und in ihrer Abhängigkeit voneinander vorgestellt werden. Einen diesbezüglichen Überblick soll die folgende Gliederung bieten.

3. Zum Aufbau der Untersuchung 3.1. Die (methodische) Grobstruktur Da wir von dem zu Beginn formulierten lebensweltlichen Problem ausgehen, berufen wir uns auf Vorarbeiten, die insbesondere in den letzten Jahren verstärkt zur Theorie ,nicht-monodisziplinären' verfasst wurden. 106 Jochen Jäger und Martin Schäringer haben die in der Literatur im Wesentlichen vorgebrachten Thesen in ihrem Aufsatz Transdis^iplinarität: Problemorientierung ohne Methodenzwang"7 prägnant zusammengestellt. Danach hat ,transdisziplinäres' Arbeiten dem Zweck zu dienen, „für disziplinenübergreifende, lebensweltliche Probleme eine geeignete Kombination von - ursprünglich disziplinären, ggfs. aber abgewandelten - Methoden zu finden und damit diese Probleme einer wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich zu machen" 108 . Transdisziplinarität unterscheidet sich von ,Multidisziplinarität', nach der mehrere Disziplinen nebeneinander auf einen „breiten Forschungsgegenstand" gerichtet arbeiten, ohne ihre Methoden gegenseitig zu beeinflussen, und von ,Interdisziplinarität', in der die „interne Dynamik der beteiligten Disziplinen zur einer Überschneidung der disziplinären Erkenntnisinteressen" und Methoden führt. Transdisziplinäres Vorgehen hingegen ist unabhängig von disziplinärem Erkenntnisinteresse auf die Bearbeitung lebensweltlicher Probleme 105 Ebd., 12. 106 Vgl. Peter Weingart, Interdisziplinarität als List der Institution, in „Interdisziplinarität, Praxis Herausforderung - Ideologie", hg. v. J. Kocka, Frankfurt/M., 1987, 159ff. Auf dem Wege ijar Transdis^plinarität, in GAIA 1(5), 1992, 250; „Stichwort Interdisziplinarität". Basler Schriften zur europäischen Integration Nr. 22, 1996. Vgl. auch W. Welsch, „Vernunft", Frankfurt/M., 1996, 946f. 107 In GAIA 7 (1) 1998. Hier zitiert nach einer vorgängig ausgeteilten Zusammenfassung anlässlich des Workshops .Interdisziplinarität' am Collegium Helveticum/ΕΊΉΖ, Dezember, 1998, 2. 108 Ebd., 2f. Wie auch die in diesem Abschnitt 1.1.1 folgenden Zitate.

Zum Aufbau der Untersuchung

33

ausgerichtet. „Die eingesetzten Methoden können neu entwickelt oder aus ihren disziplinaren Kontexten herausgelöst" und kombiniert werden. Somit wird auch das Problemverständnis und die Problemdefinition disziplinenunabhängig entwickelt. Hierfür muss eine Zerlegung des Problems in Teilbereiche geschehen, „die bereits auf die spätere Integration ausgerichtet ist, d.h. es besteht ein wechselseitiger Bezug zwischen den Teilbereichen und damit auf das Gesamtproblem. Die Bearbeitung der Teilbereiche erfolgt in freier Wahl der Methodenanwendung und -entwicklung (und nicht ,ganzheitlich-methodenfrei')." Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, dass die Integration verschiedener Teilresultate ohne eine geeignete Problemzerlegung und ohne die Bearbeitung der gewählten Teilbereiche des Problems nach spezifischen Methoden nicht erreicht werden kann. „In diesem Sinne stellt die Integrationsaufgabe eher ein Zerlegungs- als ein Integrationsproblem dar." Daraus ergibt sich die methodische Grobstruktur unserer Arbeit: Erstens, von einem leb ens weltlichen Problem ausgehend (1.1), soll der Minimalforderung für ein sinnvolles ,transdisziplinäres' Vorgehen entsprochen werden, indem zweitens eine Zerlegung des Problems in auf ihre Integration ausgerichtete Teilbereiche vorgenommen wird (I.2/II). Drittens sind Methoden zu ihrer angemessenen Bearbeitung zu entwickeln (II.4-III). Viertens geschieht die Bearbeitung der Teilbereiche unter freier Anwendung der Methoden (IV), fünftens auf ihre Integration hin (V). Kap. 1.1:

Das lebensweltliche Problem ,menschlichen Selbstverständnisses' und sein Zusammenhang mit dem Problem ,personaler Identität' Kap. 1.2: Unterscheidung der Teilbereiche Naturwissenschaften/Technik und Theologie durch den für sie spezifischen Zusammenhang von Theorie und Erfahrung und die daraus resultierenden Formen der Darstellung Kap. II: Zerlegung des Problems personaler Identität in seine logischen und ästhetischen Aspekte auf der Ebene der Einzeldinge Kap. II.4/III: Entwicklung der semiotisch-pragmatischen Methode zur Identifizierung (Individuation) eines Einzeldings auf der Ebene der Darstellung Kap. IV: Bearbeitung der Teilbereiche/-aspekte unter Anwendung des semiotisch-pragmatischen Ansatzes Kap. V: Integration: Darstellung und Prägung räumlicher Vollzüge personaler Identität.

34

Einleitung

3.2. Die (systematische) Feinstruktur Das Programm für unsere systematische Argumentation sei folgendermassen verdeutlicht.

Menschliches Selbstverständnis' und Kap. I

Probleme personaler Identität in verschiedenen Praxiskontexten

I Kap. II-III

Semiotisch-pragmatisches Modell

Kap. IUII

ÄL, WW, ZI

ÄL, WW, ZI

Räuml.-Zeiti.-Mat.

Analytische Philosophie

Hermeneutik

Naturalisierung

J

F

Symbolisierung

Kognitionspsychologie

Jüdisch-christlicher Kontext

topischer Schematismus (Raum/Zeit)

narrativer Schematismus (Raum/Zeit)

Darstellung: Algorithmus

Darstellung: Narration

Kap. IV. Β

Kap. IV.A WW, ZI, ÄL

implementierte Identität

mimetische Identität

Beobachterperspektive

Vollzugsperspektive

STOBCON (Zeit)

Exodus (Raum)

räumliche Darstellung räumliche Zeitlichkeit \

WW, ZI, ÄL

zeitlliche Darstellung zeitliche Räumlichkeit /

Darstellung und Prägung p.V

räumlicher Vollzüge personaler Identität und 'menschlichen Selbstverständnisses'

Erläuterung zur Graphik: Als Grundlage des Vergleichs verschiedener Darstellungsformen dient das semiotisch-pragmatische Modell nach Kuno Lorenz (II.4.3.1-4.3.3). Dieses Modell vereint das Quine'sche Programm der Naturalisierung von Sprache mit demjenigen der Symbolisierung von Welt nach Cas sirer unter die semiotische Theorie von Peirce, und zwar erscheinen beide als zwei Aspekte eines methodologischen Dualismus, indem auf den Zeichencharakter von Handlungen sowie auf den

Z u m Aufbau der Untersuchung

35

blossen Handlungscharakter von Zeichenhandlungen verwiesen wird.105 Das Naturalisierungsprogramm hat wiederum Anteil an der Debatte der analytischen Philosophie, und damit auch an der dortigen Debatte personaler Identität, so wie die Symboltheorie Cassirers in die hermeneutische Theorie narrativer Identität nach Ricceur eingeht. Das Lorenz'sche Modell wird in Kap. II in seinen Zusammenhang mit formalen Aspekten räumlich-zeitlicher Individuation und Identität einer Person eingebettet. Es handelt sich um die ästhetisch-logischen Leitaspekte (AL), welche mit ihren Unteraspekten ,Zeichen und Identität' (ZI) und ,Widerspruch und Widerständigkeit' (WW) die gesamte Untersuchung strukturieren. Eine Voraussetzung unserer Betrachtung ist, dass Raum und Zeit unterscheidbar sind, dies aber nur insofern und „obwohl" der menschliche Erfahrungszusammenhang stets sowohl räumlich als auch zeitlich bestimmt ist. Deshalb wird es nötig sein, ihre Unterscheidung und ihren Zusammenhang sinnvoll zu definieren, wofür wir uns auf den Satz vom auszuschliessenden Widerspruch beziehen, auf den hin die ästhetisch-logischen Leitaspekte (AL, ZI, WW) konstruiert sind. Ihr Zusammenhang mit dem Lorenz'schen Modell, sowie die bezüglich dieses λίodells in Kap. III eingeführte Semiose nach Peirce, bilden den metatheoretischen Rahmen für die spätere Analyse konkreter, sprachlicher Kontexte und der in ihnen vorkommenden Darstellungen menschlichen Selbstverständnisses (IV). So weist die computertechnologisch gestützte Kognltionspsychologie in den theoretischen Voraussetzungen ihrer Formalisierungsverfahren im Wesentlichen die ästhetisch-logischen Aspekte analytischer Modelle personaler Identität auf und geht praktisch in die Richtung des Naturalisierungsprogramms (IV.A). In dieser Hinsicht lässt sie sich auf den (in der Graphik) linken Zweig hin bestimmen. Analoges gilt für das Verständnis der Person, welches sich in theologischer Hinsicht in Bezug auf die Erzählungen des biblischen Kanons ergibt. Es lässt sich innerhalb eines Programms der Symbolisierung von Welt und einer hermeneutischen Theorie narrativer Identität plausibel machen (IV.B), also auf den rechten Zweig (der Graphik) hin bestimmen. Vergleichbarkeit des naturalisierenden und des symbolisierenden Zweiges ergibt sich, wenn beachtet wird, dass Sprache im oben zitierten Sinne immer kontextbedingte Formen der Darstellung findet. Und zwar erheben Darstellungen von etwas, egal ob sie vom Standpunkt der Naturalisierung oder demjenigen der Symbolisierung aus vorliegen, einen Anspruch auf einen räumlich-zeitlichen Aspekt, auf den hin der Vergleich angelegt sein kann. So gehört zu den Kapiteln II u. III, die das theoretische Rahmenmodell entwickeln, auch der Aufweis dessen, wieso kontextabhängige Darstellungen für das, was eine Person, ihre Individuation und ihre praktische Identität im Vollzug, ausmacht, überhaupt vergleichbar sind, und warum es die Aspekte des Räumlichen und Zeitlichen sind, die dies auf grund-

109

Vgl. ebd., 20.

36

Einleitung

sätzliche Weise ermöglichen. Die Entfaltung dieser Zusammenhänge geschieht auf der Schablone des schon vorliegenden Ricceur'schen Modells narrativer Identität, welches das kantische Schematismusverfahren unter semiotischen Vorzeichen als formalen Zusammenhang zwischen narrativ-mimetisch geprägten Darstellungsweisen und dem zeitlichen Aspekt personaler Identität entwickelt. Verallgemeinert man wiederum das Ricoeur'sche Modell, erhält man ein Verfahren zur Bestimmung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit personaler Identität für beliebige Kontexte, welches in die Semiose übergeht. Hieraus lässt sich für die Kognitionspsychologie, unter der Prämisse ihrer algorithmisch geprägten Verfahren der Darstellung entwickeln, dass diese Verfahren einem topischen Schematismus entsprechen. Dies geschieht unter Bezugnahme auf Theorien Helmut Papes und Sybille Krämers. Parallel hierzu lässt sich für den jüdisch-christlichen Kontext, unter der Prämisse, dass in ihm dominant narrativ geprägte Formen der Darstellung vorliegen, ein narrativer Schematismus im Sinne Ricoeurs spezifisch für die biblische Erzählung vorführen. So wird dem Modell einer implementierten Räumlichkeit und Zeitlichkeit personaler Identität auf Seiten der Kognitionspsychologie ein Modell deren narrativer Räumlichkeit und Zeitlichkeit im jüdisch-christlichen Kontext gegenübergestellt. Dies wird konkret anhand eines Experiments in der Kognitionspsychologie und einer narrativen Passage des Alten Testaments beleuchtet. Um die auf die Aspekte der Räumlichkeit und Zeitlichkeit zugeschnittenen Fragestellungen zu pointieren, haben wir als Fallbeispiele ein Experiment zum Zeitbewusstsein (STOBCON) und eine Passage aus der - den Raum in besonderer Weise thematisierenden — Exoduserzählung (Ex 12.1-20) ausgewählt. Die Erläuterung dieser Wahl wird den Kap. IV. A u. Β vorbehalten. Für das Verständnis unserer Untersuchung ist hingegen grundlegend, dass der Gegenstand des jeweiligen Fallbeispiels (Zeit bzw. Raum) von den schon erwähnten Ebenen ihrer Darstellung zu unterscheiden ist. Insbesondere lässt sich aufzeigen, dass die implementierende Darstellung durch und durch räumlich (da rein syntaktisch) bestimmt ist, womit auch ihre Darstellung des Zeitbewusstseins eine räumliche (bzw. ,verräumlichte oder < jeder Gegenstand ist mit sich selbst identisch > - , daß vor jeder logischen Behandlung der Identität, und dazu gehören die ausgedehnten Diskussionen um Identitätskriterien, ganz allgemein oder auch eingeschränkt auf bestimmte Gegenstandsarten (z.B. Dinge, Handlungen, Ereignisse, Zahlen, Mengen usw.), aber auch die Erörterungen um den Zusammenhang von Gleichheiten — d.s. die partiellen (teilweisen) oder relativen Identitäten — mit der — dann meist totale (vollständige) oder absolute Gleichheit genannten - Identität, die gegenstandstheoretischen oder ontologischen Grundlagen einer Klärung bedürfen, nämlich, was es heißt, zu kennen oder wiederzuerkennen, sich auf einen Gegenstand — bestimmt oder unbestimmt - beziehen zu können oder gar einen Gegenstandsbereich zur Verfügung zu haben." Zum Begriff der logischen Identität kommen wir somit erst in Kap. II.2.

44

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

der räumlich-zeitlichen Grundbedingung des Menschen. E s sind also nicht nur alle drei Hinsichten unausweichlich miteinander verquickt (die Unterscheidungen demnach rein systematisch), sondern auch die Räumlichkeit und Zeitlichkeit einer Person treten stets miteinander auf. Umso wichtiger wird es sein, in Kap.II.2 mit dem Satz vom auszuschliessenden Widerspruch ein allgemeines Kriterium für die Unterscheidung von ,Raum' und ,Zeit' bzw. .Räumlichkeit' und ,Zeitlichkeit' vorzulegen, wobei die letzten beiden Begriffe erst unter semiotischer Perspektive (Kap. III) ihre vollständige Bedeutung erhalten werden. Um unser mit den obigen Unterscheidungen verfolgtes Anliegen deutlich zu machen, sei hier deshalb auch schon auf den Ansatz von Lorenz vorgegriffen, wenn wir behaupten: Mit den verschiedenen, kontextbedingten Darstellungen gibt es unterschiedliche Akzentuierungen der mit ihnen beanspruchten Erfüllungen auf die Räumlichkeit oder Zeitlichkeit von Erfahrung. 10 Unsere These hierzu lautet: Unabhängig davon, ob Darstellungen letztendlich adäquat sind für das, was sie darzustellen beanspruchen, resultieren die unterschiedlichen Akzentuierungen daraus, dass in dem einen Fall die Beobachterperspektive, im anderen die Vollzugsperspektive menschlicher Erfahrung stärker zum Ausdruck kommt. Der springende Punkt ist, dass der Anspruch auf eine ,reine' Beobachterperspektive und ihre entsprechende Form der Darstellung stets ,räumlich' bestimmt sind, sogar dort, wo sie in ihrer Darstellung von Zeitverläufen redet.11 Dies ist so, obwohl — wie schon in 1.1.1.1 erwähnt — auch der Beobachterperspektive eine Vollzugsdimension eigen ist. Was damit gemeint ist und welche Konsequenzen hieraus für jeweilige Darstellungen menschlichen Selbstverständnisses erfolgen, wird unsere Untersuchung ausführen. Umgekehrt lässt sich herausarbeiten, wie die Zeitlichkeit der Vollzugsperspektive stets auch räumliche Aspekte aufweist, die in Darstellungen der Vollzugsperspektive eingehen. Strawsons Theorie der Einzeldinge verknüpft zu den Fragestellungen b.-e. hinführende Elemente in einer Weise, die gerade aufgrund ihrer Begrenztheit die angesprochene Verflochtenheit deutlich macht, und zwar insofern dies für jede Theorie personaler Identität konstitutiv, wenn auch nicht hinreichend, ist.

1.2. Die Dominanz der Beobachterperspektive in P. F. Strawsons Theorie der Einzeldinge Strawson nennt als notwendige Kofbedingungen für die sprachliche Identifikation eines Einzeldings:

10

Vgl. II.4.3.1 und III.2.2; Wir beziehen uns auf Lorenz, Versionen, 18: „ A u f der Sprachebene oder auch auf jeder anderen mit der Vergegenständlichung von ^pragmatischen*) Vollzügen ins Leben gerufenen ,semiotischen' Ebene gibt es nur Erkenntnistfwj^m'/ji?, keine Erkenntriiszxfullungm"

11

Vgl. IV.A.1.2.2.

,Vorsprachliche' und .sprachliche' Identifikation

45

χ. Die Identifikation eines Einzeldings bezieht sich unmittelbar oder mittelbar immer auf einen materiellen Körper. y. Mit (x.) ist ein Einzelding immer mittelbar oder unmittelbar in Bezug auf räumlich-zeitliche Koordinaten auszumachen. (x.) und (y.) konstituieren den Anspruch auf das, was wir eine ,reine' Beobachterperspektive ,vorsprachlicher' Identifikation nennen wollen. Damit ist gemeint, dass mit diesem Anspruch hinsichtlich der Frage nach der Identifikation eines Einzeldings das ,Wie' ihres Vollzugs für irrelevant betrachtet wird. Hingegen wird mit diesem Anspruch vorausgesetzt, dass, wenn es eine sprachliche Entsprechung für die sinnliche Identifikation, es auf jeden Fall ein deiktischer Ausdruck oder eine physikalische Zustandsbeschreibung sein kann (y.)·12 Da es aber keinesfalls evident ist, dass die so verstandene Identifikation überhaupt in eine Beschreibung überführbar ist,13 wird die prekäre Beziehung, die zwischen sprachlicher Identifikation (Indizierung durch einen deiktischen Ausdruck oder Individuation durch eine Beschreibung) einerseits und sinnlicher, räumlichzeitlicher Identifikation (x., y., räumlich-zeitliche Beobachterperspektive) andererseits besteht, von Strawson als ein zentraler Punkt seiner Ausführungen erörtert. Elemente des Gedankengangs geben wir nur insofern wieder, als es uns um das hervorstechende Merkmal der ,Räumlichkeit' dieser Ausführungen geht: (y.) liefert ein Kriterium dafür, dass in einer dialogischen Situation auf ,dasselbe' Einzelding gezeigt wird bzw. von ,demselben' Einzelding die Rede ist. 14 Denn wenn eine hinreichende Bedingung für die Identifikation eines Einzeldings ist, dass es von einer Person sinnlich wahrgenommen wird, 13 dann genügt es, wenn eine begriffliche Beschreibung sich auf diese Bedingung bezieht, um eine sprachliche Identifikation desselben Einzeldings zu sein. Dies leisten auf jeden Fall Indikatoren. Damit sich hingegen zwei Personen auf dieselbe Beschreibung ihrer sinnlichen Wahrnehmung einigen können, muss der Vollzug der Identifikation innerhalb der sprachlichen Identifikation ausgeblendet werden, wie es unter einer ,reinen' Beobachterperspektive und der ihr entsprechenden Zustandsbeschreibung der Fall ist. Was hier sinnlich und begrifflich identifiziert wird, ist die Ausdehnung und der Widerstand materieller Dinge. „Wir können es als notwendige Bedingung für materielle Körper angeben, daß sie bei Berührung einen fühlbaren

12

Vgl. ebd., 38-47, insbes. 45.

13

Denn es ist nicht selbstverständlich, inwiefern z.B. ein- und dasselbe Ding als ein physikalisches, sinnlich wahrnehmbares Phänomen und ebenso als ein logisches Subjekt einer Aussage in Form einer Zustandsbeschreibung auftreten kann. Dies entspricht dem in Kap. 1.2 angesprochenen wissenschaftstheoretischen Grundlagenproblem der Physik. Strawson, 27ff. 111 ff. 232ff.

14 15

Nach Strawson auch „gerade eben", aber dieses Problem sei hier noch aufgeschoben, da die Frage nach der zeitlichen Identität im Laufe unserer Untersuchung noch ausführlich behandelt werden wird. Vorwegnehmend sei aber geltend gemacht: Wahrgenommen werden kann nur Kopräsentes. Etwas, was gerade passiert ist, kann höchstens erinnert werden.

46

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

Widerstand zeigen Diese Bedingung ist also immer erfüllt, wenn jemand in der Lage ist, das von ihm gemeinte Einzelding direkt zu lokalisieren [directly locate]. Damit beinhaltet Identifikation von etwas auch immer Unterscheidung von einem anderen und Bestimmung durch ein anderes. 17 Unser begriffliches System bezieht sich auf so Identifizierbares und auch hier gilt, dass Identifikation stets eine Unterscheidung von anderem beinhaltet: „Von welchen Elementen wir was sagen, hängt davon ab, welche Elemente wir als konstituierendes Gerüst für die Menge des Ganzen betrachten." 18 Solch sprachliche Identifikation von Einzeldingen bezieht sich nicht nur auf materielle Objekte, sondern auch auf historische Ereignisse, Menschen etc. (also nicht Eigenschaften, Zahlen, Gattungen 19 ). Dazu werden Pronomina, Eigennamen, bestimmte Artikel und deskriptive Wendungen, sowie aus diesen Elementen zusammengesetzte Ausdrücke verwendet. Aber diese nicht direkt lokalisierbaren Einzeldinge werden durch eine Beschreibung identifiziert, die sie wiederum eindeutig mit jeweils einem anderen und seinerseits demonstrativ identifizierbaren Einzelding verknüpft. Damit ist z.B. gemeint, dass Empfindungen des Redners, die für den Hörer nicht direkt identifizierbar sind, von dem Einzelding ,Person' abhängen, welches in diesem Falle der Redner ist. Genauso hängt die Bezugnahme auf theoretische Konstruktionen, wie z.B. gewisse Elementarteilchen der Physik, davon ab, dass wir sie letztlich identifizieren, indem wir uns auf „jene gröberen beobachtbaren Körper identifizierend beziehen, als deren winzige unbeobachtbare Bausteine wir sie vielleicht ansehen." 20 Es ergibt sich allgemein: „Die Identität des Bereichs der Einzeldinge, des Ausschnitts aus dem Universum, innerhalb dessen die Identifikation vorzunehmen ist. Es ist der gesamte Schauplatz, der gesamte Bereich der gegenwärtig wahrnehmbaren Einzeldinge" 21 . Hier kommt die angesprochene Voraussetzung, dass sinnlich Wahrnehmbares eindeutig in eine physikalische Zustandsbeschreibung überführt werden kann, implizit zum Tragen. Sie wird von Strawson damit begründet, dass ein Einzelding identifizierender Ausdruck als Paradigma für eine logische SubjektAussage gelten kann, wie sie mit einer Zustandsbeschreibung vorliegt. 22 Das heisst wiederum, dass letztendlich alles auf die demonstrative Sprecher-Hörer-

16

18 19

Ebd., 49. Zur in diesem Kontext behandelten Frage nach Lichtphänomenen und ihrer Identifikation ist anzumerken, dass auch sie mit einem elektrischen Widerstand im Sehnerv einhergehen. Gerade dies ist die Vorbedingung jedes visuell wahrgenommenen Einzeldings. Der ,Widerstand' ist ein Kriterium, welches zur Ausdehnung der Dinge hinzukommt, das Descartes in seiner Meditatio VI für die res externa geltend gemacht hat. Vgl. „Meditationes de prima philosophia", lat.dt. Ausgabe, hg. v. L. Gäbe, Hamburg, 1959, 115/116, 134/135, 154/155. Vgl. Strawson, 21. Strawson unterscheidet für uns unwesentlich ,story-relative' (kontextbedingt) und .relative' (bedingt). Ebd., 46. Vgl. ebd., 17.

20 21

Ebd., 55. Ebd., 23.

22

Vgl. ebd., 251.299ff. Anders argumentiert Quine, vgl. Kap. IV.A.3.2.6.

17

,Vorsprachliche' und sprachliche' Identifikation

47

Situation bezogen wird, die räumlich-zeitlich bestimmt ist, ohne dass der Vollzug in ihr Relevanz hat. 23 Wie hängen nun diese Bedingungen der Identifikation mit personaler Identität, für die Bewusstsein und Handlungen einer Person konstitutiv sind, zusammen? Eine Person unterscheidet sich von einem Einzelding, welches nicht mehr als ein materielles Objekt ist, insofern sie nicht nur eine physische Einheit ist bzw. sich einen Körper zuschreibt, sondern ein Wesen, das zu reflektierten und praktischen Selbstverhältnissen fähig ist.24 Ihr werden Einzeldinge wie .Zustände', ,Erlebnisse', .Empfindungen' etc. prädiziert wie auch physikalische Eigenschaften zugeschrieben. 25 Umgekehrt beruht ,,[d]as principium individuationis solcher Erlebnisse ... wesentlich auf der Identität der Personen, zu deren Geschichte sie gehören." 26 Es hängt die identifizierende Bezugnahme auf solch ein „,privates' Einzelding ... gänzlich von der identifizierenden Bezugnahme auf Einzeldinge eines anderen Typs ab, nämlich auf Personen." 27 Die räumlich-zeitliche Identität des Einzeldings ,Person' ist also für andere Einzeldinge konstitutiv, muss aber als solche selbst den allgemeinen Bedingungen genügen, die für die Identifikation eines beliebigen Einzeldings gelten. Damit lassen sich Personen zwar nur insofern sie einen Körper „besitzen" 28 identifizieren. Dieser Körper ist aber lediglich eine notwendige Bedingung für ihre (sprachliche) Identifikation. 29 Daraus ergibt sich die Frage, wie ein Einzelding als Person identifiziert wird. „Warum werden unsere Bewußtseinszustände überhaupt irgendeinem Subjekt zugeschrieben? ... Warum werden sie genau demselben Ding zugeschrieben wie gewisse körperliche Eigenschaften demonstrativ-räumlich, eine bestimmte physikalische Situation?" 30 Anders ausgedrückt — den Zusammenhang zwischen sprachlicher Identifikation und direkter Lokalisierung eines Einzeldings vorausgesetzt - wie hängt das logische Subjekt sprachlicher Identifikation mit den Bewusstseinszuständen eines ,Ich' zusammen? Dass dies ein Problem ist, welches aus der ,Räumlichkeit' der .räumlich-zeitlichen Beobachterperspektive' der Identifikation resultiert, sei mit Strawsons Antwort veranschaulicht. 1.2.1. Verräumlichung der Identität bei Strawson Auch wenn Strawson nicht nur von einer räumlichen, sondern ebenso von einer zeitlichen Bestimmung der Identifikation redet, ergibt sich aus den genannten, 23

Vgl. ebd., 27.

24

Vgl. ebd., 113ff.

25

Vgl. ebd., 52ff. 134ff.

26 27

Ebd. Ebd.

28

Ebd., 262. Vgl. die Problematisierung dieses Begriffs: 119ff. Bei Strawson werden Körper und Leib nicht unterschieden. Vgl. ebd. 170. Vgl. Strawson, 114.

29 30

48

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

notwendigen Bedingungen der Identifikation, dass diese von Strawson als ein grundsätzlich raumbezogenes Tun aufgefasst wird: „So läuft die Identifikation und Unterscheidung von Orten auf die Identifikation und Unterscheidung von Dingen hinaus; und die Identifikation und Unterscheidung von Dingen läuft teilweise auf Identifikation und Unterscheidung von Orten hinaus." 31 Erst im Schritt des Wiedererkennens von etwas, seiner Re-Identifikation geht es um die zeitliche Identität des Ortes oder des Dinges, womit aber Räumlichkeit, Ort und Ding, Voraussetzung der zeitlichen Identifikation ist bzw. auf die ReIdentifikation eines räumlichen Musters reduziert wird. 32 Strawson, der hier in seiner begrifflichen Analyse - nicht anders als die ihre Begrifflichkeit nicht thematisierende Praxis der Physik (und damit auch die Kogmtionspsychologie) — in der Beobachterperspektive verharrt (bzw. auf ihrem Anspruch), muss die Zeit verräumlichen (vgl. unser Kap. IV.1.2.2), da nur so die Vollzugsdimension ausgeblendet werden kann. Zeit ist bei ihm nicht mehr als eine vierte räumliche Koordinate, und Koordinaten ergeben sich durch den Raum materieller Einzeldinge: „Es scheint, als könnten wir, ausgehend von der Prämisse, dass Identifikation letztlich auf der Einordnung in einen einheitlichen vierdimensionalen Raum-Zeit-Rahmen beruht, ein Argument mit dem Resultat konstruieren, dass eine gewisse Klasse von Einzeldingen in dem dargelegten Sinn grundlegend ist. Denn dieser Rahmen ist nichts Äusserliches für die realen Objekte, über die wir sprechen. Wenn wir fragen, wodurch der Rahmen konstituiert wird, müssen wir die Objekte oder wenigsten einige von ihnen selbst ansehen. Die einzigen Objekte, die ihn konstituieren können, sind jene, die ihre eigenen grundlegenden Eigenschaften auf den Rahmen übertragen können. Das bedeutet, es müssen dreidimensionale Objekte mit einer gewissen räumlich-zeitlichen Dauer sein. Ferner müssen sie solchen Beobachtungsmitteln zugänglich sein, wie sie uns zur Verfügung stehen ... Von den Kategorien von Objekten, die wir kennen, erfüllen nur jene diese Forderung, die entweder selbst materielle Körper sind oder materielle Körper haben — in einem weiten Sinne dieses Ausdrucks. Materielle Körper konstituieren diesen Rahmen." 33

Hieraus wird der .räumliche' Anspruch des Vorgangs der Identifikation deutlich, insofern die Identifikation materieller Einzeldinge grundlegend ist und diese durch deren sinnliche Wahrnehmung geschieht, also in Bezug auf ihre räumliche Ko-Präsenz. 34 Erst in zweiter Linie, im Moment des Wiedererkennens des räum31

Ebd., 46.

32

Vgl. ebd. 40. Aus diesem Grunde war für David Hume zeitliche, numerische Identität eine Illusion. Vgl. „Traktat über die menschliche Natur", I, Hamburg, 1989, Nachdruck der 2. Aufl. von 1904, 286. Strawson meint dem widersprechen zu können, vgl. ebd. 170.

33

Ebd., 49.

34

Vgl. C. McGinn, Bewußtsein und Raum, in „Bewußtsein", hg. v. Th. Metzinger, Paderborn u.a., 1996, 3. Aufl., 197: „Kognitiv wie physikalisch gesprochen sind wir räumliche Wesen par excellence·. ... Dies ist ein Gedankengang, der nachdrücklich von P. F. Strawson vertreten wird, der sich besonders auf die Rolle des Raumes in unseren Praktiken der Identifikation konzentriert. Die leitende These Strawsons ist, daß der Unterschied zwischen Einzelding particular.*] und Universale [universal], und damit zwischen Subjekt und Prädikat, auf der Idee oder Erfahrung räumlicher Unterschiedenheit beruht. Wir sehen A ' u n d j nur insofern als verschiedene Beispiele \in.Uance.sj als

,Vorsprachliche' und sprachliche' Identifikation

49

liehen Gegenstandes, geht es um seine zeitliche Identität eines Einzeldings, die weiterhin, wie Hume immer noch zu Recht eingewandt hat, problematisch bleibt. Dies ist solange der Fall, wie ein Modell der Identität bzw. der Identifikation sich auf eine ,reine' Beobachterperspektive beschränkt, sei es allgemein begrifflich, sei es speziell physikalisch gemeint. 35 Hier gilt stets der räumliche Rahmen: „Betrachten wird dagegen die Identität der materiellen Körper im Ablauf der Zeit, so finden wir zwar eine bereits erwähnte grundlegende Bedingung, nämlich die Kontinuität der Existenz im Raum; und die Entscheidung, ob diese Bedingung erfüllt ist, kann von der Identifikation von Orten abhängen; aber diese ihrerseits beruht wiederum auf der Identifikation von Körpern." 36 Wenn zeitliche Identität durch das Wiedererkennen von etwas definiert wird, nämlich als wiederholte Beobachtung desselben räumlichen Musters 37 , lässt sich die Frage nach der numerischen Identität von etwas (Identität von ein- und demselben Ding) in der Zeit nicht beantworten. Viel mehr wird diese nur durch ein Modell qualitativer Identität (Identität des räumlichen Musters) angenähert. Genau dies wird in der hermeneutischen Theorie narrativer Identität Ricceurs beanstandet. 38 Hier sei aber vorerst innerhalb des analytischen Modells der Zusammenhang zwischen Beobachterperspektive und Räumlichkeit weiter verfolgt, und zwar in Bezug auf die Identifikation einer Person als Person. Dazu sei ein vorangegangenes Zwischenergebnis nochmals in Erinnerung gerufen: Materielle Körper sind grundlegend für die Identifikation von Einzeldingen. Sie sind der Bezugsrahmen jeder Lokalisierung. Einzeldinge, die keine materiellen Körper sind, bedürfen der Bezugnahme auf materielle Körper. Unser begriffliches System bezieht sich auf Identifizierbares und es gilt: „Von welchen Dingen wir was sagen, hängt davon ab, welche Elemente wir als konstituierendes Gerüst für die Menge des Ganzen betrachten." 39 Diese Bedingungen liefern den räumlichen Aspekt der Identifikation eines Einzeldings auch für das Einzelding .Person'. „Wenn wir von Einzeldingen sprechen, sind es - abgesehen von demonstrativen und quasi-demonstrativen Ausdrücken - die Eigennamen, die darauf abzielen, feste Bezugspunkte zu setzen, die Punkte, um welche sich die deskriptiven Ausdrücke drehen. Nun sind Personen und Orte die Eigennamensträger par excellence unter allen Einzeldingen. Es ist ... eine begriffliche Wahrheit, daß Orte durch die Beziehungen matcri-

desselben Universale Ρ an, als wir anerkennen, daß χ und y an verschiedenen Orten sind. Darin besteht für uns fundamentalerweise die Nicht-Identität von Einzeldingen ... Und dies impliziert das der Begriff der Proposition selbst den Begriff der räumlichen Trennung voraussetzt". Vgl. auch IV.A.3.3.2. 35

Dass das Verständnis der Identifikation materieller Körper von Strawson physikalisch bestimmt ist, bestätigt sich nochmals ebd., 114. Anders Strawson, 170 u. 172.

36 37

Ebd., 70. Vgl. 111. Vgl. ebd., 41.

38

Vgl. P. Ricoeur, Soi-meme comme un autre, 118ff.

39

Strawson, 46.

50

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

eller Körper definiert werden; und es ist ebenso eine begriffliche Wahrheit, deren Bedeutung wir später noch besser einsehen werden, daß Personen einen materiellen Körper besitzen." 40

Mit anderen Worten: Personen „besitzen" wie Orte Eigennamen und nennen einen materiellen Körper ihren eigenen. Aufgrund der letzten Bedingung gelten für sie die obigen notwendigen Kriterien der Identifikation. Was mit diesen Kriterien nicht erfasst wird, ist, dass einer Person Bewusstseinszustände eigen sind, die für sie evident sind oder ihr von anderen Personen zugeschrieben werden und dass sie sich dadurch auszeichnet, dass sie handelt. 41 Anders ausgedrückt, geht es um die Frage, wie das Verständnis einer Person ihrer selbst und die Zuordnung dieses Selbst (und seiner „Erlebnisse und Gedanken") etwas, zu einem räumlich bestimmbaren Körper, der durch Zustandsbeschreibungen individuiert werden kann, zusammenhängen. 42 Insbesondere geht es uns darum, ob auch dieser Zusammenhang bei Strawson verräumlicht dargestellt wird. Eine Aporie ergibt sich hier nach Strawson nur, wenn das Subjekt der Erlebnisse und Gedanken grundsätzlich von den körperlichen Eigenschaften von etwas unterschieden wird. 43 Stattdessen sei der Begriff der Person als ein „primitiver B e g r i f f anzuerkennen mit folgender Definition: „Mit dem Begriff der Person meine ich den Begriff eines Typs von Entitäten derart, das ein- und demselben Individuum von diesem Typ sowohl Bewußtseinszustände als auch körperliche Eigenschaften, eine physikalische Situation etc. zugeschrieben werden können. Was gemeint ist, wenn ich diesen Begriff als primitiv bezeichne, kann auf unterschiedliche Weise umschrieben werden. Eine davon ergibt sich im Anschluß an die oben formulierten zwei Fragen ... eine notwendige Bedingung dafür, dass Bewußtseinszustände überhaupt zugeschrieben werden, ist, daß sie ebendenselben Subjekten zugeschrieben werden wie gewisse körperliche Eigenschaften, eine bestimmte physikali-

sche Situation etc. ... Denn wenn man die Idee des erfahrenden Subjekts als logisch primitiv betrachtet... ist es unmöglich einzusehen, wie wir zu der Idee von verschiedenen, unterscheidbaren und identifizierbaren Erfahrungs-Subjekten kommen." 4 4

Mit der von Strawson vorgeschlagenen begrifflichen Identität von erfahrendem Subjekt und identifizierbarem Erfahrungssubjekt, d.h. körperlichem, wahrgenommenem Objekt, ist gewonnen, dass es dann nur auf Personen anwendbare

40

Ebd., 74

41

Ebd., 144.

42

Vgl. ebd., 119.

43

Vgl. ebd., 126.

44

Strawson, 131. Vgl. auch Strawsons eigene Zusammenfassung der Argumentation, ebd., 133. Nach Klaus Oehler scheitert ein „anspruchsvoller Versuch der Erneuerung der Transzendentalphrlosophie", (s.u.) wie ihn Strawson vorfuhrt, ebenso wie derjenige Kants. So wie Kant die Identifikation des transzendentalen Subjekts nicht gelingt, gelingt Strawson die zweifelsfreie Bestimmung des Begriffsschemas für jede Erfahrung nicht". Vgl. K. Oehler, 1st eine transzendental» Begründung der Semiotik möglich, in „Zeichen und Realität", hg. v. dems., Tübingen, 1984, 46. (Dehlers Standpunkt wird in Kap. III.2. mit seiner Kritik an Karl-Otto Apels Transzendentalpragmatik weiter verdeutlicht.

.Vorsprachliche' und .sprachliche' Identifikation

51

Prädikate (P-Prädikate) gibt, die sowohl extern von einem Beobachter verwendet werden als auch intern für den Vollzug gelten, wenn die Person selbst das Subjekt der Prädikation ist, z.B. ,Schmerzen haben'. Einer Person, die von sich behauptet, dass sie Schmerzen hat, kann ein entsprechender Gehirnzustand zugeschrieben werden, ohne dass die Behauptung in der Ich-Perspektive auf diejenige der Beobachterperspektive auf den physikalischen Gehirnzustand reduzierbar wäre oder umgekehrt. 45 An dieser Stelle könnte eingewendet werden, dass mit den Bewusstseinszuständen wie auch mit den im gleichen Zusammenhang behandelten Handlungsvollzügen, gegen unsere Behauptung, die Vollzugsperspektive und damit die zeitliche Dimension auch bei Strawson ins Spiel komme. Dies stimmt, insofern diese Aspekte benannt und aufgrund entsprechender P-Prädikate eingeführt werden. Es wird sogar explizit zwischen Einzeldingen, die beobachtet werden (Gefühlszustände einer anderen Person aufgrund ihres Verhaltens; Handlungen), und Einzeldingen, die für uns evident sind (unsere eigenen Gefühlszustände; Handlungen), unterschieden. Dennoch wird die Vollzugsdimension nicht genügend erfasst. Die Zeitlichkeit von Bewusstseinsvollzügen und damit die zeitliche Identität des Einzeldings ,Person' in der Ich-Perspektive wird auf der Ebene der sprachlicher Identifikation nicht zur Darstellung gebracht. Denn dadurch, dass Bewusstsein lediglich als ,Zustand' thematisiert wird (und nicht etwa als .Handlung1), ist die Ich-Perspektive höchstens in eine Zustandsbeschreibung überführbar. Jedenfalls behandelt Strawson die P-Prädikate nicht anders als sonstige Prädikate einer logischen Aussage einer Zustandsbeschreibung, wenn er ihnen auch auf der Seite des Vollzugs eine Ich-Perspektive und die ihr eigene Intentionalität .zuordnet'. Dem entspricht die fragwürdige Diskussion des Handlungsvollzugs, die ,nur' in Bezug auf körperliche Bewegungen (wie Spazierengehen etc.) ohne „innere Erfahrung" (also ohne zeitlichen Vollzug) geschieht. Wie soll das vorzustellen sein? Dabei war zumindest die Widerständigkeit und Räumlichkeit im Vollzug einer Handlung sogar expliziter Ausgangspunkt der Beobachterperspektive, auf dem Widerstand eines materiellen Körpers gründend. Zeitlichkeit bleibt bei Strawson qualitativ angenähert durch die sich aus dem Zustandsbegriff ergebende Vorstellung von Zustandsänderungen. Zeitlichkeit wird in der Beobachterperspektive an den materiellen Dingen festgemacht, also verräumlicht. Damit sei skizziert, was ,Verräumlichung personaler Identität' genannt werden kann.

45

Vgl. Strawson, 133-144. Als Analysen, die diese Irreduzibilität darstellen, seien beispielhaft genannt: H. Putnam, Die Natur mentaler Zustände, in Bieri, 1997, 123-135; H. Pape, The logical Structure of Idealism, in „The Rule of Reason: The Philosophy of C. S. Peirce", hg. v. J. Brunning & P . Forster, 153-184.

52

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

1.2.2. Die Relevanz des Strawson'schen Modells für ein Verständnis der Verfahren der Kognitionspsychologie Die entscheidenden Punkte, welche bezüglich der Kognitionspsychologie wieder aufgenommen werden, sind: — Es wird der Anspruch auf eine ,reine' Beobachterperspektive erhoben und damit auf ein externes, räumliches Identifikationsverfahren für alle Einzeldinge, auf die es sich bezieht. — Notwendige Bedingung für eine Identifikation ist die Bezugnahme auf ein materielles Einzelding. Die Kognitionspsychologie macht sich diese beiden Kriterien der Identifikation (Räumlichkeit und Materialität) zunutze. Sie bleibt so im räumlichen Rahmen, thematisiert aber den begrifflichen Zusammenhang zwischen Zustandsbeschreibungen und materiellen Einzeldingen nicht explizit. Die Kognitionspsychologie setzt hingegen mit ihren Zustandsbeschreibungen den Zusammenhang von (identifiziertem) Einzelding und logischem Subjekt voraus, und nimmt damit implizit eine verräumlichende Perspektive ein. Die Tatsache, dass Strawson sprachlogisch argumentiert, die Kognitionspsychologie hingegen ,naturalisierend'quantifizierend, ändert nichts an ihrer gemeinsamen, räumlich bestimmten Beobachterperspektive. 46 1.2.3. Der Anknüpfungspunkt für Ricceurs Modell narrativer Identität Ricceur setzt sich unter Bezugnahme auf die Debatte der analytischen Philosophie (so u.a. auch auf Strawson) von deren deskriptivem Modell personaler Identität durch ein narratives Modell ab.47 Er tut dies, da das deskriptive Modell der Vollzugsperspektive der Identität nicht genügt. Der von ihm entwickelte narrative Ansatz trägt der Vollzugsperspektive zwar Rechnung, hat aber seinen Schwerpunkt auf das Problem zeitlicher Identität verlagert, da dies der Ort ist, an dem die deskriptive Theorie auf ihre fundamentalen Grenzen stösst. Was hingegen zu kurz kommt, ist der räumliche Vollzug. Genau dieser wurde aber schon von Gareth Evans 48 im Zusammenhang mit seiner Theorie der Selbstidentifizierung

46

Die Differenz zwischen Sprachbezug und Naturalisierung wird als davon zu unterscheidendes Problem erst aus einer Einordnung des kognitiven Modells in eine semiotische Typologie von „abstract fallacies" nach K . - 0 . Apel deutlich zu machen sein (vgl. III.2.3).

47

Vgl. IV.B.3; Ricceur, Soi mcme comme un autre, 140ff. Insbes.: Quatrieme etude: De l'action ä l'agent; Cinquieme etude: L'identite personnelle et l'identite narrative; Sixieme etude: he soi et l'identite narrative, 109-198.

48

Vgl. G. Evans, in Frank, 500-574. Dahinter steht die Überlegung, daß jeder Ich-Bezug immer schon mit der Wahrnehmung von etwas geschieht, und umgekehrt, daß jede Wahrnehmung von etwas mit einem Ich-Bezug einhergeht. „Für Evans ist das von ,ich' Identifizierte immer ein Körper in Raum und Zeit — und keinesfalls eine unsinnliche cartesianische res cogitans." M. Frank, ebd., 24. Dabei wird dieser durch ,ich' identifizierte Körper nicht in der Beobachterperspektive, sondern im Vollzug wahrgenommen. Erst dann gilt: „Der ,ich'-zentrierte Raum wird zu

Eine These für den Vergleich

53

innerhalb der analytischen Philosophie thematisiert. Seine Position ist dadurch charakterisiert, dass er dem Ich-Index keinen prinzipiellen Vorrang vor anderen Indexwörtern einräumt. Ein narratives Modell des zeitlichen Vollzugs menschlicher Identität, wie es von Ricceur konzipiert wurde, muss sich deshalb die Frage gefallen lassen, wie in ihm der ,ich'-zentrierte Raum der Vollzugsperspektive zum Ausdruck kommt (vgl. Kap. IV.B.3.)

2. Eine These für den Vergleich 2.1. Räumlichkeit in metatheoretischer Aussenperspektive und aus der Innenperspektive jeweiliger Praxiskontexte Wesentlich für das Verständnis der vorliegenden Untersuchung ist, dass personale Identität bzw. ihre Räumlichkeit (und Zeitlichkeit) in einem allgemeinen, semiotisch-pragmatischen Modell nach Lorenz bzw. Peirce erörtert werden muss, damit dieses als Metatheorie a) für verschiedene Ansätze der Darstellung von Aspekten personaler Identität dienen kann, die durch spezifische Akzentsetzungen auf die Beobachter- oder Vollzugsperspektive und damit auch auf Räumlichkeit oder Zeitlichkeit charakterisierbar sind. b) für angewandte Darstellungen (Interpretationen von STOBCON und Auslegungen der Exoduspassage) in Geltung gebracht werden kann. Die Lektüre dieser Arbeit verlangt also eine ständige Unterscheidung zwischen der jeweiligen Aussenperspektive, die für alle Modelle personaler Identität gilt (bezüglich Räumlichkeit und Zeitlichkeit), und den Innenperspektiven der Praxiskontexte mit ihren Akzentuierungen. Es geht nicht um die Frage, wie eine vollständige Bestimmung personaler Identität aussehen könnte, sondern um die Frage, welche Aspekte von ihr in spezifischen Darstellungen zum Ausdruck kommen. Wir haben zwei verschiedene Tendenzen unterschieden: 2.1.1. Verräumlichung von Identität Eine Verräumlichung geschieht bei Strawson dadurch, dass er für die Identifizierbarkeit eines Einzeldings und dessen räumlich-zeitliche Identität voraussetzt, dass es in einem physikalischen, räumlich-materiellen Rahmen beschreibbar ist. Dies ist der Anspruch einer ,reinen' Beobachterperspektive. Sie bietet keinen begrifflichen Rahmen, in dem sich die Zeitlichkeit des Vollzugs einer Erfahrung bzw. einer Handlung zum Ausdruck bringen lässt. Wenn der begriffliche Rahmen eventuell auch durch die Definition solcher P-Prädikate erweitert werden könnte, einem objektiven Welt - Ort erst, wenn das Subjekt ihn auf eine öffentliche Landkarte' (.objective map") übertragen und als .element of the objective order' wiedererkennen kann." Ebd.

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Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

die dies leisten sollen, wurde dies von Strawson nicht ausgeführt. Genau dieses formale Problem der Verräumlichung liegt auch den Modellen der Kognitionspsychologie zugrunde. Für sie kommt hinzu, dass sie nämlich ihren begrifflichen Rahmen nicht durch P-Prädikate erweitern kann, ohne „unphysikalisch" zu werden. Dies im Laufe dieser Untersuchung zu erläutern, ist unsere Absicht. Und zwar muss eine solche Behauptung über kognitionspsychologische Modelle allgemein erläutern, inwiefern der Parameter Zeit in physikalischen Zustandsbeschreibungen prinzipiell eine verräumlichte Form der Zeit bezeichnet. 2.1.2. Verzeitlichung von Identität Verzeitlichung geschieht in der hermeneutisch-narratologischen Theorie Ricoeurs, indem diese das analytische Problem der zeitlichen Identität ,lösen' soll und deshalb dem räumlichen Aspekt weniger Beachtung geschenkt wird. Dies lässt nichtsdestoweniger die Möglichkeit offen, die Räumlichkeit des von Ricceur entwickelten narrativen Schematismus zu verfolgen. Dies zu tun, beabsichtigt unsere Untersuchung. - Der räumlich-zeitliche Völlig, welcher narrativ zur Darstellung kommt, liegt auch einem sich auf den biblischen Kanon beziehenden Selbstverständnis zugrunde, weshalb eine Betrachtung hermeneutisch-narrativer Problemstellungen für eine biblisch bestimmte Identität relevant ist. Hierfür muss bezüglich des Modells narrativer Identität erläutert werden, inwiefern Räumlichkeit in der Erzählung verzeitlicht erscheint.

2.2. Die Absicht der Untersuchung Daraus ergibt sich unsere Absicht insgesamt, nämlich der Räumlichkeit in der KoZ/^agjperspektive menschlicher Handlung nachzugehen und dies in Bezug auf zwei Darstellungsweisen. Das heisst für die genannten Theorien: Es muss gezeigt werden, ob es und was es für Konsequenzen hat, dass die Beobachterperspektive, wie sie bei Strawson zu finden ist, den räumlichen Vollzug der Handlungen einer Person ausblendet. 49 Ebenso muss gezeigt werden, ob es und was es für Konsequenzen hat, wenn im Ricoeur'schen Modell der räumliche Aspekt der Vollzugsperspektive verzeitlicht wird. Dieser Aspekt wird nicht nur in beiden philosophischen Modellen zur personalen Identität vernachlässigt, sondern — unserer Meinung nach — ist diese Tendenz auch für die kognitionspsychologische und protestantische (nicht biblische) Deutung des Menschen charakteristisch. Bei beiden sind sozusagen „Reduktionstendenzen" bezüglich der Deutungen räumlich-materieller Vollzüge menschlichen Handelns auszumachen (vgl. Kap. V).

49

Uber den von Evans schon benannten Ich-zentriertcn Raum hinaus muss in einer Theorie personaler Identität bedacht werden, was Ich-zentriertc Handlungen zur räumlichen Identität einer Person beitragen.

Eine These für den Vergleich

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Damit wird aber ein für die menschliche Identitätsstiftung konstitutives Element ausser Acht gelassen. Insbesondere liefern die narrativen Darstellungen des biblischen Kanons (im Unterschied zur Kognitionspsychologie) Darstellungen räumlicher Vollzüge zuhauf, nicht nur im Sinne eines Potentials, das sowieso jeder Erzählung in bestimmtem Grade eigen ist. Es ist dieser Gedanke, zu dem unsere Untersuchung schliesslich führt, aufgezeigt an einer Betrachtung der Passahszene des Exodusbuches und des von Ernst Pöppel ausgeführten Experiments STOB CON. In Bezug auf die Kognitionspsychologie und den biblischen Kanon ergeben sich zwei Leitfragen zur Verflechtung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit: 1. Als Frage an das computertechnologische Modell personaler Identität in der Kognitionspsychologie: Wie geht eine räumliche Beobachterperspektive mit zeitlicher Identität um, wie bringt sie diese zur Darstellung? 2. Als Frage an die sich auf den biblischen Kanon beziehende Artikulation narrativer Identität: Wie geht eine Darstellung des zeitlichen Vollzugs personaler Erfahrungen mit der Räumlichkeit dieser Erfahrungen um? Zur Beantwortung dieser Fragen wird folgender Idee nachgegangen: Die Ricoeur'sche Theorie narrativer Identität liefert eine Theorie für den zeitlichen Aspekt jüdisch-christlicher Identität, insofern diese sich unter Bezugnahme auf den biblischen Kanon artikuliert. Da sich das Ricceur'sche Modell als narrativer Schematismus ausgibt, liefert es auch — im Anschluss an Kant, wenngleich über ihn hinausgehend - implizit ein Modell für den räumlichen Aspekt, den wir verfolgen werden. Über Kant hinausgehend ist der narrative Schematismus wiederum als semiotisch-hermeneutisches Modell konzipiert. So ist mit der Semiose ein formaler Rahmen gegeben, um narrative Identität mit einem anderen Modell personaler Identität zu vergleichen, wie z.B. mit .implementiert' dargestellter Identität. Beide Modelle, dasjenige Ricoeurs, und dasjenige der Kognitionspsychologie, bieten keine .vollständigen' Modelle personaler Identität. Sie deuten Aspekte menschlicher Erfahrung in beschränkter Weise, wie alle Modelle es aufgrund ihrer Endlichkeit der Darstellung tun, doch sind beide zugleich auch Ausdruck menschlicher Erfahrung und Handlung und deshalb im menschlichen Erfahrungszusammenhang begründete „abstract fallacies", wie wir im Anschluss an Karl-Otto Apel ausführen werden. Jeweilige Anfragen, ob dieses oder jenes Modell nicht der Ergänzung bedürfe, treffen deshalb daneben. Es geht uns in keinem Fall um ein vollständiges Modell des Vollzugs räumlicher Erfahrung im Rahmen personaler Identität. Es geht viel mehr um die Betrachtung zweier spezifischer Ergebnisse von Überführungen von Umgangsweisen mit der Welt ... von Handlungen in Zeichenhandlungen und die sich für diese Umgangsweisen aus der Innenperspektive der Praxiskontexte ergebenden Darstellungen räumlicher Erfahrung. Diese können in einer (semiotisch-pragmatischen) Aussenperspektive immer dahingehend betrachtet werden, was sie alles nicht leisten. Eine solche Perspektive ist nötig,

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Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

wenn ein Modell einen Vollständigkeitsanspruch erhebt, welcher aber nie erfüllt werden kann. Die interessantere' Frage ist deshalb, von welcher spezifischen Erfahrung die beiden Modelle jeweiliger Ausdruck sind, wozu sie aufgrund dieser Erfahrung dienen, welche Akzentsetzungen sie bieten, indem sie mit dieser Erfahrung umgehen. Die Feststellung, es könne auch anders sein, ist ein erkenntnistheoretisches Problem, diejenige nach den Ausdrucksformen ist eine anthropologische, nach dem, was der einzelne Mensch ist, insofern er seine partikulare Endlichkeit darstellt und von solchen Darstellungen geprägt wird. Es sei folgende These für den Vergleich in Kap. V zur Darstellung und Prägung räumlicher A^ollzüge formuliert: In den verschiedenen, kontextbedingten Formen der Darstellung kommen räumliche Vollzüge personaler Identität auf grundlegend unterschiedliche Weise zum Ausdruck (zur Darstellung) und hinterlassen als solche konkurrenzierende Eindrücke (Prägungen). Mit dieser These geht es uns um den Nachvollzug dessen, me die beiden angewandten Schematismen den Vollzug menschlicher Räumlichkeit darstellen (mimetisch und implementierend) und wie in Rückkoppelung menschliches Selbstverständnis geprägt wird. Und zwar ist das Wissen um die Räumlichkeit unserer Handlungsvollzüge notwendig für das Wissen um die für unsere eigene Identität notwendigen Distanzen und — damit zusammenhängend — für unsere Fähigkeit zur Unterscheidung der (.rechten1) Orte. Doch um das nachvollziehen zu können, müssen noch einige „Umwege" in Kauf genommen werden. — Betont sei nochmals: Wesentlich für die Gedankenführung ist, dass immer wieder Perspektivenwechsel stattfinden. Wenn die angewandten Semiosen besprochen werden, heisst das nicht, dass hier das metatheoretische Modell mit diesen gleichgesetzt werden kann, so wird der logische Interpretant der Peirce'schen Semiose keinesfalls mit einem Gehirnzustand oder der Mimesis einer Handlung identifiziert. Es wird aber der sogenannten pragmatischen Maxime' Rechnung getragen, dass jedes theoretische Modell in der Vorstellung einer konkreten Erfahrung und konkreten Wirkung eingelöst werden muss: „Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object." 50

50

C. S. Peirce, vgl. Anm. 180, CP 5.402. Nach Pape handelt es sich hier um eine ältere Version der pragmatischen Maxime, die später — gemäss (CP 5.18) mit der Ersetzung von ,conception' durch ,sentence' verändert wurde. Vgl. H. Pape, Die Offenheit von Wirklichkeit und Rationalität im Pragmatismus, in Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 2001, 26/2, 101.

Drei Versionen des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch

57

3. Drei Versionen des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch — drei Variationen einer Beziehung zwischen Ästhetik und Logik Im folgenden soll der Zusammenhang von logischer und personaler Identität herausgestellt werden. Identität ist zugleich ein logischer Grundbegriff und ein ästhetisches Problem im Sinne der Identität einer Person ,in' Raum und Zeit. Fragen personaler Identität zu erörtern, ohne sich über diesen fundamentalen Zusammenhang im Klaren geworden zu sein, heisst entweder die logischen Grundbegriffe unabhängig von anthropologischen Gegebenheiten zu behandeln, oder den Begriff der personalen Identität von ihren logischen Grundbedingungen abstrahierend zu betrachten. Wird diesem Zusammenhang aber Beachtung geschenkt, ist damit keineswegs gesagt, dass sich die räumlich-zeitliche Identität des Menschen in einer logischen Untersuchung erschöpfend behandeln lässt, bzw. dass der logische Begriff der Identität in den räumlich-zeitlichen Endlichkeitsbedingungen des Menschen aufgeht. 51 Viel mehr wird sich zeigen, dass mit dem logischen Begriff ein formales Prinzip der Identität zur Unterscheidung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit vorliegt, das eine notwendige Bedingung - keinesfalls eine hinreichende - zur Beschreibung der Räumlichkeit und Zeitlichkeit personaler Identität im sozialen, religiösen, körperlichen, messbaren etc. Sinne ist. Wir können gar nicht kommunizieren, bekennen, messen etc., wenn wir nicht diesem Grundprinzip genügen. Sogar wenn wir einen Widerspruch formulieren, tun wir dies. Nach Klärung dieses Sachverhalts wird er vielleicht trivial erscheinen. Doch gerade die trivialen Dinge sind meist nicht ebenso evident, wie sie sich geben. Hingegen liefert uns die Klarstellung dieser notwendigen — wie gesagt nicht hinreichenden — Bedingung der Identität ein Vergleichskriterium für die Formen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit, die in verschiedenen Darstellungsformen, wie z.B. eines kognitionspsychologischen oder eines narrativen, menschlichen Selbstverständnisses, vorliegen, womit wir uns dem Diktum Strawsons anschliessen: „Es sind die Selbstverständlichkeiten des am wenigsten entwickelten Denkens, die dennoch unabweislich den Kern für das begriffliche Rüstzeug auch des anspruchsvollsten Kopfes ausmachen ... die sich in ihrem Grundcharakter überhaupt nicht ändern" 32 . Solch eine Grundlagenbetrachtung sei nun angestrebt, um später ihre Gültigkeit und Relevanz an der schon zitierten pragmatischen Maxime zu beugen. Dabei bleibt es bei einer Betrachtung. Als solche zieht sie Verbindungslinien zwischen einigen Grundlagenaspekten des gestellten Problems, um damit seinen Horizont auszu-

51

Einen exemplarischen Entwurf, der über die rein identitätslogischen Fragestellungen hinausgeht, stellt Tzvetan Todorovs „Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie", Frankfurt/M., 1998, dar, der die Bedingungen menschlicher Koexistenz thematisiert.

52

P. F. Strawson, Die Grenzen des Sinns, 12.

58

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

messen, keineswegs um damit den Anspruch zu erheben, die Tiefe dieses Horizonts endgültig auszuloten. Dieses Vorgehen ist nötig, weil unsere ,transdisziplinäre' Aufgabe einem Vergleich zweier (scheinbar) gänzlich unterschiedlicher Universen und des jeweiligen Selbstverständnisses des in ihnen befindlichen Menschen gleichkommt. Womit wir sogleich in einen Strudel von Fragen nach den Bedingungen möglicher Weltbeschreibung und menschlicher Identität geraten. Für beide Aspekte lässt sich keine Eindeutigkeit beanspruchen, und schliesslich bedingen sie sich gegenseitig. Es ist an dieser Stelle noch nicht der Ort und - wie wir später vertreten werden auch überhaupt nicht nötig, verschiedene nicht vergleichbare Stile anzunehmen, wie es der bekannten Ansicht Nelson Goodmans entspricht. 53 Nicht, weil damit unser Projekt zum Scheitern verurteilt wäre, sondern weil Goodmans These nur notwendig ist, wenn es sich um widersprüchliche Modelle der Weltbeschreibung handelt, was wir — jedenfalls bis hierhin - aber noch nicht feststellen konnten. Die Frage ist, ob es so etwas überhaupt geben kann. Denn Widersprüchlichkeit zweier Universen ergibt sich zwangsläufig nur aus der nicht sinnvollen Annahme, dass eine Person den Blick auf zwei verschiedene Universen zugleich richtet. Unter der Annahme des Standpunktes ein- und derselben Person kann es hingegen keine gänzlich unterschiedenen Universen geben, da diese Person als identische immer Teil eines jeglichen Universums sein muss, oder dieses wäre gar kein Universum. Es kann sich jeweils nur um begrenzte Weltansichten handeln, die sich unter verschiedenen von dieser Person eingenommenen Perspektiven ergeben. Denn zum einen können nicht alle Modelle gleichzeitig Totalität beanspruchen, woraus ihre Begrenztheit folgt. Zum anderen ist es nicht möglich, dass ein- und derselbe Mensch alle ihm möglichen Perspektiven gleichzeitig einnimmt, da er aufgrund seiner räumlichen Endlichkeit nicht an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig sein kann. 54 Beides folgt aus dem Satz vom auszuschliessenden Widerspruch, für den nach Aristoteles gilt: „[D]as ist das sicherste unter allen Prinzipien, denn es paßt darauf die angegebene Bestimmung, da es unmöglich ist, daß jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht. Wenn es aber nicht möglich ist, daß demselben das Entgegengesetzte zukomme ... beim Widerspruche aber eine Meinung der anderen Meinung entgegengesetzt ist, so ist es aber unmöglich, daß derselbe zugleich annehme, daß dasselbe sei und nicht sei; denn wer sich hierüber täuscht, hätte ja die entgegengesetzten Ansichten zugleich. Daher kommen alle, die einen Beweis führen, auf diese letzte Annahme zurück; denn dies Prinzip ist seinem Wesen nach zugleich Prinzip der anderen Axiome." 5 5

53

54 55

N. Goodman, „Of Mind and Other Matters", Cambridge/Mass., 1984, 31-33. Vgl. A. Rust, Vemünjtigkeit und Kontingent notwendige Ergänzung oder unausweichlicher Konflikt? Überlegungen 1 £ihniVattimo und Goodman, in „Vernunft, Kontingenz und Gott", hg. v. I. U. Dalferth/P. Stöllger, Tübingen, 2000, 349. Vgl. F. Waisman, Über den Begriff der Identität, in Lorenz, Identität und Individuation I, 51. Aristoteles, „Metaphysik" A-E, hg. v. H. Seidl u. übersetzt v. H. Bonitz, Hamburg, 31005η 1734, 1978. Zur kantischen Kritik, vgl. II.4.

Drei Versionen des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch

59

Umgekehrt lässt sich der Satz vom auszuschliessenden Widerspruch unter der Perspektive der Endlichkeit einer Person auch so veranschaulichen, dass diese nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann. Dies sei die erste Version des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch genannt und mit SvW I bezeichnet. Weil nun der Satz vom auszuschliessenden Widerspruch mit dem Prinzip der Identität 56 äquivalent ist, muss die Version des SvW I mit dem in Einklang gebracht werden, was in Kap. II.l. unter Bezugnahme auf Strawsons Theorie der Einzeldinge dargelegt wurde. 57 Die hiermit verfolgte Idee lässt sich auch anders ausdrücken. Eine notwendige Bedingung dafür, dass eine Person überhaupt eine Perspektive einnehmen kann, lautet, dass diese Person räumlich endlich ist. Diese auf den ersten Blick belanglos wirkende Bedingung sei ins Zentrum unserer Betrachtungen gestellt. Denn auch wir unternehmen unter dieser Bedingung den Vergleich verschiedener Perspektiven auf das, was personale Identität in verschiedenen Weltansichten heisst. Es handelt sich um eine notwendige Bedingung dafür, dass 1. eine Person überhaupt einen Ort einnehmen oder wahrnehmen kann, 2. eine Person zwei verschiedene Dinge gleichzeitig wahrnehmen bzw. identifizieren kann und 3. zwischen der Identifikation und der Re-Identifikation eines Einzeldings Zeit vergeht. Es geht uns um eine Entfaltung der Notwendigkeit dieser Bedingung, unabhängig von dem, was eine hinreichende Bedingung für personale Identität und ihre Vollzüge wäre. Dabei macht unsere auf den ,Ort' einer Person bezogene Formulierung des SvW I nur Sinn, wenn mit ,Ort' zweierlei gemeint ist: Zum einen muss mit ,Ort' (wie bei der Person) eine räumliche, endliche Einheit bezeichnet sein, zum anderen muss Raum nach Leibniz als eine „Ordnung des Nebeneinanders der Erscheinungen" 58 verstanden werden. Ein-

56

Wobei hier nichts darüber gesagt ist, wie dieses Prinzip zu verstehen ist. So ist nicht gesagt, ob hierunter das prinäpium identitas indiscemibilium nach Leibniz (cf. L. Couturat, Opuscules et Fragments inedits de Leibniz, Paris, 1903, ND Hildesheim 1966, 518ff, nach K. Greiling, Identitas indisamibilitas, in Lorenz, Identität und Individuation, I, 56) zu verstehen ist, oder ob z.B. eine an anderer Stelle bei Leibniz vorkommende Definition für das Wort ,idem' vorausgesetzt wird: „Eadem sunt, quorum unum potest substitui alteri salva veritate" (G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. v. C. I. Gerhardt, VII, 228, zit. nach Greiling, ebd.), oder irgendein anderer sich kritisch von diesen beiden Vorschlägen absetzender Begriff. Wir werden die beiden Leibniz'schen Verwendungen in Kap. IV.A.3.3.1 zueinander in Beziehung setzen. Der kantische Gebrauch, der sich in der Kritik der reinen Vernunft (KrV Β 82-87) polemisch vom Ununterscheidbarkeitskriterium absetzt, wird in Kap. II.2 erörtert werden, von wo aus sich die Notwendigkeit eines semiotischen Begriffs der Identität bzw. der Individuation in Bezug auf den Begriff der ,Einheit' ergeben wird. Unter der Perspektive der Naturalisierung und Symbolisierung erhalten die verschiedenen Begriffe der Identität bzw. Theorien der Individuation ihre spezifische Relevanz in Bezug auf die jeweils ins Zentrum gestellten Gegenstandsbereiche und die entsprechenden Formen der Darstellung. Hierüber werden die Abschnitte IV.A.3.2.6 und IV.B.1.1.2 über das Quine'sche und Ricceur'sche Programm Aufschluss geben.

57

Vgl. II.2.2.1.

58

G. W. Leibniz in seinem Brief vom 16.6.1712 an B. des Bosses, in „Philosophische Schriften", II, hg. v. C. J. Gerhardt, Darmstadt, 1978, 450. Vgl. auch „Das 5. Schreiben von Leibniz an Clarke", hg. v. V. Schüller, Berlin, 1991, 85. Wenn Leibniz auch den logischen Raum und den

60

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

und denselben Ort einzunehmen, ist dann verschiedenen Einzeldingen (darunter Personen) nur nacheinander möglich, sowie eine Person verschiedene Orte im logischen Raum nur nacheinander erwägen und darstellen kann. Insbesondere zeigt sich: Ob es der alltäglich erlebte, durchschrittene Raum ist oder der formal dargestellte logische Raum, ob im Vollzug räumlicher Erfahrung oder in der Beobachtung bestimmter Raumverhältnisse, es gilt stets die Leibniz'sche Definition. Mit dieser Definition liegt — wenn die oben genannte Beziehung von Identität und Räumlichkeit/Zeitlichkeit deutlich geworden ist - ein tertium comparationis für unsere spätere Gegenüberstellung vor, in der verschiedene Darstellungen des räumlichen Vollzugs personaler Identität, sei es in narrativen, sei es in formalisierenden Kontexten verglichen werden. Wie das Nebeneinander der Dinge im Kontext formaler Rechenkalküle aussieht, wird in Kapitel IV.A.3.3. näher untersucht werden; welche Bedeutung es auf der semantischen Ebene des Zusammenhangs von Zeitlichkeit und Erzählung im biblischen Kontext erhält, in Kap. IV.B.5.2. So kann eine Person nur unter der Bedingung ihrer räumlichen Endlichkeit etwas in einer Beobachterperspektive identifizieren. Identifiziert werden von ihr Einzeldinge, welche die Welt konstituieren, und deren Verhältnisse untereinander. Ein ,Widerspruch' wiederum, z.B., dass ,ein- und dasselbe' Ding an zwei verschiedenen Orten identifiziert bzw. re-identifiziert wird, kann nur festgestellt werden, wenn ihn ein- und dieselbe, d.h. identische, Person im Vollzug ihrer Handlungen feststellt. Das heisst, die mit der Feststellung eines Widerspruchs verbundenen, verschiedenen Perspektiven können von einer identischen Person nur unter der Bedingung des Vergehens von Zeit eingenommen werden. (Äquivalent damit ist: Ein- und dasselbe Ding kann an verschiedenen Orten nur zu verschiedenen Zeiten wahrgenommen werden.) Dies ist eine weitere Formulierung des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch, der diesmal unter der Perspektive der räumlichen und zeitlichen Identität eines Einzeldings bzw. einer Person gedeutet wird. Der Satz vom auszuschliessenden Widerspruch unter der Perspektive der Identität einer Person sei seine zweite Version genannt und mit SvW II bezeichnet. Somit steht die Identität einer Person mit SvW I einerseits unter der gleichen notwendigen Bedingung, die für die Identifizierbarkeit der sonstigen Wirklichkeit

anschaulichen Raum, so wie logische Zeichen und anschauliche Zeichen grundsätzlich unterschied, lässt sich die Leibniz'sche Definition des Raumes als eine „Ordnung des Nebeneinanders der Dinge" auch für den formal logischen Raum geltend machen, insofern die Syntax, auf die sich der eingeschränkte Zeichengebrauch der formalen Logik bezieht, immer schon eine räumliche Form ihrer Darstellung aufweist (wie z.B. das Nebeneinander von logischen Figuren m einem formalen Kalkül, auch wenn die jeweiligen Zeichendinge rein konventionell verstanden werden (vgl. IV.A.3.3.). Zum Leibniz'schen Zeichenbegriff: Vgl. „Fragmente zur Logik", Berlin, 1960, 111. Zum Raumbegriff: s.o.; zu Logik »»(/Raum: Vgl. unsere Ausführungen zum Identitätsbegriff nach Sybille Krämer in IV.A.3.31. Leibniz selbst behauptet zumindest den Zusammenhang von geometrischem Raum, Materie und Identität, vgl. 5. Schreiben an Clarke, a.a.O.

Drei Versionen des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch

61

gilt. 59 Andererseits ist sie mit SvW II nicht nur Teil dieser räumlich-zeitlich wahrnehmbaren Welt, sondern auch konstitutiv für den Vollzug deren Identifizierung und Re-Identifizierung. 60 Umgekehrt ist für den Vollzug personaler Identität die Wahrnehmung von Einzeldingen notwendig, weil es zur Identität einer Person gehört, dass sie eine Weltansicht hat. Um diese Verflochtenheit von räumlich-zeitlicher Identität und Identifizierung von Einzeldingen mit der Beobachter- und Vollzugsperspektive einer Person präzisieren zu können, fehlt noch ein Element, das bisher nur nebenbei erwähnt wurde. Es ist die Materialität sowohl eines Einzeldings als auch einer Person. Mit Strawson wurde schon darauf hingewiesen, dass sie für die Identifikation eines Einzeldings konstitutiv ist. Am deutlichsten wird dies daran, dass ein Einzelding immer als etwas, also als Zeichen für etwas, wahrgenommen wird. Ein Zeichen kann aber nur wahrgenommen werden, insofern es auch einen materiellen Träger besitzt, und dies auch nur, weil derjenige, der das Zeichen wahrnimmt, selbst materielle Eigenschaften hat. Räumlich-zeitliche Identität im Vollzug einer Person und in der Identifikation eines Einzeldings ergibt sich nur unter der notwendigen Bedingung der Materialität von Zeichen. Nur deshalb ist der Satz vom auszuschliessenden Widerspruch für Einzeldinge gültig, weil ihre Materialität eine Widerständigkeit dagegen leistet, dass zwei Dinge gleichzeitig am gleichen Ort sind. So ergibt sich die Begrenztheit verschiedener Weltansichten, die für eine Person relevant werden können, hier z.B. der religiösen und der technologischen, zum einen aus der unhintergehbaren Zeichenbedingtheit der Perspektivität — etwas wird als etwas von jemandem interpretiert - und zum anderen mit dieser auch aufgrund des materiell-räumlichen Standpunktes des Zeicheninterpreten. M t anderen Worten wird hier behauptet, dass die materielle, räumlich-zeitliche Struktur Bedingung jedes wahrgenommenen Widerspruchs ist, was nicht heisst, dass es sich damit um eine hinreichende Bedingung handeln muss. Es heisst lediglich: Auch ein formal logischer Widerspruch kann nur von einem endlichen Subjekt gedacht werden. Der Satz vom auszuschliessenden Widerspruch wird hier unter der Perspektive des Zusammenhangs von Materialität, Räumlichkeit und Zeitlichkeit gedeutet. Damit ist eine dritte Version des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch genannt, welche mit SvW III bezeichnet sei. Insofern Raum als ,Ordnung des Nebeneinanders der Erscheinungen' und Zeit in Bezug auf die gleiche Stelle bei Leibniz als ,Ordnung des Nacheinanders der Erscheinungen' definierbar sind, lässt sich ,Materialität' vorläufig indirekt bestimmen: Da verschiedene Standpunkte, die ein- und dieselbe Person vertreten kann, immer nur begrenzt sein können, muss es noch ein Drittes geben, durch das die räumlich-zeitliche Endlichkeit einer Person unter verschiedenen Perspek59

Vgl. II I.

60

Vgl. unsere Einleitung zu den Grenzen des Ansatzes personaler Identität nach Strawson, der dies nicht berücksichtigt.

62

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

tiven jedes Mal erscheint, und an dem Räumlichkeit und Zeitlichkeit unterschieden werden können, was hier — um Verwechslungen mit ,dem' physikalischen Begriff zu vermeiden — ,Materialität' genannt sei. Die physikalische Materie — relativistisch verknüpft mit den physikalischen Grössen von Raum und Zeit - ist dann eine Form der Materialität unter anderen. Eine präzisere Definition der Materialität muss aber noch erfolgen. Aus diesen drei Versionen des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch (SvW I-III) ergeben sich für eine Näherbestimmung der Beziehung, die zwischen dem ästhetischen und logischen Vermögen einer Person besteht, folgende Fragen: a. Inwiefern haben die räumlich-zeitlich-materiellen Grundbedingungen von Wahrnehmung und Erfahrung tatsächlich notwendig etwas mit den logischen Grundsätzen zu tun? Sind die drei soeben erfolgten Formulierungen des Satzes vom Widerspruch nicht blosse Veranschaulichungen? Die Graphenlogik eines Charles Sanders Peirce geht jedenfalls von einem solchen Zusammenhang aus.61 Doch wenn es sich um einen notwendigen Zusammenhang handelt, muss dieser auch für diejenigen Darstellungsformen der Logik, die nicht graphenlogisch konzipiert sind, gelten. Was hier wesentlich ist, ist die Darstellungsform der Logik. Ein logisches Prinzip lässt sich formal notieren oder wie oben innerhalb menschlicher Praxis veranschaulichen. Ob .formal' oder als ,Veranschaulichung', jedes Mal handelt es sich um Darstellungsformen des Prinzips. Uns interessiert, was diese Darstellungen, die formalen und anschaulichen, miteinander zu tun haben. Es geht also um das Problem, ob ein allgemeiner Zusammenhang von räumlichzeitlicher Erfahrung und der Darstellung formaler Logik besteht und wenn ja, inwiefern Erfahrung und Logik (Zeitlichkeit/Räumlichkeit auf der einen Seite und Vermeidung des Widerspruchs/Identität auf der anderen Seite) ,trotz' dieses Zusammenhangs unterscheidbar sind. Eine Annäherung an die Beantwortung dieser Fragen wird in einem semiotischen Verständnis der Erfahrung und des Denkens in Anlehnung an die allgemeine Zeichentheorie von Peirce gesucht werden, b. Was hat schliesslich personale Identität, die dadurch ausgezeichnet ist, dass eine Person ein Bewusstsein ,hat' und Handlungen ausfuhrt, 62 mit dem Satz vom auszuschliessenden Widerspruch zu tun, der mit dem Identitätsprinzip äquivalent ist? Was haben sie mit menschlicher Identität innerhalb einer Pluralität der Perspektiven zu tun, in denen eine Person „Ich" messe, glaube, nehme wahr, habe erfahren, erzähle ... sagen kann? Lässt sich aber eine Beziehung a. zwischen Räumlichkeit-ZeitlichkeitMaterialität und Logik und b. zwischen logischer Identität und personaler Identität ausmachen, dann sind Darstellungen von Aspekten personaler Identität, so wie sie unter beliebigen Perspektiven auf die Welt zum Ausdruck kommen, veröl

62

Vgl. C. S. Peirce, „Semiotische Schriften", III, hg. v. C. Kloesel/H. Pape, FrankRirt/M., 1993, insbes.: I.V. Nachtrag: Die kontinuierliche Darstellung von Identität (H) MS 30, 193-210; 4. Iu/gik: Als allgemeine Untersuchung der Natur der Zeichen aufgefaßt (1908), 312-342. Vgl. II I.

Drei Versionen des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch

63

gleichbat, und zwar in Bezug auf deren räumlich-zeitlich-materielle Bedingungen. Um dies zu zeigen, lautet unser Vorschlag, dass ein semiotisches Modell einzuführen ist. Denn ein Kriterium menschlicher Identität in besagter Perspektivenvielfalt kann nur mit den formalen Bedingungen dessen gegeben sein, was eine Perspektive für eine Person konstituiert. Wenn eine Perspektive durch die Bezugnahme auf etwas als etwas — was dem semiotischen Ansatz entspricht — definiert wird, wird den verschiedenen Faktoren Rechnung getragen, die für die Beziehungen zwischen a. und b. wesentlich sind. Es wird sowohl dem für das Personsein konstitutiven Aspekt der Handlung Rechnung getragen, insofern „die Bezugnahme auf etwas" als Handlung verstanden werden kann, als auch den mit diesen Handlungen einhergehenden Aspekten der Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Materialität sowohl der Handlungen selbst als auch des „etwas", auf das die Handlungen Bezug nehmen, an dem die Handlungen vollzogen werden. Wenn aufgezeigt werden kann, dass in diesem semiotischen Modell eine Beziehung zwischen räumlich-zeitlich-materieller und formaler Identität besteht, dann gilt diese Beziehung auch für personale Identität und unter beliebigen Perspektiven auf die Welt. Denn Räumlichkeit und Zeitlichkeit als Nebeneinander und Nacheinander der wahrgenommener Erscheinungen sind mit jeder Perspektive auf die Welt gegeben, ob z.B. beim Anblick des physikalisch gedeuteten Kosmos oder in Anbetracht hermeneutisch interpretierter Lebenswelt. 63 Insofern Roger Penrose und Steven Pinker die Erforschung des menschlichen Gehirns zwischen die Ergründung des Mikrokosmos der Quantenphysik und des Makrokosmos in der Astrophysik situieren, wird das menschliche Selbstverständnis in räumliche Dimensionen eingeordnet: 64 die Elementarteilchen, das Gehirn, das Universum. Andererseits ,erzählt' die physikalische Kosmologie in den ihre Rechnungen begleitenden Texten die Geschichte einer irreversiblen Expansion des Weltalls, also von der Zeit des Universums, in dem sich der Mensch befindet. Währenddessen lässt Paul Ricceur seine Konzeption narrativer Identität auf eine Theorie des notwendigen Zusammenhangs von Zeit und Erzählung folgen. 65 Hier wird das menschliche Selbstverständnis in zeitlichen Kategorien artikuliert. Doch wird es narrativ gleich wieder ,lokalisiert', wenn die vergegenwärtigende Funktion der erzählenden Mimesis den Lesern und Leserinnen Szenen vor Augen führt, die für ihr Handeln und damit für ihre Identität konstitutiv sind66, und wenn z.B. die biblische Erzählung theologisch dahingehend ausgelegt wird, dass sie den Menschen vor Gott inszeniert und eine Verortung des Menschen durch Gott bzw. die Wahrnehmung

63 64 65 66

Wie gesagt, es lassen sich hier unendlich viele Beispiele nennen, wie z.B. Ansätze der Soziologie, Psychologie, Kunst, etc. Vgl. R. Penrose et al., „The Large and the Small and the Human Mind", Cambridge, 1999. S. Pinker, „How the Mind Works", New York, 1997. Vgl. P. Ricceur, „Temps et ri-cit", I (1983), II (1984), III (1985), (Tr I, II, III); ,,Soi-m£me comme un autre" (1990), (ScA); „La memoire, l'histoire, l'oubli" (2000), Paris. Vgl. J. Fischer, Sittliche Intuitionen und reflexives Gkichgeuicht, ZEE, 44. Jg., 252ff.

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Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

des Menschen seiner selbst vor Gott schildert („coram Deo" darstellt). 67 Der jeweilige Sinn der Rede von Raum und Zeit ist also so verschieden wie die beiden ,Universen', um die es uns geht. Insofern es sich nicht um verschiedene Universen, sondern viel mehr um verschiedene Wahrnehmungsweisen der Welt bzw. Umgangsweisen mit ihr handelt, es also nicht den Raum oder die Zeit gibt, meinen wir ab nun, wenn wir von „Räumlichkeit" und „Zeitlichkeit" sprechen, genau dies und nennen dabei die jeweilige Perspektivität mit. Sie konstituieren beide als Nebeneinander oder als Nacheinander von etwas als etwas fur jeden Umgang mit der Welt die Bedingungen ihrer Wahrnehmung. Das heisst, dass damit der physikalische Raum- und Zeitbegriff nicht der einzige sein kann, sondern auch solche Räumlichkeits- und Zeitlichkeitsvorstellungen wie z.B. die des eigenen Körpers und der Lebenszeit mit Inbegriffen sind. Bisher ist aber nur bestimmt, was die Identität einer Person als Person ausmacht, insofern es für eine Person konstitutiv ist, eine Perspektive einnehmen können b^w. eine Vielfalt von Perspektiven. Und zwar wurde als die Bedingimg hierfür ihre räumlich-zeitlich-materielle Endlichkeit genannt. Damit ist aber umgekehrt nur gesagt: Wenn von Perspektiven die Rede ist, muss eine Person angenommen werden, aber noch nicht, warum die Voraussetzung stimmt, dass es sich mit den verschiedenen Perspektiven überhaupt um ein- und dieselbe Person handeln muss. Deshalb muss gezeigt werden, inwiefern ein Perspektivenwechsel, insofern er wahrgenommen und bezeichnet wird, sowohl die Identität ein- und derselben Person voraussetzt als auch die Identität und Nicht-Identität von etwas als etwas. Das soll am Zusammenhang des Prinzips der Identität mit der Räumlichkeit und Zeitlichkeit einer Person gezeigt werden. Eine solche Fragestellung ergibt sich aus dem Ansatz dieser Arbeit, dem es nicht um ein umfassendes Modell räumlicher und zeitlicher Identität einer Person allgemein geht, sondern um die Einheit dieser Person unter verschiedenen Perspektiven. Wenn hierfür deshalb exemplarisch, aber für unsere Gesellschaft prototypisch, ein Modell narrativer Identität und ein computertechnologisches Modell zum zeitlichen Aspekt personaler Identität betrachtet werden wird, gilt es deshalb, beide auf einer zu ihnen metatheoretischen Ebene zu verstehen. Auf dieser Ebene lassen sich beide als ein Perspektivenwechsel auf eine Person und deshalb jeweils als Modell der Bezugnahme dieser Person auf etwas als etwas verstehen. Auch aus diesem Grunde ist ein semiotisches Rahmenmodell der Erfahrung und Erkenntnis sowohl dessen, was eine Person ausmacht, als auch der Erkenntnis allgemein voranzustellen. 68 Wichtig wird es daraufhin sein, der gegenstandstheoretischen Frage Beachtung zu schenken. Denn verschiedene Modelle der Bezugnahme auf etwas gehen nicht nur von verschiedenen Weisen der Bezugnahme (z.B. erzählen, messen) aus, sondern mit der Bezugnahme wird auch ein unterschiedliches ,etwas' als ein Aspekt der Person

67

Vgl. IV.B.5.1.

68

Vgl. III.

Drei Versionen des Satzes v o m auszuschliessenden Widerspruch

65

identifiziert (z.B. Handlungen, Gehirnzustände). Deshalb gilt es, in den beiden ausgewählten Modellen die Weisen der Bezugnahme zu ermitteln so wie das, was mit ihnen als etwas identifiziert wird. In den besagten Modellen wird es sich um eine ,narrative' Bezugnahme auf die Handlungen von Personen und um eine .implementierende' Bezugnahme auf die Gehirnzustände von Personen handeln. Insbesondere werden in ihnen Handlungen bzw. Zustände als für den zeitlichen Aspekt personaler Identität konstitutiv gedeutet. Unser Interesse wird es sein, die beiden Weisen der Bezugnahme nicht nur zu unterscheiden, sondern in ihrem impliziten oder expliziten Bezug zur Räumlichkeit personaler Identität zu untersuchen. Da einerseits das Ricoeur'sche Modell narrativer (personaler) Identität die Notwendigkeit des semiotischen Rahmens selbst anspricht, bietet es sich an, unsere Überlegungen von ihm aus zu beginnen. Weil dieser Ansatz andererseits in Anlehnung an das — keineswegs semiotische - kantische Schematismusverfahren als Bestimmung von Raum und Zeit konstruiert ist, gilt es zu bedenken: Kant hat die „Lehre von den reinen Formen der Anschauung" eingeführt, um Erkenntnis dahingehend zu beschreiben, dass ihr die „Erscheinung als Erscheinung transparent wird" 69 . Mit anderen Worten wird Wirklichkeit in verschiedenen Schemata verstanden, die in ihrer Realisierung immer eine räumlich-zeitliche Struktur implizieren. 70 Diese ,ästhetische Funktion' des ,Schematismus' geht mit einer Theorie der Urteilskraft einher, in der es um das Vermögens der Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem. Eine solche Vermittlung stösst schon mit dem in der transzendentalen Analytik der „Kritik der reinen Vernunft" dargestellten Schematismus auf eine Aporie, die sich aus dem apriorischen und damit nichtsprachlichen Charakter der Vernunftbegriffe ergibt. 71 Es muss also zum einen, wenn der kantische Schematismus als Vorlage dient, der Bezug zum semiotischen Modell hergestellt werden. Zum anderen muss, insofern es im kantischen Schematismusverfahren keineswegs um Fragen der Identität geht, sondern lediglich um ein Vermittlungsverfahren zwischen den Kategorien des Verstandes und den Erscheinungen unter eine Einheit als Bestimmung von Raum und Zeit, auch dargelegt werden, inwiefern dies Relevanz für die zeitliche Identität einer Person hat. Gezeigt werden muss demnach zweierlei, wenn von Kant ausgegangen wird: 1. was Identität überhaupt mit dem Schematismusverfahren, also mit den Bestimmungen von Raum und Zeit zu tun hat, 2. wie insbesondere das Schematismusverfahren für die zeitliche Identität einer Person als Person geltend gemacht werden kann.

69

Vgl. G. Picht, „ V o n der Zeit", Stuttgart, 1999, 171.

70

Vgl. I. Kant, „Kritik der Urteilskraft", hg. v. W. Weischedel, F r a n k f u r t / M . , 1997, 3. Aufl., 22.

71

Vgl. hierzu auch K a n t s § 59 der „Kritik der Urteilskraft" (B 254-261), z.B. hg. v. W. Weischedel, F r a n k f u r t / M . , 1997. D a z u U. Eco, „Kant und das Schnabeltier", H a m b u r g , 2000, 146: „Hätte K a n t sich zuerst mit d e m Problem des .Schematismus' befasst, so Peirce, dann wäre sein System in eine Krise geraten."

66

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

Letzteres hat Ricceur in seinen Werken „Temps et recit" und „Soi-meme comme un autre" dargelegt, insofern die Person von anderen Einzeldingen (vgl. Strawson) durch ihre Handlungen ausgezeichnet ist. Der entsprechende Schematismus wird als narrativer Schematismus entwickelt, der als dreifache Mimesis den semiotischen Bedingungen eines Modells zeitlicher Identität Rechnung trägt. Aus Gründen des Vergleichs stellt sich deshalb die Frage, welche Art von Schematismus unter semiotischen Vorzeichen für ein Modell zeitlicher Identität in der Kognitionspsychologie entwickelt werden kann, und ob dies überhaupt möglich ist. Auf diesen Überlegungen aufbauend, werden sich unsere Ausführungen zur räumlicher Identität ergeben. Konkrete Wiederaufnahmen des Schematismusverfahrens in für unsere Überlegungen wichtigen Zusammenhängen findet man nicht nur bei Paul Ricceur in seiner Theorie zum Zusammenhang von Zeit und Erzählung, sondern auch bei Johannes Fischer in seiner Erörterung des Zusammenhangs von Ethik und Handlungstheorie; für die Gehirnforschung wurde das Schematismusverfahren von Michael A. Arbib und Marc Johnson in einer Schematheorie fruchtbar gemacht. 72 Dabei situiert sich Ricceur selbst — wie eben angedeutet — schon in einer semiotischen Perspektive, Fischer in einer primär handlungstheoretischen. Die Rezeption der Kognitionspsychologie hat zwar das kantische Modell überschritten, bleibt aber mit ihrer Prototypentheorie hinter einem semiotischen Modell zurück. 73 Damit ergibt sich unsere Aufgabe: Es ist der Zusammenhang zwischen den ästhetischen und logischen Bedingungen von Erfahrung und Erkenntnis zu bestimmen. Dazu bieten das Schematismusverfahren und die Grundsätze der transzendentalen Logik, wie sie von Kant formuliert wurden, einen Einstieg. An den Grenzen der kantischen Theorie ergibt sich der Übergang zu einem semiotischen Modell. Selbstverständlich ist eine Darstellung des spezifischen Zusammenhangs der Darstellung des Satzes vom Widerspruch und dem Prinzip der Identität einerseits und Räumlichkeit und Zeitlichkeit andererseits, also zwischen Logik und Ästhetik, eine unkantische Deutung des Schematismusmodells: als ein zeichenhafter Zusammenhang des Schematismusverfahrens und der Grundsätze der Logik. Das semiotische Modell von Charles Sanders Peirce (Kap. III) wird aber aus Gründen der Anknüpfung an die Ricoeur'sche Schematismustheorie erst im Anschluss an Kant vorgestellt werden. Nichtsdestoweniger, macht der in dieser Arbeit skizzierte Vergleich erst in einem semiotischen Modell Sinn (und erst in diesem wird klar, warum die Unterscheidung Mensch-Person im Hinblick auf unser Anliegen nicht erörtert werden muss).

72

Vgl. Μ. A. Arbib, „In Search of the Person. Philosophical Explorations in Cognitive Sciences", Amherst, 1985, 91-110. Zu Johnson, vgl. η. Anm.

73

Dabei werden mit Schema- oder Prototypentheorie nicht einfach Synonyme zum kantischcn Schematismus bezeichnet. So spielt ein transzendentales Verständnis keine Rolle mehr. Vgl. Eco, 146, 171, 226. Zur Prototypentheorie vgl. Johnson/Lakoff.

Mit Sinn und Verstand

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Im folgenden Kapitel wird nun eine Beziehung zwischen dem Schematismusverfahren und den Darstellungen der Grundsätze der Logik hergestellt. Dies geschieht mittels der drei genannten Versionen des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch (SvW I-III), dies wiederum unter den Zusammenhängen von: Ästhetik - Logik (ÄL) Zeichen — Identität (ZI) Widerständigkeit - Widerspruch (WW) ZI und W W werden als Variationen von AL erscheinen. Diese Zusammenhänge lassen sich dann für alle Arten von angewandten Schematismen, ob z.B. narrativ oder topisch (für die Kognitionspsychologie und nicht zu assoziieren mit einer .Topik'), unter ,semiotischen Vorzeichen' geltend machen. Umgekehrt muss für die Beschreibung eines Schematismusverfahrens immer die gegenstandstheoretische Frage erörtert werden, unter welcher Einheit was vermittelt wird. Wir wollen nun zeigen, was dies allgemein mit Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu tun hat.

4. Mit Sinn und Verstand — das kantische Schematismusverfahren, unkantisch interpretiert und dreifach variiert 4.1. Ästhetik und Logik (ÄL) Kant unterscheidet in der Einleitung seiner transzendentalen Logik zwei Grundquellen unserer Erkenntnis: „Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen: so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand ... Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen ... Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen ... Daher unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d. i. die Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d. i. die Logik." 74

Allein schon diese Unterscheidung von Ästhetik und Logik als Unterscheidung ist nur aufgrund der Endlichkeitsbedingung menschlicher Weltansichten, die durch eine bestimmte Perspektive ausgezeichnet sind, möglich, hier der Weltansicht, in 74

I. Kant, „Kritik der reinen Vernunft", hg. v. W. Weischedel, Frankfurt/M., 1997, 3. Aufl., Β 75f. (im Folgenden zitiert mit Β ...) Ansonsten wird in der transzendentalen Logik der Verstand isoliert betrachtet, vgl. Β 87.

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Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

der menschliche Erkenntnis zum Gegenstand wird. So hat auch eine analytische Unterscheidung wie diejenige der Grundquellen der Erkenntnis ihre Ursache in der Endlichkeit menschlicher Erkenntnis. Auch im Falle der Thematisierung der Unterscheidung von Ästhetik und Logik handelt es sich um nichts anderes als um jene zwei verschiedenen Pespektiven auf die Welt (hier: der Erkenntnis), die nur nacheinander eingenommen werden konnten und so zur Version des Satzes vom auszuschliessenden Widerspruch (SvW I) führten 75 . Im Vollzug der Erkenntnis sind die entsprechenden Vermögen, Sinn und Verstand, beide notwendig zugleich vorhanden. Thematisiert werden können sie in verschiedenen Perspektiven auf die Erkenntnis, nachdem diese schon vollzogen wurde. Im Vollzug gilt hingegen: „Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen" 76 . Auch für die analytische Unterscheidung der Erkenntnisvermögen muss dies gelten. Die Erkenntnis der Unterscheidbarkeit von Ästhetik und Logik entspringt beiden Erkenntnisquellen: Sinn und Verstand, „daraus, daß sie sich vereinigen." 77 Wie ist dann aber die Unterscheidung möglich, „obwohl" sich Erkenntnis nur daraus ergibt, dass sie sich vereinigen? Wie ist innerhalb einer Erkenntnisaussage, wie derjenigen Kants, Unterscheidung und Zusammenspiel beider Vermögen möglich? Unterscheiden können wir sie, indem wir, davon ausgehend, alle Erkenntnis beruhe auf endlicher Erfahrung, vorläufig .definieren': Unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik erscheint eine Erfahrung als sinnliche Form, unter dem Gesichtspunkt der formalen Logik als widersprüchlich oder nicht. Wenn Ästhetik und Logik bzw. die ihnen entsprechenden Vermögen an endlicher Erfahrung unterschieden werden, dann ergibt sich hier der Ubergang zu einem zeichentheoretischen Ansatz: Ästhetik und Logik werden an etwas Endlichem unterschieden, das der Zeichenträger für den Gedanken der Unterscheidung von Logik und Ästhetik ist. Dass hiermit auf einmal kein strikter Unterschied zwischen Ästhetik und formaler Logik mehr besteht, ist Gegenstand der Ausführungen dieser Arbeit. Dennoch ist die Unterscheidung Ausdruck grundlegender Funktionen unseres Denkens, für welches wiederum exemplarisch gilt: Auch der Vollzug der Unterscheidung von Ästhetik und Logik muss sich aus ihrem Zusammenspiel und damit an etwas, was wir vorerst Undefiniert ein Zeichen nennen, ergeben. 78 Doch worin besteht dann der Unterschied? Was im 75

76

Auf den Einwand, dass es sich im Kontext unserer Formulierung des SvW I u m die Wirklichkeit gehandelt hätte und hier nur um die Wirklichkeit der Erkenntnis, ist zu erwidern, dass erstens eine Wirklichkeit der Erkenntnis Teil jedes umfassenden Wirklichkeitsmodells ist und zweitens die epistemologische Perspektive als solche ein Modell der Wirklichkeit neben dem der Physik, der Religion etc. darstellt. Vgl. Anm. 183.

77

Vgl. ebd.

78

Vgl. D. Mersch, „Zeichen über Zeichen", München, 1998, 10: „Auffallend ist jedoch, daß ein Nachdenken über Zeichen historisch zuerst im Rahmen einer Reflexion über Sprache einsetzte.

Mit Sinn und Verstand

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\^ollzug einer Wahrnehmung von etwas als eines Zeichens für etwas ist ästhetisch (sinnlich), was ist logisch (widersprüchlich oder nicht)? Was heisst logisch und ästhetisch in denjenigen Modellen der Erkenntnis, die eine Unterscheidung unabhängig von einem Zeichenbegriff versuchen? Wo stösst bei ihnen diese Unterscheidbarkeit an eine Grenze, an der mit der Einführung eines Zeichenmodells anzuknüpfen ist? Das kantische Modell stellt einen ,zeichenlosen' Versuch dar. Dessen Begriff des „Ästhetischen" bzw. „Logischen" sei im folgenden skizziert, um daran zu zeigen, dass auch die kantischen Unterscheidungen der apriorischen Vermögen auf Erfahrung beruhen (und zwar insofern sich das aus den kantischen Inkonsistenzen ergibt). 4.1.1. Das Vermögen der Sinnlichkeit Zu Beginn der transzendentalen Ästhetik (in der die Sinnlichkeit isoliert betrachtet wird) 79 heisst es ähnlich dem oben aus der Logik Zitierten, die „Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit." 80 Es wird erläutert: „Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich ... zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen ... Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung. In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, dass das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann 81 , nenne ich die Form der Erscheinung .,." 82

Den Ausgangspunkt bildet die Frage nach der Herkunft und Natur von ,Namen' als exemplarische Zeichen so wie ihrer Beziehung zum benannten Gegenstand. Semiotik und Sprachtheorie fallen hier noch zusammen; beide erscheinen zudem als Teilgebiete der Logik. Erst seit Mitte des vorigen Jahrhunderts löst sich davon die Semiotik als eigenständige Disziplin ab, die sich der Logik vorordnet..." 79

Vgl. Β 87.

80

Β 33f.

81

Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 20: „Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet, angeschaltet wird". Β 87. Zu Beginn der transzendentalen Logik heisst es ähnlich unter Bezugnahme auf die Materie: „Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erste wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, eine Erkenntnis abgeben können. Beide sind entweder rein oder empirisch. Empirisch, wenn Empfindung (die die wirkliche Gegenwart des Ge-

82

70

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

Nach Kant hat die Ästhetik mit dem rein rezeptiven also passiven Vermögen der Sinne zu tun. Die Rezeptivität wird noch einmal in die „reine" Sinnlichkeit der Formen a priori und die durch die Materie affizierte Sinnlichkeit a posteriori unterschieden. 83 Dabei wird von zwei fundamentalen Formen sinnlicher Anschauung ausgegangen: 84 einem äusseren Sinn, der den Raum als Nebeneinander der gegenwärtigen Dinge erfasst, und einem inneren Sinn, der die Zeit als Nacheinander der Dinge bestimmt. 85 Der von Leibniz übernommene relationale Begriff des Raumes als „Ordnung gleichzeitig existierender Erscheinungen" 86 meint, wie gesagt, eine idealisierte Struktur, unabhängig von einer materiellen Basis. Die relationale Ordnung des Raumes bzw. der Zeit ist durch das rein passive bzw. rezeptive Vermögen gegeben. Anschauung ist als der unmittelbare Aspekt der Erkenntnis und materieunabhängig definiert. 4.1.2. Das Vermögen des Verstandes Was das Vermögen des Verstandes anbetrifft, wird es zu Beginn der transzendentalen Analytik, im ersten Teil der Logik präzisiert: „Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen. Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität der Eindrücke. Von diesen Begriffen kann der Verstand nun dadurch keinen anderen Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt. Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht als bloß die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgendeine andere Vorstellung von demselben ... bezogen. Das Urteil ist also die mittelbare Erkenntnis des Gegenstandes ... Alle Urteile sind demnach Funktionen der Einheit unter unsere Vorstellungen ... Wir können

83 84 85

86

genstandes voraussetzt) darin enthalten ist; rein aber, wenn der Vorstellung keine Empfindung beigemischt ist. Man kann die letztere die Materie der sinnlichen Erkenntnis nennen" (B 74). Vgl. Β 54ff. Vgl. Β 37ff. Vgl. zum inneren und äusseren Sinn in der transzendentalen Ästhetik, insbes. Β 42, 49, auch Β 178, 183. Raum als Äusseres und Nebeneinander: Β 38, 49. Diese räumliche Unterscheidung von innen und aussen, welche die Körperlichkeit des Menschen voraussetzt, widerspricht der Priorität, die Kant in seinen Folgeüberlegungen der Zeit einräumt, aus der sich nach Kant auch die Anschauung des Raumes ergeben würde. (B 182ff). Viel mehr erweist sich hieran, dass jeder Satz, ob als allgemeiner Erfahrungssatz oder als explizite Definition von Raum und Zeit, explizit oder implizit immer beide unterscheidet. Wenn z.B. Raum als das Nebeneinander der Dinge bezeichnet wird, und Zeit als das Nacheinander der Dinge, dann impliziert die Raumdefinition schon so etwas wie eine Gleichzeitigkeit und die Zeitdefinition schon so etwas wie eine Körperhaftigkeit der Dinge. Die kantische Favorisierung der Zeit hat ihre bekannten und weniger bekannten Nachfolgeerscheinungen gefunden. Vgl. M. Sandbothe, „Die Verzeitüchung der Zeit", Darmstadt, 1998; unsere späteren Ausführungen zum Zeitbegriff: IV.A.1.2. und B.2. Vgl. „spatium fit ordo coexistentium phaenomenorum, ut tempus successivorum", im Brief vom 16.6.1712 an B. des Bosses, 450; vgl. 5. Schreiben an Clarke, insbes. 92f. Vgl. Anm. 167.

Mit Sinn und Verstand

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aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein V e r m ö g e n zu urteilen vorgestellt werden kann." 8 7

Verstandesurteile entsprechen demnach einem Gebrauch der Begriffe und einem über diese vermittelten Erkenntnisvermögen bezüglich der Gegenstände. Daraus folgt: Das aktive bzw. spontane Vermögen des Verstandes, unsere Vorstellungen unter eine Einheit zu fassen, liefert eine strukturierte Ordnung der Vorstellungen (z.B. eine quantitative Unterscheidung der Gegenstände), also eine mittelbare Struktur der Erkenntnis der Gegenstände, wenn unter ,Struktur 1 eine Ordnung gemäss den Kategorien (Verstandesbegriffen) verstanden wird. Denn wenn etwas z.B. unter die Kategorie der Quantität gefasst wird, wird auch alles andere implizit darunter gefasst. Diese Vermitdung geschieht unabhängig von der Materie allein über die reinen Verstandesbegriffe. Somit lässt sich die Funktion beider Vermögen zusammenfassen: Mit dem \ 7 ermögen der Sinnlichkeit wird eine relationale, räumlich-zeitliche Ordnung unserer Erkenntnis erzeugt. Mit dem Vermögen des Verstandes werden Einheiten in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gestiftet. Dies geschieht, indem unsere Vorstellungen durch Begriffe im Urteil gemäss den Kategorien unter eine Einheit geordnet werden können oder nicht, das heisst nichts anderes als unter diesen Kategorien identifiziert werden können oder nicht. Damit passt die kantische Unterscheidung des ,Ästhetischen' und des ,formal Logischen' bisher unter unsere obige Definition, die sich aus der endlichen Erfahrung ergab: Unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik erscheint eine Erkenntnis als sinnliche „reine" Form, unter dem Gesichtspunkt der formalen Logik als zu einem Begriff widersprüchlich oder nicht, insofern sie mit ihm identifiziert werden kann oder nicht. Deshalb stellt sich die Frage, ob unsere erfahrungsbezogene Definition gar nicht auf die Erfahrung bezogen war, sondern unabhängig von ihr gemacht wurde. Die Notwendigkeit, von Erfahrung zu reden, wo Kant es weiterhin nicht tun würde, ergibt sich erst mit dem Vermittlungsverfahren, das Kant für beide Vermögen vorschlägt. Und zwar liegt diesem Verfahren ein Handlungsbegriff zugrunde, der sich nicht mit dem decken lässt, den er für die reine Aktivität der Verstandeshandlungen geltend macht. Die Vermittlung beider Vermögen, desjenigen der Verstandesurteile und desjenigen der Sinnlichkeit, beruht auf folgendem, was schon im „Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien" eingeleitet wird: „die transzendentale Logik hat ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori sich vorliegen, welches die transzendentale Ästhetik ihr darbietet ... Allein die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, daß diese Mannigfaltigkeit zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen. Diese Handlung (kursiv, A.D.) nenne ich Synthesis." 88

87 88

Β 94. Β 102.

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Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

Diese Synthesis wird von Kant näher als diejenige der Einbildungskraft bestimmt (einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, und von der einheitsstiftenden Funktion der Verstandesurteile durch Begriffe unterschieden. Deshalb sei an dieser Stelle der Begriff der Synthesis präzisiert und dazu Georg Picht zitiert: „Diese Einheit hat die Gestalt der .anschaulichen Vorstellung'. Das Wort Vorstellung' darf hier nicht als Bezeichnung des Vorgestellten verstanden werden. Es bedeutet jene Weise des Vorstellens, die Kant in der ,Transzendentalen Ästhetik' durch ihre spezifische Form der Synthesis gegen das Vorstellen durch Begriffe abgehoben hat: Das anschauliche Vorstellen. ... , Synthesis' ist bei Kant nie die Bezeichnung einer Zusammensetzung, die schon vorliegt; der Begriff bezeichnet immer das Handeln des Zusammenset^ens (kursiv, A.D.). Das Wort Synthesis weist also immer auf die Spontaneität der Erkenntnis. Diese ,figürliche Synthesis' ... ist nicht eine Leistung des Verstandes, sondern eben ,die transcendentale Synthesis der Einbildungskraft'." 89

Es gibt also zweierlei aktive Vorstellungsinstanzen, diejenige der Einbildungskraft und die sich auf deren Handlung beziehende Synthesis des Verstandes, die das Produkt der ersteren Instanz auf Begriffe bringt. Dabei sind beide Vermögen, das der Einbildungskraft (welches sich auf die Formen der Anschauung Raum und Zeit a priori bezieht, welche die Bedingungen der Rezeptivität bilden) und das des Verstandes, spontane, d.h. aktive Vermögen. Damit ist aber ein Problem angelegt, welches im Schematismuskapitel verhandelt wird. Flier geht es um die Möglichkeit der „Anwendung der Kategorie auf die Erscheinungen ..., da doch niemand sagen wird: diese, z.B. die Kausalität [innerhalb der Kategorie der Relation], könne auch durch die Sinne angeschaut werden ... Nun ist klar, daß es ein Drittes geben muss, was ... die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht." 90 Dabei wird am ,Reinheitsgebot' festgehalten: „Diese vermittelnde Vorstellung ... rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein." 91 Dies soll das Schematismusverfahren durch die Synthesis der Einbildungskraft leisten, und zwar so, „daß der Schematismus des Verstandes durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft auf nichts anders, als die Einheit alles Mannigfaltigen der Anschauung ... hinauslaufe. Also sind die Schemata der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf die Objekte, mithin Bedeutung zu verschaffen, und die Kategorien sind daher am Ende von keinem andern, als einem möglichen empirischen Gebrauche, indem sie bloß dazu dienen, durch Gründe einer a priori notwendigen Einheit ... Erscheinungen allgemeinen Regeln der Synthesis zu unterwerfen, und sie dadurch zur durchgängigen Verknüpfung in einer Erfahrung schicklich zu machen. In dem Ganzen aller möglichen Erfahrung liegen aber alle unsere Erkenntnisse ,.." 92

89

Picht, 194 (vgl. Kant, Β 103ff, 151).

90

Β 177.

91

Β 177.

92

Β 185f.

Mit Sinn und Verstand

73

Hiermit stösst man auf eine Aporie, die Kant selbst nicht gelöst hat: Wenn die Synthesis der Einbildungskraft ein aktives Vermögen ist, fehlt der sinnliche Teil des Schematismus. Das Modell, wie Kant es sich vorgestellt hat, lautet: Der Verstand wendet Regeln auf die Mannigfaltigkeit der sinnlich gegebenen Erscheinungen an, wobei aber die Regeln unabhängig vom Vermögen der Sinnlichkeit sind. Dennoch gilt, genauso wie die Regeln des A^erstandes unsere Möglichkeiten der Wahrnehmung restringieren, werden diese Regeln wiederum durch die Bedingung der Sinnlichkeit restringiert. Es stellt sich nur die Frage: wie, wenn es sich um separate Vermögen handelt? 93 Das Problem liegt u.a. daran, dass der Begriff der Handlung (Synthesis) bei Kant im Schematismuskapitel nicht eindeutig gebraucht wird. Deutlich wird dies an einer Betrachtung der strikten Unterscheidung zwischen aktivem Vermögen, dem Verstand, und passivem Vermögen, dem Sinn. 4.1.3. Die Begrenztheit des Handlungsbegriffs des Schematismus Das Schematismusverfahren ist einerseits durch die einheitsstiftende Aktivität des Verstandes bzw. seiner Handlungen und die die relationale Ordnung anschauende Passivität der Sinne konstituiert, die es beide vermittelt. Andererseits beruht die Vermittlung beider, das transzendentale Schema, auf der reinen, einheitsstiftenden Synthesis der Einbildungskraft, welche die Einheit einer anschaulichen Vorstellung stiftet. 94 Diese Funktion der Synthesis lässt sich auch als „schrittweise Konstruktion von Verfahren verstehen, für die reinen Verstandesbegriffe geeignete Handlungsformen anzugeben." 95 Der Begriff der Handlung wird also im Fall der Verstandesbegriffe rein aktiv, im Falle der Synthesis der Einbildungskraft, die im Schematismus vorliegt, sowohl aktiv als auch passiv aufgefasst. 96

93

Nach Kant ist es das sogenannte „Schema" als „Vorstellung oder eine Methode" (B 180), welches die vermittelnde Funktion einnimmt. Wie gesagt: Kant beharrt auf der Reinheit dieses „transzendentalen Schemas". So ist das „Schema des Triangels niemals anderswo als in Gedanken existierend, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Räume ..." (B 180), als ein Nebeneinander der Verhältnisse wäre hier zu ergänzen. Das gedanklich-anschauende Schema ermöglicht nach Kant erst alle empirischen Bilder. So sei die Zahl die quantitative Bestimmung der Zeit, insofern die Zahl das Verfahren des Zählens, „in Ansehung" der Zeit, als ein Nacheinander der Zahlen (Dinge) impliziert. Wichtig ist an dieser Stelle, dass das Verfahren des Verstandes „mit den Schematen" (B 181, je nach Kategorie) — Schematismus des reinen Verstandes genannt - das jeweilige ästhetisch-logische Verfahren liefert, welches in allen Erkenntnissen am Werk ist. Das heisst, dass es als Bestimmung der Formen der reinen Anschauung, Raum und Zeit, durch die Verstandeskategorien, (wobei Kant den Raum in der transzendentalen Ästhetik auf die Zeit reduziert), geschieht.

94

S.o. zur Synthesis unsere Bezugnahme auf Picht.

95

Vgl. T. Jantschek, Synthesis, in EPhW, 4, 1996, 182.

96

Anders steht es mit der synthetischen Funktion der Einbildungskraft in Kants „Kritik der Urteilskraft". Im Unterschied zum rein bestimmenden Charakter der Einbildungskraft in der „Kritik der reinen Vernunft" wird sie dort reflektierend gebraucht und geht damit über ein reines „Lesen in der Natur" hinaus. Vgl. R. Makreel, „Einbildungskraft und Interpretation", Paderborn

74

Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

Das Problem lässt sich auch wie folgt ausdrücken: Kann man dem passiven Vermögen der Sinne eine nach Kant restringierende Funktion zuschreiben, ohne diese Funktion nicht auch aktiv zu nennen - aktiv restringierend bezüglich der Synthesis des Verstandes? Der Verstand hätte ohne diese Restriktion bezüglich der Gegenstände eine bedeutungslose Funktion. Umgekehrt lässt sich die Funktion des Verstandes dadurch, dass sie durch die Sinne restringiert wird, als passiv bezeichnen. Denn ,,[e]s fällt aber doch in die Augen: daß, obgleich die Schemata der Sinnlichkeit die Kategorien allererst realisieren, sie doch selbige gleichwohl auch restringieren, d. i. auf Bedingungen einschränken, die ausser dem Verstände liegen (nämlich in der Sinnlichkeit)" 97 ... „Also sind die Kategorien, ohne Schemata, nur Funktionen des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor. Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den \ r erstand realisiert, indem sie ihn zugleich restringiert." 98 Aus diesen Stellen wird zusammen mit der von Picht zitierten Erläuterung deutlich, dass der mit der Synthesis implizierte Handlungsbegriff in Bezug auf seine Modi der Passivität und Aktivität nicht eindeutig geklärt ist. 99 Uns wird es abschliessend in diesem Kapitel darum gehen, den „einschränkenden" (passiven) Faktor als für die (aktiven) Verstandesurteile selbst konstitutiv darzustellen, wobei sich herausstellen wird, dass dies nur unter Einbeziehung der Materie und einer damit einhergehenden Umdeutung des Dualismus aktiv/passiv wie auch des Kategorienverständnisses plausibel zu machen ist. Die Materie wird von Kant bezüglich des Schematismusverfahrens nicht explizit genannt oder gar erörtert. Sie erscheint lediglich in dem eingangs genannten Zitat aus der Ästhetik und wird später mit dem Vermögen der Empfindsamkeit a posteriori behandelt, womit sie für die vermittelnden Handlungen irrelevant erscheint. Um hierfür einen weiterführenden Ansatz zu finden, weist ein Seitenblick auf Joseph Simons Interpretation des Hegel'sehen Anschauungsbegriffs in die zu gehende Richtung, die wir auch für die Grundsätze der Logik geltend machen werden, damit die in den kantischen Schematismus eingehenden Unterscheidungen von innerem und äusserem Sinn (Zeit und Raum), actio und passio (Handlung und Rezeptivität),

97 98 99

u.a., 1997, insbes. 45-62. Zum Lesen in der Natur, vgl. I. Kant, „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" (§ 30), hg. v. W. Weischedel, Kants Werke, IV, Frankftirt/M., 312. Β 185. Β 187. An dieser Stelle könnte eine Erörterung des Synthesisbegriffs, wie ihn Husserl im Anschluss an Kant weiterentwickelt hat, ansetzen. Mit ihm werden sowohl passive als auch aktive Formen der Synthesis unterschieden. Zum Zweck unserer vergleichenden Untersuchung wird es aber sinnvoller sein, die Verkoppelung des aktiven und passiven Aspekts mit dem semiotisch-pragmatischen Modell eines methodologischen Dualismus nach Kuno Lorenz einzuführen (II.2.3.2).

Mit Sinn und Verstand

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F o r m u n d M a t e r i e (Logik u n d Materie), u n d z w a r in ihrer V e r f l e c h t u n g , einer U n t e r s u c h u n g u n t e r z o g e n w e r d e n können. 1 0 0 „Formale Anschauung dagegen ist fehlende Einsicht in die Zeichennatur des Zeichens oder in die Zeichenhaftigkeit der Natur für ein sprachliches Wesen schon vor aller pragmatischen Zeichensetzung" 101 , so kommentiert Simon die im Vergleich zu Kant erläuterte Hegeische Variante der Anschauung nicht als ,reine' sondern als sprachliche. Der Begriff des Zeichens werde bei Hegel zentral. ,„Zeichen' bedeutet nicht eine irgendwie willkürlich mit einer Bedeutung verknüpfte Anschauung, sondern eine ,aufgehobene' oder die ,wahrhaftere' Gestalt der Anschauung" 102 . Das sprachliche \ 7 ermögen der Bezeichnung, das sowohl mit der tradierten Sprache als auch einem spontanen Vermögen des Subjekts einhergehe, sei nach Hegel in der Anschauung schon wirksam, „die ja ihrem Begriff nach die unmittelbare Begegnung mit der Wirklichkeit sein soll ... Der Verstand ist nicht ein Vermögen reiner Begriffe, sondern bezieht mit ein, daß zum Vermögen' des Denkens die anerkannte Möglichkeit des bezeichnenden Auseinanderhaltens verschiedener Inhalte gehört, wie sie durch die Sprache angeboten, nicht aber unbedingt sichergestellt wird, und daß ferner auch die verschiedenartigen Bestimmungen der Verhältnisse zwischen den Inhalten immer noch durch sinnlich-sprachliche Zeichen zu charakterisieren sind. Erkenntnis hat nach Hegel die ,Form der Anschauung' als sprachliche Artikulation, die allerdings keine reine Form, sondern eine in der jeweiligen sinnlichen Gestalt der Sprache vermittelte ist. Diese Durchgängigkeit der Anschauungsform, unter der etwas jeweils ein bestimmtes Etwas, aber ebenso unmittelbar ein anders Bestimmbares ist, ist wohl der wichtigste Unterschied gegenüber Kant." 103 Das Problem der „reinen" Unterscheidung von Ästhetik und Logik also bis hierhin mit d e m H a n d l u n g s - u n d Zeichenbegriff. D e n n o c h grundsätzlicher E i n w a n d g e g e n einen Z u s a m m e n h a n g v o n Ä s t h e t i k lauten: D i e G r u n d s ä t z e der Logik, die für die V e r s t a n d e s h a n d l u n g e n

ergibt sich k ö n n t e ein und Logik konstitutiv

100 Es handelt sich um Begriffspaare, die nicht parallel zu setzen sind, wie aus unseren Ausführungen noch deutlich werden soll (II.2.3, insbes. 2.3.2) 101 Vgl. J. Simon, Reine und sprachliche Anschauung, in „Das Problem der Sprache", hg. v. II.-G. Gadamer, München,1967, 166; zu Hegels §§ 448 u. 459 in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830)". 102 Ebd. 103 Simon, ebd., 167. Begriffe und Anschauung müssen vollständige, ,reine' Gegensätze bilden. Anschauung ist dann das, was sich „als überzeitlich vorgestellte Form, die von verschiedenen Subjekten in gleicher Weise angeschaut sein soll, ergibt. Sprecher und Hörer und Gegenstand sind vorausgesetzt als reine Größen m dieser Konstruktion gemäß dem Satz (Axiom), daß zwei Grössen, die bezüglich einer dritten gleich sind, auch untereinander übereinstimmen ... das Axiom wird nicht nur in seiner Geltung für reine Größen aufgestellt, sondern angewendet auf extensive, also räumliche Größen (der Gegenstand muß ein Gegenstand ,außer' uns im Räume sein), die trotz einer vorausgesetzten Identität als Größen zugleich wesentlich in ihren .Teilen' auseinanderliegen, so daß verschiedene Subjekte ihnen gegenüber sich doch nicht auf dieselbe Art und in derselben Perspektive verhalten können." Ders., in „Sprache und Raum", Berlin, 1969, 141. Dabei fehle es schon seit Baumgartens ,Aesthetica' nicht an semiotischen Bestimmungen des Anschauungsbegriffs. Vgl. ebd. Das nicht zeichenhafte Verständnis der Formen der Anschauung, welches für die Kritik der reinen Vernunft gilt, ist dagegen nicht auf andere kantische Schriften übertragbar.

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Die ästhetischen Bedingungen personaler Identität

sind, sind nicht nur unabhängig von diesen, sondern haben erst recht nichts mit der Ästhetik und schon gar nichts mit der Erfahrung zu tun, auch wenn der Schematismus einen Erfahrungsbezug verlangt. Bedenkt man aber, dass dem Schematismusverfahren ein bestimmter Handlungsbegriff zugrunde gelegt ist, der der Revision bedarf, und dass Handlungen den Grundsätzen der Logik genügen müssen, ergibt sich ein möglicher Ansatz für den Zusammenhang beider Bedingungen der Erkenntnis, der zu einer innerästhetischen Unterscheidung von Raum und Zeit — dem Nebeneinander und Nacheinander der Dinge — führt. Dieser Zusammenhang, der nach Kant selbst nicht hergestellt werden darf, sei nun von uns entwickelt. Unsere Leitidee ist, dass auch die Grundsätze nur zeichenhaft gedacht werden können, womit sich ein Zusammenhang über Handlung und Erfahrung auch mit der Ästhetik ergibt. 4.1.4. Die Bedeutung des Handlungsbegriffs für eine Beziehung zwischen Ästhetik und Logik Nach Kant sind die Grundsätze der reinen Logik konstitutiv für die Verstandesurteile (i.e. die Verstandeshandlungen). So geht die Analytik nach der Einführung des Schematismusverfahrens zu dem „System aller Grundsätze des reinen Verstandes" (zweites Hauptstück der Analytik nach dem Hauptstück über den Schematismus) über. Dennoch wird auch hier zwischen Schematismus und Grundsätzen das Reinheitsgebot konsequent eingehalten, dessen Folge zwei ungeklärte Voraussetzungen der kantischen Überlegungen bleiben: 1. Es wird die Unabhängigkeit der Grundsätze der Logik von den Formen der Anschauung, Raum und Zeit, behauptet. 104 Der einschränkende Aspekt der Sinnlichkeit gilt nicht für die transzendentale Logik, deren Grundsätze reinem analytischem Denken vorliegen. Doch nicht nur die strikte Trennung zwischen ästhetischem und logischem Vermögen soll gelten, sondern es wird auch — wie zwischen der Rezeptivität der Sinnlichkeit a priori und a posteriori — zwischen den Grundsätzen und Kategorien des Verstandes vollständig unterschieden. 105 Wie aus der Unterscheidung zwischen den Formen der reinen Anschauung a priori und den aus der Erfahrung gewonnenen Urteilen über räumlich-zeitliche Verhältnisse a posteriori resultiert, dass die Formen der reinen Anschauung den genannten Verhältnissen als Ordnung ihres Angeschautseins zugrunde liegen, ohne von diesen tangiert zu werden, gilt für den Verstand: Die Grundsätze des reinen Verstandes liegen den Verstandesurteilen zugrunde, ohne durch die Kategorien, geschweige denn durch die Formen der Anschauung, qualifiziert zu sein.106

104 Vgl. Β 191ff. 105

Die parallele N e n n u n g der Unterscheidungen sei nicht als Parallelisierung der Unterscheidungskriterien interpretiert.

106 Vgl. Β 198ff; die Einleitung der Logik: Β 76 ff; der transzendentalen Dialektik: Β 600f.

Mit Sinn und \ ; erstand

77

2. Die „reine" Ordnung muss den mathematischen Axiomen der Anschauung (der Geometrie) genügen, es gibt also eine eindeutige, identifizierbare, anschauliche Ordnung a priori. 107 Gegen eine mit der Anschauung verbundene Anschaulichkeit (der Geometrie), aber nicht bezüglich einer Ordnung als Struktur a priori, würde sich die heutige Mathematik vielerorts verwehren. Doch das ist Thema der Grundlagenkrise, die wir in der Einleitung erwähnten. An dieser Stelle ist wichtig, dass die Punkte (1./2.) für Kant einander nicht widersprechen. Die Privilegierung des mathematischen Wirklichkeitsmodells geht einerseits damit einher, dass die reinen Formen der Anschauung und die reinen Begriffe unabhängig von ihren sprachlichen und sinnlichen Realisierungen betrachtet werden. Andererseits wird davon ausgegangen, dass die Mathematik aufgrund der ihr so unterstellten ,Sprach- und Sinnlosigkeit' das ideale Modell der Erkenntnis darstellt.108 Eigentliche Erkenntnis wird unmittelbar gedacht. So soll die mathematische Erkenntnis schon vor jedem sprachlichen Vermitdungsprozess Geltung haben, nämlich insofern sie den Grundsätzen der Logik genügt (I). Die Erkenntnis der anschaulichen Ordnung, z.B. als räumliche Ordnung in ihrer reinen Form, wird durch die mathematischen Axiome der Anschauung garantiert, womit wiederum eine nicht-gegenständliche Ordnung gemeint ist (II).109 Die unbedingt konkrete, sinnliche Dimension der Sprache, somit auch des Symbolsystems der Mathematik, wurde von Kant also nicht in den Blick genommen. 110 Deshalb ist nun zu zeigen, inwiefern auch die Grundsätze der Logik zeichenhaft zu denken sind und als solche mit den Formen der Anschauung zusammenhängen. Der Schematismus als Vermittlungsverfahren von Verstandeshandlungen und Sinnlichkeit ergibt sich dann als Vermittlung der Grundsätze mit der Anschauung angesichts ihrer Zeichenhaftigkeit. Die Unterscheidung von Ästhetik und Logik wurde bei Kant so definiert, dass die eine sich mit der passiv anschaubaren Relationalität der Formen und die andere mit der aktiven, einheitsstiftenden Funktion der Verstandeshandlungen beschäftigt. Relationalität und einheitsstiftende Funktion können aber mit einem erweiterten Handlungsbegriff nicht mehr rein getrennt werden. Über ihn ergibt sich der „verbotene" Zusammenhang zwischen den Grundsätzen der Logik und einer Unterscheidung von Raum und Zeit.

107 S. Anm. zuvor. 108 l'rotz des § 59 der Kritik der Urteilskraft. Vgl. M. Riedel, „Urteilskraft und Vernunft: Kants ursprüngliche Fragestellung", Frankfurt/M., 1989, 49. 109 Vgl. Kap. IV.A.3.3.1 zu Leibniz. 110 Vgl. B 760f.

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4.2. Zeichen und Identität (ZI) Um nun den Zusammenhang von der Anschauung zu den Grundsätzen der Logik über die Zeichenhaftigkeit beider herzustellen, wie er sich aus den kantischen Formulierungen ergibt, sei noch einmal die Funktion des Schematismus betrachtet: „daß der Schematismus des Verstandes durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft auf nichts anders, als die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in dem inneren Sinne, und so indirekt auf die Einheit der Apperzeption ... hinauslaufe" 111 . Aus dem bisher Gesagten ist zu erwarten, dass eine entsprechende Einheit, die sich aus der Handlung der Einbildungskraft ergibt, nur noch unter Berücksichtigung ihrer Zeichenhaftigkeit gedacht werden kann. Damit muss aber auch die Unterscheidung von innerem und äusserem Sinn neu überdacht werden, ebenso die mit dem inneren (und äusseren) Sinn verbundene reine Passivität im Unterschied zur Aktivität des Verstandes (vgl. II.4.3). Nichtsdestoweniger bleibt für ein Vermittlungsverfahren die Vorstellung von einer einheitsstiftenden Handlung weiterhin grundlegend. Genau diese Funktion der Einheit ist aber ebenso fundamental für die Formulierung der Grundsätze der Logik. Deshalb stellt sich die Frage, ob nicht unter dem Begriff der Einheit ein Zusammenhang zwischen den Grundsätzen der Logik und den Formen der Anschauung (Raum und Zeit) herstellbar ist, wenn nicht nur - mit Hegel gesprochen - die Formen der Anschauung, sondern auch die Grundsätze nur zeichenhaft zu verstehen sind. Mit einer solchen Überlegung wird darüber hinaus auch die strikte Unterscheidung des analytischen und synthetischen Grundsatzes aufgrund ihrer Zeichenbedingtheit und in Anbetracht des Begriffs der Einheit nicht mehr möglich sein. So werden wir im nächsten Abschnitt zuerst einmal die Grundsätze in Bezug auf deren notwendigen Zusammenhang sowohl mit dem Begriff als auch der Anschauung der Einheit erörtern. 4.2.1. Die Grundsätze in ihrem notwendigen Zusammenhang unter dem Begriff und der Anschauung der Einheit Der synthetische Grundsatz lautet: „Das oberste Principium aller synthetischen Urtheile ist also: ein jeder Gegenstand steht also unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung." 112 Nun hat Georg Picht daraufhingewiesen, dass sich jede

111 B185f. 112 Β 197. Vgl. Β 78; H.-M. Baumgartner, „Kants Kritik der reinen Vernunft", Freiburg u.a., 1996, 4. Aufl., 4: „M. a. W.: Was zu den Bedingungen einer möglichen Erfahrung gehört, das gehört auch zu den Bedingungen der Gegenstände einer möglichen Erfahrung und gilt damit a priori von allen Objekten." So ist die „eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft" auf die Frage zurückzuführen: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Auf der Auflösung dieser Aufgabe ... beruht ... das Stehen und Fallen der Metaphysik." (B 19). Uns geht es nicht um den Aufweis der Möglichkeit des a priorischen Urteils, sondern um die ästhetischen Implikationen der Tatsache, dass

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Einheit als Ausdruck (bzw. Manifestation in ontologischer Terminologie gesprochen) des der Logik zugrundeliegenden Prinzips der Identität verstehen lässt. 113 Im Unterschied dazu setzt Kant dieses Prinzip mit dem anderen Grundsatz der Logik, dem analytischen Grundsatz, gleich: „Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht, lautet der Satz vom Widerspruch" 114 . Somit unterscheidet er das Prinzip der Identität strikt von dem synthetischen Grundsatz: 115 „Analytische Urteile (die bejahenden) sind also diejenigen, in welchen die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt durch Identität, diejenigen aber, in denen diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird, sollen synthetische Urtheile heißen."116 Mit dieser Unterscheidung der Grundsätze ergibt sich aber - noch einmal abgesehen von dem oben konstatierten Zusammenhang von Einheit und Identität — eine Inkonsistenz mit der Gleichsetzung des Satzes vom Widerspruch und dem Prinzip der Identität, die ebenso von Picht deutlich gemacht wurde: „Wie kann der Satz vom Widerspruch mit dem Prinzip der Identität gleichgesetzt werden, wenn er trotzdem auch dort seine Geltung behält, wo die Verknüpfung des Prädikates mit dem Subjekt, nach den Worten von Kant, ohne Identität gedacht

alle unsere Erfahrungen und Erkenntnisse auf einem einheits- bzw. identitätsstiftenden Vermögen beruhen, das seine Formen der Darstellung findet. Vgl. nächste Anm. 113 Vgl. Picht: „Die Einheit von Sein und Schauen wird von Parmenides durch das Wort: ,Das Selbe' bezeichnet. Alles Denken, das sich den Ausblick auf dieses .Selbe' (idem) zum Gesetz macht, gehorcht dem Prinzip der Identität ... Ich nenne abweichend von Heidegger jede Philosophie, die in der Identität ihr Fundament sucht, Metaphysik'. Die Herrschaft des Prinzips der Identität reicht weit über die Metaphysik im engeren Sinne dieses Wortes hinaus. Europa hat eine Form des Denkens ausgebildet, die es ermöglichen sollte, jede Erkenntnis überhaupt auf Identität zurückzubeziehen: die Logik. Sie hat in den positiven Wissenschaften kanonische Geltung. Deshalb sind diese Wissenschaften, auch wenn sie darauf nicht reflektieren, kraft ihrer formalen Prinzipien angewandte Metaphysik; sie sind dies ungezügelt und schrankenlos, wenn sie die Erinnerung an ihre eigene Grundlegung verdrängen. Die Frage nach dem authentischen Sinn von .Identität' führt uns zu den Griechen zurück: das erlaubt uns dann, die Fundamente nicht nur der Philosophie von Kant sondern auch der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts so aufzudecken, dass sie sachgemäss diskutiert werden können ... .Identität' ist nicht ein abstrakter Begriff, das Wort bezeichnet... jene Einheit, die wir vor Augen haben, wenn wir vom .Uni'-versum reden. Bei Parmenides wird sie to syneches genannt: die lateinische Übersetzung dieses Ausdrucks heißt continuum. Aber bei Parmenides hat das Wort einen aktiven Sinn. Die Einheit ist das, was die Welt zusammenhält. Diesen .Zusammenhalt' nennen wir seit Parmenides ,das Sein' ...", 99ff. 114 Β 191. Vgl. Picht, 107ff: „Kratylos war der philosophisch bedeutendste Vertreter der fälschlich dem Heraklit zugeschriebenen Lehre ,Alles fließt'". Mit ihr „erfahren wir, wovon im Satz vom Widerspruch die Rede ist. Er bezieht sich auf die Sphäre des immer Bewegten ... Der Satz vom Widerspruch ist das Prinzip, das uns erlaubt, das Phänomen der Bewegung so zu erklären, dass sich nicht alles im .Alles fließt' des Kratylos auflöst ... [Der Satz vom Widerspruch] besagt, dass immer, wenn entgegengesetzte Eigenschaften gleichzeitig auftreten, diese eine Mehrzahl von Trägern haben müssen." 115 Kant übernimmt von Leibniz zwar die Gleichsetzung des Satzes vom Widerspruch mit dem Prinzip der Identität, unterscheidet aber synthetische und analytische Urteile, durch die die fundamentale Unterscheidung von Anschauung und Verstand, mit der die Vernunft auf ihre Endlichkeit eingeschränkt wird, vorbereitet wird. Vgl. Picht, 104. 116

BIO.

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wird?" 117 Mit anderen Worten: Wie kann eine auch für ein synthetisches Urteil notwendige Verknüpfung von Subjekt und Prädikat ohne das Prinzip der Identität geschehen? Und genau an dieser Stelle ergibt sich der erste Zusammenhang mit der Zeit: Denn ein synthetisches Urteil (eine Vorstellung, zu der etwas hinzu getan wird) 118 kann nur gelten, insofern ein Prädikat einem Subjekt zwar nicht gegenwärtig, dafür aber zukünftig oder in der Vergangenheit zugeschrieben werden kann, also eine zeitliche Identität voraussetzt. 119 Die Bedingung ,,[k]einem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht" gilt nämlich auch als „notwendige ... Bedingung ... der Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung" 120 . Wird hier noch einmal Kants Definition der reinen Synthesis Beachtung geschenkt: „die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen" 121 , so wird deutlich, dass diese den Satz vom auszuschliessenden Widerspruch voraussetzt. Das tut genau die Vorstellung, zu der etwas hinzugetan wird, (im Sinne von SvW I). Damit sei nicht behauptet, dass die synthetischen Urteile auf die analytischen reduzierbar wären, viel mehr wird hier vertreten, dass die Synthesis als Handlung dem Prinzip der Identität genügt (im Sinne von SvW II). 4.2.2. Die Unterscheidung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit Nachdem sich der Zusammenhang des synthetischen Grundsatzes mit dem Grundsatz analytischer Urteile über den Begriff der Einheit ergeben hat und ebenso ein erster Zusammenhang zur Zeit, insofern der synthetische Grundsatz von einer Einheit ausgeht, die nicht gegenwärtig identifizierbar ist, liefert der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch das Kriterium zur Unterscheidung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit. 122 Aristoteles hat es anschaulich ausgedrückt, insofern er - mit Georg Picht gesprochen - nicht „von Aussagen sondern vom Seienden selbst" 123 zu reden beansprucht hat:

117 Picht, 105. 118 Die Vorstellung selbst ist schon als Verfahren zu verstehen. Vgl. Anm. 197 u. 198. 119 Vgl. auch Joseph Simon die Einheit des Subjekts und seiner Urteile a priori bei Kant als eine Unmöglichkeit kommentierend: „Jede ,Synthesis' von Begriffen bleibt dem Einbruch von Zeit ausgesetzt, mit dem auf dem Zeichencharakter des Begriffs, d.h. auf seine immer wieder notwendige, selbst aber begriffslose Version in andere Zeichen zurückverwiesen wird.", Zeichen und Zeil, in „Zeit und Zeichen", hg. v. T. Borsche u.a., Schriften der Academic du Midi, I, München, 1993. 120 Vgl. Anm. 221. 121 Β 103. 122 Vgl. Β 49, Β 10. 123 Vgl. Picht, 105.

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„Daß nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung ... unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann." 124

Hier stellt sich selbstverständlich wieder die Frage, ob es sich lediglich um eine Veranschaulichung handelt, von der Kant gerade gezeigt hat, dass sie für die Formulierung der Grundsätze nicht notwendig ist. Gegen eine Vermischung der Grundsätze der Logik und der Formen der Anschauung hat sich Kant verwahrt, und das „zugleich" aus seiner Formulierung des Satzes vom Widersprach eliminiert. 125 Dass dieser Zusammenhang bei Kant dennoch schon angelegt ist, aber bei ihm seine Grenzen hat, weil der Zusammenhang zwischen Form und Materie nicht schlüssig thematisiert wird, lässt sich folgendermassen zeigen: Der kantische Raumbegriff schliesst sich, wie gesagt, an Leibniz an. Hierfür wurde schon die ausschlaggebende Stelle aus einem Brief von Leibniz an des Bosses genannt. Joseph Simon kommentiert eine weitere Passage aus dem 5. Brief an Clarke: „Leibniz definiert den Raum als die ,Ordnung ..., in der der Geist sich das Operieren mit Beziehungen vorstellt'. 126 Kant kommt demgegenüber zu dem Ergebnis, daß von objektiver Erkenntnis erst gesprochen werden kann, wenn der operativen Bewegung, die wir als Vollzug des Denkens ,in uns' anschauen, ,etwas im Raum außer mir' 127 entspricht. Damit spricht Kant zuerst aus, daß der mathematisch-naturwissenschaftliche Raumbegriff das Problem des Äußeren ausläßt und philosophisch deshalb, so gut er dort seine Funktion erfüllt, nicht genügt." Hier ergibt sich nun der (von Kant nicht bezweckte) Zusammenhang des Räumlichen und Zeitlichen mit den logischen Grundsätzen: „Daß diese Bedingung des Äußeren erfüllt ist, ergibt sich für Kant durch einen Schluß, der durch Bestimmung zufolge des kategorialen Verständnisses von Substanz und Akzidenz zustande kommt, also wieder durch eine rein logische Operation: In mir nehme ich einen dauernden Wechsel wahr. Einen Wechsel kann ich mir aber nicht denken, ohne zugleich ein von dem Wechsel verschiedenes, Beharrliches' 128 zu denken. Wie die Zeit nun Form der Anschauung des Wechsels in mir ist, so ist der Raum davon unterschiedene Form der Anschauung des dem Wechsel zugrundeliegend gedachten Beharrlichen außer mir." 1 2 '

Das Beharrliche ist aber dasjenige, dem ein Prädikat durch Identität zugeordnet werden kann, bzw. das Subjekt eines analytischen Urteils zeichnet sich durch

124 Vgl. Anm. 164. Zur Sinnlichkeit und dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch vgl. auch Aristoteles, iMetaphysik Γ 6. 1011b. Nach Picht hat Aristoteles den Satz wohl von Platon, (Politeia, 436 B). Vgl. Picht, 106. Vom Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ist der Satz vom ausgeschlossenen Dritten zu unterscheiden, vgl. Kap. IV.A.2.4. 125 Β 79, 80. 126 Vgl. „un certain ordre oü l'csprit con^oit ['application des rapports", G. W. Leibniz, „Die philosophischen Schriften", VII, hg. v. C. J. Gerhardt, Darmstadt,, 1978, 401. 127 Β 275. 128 Β XXXIX. Vgl. auch Β 183 (A.D.). 129 Simon, Sprache und Raum, 5.

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seine Beharrlichkeit aus. Der Wechsel ergibt sich als Zuordnung eines Prädikats zum Beharrlichen in Zukunft und Vergangenheit, also ohne gegenwärtige Identität, sondern als Identität der Handlung, welche die Zuordnung vollzieht. Auch wenn hier schon ein Zusammenhang der Grundsätze mit den Formen der Anschauung zu erahnen ist, impliziert der kantische Begriff des Äusseren bzw. des Raumes dennoch prinzipielle Grenzen, um den gesuchten Zusammenhang weiterzuentwickeln. Denn es ist zwar grundlegend, dass der Raum auch unter dem Aspekt des Ausseren thematisiert wird, dabei darf aber nicht vernachlässigt werden, dass damit auch das „Innere" als Inneres selbst schon kategorial zum Räumlichen gehört. Deshalb ist auch die kantische Favorisierung der Zeit im Schematismusverfahren unbegründet. 130 Sie setzt die räumliche Unterscheidung von innerem und äusserem Sinn voraus. Die Kategorie von Substanz und Akzidenz sei - so Simon - eine „Vorstellungskategorie. Sie orientiert sich an der Vorstellung eines auf einer Unterlage liegenden Gegenstandes ... Das Vorgestellte wird immer schon als Außeres vorgestellt. Das Denken dieser Art stellt sich nicht ernsthaft dem Problem des Äußeren, indem es sich an solche äußeren Modelle anlehnt und dieses Problem nicht mit dem seiner eigenen Relevanz zusammen denkt. Wenn dagegen die Reflexionskategorie des Verhältnisses Inneres und Außeres in die Reflexion einbezogen wird, wird zugleich über den Begriff des Verhältnisses selbst reflektiert ... (Dieses Problem, A.D.) meint nicht die allgemeinste Bestimmung von Gegebenem als Gegebensein, das dann als solches noch immer dem Subjekt gegenüberläge, sondern die Problematik solchen ,Gegenüberliegens', in die das Subjekt so gut einbezogen ist wie sein ,Gegenüber'." 131

Hier findet sich also nicht nur der Zusammenhang zwischen Raum und Logik, sondern auch die Darlegung der Notwendigkeit, das räumliche Begriffspaar „innen-aussen" bezüglich unserer Erkenntnis- und Erfahrungsprozesse allgemein zu überdenken. Das kommt einer Analyse des Raumbegriffs — nichtsdestoweniger unter Beibehaltung seiner Charakterisierung als ein Nebeneinander der Erscheinungen — gleich, und zwar zeigt sich diese Notwendigkeit daran, dass sich eine reine Passivität des räumlichen Sinns in Bezug auf ein reines Gegenüberliegen nicht denken lässt, sondern mit der Räumlichkeit des Subjekts gedacht werden muss. 132 Die räumliche Problematik des „Gegenüberliegens" wird über Kant hinausgehend nur sinnvoll gedacht, wenn sowohl das Subjekt als auch sein „Gegenüber" 130 Das Argument , Verschiedene Zeiten sind nicht zugleich sondern nach einander (so wie verschiedene Räume nicht nach einander sondern zugleich sind)" ist nur ein scheinbares Argument dafür, dass der Raum „zeitlich" durch das „zugleich" definierbar ist, die Zeit sich aber selbst durch das „nacheinander" definiert. Es lässt sich nämlich zeigen, dass das „nacheinander" der Dinge eine räumliche Bestimmung der Zeit ist im Unterschied zu einem modalen Verständnis von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, vgl. IV.A. 1.1.2, so wie das „zugleich" als räumliche Kopräsenz verstanden werden kann. 131 Ebd., 7. 132 Vgl. M. Merleau-Ponty, „Phenomenologie de la perception", Paris, dort: La spatialiti propre et la motriäte, 114-172.

du corps

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als z e i c h e n h a f t an e i n e n Zeichen&wgir g e b u n d e n e F o r m u n d n i c h t „ r e i n " f o r m a l , aller E r f a h r u n g v o r a n g e h e n d , g e d a c h t w e r d e n , w e n n also der dritte B e g r i f f der Materie eingeführt wird, für den dann ebenso geklärt w e r d e n muss, w a s dieser mit d e n G r u n d s ä t z e n zu tun hat. K a n t unterscheidet hingegen i m Kapitel „ V o n

der

A m p h i b o l i e d e r R e f l e x i o n s b e g r i f f e " strikt: „ M a t e r i e u n d F o r m . D a s sind z w e i B e g r i f f e , w e l c h e aller R e f l e x i o n z u g r u n d e g e l e g t w e r d e n , so sehr sind sie m i t j e d e m G e b r a u c h d e s V e r s t a n d e s u n z e r t r e n n l i c h v e r b u n den. D e r erstere b e d e u t e t d a s B e s t i m m b a r e ü b e r h a u p t , d e r z w e i t e d e s s e n B e s t i m m u n g (beides im transzendentalen Verstände, da m a n v o n allem Unterschiede dessen, w a s g e g e b e n w i r d , u n d d e r A r t , w i e es b e s t i m m t w i r d , abstrahiert). D i e L o g i k e r n a n n t e n e h e d e m d a s A l l g e m e i n e die M a t e r i e , d e n s p e z i f i s c h e n U n t e r s c h i e d a b e r die F o r m . In j e d e m U r t e i l e k a n n m a n die g e g e b e n e n B e g r i f f e l o g i s c h e M a t e r i e ( z u m Urteile), das V e r h ä l t n i s d e r s e l b e n (vermittelst K o p u l a s ) die F o r m d e s Urteils n e n n e n . In j e d e m W e s e n sind die B e s t a n d s t ü c k e d e s s e l b e n (essentialia) die M a t e r i e ; die A r t , w i e sie in e i n e m D i n g e v e r k n ü p f t sind, die w e s e n t l i c h e F o r m . " 1 3 3 Kant begründet n u n den Vorrang der F o r m damit, dass „die sinnliche A n s c h a u u n g e i n e g a n z b e s o n d e r e s u b j e k t i v e B e d i n g u n g ist, w e l c h e aller

Wahrnehmung

z u g r u n d e liegt, u n d d e r e n F o r m u r s p r ü n g l i c h ist .,."134 H i e r g e h t es u m e i n e A b g r e n z u n g g e g e n d e n „Intellektualphilosophen", der es nicht leiden könne, dass die F o r m d e n D i n g e n v o r a n g e h e . D o c h lässt sich die b e s o n d e r e subjektive

Bedin-

g u n g nicht als rein f o r m a l erweisen, i n s o f e r n das Subjekt selbst n i c h t i m m a t e r i e l l zu fassen ist.'35 F o r m oder Materie k ö n n e n nur in der Einheit eines Zeichenpro-

133 Β 290. 134 Vgl. dazu Picht, 194: „Die .reinen Formen der Anschauung' sind aber, sofern sie Formen der transzendentalen Sinnlichkeit sind, aus sich selbst heraus ,rezeptiv'; sie verdanken die Möglichkeit, ,Formen' zu sein, dem Gegebensein der Materie, die sie ,erfüllt' ... Der Raum, abgesondert betrachtet, ,enthält mehr als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung (or. gesperrt, A.D.) des Mannigfaltigen nach der Form der Sinnlichkeit gegeben in eine anschauliche Vorstellung, so dass die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung (or. gesperrt, A.D.) aber Einheit der Vorstellung gibt' (B 161) ... Im Hinblick auf diese Form der Sinnlichkeit sagt Kant: ,ln der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung correspondirt, die Materie (or. gesperrt, A.D.) derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung.' (B 34, Kursive Picht)." Vgl. auch zur Materie in den „Antizipationen der Wahrnehmung", Β 208ff. So betrifft die materiale Vernunfterkenntnis entweder einen bestimmten Gegenstand im physikalischen Sinne oder im ethischen Sinne. Vgl. I. Kant, „Kritik der praktischen Vernunft", hg. V. W. Weischedel, Frankfürt/M., 1997, BA III, IV. 135 Vgl. K. Lorenz unter Bezugnahme auf Leibniz: „Jedes logische Subjekt repräsentiert die ganze Welt einschließlich seines eigenen Körpers aus seiner Perspektive ... Partikularia und Begriffe exemplifizieren nicht den Unterschied zwischen Natur und Geist, sondern in Übereinstimmung mit der älteren Tradition den Unterschied zwischen dem Individuellen und Universalen", in Versionen, 13. Vgl. Kant selbst noch anders in seinem vorkritischen Text: Träume eines Geistersehers, in „Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie", Akademische Ausgabe, 1. Abt. Bd. II, Berlin, 1912, 320f: „Ein Geist, heißt es, ist ein Wesen, welches Vernunft hat. So ist es also keine Wundergabe, Geister zu sehen; denn wer Menschen sieht, der sieht Wesen, die Vernunft haben. Allein fährt man fort, dieses Wesen, was im Menschen Vernunft hat, ist nur ein Theil vom Menschen, und dieser Theil, der ihn belebt, ist ein Geist ... Nehmet etwa einen Raum

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zesses unterschieden werden, in dem Bestimmbares (Materie) und Bestimmendes (Form), aussen und innen, relative Begriffe sind wie Inhalt und Form. 136 Es ist nun die Rolle der Materie für den Zusammenhang von Räumlichkeit und Zeitlichkeit mit dem Prinzip der Identität und dem Satz vom auszuschliessenden Widerspruch näher zu präzisieren. Kant nennt einen Aspekt der Materie, der auch für ein zeichentheoretisches Modell konstitutiv ist: Nach Kant ist Materie dasjenige der sinnlichen Erkenntnis, welches deren Mannigfaltigkeit erst ermöglicht. Sie ist „das Bestimmbare überhaupt" 137 . Die „Mannigfaltigkeit der Materie" ergibt sich aus der Einschränkung einer „unendlichen Sphäre alles Möglichen" 138 , dem Prinzip der Limitation in endliche Einheiten. Die Materie liefert „die Möglichkeit überhaupt", die aufgehoben wird, „wenn kein Materiale, kein Oatum zu denken ist. Denn alsdann ist nichts Denkliches gegeben, alles Mögliche aber ist etwas, was gedacht werden kann." 139 Daraus ergibt sich der Grundsatz: „Ein jedes Ding aber seiner Möglichkeit nach steht ... unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung (or. gesperrt), nach welchem ihm von allen möglichen (or. gesperrt) Prädicaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegentheilen verglichen werden, eines zukommen muß." 140 von einem Kubikfuß und setzet, es sei etwas, das diesen Kaum erfüllt, d. i. dem Eindringen jedes anderen Dinges widersteht, so wird niemand das Wesen, was auf solche Weise im Raum ist, geistig nennen. Es würde offenbar materiell heißen, weil es ausgedehnt, undurchdringlich und wie alles Körperliche der Theilbarkeit und den Gesetzen des Stoßes unterworfen ist... Allein denket euch ein einfaches Wesen und gebet ihm zugleich Vernunft; wird dies alsdann die Bedeutung des Wortes Geist gerade ausfüllen? ... so will ich die Vernunft dem besagten einfachen Wesen als eine innere Eigenschaft belassen, für jetzt es aber nur in äußeren Verhältnissen betrachten. Und nunmehr frage ich: wenn ich diese einfache Substanz in jenen Raum von Kubikfuß, der voll Materie ist, setzen will, wird alsdann ein einfaches Element derselben den Platz räumen müssen, damit ihn dieser Geist erfülle? Meinet ihr, ja? Wohlan, so wird der gedachte Raum, um einen zweiten Geist einzunehmen, ein zweites Elementartheilchen verlieren müssen, und so wird endlich, wenn man fortfahrt, ein Kubikfuß Raum von Geistern erfüllt sein, deren Klumpe eben so wohl durch Undurchdringlichkeit widersteht, als wenn er voll Materie wäre, und ebenso wie diese der Gesetze des Stoßes fähig sein muß. Nun würde aber dergleichen Substanz, ob sie gleich in sich Vernunftkraft haben mögen, doch äußerlich von den Elementen der Materie gar nicht unterschieden sein, bei denen man auch nur die Kräfte ihrer äußeren Gegenwart kennt, und was zu ihren inneren Eigenschaften gehören mag, gar nicht weiß ... Ihr werdet also den Begriff eines Geistes nur beibehalten können, wenn ihr euch Wesen gedenkt, die sogar in einem von Materie erfüllten Raum gegenwärtig sein können ..." (kursiv, A.D., um auf die Darstellung des Gedankengangs als einen indirekten Beweis aufmerksam zu machen, der auf einen Widerspruch beruht, konstruiert durch den Zusammenhang der Begriffsfelder von Raum, Materie und Widerständigkeit). 136 Vgl. Lorenz, Versionen, 9. 137 Β 322. 138 Vgl. Β 97 ff. 139 Kant nach Picht, 188. Vgl. dort auch: „Deshalb wurde in der Schule von Leibniz, wie Kant im Amphibolie-Kapitel sagt, ,in Ansehung der Dinge überhaupt unbegrenzte Realität als die Materie aller Möglichkeit, Einschränkung derselben aber (Negation) als diejenige Form angesehen, wodurch sich ein Ding vom andern nach transcendentalen Begriffen unterscheidet." 140 Β 599ff.

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Dann ergibt sich die Mannigfaltigkeit der Materie aber mit der Bedingung der Endlichkeit menschlicher Erkenntnis, denn erst unter deren Bestimmung wird jedes Ding zu dem, was es ist. 4.2.3. Der Zusammenhang mit den Grandsätzen: Materie und Widerspruch Der Ubergang von der Materie zum Satz vom Widerspruch lässt sich nun nach Picht folgendermassen vollziehen: „Denkt man in Verstandesbegriffen, so kann ein Prädikat einem Subjekt nur entweder zugesprochen oder abgesprochen werden. Das Subjekt wird in der Kategorie der Substanz vorgestellt. Ein Urteil, das dem Subjekt das Prädikat zuspricht, ist bejahend. Sein Gegenteil ist nach dem Satz vom Widerspruch verneinend. Diese Struktur ist in der Logik vorgezeichnet ... Wird nun einem Ding ein Prädikat zugesprochen, so werden die anderen möglichen Prädikate dadurch zugleich ausgeschlossen. Das Ding wird durch die Prädikation limitiert. Es wird in seine Schranken eingeschlossen ... Die Prädikation wird transzendental auf die Kategorie der Limitation zurückgeführt." 141

Die Limitation, die sich auf die Materie bezieht, genügt dem Satz vom Widerspruch und garantiert wiederum die Mannigfaltigkeit der Struktur der Wirklichkeit, woraus unsere erste Formulierung des Satzes vom Widerspruch (SvW I) erst plausibel wird, wenn hinzugefugt wird: „die Mannigfaltigkeit der Struktur der Wirklichkeit unter einer bestimmten Perspektive, die aus der Endlichkeitsbedingung des Menschen resultiert". Die Materie liefert umgekehrt das transzendentale Substrat als die Bedingung der Möglichkeit der Identität als der Möglichkeit der Bildung derjenigen Einheiten, in denen sich unser räumlich-zeitlicher Erfahrungszusammenhang strukturiert. 142 So ergibt sich der Zusammenhang der Grundsätze in Bezug auf die Materie, was unserer dritten Formulierung SvW III nahekommt, dem Zusammenhang von Materie, Räumlichkeit und Zeitlichkeit und Widerspruch.

4.3. Widerspruch und Widerständigkeit (WW) Es wurden bisher, ausgehend von Kant, Verbindungslinien zwischen den Grundsätzen der Logik, den Verstandeshandlungen, den Formen der Anschauung Raum und Zeit sowie der Materie dort aufgezeigt, wo es notwendig wurde, einen Zeichenbegriff einzuführen (Schematismusverfahren, Analytik, Amphiboliekapitel). Mit dem Hinweis auf die Sprachlichkeit der Verstandeshandlungen wurde u.a. deren Sinnlichkeit und Materialität Rechnung getragen und die strikte Trennung eines aktiven von einem passiven Erkenntnisvermögen infragegestellt. Wie dies

141 Picht, 189. 142 Vgl. ebd., 192f.

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alternativ zu denken ist, sei mit dem semiotisch-pragmatischen Modell von Kuno Lorenz erläutert. Die Notwendigkeit, in einem Schematismusmodell den Handlungsbegriff zu klären, auch für formale Kontexte, sei noch einmal an Friedrich Kambartels Erläuterung des Schemabegriffs verdeutlicht: „Schematismus als kantische Begriffsbildung des allgemeinen Begriffs ,Schema' meint immer, daß eine Handlungsmöglichkeit oder ein Verfahren den entsprechenden Aktualisierungen gegenübergestellt wird. Handlungen vollziehen sich als Aktualisierungen von Handlungsschemata. Ein und dasselbe konkrete Handlungsgeschehen kann mehrere Handlungsschemata aktualisieren. Dies ist vor allem für die sprachlichen Handlungen der Fall, bei denen z.B. die Aktualisierung eines Lautschemas (d.h. der Hervorbringung eines bestimmten Lautes) zugleich die Aktualisierung eines symbolischen Handlungsschemas, z.B. eines Handelns gemäß bestimmter sprachkonstitutiver Regeln für die Verwendung dieses und äquivalent gebrauchter Lautschemata, intendiert ... Vor allem in der Mathematik werden Handlungsmöglichkeiten häufig ,schematisch' in einem engeren Sinne, nämlich durch mit schematischen Buchstaben anschaulich charakterisierten Formen, bestimmt. 143 Mit diesen Definitions- und Axiomenschemata liegt ein Fall vor, den Kant mit seinem ,Schematismus' in allgemeiner Form behandelt hat. Angewendet auf die Kategorien des Verstandes liefern die Schemata nämlich die Struktureigenschaften von Handlungsfolgen wie Anfang, Wiederholung, Aufeinanderfolge und Beharrung ,.." 144

Wenn nun der Handlungsbegriff in einem zeichentheoretischen Modell verstanden wird, dann ergibt sich eine Auflösung der strikten Unterscheidung erstens, von Raum und Zeit, zweitens, der Verstandeshandlungen von den Grundsätzen der Logik, drittens, der Materie von allen soeben genannten Begriffen wie folgt. 4.3.1. Der semiotisch-pragmatische Ansatz nach Kuno Lorenz Es sei nun der von Kuno Lorenz entwickelte dialogische Ansatz eingeführt. Mit ihm lassen sich unsere vorangehenden Überlegungen zum Zusammenhang von Zeichen, Materialität, Raum und Handlung in ein Modell zur Erlangung von Handlungskompetenzen und der damit einhergehenden Gegenstandskonstitution integrieren. Wir lösen uns hiermit vom kantischen Modell für die Gegenstände unserer Erkenntnis: Dort galten erstens die Gegenstände mit dem Schematismusverfahren als anschaulich (passiv) gegeben und begrifflich (aktiv) bestimmt. Zweitens hatte die Vermittlung durch das Schema rein formal zu geschehen, um der Unterscheidung von Allgemeinem einerseits - das sind im Schematismus die Verstandeshandlungen und die Formen der Anschauung - und Besonderem andererseits — das ist in der Realisierung eines Schemas die räumlich-zeitlich bestimmte Materie entsprechend den Erscheinungen — Rechnung zu tragen. 143 Dies ist besonders dort der Fall, wo Axiome oder Definitionen einer Theorie durch die Möglichkeiten der Einsetzung in sogenannte Axiomenschemata bzw. Definitionsschemata angegeben werden. Vgl. F. Kambartel, Schema, in EPhW, 3, 697. 144 Ebd. Vgl. W. Kamiah, Sprachliche Handlungsschemata, 437.

in Gadamer, Das Problem der Sprache, 424-

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Ausführliche, systematische Darstellungen des Lorenz'schen Ansatzes finden sich in Artikulation und PrädikationXAS und in Rede ^wischen Aktion und Kognition,46. Seine Relevanz zeigt sich aber auch in der Auseinandersetzung mit spezifischen Problemstellungen in den verschiedensten Aufsätzen, auf die wir uns vereinzelt beziehen werden. Es geht um folgenden Grundgedanken: „Statt mit gegebenen Gegenständen der Welt auf der einen Seite oder mit mentalen Konstruktionen auf der anderen Seite bereits zu beginnen und damit die Opposition .gegebenerzeugt 1 als Gestalt der Opposition von Natur und Geist ... einfach hinzunehmen", also auch statt von einer Opposition des passiven und aktiven Vermögens auszugehen, ist die eine ,dialogische Situation' vorzustellen, in der Personen Handlungskompetenzen voneinander erlernen. „Die beiden Agenten des dialogischen Erwerbsprozesses stehen für die beiden Seiten jeder Handlung, ihre pragmatische (=natürliche) in der Ausführung oder dem Vollzug und ihre semiotische (=symbolische) in der Anführung oder dem Auffassen, das bei demjenigen Agenten passiert, der beim Erwerbsprozess dem gerade Ausführenden gegenübersteht. Pragmatisch gelesen ist die Handlung in der Ausführung aktiv und in der Anführung passiv, semiotisch gelesen ist sie in der Ausführung singular und in der Anführung universal!"147

Die Unterscheidung zwischen der pragmatischen und der semiotischen Seite einer Handlung lässt sich nicht vollständig mit der von uns schon eingeführten Unterscheidung von Vollzugs- und Beobachterperspektive hinsichtlich der Identifikation von Einzeldingen parallelisieren, denn diese wurde noch nicht semiotisch verstanden. Vorerst genügt es, die pragmatische Dimension als Vollzugsperspektive, in der mit etwas umgegangen wird, zu verstehen, sowie die semiotische Seite als Beobachterperspektive, die der Zeichenhaftigkeit des Beobachteten Rechnung trägt, und diesmal ihren eigenen Vollzug nicht ,ignoriert'. Lorenz führt die Unterscheidung von pragmatischer und semiotischer Perspektive erst einmal unabhängig von einem Gegenstandsbezug ein. Die uns interessierende Ebene des Gegenstandsbezugs tritt dadurch in Erscheinung, dass Handlungen sich, sei es im Vollzug oder in ihrer Anführung auf Gegenstände beziehen. „Bei der Gegenstandskonstitution geigen wir im Vollzugs-Aspekt einen Gegenstand gleichsam pars pro toto im Herstellen von Teilen." 148 Mit der Anführung einer Handlung verstehen wir „einen Gegenstand (als etwas) ... oder sagen etwas von ihm aus." 149 Damit haben Partikularia „als zusammengesetzt zu gelten aus ,Form', d.s. Sche-

145 In „Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung", hg. v. M. Dascal/D. Gerhardus/K. Lorenz/G. Meggle, HSK 7.2, Berlin-New York, 1995, 1098-1122. 146 In „Sprache und Denken. Language and Thought", Berlin-New York, 1997, 139-156. 147 Lorenz, Versionen, 20. Vgl. dazu die Unterscheidung token/type nach Peirce: Aus dem Logseben Notizbuch, in ders., „Semiotische Schriften", III, 214ff. 148 \'ersionen, ebd., 8. 149 Ebd. Vgl. auch ders., Pragmatic and Semiotic Prerequisits for Predication, hg. ν. SFB 378, Ressourcenadaptive kognitive Prozesse, Memo Nr.44, Universität des Saarlandes, November 2001, ISSN 1430-5690, 6. {frenquisiti)

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matisierungen in Gestalt der Typen von Umgangsweisen mit dem Partikulare, und ,Stoff, d.s. Aktualisierungen derselben Umgangsweisen ... Des weiteren gewinnt man ... Artikulatoren als solche Produkte von Zeichenhandlungen, die auch jedes andere Produkt gleichwertiger' Zeichenhandlungen vertreten können ... Und auch Artikulatoren können jeweils pragmatisch als auch semiotisch in ihren beiden Seiten weiter entwickelt werden." 150 Zweierlei ist hieran für unseren Gedankengang wesentlich. Zum einen geben sich ,Gegenstände' erst innerhalb einer bestimmten Praxis ,zu erkennen' bzw. sind durch eine bestimmte Praxis (pragmatisch) konstituiert/(semiotisch) konstruiert. Zum anderen muss dies dann auch für diese Gegenstände als per definitionem räumliche und zeitliche gelten, insofern sich Räumlichkeit und Zeitlichkeit nicht als zu den Gegenständen erst hinzukommende Eigenschaften denken lassen. Um wiederum zu verstehen, dass im Umgang mit den Gegenständen Ausführung und Anführung, beide, gemeinsam „am Werke sind" als „zwei Seiten einer Medaille", „ist es erforderlich, an gewöhnlichen Handlungen ihren Zeichencharakter aufzusuchen ebenso wie an Zeichenhandlungen auf ihren bloßen Handlungscharakter zu achten." 151 Hiermit wird — und dies noch unabhängig vom Gegenstandsbezug - im Unterschied zum kantischen Modell der prinzipiellen Dialogizität eines Erkenntnisprozesses Beachtung geschenkt. Erkenntnis wird als „Erwerbsprozess einer Handlungskompetenz in einer dialogischen Elementarsituation" 132 verstanden. Beliebige Handlungen werden immer in beiden Dialogrollen gespielt, auf der einen Seite in einer Ich-Rolle im Handlungsvollzug im Tun der Handlung und auf der anderen Seite in einer Du-Rolle im Handlungsbild und damit Erleiden der Handlung. Dabei gilt ,,[p]ragmatisch gelesen ist die Handlung in der Ausführung aktiv und in der Anführung passiv; semiotisch gelesen ist sie in der Ausführung singular und in der Anführung universal". 153 Die aktive und die passive Seite einer Handlung gehen dann auch in die Gegenstandskonstitution und die damit verbundene räumlich-zeitliche Erfahrung des Handelnden ein. Der singulare Vollzug und das universale Schema einer Handlung sind hingegen als Verfahren %ur „raumzeitlichen und logischstrukturellen Bestimmung" 154 der Einzeldinge bzw. ihrer Relationen untereinander zu verstehen, aber nicht selbst räumlich-zeitlich. Die Unterscheidung von 150 Lorenz, Versionen, 20f. 151 Ebd., 19. 152 Ebd., 20. 153 Ebd. Vgl. ders., Dynamis and Jinergeia. Zur Aktualität eines begrifflichen Werkzeugs von Aristoteles, in „Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik", hg. v. T. Buchheim, C. H. Kneepkens, K. Lorenz, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2001, 5. 154 Ders., Der semiotisch-pragmatiscbe Ansat^. Zeichenhaftigkeit des Räumlichen in der Verknüpfung von Naturalisierung und Symbülisierung unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Vortrag 15.2.2002, h'orschungskolloquium „Naturalisierung von Sprache und Symbolisierung von Welt als Perspektiven auf den Raum", Institut für Hermeneutik, Universität Zürich, 4.

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Handlungen und Einzeldingen trägt dem Problem Rechnung, dass es nicht möglich ist, Handlungen in einer ,rein vergegenständlichenden' Perspektive als Emzeldinge zu betrachten. 155 Darauf und auf das damit verbundene Problem personaler Identität werden wir in Kap. IV.B. unter Bezugnahme auf Ricoeur näher eingehen. Um damit umgehen zu können, dass Handlungskompetenzen schon immer in einem vorgängigen Praxisverständnis vollzogen und angeeignet werden, schlägt Lorenz selbst vor, das Schema von Ausführung und Anführung durch eine zusätzliche Perspektive (Er/Sie-Rolle) zu erweitern. Mit der Er/Sie-Rolle kommt sozusagen ein der dialogischen Situation gegenüberstehender ,externer' Beobachter ms Spiel. Aus seinem Standpunkt und dem der ursprünglichen dialogischen Situation lässt sich eine sekundäre dialogische Situation konstruieren. Grob verkürzend ausgedrückt, lässt sich die Ich-Rolle der ,Gesamthandlung' der ursprünglichen dialogischen Situation zuschreiben und dem Beobachter die entsprechende Du-Rolle. Umgekehrt lässt sich dieser in die Position der Ich-Rolle rücken, womit die ursprüngliche dialogische Situation in seine Du-Rolle geraten ist. An die sekundäre Dialogsituation lassen sich beliebig viele Dialogsituationen anschliessen, womit sich ein Prinzip der Prinzip der „Selbstähnlichkeit" 156 ergibt. Die nach diesem Prinzip auftretenden Handlungsaspekte der Aktivität und Passivität tauchen dabei im Vollzug gleichursprünglich auf. Unter semiotischer Perspektive sind es die Aspekte singular und universal gleichursprünglich, wobei aktiv/passiv und singular/universal nicht mehr parallel zu sehen sind. Die beiden miteinander verknüpften Linien — pragmatisch/natürlich und semiotisch/symbolisch — lassen sich nach Lorenz als Radikalisierung zweier Programme, der Symbolisierung von Welt nach E. Cassirer und der Naturalisierung von Sprache nach W. V. O. Quine, verstehen (Vgl. Abs. IV.A.3.2.4. und IV.B. 1.3). Mit ihrer Radikalisierung und Verknüpfung geht es um die „Aufgabe, aus Handlungen einerseits die Welt und andererseits die Sprache zu entwickeln ... eine Aufgabe, deren zweite Hälfte in der allgemeinen Form einer Herausbildung von Zeichenhandlungen aus gewöhnlichen Handlungen bereits von Peirce sehr detailliert bearbeitet wurde." 157 Aus diesem Grunde ist die Peirce'schen Semiose Gegenstand des Kap. III. Mit einer in ihr möglich werdenden gleichursprünglichen Behandlung solcher Programme verliert „Sprache als Zeichenträger ... dann den Charakter eines Mittlers \wischen Innenwelt und Außenwelt und wird stattdessen das Ergebnis einer Überführung von Umgangsweisen mit Welt, uns selbst eingeschlossen, also von Handlungen im weitesten Sinn, in Zeichenhandlungen. " 158 Damit ist insbesondere die Unterscheidung von formalem (begrifflichem und anschaulichem) Vermögen der Erkenntnis einerseits und Materie als Möglichkeit der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen andererseits als strikte nicht mehr gültig. 155 Vgl. Prtrtquisits, 7. 156 Ebd., 4. 157 Vgl. Lorenz, Versionen, 20. 158 Ebd., 19.

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4.3.2. Der aktive und passive Aspekt im räumlich-zeitlichen Vollzug der Gegenstandskonstitution Es sei noch einmal die pragmatische Seite - im Bereich der Partikularia, der räumlich-zeitlichen Einzeldinge - entwickelt: Jede Ausführung einer Handlung hat ein aktives und passives Moment im Sinne der Ich-Rolle und der Selbstanwendung der Du-Rolle. Umwelt wird so im Vollzug aktiv gestaltet als etwas, womit eine Person umgeht, und passiv erlitten, insofern sich der Vollzug im Entgegenstehen der Umwelt gestaltet. Mit den so verstandenen Aspekten der Aktivität und Passivität wird der Mensch als ,exzentrisches Lebewesen' 159 verstanden, als ein Wesen, das sich zur Umwelt und zu sich selbst verhält. Insbesondere ist der Aspekt der Grenze zwischen Person und Umwelt, der Grenzerfahrung im Sinne einer Trennung und einer Grenzüberschreitung, und damit die Kategorie des Räumlichen stets mit thematisiert. Denn das Räumliche, wird es als das Nebeneinander der Dinge verstanden (semiotisch als Realisierung eines Handlungsschemas und pragmatisch als Aktualisierung eines Handlungsvollzugs), ist hier das Nebeneinander von Eigenkörper und Umgebung (Ich stehe neben meiner Umgebung. Du stehst neben Deiner Umgebung). Handlungen gewinnen an den Grenzen zwischen Eigenkörper und Umgebung ihre Gestalt. Dies wirft ein Problem räumlicher Identität analog zum Problem zeitlicher Identität auf. 360

159 Die ,exzentrische Positionalität' „äußert sich in der anthropologischen Differenz von ,Leibsein' — der einzelne Mensch im Zentrum seiner Umwelt — und Körperhaben — der einzelne Mensch irgendwo in der Außenwelt — und ihrer Vermittlung im reflexiv, und das heißt hier sinnstiftend, also geistig verstandenen Verhalten — der einzelne Mensch in der Distanz zu sich als Innenwelt und ... dabei in einer Mitwelt", K. Lorenz zu Plessner, „Philosophische Anthropologie", Darmstadt, 1990, 111. Vgl. H. Plessner, „Anthropologie der Sinne", Frankfurt/M., 368. Plessner schliesst hieraus jedoch nicht, dass es für den Menschen keine geistfreie vitale Sphäre geben kann, der gegenüber sich der Mensch verhält. So gilt auch für seinen Personbegriff: „Für Plessner ist die Person nicht identisch mit geistiger Subjektivität im Unterschied zur Körperlichkeit, sondern eine Person ist ein Körperding (,Physis c ), das Leib ist (,Seele 4 ) und diesen Leib nochmals als einen Körper hat (.Geist'); ein Verhältnis von Verhältnissen, deren Momente im Zusammenspiel Personalität konstituieren." K. Hauke, Das Unverßigbare und das Unantastbare der Würde. Habermas, die Bioethik und Ρ/essners philosophische Anthropologie, PhR 49, (2002), 173. Hauke bezieht sich auf H. Plessner, „Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928)", Berlin, 1975, 293. 160 Zum Beispiel formuliert von Hans Jonas auf die Frage, ob Gott ein reiner Mathematiker sei antwortend: „Aber nehmen wir an, der Blick des göttlichen Mathematikers ruhe zufällig auf einem lebenden Körper, einem Organismus, einerlei ob einzellig oder mehrzellig. Was würde der Gott der Physiker ,sehen'? ... Als physischer Körper würde der Organismus dieselben allgemeinen Züge wie andere Aggregate aufweisen ... Aber innerhalb wie außerhalb seiner würden besondere Vorgänge bemerkbar sein ... Ich spreche vom Stoffwechsel seinem Austausch von Materie mit der Umgebung. ... fiir den zergliedernden Betrachter [sind] die Stoffteile, aus denen der Organismus zu einem gegebenen Zeitpunkt besteht, nur zeitweilige vorübergehende Inhalte, deren stoffliche Identität nicht mit der Identität des Ganzen zusammenfallt, durch das sie hindurch gehen — während dieses Ganze seine eigene Identität eben mittels des Durchgangs fremder Materie durch sein räumliches System, die lebende Form, aufrecht erhält. Es ist niemals stofflich dasselbe und dennoch beharrt es als dies identische Selbst gerade dadurch, daß es nicht derselbe Stoff bleibt ... In einer ideal vollständigen Analyse dieser Art ... wird sich die anscheinende Sei-

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Nimmt man noch unsere vorläufige Definition von Materialität 161 als ,m Bezug auf Raum und Zeit Bestimmbares' hinzu, ergibt sich: Im Vollzug einer Handlung leistet eine Person aktiv auf ihre Umgebung Widerstand, indem sie mit ihr umgeht, ein Handlungsverfahren auf sie anwendet. Gleichzeitig ist dieser aktive Widerstand nur möglich aufgrund des passiven Widerstands körperlicher Materialität und Gestalt, die einer Person eigen ist. Die material-gestalthafte Begrenztheit des Körpers, sie sei Eigenkörperlichkeit genannt, ist eine notwendige Bedingung dafür, dass eine Person sich von ihrer Umgebung zu unterscheiden weiss und sich auf ihre Umgebung bezieht. So begrenzt der Widerstand der Eigenkörperlichkeit einerseits die Bezugnahme auf die Umgebung, ist andererseits aber das, womit überhaupt Widerstand auf die Umgebung ausgeübt werden kann. Einund derselbe Aspekt, das Matenal-Gestalthafte des Körperlichen, hat also Anteil an der Passivität einer Handlung (das Spüren der eigenen Grenzen) und an der Aktivität einer Handlung (das Entgegenstellen der eigenen Grenzen gegen die Umgebung). Dieser doppelte Aspekt eines Handlungsvollzugs — resultierend aus dem Nebeneinander der Eigenkörperlichkeit einer Person und der entgegenstehenden Umgebung — sei Widerständigkeit genannt. Dieses Wechselspiel von aktiven und passiven Momenten wiederholt sich auf der mentalen, intentionalen Ebene der Handlungen, auf der eigene Vorstellungen und Wünsche im Widerspruch artikuliert und denjenigen der Umwelt aktiv entgegengestellt werden. Auf dieser Ebene sind eigene Wünsche und Vorstellungen kulturell bedingt also passiv begrenzt und werden als solche gestaltet. Die zuerst beschriebene Stufe der Widerständigkeit (aktiver und passiver Widerstand) ist also nur ein Aspekt der komplexen Widerständigkeit, die im Vollzug einer Handlung der Fall ist. Sie geht aber mit jeder Handlung einher. Viel mehr noch: Fasst man das Nebeneinander von Eigenkörper und Umgebung sowie deren Grenze als ,Räumlichkeit einer Person', ist Widerständigkeit konstitutiv für ihre Raumerfahrung im Handlungsvollzug. Insbesondere kann gefolgert werden, da es sich immer um die endliche Handlung und damit Widerständigkeit einer Person handelt, dass für die Handlung, wie zuvor für die Person, die gleichen Formulierungen des Satzes vom Widerspruch (SvW I-III, Kap. II.2) gelten, denn Handlungen werden immer von Personen ausgeführt. Der Vollzug einer Hand-

bigkeit und Individualität des organischen Ganzen noch gründlicher in ein sekundäres Resultat des Netzwerkes aller physischen Umweltprozesse auflösen ... und alle Züge einer selbstbezüglichen autonomen Wesenheit werden am Ende als bloß phänomenal, d.h. fiktiv erscheinen ... Kraft der unmittelbaren Zeugenschaft unseres Leibes können mr sagen, was kein körperloser Zuschauer zu sagen imstande wäre ... der Punkt des Lebens selber: daß es nämlich selbstzentrierte Individualität ist, für sich seine und in Gegenstellung gegen alle übrige Welt, mit einer wesentlichen Grenze zwischen Innen und Außen — trotz, ja auf der Grundlage des tatsächlichen Austausche ... Ganzheit ist hier selbstintegrierend in tätigem Vollzug; Form ist nicht Ergebnis, sondern Ursache der stofflichen Ansammlungen ...", in „Das Prinzip Leben", Frankfurt/M., 1997, 145-49. Vgl. auch ebd., 153-156: Das Problem der Identität. 161 Vgl. II.3.

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lung verändert die Umgebung, in der sie geschieht, und bestimmt die räumliche und zeitliche Identität einer Person. So kann eine Person nicht auf verschiedene räumliche Umgebungen gleichzeitig Bezug nehmen. Sie wechselt ihre Umgebung mit der Zeit. Da aufgrund des Satzes vom Widerspruch zwei materielle Dinge nicht gleichzeitig am gleichen Ort sein können, gestaltet jede Person mit ihren (materiellen) Handlungen ihre (materielle) Umgebung, indem sie sich ihr einprägt, ihr „den Platz wegnimmt" (man setze sich in den frischen Neuschnee eines Dezembermorgens) und somit aktiv den Raum erfährt. Die Passivität in der Raumerfahrung ergibt sich, indem die Gestalt einer Person durch ,ihre' materiellgestalthafte Umgebung begrenzt wird, wie auch dadurch, dass sie die Begrenztheit ihrer eigenen Körperlichkeit spürt. Daraus resultiert eine neue Bestimmung für das, was Materialität in dieser Untersuchung meint und mit ihr eine Definition von Widerständigkeit: Materialität sei unter pragmatischer Perspektive, in Hinblick auf den Sat^ vom auss^uschliessenden Widerspruch, Widerständigkeit genannt. 4.3.3. Darstellung und Prägung widerständiger Vollzüge Das Anliegen lautet nun, Widerständigkeit eines Handlungsvollzugs weiterzuverfolgen, und zwar insofern er seine Darstellung findet. Die Darstellung ergibt sich dadurch, dass die semiotische Seite mental aktiv auftritt. In Anlehnung an Lorenz lässt sich nun formulieren: „Auf der Sprachebene oder auf jeder anderen mit der Vergegenständlichung von (pragmatischen) Vollzügen ins Leben gerufenen semiotischen Ebene, gibt es nur" 162 den Anspruch auf erfüllte Erfahrungsvollzüge durch deren Darstellung (nicht deren Erfüllung selbst). Die so ausgeführten darstellungsorientierten Handlungen sind für Erfahrungsprozesse konstitutiv, 163 nicht nur insofern sie Erfüllungen von Erfahrung beanspruchen, sondern auch als Anspruch zu ihrer pragmatischen Erfüllung leiten. Denn Erfahrungsvollzüge werden durch zweierlei geprägt. Zum einen werden sie sowohl durch die mit der Ausführung ihrer Darstellung einhergehenden Ansprüche auf Erfüllung als auch durch die in dieser Ausführung selbst gegebenen Erfahrungsvollzüge geprägt. Zum anderen werden Erfahrungen angesichts ihrer Darstellung — also durch die mit deren Anführung erhobenen Ansprüche - durch diese geprägt. Bezieht man das auf die widerständigen Vollzüge personaler Identität, heisst dies, dass der Kontextbedingtheit der Formen ihrer Darstellung Beachtung geschenkt werden muss. „Es ist offenkundig, wenngleich oft vernachlässigt, dass erst durch die Darstellung unterscheidbar wird, wovon ich handle und womit ich handle oder rede." 164 Dann ist auch mit den kontextgebundenen Formen der Darstellung widerständiger Vollzüge offenkundig, wovon sie handeln und womit 162 Lorenz, Versionen, 18. Das Ende des Satzes ist ein modifiziertes Zitat. 163 Vgl. ebd., 8, 10. 164 Ebd., 13.

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sie handeln oder reden. Die Wechselwirkung zwischen Darstellung und Prägung widerständiger Vollzüge ergibt sich aus der dialogischen Situation. Versteht man die Darstellung in einer dialogischen Situation, so gilt: Eine Darstellung ist in ihrer Ausführung — in der pragmatischen Perspektive - gegenständlich, d.h. räumlichzeitlich (z.B. eine konkrete Implementierung oder Erzählung). Mit ihrer Anführung wird sie in eine Z«V/rahandlung überführt bzw. als Handlungsschema distanziert wahrgenommen. Die Anführung der Darstellung wird angeeignet, wenn das Schema als Handlungsvollzug aktualisiert wird. Die Prägung von Handlungsvollzügen geschieht über alle drei Momente: die gegenständliche Ausführung, das distanziert angeführte und das angeeignete Handlungsschema. Darüber hinaus beginnt mit der Aneignung die dialogische Situation von neuem, womit ein selbstähnliches Muster generiert wird: Das angeeignete Handlungsschema wird (pragmatisch) ausgeführt und (semiotisch) angeführt ... Werden die Verhältnisse zwischen Gegenstandsebene (pragmatische Ausführung einer Handlung) und Zeichenebene (Schematisierung und Aneignung) ausgenützt, steht der Weg offen zu einer Reduktion der Widerständigkeit unserer Handlungsvollzüge 165 , der aber grundsätzlich beschränkt bleibt. Die Wechselwirkung zwischen Darstellung und Prägung (Aneignung und Schematisierung) widerständiger Vollzüge in den uns interessierenden Kontexten wird Thema des Schlusskapitels sein. Bis dahin wird es ausschliesslich um die Ebene der Darstellung gehen. Dabei macht die Rede von der Darstellung von der Unterscheidung von Darstellung und Gegenstand Gebrauch, entsprechend der Unterscheidung Zeichen und Objekt nach Peirce.

4.4. Zusammenfassung (AL, ZI, WW) Bis hierher ging es um die Einführung des Schematismus als Ausgangsmodell, auf das sich so verschiedene Theorien beziehen können wie diejenige Ricceurs, der einen „narrativen Schematismus" 166 als für die menschliche Zeitlichkeit konstitutives Verfahren entwickelt, und diejenige der Gehirnforschung, in der eine „topische Schematheorie" 167 für menschliche Wahrnehmungsprozesse zur Geltung gebracht wird. 168

165 Unter Bezugnahme auf einen Briefwechsel mit Kuno Lorenz. 166 Vgl. Ricceur, Tr I, 106. 167 Vgl. Μ. A. Arbib/M. Hesse, „The Construction of Reality", Cambridge, 1986, insbes. 42-62. Vgl. die Kritik Ecos, Kant und das Schnabeltier, 146ff. 168 Die Tatsache, dass damit das Modell des transzendentalen Subjekts vorausgesetzt wird, impliziert hier nicht das Anliegen, an die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft „Was kann ich wissen?" anzuschliessen. Es geht uns nicht um eine Erörterung der Kritik unseres Urteilsvermögens im Sinne einer Selbstvergewisserung der Vernunft. Es sollen viel mehr, unter der Voraussetzung zwischenmenschlicher Verständigungsmöglichkeiten, die mit dieser Grundbedingung zusam-

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Es wurde aber deutlich, dass das kantische Modell für sich genommen einer Ergänzung durch eine Zeichenstelle bedarf. Die Formen der Anschauung, die Verstandeshandlungen und die Grundsätze sind prinzipiell zeichenhaft zu modifizieren. Dennoch Hessen sich die ästhetischen und logischen Bedingungen von Erfahrung und Erkenntnis an den Grenzen des kantischen Schematismus deutlich machen. Dies galt erst recht für die Thematisierung der Erkenntnis ihrer selbst als ästhetische und logische. Die in ihr vorliegende Beziehung zwischen Ästhetik und Logik wurde dreifach variiert: Ästhetik und Logik (-AL) Aus einer Betrachtung des kantischen Schematismusverfahrens, in dem es um die Bestimmung der allgemeinen Strukturen der Erfahrung, Raum und Zeit, geht, wurde deutlich, dass hier sowohl der Handlungsbegriff einer Revision bedurfte als auch die strikte Trennung der Grundsätze der Logik und der Anschauung. Dies ist im Sinne des von Wolfgang Welsch gegebenen Hinweises zu verstehen, dass die Ästhetik bei Kant zu einer Fundamentaldisziplin der theoretischen Philosophie geworden sei. Auch wenn mittlerweile „vieles an Kants Durchführung problematisch und unhaltbar [ist]: Die Ungeschichtlichkeit des transzendentalen Α priori, Details der Explikation von Raum und Zeit, die Beschränkung auf allein diese beiden Anschauungsformen. Aber die Idee dieser transzendentalen Ästhetik war ein zündender Gedanke, der durch seine späteren Verwandlungen ... zunehmend haltbarere Gestalt annahm ... Seit Kant wissen wir um die ästhetischen Fundamente allen Erkennens, um eine prinzipielle Protoästhetik der Kognition" 169 . Bevor, wie Welsch es hieraufhin unternimmt, auf die epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen Nietzsches, aber auch solche der analytischen Wissenschaftstheorie, schliesslich der hermeneutischen Theorie Blumenbergs und Rorties, und der Wissenschaftsforschung, überzuleiten ist, lohnt es sich jedoch, die semiotische Theorie von Peirce - als an Kant anschliessende und diese modifizierende Theorie — in Betracht zu ziehen, um verschiedene Darstellungsformen der Räumlichkeit und Widerständigkeit einführen zu können. Zeichen und Identität (ZI) Es wurde ansatzweise aufgezeigt, inwiefern auch die Grundsätze der Logik zeichenhaft zu denken sind und als solche mit den Formen der Anschauung Raum und Zeit zusammenhängen. Der kantische Schematismus geht mit der Vorstellung einher, dass die Vielfalt der Erfahrung unter bestimmte Einheiten geordnet wird. Auch wenn das hier vorausgesetzte Erfahrungs- und Kategorienverständnis zeichenbedingt zu modimenhängenden Erfahrungs formen thematisiert werden. Vgl. Kuhlmann, „Kant und die Transzendentalpragmatik", Königshausen 1996, 39. 169 W. Welsch, „Die Aktualität des Ästhetischen", München, 1993, 35f.

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fizieren ist, bleibt das Grundmodell, in dem ein nicht-strukturiertes Geschehen unter eine bestimmte Perspektive und damit Einheit (metaphorisch gesprochen: ins Blickfeld) gerät, sinnvoll. Es ist der Begriff der Einheit, mit dem sich eine Beziehung zwischen den Grundsätzen der Logik, Raum, Zeit und Materialität ergab. Widerspruch und Widerständigkeit (WW) Mit dem Schematismus wurde vorausgesetzt, dass Erkenntnis in ein aktives und ein passives Vermögen aufgeteilt werden kann. Ihre strikte Unterscheidung ist mit einem veränderten Handlungsbegriff unter pragmatischer Perspektive nicht mehr möglich. 170 Dies gilt, wenn vom Schematismus als Vermittlungsverfahren der aktiven Verstandeshandlungen und der passiven Sinnlichkeit zu einem semiotisch-pragmatischen Modell übergegangen wird, in dem Sprache als Ergebnis einer Oberführung von Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, ... von Handlungen in Zeichenhandlungen verstanden wird. Die hier vorausgesetzte exzentrische Positionalität einer Person erlaubt es, den aktiven und passiven Aspekt einer Handlung unter den Begriff der Widerständigkeit zu fassen. Die Uberführung von Handlungen in Zeichenhandlungen führt zu einer Ebene der Darstellung von Handlungsvollzügen und damit wiederum zu einer Ebene der Darstellung und Prägung der Widerständigkeit von Handlungsvollzügen. 171 Mit dem bisher Gesagten lassen sich Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Widerständigkeit für unseren weiteren Gedankengang neu bestimmen: Zeitlichkeit ist das, was sich aus einem Widerspruch ergibt, und damit voraussetzt, dass es eine Identität (prädikative Identifizierbarkeit) von etwas schon gibt, was identifiziert werden kann. Menschliche Wahrnehmung ordnet das unserer Erfahrung zugrunde liegende Geschehen unter eine jeweils endliche Perspektive. Die so wahrgenommenen Strukturen sind Formen der Räumlichkeit. Die gemeinsame Grundbedingung aller möglichen Formen der Räumlichkeit ist die

170 Nach Lorenz ergibt sich ein guter Ausgangspunkt für den hier relevant werdenden Materiebegriff mit der Monadenlehre von Leibniz. „Materie übernimmt eine Zeichenfunktion. Man muß nur Leibniz' eigene Worte in einem Brief an Conti (1715) zusammenlesen mit dem ersten Satz des Paragraphen 61 der Monadologie (1714), wo es heißt, daß in der Wahrnehmung die Körper (les [substances] composes) die Monaden (les [substances] simples) symbolisieren: La matiere meme η 'est pas um substance mais seukment sub-stantiatum, un Pbenomene bien fonde, et qui ne trompe point quand ony procede en raisonnant suivant /es lois ideales de l'Arithmetique, de la Geometrie et de lu Dynamique, etc. Es ist dann nur noch ein Schritt, die Begriffsbildung der (einfachen) Substanz selbst, also den Ubergang von etwas Gegenständlichem zu einer Verwendungsweise, der es unterzogen wird und sich unterziehen läßt — und das ist im übrigen der Hintergrund für die Redeweise, dass etwas Partikulares etwas Universales >bedeuten< kann zur Tätigkeit einer vernünftigen (einfachen) Substanz zu machen, mithin im Erzeugen und Erfassen von Zeichenfunktionen das Vernünftigsein zu verankern". Versionen, 5f. 171 Dennoch bleiben beide Aspekte relevant, und spiegeln sich unter anderem in der Realismus/Konstruktivismusdebatte.

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Endlichkeit des Menschen im Sinne seiner Widerständigkeit und Einheit. Dabei seien Erfahrung und Wahrnehmung dahingehend unterschieden, dass Wahrnehmung als der „strukturierte Inhalt sinnlicher Erfahrung" 172 zu verstehen ist, (was für uns im Wesentlichen impliziert, dass der für naturwissenschaftliche Erklärungen unabdingbare Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nicht unmittelbar sinnlich erfahrbar, d.h. Zeitliches nicht als solches wahrnehmbar ist). Hieraus ergibt sich sogleich in Bezug auf die Zeitlichkeit, dass Vergänglichkeit ohne Widerständigkeit nicht erfahren werden kann. Es ist wiederum unsere Erfahrung, die uns sagt, dass das sinnlich Wahrgenommene vergänglich ist. Mit Räumlichkeit und Zeitlichkeit handelt es sich also stets um einander bedingende Elemente. Die Einführung der Semiose geschieht nun nicht aus rein formalem Interesse am Begriff der Räumlichkeit in Semiosen, sondern insbesondere zur Deutung der Darstellung räumlich-widerständiger Vollzüge in bestimmten Praxiskontexten. Hierfür ist es gleichgültig, inwiefern mit Implementierung und Mimesis unterschiedliche Wahrheitsansprüche erhoben werden. Uns geht es um ihre prägende Relevanz in Bezug auf verschiedene durch sie gezeichnete Aspekte menschlichen Selbstverständnisses. Wir setzen also in Kap. III die Semiose als Rahmenmodell der Untersuchung und loten daraufhin in Kap. IV die jeweilige Leistungsfähigkeit der implementierenden bzw. mimetischen Überführungen von Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, von Handlungen ... in Zeichenhandlungen aus.

172 Vgl. I I. R. Ganslandt, Wahrnehmung, in EPhW, 4, 601.

III. Das Modell der Semiose

1. Überleitung: Wahrnehmung und Sprache Wenn nun Räumlichkeit und Zeitlichkeit als Grundformen menschlicher Erfahrung und Erkenntnis gelten können, stellt sich die Frage, zum einen in welcher Weise sie in unterschiedlichen Kontexten zum Ausdruck kommen und zum anderen, inwiefern sie überhaupt unterscheidbar, obwohl in der Erfahrung nicht trennbar, sind. Sowohl religiöse als auch technische Erfahrungen finden als jeweils verschiedene räumlich-zeitliche Erfahrungszusammenhänge statt, die sich innerhalb ihres sprachlichen Kontextes schon immer artikulieren. Es stellt sich die Frage, ob es ein allgemeines Kriterium gibt, welches in den verschiedenen sprachlichen Kontexten einerseits Räumlichkeit als Widerständigkeit der Materie und andererseits Zeitlichkeit als ihre Vergänglichkeit zum Ausdruck bringt. Das Verhältnis von Erfahrung bzw. Wahrnehmung und Sprache wurde mit dem ,linguistic turn' in der Philosophie grundlegend erörtert.1 Es seien kurz verschiedene Stationen dieser philosophischen Wende genannt, insofern sie für unseren Vergleich relevante Typen des Zusammenhangs von Sprache und Erkenntnistheorie darstellen. Obwohl sie nicht nur weiterentwickelt, sondern sogar teilweise überholt sind, haben sie dennoch disziplinenintern teilweise weiterhin Geltung. 2 Als diese Typen werden sie in unserer Argumentation wieder auftauchen und unter anderem auch als Anknüpfungspunkte für weitere Ansätze geltend gemacht werden. Epistemologische Typologie 1) Die Tractatus-Version der Sprachphilosophie des frühen Wittgensteins 2) Die logische Semantik Carnaps 3) Die pragmatische Version des späten Wittgensteins Typ 1) Hier wird Sprache auf ihre logische Form gebracht, die als Bedingung für jede Erkenntnis gilt, unabhängig von dem spezifischen Erfahrungszusammen1

Vgl. die Debatte ausgehend von dem Grundgedanken, dass unser Wirklichkeits- und Selbstverständnis immer ein durch Sprache vermitteltes ist. Dies wurde als sogenannte ,Sapir-WhorfHypothese' bezeichnet, die auch unter ,Linguistic Relativity Hypothesis' bekannt ist. Ks existiert keine verbindliche Formulierung dieser These, sondern nur die Behandlung dieses Gedankens in verschiedenen Aufsätzen. Vgl. Sapir zitiert nach J. H. Stam: Λ historical perspective on linguistic relativity, in „Psycholog)' of Language and Thought. Essays on the Theory and History of Psycholinguistics", hg. v. R. W. Rieber, New York, 1970, 240; Whorf in „Language, Thought and Reality. Selected Writings by B. L. W h o r f ' , hg. v . J . B. Carroll, Cambridge/Mass., 1971, 212-214.

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Wir reden von einer „disziplininternen" Erkenntnistheorie, insofern sich zwischen einer disziplineninternen Metaperspektive, auf der sich bestimmte Methoden und handlungsleitende Voraussetzungen gründen, und einer disziplinenexternen Wissenschaftstheorie, die noch einmal abstrahiert und die „Erklärung" der eigenen Logik durch sich selbst aus fundamentalen Gründen nicht mehr beanspruchen kann, unterscheiden lässt.

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Das Modell der Semiose

hang, in dem sie gemacht wird. Dieser Ansatz stellt also einen Zusammenhang zwischen Sprache und Logik (als „erfahrungsunabhängige" Grundlage der Erkenntnis), aber nicht zwischen Sprache und Erfahrung her. Er stellt den Prototypen formal logischer Sprachkritik als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis dar. Er hat auch in der praktisch formalisierten Auffassung der Mathematik, wie sie in der Computertechnologie Anwendung findet, Geltung. Typ 2) ist der Carnap'sche Versuch - unter Bezugnahme auf die semiotische Theorie C. W. Morris' - eine syntaktisch konstruierte, intensionale Semantik für technisch-wissenschaftliche Zwecke zu konstruieren, dies auch zur indirekten Klärung der Umgangssprache. (Identität wird durch die Summe aller Eigenschaften definiert). In diesem Modell wurde insbesondere der Begriff der Zustandsbeschreibung für beliebige formale Sprachen verallgemeinert. Sowohl die formale Zustandsbeschreibung als auch die Vernachlässigung der pragmatischen Dimension haben für die formalen, physikalischen Grundlagen der Kognitionspsychologie Geltung. Typ 3) stellt den Prototypen des „pragmatic turn" innerhalb der Sprachphilosophie dar. Er bezeichnet die Tatsache, dass Vernunft und Erkenntnis unaufhebbar an reale Sprache gebunden sind (Stichwort „Sprachspiel"). Die Aufgabe der Philosophie ist damit Vernunftkritik als Sprachkritik: „Als sprachlich vermittelte an ein gegenständliches Medium gebundene Vernunft, ist Vernunft aber selbst wesentlich sowohl Medium wie auch Gegenstand oder Thema für Erkenntnis: Denn als etwas, das sich je schon an eine bestimmte Sprache, ein bestimmtes Medium unter anderen gebunden und davon abhängig gemacht hat, sich dadurch eine bestimmte Form gegeben hat, hat Vernunft von Anfang an immer auch die Aufgabe, dieses Engagement zu kontrollieren, die Angemessenheit des Mediums zu prüfen." 3 Mit diesen drei Stationen, an denen der Zusammenhang von Erkenntnis und Sprache jeweils neu formuliert wurde, lässt sich auch die eingangs gestellte Frage, in welcher Weise räumlich-zeitliche Erfahrungen zu ihrem sprachlichen Ausdruck finden, über den Erkenntnisbegriff neu stellen. Nämlich wie die ästhetischen Bedingungen der Erkenntnis (Räumlichkeit und Zeitlichkeit als Grundformen der Erfahrung) mit den sprachlichen Bedingungen der Erkenntnis (Sprache als Medium unendlicher Interpretationen von Erfahrungen) verknüpft sind. Hierfür bietet die Semiose nach C. S. Peirce ein geeignetes Vermittlungsverfahren4 zwischen räumlich-zeitlicher Erfahrung und sprachlichem Ausdruck als für die Erkenntnis konstitutiver Bedingungen.

3

4

Kuhlmann, Kant und die Transzendentalpragmatik, 66. Vgl. weiter zur Habermas'schen These der Doppelstruktur der Vernunft als sprachlich verfasste Vernunft: „Vernunft ist ein im wesentlichen zweistufiges Steuerungsorgan und von Anfang an reflexiv verfaßt: Sie muß sich einlassen auf ein sie formendes und stabilisierendes gegenständliches Medium, sie muß sich in der vernunftnahen Institution einer Sprache verkörpern, zu der sie gleichwohl reflexive Distanz behält und auch braucht...", 67. Vgl. K. Oehler: „Peirce hat die Semiotik in erkenntniskritischer Absicht eingeführt, indem er zeigen wollte, wie Erkenntnis überhaupt möglich ist, das heißt wie wir über die Daten der Sinneswahrnehmung in einem Prozeß der Zeicheninterpretation überhaupt zu derjenigen Menge von Urteilen kommen, die ein individuelles oder kollektives Subjekt für wahr hält. Diese Aus-

Überleitung: Wahrnehmung und Sprache

101

Die pragmatische Dimension des Peirce'schen Modells dient anschliessend als Ausgangsbasis für hermeneutische Überlegungen, die wir durch solche von Ricoeur, ebenfalls auf semiotischer Basis ausgeführten, ergänzen. Hier gibt sich wieder die handlungstheoretische Dimension des Gegenstandes zu erkennen, insofern für den jeweiligen Zeichenprozess des technischen und des religiösen Kontextes zu zeigen sein wird, in welcher Weise er als Ergebnis einer Überführung bestimmter Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, also von Handlungen ... in Zeichenhandlungen und damit bestimmter räumlich-zeitlicher Erfahrungen verstehbar ist. Karl-Otto Apel hat in seinem Aufsatz „Zur Idee einer transzendentalen Sprach-Pragmatik" 5 ein Modell vorgestellt, mit dem er einen Zusammenhang zwischen einer Transzendentalphilosophie im Sinne Kants und Husserls und einer Zeichen-Pragmatik nach Morris' bzw. ihrer Rezeption durch Carnap oder der Sache nach im Sinne der sprachpragmatischen Philosophie des späten Wittgenstein herzustellen versucht. Die genannte Verknüpfung sei — nach Apel — deshalb notwendig, weil die beiden philosophischen Stränge an einer „abstractive fallacy" leiden, die nur durch die von Peirce entwickelte dreistellige Zeichenrelation reparabel ist. 6 Wird einmal von Apels umstrittenem Realitätskonzept abgesehen, wie auch von seinem Versuch, eine Transzendentalpragmatik zu begründen 7 , ergibt sich aus seinen Überlegungen eine Typologie verschiedener „abstractive fallacies", die wir parallel zu der epistemologischen Typologie als geeignetes systematisches Instrument verwenden können, um die verschiedenen erkenntnis/erfahrungstheoretischen Typen in Bezug auf ihr Zeichenverständnis zu prüfen gangsfrage macht seine Nähe zu Kant aus, und viele Lehrstücke Kants wertete er in seiner eigenen Perspektive aus, aber Peirce war in keinem Stadium seiner Entwicklung ein Transzendentalphilosoph, weder ein reformierter noch ein transformierter." (Letzteres in Anspielung auf Apel, dazu s. u.). Ders., Ist eine transzendentale Begründung der Semiotik möglich?, 48. 5

K.-O. Apel, Zur Idee einer transzendentalen Sprachpragmatik. Die Oreistelligkeit der Zeichenrelation und die ,abstractiie fallacy' in den Grundlagen der klassischen Trans^endentalphilosophie und der sprachanalytischen Wissenschaftslogik, in „Aspekte und Probleme der Sprachphilosophie", hg. v. J. Simon, Freiburg u.a, 1974, 283-326. (Abk.: abstractive fallacy).

6

Peirce hat seine pragmatische Semiotik selbst als Kanttransformation verstanden. Vgl. ebd. 248, insbes. Anm. 2.

7

Vgl. Oehler, ebd., insbes. 46f. Oehler übt hier Kritik an Apels transzendental-hermeneutischem Ansatz, der von einem „Sprach a priori" im Sinne eines Sprachspiels in einer unbegrenzten Interpretationsgemeinschaft ausgeht. Dieser Ansatz gehe von einem „leeren Abstraktum" Sprache aus. Ausserdem werde bei Apel der Interpretantenbezug kategorial falsch transformiert. Statt von einem Bezug auf ein endliches Subjekt auszugehen, wie es einer Anknüpfung an Kants Transzendentalphilosophie entsprochen hätte, nimmt Apel eine „unendliche Interpretationsgemeinschaft der Erkennenden" an, in der irgendwann einmal keine zeichenvermittelte A'erständigung mehr nötig sei. Eine solche regulative Idee sei aber nicht mit der faktischen Situation einer Erkenntnisleistung zu verwechseln und für diese ohne jede Bedeutung. Dagegen gilt nach Oehler: „Natürlicherweise kann das endliche Subjekt nur an einer begrenzten Gemeinschaft partizipieren und nur aus seiner Endlichkeit heraus - hier und jetzt - eine Beziehung auf ein Objekt haben. [Kants Frage], wie die ,Beziehung auf das Objekt', das heißt aber immer auch auf das gegenwärtige (kursiv, A.D.), zu denken ist, dieser Sinn von Objektivität wird nicht von der ,Transzendentalhermeneutik' oder der,Transzendentalpragmatik' erklärt, aber von Peirce." 47.

102

Das Modell der Semiose

und mit ihnen bzw. an sie anknüpfend, die Simulation der Kognitionspsychologie und die Mimesis der Erzählung zu klassifizieren.8 Auch wenn sich unser Standpunkt von demjenigen Apels darin unterscheidet, dass wir von einem in der jeweiligen Erkenntnis endlichen Subjekt (Interpretanten) und nicht von einer unendlichen Interpretationsgemeinschaft ausgehen, lässt sich die von ihm erstellte Typologie, die wir im folgenden einfuhren werden, in systematischer Hinsicht übernehmen. Keinesfalls wird hier ein transzendentalphilosophischer Ansatz vertreten. Die von Peirce entwickelte Zeichenrelation wird das formale Grundmodell des anstehenden Vergleichs zwischen biblischer Erzählung und Computersimulation bilden, um in der Semiose Räumlichkeit und Zeitlichkeit deuten zu können. Alle anschliessenden Überlegungen lassen sich als Verortungen der jeweils betrachteten Aspekte in das semiotische Schema verstehen.

2. Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness Nach C. S. Peirce 9 werden die Konstituenten unseres Erfahrungs- und Erkenntnisprozesses formal durch eine dreistellige Relation wiedergegeben. Zeichen (Z)

Interpretant (I)

Objekt (O)

8

Die Frage nach der selbständigen Selbstvergewisserung der Vernunft im Sinne Kants wird hier nicht gestellt. Wenn die Frage nach der Vernunft überhaupt gestellt wird, dann nach den räumlich-zeitlichen Implikationen verschiedener Vernunftkonzeptionen in einem zeichenbedingten Kommunikationsprozess.

9

Im Folgenden werden Peirce'sche Zitate mit dem Kürzel (CP Nummer) gekennzeichnet, um den Text nicht mit Fussnoten zu überfrachten. Die Nummerierungen sind den Collected Papers, Bd. 1-6, hg. v. C. Hartshorne/P. Weiss, Bd. 7-8, hg. ν. Λ. W. Burks, Cambridge/Mass., entnommen, wenn nichts anderes angegeben ist. Die Angaben beziehen sich auf den jeweiligen Band und Paragraphen. Zit. wird auf Deutsch nach Kloesel/Pape, Semiotische Schriften, III, und dem „Handbuch der Semiotik", hg. v. W. Nöth, Stuttgart, 2000, 2. Aufl., 60 (HdS). A u f dem Hintergrund des transdisziplinären Vergleichs seien einige biographische Daten genannt: Charles Sanders Peirce wurde 1839 in Cambridge/Mass, geboren und starb 1914 in Milford Pasadena. E r war Physiker und Philosoph. Während seines Studiums befreundete er sich mit William James. D e r Schwerpunkt der Peirce'schen physikalischen Untersuchungen lag auf dem Gebiet der empirischen Bestimmung der Gravitationskonstanten. Während dieser Zeit publizierte er zur Logik, den Grundlagen der Mathematik, der Chemie, aber auch zu Philologie, Philosophiegeschichte und Geschichtsphilosophie. E r ist unter anderem berühmt geworden als einer der Begründer des ,Pragmatizismus' im Unterschied zum Pragmatismus', wie er von Will i a m j a m e s vertreten wurde. Mit James, der unter anderem eine Theorie religiöser Erfahrung verfasst hat, verband Peirce eine lange Freundschaft.

Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

103

Diese Relation ist mit folgender Definition eines Zeichens zu verstehen: „Ein Zeichen oder Repräsentanten ist etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht oder Fähigkeit für etwas steht. Es wendet sich an jemanden, d.h., erzeugt im Geist dieser Person ein äquivalentes Zeichen oder vielleicht ein mehr entwickeltes Zeichen. Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den Interpretanten des ersten Zeichens. Das Zeichen steht für etwas, sein Objekt. Es steht für dieses Objekt nicht in jeder Hinsicht, sondern im Hinblick auf eine andere Idee". 10 Somit kann alles zum Zeichen werden, wenn es in einer solchen triadischen Relation interpretiert wird. Die „Semiose" ist als eine nicht weiter reduzierbare Relation zu verstehen, wobei zwischen Repräsentamen und Zeichen unterschieden wird, insofern ersteres der allgemeinere Begriff ist bzw. auf den Quasi-Interpreten wirkt, wenn diese Wirkung nicht in einem mentalen Interpretanten resultiert, (CP 2.274).11 Sonst ist es die Handlung des Zeichens (CP 5.488), der Prozess, durch den das Zeichen auf seinen Interpreten einen kognitiven, emotionalen oder energetischen Effekt ausübt, im Sinne einer mentalen, affektiven oder physikalischen Wirkung. Das Objekt ist das, was durch das Zeichen repräsentiert wird (CP 2.230). Es kann genauso gut ein materielles Ding wie ein imaginäres Konstrukt sein (2.230, 2.233, 1.538). Es ist etwas, „was in gewisser Hinsicht unseren Geist erreicht" (L 462)12. Das Objekt muss dem Interpreten deshalb bereits bekannt sein und ist somit ein dem aktuellen Zeichen bereits vorausgehendes Zeichen für ein anderes Objekt. Eine Ausnahme findet sich z.B. bei den ,indexikalischen' Zeichen, wenn sie auf einer Teil-Ganzes-Beziehung beruhen und sich damit auch auf sich selbst

10

CP 2.308. Vgl. auch C. S. Peirce, „Phänomen und Logik der Zeichen", hg. v. H. Pape, Frankfurt/M., 1983, 45, folgende Erläuterung bzw. Definition des Interpretanten·. „[DJrittens jedoch ist jedes Zeichen dazu gedacht, ein Zeichen desselben Objekts mit derselben Bezeichnung oder Bedeutung zu bestimmen. Jedes Zeichen B, das von einem dafür geeigneten Zeichen Α ohne Verletzung seines, As Zwecks, d.h. in Ubereinstimmung mit der .Wahrheit', auf diese Weise bestimmt wird, obwohl es, B, nur einen Teil der Objekte des Zeichens Α benennt und nur einen Titel seiner, As, Eigenschaften bezeichnet, jedes solche Objekt nenne ich einen Interpretanten von A." Für Peirce ergibt sich hieraus ein bestimmtes Wahrheitsverständms: „Was wir eine Tatsache nennen, ist etwas, das die Struktur einer Aussage hat, aber als Element des Universums selbst anzusehen ist. Zweck jedes Zeichens ist es, eine ,Tatsache' auszudrücken und in der Verknüpfung mit anderen Zeichen so weit wie möglich an die Bestimmung eines Interpretanten heranzukommen, der die vollkommene Wahrheit, die absolute Wahrheit und als solche ... das Universum selbst sein würde ... Die .Wahrheit', die Tatsache, die nicht abstrahiert, sondern vollständig ist, ist der letzte (ultimate) Interpretant jedes Zeichens." Neue Elemente, in „Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie", übers, v. B. Kienzle, hg. v. IT. Pape, Frankfurt/M., 1991, 345. Hier wird das Peirce'sche Wahrheitsverständms explizit, mit dem eine Konvergenzthese vertreten wird. Dieser These werden wir nicht folgen, hingegen später der These Papes zustimmen, dass alle Zeichenprozesse einer Identitätslogik folgen, womit die Vorstellung einer aufbauenden Entwicklung implizit ist. Vgl. Anm. 297.

11

CP 5.472, 5.484.

12

Bislang unveröffentliche Briefe, HdS, 60.

104

Das Modell der Scmiose

beziehen. Zu einer vollständigen Identität von Zeichen und Objekt kommt es z.B. bei dem sich selbstbezeichnenden (autoreferentiellen) ästhetischen Zeichen. 13 Unterschieden wird zwischen unmittelbarem, mittelbarem und dynamischem Objekt. Das unmittelbare Objekt ist das Objekt, „wie es das Zeichen selbst repräsentiert und dessen Seinsweise folglich von der Repräsentation im Zeichen abhängt" 14 (vgl. CP 4.536). „Das mittelbare Objekt ist das Objekt außerhalb des Zeichens, die Realität, die etwas zu einem Zeichen bestimmt." (CP 4.536). Das dynamische Objekt ist eines, welches sich als das Objekt eines „unendlichen und endgültigen" (CP 8.183) Zeichenprozesses erweisen würde und somit unerreichbar ist.15 Dennoch gibt es nach Peirce eine allgemeine Konvergenz hin zu diesem dynamischen Objekt, auch wenn es insgesamt eventuell ein fiktives ist (vgl. CP 8.314). Der Interpretant ist die „Wirkung des Zeichens" (CP 5.474-75), „etwas, das im Geist des Interpreten erzeugt wird" (CP 8.179), wobei der Interpretant selbst auch ein Zeichen ist. „Ein Zeichen wendet sich an jemanden, d.h. es erzeugt im Geiste dieser Person ein ... Zeichen ... Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den Interpretanten des ersten Zeichens" (CP 2.228). Der Interpretant kann unmittelbar, dynamisch, final sein. Ein solcher unmittelbarer Interpretant „manifestiert sich in der Qualität des Eindrucks ... nicht in konkreten Reaktionen" (CP 8.315) Er ist ,,[d]ie unanalysierte Wirkung, die ein Zeichen zu produzieren vermag" (LW 110-111). Der dynamische Interpretant ist die „tatsächliche Wirkung des Zeichens ... das, was in jedem Interpretationsakt erfahren wird und was sich von jedem anderen unterscheidet" (LW 111). Der finale Interpretant ist ein Ideal, das erreicht würde, „wenn die Betrachtung der Angelegenheit soweit fortgesetzt würde, daß eine abschließende Meinung erreicht wäre" (CP 8.184).1ΰ Die Unterscheidung zwischen emotionalem, energetischem 13

Vgl. HdS, II.1.2, 61.

14

„Semiotic and Signifies: the Correspondence between Charles S. Peirce and Victoria Lady Welby", hg. v. C. S. Hardwick, Bloorrangton, 1977, 83. (LW) Vgl. HdS, 64.

15 16

Die sich hier erneut stellende Frage nach einer realen Konvergenzbewegung in Richtung auf den finalen Interpretanten sei mit Helmut Pape gegen den Neopragmatismus von Richard Rorty, Hilary Putnam und John Margolis beantwortet'. „Man könnte es eine Ethik des Erkennens nennen, wenn wir die maximale innere Kohärenz in der Identität der Objekte unserer Meinungen fordern. Wie wir sahen, wird damit auch eine Bedingung objektiver Wahrheit als idealer Grenze erfüllt: Sie kann nur dann möglicherweise angestrebt werden, wenn durch den Zusammenhang der Uberzeugungen die Annäherung der Identität möglich ist. Nur insofern über dasselbe Objekt Überzeugungen als falsch beurteilbar sind, können wir durch das Verwerfen falscher Uberzeugungen uns der Beschaffenheit des realen Objekts und darrat der objektiven Wahrheit annähern (Pape bezieht sich auf Peirce (MS 318), in Peirce, Schriften, III, 252.) Die Forderung der Identitätswahrung sieht Pape in einer formalen Eigenschaft gegeben, die unabhängig von der Erkenntnis der vollständigen Identität des Gegenstands und der vollständigen Bedeutung der Begriffe verwirklicht werden kann, und zwar handelt es sich um die formal logischen Eigenschaften der Reflexivität, Anti-Symmetrie und Transitivität. Dabei stellt sich insbesondere die 'I'ransitivität der Identitätsbeziehungen der Objekte von Überzeugungen als eine Bedingung gültiger Interpretationen heraus. Transitivität als Eigenschaft des Überzeugungswandels hasse, dass unsere

Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

105

und logischem Interpretanten ist eine nochmalige Unterteilung in Bezug auf die drei oben genannten Interpretanten. 17 Es lässt sich auch sagen: Ein Interpretant wird zum Zeichen, insofern er einen weiteren Interpretanten, also einen anderen Gedanken wirkt (vgl. CP 2.303). Damit ist die zeitliche Dimension der Semiose angesprochen. Insofern das Zeichen eine Handlung bzw. Wirkung ausübt, etabliert sich die Relation in der Zeit. Doch verleiht die Tatsache, dass mir (bzw. dem Quasi-Interpreten) etwas gegenwärtig zum Zeichen geworden ist, der Relation auch ihre räumliche Dimension. Der räumliche und der zeitliche Aspekt manifestieren sich zusammen in der dialogischen Dimension der Relation, da sich „jeder Gedanke selbst an einen anderen wenden muß" (CP 5.253). Sie ergeben sich beide mit den drei Grundmustern von Identitätsrelationen oder Universalkategorien, die jedem Zeichenprozess zugrunde liegen, auch wenn sie jeweils unterschiedlich akzentuiert sein können 18 : Die Erstheit (Firstness, monadische Relation) ist die Kategorie des undifferenzierten Gefühls. Sie ist „die Seinsweise dessen, das so ist wie es ist, in positiver Weise und ohne Bezug auf irgendetwas anderes" (CP 8.328; vgl. auch CP 1.302303; 1.328; 1.531). Sie ist die Form der Gegenwärtigkeit (presentness), der Empfindungsqualitäten. Zeitbestimmungen sind hier abwesend. 19 Die Zweitheit (Secondness, dyadische Relation) ist die Kategorie, in der „[d]ie Unbestimmtheit der Erstheit verschwindet, und an ihre Stelle ... das Gegenüber von Subjekt und Objekt [rückt], erfahrbar an der Widerständigkeit der Dinge, durch die uns die Realität der Außenwelt spürbar wird." 20 Nach Oehler macht diese Kategorie „drastisch klar, daß die Kategorien sich nicht nur auf Begriffsverhältnisse beziehen, sondern durch diese hindurch auf die Dinge, auf die Gegenständlichkeit, auf die wir mit unseren Handlungen reagieren müssen. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist ein wechselseitiges: Das Subjekt bearbeitet das Objekt; in dieser Bearbeitung erfährt das Subjekt den Widerstand der Sache, der res, der Realität." 21 Die Kategorie der Zweitheit hat also stets eine räumliche und eine zeitliche Dimension der Widerständigkeit und ist diejenige Kategorie, der die Überlegungen unserer Untersuchung gelten. Es soll gezeigt werden, wie diese Dimension der Widerständigkeit in spezifischen Praxiskontexten ihre entsprechende Darstellung erhält und somit auch Ausdruck menschlichen Selbstverständnisses ist.

Überzeugungen dadurch auf objektive Wahrheit bezogen seinen, dass die Kette transitiv verknüpfter Überzeugungen anschlussfahig bleibe. Vgl. H. Pape, „Die Offenheit von Wirklichkeit und Rationalität im Pragmatismus", Allgemeine Zeitschrift fur Philosophie, 2001, 26/2, 93-112. 17

Vgl. HdS, 65.

18

Vgl. CP 5.43.

19

Vgl. K. Oehler, „Charles Sanders Peirce", München, 1993, 58.

20

Oehler, Peirce, 56.

21

Ebd.

106

Das Modell der Semiose

Die Kategorie der Drittheit (Tkirdness, triadische Relation) ermöglicht die Vermittlung von Erstheit und Zweitheit, insofern sie die Kategorie der Reflexion über unsere Bezugnahme auf die Welt ist. „Sie ist die Form, die jeder intentionalen Einstellung zugrunde liegt. Denn indem ich im intentionalen Akt bei der Sache bin, bin ich zugleich bei mir selbst. Das ist Drittheit. Sie ist die Figur der Vermittlung, der im Zeichenprozeß ... die zentrale Rolle zukommt." 22 Damit wird auch deutlich, wie jeder solchen Semiose, in der es um einen mentalen Interpretanten — also eine Person — geht, ein Selbstbezug vorliegt. Hieraus lässt sich „die Genese des Selbstbewußtseins als ein ... Akt der Iteration [beschreiben], indem ... es auf die Iterierungsfähigkeit des Zeichens" 23 zurückgeführt werden kann. Peirce „veranschaulicht das an einem Beispiel. Als Analogon denkt er sich eine Landkarte, die jede Einzelheit des Landes abbildet, sogar die Karte selbst und die Karte der Karte und die Karte der Karte der Karte und so weiter und so weiter ad infinitum: ,Ιη other words each map is interpreted as such in the next. We may therefore say that each is a representation of the country to the next map; and that point that is in all the maps is in itself the representation of nothing but itself and to nothing but itself. It is therefore the precise analogue of pure self consciousness.'" 24 Die Vermittlung ergibt sich mit den drei grundlegenden Beziehungen (Trichotomien), die sich innerhalb der Zeichenrelation unterscheiden lassen: 1. zwischen Zeichen als solchen, 2. das Zeichen in Bezug auf sein Objekt und 3. das Zeichen als Repräsentant eines Objektes für einen Interpretanten. Aus diesen resultiert zusammen mit den drei Kategorien der Firstness, Secondness und Thirdness (wobei in der monadischen und der dyadischen Relation noch nicht von einer zeich-trivermittelten Relation die Rede sein kann) eine Zeichentabelle, wobei diejenigen Zeichenarten, die sich aus dem Bezug des Zeichens t(tt seinem Objekt ergeben, nach Peirce die grundlegendsten sind (vgl. CP 2.275). Ihre drei Zeichenklassen sind Ikon (Erstheit), Index (Zweitheit) und Symbol (Drittheit). Diese drei Klassen werden als Argumente für unsere Schlussthese wieder auftauchen, und zwar werden wir uns auf folgende Definitionen nach Peirce beziehen: „Ein Ikon ist ein Zeichen, das auf das bezeichnete Objekt allein auf Grund von ihm eigenen Eigenschaften verweist." (CP 2.247) Ein Index ist ein von seinem Objekt durch räumlich-zeitliche Kontinguitäts- oder Kausalitätsbeziehungen abhängiges Zeichen. 25 Ein Symbol verbindet das Zeichen mit dem Objekt durch ein „Gesetz oder eine Regularität" (CP 2.293). Es haben sich anderweitige Bezeichnungen nach Morris eingebürgert: Die „semantische" Dimension als Relation zwischen Zeichen und Objekt, die „pragmatische" Dimension als Relation zwischen Interpretanten und Zeichen, die „syntaktische" Dimension als Relation zwischen den Zeichen untereinander. Wir 22

Ebd. 58.

23

Ders., Ist eine transzendentale Begründung der Semiotik möglich?, 51.

24

Ebd., (Peirce: CP 5.71).

25

Vgl. HdS, 131.

Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

107

werden diese gebräuchliche Terminologie verwenden, bis die Peirce'schen Universalkategorien und Zeichenklassen wieder zur Anwendung kommen.

2.1. Die Selbstreferentialität der Semiose Nach Peirce ist der Interpretant die Wirkung des Zeichens auf etwas. Wenn die Wirkung sich auf eine Person bezieht, nennen wir die Semiose selbstreferentiell. 26 Damit sei bezeichnet, dass die Wahrnehmung eines Zeichens durch eine Person keine rein passive Angelegenheit ist, sondern ebenso eine aktive Komponente enthält. Insbesondere werden uns unter den Stichworten ,Mimesis' und Simulation' spezifische Zeichen interessieren, an denen für sie charakteristische Selbstdeutungen vollzogen werden. Die Wirkung des Interpretanten lässt sich wieder in eine emotionale, energetische und logische unterteilen, mit andern Worten in die wachgerufene Empfindung, in die verursachte Anstrengung und in den verur-

26

Vgl. CP 2.230. Wir beziehen uns hier auf S. Marcus, Media and self-reference: The forgotten initial State, in „Semiotics of the media: State of the Art, Projects and Perspectives", hg. v. W. Nöth, Berlin, 1997, 15-45. Vgl. auch nach Oehler die Peirce'sche Theorie des Selbstbewusstseins: „Nur die so geartete iterierte Selbstbeziehung des iterierbaren Bewußtseins fuhrt zum reinen Selbstbewußtsein, nicht aber ein besonderes Bewußtseinsvermögen der Introspektion und der Intuition. Die Akte der Iteration sind Akte der Schlußfolgerung aus Zeichen, sodaß das Selbstbewußtsein als das Resultat eines Schlußes angenommen werden kann, wobei die Voraussetzung gilt, daß auch unsere Selbsterkenntnis von der Beobachtung der Fakten der Außenwelt abgeleitet ist.", ders., Peirce, 51. „Dann ist Selbstbewußtsein als Zeichen bestimmt durch vorhergehende Erkenntnis, mit andern Worten nie ein isoliertes Ereignis, sondern nur in einer potentiell unendlichen Zeichenreihe vorkommend ... Die damit identische Unendlichkeit des Interpretationsprozeßes bedeutet nicht, daß es zu keiner bestimmten Erkenntnis käme, sondern bedeutet, daß jede Erkenntnis unter faillibilistischem Vorbehalt besteht und möglicher künftiger Korrektur überantwortet wird", ebd., 53; ebenfalls nach Oehler die Peirce'sche Theorie der Bewusstseinsmodifikationen: „Der \'erstand ist ein Zeichen und das Verstandeszeichen entwickelt sich gemäß den Gesetzen des Schlußfolgems: Deduktion, Induktion und Abduktion. ... Das eigentlich Neue war die Unterscheidung von Induktion und Abduktion. Peirce erkannte, daß der induktive Schluss von bekannten auf unbekannte Eigenschaften eines Gegenstandes erst möglich ist, wenn zuvor eine Deutung des Gegenstandes erfolgt, die den Gegenstand zuerst als das oder das erscheinen Iäßt beziehungsweise plausibel macht. Auf ihr beruht die praktische Umsicht im alltäglichen Leben, auf ihr beruht der wissenschaftliche und technische Fortschritt; sie ist die logische Form der Kreativität, der Innovation", ebd. Zum Schematismus von Sinnesdaten und Theorie sagt Oehler: „Diese pragmatische Methode ist deshalb .vernünftig' weil sie der Endlichkeit des Menschen entspricht.", ebd. Wenn ausserdem dem Aspekt Rechnung getragen wird, dass die Semiose immer eine quasi-dialogische Situation voraussetzt, dann entspricht diese Selbstreferentialität der Reflexivität eines Kommunikationsprozesses, wie sie von Georg Meggle und Hector-Neri Castaneda vertreten wird, insofern der Sprecher in einer Dialogsituation beim Gesprächspartner einen Zustand intendiert, der sich auf ihn, den Sprecher selbst, bezieht. Vgl. H.-N. Castaneda, Refl'exiiität der Kommunikation, in „Dimensionen des Selbst: Selbstbewußtsein, Reflexivität und Kommunikation", hg. v. B. Kienzle u. H. Pape, Frankfurt/M., 1991, 410-415; G. Meggle, Kommunikation und Reßexiiität, ebd., 380-409. Keinesfalls ist hier Reflexivität einer Autopoiese im Sinne des Konstruktivismus von H. R. Maturana und F. J. Varela gemeint, vgl. dies., „Der Baum der I^rkenntms", München, 1987, 50.

108

Das Modell der Semiose

sachten Gedanken. 27 Erkenntnis- und Bewusstseinstheorie fallen hier also zusammen: „Obgleich in der Definition nicht gefordert wird, dass der logische Interpretant (oder, was diesen Punkt betrifft, irgendeiner der anderen beiden Interpretanten) eine Bewußtseinsveränderung ist, so läßt uns der Mangel an Erfahrung mit jeglicher Semiose, in der dies nicht der Fall ist, keine Alternative ,.."28 Ebenso gilt zwar, dass die Wirkung eines Zeichens nicht an ein Gehirn gebunden ist, sondern überall in der physikalischen Welt (vgl. CP 4.551) aufzufinden ist, da das ganze Universum ein Zeichenprozess ist. Dennoch kann damit umgekehrt ein Interpretant, wenn er das Selbstbewusstsein (s.o.) einer Person ist, „selbstttitttnüell" in Bezug auf das Zeichen genannt werden. Jedes der drei Glieder der Zeichen-Funktion setzt demnach in seiner Funktion die beiden anderen schon voraus, und eine Nichtberücksichtigung dieser \7oraussetzung hat nach Peirce unweigerlich eine .abstractive bzw. ,reductive fallacy' zur Folge. Denn es gilt: 1) Das Zeichen wird nur in seinem Bezug auf einen Interpretanten und auf ein Objekt verstanden werden. 2) Das Erkenntnis- bzw. Erfahrungssubjekt wird nur unter der Voraussetzung realer Zeichen, d.h. anhand materieller Zeichenvehikel und des zu bezeichnenden Objekts gedacht. 29 3) Das Objekt selbst kann nur unter der Vermitdung von Zeichen und Sprachsubjekten geschehen bzw. gedacht werden. 30 Die drei semiotischen Dimensionen ,Zeichen-Interpretant-Relation', ,ZeichenObjekt-Relation' und ,Zeichen-Zeichen-Relation' werden üblicherweise nach C. W. Morris Pragmatik, Semantik und Syntax genannt. 31 Mittels dieser drei Dimen27

Vgl. Peirce, Schriften III, 252. Vgl. aber auch den Zusammenhang zwischen Gehirn und Interpretant, ebd. 321 ff; Ausserdem CP 7.591: „Ein Mensch denotiert, was immer das Objekt seiner Aufmerksamkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt sein mag. Er konnotiert, was immer er von diesem Objekt weiß oder fühlt und was die Verkörperung dieser Form oder die Art seines Verstehens sein mag. Sein Interpretant ist die zukünftige Erinnerung dieser Kognition, sein zukünftiges Selbst oder eine andere Person, an die er sich wendet oder ein Satz, den er schreibt oder ein Kind, das er bekommt."

28

Ebd., 256. Vgl. auch CP 2.242: „[A] sign is a representamen of which some interpretant is a cognition of a mind" und „signs require at least two quasiminds, a quasi utterer and a quasi interpreter", CP 4.551, zitiert nach Κ. Lorenz, Semiotik, in EPhW, 3, 782.

29

Vgl. K . - 0 . Apel, Ssientismus oder transzendentale hg. v. R. Bubner u.a., Tübingen, 1970, 115.

30

Im Unterschied zu einer „Philosophie der symbolischen Formen", wie sie im Neukantianismus von Ernst Cassirer entwickelt wurde, die „gewissermassen die Zeichenfunktion in die transzendentale Synthesis der Apperzeption einbaute", gehe die Peirce'sche Konzeption radikaler vor. Bei Cassirer bleibe die Subjekt-Objekt-Relation auf dem Hintergrund des transzendentalen Bewusstsemsidealismus zu verstehen, dies trotz der „semiotischen Verleiblichung der Vermittlungsfunktion", Apel, Szientismus, 115, vgl. 287. Vgl. dazu Lorenz, Versionen, 20.

31

Anstelle von ,Objekt' verwendete Morris,Designat'. Vgl. ders., Foundations of the Theory of Signs, m „Encyclopedia of Unified Science", 1, Nr. 2, Chicago 1938. Vgl. zur Pragmatik auch den späten Wittgenstein, bei diesem die „Verwobenheit von Sprachgebrauch, leibhaftem Ausdruck, Tätigkeiten und Weltinterpretation", nach Apel, ebd., 289.

Hermeneutik?,

in „Hermeneutik und Dialektik", I,

Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

109

sionen lassen sich nun die Ansätze verschiedener wissenschaftstheoretischer oder hermeneutischer Problemstellungen verorten.

2.2. Eine semiotische Typologie - ihre jeweiligen Implikationen für die Darstellungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit - Die Syntax als Relation der Zeichen untereinander genügt zur Darstellung formalisierter Sprachen und bezeichnet somit die Ansatzstelle der modernen, mathematischen Logik, der analytischen Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie. 32 Das hervorragende Beispiel für eine eingehende Betrachtung der Syntax logischer Wissenschaftssprache ist die Theorie R. Carnaps „Die logische Syntax der Sprache". Es ist der epistemologische Typ 1, der ausschliesslich den syntaktischen Relationen Beachtung schenkt (wenn auch in einer Spätphase durch .semantic frameworks' ergänzt). Die .abstractive fallacy' impliziert für die Darstellung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit: Wenn die Darstellung einer Zeichen-Zeichen-Relation im Sinne eines räumlich-zeitlichen Partikulare als Ergebnis von Überführungen von (räumlichzeitlichen) Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, ... also von Handlungen in Zeichenhandlungen verstehbar ist, heisst dies auch für die Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Umgangs, dass diese in die Darstellung der Syntax überführt worden sind. (z.B. die Wahrnehmung einer Person als physikalischer Zustand begriffen und durch eine formale Zustandsbeschreibung dargestellt). Viel mehr noch: Darstellungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit werden allgemein in die Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Darstellung überführt. - Die Semantik als Relation Zeichen-Objekt, insofern sie die sprachliche Bezugnahme auf Sachverhalte bezeichnet, liefert die Ansatzstelle für den epistemologischen Typ 2 und fungiert so a) als die Ansatzstelle einer modernen, empiristischen Wissenschaftslogik, wie sie z.B. von Tarski vertreten wurde, dem es um die semantische Repräsentation von Sachverhalten durch Sätze ging. 33 (Konsequenterweise geht es dann, statt um eine Erkenntniskritik, um die „Logik der Forschung"); b) ebenso als die Ansatzstelle einer Hermeneutik des Textes, wie sie von Ricceur entwickelt wurde (z.B. „Qu'est-ce qu'un texte" 34 , „Temps et recit" 35 ). Die Implikation für die Darstellung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit ergibt sich wieder aus dem Lorenz'schen Modell im Bereich der Partikularia: Räumlich-

32

Vgl. Apel, Szientismus, 105. Vgl. U. Mayer, Zeicbenkon^eplionen in der Physik vom /O. Jabrhutnkrt ζ/ir Gegenwart, in „Semiotik.Semiotics", HSK, 13.2., hg. v. R. Posner u.a, Berlin u.a., 1998, 1721 f.

33

Vgl. A. Tarski nach K. Popper, „Logik der Forschung", Tübingen, 1994,10. verb. Aufl., 56, Anm. 1.

34

P. Ricceur, in „Hermeneutik und Dialektik", II, FS zum 70. Geburtstag v. H.-G. Gadamer, hg. v. R. Bubner u.a., Tübingen, 1970, 181-200. Vgl. Anm. 174.

35

bis

110

Das Modell der Semiose

keit und Zeitlichkeit sind die allgemeinen Parameter der Bezugnahme auf einen Sachverhalt bzw. des Umgangsverfahrens mit einem Gegenstand und finden in der Darstellung dieser Relation Zeichen-Objekt selbst eine Darstellung. Zum Beispiel wird ein Handlungszusammenhang erzählt, womit die durch den Handlungszusammenhang gegebene Gegenstandskonstitution ihre Darstellung erfährt und damit auch die Räumlichkeit und Zeitlichkeit dieser Konstitution. Es ist auch die Darstellung einer Relation Zeichen-Objekt ein Ergebnis von Oberführungen von (räumlich-zeitlichen) Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, also von Handlungen in Zeichenhandlungen. — Die pragmatische Dimension als Relation von Zeichen liefert die Ansatzstelle für die von C. S. Peirce her inspirierte Semiotik des amerikanischen Pragmatismus (bzw. Pragmatizismus). Ausgangsidee ist, dass die Verstandeshandlungen des nicht mehr transzendentalen Subjekts immer schon im Kontext einer allgemeinen Zeichen-Praxis eingebettet sind, also kein Vermögen a priori betreffen. Somit geht es der semiotischen Pragmatik um die Wirkung und Konstruktion von Zeichen in bestimmten Praxiskontexten. Die pragmatische Dimension steht im Zentrum des epistemologischen Typ 3. Eine Implikation für die Darstellung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit ergibt sich durch die Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Darstellung selbst, wenn eine Darstellung als LIberführung von (räumlich-seitlichen) Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, ... von Handlungen in Zeichenhandlungen verstanden wird. Sie ergibt sich daraus, dass sich Räumlichkeit und Zeitlichkeit in der Widerständigkeit eines jeweiligen Handlungskontextes, der zugleich ein Darstellungskontext ist, erschliessen. Die Darstellung der Relation Zeichen-Interpretant entspricht einer Uberführung von fräumlich-seitlichenj Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, die aktiv ausgeführt und passive angeführt wird, also einer Überführung in Sprache. 36 An die pragmatische Dimension kann wiederum die Handlungstheorie ansetzen. Denn Zeichen können nicht nur als Handlungsanweisungen interpretiert werden (Schemata), sondern Handlungen sind unter semiotischer Perspektive als Zeichenhandlungen verstehbar. 37 a) In der Wissenschaftstheorie hat die Protophysik hierzu einen Ansatz vorgeschlagen (z.B. Dingler, Janich, letzterer z.B.: „Das Mass der Dinge. Protophysik von Raum, Zeit und Materie" 38 ). b) Wiederum über naturwissenschaftliche Aussageformen und Modelle hinausgehend, ergibt sich ein handelnder Zugang zu Texten (die hier an Zeichenstelle stehen) allgemein aufgrund ihrer ,relecture'. Die (Handlungs) anWeisung zur Lektüre, die ein Text gibt, wird in der hermeneutischen Theorie Ricceurs einerseits sprechakttheoretisch verstanden (,Hermeneutik des Textes'), andererseits 36

Vgl. Lorenz, Versionen, 20.

37

Vgl. Lorenz, Grammatik zwischen Psychologie und Logik, 39ff.

38

Frankfurt/M., 1999, vgl. insbesondere zum I-Iandlungs-Apriori das Resümee zur Protophysik des Raums: 126-127.

Die Semiosc nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

111

geben seine erzähltheoretischen Untersuchungen auf der semantischen Ebene des Textes erneut zu handlungstheoretischen Überlegungen Anlass, die die räumlichzeitlichen Formen der Erfahrung betreffen („Temps et recit"). 39 Insbesondere findet die Vollzugsperspektive einer Handlung hier eine Form der Darstellung, so dass sich die dialogische Situation des Lorenz'schen Modells auf der semantischen Ebene eines Textes weiterverfolgen lässt, (vgl. IV.B) Mit diesem groben Überblick über die semiotischen Funktionen und ihre wissenschaftstheoretische bzw. hermeneutische Relevanz, insofern sie für diese Arbeit ausschlaggebend sind, erschöpft sich natürlich nicht das Potential der Semiose. Solch eine Darstellung soll hier auch nicht geleistet werden. Im Wesentlichen wurde bisher angedeutet, in welcher Problemlage die Semiose geltend gemacht werden kann und dass zur Beantwortung unserer Frage nach den Darstellungsformen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit in den drei semiotischen Dimensionen differenziert anzusetzen ist. In Bezug auf die informationstechnologischen Modelle der Gehirnforschung wird es primär um die syntaktischoperationalisierbare Ebene gehen und die hier erscheinenden Formen der Darstellung räumlich-zeitlicher Erfahrungen. In Bezug auf die Erzählung wird Räumlichkeit innerhalb der semantisch-handlungstheoretischen Theorie der Zeitlichkeit Ricceurs zu thematisieren sein. Das Vergleichsmoment bildet die pragmatische Dimension. Denn Praxiskontexte, in denen entweder Typ 1 oder Typ 2 zentral ist, lassen sich so verstehen, dass die syntaktische bzw. semantische Dimension als Dimension von Sprache als Ergebnis von bestimmten Überführungen von Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, also von Handlungen ... in Zeichenhandlungen gilt. Wesentlich ist, dass sich alle genannten Typen durchdringen und deshalb eher als Akzentsetzungen je nach Blickwinkel der Analyse gelten können. Auffallend an dem bisher Gesagten ist, dass der Gedankengang immer wieder von der Problemlage der Wissenschaftstheorie zu derjenigen hermeneutisch verstandener Darstellungsformen menschlicher Erfahrung verlief und nicht umgekehrt. Daraus ergibt sich aber kein sachlicher Vorrang einer der beiden Pole. Der Mensch als Interpret unendlich vieler Formen von Zeichenprozessen lässt sich nicht in gerechtfertigter Weise auf ein Thema der empirischen Wissenschaften reduzieren. Schliesslich stellt sich hier das transzendental-philosophische Problem der Bedin-

39

Vgl. auch E. Holenstein „In der Zwischenkriegszeit hatte man sich über die bloß (syntaktische und semantische) Analyse von Zeichenprozessen hinaus ihrem Bezug auf das menschliche Subjekt zugewandt. Aber unter dem Druck des zeitgenössischen Behaviourismus kam es nicht zu einer kognitiven, sondern nur zu einer pragmatischen Wende ... Von Kognition war kaum die Rede, anfänglich ebensowenig von Meinen und Verstehen. Das ist das, was man mit Zeichen vor allem tut, eben dies, daß man mit ihnen etwas meint und daß man sie versteht. Die dritte Teildisziplin der Semiotik, die Pragmatik, ist - so gesehen - in ihrem ersten Hauptstück Hermeneutik". In „Roman Jakobson. Semiotik. 1919-1982", Frankfurt/M., 1975, 21. Vgl. auch I-Iolenstein zum „hermeneutischen Zirkel" von Semiotik und Hermeneutik, in „Linguistik - Semiotik — Hermeneutik", Frankfurt/M.,1976.

112

Das Modell der Semiose

gungen der Möglichkeit und Gültigkeit der Wissenschaften und ihrer Sprache. Jedes Subjekt einer selbstreferentiellen Semiose geht von der Voraussetzung aus, dass es sich über diesen Prozess mit anderen Subjekten verständigen kann, dass beide Subjekte ähnliche oder gleiche Interpretationsregeln voraussetzen. 40 Im wissenschaftlichen Kontext setzt es zudem voraus, dass es sich auch noch über die Interpretationsregeln verständigen kann (was nicht damit zu verwechseln ist, dass die Regeln im Völlig einer wissenschaftlichen Erkenntnis nicht thematisiert werden können). Doch jede Verständigung über die Regeln setzt selbst wieder neue Voraussetzungen, die irgendwann nicht mehr wissenschaftlich einholbar sind. Die gedankliche Richtung unserer Argumentation, die von der Wissenschaftstheorie zur Hermeneutik geht, ergibt sich nur aus der historischen Entwicklung des semiotischen Modells, nicht aber aus einer sachlichen Priorität der ersten. Andererseits bleibt es bedenkenswert, dass die historische Entwicklung von den formal logischen „Hoffnungen" bzw. Reduktionismen zu den hermeneutischen „Eingeständnissen" bzw. Bereicherungen verlief. Auch das sagt etwas über den Menschen aus, der sich selbst zu verstehen sucht. 2.3. „Abstractive fallacies" und die ästhetische Bedingung der Möglichkeit des Fehlschlusses Wie schon angedeutet, bei Nichtbeachtung einer der drei Dimensionen der Semiose durch ein erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretisches Modell ergeben sich - aus (transzendental)-semiotischer Sicht - nicht akzeptable Reduktionen, „abstractive bzw. reductive fallacies". Obige semiotische Typologie hat sich aus den verschiedenen Akzentsetzungen wissenschaftstheoretischer und hermeneutischer Ansätze ergeben. Sie lassen sich aber auch als Produkt spezifischer abstraktiver Fehlschlüsse verstehen. Apel hat eine Typologie aufgestellt, aus der sich vier Reduktionismen ergeben, die auf einen ,abstraktiven Trugschluss' schon in den Grundlagen der klassischen Transzendentalphilosophie einerseits, in der sprachanalytischen Wissenschaftslogik andererseits verweisen. Sie lauten (mit von uns veränderter Notation): 41 Zeichen (Z)

Objekt (O) a. b. c. d.

I ohne (Z und O) (O und I) ohne Ζ (O und Z) ohne I Ζ ohne (I und O)

40

Vgl. Apcl, Szientismus, 110.

41

Vgl. Apel, abstractive fallacy, 287.

Interpretant (I) Bewusstseinsidealismus Affektionsrealismus Onto-semantischer Realismus Sprach-Modell-Platonismus

Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

113

Bewusstseinsidealismus und Affektionsrealismus weisen nach Apel darauf hin, dass in den epistemologischen Grundlagen der klassischen Transzendentalphilosophie „eine illegitime und unreflektierte Abstraktion vom Sprach-Apriori impliziert ist: es handelt sich hier um ,Erkenntniskritik' ohne ,Sprachkritik'!" 42 Ontosemantischer Realismus und Sprach-Modell-Platonismus „andererseits enthalten Hinweise darauf, daß in den semiotischen Grundlagen der sprachanalytischen Wissenschaftslogik eine illegitime (und unreflektierte) Abstraktion von den subjektiven epistemologischen Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit der Erfahrung impliziert ist: es handelt sich hier um Sprach-(Re)-Konstruktion ohne transzendentale Sprach-Pragmatik, oder um Wissenschaftslogik ohne Epistemologie!" 43 Die an der Transzendentalphilosophie geäusserte Kritik wendet sich gegen die Voraussetzungen des von Kant vertretenen empirischen Realismus. Hinzu kommt nach Apel das Fehlen der sprach-pragmatischen und allgemein handlungs-

42 43

Ebd., 288. Ebd., 306. Nach Apel ist sogar eine „frappierende Ähnlichkeit zwischen der ,Kritik der reinen Vernunft' und dem .Tractatus logico-philosophicus'" festzustellen. „Auch bei letzterem bezeichnet das Subjekt der Erkenntnis und der moralisch relevanten Handlungen ausdrücklich die .Grenze' der beschreibbaren Erfahrungswelt. In dieser Welt können auch dem ,Tractatus' zufolge nur naturwissenschaftlich beschreibbare .Tatsachen' vorkommen - und dazu gehören (nach der Logik des .Tractatus") keine Intentionen bzw. Intensionen und keine Konventionen bzw. Institutionen, natürlich erst recht keine ethischen Normen; denn ,das Höhere' läßt sich nicht aussagen." Hingegen wird, so Apel, im Tractatus - im Unterschied zu Kant - ein Sprach-Apriori angenommen, und zwar im Sinne eines ,Onto-semantischen Realismus'. (Vgl. ebd., 287, 307.) Das Sprach-Apriori führe nicht über einen solchen abstraktiven Fehlschluss hinaus, denn „da jeder Sprecher/Hörer nach der Konstruktion des ,Tractatus' mit derselben Ideal-Sprache — zumindest im Sinne der logischen Tiefenstruktur der Umgangssprache — ausgestattet ist, bedarf es keiner Verständigung über die Struktur der Sprache bzw. die Struktur der Welt: .Solipsismus' und ,Realismus' fallen zusammen, da jeder Einzelne a priori mit derselben beschreibbaren Welt konfrontiert ist.", 307f. Beim frühen Wittgenstein werde, so Apel, damit nicht wie bei Kant das transzendentale Sprach-Apriori übersehen, sondern es werde „mit dem Erkenntnissubjekt zugleich die transzendentalpragmatische Dimension der Sprach-Interpretation zum Verschwinden gebracht." 308. Carnap hingegen, führt Apel weiter aus, brachte zwar einen transzendentalpragmatischen Charakter in die Wissenschaftslogik, weil er auf Grund von Zweckmässigkeitskonventionen sogenannte „semantical frameworks" zulassen musste (vgl. R. Carnap, Empiricism, Semantics and Ontologf, in „Meaning and Necessity", Chicago, 1988, 2. Aufl., 205-221). Doch obwohl er die dreidimensionale Semiotik von Morris übernahm, habe er dadurch den Wittgenstein'schen Reduktionismus nicht rückgängig gemacht. Die logischen Folgerungen des formalisierten (auf Konventionen beruhenden, idealen) Sprachgebrauchs schienen dies nicht mehr nötig zu machen. Apels Kommentar lautet hier: „An dieser Stelle - so scheint es mir - wird das sichtbar, was ich die abstractive fallacy' der sprachanalytischen Wissenschaftslogik nennen möchte: Der Umstand nämlich, dass man in der logischen Semantik von der pragmatischen Dimension der Sprach-Interpretation durch ein Erkenntnis-Subjekt abstrahieren kann, impliziert keineswegs, daß man das, wovon man abstrahiert, zum Thema einer empirischen Wissenschaft deklarieren kann." Ebd. Genau dies ist aber weiterhin in den Darstellungsformen der Kognitionspsychologie der Fall. Sie macht sich Bewusstseinsprozesse einer Person zum Gegenstand, ohne auf deren und die ihr eigene pragmatische Dimension Rücksicht zu nehmen. Dies wird Gegenstand des Kapitels IV.A.3 zum topischen Schematismus sein.

114

Das Modell der Semiose

theoretischen Dimension: „Die zweite Veränderung, die K a n t hätte

vornehmen

müssen, betrifft das Problem der Bedingungen der Möglichkeit u n d Gültigkeit der e x p e r i m e n t e l l e n E r f a h r u n g - ein P r o b l e m , das K a n t als in d e r ,Kritik d e r reinen Vernunft' ungelöstes Problem im ,Opus postumum' noch einmal aufwarf und m. E. vergeblich m i t Hilfe des G e d a n k e n s der ,Selbstaffektion des Ich' zu versuchte. W ä r e Kant nämlich nicht im Sinne des .transzendentalen

lösen

Idealismus'

lediglich v o n reinen A n s c h a u u n g e n u n d reinen V e r s t a n d e s h a n d l u n g e n als a priori der Erfahrung ausgegangen, sondern von einem transzendentalen

Sprachspiel-

Apriori, in d e m V e r s t a n d e s h a n d l u n g e n v e r m ö g e des S p r a c h - G e b r a u c h s m i t leibh a f t r e a l e n H a n d l u n g e n a p r i o r i , v e r w o b e n s i n d , d a n n ... h ä t t e e r z e i g e n k ö n n e n , i n w i e f e r n d e r N a t u r f o r s c h e r , m i t d e m E x p e r i m e n t i n d e r ... H a n d a n d i e N a t u r h e r a n g e h e n u n d sie n ö t i g e n k a n n , a u f sein F r a g e n z u a n t w o r t e n ' . " 4 4 D i e

Rede

v o m Sprachspiel-Apriori impliziert somit i m m e r auch die R e d e von der Bedingtheit sprachlicher Prozesse durch den eigenen K ö r p e r (Leib) bzw. der

Deutung

v o n H a n d l u n g e n als Z e i c h e n h a n d l u n g e n . 4 5 G e n a u dies gilt a u c h für die N a t u r w i s senschaften. „ E s w ü r d e sich d a n n z e i g e n , d a ß es zu d e n t r a n s z e n d e n t a l e n V o r a u s s e t z u n g e n d e r exp e r i m e n t e l l e n N a t u r w i s s e n s c h a f t g e h ö r t , dass d e r N a t u r f o r s c h e r s e i n e t h e o r e t i s c h e F r a g e s t e l l u n g g l e i c h s a m in die S p r a c h e der N a t u r ü b e r s e t z t , i n d e m er d u r c h s e i n e n ins t r u m e n t e l l v e r l ä n g e r t e n u n d präzisierten L e i b e i n g r i f f in die N a t u r A n f a n g s b e d i n g u n g e n e i n e s P r o z e ß e s herstellt, d e n die N a t u r i m S i n n e e i n e s K a u s a l p r o z e s s e s e r g ä n z e n m u s s . In d e m U m s t a n d , d a ß die N a t u r s o w o h l d u r c h ein n e g a t i v e s als a u c h d u r c h ein p o s i t i v e s R e s u l t a t d e s E x p e r i m e n t s A n t w o r t a u f die F r a g e d e s N a t u r f o r s c h e r s gibt, liegt d a n n ein H i n w e i s d a r a u f , d a ß die N a t u r s c h o n v o r i h r e r A n t w o r t die i m E x p e r i m e n t i m p l i z i e r t e n B e d i n g u n g e n der M ö g l i c h k e i t i h r e r E r f a h r b a r k e i t als s o l c h e legitimiert hat."46

44

Vgl. „Die Vernunft muß mit selbsterdachten Prinzipien in einer Hand ... und mit Experimenten in der anderen Hand ... an die Natur herangehen ...", Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft", Β XIII.

45

Der Bewusstseinsidealismus, der dieses Sprach-Apriori ausgrenzt, erscheint im Kontext der Kognitionspsychologie z.B. als Konstruktivismus, wie bei G. Roth und H. Maturana. Beide verweisen zwar auf sprachliche Probleme, die die Geist-Gehirn-Debatte bestimmen, doch diese damit bezeichneten Probleme haben nichts mit dem von ihnen vertretenen Konstruktivismus zu tun. Vgl. eine Übersicht über die Debatte, die sich mit G. Roth und H. Schwegler ergab, in Ethik und Sozialwissenschaften — Streitforum für Erwägungskultur, 6, (1995). Vgl. G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 339-363. Vgl. H. Maturana/F. Varela, „Der Baum der Erkenntnis", Bern u.a., 1987, 222ff. Den Affektionsrealismus hat Castaneda prägnant, nicht nur in Bezug auf das fehlende Sprach-Apriori, sondern auch in Bezug auf den Aspekt sinnlicher Erfahrung kritisch beschrieben, vgl. Proto-Philosophie der Wahrnehmung: Die Exegese der Oaten für jede philosophische Theorie der Wahrnehmung, in „Sprache und Erfahrung", Frankfurt/M., 1982, 402. Vgl. ebenso H. Pape, Artificial Intelligence, G. W. LeibmΊζ and C. X Peirce. The Phenomenological Concept of α Person, in Etudes Phenomenologiques 9/10, 113-146. P. Janich, „Konstruktivismus und Naturerkenntms. Auf dem Weg zum Kulturalismus", Frankfurt/M., 1996.

46

Apel, abstractive fallacy, 297; vgl. ders. Technognomie — eine erkenntnisanthropologische Kategorie, in „Konkrete Vernunft", FS für E. Rothacker, Bonn, 1958, 61-78; vgl. ders., Das Leibapriori der Erkenntnis, in „Neue Anthropologie", 6, (1973/1974), hg. v. FI. G. Gadamer und H. Vogler. Vgl.

Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

115

Zu diesem, in unseren Überlegungen als ,Widerständigkeit' noch eine Rolle spielenden, Aspekt fahrt Apel fort: „Wir können daher, im Rahmen dieser Bedingungen, sehr wohl durch das Experiment (als A^ermittler zwischen Subjekt und Objekt) der Natur selbst - und nicht nur ihrer Erscheinung - das Gesetz möglicher Erfahrbarkeit vorschreiben, indem wir sie in der Versuchsanordnung gewissermaßen stellen,"47 Aber nicht nur das Experiment, sondern auch andere Weisen der Oberführung von Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, von Handlungen ...in Zeichenhandlungen haben diese Vermittlungsfunktion. Auch die Widerständigkeit, wie sie in der mimetischen Formulierung zeitlicher Erfahrung zum Ausdruck kommt, lässt sich einer solchen Betrachtung unterziehen. Es wird zu zeigen sein, inwiefern verschiedene ,Ergebnisse von Überführungen', als Computersimulation oder per Erzählung, den Akzent auf jeweils verschiedene semiotische Dimensionen setzen, auch wenn stets gilt, dass alle drei nur miteinander Geltung haben.

2.4. Sind die räumlich-zeitlichen Grenzen des semiotisch-pragmatischen Subjekts grundlegende Grenzen? Das semiotische Modell lässt sich somit als Erweiterung des kantischen Schematismusverfahrens verstehen, welches zwischen der Mannigfaltigkeit der Erfahrung und den Verstandeskategorien vermittelte. In diesem wurden zwar der Zeichencharakter jeder solchen Vermitdung und das damit verbundene Kategorienverständnis noch nicht thematisiert, dafür aber - sozusagen in einer Vorstufe — die ästhetischen Bedingungen von Erfahrung und Erkenntnis, nämlich Räumlichkeit und Zeitlichkeit (dort noch als die reinen Formen der Anschauung Raum und Zeit) explizit gemacht. Wenn hier einmal ausser Acht gelassen wird, dass Kant ganz einseitig die physikalischen Grössen des Raumes und der Zeit im Sinn hatte und zudem die Zeit favorisierte, können die von ihm eingeführten ästhetischen Bedingungen dahingehend fruchtbar gemacht werden, dass alle Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse eine Vorstellung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit mit sich bringen, die ganz allgemein vorerst im Leibniz'schen Sinne durch ein Nebeneinander und Nacheinander der in einem Zeichenprozess vorgestellten Dinge unterscheidbar sind. Diese Formulierung lässt eine unendliche Vielfalt der räumlichzeitlichen Vermitdungsweisen zu, und die physikalische ist eine von vielen, dafür aber — wie diese alle — Ausdruck einer spezifischen Erfahrung. Doch warum sollte es hier so wichtig sein, Unterscheidungen wie Räumlichkeit und Zeitlichkeit bei-

die „materielle Synthesis" nach Habermas im Sinne der transzendentalen Voraussetzung zweckrationalen Handelns, z.B. der Arbeit, in Erkenntnis und Interesse, Kap. 1.2. Vgl. die Ansätze der Protophysik, z.B. P. Janich, „Das Maß der Dinge. Protophysik von Raum, Zeit und Materie", Frankfurt/M., 1997. 47

Zum .Stellen der Natur' vgl. Μ Heidegger, „Die Technik und die Kehre", Stuttgart, 1996, 9. Aufl. Vgl. unsere Definition technischen Handelns und technischer Erfahrung Kap. V.

116

Das Modell der Semiose

zubehalten, da die Formen der Wahrnehmung so vielfältig sind? Bieten Vorschläge wie z.B. derjenige der Leiblichkeit (Merleau-Ponty) 48 oder derjenige der Einheit der Welt (Picht) 49 grundsätzliche Alternativen? Die Notwendigkeit eines methodologischen Dualismus' von Räumlichkeit und Zeitlichkeit ergibt sich für uns dadurch, dass sich die jeweiligen räumlichzeitlichen Bedingungen menschlicher Erfahrung nicht nur wie alle Realisierungsaspekte von Handlungsschemata mit der jeweiligen Interpretationsregel, i. e. angewandten Logik einer angewandten Semiose ergeben, sondern Räumlichkeit und Zeitlichkeit in einem notwendigen Zusammenhang mit den Darstellungen der Grundsätze der Logik als Parameter ihrer Darstellung überhaupt stehen, die jeder ihrer Anwendungen zugrunde liegen, was von uns in Kap. II.2.2.1 hergeleitet wurde. Wie wir es bisher vorausgesetzt haben, ist auch hier der Begriff der Logik als formales Schliessen ganz allgemein gehalten, nämlich Schlussfolgern als abduktives Verfahren. Mit dem Begriff der Logik ist nicht speziell die formale Logik (die für ihre Darstellung verwendeten logischen Zeichen und die zwischen ihnen vermittelnden Operationen) gemeint. Alle konkreten Darstellungen, welche als Zeichen in einer Semiose auftreten, konstituieren zusammen mit den jeweiligen Interpretationsregeln der Semiose eine angewandte Logik, woraus spezifische Formen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit erfolgen, die sich wiederum aus den jeweiligen Identitätsbegriffen ergeben. Genau dieser Zusammenhang zwischen der Darstellung der Logik und Räumlichkeit bzw. Zeitlichkeit hatte sich mit der Endlichkeit des Subjekts ergeben. So ergibt sich die Vielfalt, die mannigfaltige Gestalt, der Darstellungen angewandter Logiken mit dem „logischen Rest" 50 der Semiose. Sie ergibt sich mit der, unter endlichen Bedingungen, nicht aufhebbaren Differenz zwischen Erkennbarem und bezeichnetem (begrenzt) Erkannten. Das im Tractatus von Wittgenstein formulierte Problem „Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit dem Satze ausserhalb der Logik aufstellen können, das heißt ausserhalb der Welt" 5 1 , müsste nun so modifiziert werden, dass wir uns nicht nur ausserhalb der Welt, sondern auch ausserhalb unserer selbst aufstellen müssten, wenn Sprache als Ergebnis einer Oberführung von Umgangsweisen mit Welt, uns selbst eingeschlossen, also von Handlungen ..., in Zeichenhandlungen, zu verstehen ist. Nur so ist der andere Satz zu verstehen: „Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt" 52 . Es zeigt sich „in Gestalt der als In-

48

M. Merleau-Ponty, Phenomenologie de la perception, 114ff.

49

Picht, Über die Zeit, 102.

50

Apel, abstractive fallacy, 188. Der hilfreiche Begriff ist hier in einen anderen Kontext gestellt.

51 52

Ludwig Wittgenstein, Tractatus, 4.12. Ebd., 5.632. Vgl. auch 5.641. Nach Apel handelt es sich hier zum einen um eine Überschneidung mit der kantischen Konzeption, zum anderen um einen Grenzfall der pragmatisch orientierten Semiotik. Vgl. auch Apel Szientismus, 113: „Kants Modell der Transzendentalphilosophie läßt als Antwort auf die Frage nur eine Alternative zu, die der Wittgensteins entspricht: Entweder muß das Subjekt der Wissenschaft als erfahrbares den Kategorien naturwissenschaftlicher Ob-

Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

117

dex für ein Ich auftretenden Aktualisierungen der Handlungen und Zeichenhandlungen, gleichgültig ob dabei letztere verbal, pictural, mental oder noch anders auftreten." 53

Damit ist die Begrenztheit des Interpretanten in seiner Eigenkörperlichkeit (Merleau-Ponty) und Widerständigkeit (Räumlichkeit) bzw. Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit (Zeitlichkeit) Bedingung der Möglichkeit für die perspektivische Interpretation eines Bezeichneten „durch etwas", hinter die der Interpretant nicht mehr im Sinne einer Totalperspektive zurück kann. Er kann ebenso wenig hinter die Logik wie hinter seine räumlich-zeitliche Endlichkeit zurück. Wir erhalten somit zwei von einander abhängige, parallel zu setzende Tripel: Eigenkörper - Widerständigkeit - Räumlichkeit, Geschichte - Vergänglichkeit - Zeitlichkeit. Wenn nun mit der Frage nach personaler Identität das in seiner Eigenkörperlichkeit und Geschichtlichkeit gegebene Subjekt selbst zum Bezeichneten wird, dann ist es also unter unendlich vielen Perspektiven formulierbar, von denen die physiologische oder die narrative Beschreibung der Wahrnehmung nur zwei sind. Zu beachten ist: Da das semiotische Schema selbstreferentiell ist, wird mit der Frage nach der menschlichen Identität, in der der Interpretant (Interpret) zugleich der Bezeichnete sein soll, die Thematisierung des Subjekts noch einmal verdoppelt. Der hier zugrunde liegende hermeneutische Gedanke wird von Apel formuliert: „Sie [die implizite Philosophie der Geisteswissenschaften, A.D.] geht — kurz gesagt — davon aus, daß das Subjekt der Erkenntnis nicht das Andere seiner selbst als eine von außen beschreibbare und erklärbare Welt — erfährt, sondern auch sich selbst in reflexiver Besinnung und im Anderen (zumindest im anderen Menschen, in seinen Worten und Handlungen)." 54 Wenn nun das „Andere" ein Modell des Subjekts seiner selbst ist (Erzählung / Gehirnmodell), sind somit unausweichlich Rückkoppelungen bzw. Widerhall zu erwarten - zwischen dem der Semiose impliziten Identitätsbegriff und dem expliziten Modell menschlicher Identität in der Kognitionspsychologie oder in der narratologischen Theorie Ricceurs zur personalen Identität. Daraus resultiert zweierlei: Erstens, das semiotische Modell als logisches Verfahren impliziert immer einen logischen Rest, der im Vollzug des Zeichenprozesses nicht einholbar ist, und erlaubt somit eine unendliche Vielfalt von Selbstinterpretationen. Zweitens, diese Grenze zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem jektivation ... unterliegen oder es kann überhaupt nicht im Sinne der Erfahrbarkeit thematisiert werden; mit anderen Worten: schon für Kant bildet das Subjekt der Wissenschaft als solches die Grenze der Welt." Vgl. Apel, abstractive fallacy, 307f. 53 54

Lorenz, Versionen, 12. Apel, Szientismus, 113f. Die Selbstreferentialität impliziert auch, dass es sich bei jedem Erkenntnisprozess um die „Explikation eines vage vorverstandenen Sinns durch das Vorlaufen der Phantasie in Möglichkeiten der Praxis und Erfahrung, auf die der Zeichensinn verweist" (ebd., 122f) handelt. Somit bleibt es nicht bei einem unergiebigen Zirkel, sondern es handelt sich um einen weiterführenden, vertiefenden, hermeneutischen Zirkel.

118

Das Modell der Semiose

gewinnt Gestalt unter einer jeweiligen Perspektive, welche wiederum etwas über das Subjekt selbst aussagt. Dieser Zusammenhang zwischen den räumlich-zeitlichen Grenzen des Subjekts und der jeweiligen angewandten Logik eines Identitätsmodells bzw. dieser Zusammenhang zwischen den Grenzen des Subjekts und der Darstellung der Logik als ästhetischem Problem wird in zweifacher Anwendung an der Räumlichkeit aufgezeigt werden: 1. Er wird als Zusammenhang des Satzes vom Widerspruch bzw. des Prinzips der Identität mit der räumlichen Wahrnehmung unter Bezugnahme auf die visuelle Ontologie Helmut Papes (bzw. die Darstellung der Kalkülisierung 55 der Mathematik nach Sybille Krämer) vorgeführt. Diese Überlegungen können wiederum für den Zusammenhang von Computersimulation und Lokalisierungsverfahren, wie sie in den Modellen der Gehirnforschung paradigmatisch sind, in Anspruch genommen werden. 5 6 2. Er wird als Zusammenhang des kalkulierten Widerspruchs, der nach Ricceur eine Funktion der Metapher ist, mit den räumlichen Inszenierungen der vergegenwärtigenden Funktion der Mimesis als Metapher der Zeitlichkeit deutlich gemacht werden. Ein anderer grundsätzlicher Aspekt menschlicher Grenzerfahrung gilt als Bedingung der Semiose: Das semiotische Verständnis der Erkenntnis formuliert die Endlichkeit des Subjekts zugleich mit deren Transzendierung in einem Interpretationsprozess. Dem Subjekt, welches seine räumlich-zeitlichen Grenzen innerhalb eines Zeichengebrauchs hat, steht zugleich ein unendlicher Spielraum an Interpretationsmöglichkeiten zur A'erfügung. So schreibt Peirce: „Das Gesetz, daß jedes Gedankenzeichen in einem anderen, das auf es folgt, übersetzt oder interpretiert werden kann, hat ... keine Ausnahme, es sei denn die, daß alles Denken überhaupt durch den Tod zu einem abrupten endgültigen Ende kommt." 57 Die gegebene Grenzerfahrung ist diejenige der ständigen Grenzüberschreitung durch den Interpretationsprozess. Nach Peirce geschieht dieser Interpretationsprozess des Realen in einer unendlichen Interpretationsgemeinschaft 58 , in welcher der Consensus als Garant für die Objektivität einer Erkenntnis steht. 59 Wir gehen

55

Formalisierung einer Theorie, indem diese in ein Kalkül überfuhrt wird. Ein Kalkül ist ein „Herstellungsverfahren von Figuren aus Grundfiguren nach bestimmten Vorschriften, den Grundregeln", K. Lorenz, in EPhW, 2, 338. Zu den Kalkülen gehören z.B. auch Algorithmen. Vgl. IV.A.1.

56

Damit wird von uns - in ,unklassisch' - bezüglich der Begründungs fragen der Mathematik nicht das Zeitproblem thematisiert, wie es bei den Intuitionisten geschieht, ohne hier dessen Irrelevanz zu behaupten. Vgl. zur Relevanz des Raumthemas schon die Dissertation Camaps: „Der Raum: Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre", Berlin, 1922.

57

CP 5.284.

58

Vgl. CP 5.311.

59

Von Formulierungen wie: ,,[T]he whole function of thought is to produce habits of action ... To develop its meaning, we have, therefore, simply to determine what habits it produces, for what a

Die Semiose nach C. S. Peirce und die Kategorie der Secondness

119

von der prinzipiellen Unendlichkeit, das heisst der nie eindeutig einholbaren Wirklichkeit innerhalb des Endlichen aus. Damit ist die grundsätzliche Begrenztheit jeder abstrahierenden Methode genannt. Denn auf eine bestimmte Weise abstrahiert jede Methode. Das, wovon abstrahiert wurde, erfordert stets einen eigenen Zugang, dessen Zeichenverständnis nicht empiristisch ist. Denn sonst wird die „nach Peirce integrale Funktion der zeichenvermittelten Argumentation (,Semiose') im Sinne einer nicht reduzierbaren dreistelligen Relation ... auf diese Weise der Tendenz nach auf eine 2stellige Relation reduziert - so, als ob ein Begriff wie Wahrheit ursprünglich auf Sätze im Sinne eines abstrakten SprachSystems bezogen wäre und nicht viel mehr auf Aussagen, die in einem argumentativen Diskurs oder Dialog ... behauptet und bekräftigt oder bestritten werden müssen." 60 Auch wenn Apels Überlegungen im Rahmen argumentativer Problemstellungen bleiben, wird es sich zeigen, dass das semiotische Schema nicht nur für die argumentierende Rede Sinn macht, sondern auch andere Kommunikationsprozesse, wie z.B. das Erzählen, des zeichenvermittelnden Schemas bedürfen und damit eine besondere Interpretationsregel voraussetzen. Es stellt sich mit Apel die Frage, warum auch die sprachanalytische Wissenschaftslogik des Carnap'schen Programms, die ausdrücklich auf semiotischen Grundlagen beruht, dennoch der pragmatischen Dimension dieser Grundlagen keine Beachtung schenkt. Er sieht die Ursache in der „tief verwurzelten Überzeugung, daß so etwas wie die transzendentale Reflexion auf die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit von Erkenntnis als philosophische Methode nicht mehr in Betracht kommt... Tatsächlich muß ja eine explizit gemachte Reflexion auf die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit von Wissenschafts-Sprachen das, was die moderne Metamathematik und Metalogik tut, wenn sie z.B. Unvollständigkeits- bzw. Unentscheidbarkeitstheoreme aufstellt, ... selbst noch als implizit selbstrückbezügliche Rede der Transzendentalphilosophie reklamieren und transzendentalpragmatisch begründen." 61 Eine solche Reflexion kann aber nicht mehr formalisierbar sein, ohne auf Grundlagen ausserhalb dessen zurückzugehen, was das „Formale" eines Systems ausmacht. 62 Das heisst für uns konkret, dass die ästhetischen, d.h. räumlich-zeitlichen Bedingungen des formalen Systems, und damit die Gegenständlichkeit (genauer Räumlichkeit) der logischen Symbole, näher betrachtet werden müssen.

thing means is simply what habits it involves" (CP 5.400) haben — nach Apel — vulgärpragmatische bis zu behaviouristische Denkrichtungen ihren Ausgang genommen, mit denen das Subjekt der Zeicheninterpretation wieder auf ein Objekt der empirischen Sozialwissenschaften reduziert wurde. Vgl. Apel, Szientismus, 119. 60

Apel, ebd., 316.

61

Ebd.

62

Vgl. zur diesbezüglichen Grundlagenkrise der Mathematik Kap. V.

120

Das Modell der Semiose

Der metalogische Zusammenhang zwischen räumlicher Wahrnehmung und Logik wird in der Graphenlogik von Peirce dargestellt. In dieser Arbeit soll seine Geltung auch für die Formulierung allgemeiner logischer Syntax „veranschaulicht" werden, um ihn als notwendig auszuweisen. Der Vergleich, den sich diese Arbeit vorgenommen hat, ergibt sich mit folgender These: Formale Logik und räumliche Darstellung logischer Symbole sind notwendig miteinander verbunden. Dies wird parallel zu der Grundthese Ricoeurs in „Zeit und Erzählung" vertreten: Die metaphorische Logik der Erzählung und Zeitlichkeit sind notwendig miteinander verbunden. Da der semiotische Grundgedanke von einem Zeichenbegriff ausgeht, der zwischen interpretierendem Subjekt und zu Interpretierendem vermittelt, lag es nahe, in diese Überlegungen anhand der Weltansicht der Naturwissenschaften einzuführen, welches die „einfachsten" Zeichen verwendet, also das Modell der formalen Sprachen, insofern sie den Anspruch erheben, (bis auf Konventionen) rein syntaktisch vorzugehen. Der Zeichenbegriff lässt aber allgemein alle Formen der Darstellung, welche zwischen Interpreten von Erfahrung und Interpretiertem vermitteln, zu. So kann auch ein erzählender Text die Zeichenstelle einnehmen. Die Komplexität eines erzählenden Textes erfordert die Integration weiterer theoretischer Überlegungen, insbesondere hermeneutischer und handlungstheoretischer Art. Der dreistellige Grundgedanke der Semiose bietet jedoch die Möglichkeit, die Akzente, welche verschiedene Zeichensysteme setzen, systematisch innerhalb der ,Semiose' auszumachen. So deutet Apel selbst an, dass die „Möglichkeit der verschiedenartigen Welt-Erfahrung ... im Falle der Kausalerklärung von beobachteten Naturprozeßen ... Beobachtung als Bestätigung ..., im Fall der Sinn-Explikation sprachlicher Ausdrücke oder Texte dagegen Verständigung aufgrund kommunikativer Erfahrung" 63 in Anspruch nehmen wird. 64 Der zweite Fall wird erst plausibel, wenn — wie soeben schon angedeutet — erzähltheoretische Aspekte hinzugefügt werden, in denen nicht von auf eindeutigen Zeichenkonventionen basierenden „semantic frameworks" (Carnap) ausgegangen werden kann. Das leistet die hermeneutische Theorie Paul Ricoeurs. Sein Modell der Textinterpretation nimmt den Peirce'schen Grundgedanken hermeneutisch vermittelnd in Anspruch: „C'est chez Charles Sanders Peirce que je chercherai un concept d'interpretation plus proche de celui que l'exegese requiert, lorsqu'elle met l'interpretation en relation avec la tradition ä l'interieur meme d'un texte. Selon Peirce, le rapport d'un ,signe' ä un ,objet' est tel qu'un rapport, cclui d',interpretant' a ,signe', peut se greffer Sur le premier ; l'important pour nous est que ce rapport de signe ä interpretant est un rapport

63

Apel, 317.

64

Auf das hiermit angedeutete Problem des Zusammenhangs zwischen Theorie und Erfahrung sei hier nur verwiesen, weitere Überlegungen werden in Kap. λ' angestellt.

121

Die Semiose nach C. S. Pence und die Kategorie der Sccondncss

o u v e r t , en ce s e n s qu'il y a t o u j o u r s u n a u t r e i n t e r p r e t a n t s u s c e p t i b l e d e m e d i a t i s e r le p r e m i e r r a p p o r t ... C ' e s t , certes, a v e c b e a u c o u p d e p r u d e n c e , qu'il faut a p p l i q u e r le c o n c e p t d ' i n t e r p r e t a n t d e P e i r c e ä l'interpretation d e s textes; s o n i n t e r p r e t a n t est u n int e r p r e t a n t d e signes; alors q u e notre i n t e r p r e t a n t est u n i n t e r p r e t a n t d ' e n o n c e s ... D a n s n o t r e cas [en c o m p a r a i s o n a v e c la m e t h o d e structuraliste, A . D . ] c'est u n trait d e s u n i tes l e x i c a l e s q u i est t r a n s p o s e au p l a n d e s e n o n c e s et d e s textes. Si d o n e o n est p a r f a i t e m e n t c o n s c i e n t d u c a r a c t e r e a n a l o g i q u e d e la t r a n s p o s i t i o n , o n p e u t dire ceci: la serie o u v e r t e d e s i n t e r p r e t a n t s q u i se g r e f f e sur le r a p p o r t d ' u n s i g n e ä u n o b j e t p o r t e au jour u n e relation triangulaire, objet - signe - i n t e r p r e t a n t , q u i p e u t servir c o m m e m o dele p o u r u n a u t r e triangle q u i se constitue au niveau du texte; l ' o b j e t c'est le texte luim e m e ; le s i g n e , c'est la s e m a n t i q u e p r o f o n d e d e g a g e e p a r l ' a n a l y s e s t r u c t u r a l e ; et la serie d e s i n t e r p r e t a n t s , c'est la c h a i n e des i n t e r p r e t a t i o n s p r o d u i t e s p a r la c o m m u n a u t e i n t e r p r e t a n t e et i n c o r p o r e e s ä la d y n a m i q u e d u texte, c o m m e le travail d u sens sur luim e m e . D a n s cette c h a i n e , les p r e m i e r s i n t e r p r e t a n t s s e r v e n t d e tradition p o u r les derniers inter p r e t a n t s q u i s o n t l'interpretation p r o p r e m e n t dite. A u c h dieser A n s a t z w i r d n ä h e r z u erläutern sein, i n s o f e r n sich die R i c c e u r ' s c h e T h e o r i e z u einer Erzähltheorie entwickelt hat, die sich nicht m e h r in erster Linie auf den strukturalistischen Ansatz und dessen „zeitloses" Modell bezieht,

ohne

dieses nicht a u c h in seine T h e o r i e der E r z ä h l u n g zu integrieren. V e r ä n d e r t h a b e n sich deshalb das V e r s t ä n d n i s des erzählenden Zeichens u n d seine

„semantique

p r o f o n d e degagee par l'analyse structurale".66

65

Ricosur, Qu'est-ce qu'un texte?, 199f.

66

Vgl. J. Royce, in „The Problem of Christianity", II, New York, 1913, II, 146ff, der das Verhältnis von perception', ,Conception' und ,Interpretation' analysiert. Das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften ist nach Royce nicht als Konkurrenzverhältnis, sondern als Komplementärverhältnis von zwei zeichenvermittelten Perspektiven auf etwas als etwas zu verstehen. Royce wendet die relationslogische Analyse des Zeichenprozesses auf den Prozess der Geistesgeschichte und der historisch-philosophischen Erkenntnis an: Die triadische Struktur der Zeicheninterpretation findet sich hier wieder in der triadischen Struktur der Traditionsvermittlung bzw. der sie tragenden minimalen „Interpretationsgemeinschaft" von drei Subjekten; von diesen muss eines (A) die Funktion des vermittelnden Interpreten übernehmen, der einem (B) verständlich macht (gegebenenfalls „übersetzt"), was ein drittes (C) meint (bzw. zum Ausdruck gebracht hat)." Da es sich bei dieser triadischen Struktur der Interpretation um eine irreversible Prozessordnung handelt, in der die Subjekte ihre Plätze nicht tauschen können, sieht Royce in der logischen Struktur der Interpretation die ontologische Struktur der Geschichtszeit: „Wo immer die Weltprozeße in Berichten festgehalten werden (are recorded), ... interpretiert die Gegenwart der Möglichkeit nach (potentially) die Vergangenheit für die Zukunft, und sie fährt in diesem Tun ins Unendliche hinein fort ... so können wir die Zeitordnung und ihre drei Bereiche - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - einfach als eine Ordnung möglicher Interpretation bezeichnen". Royce, 146f. Vgl. Apel, Szientismus, 130f. An dieser Stelle ist mit Oehler und Gadamer zu betonen, dass es sich immer nur um endliche Subjekte handeln kann. Zu Oehler s. Anm. 178, zu Gadamer vgl. ders., „Wahrheit und Methode", Tübingen, 1965, 2. Aufl., 288.

IV. Die angewandte Semiose — Implementierung und Mimesis

Vorbemerkung Der semiotisch-pragmatische Ansatz für den Vergleich auf der Ebene der Partikularia ist nun eingeführt. Aus der Entwicklung des Gedankengangs (III.2.2.-2.3.) ergibt sich, dass wir mit dem Modell der Implementierung bzw. Simulation beginnen, das im Rahmen eines wissenschaftstheoretischen Standpunktes zu betrachten ist, welcher sein Programm in formalen Sprachen und einer Experimentalpraxis entwirft. Das von einer formalen Sprache ausgehende wissenschaftstheoretische Modell im Sinne Carnaps wurde unter semiotischer Perspektive als onto-semantischer Realismus qualifiziert, dessen „abstractive fallacy" darin besteht, die pragmatische Dimension des Zeichenprozesses ausser Acht zu lassen. Das Gleiche lässt sich für Strawsons Theorie der Einzeldinge behaupten, von der wir in Kap. II.l gezeigt haben, inwiefern ihre Problemstellungen systematisch für die kognitionspsychologische Praxis Geltung haben. Es soll nun gezeigt werden, dass sich ein solcher „un-pragmatischer" Standpunkt an dem Verfahren Implementierung bzw. Simulation und ihren Darstellungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit bestätigt. 1 Es lässt sich hingegen im Anschluss hieran und unter Bezugnahme auf Ricceur zeigen, dass die Erzählung - verstanden in einem Modell narrativer Mimesis — eine Ausdrucksform für die Darstellung menschlicher Handlungs- und Erfahrungsvollzüge bietet. Hier liegt eine Theorie der Darstellung insbesondere zeitlicher Vollzüge vor, die bereits einen semiotischen Ansatz vertritt. Aufgrund der Fokussierung der Ricceur'schen Theorie auf den zeitlichen Aspekt personaler Identität, soll eine ergänzende Betrachtung ihre räumlichen Implikationen angestellt werden. Im Unterschied zum Standpunkt formaler Sprachen versteht sich dieses Modell hermeneutisch und nimmt hierfür auf die Darstellung menschlicher Handlungs- und Erfahrungszusammenhänge, wie sie innerhalb narrativer Texttraditionen stattfindet, Bezug. Insofern zuvor gezeigt wurde, dass das Modell der Semiose zur Vermeidung abstraktiver Fehlschlüsse notwendig ist, kann nun auf eine Untersuchung jeweiliger Besonderheiten „angewandter", zeichenhafter Schematismen (konkreter Semiosen) eingegangen werden. In Kap. II wurde ausgeführt: a. Die Unterordnung der Mannigfaltigkeit der Erfahrung unter spezifische synthetische Einheiten, wie es in einem kantischen Schematismus der Fall ist, ge-

1

Das ist natürlich nicht damit zu verwechseln, dass innerhalb der philosophischen RealismusKonstruktivismus-Debatte, welche diejenige der Geist-Gehirn-Debatte begleitet, so etwas wie ein „Pragmatismus" vertreten werden kann. Vgl. z.B. H. Putnam, „Pragmatism. An Open Debate", Oxford u.a., 1999, 57-75. Es sei noch einmal betont: Uns geht es nicht um diesbezügliche Fragestellungen, sondern um Darstellungsformen räumlicher und zeitlicher Vollzüge unabhängig davon, ob diesen Vollzügen Realität zugeschrieben wird oder nicht.

126

Die angewandte Semiose - Implementierung und Mimesis

schieht in der Semiose als Differenzierung (Selektion) eines ihr zugrunde liegenden Geschehens durch die Vermittlung des Zeichens. b. In Bezug auf die Zeichenrelationen und ihre Darstellung auf der Ebene der Einzeldinge sind nicht nur die semiotischen Dimensionen (Syntax, Semantik, Pragmatik), sondern auch Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu unterscheiden. Insbesondere heisst das: Räumlichkeit und Zeitlichkeit lassen sich in allen drei semiotischen Dimensionen bestimmen. c. Mit diesen angewandten Schematismen sind angewandte Logiken verbunden. Unter angewandter Logik verstehen wir dabei die jeweilige Vermeidung des Widerspruchs in Pragmatik, Syntax und Semantik und die damit konstituierten Schemata von Räumlichkeit und Zeitlichkeit durch die Überführung von Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, d.h. von Handlungen in 7,eichenhandlungen in verschiedenen Praxiskontexten. 2 Wenn Räumlichkeit allgemein dasjenige ist, was das Nebeneinander der Dinge ausmacht, und Zeitlichkeit dasjenige, was ihr Nacheinander ausmacht, dann ist angewandte Logik — als Verfahren zur Vermeidung eines Widerspruchs — ein Formulieren von Aussagen über nebeneinander mögliche Dinge bzw. über den Spielraum eines Praxiskontextes. 3 Die Vorstellung von nebeneinander nicht möglichen Dingen erfordert Zeitlichkeit. Da dieser Zusammenhang von Räumlichkeit, Satz vom Widerspruch und Zeitlichkeit für alle drei Stellen der Semiose - Interpretant, Zeichen und Objekt, in sofern sie ihre Darstellung finden - gilt, erfolgt hieraus u.a., dass sich Räumlichkeit und Zeitlichkeit nie ,rein' unterscheiden lassen. Es gilt also zu zeigen, welche zeitlichen und räumlichen Aspekte welcher semiotischen Dimensionen miteinander verknüpft sind, wenn bestimmte kontextbedingte Schemata artikuliert werden. Damit einhergehend muss gezeigt werden, warum mit dieser Verknüpfung in der Darstellung bestimmte semiotische Dimensionen eine zentrale Rolle erhalten. 4 Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen räumlich-zeitlicher Erfahrung und ihrer Darstellung stellt sich somit in jeweils spezifischer Weise für die Zeichenrelationen der formalen (operativen) Logik einerseits, welche Grundlage jedes Computerverfahrens ist und so in der Gehirnforschung Anwendung findet, und der noch zu erläuternden metaphorischen Logik andererseits, welche Grundlage der Erzählung ist und somit auch in der biblischen Erzählung gilt. Dies soll an einem Experiment zum Zeitbewusstsein und an der vergegenwärtigten Zeitlichkeit der Exoduserzählung entwickelt werden.

2

Vgl. zum Begriff der „angewandten Logik": Kant, Β 79, 169.

3 4

Zum Begriff des Spielraums vgl. Anm. 529. Hier gilt das Interesse der „angewandten Logik" zum einen weil davon ausgegangen wird, dass es eine allgemeine Logik nur zeichenhaft, also in diesem Sinne nicht „rein" gibt, zum anderen weil, im Sinne Gadamers, jeder Emzelfall nie durch die allgemeinen formalen Kriterien eingeholt werden kann, was das hermeneutische Interesse ausmacht. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, Einleitung.

Vorbemerkung

127

Wir gehen nun zum angewandten Schematismus der Kognitionspsychologie über. Es geht uns weder um die Bestimmung dessen, ob es sich um ein wahres oder falsches Modell handelt, noch um eine Entscheidung für oder gegen einen Dualismus oder Monismus, was die Geist-Gehirn-Debatte anbetrifft, sondern um die Frage, welches Schema hier in besonderer Weise zum Ausdruck kommt und als Ergebnis einer Oberführung bestimmter Umgangsweisen mit der Welt, uns selbst eingeschlossen, also von Handlungen ... in Zeichenhandlungen tatsächlich auch immer bestimmter Ausdruck menschlicher Erfahrung ist. Anhand von — für diesen Praxiskontext typischen — Zeichenhandlungen werden deren räumlich-zeitliche Implikationen für die Darstellung menschlichen Selbstverständnisses analysiert. Ausgegangen wird von einem konkreten Experiment zum Zeitbewusstsein des Menschen, um von vornherein zu zeigen, dass die räumlich-zeitlichen Implikationen des formalen Modells bzw. der angewandten Logik nicht mit dem betrachteten Sachverhalt (hier: das Zeitbewusstsein) zu verwechseln sind. Ausgehend vom Lokalisierungskriterium der Gehirnforschung zeige ich zuerst, dass der physikalische Zeitbegriff ein räumlicher ist, womit auch das in diesem Experiment mit dem räumlichen Zeitkonzept modellierte Zeitbewusstsein ein räumliches bleibt, dies aufgrund der Beobachterperspektive, die wir mit Strawson skizzierten. Eine wesentliche Konsequenz hieraus ist, dass sich die Zeitanschauung ausschliessen lässt, um dem Zusammenhang zwischen der vorliegenden Logik der Darstellung und deren Räumlichkeit nachgehen zu können.

Α. Implementierung („States of Being Conscious" 5 ) 4 . 1 1 2 1 D i e P s y c h o l o g i e ist d e r P h i l o s o p h i e n i c h t v e r w a n d t e r als irgendeine Naturwissenschaft. E r k e n n t n i s t h e o r i e ist die P h i l o s o p h i e d e r P s y c h o l o g i e . E n t s p r i c h t nicht m e i n S t u d i u m der Z e i c h e n s p r a c h e d e m S t u d i u m d e r D e n k p r o z e s s e , w e l c h e s die P h i l o s o p h e n f ü r die P h i l o s o p h i e d e r L o g i k für so w e s e n t l i c h hielten? N u r v e r w i c k e l t e n sie sich m e i s t e n s in u n w e s e n d i c h e p s y c h o l o g i s c h e U n t e r s u c h u n g e n u n d eine a n a l o g e G e f a h r g i b t es a u c h b e i m e i n e r M e t h o d e . L u d w i g Wittgenstein

A.l. Vorbemerkungen Z u u n s e r e m G e b r a u c h d e s B e g r i f f s d e r I m p l e m e n t i e r u n g sei f o l g e n d e V o r b e m e r kung gemacht: W i r w e r d e n uns nicht auf eine allgemeine Theorie der Implementierung u n d — damit z u s a m m e n h ä n g e n d — der Simulation einlassen, sondern w e r d e n v o n d e m a u s g e h e n , w a s i n d e r K o g n i t i o n s p s y c h o l o g i e d e r Fall ist.6 M i t I m p l e m e n t i e r u n g ist hier die Realisierung eines Algorithmus (bzw. vieler parallel geschalteter

Algo-

rithmen) in einer physikalischen Struktur gemeint. Eine solche Realisierung kann ein G e h i r n sein, a b e r a u c h ein C o m p u t e r . E i n e I m p l e m e n t i e r u n g k a n n d a n n einer Simulation entsprechen, w e n n der i m Computer implementierte Algorithmus

bzw.

eine Vielzahl solcher A l g o r i t h m e n die F u n k t i o n s w e i s e des G e h i r n s a u f einer s t i m m t e n A b s t r a k t i o n s e b e n e a b b i l d e n soll. D a n n ist a b e r d e r g e m e i n s a m e

be-

Nenner

z w i s c h e n I m p l e m e n t i e r u n g u n d S i m u l a t i o n , d a s s sie stets e i n e r R e a l i s i e r u n g eines A l g o r i t h m u s b z w . einer Parallelschaltung vieler solcher Realisierungen entsprechen. 5

6

Vgl. E. Pöppel, Homogeneity of Space and Continuity of Time: Necessary Prerequesites of Perception, in „Workshop on .Supercomputing Brain Research. From Tomography to Neural Networks", I-IRLZ, KFA Jülich, Germany, Nov 21-23, 1994, hg. v. H. J. Herrmann, et. al., 1995, 3-20; ders., The Brains Way to Create ,Nowness\ m „Time Temporality, Now", hg. v. H. Atmanspacher/E. Ruhnau, Berlin u.a., 1997, 107-120. Vgl. auch die später einer breiteren Öffentlichkeit zugänglichen Texte zum gleichen Experiment: E. Pöppel, „Grenzen des Bewußtsems", Frankfurt/M., 1997; ders., Wie kam die Zeit ins Him? Neuropbysioiogiscbe undpsycho-physische Untersuchungen und einige Spekulationen rum Zeiterkben, in „Was ist Zeit? Zeit und Verantwortung in Wissenschaft, Tcchmk und Religion", I, hg. v. K. Weis, München, 1995, 3. Aufl., 127-153. Vgl. auch E. Ruhnau, Zeit ah Maß von Gegenwart, in „Was ist Zeit?", II, hg. v. K. Weis, München, 1997, 2. Aufl., 63-88. Es wird uns also nicht um Fragestellungen gehen, die der Baudrillard'schen Kulturkritik folgen. Vgl. J. Baudrillard, „L'echange symbolique et la mort", Paris, 1976; ders., „Simulacres et simulation", Paris, 1985. Selbstverständlich bleiben auch unsere Ausführungen nicht neutral, ebenso wenig wie bezüglich der auf den biblischen Kanon bezogenen Mimesis. Unsere Überlegungen schliessen dennoch nicht an die besagte Kritik am industriellen „Simulacrum" an, vgl. Baudrillard, L'echange, 87.

Implementierung („States of Being Conscious")

129

Zu beachten ist, dass ein Algorithmus so definiert ist, dass er ein formalisiertes, eindeutiges Lösungsverfahren garantiert, was für die parallele Schaltung vieler solcher Realisierungen eines Algorithmus nicht mehr der Fall ist. Wenn im folgenden von Algorithmen die Rede ist, die z.B. in einem neuronalen Netz parallel realisiert sind und für deren Gesamtverarbeitungsweise statistische Elemente eine Rolle spielen, ist damit nicht mehr gleichzeitig — was die Gesamtverknüpfung aller realisierten Algorithmen anbetrifft — ein eindeutiges Lösungsverfahren mitgemeint. 7 Dies ist zwar ein entscheidender Faktor für Lösungsfindungen in der Kognitionspsychologie, der aber für unsere Fragestellung nicht relevant ist. Uns geht es lediglich um eine wissenschaftliche Praxis, deren impliziter wissenschaftstheoretischer Standpunkt durch eine computergestützte Darstellung bestimmt ist, die immer auf einer bestimmten Ebene auf algorithmischen Verfahren beruht. Mit dieser \^oraussetzung ist es dieser Praxis nicht möglich, über Carnaps Wissenschaftsauffassung hinauszukommen, für die (sowohl in seinen frühen als auch in seinen späten Schriften) irrelevant ist „whether our observation is passive or active, whether we just look or whether we intervene ... Fundamentally the standpoint is that of a single isolated spectator who makes observations through a one-way mirror and writes down observation sentences. Appraising theories for their cognitive virtues is then simply a matter of using an algorithm to determine whether a sentence has a mathematical relation to another sentence ,.." 8

Ausgehend davon, dass im kognitionspsychologischen Kontext zum einen ein „erstes, akzeptables Verständnis [von Wahrnehmungsleistungen wie etwa visueller Objekterkennung] dann erreicht [ist], wenn man ein Modell entwickelt hat, das im Einklang mit den wesentlichen anatomischen und physiologischen Daten steht, die beobachtbaren Leistungen simulieren kann und zumindest einige Leistungen des natürlichen Systems zeigt, die nicht ,hineingesteckt' wurden" 9 ; zum anderen ausgehend davon, dass dies nach Roth „punktuell durchaus schon erreicht [ist] und bald in größerem Maße möglich sein [wird]" 10 , prüfen wir aus semiotischer Perspektive, was in diesem Falle Implementierung und Simulation für die Darstellung menschlicher Erfahrungsvollzüge leisten. Für unsere Fragestellung wird hier deshalb die Verwendung der Begriffe ,Implementierung' und ,Simulation' dahingehend verallgemeinert, dass wir nicht prinzipiell zwischen Simulation und Implementierung unterscheiden müssen. Dies ist möglich, da es uns nicht darum geht, inwieweit eine Simulation ,der Wirklichkeit entspricht', oder inwieweit, die 7

So ist das menschliche Denken grundsätzlich nicht durch ein algorithmisches Verfahren im Sinne des Kognitivismus darstellbar. Vgl. Penrose, The Large, the Small and the Human Mind, 93-143. Penrose beweist dies unter Bezugnahme auf den Gödel'schen Unvollständigkeitssatz, der besagt, dass es keinen Algorithmus geben kann, mit dem sich feststellen lasst, ob ein rekursives Verfahren endet oder nicht.

8 9

Putnam, Pragmatism. An Open Debate, 70. Vgl. II.2.2. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 20.

10

Ebd.

130

Die angewandte Semiose - Implementierung und Mimesis

Implementierung bestimmter Gehirnaktivitäten mittels einer PET-Aufnahme einem Nachweis dessen entspricht, was tatsächlich' abläuft oder nicht. Dieser Punkt eines etwaigen Realitätsbezugs sei später mit dem Konzept der Selbstreferentialität implizit wieder aufgegriffen. Für unseren Gedankengang ist viel mehr entscheidend, dass Simulationen nicht nur den Zweck haben, dass sie sich schliesslich am lebenden Gehirn im Sinne eines Messexperiments implementieren lassen, sondern umgekehrt auch, dass sie in der Forschung der Künstlichen Intelligenz zum Einsatz kommen können. Es besteht also eine Wechselwirkung zwischen lebendem Objekt, welches einem Messverfahren (z.B. PET) zugrunde liegt, seiner Simulation und den Modellen der Künstlichen Intelligenz. 11 Allen dreien ist gemeinsam, dass in ihnen ein bestimmtes Selbstverständnis des Menschen transportiert wird: der Mensch als informationsverarbeitendes System. Wir können also im Rahmen unserer Überlegungen über den Unterschied von Simulation und Implementierung hinweggehen, da uns in ihm nur interessiert, wie räumliche Vollzüge jeweils %ur Darstellung kommen. Dabei lässt sich davon ausgehen, dass dies bei einer Implementierung und einer Simulation nach dem gleichen semiotischen Prinzip verläuft, auch wenn die syntaktische Dimension jeweils eine andere Gestalt annehmen kann. Mit ,semiotischem Prinzip' meinen wir, dass die pragmatische Dimension kognitiver Prozesse, sei es in der Implementierung oder Simulation, nicht zum Ausdruck kommt. Die Darstellungen der Kognition haben sozusagen kein Gedächtnis für den Vollzug der Kognition. Da wir Betrachtungen darüber anstellen wollen, was dies für die Prägung räumlicher Vollzüge durch ihre Darstellung bedeutet, interessiert uns auch nicht, ob die Metapher des informationsverarbeitenden Systems, die in der Kogmtionspsychologie handlungs- und erkenntnisleitend ist, eine ,gute' oder eine schlechte' Metapher ist. Wir gehen viel mehr davon aus, dass diese Metapher heute nicht nur einen grossen Einfluss auf das menschliche Selbstverständnis hat, sondern auch einem grundlegenden Ausdruck menschlichen Selbstverständnisses entspricht. Ebenso wenig ist für uns ausschlaggebend, dass die heutigen konnektionistischen Modelle von den klassischen Modellen des Kognitivismus, die ledigEch nach eindeutigen Algorithmen arbeiten, absehen. Diese für die Hirnforschung wesentliche Entwicklung soll hier nicht nivelliert werden, dennoch ist für uns nur von Bedeutung, dass beliebige Rechenverfahren bestimmten logischen Prinzipien gehorchen, sei es, dass sie (,kognitivistisch Η t-< Π

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