Werte(De)Konstruktionen: Die Problematik starker Orientierungen 9783110661477, 9783110658743

Wertekrise: Ursachen und Maßnahmen Wieso geraten in Informationszeitalter und globaler Marktwirtschaft Werte derart in

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Werte(De)Konstruktionen: Die Problematik starker Orientierungen
 9783110661477, 9783110658743

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung. Wertschätzung und Wertsetzung
Einleitung. Status und Funktion von ‚Werten‘ in der Gegenwart - Modelle, Positionen, Diskursverläufe. Versuch eines Überblicks
Das Leid des Einzelnen und der Wert der Institutionen. Gibt es noch tragische Konflikte in Zeiten der Verhaltens- Normalisierung?
Verfall der Werte? Zum Zusammenhang subjektiver und gesellschaftlicher Skripte
„Das wahre Drama ist seiner Natur nach endlos“. Hauptmann, Brecht und die Überwindung der poetischen Gerechtigkeit
Verfassungsbruch, Wertekrise, Demokratieverfall? Der Kampf um politisch-rechtliche Deutungshoheit in der sogenannten „Flüchtlingskrise“
Wertewandel. Produziert, behindert, verzögert.
Plädoyer für die Wiederholung der Grundrechte. Gedanken zur Kritik der Gewalt und der kulturellen Identität
Der Kanzler klare Kante und andere Ungeheuerlichkeiten
Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen. Bemerkungen zur Diskussion um den vermeintlichen Verfall der Werte in pluralistischen Gesellschaften
„ … im Chaos eine andere Ordnung erraten …“ Vom Entweder-Oder zum Und
Das Andere versuchen. Offene Wertfindung durch poetische Um-Setzung
Demokratie in der Krise. Demokratisierung durch Kunst
Umkämpfte Werte. Die Punk-Andacht von Pussy Riot im Spannungsfeld von Kunst, Politik und Religion
Arbeit mal Zeit mal Leben
Text- und Performancestrategien im Zeitalter der Biomacht
Als Gesellschaft. Die Herstellung von Kunst und neuen Selbstverhältnissen
Der Wert des Menschen. Anthropotechnik versus human-spezifische Selbstbestimmtheit
Auf der Suche nach verbindlichen menschlichen Kernwerten
Drei Thesen zum Streit als Wert. Ein Manifest
Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich

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Werte(De)Konstruktionen

Edition Angewandte Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien Herausgegeben von Gerald Bast, Rektor

Werte(De)Konstruktionen Die Problematik starker Orientierungen

Marietta Böning, Lutz Ellrich (Hrsg.)

Inhaltsverzeichnis

7

Die Herausgeber

Vorwort

8

Marietta Böning

Einleitung. Wertschätzung und Wertsetzung

20

Lutz Ellrich/ Lisa Wolfson

Einleitung. Status und Funktion von ‚Werten‘ in der Gegenwart – Modelle, Positionen, Diskursverläufe. Versuch eines Überblicks

54

Lutz Ellrich

Das Leid des Einzelnen und der Wert der Institutionen. Gibt es noch tragische Konflikte in Zeiten der Verhaltens-Normalisierung?

70

Michael Opielka

Verfall der Werte? Zum Zusammenhang subjektiver und gesellschaftlicher Skripte

94

Burkhard Meyer-Sickendiek

„Das wahre Drama ist seiner Natur nach endlos.“ Hauptmann, Brecht und die Überwindung der poetischen Gerechtigkeit

122

Moritz von Stetten

Verfassungsbruch, Wertekrise, Demokratieverfall? Der Kampf um politisch-rechtliche Deutungshoheit in der sogenannten „Flüchtlingskrise“

136

Gerald Bast

Wertewandel. Produziert, behindert, verzögert.

148

Marietta Böning

Plädoyer für die Wiederholung der Grundrechte. Gedanken zur Kritik der Gewalt und der kulturellen Identität

178

Knut Boeser

Der Kanzler klare Kante und andere Ungeheuerlichkeiten

210

Michael Wimmer

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen.

S.

Autor

Essay

Bemerkungen zur Diskussion um den vermeintlichen Verfall der Werte in pluralistischen Gesellschaften 236

Doris Ingrisch

„ …  im Chaos eine andere Ordnung erraten …“ Vom Entweder-Oder zum Und

258

Ferdinand Schmatz

Das Andere versuchen. Offene Wertfindung durch poetische Um-Setzung

266

Martin Krenn

Demokratie in der Krise. Demokratisierung durch Kunst

280

Lisa Wolfson

Umkämpfte Werte. Die Punk-Andacht von Pussy Riot im Spannungsfeld von Kunst, Politik und Religion

296

Eva-Maria Stadler

Arbeit mal Zeit mal Leben

304

Sophie Reyer

Text- und Performancestrategien im Zeitalter der Biomacht

318

Karin Harrasser

Die Herstellung von Kunst und neuen Selbstverhältnissen

330

Josef Rhemann

Der Wert des Menschen. Anthropotechnik versus humanspezifische Selbstbestimmtheit

342

Karl Johannes Lierfeld

Auf der Suche nach verbindlichen menschlichen Kernwerten

358

Susanna Jalka

Drei Thesen zum Streit als Wert. Ein Manifest

368

Michael Getzner/ Johann Bröthaler

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich

Vorwort

7

Werte sind in unserer volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Welt flüchtige, nicht bindende und nur relativ gültige ideengeschichtliche Phänomene. Wir wissen nicht so recht, wie verbindlich sie sein dürfen und sein sollten. Und wieso geraten sie im Informationszeitalter und der globalen Marktwirtschaft derart in Widerstreit miteinander, dass eine „Wertekrise“ entsteht? Die Autorinnen und Autoren der Beiträge des vorliegenden Bandes erörtern und dekonstruieren Wertedilemmata in ökonomischen, politischen, religiösen und kulturellen Zusammenhängen. Sie fragen nach rationalen Maßstäben für sinnvolle Handlungsorientierungen in einer pluralistischen, informationsüberladenen und kulturell wandelbaren Gesellschaft. Wir danken allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Beteiligung am Entstehen dieses Bandes. Gerald Bast sind wir für die Herausgabe in der Edition Angewandte sehr dankbar. Anja Seipenbusch-Hufschmied danken wir für die umsichtige und freundliche Buchbetreuung seitens der Angewandten, Angela Fössl für das Zustandekommens des Buches in ideeller wie produktionstechnischer Hinsicht von Seiten des De GruyterVerlags, Theresa Hattinger für ihre produktive Experimentierfreudigkeit bei der schönen Gestaltung, Else Rieger für ihre profunde Lektüre. Clemens K. Stepina gilt unser großer Dank für manche Anregung und Hilfestellung bei der Auswahl der Inhalte.

Der/die Herausgeber/in

Marietta Böning

8

Einleitung. Wertschätzung und Wertsetzung

9

Eine Suche nach Auswegen aus der „Werte-Krise“ bedeutet, sich mit ihren Charakteristika in der egalitären, emanzipierten globalen, kommunitaristischen, liberalistischen, meritokratischen, nationalen, pluralistischen, postkolonialen, postmodernen, (sozial-)demokratischen – weitere miteinander konfligierende Attribute lassen sich anreihen – Gesellschaft zu beschäftigen. Wieso geraten Werte derart in Widerstreit miteinander, dass eine vermeintliche Krise entsteht? Wertedenken gehört zweifelsohne zur Marktwirtschaft, wie Eduard Straub in seinem Buch „Zur Tyrannei der Werte“ differenziert und auf die Entwicklung der Industriegesellschaft bezogen darstellt. Seine Analyse ist eine demokratiefreundliche Replik auf den demokratiefeindlich und dezisionistisch gesinnten Carl Schmitt, der 1967 in „Die Tyrannei der Werte“ schrieb: „Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. Tugenden übt man aus, Normen wendet man an, aber Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, muss sie geltend machen.“1 Anders als Max Weber2 fürchtete er die subjektive Setzung der Werte einer immer stärker individualistisch geprägten Gesellschaft. Die subjektive Wertfreiheit sei es, die zum „Kampf der Werte und Weltanschauungen“ führe. Der Gedanke, die Sinnstiftung höherer Werte wie Freiheit, Sicherheit, Würde, Toleranz sei letztlich aus Tauschwert, Gebrauchswert, Sachwert, Mehrwert, Verwertung, Auf- und Abwertung ableitbar, konfrontiert mit dem Faktum: „Der Kampf der Werte um ihr Dasein beziehungsweise im Wettbewerb der Wertsetzer, ihre Werte zu realisieren, zu aktualisieren und ihnen möglichst breite Anerkennung zu verschaffen, führt zu ständiger Unruhe.“3 Straub erinnert mit dieser Zeitdiagnose an ein humanistisch und sozial geprägtes Wertedenken noch im Zeitalter der Aufklärung, dessen Selbstverständnis einer Abschwächung des Ökonomismus geschuldet sein mochte. Ist die Wettbewerbs- und Wissensgesellschaft im Informationszeitalter auch bezogen auf die Verteidigung ihrer Werte mehr meritokratisch denn egalitär bestimmt? Bildet der Widerspruch zwischen Meritokratie und Egalitarismus den Kern der „Krise“? Oder prägt doch eher der altbekannte „Kampf der Kulturen“ die Wertedebatte? Die

Marietta Böning

10

Dimensionen der „Krise“ hängen von komplexen Verschränkungen politischer, gesellschaftlicher, kultureller und ökonomischer Faktoren ab. Dennoch, die Intuition, uns gehe es eigentlich doch gut, lässt auch die Frage zu, ob es sich bei einem vermeintlichen „Widerstreit“ der Werte umgekehrt um ein Indiz für geglückten Wertewandel bzw. eine post Nietzsche gelebte Werterelativität in ständigen konstruktiven wie negativen Wechselwirkungen inmitten eines diskurspluralistischen Universums handelt, und wir uns zumindest in Westeuropa in einer nur vorläufigen oder scheinbaren „Wertekrise“ befinden. Sommer meint, die Eigenschaft von Werten, nur relativ zu gelten, erzeuge noch zu wenig Akzeptanz, weil die humanistischen Ideale im Weg stünden.4 Hat eine solche Schlussfolgerung die Idee von Postmoderne sein sollen? Doch eher nicht. Lyotard schrieb in seinem Hauptwerk „Der Widerstreit“ der Politik die Aufgabe zu, den Widerstreit zu bedrohen. Ihren Ausdruck fände die Politik selbst nicht als eine unter den Diskursarten der pluralistischen Gesellschaft, sondern als Ausdruck dieser ganzen Vielfalt und ihrer Verkettungen.5 Könnte die Politik diese Aufgabe in einer von systemischen, institutionellen und ökonomischen Abhängigkeiten geprägten Gesellschaft überhaupt erfüllen? Werte sind keine objektiven, universalen Entitäten im Sinne metaphysischer Existenzen; Wertentscheidungen sind manipulierbare subjektive Ausschließungen alternativer Werteoptionen. Sie sind Resultate von Urteilsbildungen über materielle und immaterielle Güter, sind flüchtig, nicht bindend, nur relativ gültig und bedürfen einer Wertegemeinschaft, die sie anerkennt und im Bedarfsfall über sie richtet. Je höher ihre Nutzenfunktion, desto höher scheint die allgemeine Wertschätzung des Wertes. Seine Meinung frei äußern zu dürfen, impliziert das Recht auf freie Meinungsäußerung zu respektieren, also auch die frei geäußerte Meinung des Anderen − beides aber nicht notwendigerweise. Und auch unterschiedliche Werte können sich gegenseitig hindern.6 Allgemein wertzuschätzen, was für sich selbst als wertvoll erachtet wird, mag im Sinne des universalistisch gedachten

Einleitung. Wertschätzung und Wertsetzung

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kantischen Kategorischen Imperativs bedeuten: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ oder egoistisch gewendet werden: hedonistisch, autokratisch, hegemonial. Aus einem Wertepluralismus eine primäre Berücksichtigung (inter) subjektiv-hedonistischer Bedürfnisse abzuleiten – und stehen hinter autokratischen und hegemonialen Tendenzen nicht ökonomische und hedonistische Bedürfnisse? –, käme einer Verwechslung von Wertepluralismus und Voluntarismus gleich. Die „moralische Betrachtung, der sich der Wertbegriff verdankt“, formuliert Menke, „besteht darin, Güter, die das Gelingen von Praktiken ermöglichen, unter der Perspektive des Lebens zu beurteilen: Werte sind die (Erhaltungs- und Steigerungs-)Bedingungen des Lebens.“7 Zur Debatte steht, welche valorisierten gesellschaftlichen Tendenzen, Entscheidungen und Sinnund Nutzenstiftungen das Potenzial haben, „manifester“ und gegebenenfalls normativ gesetzt zu werden. Lutz Ellrich/Lisa Wolfson setzen in ihrem Überblick über Status und Funktion von Werten in diesem Buch mit einer Gegenwartsanalyse des Wertedilemmas in einer volatilen Welt an, in der die Suche nach Handlungsorientierungen zur Herausforderung geworden ist. Ihr Beitrag ist eine kritisch-kommentierende systematische Evaluation des Literatur- und Forschungsstandes und eine Analyse der Wirkungsmechanismen von Orientierungsmustern. Ihre Diskussion der Gegenwartsdebatte ist als Engführung der Problematik gleichzeitig thematische Einleitung in den vorliegenden Band. Sie strukturiert das Orientierungsangebot für die Leser/innen, denn die Texte bieten eben dies: „attraktiv-motivierende Orientierungen“. Ellrich schließt in seinem Beitrag über das Leid des Einzelnen in einem Setting moralisch inadäquat handelnder Institutionen im Falle des dramatischen Konflikts zwischen Institution und Individuum an. Das größer werdende Desiderat an brauchbaren Handlungsorientierungen ortet er im schwindenden Einfluss internalisierter Normen und Werten zugunsten medial vorbereiteter und verbreiteter Datensätze über Normalverhaltensspektren in der Informationsgesellschaft. Am Beispiel sexuellen

Marietta Böning

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Missbrauchs Minderjähriger durch Priester analysiert er die Verleugnung allfälliger Mitverantwortung der Institution, hier der Kirche, wenn abweichendes Verhalten des Einzelnen mehr in quantitativ gestreuten „Normalverteilungen“ zur Kenntnis genommen denn mit Blick auch auf die Straftat ermöglichende institutionelle Bedingungen sanktioniert wird. Auch Michael Opielka sieht die Wirkmächtigkeit des Individuums in unserer durch die Prinzipien und Durchsetzungsmechanismen der Institutionen konstituierten Gesellschaft gering. Hoffnungsfroh hält er aber am Skript einer pluralistisch zu verstehenden Weltkultur fest, appelliert an und sieht die Beschäftigung mit Zukunft in der empirischen wie epistemischen Zukunftsforschung als unverbrüchlich durch die Moderne des Westens geprägtes Projekt. Literaturwissenschaftliche Konstruktionen und Dekonstruktionen von Utopien und Dystopien zählt Opielka zur epistemischen Zukunftsforschung. Burkhard Meyer-Sickendiecks Beitrag zur Überwindung der poetischen Gerechtigkeit (die Bestrafung des Täters im Sinne eines Opferausgleichs) durch die restaurative Gerechtigkeit (Reintegration des Übeltäters durch Mediation ohne Opferausgleich) in Bert Brechts Unterfangen, Gerhard Hauptmanns Naturalismus zu überwinden, ist ein Beispiel hierfür. Seit der frühen griechischen Tragödie ist die poetische Gerechtigkeit Grundlage und Wirkungsprinzip des europäischen Dramas. Meyer-Sickendiek belegt einen in der Theorie des sozialen Dramas übersehenen Widerspruch: Beim realen Konfliktlösungsversuch durch Mediation wird die Schuldfrage ausgeblendet, während sie in der medialen Inszenierung des Konflikts jahrhundertelang Fokus des Dramas war. Interessant im Kontext der Wertedebatte ist die Anschlussfrage, inwiefern der unterschiedliche Umgang mit der Schuldfrage die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Institution und Individuum in der modernen Gesellschaft widerspiegelt. Nichts weniger als die Institutionen der Gerichtsbarkeit sind involviert. Ellrichs Beitrag zum potenziellen Verlust institutioneller Verantwortungsbereitschaft und -übernahme bietet das Dispositiv für ähnliche Szenarien und Analysen.

Einleitung. Wertschätzung und Wertsetzung

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Die Verbrüchlichkeit bestehender Rechtsordnungen mit ihren Auswirkungen auf Werteordnungen thematisiert auch von Stetten. Anlässlich der Unklarheit, ob Angela Merkels Entscheidung, an der deutsch-österreichischen Grenze im Sommer 2015 keine Kontrollen durchzuführen, verfassungsrechtlich inkorrekt war, erläutert er die Entstehung der „Wertekrise“ als Resultat der Verschränkung verfassungsrechtlicher und politisch-demokratischer Kämpfe. Die Diskussion des LüthUrteils von 1958 dient ihm als Beispiel und Beleg, um den Stellenwert des Grundgesetzes als Ausdruck solcher Kämpfe zu kennzeichnen. Der Versuch von Österreichs Innenminister Kickl im Januar 2019, die Europäische Menschenrechtskonvention infrage zu stellen, liefert ein brandaktuelles Paradigma (dazu Bast und Böning in diesem Buch). Im Falle Lüth-Urteil musste zwischen den Tatbeständen „Meinungsfreiheit“ und „sittenwidrige vorsätzliche Schädigung“ entschieden werden. Der Fall brachte den deutschen Verfassungsgerichtshof erstmals in die Situation, ein Grundrecht gegenüber einem anderen Rechtsgut geltend zu machen. Von Stetten zeigt, wie es dazu kam, eine Rechtsordnung explizit als Werteordnung zu argumentieren, und kommentiert die infolge stattgefundene Diskussion um ein rechtspositivistisches oder naturrechtliches (bzw. den naturrechtlichen Diskurs ersetzendes wertebezogenes) Verständnis von Grundrechten sowie mögliche Auswirkungen auf Gewaltenteilung und Exekutive. Per definitionem ist unsere Rechtsordnung wertebasiert. Werten ist Aufgabe der Gerichtsbarkeit. Das oben skizzierte Ansinnen, den Widerstreit zu bedrohen, könnte die Politik vielleicht erfüllen, wenn eben sie selbst ethisch neutral fungiert. Auch Menke meint, Wertsetzung könne keine politische Aktion sein, denn Politik setze keine Moral voraus: „Das Politische ist nicht wie das Moralische, sondern ermöglicht, gewährleistet und gestaltet das Moralische; das Politische operiert auf einer anderen Ebene. Im Politischen geht es nicht darum, Wertungen vorzunehmen, sondern Wertungen zu verteilen.“8 Dafür gibt es einen plausiblen Grund. Wenn Wertung ein subjektiver Akt mit Nutzenfunktion für ein Subjekt, anders formuliert ein Gut

Marietta Böning

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ist, dann, argumentiert Menke, liefe die politische Exekutive Gefahr, zu bestimmen, welche Güter sich ein Gemeinwesen aneignet. Johann Bröthaler/Michael Getzner belegen in ihrem Exkurs über regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich unterschiedliche Aktivitäten der österreichischen Bundesländer und Gemeinden. Ihre Statistik gibt erste Hinweise auf erwartbare Wirtschaftlichkeit durch eine mehr oder weniger zentralstaatliche oder föderalistische Organisation von Kulturinitiativen. Sie weist – und dieses Ergebnis ist im Kontext der Wertedebatte interessant – Forschungsbedarf in Bezug auf Präferenzen, Zufriedenheit und Nutzung in Zusammenhang mit einer vorangehenden Studie Getzners (2015, 2018) nach, in welcher Präferenzen der politischen Entscheidungsträger/innen wie Ideologie und Parteizugehörigkeit im Zuge der Förderung kultureller Aktivitäten belegt werden. Und an diesem Punkt – die Politik wird Diskursteilnehmerin – besteht die Gefahr, kollektive kulturelle Identitäten durch politisches Gebahren auszubilden; eine willkürliche Wertedeutung wird greifbar. Betrachtet man Politik also als Diskursvermittlerin und Aushandlerin eines Widerstreits statt als Diskursteilnehmerin, wäre die Aufgabe, sich nicht um Hegemonie, sondern um Verkettung pluraler Diskurse (pluraler Institutionen) untereinander zu bemühen. Die Umwandlung des Widerstreits in einen Rechtsstreit ist dann Aufgabe der Rechtsprechung.9 Die Beiträge von Böning, Bast, Boeser und Wimmer diskutieren den Widerstreit zwischen wertebasiert-naturrechtlichen und positivistisch motivierten Entscheidungsoptionen im Zusammenhang mit rechtspopulistischen Tendenzen an der Diskussion um Einwanderungen und Grenzziehung in der EU und im Schengenraum; Gerald Bast an der versuchten Verwässerung des verfassungsrechtlich verankerten Schutzes der persönlichen Freiheit in Österreich durch Angriffe auf die Europäische Menschenrechtskonvention seitens Innenminister Kickl und dem laufenden Versuch, eine Sicherungshaft für Nicht-Straftäter/innen einzuführen; ich (Marietta Böning) an der sich schrittweise bis 2018 verschärfenden deutschen und über Deutschland hinausgehenden Debatte um eine

Einleitung. Wertschätzung und Wertsetzung

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Einschränkung des Asylrechts. Knut Boeser hält ein an der abendländischen Tradition, der Verfassung und dem Bürgerlichen Gesetzbuch orientiertes, keinen Werterelativismus duldendes Plädoyer für Respekt vor dem Leben. Michael Wimmer interpretiert den erstarkten Rechtspopulismus in Zusammenhang mit „demokratischen Ermüdungserscheinungen“ innerhalb Europas als Folge des Verlusts einer progressiven Politik, die sich ökonomischen Zwängen widersetzt. Auch Wimmer stellt einer pessimistischen Zeitdiagnose unter der Prämisse auf eine wertebasierte Demokratie zu setzen die Hoffnung auf ein politisches Projekt entgegen, das den Ausgleich divergenter Interessen zum Ziel habe. Die Autoren/Autorin sehen die konstruktive Rolle von Kultur und Bildung als vermeintlich wertorientiertem Vermittlungsglied in einer globalen Gesellschaft. Freilich unter der Voraussetzung, dass sie abschottende Kollektivbildungen überwindet und kritisch bleibt; dass sie sich nicht vereinnahmen lässt – eben weil sie körper- und sinnesbezogen, d.h. diskursiv und medial sehr offen ist und daher populistisch und ökonomisch leicht vereinnahmt werden kann. Diese offene und anschlussfähige Konstitution von Kultur bedeutet aber auch: „Kreativität ist Macht“. Bast plädiert mit dieser These für einen bildungspolitischen Perspektivenwechsel mit Blick auf creative skills. Er prognostiziert einen Wertewandel in Bildung und Forschung, weg von Bildungsangeboten mit verankerten binären Wahr/ falsch- und Ja/nein-Codes hin zu Skills, die den Umgang mit Mehrdeutigkeiten, Komplexitäten, kritisches und vernetzendes Denken fördern und zugleich zweckdienlich für Lösungen von Nachhaltigkeitsproblemen sind. Ähnlich setzt Doris Ingrisch auf das Verlassen eindeutiger Ordnungsdispositive, auf „Anders-Denken“ in Wissenschaft und Kunst, um die moderne Welt in der Ausdifferenziertheit und Verwobenheit ihrer Sinn-, Macht- und Herrschaftssysteme konstituiert wahrnehmen und gestalten zu können. Ihre Dekonstruktion binärer epistemischer Schalter inkludiert Subjektivität versus Objektivität; Universalismus westlicher Wissensformationen versus Diversität; Mythos versus Wissenschaft; Tradition versus Moderne; Armut

Marietta Böning

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versus Entwicklung etc. Dem stellt sie postmoderne Begrifflichkeiten entgegen: nomadic reading/thinking qua (Ent-) Territorialsierung der Vorstellungen von festen Identitäten zugunsten eines relationalen Bezugsrasters; nature/cultures; spacetimemattering; Transversalität; Unschärfe, Sich-Wundern, Poesie vs. Klarheit. Mit einer Exposition der Lyrik in ihrer Rolle als per se wertrelationalem wie wertgenerativem Diskurs führt Ferdinand Schmatz künstlerisch vor Augen, worauf es dabei ankommt. Poesie verschiebt per se Bedeutung, bricht somit verkrustete und auch valorisierende in der Sprache versteckte Muster auf. Sie schert sich nicht großartig um Codes, kann sich in ihnen bewegen, findet sie aber infantil, denn mit Codes und Latenzen lässt sich vielleicht Machtstruktur suggerieren, aber nicht zu einem egalitären Diskurs beitragen. Wenn sie selbst überhaupt codiert spricht, dann nur um zu spiegeln. Poesie verschiebt per se die Kontexte. Sie erfüllt in Reinform und zwar exzessiv – deswegen ist sie wenig pragmatisch, bleibt dem Zweckrationalismus entfremdet und somit (post-)avantgardistisch – was für manch anderen Diskurs funktional wünschenswert wäre. Die permanente Neukontextualisierung sprachlicher Einheiten resultiert in sprachlichen Heterotopien (vgl. Opielka in diesem Band und Foucault 200510). Schmatz verschiebt den „Krieg“ mit dem „Kriegen“ (jemandem etwas zukommen lassen). Er schreibt, er führt vor, wie er eintaucht in das Wort, um am anderen Ufer (dem heterotopischen Illusionsraum) des kommunikativen Austauschs frei aufzutauchen. Schmatz’ Forderung einer „mauerlosen Sprache“ erinnert wiederum an Foucaults Analyse macht- und wissensverschränkter Topoi, etwa Gefängnisse.11 Die kritische Rolle der Kunst vertreten auch die Beiträge über zeitgenössische Kunst (Reyer, Harrasser, Krenn, Wolfson, Stadler). Heterotopien werden konfrontativ direkt im Kontext platziert. Martin Krenn zeigt, wie die „Krise der Demokratie“ und das Erstarken demokratiefeindlicher Politik durch dialogische, soziale und politische Alltags-Praxen bekämpft werden kann. Im Gegensatz zu einer Kunst, die auf Provokation und ein Schockerlebnis des Betrachters setzt, strebt die Soziale Kunst den Dialog

Einleitung. Wertschätzung und Wertsetzung

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mit Menschen an. Explizit stellt sie sich die Aufgabe, staatlich regulierter Raum müsse von einem selbstbestimmten öffentlichen Raum unterschieden werden, den sie eben dialogisch besetzt. Lisa Wolfson diskutiert Wertekonflikte zwischen Staat und Kirche sowie zwischen „falscher“ und „echter“ Religiosität im heutigen Russland anhand von Performances der Gruppe Pussy Riot. Eva-Maria Stadler bespricht Chantal Akermans Film „Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ über den ambivalenten, denn einerseits rituellen Charakter entwerteter Hausarbeit, der andererseits – als mechanische Wiederholung gedeutet (bewertet) – die ökonomischen und hierarchischen Abhängigkeiten und Arbeitsbedingungen der Arbeiterin im Wert-Schöpfungs-, Wert-Schätzungs-, Wert-Setzungs- und Ent-Wertungsprozess hervortreten lässt. Reyer stellt dem foucaultschen Paradigma Biomacht die Behauptung des Individuellen in der Kunst gegenüber. Biomacht als Begriff, der eine lebensbezogene Komponente beinhaltet, steht für effizienten Eingriff in biologische Verhältnisse und Regulationen. In Ausübung von Biomacht löse sich der Mensch von seinen substanzhaften Trägern. Auf der Suche nach Werten, um Biomacht zu unterlaufen, nennt Reyer Beispiele künstlerischer Interventionen, anhand derer sie eine neue „Ästhetik der Existenz“ konstatiert. Auch Karin Harrasser beobachtet eine Besinnung auf künstlerische Produktion zwecks Bildung kontingent-kollektiver, aber individuell gesteuerter Rückzugsoptionen und Selbstvergewisserung in einer Zeit biopolitischer Zwänge. Am Beispiel der Arbeitsweise der „Nouveaux Commanditaires“ erläutert sie, wie von unabhängigen Personen geplante und insofern Diversitäten-orientierte Kunstprojekte diese Menschen als Gesellschaft zusammenschweißen. Josef Rhemann warnt vor einer in Anthropotechnik resultierten Biomacht des 21. Jahrhunderts, in der die ontologischen Rahmenbedingungen der Conditio humana auf dem Spiel stünden. Er befragt sie vom ontogenetischen Anfang her. Begreift man den Anfang des Lebens nicht als Ursprung, sondern Prozess, wird Menschsein als soziales und ontogenetisches Werden verständlich. Bereits die embryonale Entwicklung

Marietta Böning

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unterliege entelechial wirksamen Entwicklungsprozessen, die auf ein gattungsrelevantes Menschsein hin angelegt seien. Hier sei das Selbstbestimmungsrecht künftiger Individuen angelegt – mit welchen sie erwartenden Freiheitsgraden? Dagegen sieht Johannes Lierfeld einen technologischen Wandel mit potenziell transhumanistischen Folgen als nicht allzu bedrohliche Gefahr für den Menschen. Verschmelzung biologischen Lebens mit Technologie bedürfe eines erweiterten Menschenbildes. Der Gedanke an eine potenzielle Implementierung von Werten in Maschinenintelligenz sei an der Zeit. Viele der angesprochenen Werte-Diskurse zeitigen Ambivalenzen. Im Begriff „Ambivalenz“ selbst steckt, was Werten ist: nicht einen universalen Anspruch stellen, sondern kontextabhängige Mehrdeutigkeiten anerkennen. Susanne Jalka plädiert in ihrem Manifest für die Transformation (ambivalent getragener) Konfliktspannung in Erkenntnis für das Halten der Spannung. Dann mag eine Semantik der Wertsetzung nicht erschrecken. Werte können nur insoweit gesetzt werden, als man sich an sie halten möchte, sie sind ja relativ. Wertschätzung erwächst aus Erkenntnis; und dennoch: „Alle sittlichen Werte haben auch ihren Widerhaken“, schrieb Nicolai Hartmann, „zwar nicht an sich, wohl aber für den Menschen −, eine Grenze, von der ab ihre Herrschaft im Wertbewusstsein aufhört wertvoll zu sein“.12

Einleitung. Wertschätzung und Wertsetzung Endnoten

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1 Schmitt, Carl [1967]: Die Tyrannei der Werte, Berlin 2011, S. 37 u. vgl. ff. 2 Weber, Max [1917]: Der Sinn der ,Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, Logos 7 (1917/18), S. 40–88; abgedruckt in: ders. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 489–540. Weber warnte mit dem Wissen um die Gefahr der Trübung wissenschaftlich-objektiver Ergebnisse durch Werthaltungen des Wissenschaftlers und Lehrers vor unreflektierten subjektiv bewertenden Affekten. Er vertrat aber keine anti-demokratische Position. Schmitt, Vertreter eines rechtspositivistischen Dezisionismus, bezog sich insofern auf Weber, als er der subjektiven Wertfreiheit ebenfalls das positivistische Ideal entgegensetzte. 3 Straub, Eberhard: Zur Tyrannei der Werte, Stuttgart 2010, S. 14. 4 Sommer, Andreas Urs: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016. 5 Vgl. Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit, München 1989, S. 230. 6 Das allgegenwärtige Beispiel ist die Gewährung von Freiheiten zulasten der Gewährung von Sicherheiten und vice versa. 7 Menke, Christoph: Werte, Wertungen und das Politische, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, hrsg. v. Ralf Konersmann, Dirk Westerkamp und John Michael Krois, 2009/1, Hamburg, S. 149−155. 8 Ebd. 9 Vgl. Schönherr-Mann, Hans-Martin: Postmoderne Theorien des Politischen. Pragmatismus, Kommunitarismus, Pluralismus, München 1996, S. 117. 10 Foucault, Michel: Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 2005. 11 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 2008. 12 Hartmann, Nicolai: Ethik, Berlin/Leipzig 1935, S. 37.

Lutz Ellrich Lisa Wolfson

Einleitung. Status und Funktion von ‚Werten‘ in der Gegenwart Modelle, Positionen, Diskursverläufe. Versuch eines Überblicks

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1 Das Orientierungsproblem

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Die spätmodernen westlichen Gesellschaften – so lehren uns soziologische Studien seit Anfang der 1980er-Jahre – sind komplex, unübersichtlich und in stetigem Wandel begriffen. Auf fast allen untersuchten Feldern stießen die ForscherInnen auf Phänomene, die als strukturbedingte Zwänge und Steigerungslogiken entziffert wurden und sich auf den Grad der Systemdifferenzierung, auf das Quantum der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Produktion, auf das Tempo aller relevanten sozialen Prozesse und – last but not least – auf die damit einhergehenden Risiken für alle Beteiligten und Betroffenen bezogen. Neuerdings macht ein Ausdruck die Runde, der wie ein Weckruf wirkt und die längst gestellten und veröffentlichten Diagnosen zu einer griffigen Vier-Buchstaben-Formel verdichtet: VUKA. Die unmissverständliche Botschaft besagt, dass wir – nicht nur in beruflichen Zusammenhängen, sondern auch in der Sphäre des Privaten – in einer Welt leben, die volatil, unsicher, komplex und ambivalent ist. Unter solchen Bedingungen besteht ersichtlich ein enormer Bedarf an Handlungsorientierungen, die wiederum hinreichend vielgestaltig und flexibel sein müssen, um in den unterschiedlichsten Situationen ihren Zweck zu erfüllen. Zu den wichtigsten und funktional tauglichsten Angeboten, auf die die Akteure in westlichen Gesellschaften heute zugreifen können, zählen nicht allein medial präsentierte Informationen, professionelle Formen der Beratung, gesetzliche Regelungen, bereichsspezifische dienstliche Anweisungen oder Befehle, sondern auch moralische Normen und sogenannte Werte.1 Alle diese Orientierungen,2 die Handlungen und Unterlassungen anleiten können, haben bestimmte Vor- und Nachteile: 1. Bloße Informationen präsentieren zwar ein Bild der Lage, bürden den Akteuren aber die alleinige Entscheidung darüber auf, ob die Angaben als wahr oder falsch, lückenhaft oder ausreichend, dienlich oder belanglos gedeutet werden; und sie legen die Verantwortung für das auf ihrer Basis gewählte Handeln ganz in die Hände der agierenden Individuen oder Gruppen.

Lutz Ellrich/Lisa Wolfson

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2. Professionelle Beratung3 liefert demgegenüber nicht allein verlässlichere Informationen als die normalerweise zugänglichen Quellen, sie erzeugt zudem einen (schwachen, wenngleich spürbaren) normativen Druck auf die Adressaten, die gegen entsprechende Bezahlung erteilten Ratschläge auch anzunehmen und in die Tat umzusetzen. Andererseits lässt sie dem Rat-Nehmer genügend Freiheit, den Rat – trotz der aufgewandten Kosten – abzulehnen. Dem Beratungskunden wird die Verantwortung für seine Entscheidung nicht abgenommen; sie wird ihm nur erleichtert. Im vertraglich fixierten Regelfall muss der Berater den Kunden nämlich nicht entschädigen, wenn eine angenommene Empfehlung zu Verlusten oder Nachteilen auf Seiten des Kunden führt.4 3. Sanktionsgestützte Rechtsnormen, dienstliche Anweisungen und Befehle haben für Akteure den Vorteil, dass sie durch strikte Vorgaben relativ genau erfahren, was in der konkreten Situation zu tun ist; darüber hinaus werden sie weitgehend (wenn auch nicht vollständig) von der Verantwortung für die ausgeführte Handlung entlastet und können sich folglich die Arbeit der Informationsbeschaffung bzw. den mitunter erheblichen kognitiven Aufwand einer Abwägung zwischen Handlungsalternativen sparen.5 Erkennbar ist, dass unter den drei genannten idealtypisch skizzierten Orientierungsweisen eine bloße Darbietung von Informationen über Sachverhalte (ohne zusätzliche Kriterien für die jeweils situationsadäquate Handlung) die geringste Orientierungskraft besitzt, während (klare) Anweisungen und Befehle das Handeln ‚regelrecht‘ überdeterminieren und nur die Möglichkeit folgenreicher Zuwiderhandlungen eröffnen. Professionelle Beratung hingegen bietet eine starke Orientierung (sie teilt mit, wie gehandelt werden sollte, damit bestimmte Ziele erreicht werden); zugleich unterstreicht sie energisch, dass die handelnden Subjekte die freie Wahl haben, dem Rat zu folgen oder nicht. Diese eigentümliche Kombination von Handlungsorientierung und Betonung der subjektiven Handlungsfreiheit, von Richtungsweisung und Unverbindlichkeitserklärung scheint – um es vorsichtig zu

Einleitung. Status und Funktion von ‚Werten‘ in der Gegenwart

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formulieren – unter den Bedingungen der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse besonders attraktiv zu sein. Sie deckt den erheblichen Bedarf an starken Orientierungen (den die eingangs geschilderte VUKA-Welt erzeugt) und sie genügt den historisch entstandenen Ansprüchen der Individuen auf die Respektierung bzw. Erhaltung ihrer subjektiven (Willens-)Freiheit, die sich – konkret gefasst – auf die Verfügung über privates Eigentum, auf die Äußerung von Meinungen, ferner auf die Wahl des Partners, des Berufs, des Wohnortes und des Glaubens, aber auch auf vieles andere beziehen kann. 4. Um die Orientierungsleistungen von Werten6 näher zu bestimmen, muss man sich zunächst Klarheit über ihren eigentümlichen Status verschaffen. Einerseits gehören Werte zu der umfangreichen Sphäre moralischer Empfindungen, Impulse, Motive, Regeln, Direktiven, Vorschriften etc., andererseits sind sie in einem Bereich angesiedelt, der Lebensstile, Haltungen, Dispositionen, Wünsche, Interessen etc. umfasst und sich von moralischen Richtlinien (im engeren Sinne) weitgehend freigemacht hat.7 Dass Normen und Werte in soziologischen und philosophischen Texten oft als Paar auftreten,8 ist ein Zeichen für beides: ihre enge Beziehung und ihre markante Differenz. Zu unterscheiden sind Normen und Werte im Hinblick auf ihre Inhalte, ihre Reichweite, ihre Verbindlichkeitsmodi und -grade, ihre Genese sowie ihre soziale Funktion. Trennscharfe Kriterien liefern die vielfach zum Einsatz gebrachten Schemata „universal/partikular“, „restriktiv-obligatorisch/attraktiv-motivierend“, wobei der jeweils erste Term Normen, der zweite Werte charakterisieren soll.9 Hinzu kommen Gesichtspunkte, die es erlauben, konkrete Handlungsabläufe und -ziele (die durch Normen fixiert werden) von generellen Einstellungen zu Leben und Welt (qua Werten)10 zu differenzieren.11

2 Krise der Werte – ein Rückblick in die 1970er- und 1980er-Jahre Lange bevor die Begriffe „Digitalisierung“, „Globalisierung“ und (neuerdings) „Singularisierung“12 zur Beschreibung

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der relevanten Merkmale der gegenwärtigen Gesellschaft in Umlauf kamen und die gründliche Untersuchung dessen, was Werte überhaupt sind, was sie zu leisten versprechen und was sie tatsächlich leisten, für notwendig erachtet wurde,13 hatte sich die Forschung schon ausgiebig mit der prekären Lage der Werte beschäftigt und eine dramatische Werte-Krise diagnostiziert.14 Als zentrale Ursachen für diese Krise ermittelte man den Übergang der Industriegesellschaft in ein neuartiges, damals nur vage bestimmbares Gebilde, das wir heute als ‚Wissensgesellschaft‘15 bezeichnen. Eine der pointiertesten Bestandsaufnahmen, die Mitte der 1980er-Jahre, als sich das Ende der Industriegesellschaft abzeichnete, erstellt wurde, stammt aus der Feder Hasso von Recums.16 Unter Rekurs auf eine Reihe (zwischen 1977 und 1984 von renommierten Soziologen durchgeführter) empirischer Untersuchungen über den Inhalt, die Bindungskräfte und den Wandel von Werten17 skizziert von Recum zu Beginn seines einschlägigen Aufsatzes die Situation mit folgenden Worten:

„Wertesysteme sind für das Funktionieren von Gesellschaften ausschlaggebend, weil sie als Systeme der Lebens- und Weltdeutung erwünschtes Verhalten definieren und tatsächliches Verhalten wesentlich beeinflussen. Das Wertgefüge westlicher Industrienationen weist zunehmend Risse und Brüche auf. Verursacht werden diese Beschädigungen teils durch eine systemimmanente Werteerosion, teils durch einen sich zuspitzenden Konflikt zwischen traditionellen industriegesellschaftlichen Orientierungen und sogenannten postmateriellen, nichtindustriellen Wertvorstellungen und Lebensstilen.18 Dieser konfliktgeladene Werteumbruch ist Ausdruck einer Akzeptanzkrise des Gesamtsystems der technisch-industriellen Zivilisation.“ Recum weist unter anderem auf die „zunehmende Autoritätsfeindlichkeit, [das] Infragestellen der Legitimität traditioneller Institutionen und [die] nachlassende Verbindlichkeit

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der ‚klassischen‘ Arbeits- und Leistungstugenden“ hin. Inzwischen (also um 1985) werde der „Lebensschwerpunkt“ mehr und mehr „in der Privatsphäre unter Betonung hedonistischer Ziele gesehen und weniger in der Berufssphäre.“ Offenkundig verlagern sich „die moralischen Potentiale […]. Während auf der einen Seite in der Berufs- und Arbeitswelt und auch anderwärts die traditionellen ethischen Imperative tendenziell an Bedeutung verlieren, herrscht auf der anderen Seite kein Mangel an moral- und emotionsgesättigtem Engagement für neue gesellschaftliche Ziele.“19 Zehn Jahre bevor von Recum den Stand der Forschung zu resümieren und die aktuelle Krisensituation zu fassen versuchte, hatte Daniel Bell bereits eine ähnlich alarmierende These vertreten: Der bestehenden „Sozialordnung“ gebreche es – so lautet sein Befund – „sowohl an einer Kultur, die insgesamt symbolischer Ausdruck der Vitalität wäre, als auch an einem moralischen Impuls, der eine motivierende und bindende Kraft sein könnte.“ Wenn aber beides fehlt, so lässt sich die entscheidende Frage nicht umgehen: „Was vermag also die Gesellschaft zusammenzuhalten?“20 Bells Antwort besteht letztlich in der Formulierung einer weiteren Frage: „Können wir – müssen wir nicht – das Sakrale und das Profane wieder aufrichten?“21 Es geht folglich um eine „große Erneuerung“, die sich im Bereich von „Religion und Kultur“22 zutragen muss, weil nur dort das Integrationsproblem postindustrieller Gesellschaften gelöst werden kann. Während diese Auskunft über eine mögliche Therapie der Pathologien der westlichen Moderne recht konturlos bleibt, besitzt die von Bell durchgeführte Gegenwartsanalyse eine beachtliche diagnostische und prognostische Schärfe: Das Leben im spätmodernen Kapitalismus ist durch einen unausweichlichen Konflikt zweier „Stile“ geprägt. „Die eine Strömung hebt auf funktionale Rationalität, technokratische Entscheidungsfindung und meritokratische Entlohnung ab, die andere auf apokalyptische Stimmungen und anti-rationalistische Verhaltensweisen. Dieses Auseinanderfallen macht das Wesen der historisch bedeutsamen Kulturkrise aller westlichen bürgerlichen Gesellschaften aus. Dieser kulturelle Widerspruch

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dürfte auf längere Sicht die verhängnisvollste Kluft der Gesellschaft bilden.“23 Das Verhängnis nahm allerdings in folgenden Jahrzehnten nicht den von Bell vorausgesagten Lauf, sondern verflachte zu einem zwar permanent konflikthaften, aber keineswegs dramatischen Prozess des Wertewandels und der Werte-Pluralisierung. Man konnte daher leicht den Eindruck gewinnen, dass „tiefgreifende Wertkonflikte, wie sie z.B. aus Anlass meinungspolarisierender Richtungsentscheidungen von historischer Tragweite aufbrechen oder aus der Latenz heraustreten, [sich] auf der Basis [des in formalen Demokratien bestehenden Parteien- und Regierungssystems] kaum [noch] aus […] fechten“24 lassen. Auf die Gefahren der Konfliktminimierung oder -verdrängung für die Demokratie ist immer wieder von mehreren unterschiedlichen Seiten hingewiesen worden. Bereits kommunitaristische Autoren wie etwa Benjamin Barber25 haben die These vertreten, dass eine fehlende oder unterdrückte demokratische Streitkultur, welche die Suche nach kollektiv geteilten Werten nicht erlahmen lässt, in Zeiten ökonomischer Krisen dazu führen kann, dass benachteiligte Gruppen das Heil in totalitären Identitätskonzepten suchen. Noch vehementer haben Theoretiker der „radikalen Demokratie“ die Notwendigkeit einer agonistischen Politik dargelegt und vor dem Aufkommen genau jenes rechtsgerichteten Populismus gewarnt, der die gegenwärtige Situation (nicht nur) in den westlichen Demokratien kennzeichnet.26 Leitend ist hier die Annahme, dass schwelende (also in die Latenz gedrückte) Wertkonflikte die Stabilität des Systems weit stärker erschüttern können als noch so heftige und offene Auseinandersetzungen über gegensätzliche Standpunkte und Interessen.

3 Verortung und Entstehung der Werte – eine Zwischenbetrachtung Der Hauptstrang der Forschung ist bis in die 1990er-Jahre hinein davon ausgegangen, dass diejenigen Werte (und Normen), welche die individuelle Lebensführung entscheidend

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prägen, im Zuge der frühen Sozialisation verinnerlicht und mit dem Erreichen der Adoleszenz-Phase durch konkrete Erfahrungen nur noch marginal zu beeinflussen bzw. zu modifizieren sind.27 Daniel Bell sprach sogar davon, dass Werte, die einen bestimmten Lebensstil rechtfertigen, durch für die Erziehung zuständige „Institutionen (Kirche, Schule, Familie) gesteuert“ und „in der Charakterstruktur verankert“ werden.28 Die Akzeptanz der Internalisierungsthese hatte beträchtliche Konsequenzen für die Anlage von Theorien, die nach einer Erklärung des in zahlreichen empirischen Längsschnitt-Studien diagnostizierten (und nirgends ernsthaft bestrittenen) Wertewandels29 suchten. Es gab nur eine schlüssige Lösung des Problems: Der dramatische Prozess, den Nietzsche als „Umwertung der Werte“30 und Scheler als „Umsturz der Werte“31 bezeichnet, verkündet, ja sogar gefordert haben, vollzieht sich nicht (oder nur in Ausnahmefällen) in den einzelnen Individuen, sondern zwischen den Generationen. Allein durch diese Situierung des Wertewandels konnte die Forschung an der fragwürdigen These festhalten, dass alle maßgeblichen Orientierungsmuster in einem Sozialisationsprozess verinnerlicht werden, der mit dem 12. bis 14. Lebensjahr im Wesentlichen abgeschlossen ist.32 Auch die feuilleton-schnittigen und entsprechend häufig zitierten Theorien über die Wertsysteme und Lebensstile der verschiedenen Nachkriegs-Generationen – Apo-Generation (Jahrgänge 1946–55), Babyboomer (1956–64), Generation X bzw. „Generation Golf“33 (1965–1980), Generation Y bzw. ‚Mil­ lennials‘ (1981–95)34 und Generation Z (ab 1995)35 – sind zu ihr nicht auf Distanz gegangen und setzen sie bis heute explizit oder implizit voraus. Dabei hat mit der Entstehung der modernen Mediengesellschaft die Erklärungskraft all jener Theorien, die von der (früh-) kindlichen Internalisierung der zentralen handlungsorientierenden Werte und Normen ausgehen, erheblich abgenommen. Bereits 1950 entwarf David Riesman ein Konzept, dass die Entstehung sozialer Mechanismen beschrieb, die das menschliche Handeln nicht mehr durch verinnerlichte Orientierungen, sondern durch medial-basierte Formen der Außen-Lenkung

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steuern.36 Mitte der 1990er-Jahre haben dann neue Theorien der Handlungsorientierung, die sich auf bahnbrechende Ideen von Foucault und Deleuze über Disziplinierung, Kontrolle und Freiheit berufen konnten, das Verinnerlichungs-Paradigma entschieden problematisiert37 und den Gewinn von praxistauglichem Orientierungswissen in einen radikal veränderten Zusammenhang gestellt. Damit änderte sich auch das Bild jener Subjektstruktur, die Daniel Bell 1976 noch als ‚Charakter‘38 bestimmt hatte.39 An die Stelle von Normen, die eine situations- und rollen­ adäquate Handlung regelrecht ‚vorschreiben‘, treten in diesen Erklärungsmodellen nun Strategien der Normalisierung, die sich auf statistische Daten – also auf sozialwissenschaftlich produzierte ‚Nachschriften‘ des menschlichen Verhaltens – beziehen. Eine der zentralen Fragen, die die neuen Theorien aufwerfen, lautet erwartungsgemäß: „Wie [werden] wichtige Daten und vor allem Trends“, welche von den Forschern (z.B. von Instituten für Demoskopie) erhoben bzw. ermittelt wurden, „an ein breites Publikum zu dessen Orientierung vermittelt?“40 Die Antwort ist denkbar einfach: Presse und Fernsehen übernehmen die Aufgabe, scheinbar neutrale Informationen so zu veranschaulichen, dass diese mathematisch-statistisch aufbereiteten Angaben bei Bedarf die Funktion der Lebens-‚Beratung‘ eines unter Handlungsdruck stehenden und entscheidungsunsicheren Publikums übernehmen können. „Die ‚Berater‘-Funktion im Normalismus besteht […] darin, die Brücke zwischen normalistischen Experten und normalistischen Laien zu schlagen.“ Und dies lässt sich bewerkstelligen durch die Erstellung einer sogenannten „Kurvenlandschaft“, genauer gesagt: durch die Präsentation einer Vielzahl massenmedial verbreiteter „Infografiken“41, in denen die Betrachter sich selbst positionieren können, ohne das Gefühl der Wahlfreiheit oder den Eindruck, dass sie an der eigenen Selbstverwirklichung arbeiten, zu verlieren. Die „Selbsteinordnung des Individuums in der Kurvenlandschaft ist geradezu einer der Basisakte einer normalistischen Kultur. In diesem Akt verwandeln sich die ‚trockenen Daten‘ auf

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wunderbare Weise in die Subjektivität einer Person, womöglich in ein Stück ihres ‚Charakters‘. Keine Versicherung macht so sicher wie die Platzierung des eigenen Ich […] in der Mitte einer Normalverteilung.“42 Man hat es hier allerdings mit keinem (früh-)kindlich vorgeformten und danach nur noch ausgestalteten „Charakter“ im Sinne Daniel Bells (siehe oben) zu tun, sondern mit einem Produkt von subjektiven Wahlakten, bei denen die Vorstellung herrscht, dass hier eminente Orientiertheit und große Freiheit (sogar die Freiheit, für Sicherheit zu optieren) eine Liaison fürs Leben eingehen. Das Konzept der sozialisatorischen Internalisierung von Werten und Normen ist allerdings nicht allein durch die medientheoretisch unterfütterte Normalismustheorie43 ins Wanken gekommen. Auch Studien über die „Entstehung der Werte“, wie sie Hans Joas zwischen 1997 und 2000 vorlegte,44 haben die Akzente verschoben. Die entscheidenden wertgenerierenden Prägungen und Erfahrungen sind nicht mehr auf die vorpubertäre Sozialisationsphase beschränkt. Besonders außeralltägliche Erfahrungen, die prinzipiell auf allen Altersstufen (wenngleich mit erhöhter Wahrscheinlichkeit in der dritten Lebensdekade) gemacht werden können, geraten jetzt in den Fokus der Analyse. Gewalt- und speziell Kriegserfahrungen45 spielen dabei eine wichtige Rolle. An ihnen lässt sich exemplarisch darlegen, dass die „Grundlagen unserer Werterfahrungen“ nicht im Zuge von Diskussionen, in denen die Beteiligten rationale Argumente austauschen und abwägen, gelegt werden.46 Es sind – Joas zufolge – nicht primär gute Gründe, die die Grundlagen für Werte schaffen, sondern „subjektive Gefühl[e]“, von denen Individuen oder Gruppen in bestimmten Situationen ergriffen werden. Im Kontext kriegerischer Aktionen kommt es zum Beispiel zu „affektive[n] Erfahrung[en] der unbedingten Geltung eines Wertes für den Handelnden selbst, der spürt, dass sein Opferwille und Opfermut über alle rationalen Erwägungen und diskursiven Rechtfertigungen hinausgehen“47. In unserem Zusammenhang ist aber noch ein weiterer Aspekt zentral: Das von Joas interpretierte Material (einerseits vorhandene empirische Untersuchungen, andererseits die Wert-Theorien

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bedeutender Soziologen und Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts) gibt Anlass zu der Vermutung, dass Werte nur dann ihre Leistung erbringen können, wenn sie hinreichend „tief im Gefühlsleben verankert“48 sind. Oder anders formuliert: Eine Handlungsorientierung ist nur dann effektiv, wenn sie von den Subjekten „als Wert verinnerlicht“49 worden ist. Folglich dürfen nur solche Orientierungen als Werte bezeichnet werden, die nicht okkasionell oder situativ zum Zwecke der Handlungssteuerung zum Einsatz kommen. Werte sind mithin Gesichtspunkte, die eine gewisse Stabilität besitzen und über einen längeren Zeitraum hin Geltung beanspruchen. Joas kassiert – dies dürfte deutlich geworden sein – zwar die gängige Annahme hinsichtlich einer ontogenetischen Prägephase, die die Entstehung und Fixierung von Werten ermöglicht, er bedient sich aber noch eines Vokabulars, das ohne Ausdrücke wie „Tiefe“ und „Verinnerlichung“ nicht auskommt. Diesen implikationsreichen Begriffen erteilt die Systemtheorie Niklas Luhmanns (in fast gleichzeitig erscheinenden Texten) eine energische Abfuhr. Anders als die (oben referierte) Normalismus-Theorie, die ähnlich vorgeht, erreicht sie eine umfangreiche Leserschaft und vermag deshalb den Wertediskurs auch nachhaltig zu beeinflussen.50 Luhmann löst das Problem der Werte-Verortung durch eine verblüffende Konstruktion: Der kommunikative Zugriff auf Werte bedarf keiner ‚tiefen‘, ja nicht einmal einer ‚lockeren‘ Verankerung im Gefühlshaushalt der Individuen, sondern nur eines Zugangs zum „Systemgedächtnis“, dessen Funktionieren eine ausreichende Garantie dafür bietet, dass die Werte keinen völlig beliebigen Inhalt haben und bei jeder sich bietenden Gelegenheit willkürlich in Anspruch genommen werden. Bevor Luhmann seine funktional-strukturelle ‚Umwertung‘ des vorherrschenden Verständnisses von Werten präsentiert, äußerst er grundsätzliche Bedenken gegen das geläufige kommunikative ‚Hantieren‘ mit dem Begriff des ‚Werts‘ bzw. der ‚Werte‘. Er spricht zwar nicht von einer „Tyrannei der Werte“ wie einst Carl Schmitt,51 aber er macht auf die dysfunktionale Seite des Wertediskurses aufmerksam:

Einleitung. Status und Funktion von ‚Werten‘ in der Gegenwart „Die Semantik der Werte ermöglicht eine Neubestimmung überlieferter und damit anerkannter Leitbegriffe wie zum Beispiel Freiheit oder Frieden oder Gerechtigkeit. Sie erzeugt damit den Eindruck einer Kontinuität, die die Schärfe des Bruches verschleiert, der mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft eingetreten war. Dies kann durch eine parallel dazu entwickelte Kultur des Verdachts, durch Ideologiekritik, durch Analyse latenter Strukturen und Motive nicht ausreichend korrigiert werden. Vielmehr bestätigt diese Art Kritik mit den in sie eingebauten Werten nur die Prätention einer Kontinuität, die in der modernen Gesellschaft nur auf falsche Gleise geraten sei.“

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Demnach kann „die Semantik der Werte nur eine Ebene anbieten […], die von den Strukturproblemen der modernen Gesellschaft ablenkt“52. Trotz dieses ernüchternden Befundes kommt Luhmann nicht umhin, den Werten eine wichtige soziale Funktion in komplexen modernen Gesellschaften zuzuschreiben:53 „Werte unterscheiden sich […] von Zwecken oder bloßen Präferenzen, die erst vor dem Hintergrund von Motiven und Interesse oder eben Werten festgelegt werden. Werte bleiben dabei Gesichtspunkte des Bevorzugens, aber solche, die zugleich einen normativen Anspruch auf Anerkennung zur Geltung bringen.“54 Freilich liefern Werte keine konkreten Handlungsanweisungen: Sie sind „allein noch keine Entscheidungsprogramme“55 und sie enthalten auch „keine Regeln für den Fall des Konflikts zwischen Werten“56. Ihre Leistung besteht aus systemtheoretischer Warte darin, dass sie „das Gedächtnis des Systems“ beschäftigen,

„indem sie Bevorzugung und Zurücksetzung auffallen lassen. Ihre positiv/negativ-Struktur dient nicht dazu, Werte in ihrer Geltung zu testen und gegebenenfalls eine Ablehnung des betreffenden Wertes zu provozieren. Sie dient ausschließlich dazu, die Zurückstellung oder Benachteiligung von anerkannten Wertgesichtspunkten im Gedächtnis des Systems festzuhalten: Wir haben so viel für die Freiheit

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getan, dass die Gleichheit darunter gelitten hat. Wir haben die Ärmsten so sehr unterstützt, dass die Motive, sich eine Arbeit zu suchen, geschwächt werden. Wir haben im Elend lebende Familien unterstützt, und nun verlassen die Männer ihre Frauen, weil diese ja versorgt sind. Wir haben Nahrungsmittel in Hungergebiete geschickt mit der Folge, dass der lokale Agrarmarkt nicht mehr konkurrieren kann und zusammenbricht.“57 Werte ermöglichen also – so könnte man zusammenfassend feststellen – nur „das anmahnende Erinnern“58. Nicht mehr und nicht weniger.

4 Diskursive Ermüdungserscheinungen und mühsame Revitalisierungsversuche

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Mit solchen – an theoretischer Radikalität und Coolness schwer zu überbietenden – Statements hatte Luhmann auf Jahre hinaus die Luft aus einem Wertediskurs gelassen,59 der es auf die Klärung von grundsätzlichen Fragen abgesehen hat. Nach 2000 (dem Jahr der Publikation von Joas’ „Krieg und Werte“) wurde die Höhenkamm-Debatte über Inhalte und Funktionen der Werte zunächst von den oben skizzierten Studien über die normativen Orientierungen und eigensinnigen Lebensstile der unterschiedlichen Nachkriegsgenerationen dominiert. Überdies konzentrierten sich Soziologie und Sozialphilosophie in dieser Phase eher auf die Erforschung praxisleitender Dispositionen, die weit mehr Aufschluss über das Gelingen oder Scheitern von komplexen Interaktionen in unterschiedlichen Bereichen (Organisationen, Netzwerken und Märkten) zu geben schienen: nämlich Vertrauen und Misstrauen.60 Allerdings erschien eine Flut von Arbeiten zu Herkunft, Eigenart und globaler Relevanz ‚westlicher Werte‘.61 Die Ergebnisse dieser Analysen hinsichtlich Anziehungskraft und kultureller Übertragbarkeit dieser Werte waren teils resignativ, teils ermutigend. Insgesamt ergaben sie keine neuen und überraschenden Perspektiven. Besonders deutlich

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trat nur der paradoxale Charakter (europäische Genesis vs. universaler Geltungsanspruch) des okzidentalen Projekts in Erscheinung. Als interessantes Intermezzo, das die theoretische Flaute des Wertediskurses62 etwa zwischen 200263 und 2016 unterbrach, lässt sich die Publikation eines Aufsatzes von Kurt Röttgers aus dem Jahr 2009 betrachten, den Christoph Menke kritisch kommentiert hat.64 Röttgers untersuchte die Chancen, Risiken und Formen einer aktiven „Wertepolitik“, die ihre notwendigen Voraussetzungen reflektiert und damit genau jene Forderung erfüllt, die Hans Joas zwölf Jahre vorher erhoben hatte.65 Zunächst entwirft Röttgers ein Konzept von Politik, das sich nicht primär auf das Handeln „eines staatlichen Herrschaftsverbandes“ bezieht. Vielmehr zielt es auf einen „Gestaltwandel des Politischen, der das Politische in Richtung auf das Soziale überschreitet“66. Diese andere Praxis definiert Röttgers als „Mikro-Politik“, in der Werte eine zentrale Rolle spielen. Allerdings geht die Mikro-Politik davon aus, „dass Werte nicht objektiv gegeben sind und nur erkannt und anerkannt zu werden bräuchten, sondern […] gesetzt und durchgesetzt werden“ müssen. Sobald die Perspektive der Mikro-Politik eingenommen wird, lässt sich feststellen, „dass es auch für die große Politik keine apriori feststehenden Werte als Grundlage einer jeden möglichen Politik gibt. Ohnehin bestimmt ja die Berücksichtigung eines Wertepluralismus die soziale Orientierung in den postmodernen Gesellschaften mehr als die Unterstellung einer unverbrüchlich feststehenden Werte-Ordnung.“67 Mit der neuen Sichtweise ist jedoch kein „Werterelativismus“ verknüpft. In jedem Handeln „müssen […] Werthaltungen eingenommen werden“, die explizit Grenzen ziehen (im äußersten Fall zwischen Freund und Feind). Und auch wenn die mikro-politische Setzung und Durchsetzung bestimmter Werte die prinzipielle Flexibilität der jeweils gezogenen Grenze signalisiert, so gibt sie doch immer zu verstehen, dass nicht „zu jedem Zeitpunkt alles zugleich politisch auch ganz anders möglich wäre“68. Mikro-Politik der Werte betreibt „das experimentierende Spiel mit Differenzen und gerade nicht die Identifizierung

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des großen Feindes am Maßstab vermeintlich ewiger Werte. Dieses moralische Experimentieren setzt Werte probeweise und lässt sie sich bewähren.“69 Nachdem uns – so fasst Röttgers die Ergebnisse seiner Überlegungen zusammen – „nicht nur der Glaube an die letztbegründenden Prinzipien und das Vertrauen in die Meinungen der Leute […], sondern auch […] die geschichtsphilosophische Zuversicht […] abhandengekommen ist, bleibt [uns] nichts anderes übrig als ein die Möglichkeiten auslotendes moralisches Experimentieren im Ausgang von möglichst prägnant ausgebildeten Individualisierungspunkten.“70 Gegen diese Auffassung einer ‚neuen‘ Politik als moralisches Experimentieren hat Christoph Menke Bedenken angemeldet und zugleich die von Röttgers zu Recht eingeklagten Korrekturen am gängigen Politik-Begriff vorgenommen:

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„Das Politische ist nicht wie das Moralische, sondern ermöglicht, gewährleistet und gestaltet das Moralische; das Politische operiert auf einer anderen Ebene. Im Politischen geht es nicht darum, Wertungen vorzunehmen, sondern Wertungen zu verteilen. Wenn Wertungen Akte der Aneignung sind und Akte der Aneignung darin bestehen, dass Subjekte sich zu Teilnehmern an Praktiken machen, dann bedeutet das, dass es im Politischen um Ordnungen der Teilnahme geht: Das Politische ist diejenige Ebene kollektiven Auffassens und Handelns, auf der darüber entschieden wird, wer wann wo und wie sich die bestehenden sozialen Praktiken wertend aneignen und so an ihnen teilnehmen kann. Im Politischen legt also ein Gemeinwesen nicht durch Wertungen seine Identität fest; im Politischen legt ein Gemeinwesen fest, welche Subjekte auf welche Weise werten, das heißt, sich die Güter von Praktiken aneignen, damit sie an Praktiken teilnehmen können. Das Politische ist keine Wertordnung, sondern eine Ordnung des Wertens.“71 Mit anderen Worten: Das Politische stellt nur eine „Form“ bereit, innerhalb derer die Setzung und ausreichende Stabi-

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lisierung von Werten möglich ist. Die Arbeit an den Werten müssen die Subjekte selbst verrichten, indem sie Klarheit darüber gewinnen, „was für sie wirklich wichtig ist“72. Menke weist damit auf die unaufhebbare (und deshalb auch Anlässe für tragische Zuspitzungen bietende) Spannung hin, welche zwischen den einzelnen Subjekten und dem politisch (und rechtlich) konstituierten Gemeinwesen besteht. Diese basale Spannung hat jedoch Axel Honneth, ein ebenfalls der Frankfurter Schule zugehöriger Philosoph, in Abrede gestellt. Honneth vertritt die These, dass die besagte Kluft durch den zentralen Wert, dem sich die westliche Moderne verpflichtet weiß, zumindest im Prinzip geschlossen worden ist. Honneths Argument beruht auf der folgenden für alle Formen der sozialen Ordnungsbildung und -stabilisierung geltenden Prämisse: „[D]ie Reproduktion von Gesellschaft [ist] bis heute an die Bedingung einer gemeinsamen Orientierung an tragenden Idealen und Werten gebunden.“73 Diese erforderlichen Bausteine des Sozialen haben jedoch nicht die gleiche Bedeutung: „Unter all den Werten, die in der modernen Gesellschaft zur Herrschaft gelangt sind und seither um Vormachtstellung konkurrieren, war nur ein einziger dazu angetan, deren institutionelle Ordnung tatsächlich nachhaltig zu prägen: die Freiheit im Sinne der Autonomie des Einzelnen.“ Nur sie – „die Idee der individuellen Freiheit“ – bringt „den Orientierungshorizont des einzelnen [und] den normativen Rahmen der ganzen Gesellschaft“ zusammen. Denn die „Vorstellungen davon, was für das Individuum das Gute ist, enthalten zugleich Anweisungen für die Einrichtung einer legitimen Gesellschaftsordnung.“74 Honneths Behauptung, der Wert Freiheit zeichne sich gegenüber anderen Werten dadurch aus, dass er Anweisungen zur Lösung von Organisations- und Institutionalisierungsproblemen75 impliziere, wirkt wie ein verzweifelter Versuch, in einer Zeit der Wertepluralisierung und dauernden Werteveränderung einen Fixpunkt zu setzen, der den Akteuren Halt gibt und die Hoffnung nährt, dass die Bedeutungsvielfalt des Freiheitsbegriffs bei der besagten „Errichtung einer legitimen Gesellschaftsordnung“ eher förderlich als hinderlich ist.

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Die von Honneth betonte Sonderstellung der ‚Freiheit‘ und ihres Wertes innerhalb der modernen Gesellschaft lässt sich nicht leugnen. Schwer zu bestreiten ist aber auch die Tatsache, dass Freiheit unter den herrschenden marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht nur als Chance, die vorhandenen Handlungsspielräume zu nutzen, wahrgenommen, sondern auch als quälende Last empfunden wird.76 Wer den Wert der Freiheit als leise, aber kaum zu überhörende Aufforderung, in schwierigen Situationen Eigenverantwortung zu übernehmen, interpretiert, gerät leicht auf die schiefe Bahn der Selbst­überforderung und wird, wenn sich derartige Lagen häufen, Dispositionen entwickeln, in denen der Wunsch nach klaren Anweisungen und vielleicht sogar die Sehnsucht nach einer autoritären politischen Führung aufkeimt. Die Normalismus-Theorie hat (soweit sie nicht bloß neutral beschreibend vorgeht), solche Szenarien in ihre Diagnosen und Therapievorschläge eingebaut und deshalb auch die Kombination starker Orientierungsangebote, die in den medialen Dauerpräsentationen von Daten unterbreitet werden, mit Akten einer freien (aber risikominimierten) Wahl aus dem vorhandenen Spektrum der erfassten Handlungsoptionen befürwortet. Freiheit erscheint in diesem Konzept als positiver Wert, weil einerseits die Suche nach einem Ich-Kern bzw. nach ‚echter‘ Authentizität des handelnden Subjekts entfällt und andererseits die mit emphatischer Freiheit verbundenen Gefahren und Belastungen durch die Orientierung an externen, medial gefilterten und zugerichteten Faktoren merklich vermindert werden.

5 Grund und Abgrund der Werte Dass der Höhenkamm-Diskurs über Werte spätestens ab 2001 im Hinblick auf Substanz und Subtilität Einbußen erlitt, lässt sich nicht allein auf die Erlahmung innertheoretischer Innovationspotenziale und die hohe Attraktivität der Generationen-Analyse zurückführen. Es hat auch mit historischen Ereignissen zu tun, die dazu führten, dass die Arbeit an der „Semantik der Werte“77 nicht länger primär in der Philosophie

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und der Soziologie vonstattenging, sondern nun in den Arenen der Politik, in der Massenpresse und im Fernsehen vollzogen wurde. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 kam es zu einer inflationären Verwendung des Wertebegriffs. Der von Samuel Huntington Mitte der 1990er-Jahre diagnostizierte „Clash of Civilizations“78 wurde als ‚Aufeinanderprallen‘ fundamental unterschiedlicher Wertewelten medial inszeniert und zu einem Kampf erklärt, der die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten in Atem halten werde. Diese Rhetorik verlor ihren Schwung, als die globale Finanzkrise von 2007/2008 für einige Jahre die Aufmerksamkeit auf sich zog,79 schob sich aber angesichts des deutlichen Anstiegs der Migrationsströme ab 2015 wieder in den Vordergrund der öffentlichen Debatten. Die Feststellung: „Alle reden von Werten. Aber niemand scheint darüber nachzudenken, was es heißt, dass alle von Werten reden. Oder darüber, was Werte eigentlich sind80“, wirkt zwar übertrieben, macht aber deutlich, inwiefern Bedarf besteht, Status und Funktion der Werte im Lichte der gegenwärtigen historischen Lage erneut gründlich zu untersuchen. 2016 sind zwei stark rezipierte Bücher erschienen, die sich dieser Aufgabe widmen und den Wertediskurs durch das dezidierte Einnehmen zweier gegensätzlicher Standunkte regelrecht ‚aufmischen‘: Hartmut Rosas „Resonanzen“ und Urs Sommers „Werte“.81 Während Rosa versucht, die ‚Welthaltigkeit‘ von Werten aufzuzeigen, will Sommer darlegen, dass und „warum man [Werte] braucht, obwohl es sie nicht gibt“. Rosa hatte in seinen bisherigen Arbeiten in erster Linie die interne Dynamik des Kapitalismus als Hauptproblem82 bzw. als Kernpathologie der Spätmoderne ausgemacht und weist nun mit seiner Theorie der Werte bzw. der Resonanz auf eine mögliche Lösung oder zumindest Abmilderung des Problems hin.83 Zunächst unterscheidet Rosa (im Anschluss an Charles Taylor84) schwache von starken Wertungen. Letztere beziehen sich auf etwas, „das als schlechthin wichtig erscheint“. Das heißt: „die Wertquelle [ist] stets in der Welt angesiedelt. Etwas appelliert an uns oder stellt Ansprüche an uns. Dieses ‚Etwas‘ kann […] ganz unterschiedliche Formen annehmen:

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Es kann (ein) Gott sein oder die Geschichte, die Vernunft, die Klasse oder auch die Natur oder die Kunst, aber in jedem Fall fungiert es als ‚konstitutives Gut‘ (Taylor85), weil es unsere wertgeleitete Beziehung zur Welt definiert.“86 Dieses eigentümliche Phänomen – „dass ein begegnender Weltausschnitt uns von sich aus etwas zu sagen hat“87 – bezeichnet Rosa als Resonanz. „In schwach wertenden Bezugnahmen (auf Objekte oder Handlungsweisen) steht uns die Welt dagegen nur als gestaltbares Objekt, als Ressource, Hindernis oder Instrument gegenüber; die perzipierte Wertquelle liegt in uns selbst. Wir können dabei Spaß haben oder auch Lust empfinden, aber wir werden nicht ‚berührt‘.“88 Und deshalb ergeben sich hier auch keine Resonanzen. Folgt man Rosa, so entstehen „starke Werte“89 im Zuge von Erfahrungen, die eine genuine Form der Evidenz besitzen, welche sich nicht auf subjektive Interessen, Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle etc. reduzieren oder aus ihnen herleiten lässt. Die Welt teilt sich den für derartige Erfahrungen offenen Subjekten mit, indem sie sich jenseits einer möglichen ‚Verwertbarkeit‘ als sie selbst präsentiert und genau darin Akzeptanz findet.90 Die Pointe dieses Wertbegriffs liegt offenbar darin, dass das ‚Wertvolle‘ keiner zusätzlichen Verwurzelung und Fundierung bedarf, sondern im Vollzug einer spezifischen – freilich in der Moderne weitgehend verschütteten – Welterfahrung aufkeimt. Diese Erfahrung versteht sich aber nicht von selbst. Daher besitzt das Resonanzmodell starker Werte selbst eine normative Komponente, denn es liefert einen eindeutigen „Wertmaßstab“: „Es soll Resonanzen geben.“91 Rosas Programm ist folglich äußerst ambitioniert. Er versucht, die positive Bewertung von Weltausschnitten, die ihren Wert in sich selbst tragen und sich eben nicht als praktisch nützliche oder ästhetisch reizvolle Gebilde der menschlichen Wahrnehmung anbieten oder aufdrängen, mit der nüchternen Einsicht zu verknüpfen, dass der normativ aufgeladene Appell an die Subjekte, sich für den merkwürdigen ‚Anruf‘ der Welt zu öffnen, nichts an der subjektiven Unverfügbarkeit92 der Resonanzbeziehung ändert. Die Welt muss sich melden. Und die

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Subjekte können nicht mehr und nicht weniger tun, als bereit zu sein. Ganz anders geht Urs Sommer an das aktuelle Problem der Werte heran. Seine Studie soll in erster Linie einen philosophischen Beitrag zur Sprachreinigung leisten, metaphysische Restbestände des geläufigen Wertebegriffs tilgen und der gegenwärtigen Inflation der Vokabel (in politischen Ausein­ andersetzungen und journalistischen Kommentaren) Einhalt gebieten. Zugleich soll aber auch die soziale Funktion, die die Werte-Rhetorik bzw. die Dauer-Beschwörung der Werte erfüllt, offengelegt und die Unverzichtbarkeit von Werten begründet werden.93 In einem ersten Schritt betont Sommer – ähnlich wie Luhmann (s.o.) – die „Unbestimmtheit und Leerheit“ der zum Einsatz gebrachten Wertebegriffe. In einem zweiten Schritt macht er sodann deutlich, dass wir die Werte gerade „wegen ihrer Unbestimmtheit und Leerheit“ benötigen: „Werte sind Projektionsflächen, die es jeder und jedem erlauben, darauf einzutragen, was sie für konform mit ihren Bedürfnissen, Interessen, Präferenzen halten. Solche Projektionsflächen sind jetzt und künftig nötig, weil unterschiedliche Menschen in modernen Gesellschaften zusammenfinden müssen, deren Bedürfnisse, Interessen, Präferenzen denkbar verschieden sind. Unter der Projektionspräambel von Werten können sie sich zusammenfinden.“94 Damit verabschiedet Sommer die gängige (auch noch von Luhmann geteilte) Annahme, dass die Orientierung an (inhaltlich) unterschiedlichen oder gar gegensätzlichen Werten Zündstoff für erhebliche Konflikte liefert. Um seine verblüffende These halten zu können, muss Sommer allerdings zwischen Werten als „nützliche[n]“ bzw. „regulative[n] Fiktionen“95 und Weltanschauungen differenzieren. „Werte bringen […] den Anschein eines Gemeinsamen hervor: Teilen wir denn nicht alle – wird unablässig gefragt, ohne die Frage als Frage ernst zu nehmen – dieselben allgemeinmenschlichen Werte, egal, welche Weltanschauung wir haben?“96 In dieser Produktion eines wirkmächtigen Scheins von basaler Eintracht oder Übereinstimmung liegt – nach Sommer – der entscheidende „Vorteil“,

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den Werte „im sozialen Überlebenskampf gegenüber unbeugsamen Wahrheitsansprüchen“97 besitzen. Es kann daher (logischerweise) auch nicht verwundern, dass „Gesellschaften […] nach Fiktionen [gieren]“98. Denn offenbar lautet das Gesetz der modernen Welt: „[J]e mehr Aufklärung, desto stärker wächst das Fiktions- und Fiktionalisierungsbedürfnis.“99 Diese Behauptung ist freilich selbst ein entschieden aufklärerischer Akt. Durch die Kraft ihres fiktionalen ‚Wesens‘ sollen Werte offenbar jene gefährliche agonale Energie, welche „unbeugsame Wahrheitsansprüche“ in sich bergen, an der Entfaltung hindern. Wenn aber „alle […], selbst der Zuhälter und Ehrenmörder […], irgendwie über Werte [verfügen]“100, so bleibt – zumindest im Fall des Ehrenmörders unerfindlich –, worin die werthaft grundierte oder generierte „Gemeinsamkeit“ zwischen Täter und Opfer bestehen soll. Nichtsdestotrotz lässt sich die analytische Trennung zwischen abstrakten, konsens-affinen „Werten“ und konkreten „Weltanschauungen“, die tendenziell auf Verabsolutierung und unerbittlichen Kampf ausgerichtet sind, als ein Angebot zur Analyse bestehender politischer oder kultureller Spannungen und zur Einleitung therapeutischer (semantischer) Maßnahmen betrachten. Die zukünftige Forschung muss zeigen, ob und wie die ambitionierten Theorie-Offerten, welche Rosa und Sommer unterbreitet haben, das diagnostische Instrumentarium bereichern können, mit dem sich die konkreten gegenwärtigen Probleme, bei denen Werte eine schwerlich zu ignorierende Rolle spielen, analysieren lassen.

6 Aktuelle Szenarien und Debatten Wirft man einen Blick auf die jüngsten Debatten, so entsteht leicht der Eindruck, dass keine (heuristisch ertragreiche) Verbindung zwischen einer gründlichen (philosophischen) Reflexion des Wertbegriffs und den brisanten empirischen Studien zu aktuellen Wertkonflikten, zur gesellschaftlichen Spaltung und zum globalen Wertewandel existiert. Das zeigen zum Beispiel die laufenden Auseinandersetzungen über

Einleitung. Status und Funktion von ‚Werten‘ in der Gegenwart die angebliche Dekonsolidierung demokratischer Systeme,101 ferner über die These, dass sich heute zwei Lager bilden, die nicht mehr mit den traditionellen Kategorien der Klassen- oder Schichten-Zugehörigkeit, sondern nur noch anhand verschiedener Sets geteilter Werte zu bestimmen sind.102 David Goodhart, um eine der prominentesten Figuren im aktuellen Werte-Diskurs herauszugreifen, konstatiert eine

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„wachsende Wertekluft […] zwischen ‚Anywheres‘ und ‚Somewheres‘. […] Die ‚Anywheres‘ sind normalerweise gut ausgebildet und mobil. Sie legen großen Wert auf Autonomie, Offenheit und Fluidität. Sie haben eine ‚erarbeitete Identität‘, die auf Bildungs- und Berufserfolgen basiert und dazu führt, dass sie sich überall selbstsicher und wohl fühlen. Die ‚Somewheres‘ sind stärker verwurzelt und weniger gut ausgebildet. Ihnen sind Gruppenzugehörigkeiten, Vertrautheit und Sicherheit wichtig. Sie haben eine ‚zugeschriebene Identität‘, die auf einer Orts- und Gruppenzugehörigkeit basiert, was dazu führt, dass Veränderungen ihnen eher Unbehagen bereiten.“103 In Anbetracht solcher Untersuchungen und Diskussionen wirken die Beiträge von Rosa und Sommer – auf den ersten Blick – wie ‚semantische Tiefbohrungen‘, die die Ereignisse, welche sich an der sozialen ‚Oberfläche‘ abspielen, aus den Augen verloren haben. Das Ansinnen, jede Forschung, die auf der Höhe der Zeit sein wolle, müsse die unumgängliche (philosophische) Arbeit am Begriff „Wert“104 mit gehaltvollen empirischen Untersuchungen verbinden, ist daher nur konsequent.105 Eine derartige Fusion von Begriffsklärung und konkreter Fallstudie, die sich nicht scheut, quantitative ebenso wie qualitative Methoden einzusetzen, wird aber nur dann ergiebig sein, wenn sie eine Antwort auf die Frage zu geben vermag, warum gerade Werte bzw. Wertesysteme, die ja mit anderen Orientierungsmöglichkeiten (Informationen, Beratungen, Anweisungen/Befehle, juristische und moralische Normen, normalistische Datenlandschaften) und deren diversen Verknüpfungen

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konkurrieren, eine Sonderstellung innehaben. Worin besteht der Reiz oder die Notwendigkeit, zur Analyse der oben genannten sozialen Spaltung den Wertbegriff in Anschlag zu bringen? Ist der von Goodhart und anderen Soziologen ins Visier genommene Riss durch die Gesellschaft wirklich eine „Wertekluft“? Stimmen die beteiligten Akteure und die Mehrheit der sozialwissenschaftlichen Beobachter tatsächlich darin überein, dass sie in einer durch Werte und Wertedifferenzen bzw. Wertedissonanzen entscheidend geprägten Welt leben? Selbst wenn wir alle (durchaus berechtigten) Zweifel am Primat der Werte als tauglichsten Orientierungsweisen in der eingangs beschriebenen VUKA-Welt beiseitelassen, so herrscht immer noch keine Klarheit über die Gründe für die Effektivität der Werte. Hartmut Rosa sieht die herausragende Rolle (starker) Werte darin, dass sie nicht nur subjektive Wünsche artikulieren, sondern auch (und in erster Linie) den ‚Eigensinn‘ der Welt erschließen. Für Urs Sommer dagegen liegt ihr Nutzen darin, dass sie einen fiktiven und doch wirkmächtigen Horizont von Einheit in allen Spielarten individueller und kultureller Differenz entwerfen. Der Erklärungswert beider Konzepte ist freilich gering. Es gelingt ihnen nur, die bereits weitverbreitete Annahme, informationsbasierte rationale Abwägungen würden zur Lösung der anstehenden Probleme nicht ausreichen, durch zwei weitere (ungewöhnlich radikal formulierte und daher durchaus aufschlussreiche) Gesichtspunkte zu stützen. Warum sind heute gerade attraktiv-motivierende106 Orientierungen, eben Werte, so wichtig? Und welchem besonderen Wert ist unter den aktuellen sozio-ökonomischen Bedingungen die höchste Relevanz zuzuschreiben? Einen Vorschlag, diese beiden Fragen gleichsam in einem Zug zu beantworten, hat Andreas Reckwitz bereits 2012 unterbreitet. Er analysierte einen speziellen Orientierungsmodus, nämlich die „Orientierung an Kreativität“107, die im gegenwärtigen „ästhetischen Kapitalismus“108 den „Kern einer Wunschkultur und zugleich das Telos eines sozialen Anforderungskatalogs“109

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bildet, und gelangte zur folgenden These: „Das kulturelle Modell des schöpferischen und genießenden homo aestheticus ist eine kulturelle Antwort auf das Motivationsdefizit der gesellschaftlichen Versachlichung. Die politischen, rechtlichen und moralischen Verfahren […] sind nicht dazu in der Lage, diese Leerstelle zu füllen.“110 Der attraktiv-motivierende Wert Kreativität vermag das genannte Defizit zu beheben, indem er sich nicht allein in der neuen subjektivierten und projektifizierten Arbeitswelt, sondern auch bei der alltäglichen Lebensführung Geltung verschafft. Es ist aber nicht zu übersehen, dass die Orientierungshegemonie der zum ‚Ultra-Wert‘ erklärten Kreativität wiederum Probleme hervorruft111, welche nur durch passgerechte ‚Gegenwerte‘ kompensiert werden können. Reckwitz konstatierte am Schluss seiner Studie bereits das Aufkommen von „Selbstbegrenzungsstrategien“112, die aber nur dann das Handeln effektiv leiten können, wenn sie eine hinreichende Anziehungs- und Motivationskraft entwickeln. Damit tritt die oben schon angesprochene Frage nach den Chancen und Risiken einer angemessenen Wertepolitik ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

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Auf die Frage, inwiefern sich Werte von moralischen Normen unterscheiden, werden wir noch zurückkommen. Der von uns benutzte Begriff „Orientierung“ bezieht sich auf Kriterien, die in Situationen der Wahl zum Einsatz kommen können und die Komplexität der vorhandenen Optionen reduzieren. Jene spezifische Reduktion von Handlungskomplexität, die Triebimpulse, neurotische Zwänge oder die Anwendung unmittelbarer Gewalt leisten, ist explizit nicht gemeint. Siehe Stefanie Duttweiler: „Beratung“, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krassmann (Hrsg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 23–29. Die Prozedur der ‚Beratung‘ weist nicht nur gewisse Analogien zur spezifischen Orientierung durch Werte auf, sondern auch zur „Orientierung“ eines „breiten Publikum[s]“ durch „normalistische Experten“, die eine „wichtige ‚Berater‘-Funktion“ ausüben (Jürgen Link: Normale Krisen. Normalismus und die Krise der Gegenwart, Konstanz 2013, S. 67 und 69). Darauf kommen wir zurück. Dennoch lassen auch Anweisungen und Befehle im Prinzip Raum 1. für Vergleiche mit anderen (freilich zumeist sanktionierten) Möglichkeiten, 2. für Reflexionen über deren Legitimität. Eine solche Legitimitätsprüfung muss dann übergeordnete Geltungskriterien oder ‚höhere‘ Werte ins Spiel bringen, um ein Nicht- oder Anders-Handeln zu prämieren. Zur Definition des Begriffs und seinen unterschiedlichen Verwendungsweisen siehe: Milton Rokeach: Beliefs, Attitudes and Values, San Francisco 1968; ders.: The Nature of Human Values, New York 1973; Peter Kmieciak: Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1976; Gisela Maag: Gesellschaftliche Werte. Strukturen, Stabilität und Funktion, Wiesbaden 1991; Herbert Schnädelbach: Werte und Wertungen, in: ders.: Analytische und postanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 2004, S. 253–278. Diesem Bereich gehören auch jene „Weltbeziehungen“ an, die man nach den Rubriken „kognitive Landkarten und kulturelle Weltbilder“, „Landkarten der Bewertung und des Begehrens“, „psychoemotionale Grundierungen und existentielle Problemdefinitionen“ sortieren und in ihren Besonderheiten erfassen kann (vgl. Hartmut Rosa: Resonanzen. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a. M. 2016, S. 187–245). Dazu gehören aber auch moralisch eher indifferente Einstellungen wie die sogenannte ‚Coolness‘. Jede Bestimmung des Wertbegriffs muss allerdings das mögliche Missverständnis vermeiden, als Werte, nach denen man sich richtet oder die man durch geeignetes Handeln anstrebt, kämen nur ‚geistige‘ Phänomene in Betracht. Denn neben Freiheit und Gerechtigkeit, Ruhm und Ehre, Rang und Namen, Kreativität und Authentizität, Empathie und Sensibilität, Tapferkeit und Gelassenheit, Flexibilität und Resilienz, Frieden und Sicherheit, Leistung und Erfolg etc. lassen sich auch materielle

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Güter, Kunstwerke, Geld (als allgemeines Äquivalent), sauberes Wasser, eine unversehrte Natur und vieles andere als Werte ansehen. Siehe z.B. Richard Münch, der von einem „gültige[n] Wert- und Normsystem“ bzw. vom „integrativen Potential des Wert- und Normmusters“ spricht (Die Struktur der Moderne, Frankfurt a. M. 1984, S. 96 und 100). Hans Joas: Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1997, S. 286 und 288. Rosa spricht in diesem Zusammenhang unter Rekurs auf Charles Taylor von „einem ontologischen Entwurf dessen, worauf es ankommt, was wichtig ist“ (Resonanzen, 227). Bei seinem originellen Versuch, die „Möglichkeit der Normen“ zu ergründen, geht Christoph Möllers in terminologischer Hinsicht ganz anders vor: „Regeln, Befehle und Urteile, Werte und Bewertungen, staatliche Gesetze, moralische Gebote und Geschmacksurteile sind allesamt Normen.“ (Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Frankfurt a. M. 2015, S. 18). Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, Frankfurt a. M. 2017. Siehe Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016. Verhältnismäßig vage Auskünfte gibt Richard Münch im Anschluss an Parsons. Er nennt zunächst die vier zentralen Werte der modernen westlichen Kultur: Rationalität, Solidarität, aktive Weltgestaltung und Freiheit. Sodann räumt er ein, dass „dem integrativen Potential des Wert- und Normenmusters auf der kulturellen Ebene Brüche, Konflikte und einseitige Umsetzungen in den konkreten Gesellschaften gegenüberstehen.“ Schließlich betont er, dass „das Wert- und Normenmuster der Moderne […] nur einen latenten Code dar[stellt], der in einzelnen Gesellschaften in ganz unterschiedlichen Oberflächenstrukturen konkretisiert ist.“ (Struktur der Moderne, Frankfurt a. M. 1984, S. 96 und 100; siehe auch ders.: Die Kultur der Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 174). Manfred Moldaschl/Nico Stehr (Hrsg.): Wissensökonomie und Innovation, Marburg 2010; Anina Engelhardt/Laura Kajetzke (Hrsg.): Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme, Bielefeld 2010. Hasso von Recum: „Wertewandel und Industriekultur“, in: Thomas Kreuder/Hanno Loewy (Hrsg.): Konservativismus in der Strukturkrise, Frankfurt a. M. 1987, S. 123–141. Vgl. auch ders.: Wertewandel, Braunschweig 1985. Siehe u.a. J. Z. Namenwirth: „Wheels of Time and the Interdependence of Value Change in America“, In: Journal of Interdisciplinary History 3/1973, S. 649–683; Peter Kmieciak: Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1976; Ronald F. Inglehart: The Silent Revolution. Changing Values and Polical Styles among Western Publics, Princeton 1977; Helmut Klages/Peter Kmieciak (Hrsg.): Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt/New York 1979;

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Helmut Klages: Wertorientierung im Wandel, Frankfurt/New York 1984. 18 In diesem Zusammenhang wurde gewöhnlich auch der Niedergang der sogenannten ‚Sekundärtugenden‘ angeführt: Fleiß, Gehorsam, Disziplin, Sauberkeit, Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Höflichkeit etc. (Anmerkung von uns, L.E., LW.). 19 Recum: Wertewandel und Industriekultur, S. 123. 20 Daniel Bell: Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit, Frankfurt a. M. 1976, S. 103. 21 Ebd., S. 205. 22 Ebd., S. 178. 23 Ebd., S. 103. 24 Bernd Guggenberger/Claus Offe: „Politik aus der Basis – Herausforderung der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie“, in: dies. (Hrsg.): An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, Opladen 1984, S. 8–19, hier S. 12. 25 Benjamin Barber: Strong Democracy, Berkeley 1984. 26 Vgl. Chantal Mouffe: Agonistik. Die Welt politisch denken [2013], Frankfurt a. M. 2014; dies.: Für einen linken Populismus, Frankfurt a. M. 2018; Slavoj Žižek: Der Mut der Hoffnungslosigkeit, Frankfurt a. M. 2017. 27 Siehe Inglehart: The Silent Revolution. 28 Bell: Die Zukunft, S. 81 (Kursivierung von uns). 29 Siehe hierzu die wichtigsten Arbeiten aus den frühen 1990er-Jahren: Ronald F. Inglehart: Cultural Shift in Advanced Industrial Society, Princeton, NJ, 1990; Helmut Klages: Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1993; Horst W. Opaschowski: Arbeit, Freizeit, Lebenssinn? Orientierungen für die Zukunft, die längst begonnen hat, Opladen 1993. 30 Friedrich Nietzsche: „Der Antichrist“, in: ders.: Kritische Studienausgabe Bd. 6, hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1988, S. 179. 31 Max Scheler: Vom Umsturz der Werte, 2 Bd., Leipzig 1915. 32 Richard Münch sprach zwar 1986 von einer „Ausdehnung der Sozialisationsphase im menschlichen Leben“, nahm dieses Phänomen aber nicht als Phase der Modifikation zuvor angeeigneter Normen und Werte in den Blick, sondern konnte darin nur „sowohl die Stärkung der normativen Kultur als auch ihre Vereinheitlichung durch Generalisierung“, also bloß eine Stabilisierung des bereits Erworbenen und Internalisierten erkennen (Die Kultur der Moderne, S. 174, Kursivierung von uns). 33 Vgl. Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion, Frankfurt a. M. 2000; ders.: Generation Golf zwei, München 2003. 34 Klaus Hurlemann/Eric Albrecht: Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert, Weinheim/Basel 2014. 35 Heinz Bude: „Das Verhältnis der Generationen“, in: ders.: Das Gefühl der Welt. Über die Macht der Stimmungen, München 2016,

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S. 79–89. Zur Erinnerung hier die zentralen Klischees: Generation X legt besonderen ‚Wert‘ auf Work-Life-Balance, Generation Y auf Selbstverwirklichung und Generation Z auf Sicherheit. – Siehe insgesamt auch die Befunde der im Abstand von vier Jahren erstellten sogenannten Shell-Studien. 36 David Riesman: Die einsame Masse [1950], Reinbek bei Hamburg 1951; siehe dazu auch Lutz Ellrich: „Normativität und Normalität“, in: Christina Bartz/Marcus Krause (Hrsg.): Spektakel der Normalisierung, München 2007, S. 25–51, bes. S. 31ff. 37 Diese Problematisierung ist freilich nicht überall wahrgenommen worden. Noch 2002 ist zu lesen: „Werte werden verinnerlicht (im Unterschied zu gesetzten Normen), sind abstrakt und verallgemeinerbar (im Unterschied zu subjektiven Einstellungen) und sind immer bewusst (im Unterschied zu Bedürfnissen)“ (Horst W. Opaschowski : Was uns zusammenhält. Krise und Zukunft der westlichen Wertewelt, München 2002, S. 146). 38 Vgl. hierzu auch Richard Sennett: The Corrosion of Character, New York 1998. 39 Siehe Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird [1996], (aktualisierte und erweiterte Ausgabe) Opladen 1998; ders.: Normale Krisen. Normalismus und die Krise der Gegenwart, Konstanz 2013. 40 Link, Normale Krisen, S. 67. 41 Ebd., S. 69f. 42 Ebd., S. 69. 43 Vgl. Lutz Ellrich: „Medialer Normalismus und die Rolle der ‚digitalen Elite’“, in: Jutta Allmendinger (Hrsg.): Gute Gesellschaft? Zur Konstruktion sozialer Ordnung, Opladen 2001, S. 372–398. 44 Hans Joas: Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1997; ders.: Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhundert, Weilerswist 2000. 45 Siehe hierzu inzwischen Randall Collins: Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Studie [2008], Hamburg 2011. Dieses Buch verdeutlicht nachträglich, wie wichtig die durch Joas in die Wege geleitete Neujustierung der Wertedebatte gewesen ist. 46 Joas: Entstehung der Werte, S. 22. 47 Ebd., S. 36. In diesem Punkt rekurriert Joas auf Thesen von Georg Simmel, Max Scheler und Ernst Jünger. Er räumt ein, dass es hier „nahe liegt“ und durchaus „berechtigt“ sei, die „verstiegene Phantasie“ kriegsbegeisterter Intellektueller zu kritisieren, aber er weist zugleich nachdrücklich darauf hin, dass es „strukturelle Homologien zwischen der Erfahrung der Wertkonstitution und der Erfahrung – ausgeübter und erlittener – Gewalt [gibt]. Die Erfahrung der Gewalt ist der ‚perverse Bruder‘ der Erfahrung der Wertbindung“ (ebd.). 48 Joas: Entstehung der Werte, S. 22 (Kursivierung von uns). 49 Ebd., S. 19.

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50 Dies lässt sich insbesondere an Sommers Buch über Werte (2016), in dem normalistische Konzepte überhaupt keine Erwähnung finden, ablesen. Wir kommen auf diesen Band noch zu sprechen. 51 Carl Schmitt: Die Tyrannei der Werte, in: Eberhard Jüngel/Sepp Schelz/ders. (Hrsg.): Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, S. 11–43. 52 Luhmann: Politik, S. 359. 53 Vgl. dazu auch Carsten Zorn: Der Fall ‚Flexibilität‘. Über eine aktuelle Herausforderung für die Theorie der Werte, in: Marie Luisa Allemeyer u.a. (Hrsg.): Eule oder Nachtigall? Tendenzen und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Werteforschung, Göttingen 2007, S. 240–267. 54 Luhmann: Politik, S. 178. 55 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 800. 56 Ebd., S. 799. 57 Luhmann: Politik, S. 178f. 58 Ebd., S. 186. Zum heuristischen ‚Wert‘ von Luhmanns Konzept siehe Armin Nassehi/Irmhild Saake/Jasmin Siri (Hrsg.): Ethik – Normen – Werte, Wiesbaden 2015. Die dort versammelten Aufsätze sollen vorführen, wie „systemtheoretische Perspektiven mit Hilfe des Konzepts einer ‚Gesellschaft der Gegenwarten‘ auf empirische Anwendungsfälle heruntergebrochen werden“ können (S. 8f.). 59 Es ist daher alles andere als erstaunlich, dass Jürgen Habermas 2005 bei seiner Diagnose der „geistige[n] Situation der Zeit“ den Wertebegriff vermeidet. Statt von zwei ‚Wertesystemen‘, die im Streit miteinander liegen, spricht er von zwei „gegenläufigen intellektuellen Tendenzen“, die gravierende soziale Spannungen erzeugen (können). Gemeint sind „die „Ausbreitung naturalistischer Weltbilder und der wachsende politische Einfluss religiöser Orthodoxien“. Habermas hält freilich eine dialektische Vermittlung dieser beiden „Mentalitäten“ für möglich. Auf der Linie von Hegel nimmt er an, dass „die großen Religionen zur Geschichte der Vernunft gehören“ (Einleitung, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, S. 7ff.). – Erstaunlich ist vor dem Hintergrund der Diskurs-Lage also nicht die Umgehung des Wertebegriffs, sondern die Bezeichnung der Tendenzen als „intellektuell“. Mit dem Wertebegriff, den Hans Joas etablieren konnte, hat dies wenig zu tun. 60 Siehe Lutz Ellrich u.a.: „Kultiviertes Misstrauen“, in: Sociologica Internationalis 31/2 (2001), S. 191–234; Martin Hartmann/Claus Offe (Hrsg.): Vertrauen. Grundlagen des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt a. M./New York 2001; Martin Endres: Vertrauen, Bielefeld 2002; ders.: „Vertrauen und Misstrauen“, in: Christian Schilcher u.a. (Hrsg.): Vertrauen und Kooperation in der Arbeitswelt, Wiesbaden, S. 81–102; R. M. Kramer/D. A. Gavielli: „Trust and Distrust in Organizations“, in: dies. (Hrsg.): Trust and Distrust in Organizations. Dilemmas and Approaches, New York 2004, S. 1–18; Torsten Strulik: Nichtwissen und Vertrauen in der Wissensökonomie, Frankfurt a. M. 2004; Udo

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Thiedecke: Trust, but test! Das Vertrauen in virtuellen Gemeinschaften, Konstanz 2007; Martin Hartmann: Die Praxis des Vertrauens, Frankfurt a. M. 2011. Siehe u.a. Hans Joas/Klaus Wiegand (Hrsg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a. M. 2005 und Helmut Heit (Hrsg.): Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU, Münster 2005. Udo di Fabio: Die Kultur der Freiheit, München 2005. Die Theorieentwicklung der späten 1990er und frühen 2000er-Jahre rekonstruiert Wolfgang M. Schröder: „Was sind ‚westliche Werte‘ heute? Ansichten eines Diskurses“, in: Philosophische Rundschau 2/2007, S. 97–122. – Unter den zwischen 2000 und 2015 verfassten Büchern über die okzidentalen Werte ragt wohl der kühne Versuch von Hans Joas heraus, das Wertegeneralisierungs-Konzept von Talcott Parsons, welches einen Zusammenhang zwischen der systemischen Differenzierung einer Gesellschaft und der Generalisierung ihrer obersten Werte herstellt, zur Interpretation der ‚Menschrechte‘ heranzuziehen (Die Sakralität der Person: eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011). Der Text hat aber kaum Einfluss auf die Werte-Debatte nehmen können. Selbstverständlich liefen in dieser Zeit die einschlägigen empirischen Langzeit-Studien zu den wechselnden Werten der Generationen (z.B. die Shell-Studien von 2002, 2006, 2010, 2015; Gudrun Marci-Boehnke u.a. (Hrsg.): Jugend – Werte – Medien. Der Diskurs, Weinheim/Basel 2006) und zur globalen Entwicklung der Werte (World Value Survey) weiter. Siehe u.a. Ronald F. Inglehart/Christian Welzel (Hrsg.): Modernization, Cultural Change and Democracy, New York/Cambridge 2005; Pippa Norris/Ronald F. Inglehart: Cosmopolitan Communications: Cultural Diversity in a Globalized World, New York/Cambridge 2009. In diesem Jahr erschien neben Opaschowskis den Forschungsstand präsentierenden Studie „Was uns zusammenhält“, aus der oben bereits zitiert wurde, auch noch ein pointierter Aufsatz von Hans Joas, der einen Katalog von „fünf Desiderate[n] für Wertevermittlung“ enthält: „Sie hat erstens notwendig eine personale Dimension. Altmodisch gesagt: Vorbilder, Zeugen […] und deren reales Handeln zählen mehr als verbale Bekundungen und Informationen. […] Zweitens geschieht Wertevermittlung durch den institutionellen Charakter der Bildungseinrichtungen selbst, ob diese sich dessen bewusst sind oder nicht. […] Drittens kann Wertevermittlung nur erfolgreich sein, wenn sie es wirklich mit der Verarbeitung von Erfahrungen – und nicht nur der in Familie oder Schule gemachten Erfahrungen – zu tun hat. […] [V]iertens [darf] die Wertevermittlung nicht einfach in ein separates Fach abgeschoben werden […]. Und fünftens bedarf erfolgreiche Wertevermittlung der jeweils zeitgemäßen Artikulation eben dieser Werte“ („Wertevermittlung in einer fragmentierten Gesellschaft“, in: Nelson Kilius (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung, Frankfurt a. M. 2002, S. 58–77, hier: S. 76f.). Kurt Röttgers: Wertepolitik, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1/2009, S. 135–150; Christoph Menke: Werte, Wertungen und das Politische,

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ebd., S. 151–156. 65 Nach Joas ist eine „Politik der Werte“ nur aussichtsreich, wenn sie eine Antwort auf die Frage zu geben weiß, wie „verstärkte Bindung an (alte oder neue) Werte zustande kommen soll, ja wie überhaupt Wertbindung entsteht“ (Entstehung der Werte, S. 16). Den theoretischen Hintergrund für Röttgers Betrachtungen bildet die zwischen ca. 1970 und 1995 ausgetragene Debatte zwischen liberalistischen, kommunitaristischen und möglichen ‚dritten‘ (z.B. von der Frankfurter Schule vertretenen) Ansätzen zur Bestimmung des Ortes und der Relevanz von Werten für die Integration moderner Gesellschaften. Die zentrale Frage ist, ob ein „vorpolitischer, geteilter Wertehorizont“ zur Integration erforderlich ist, oder ob dieser Horizont „erst das Ergebnis des partizipatorisch-deliberativen politischen Prozesses ist, in dessen Verlauf individuelle Präferenzen zu gemeinsamen Urteilen oder zu geteilten starken Wertungen transformiert werden“ (Hartmut Rosa: „Integration, Konflikt und Entfremdung – Die Perspektiven des Kommunitarismus“, in: Hans-Joachim Giegel (Hrsg.): Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1998, S. 202–244, hier: S. 231f.). Siehe hierzu auch die Bemerkung von Jürgen Habermas über die Grenzen der Einflussnahme von „Recht und Politik“: „Der liberale Staat ist langfristig auf Mentalitäten angewiesen, die er nicht aus eigenen Ressourcen erzeugen kann“ (Zwischen Naturalismus und Religion, S. 9, vgl. auch S. 106ff.). Zu den Voraussetzungen des liberalen Staates siehe auch Christoph Menke: Am Tag der Krise, Berlin 2018, S. 115ff. 66 Röttgers: „Wertepolitik“, S. 136. 67 Ebd., S. 139. 68 Ebd., S. 140. 69 Ebd., S. 148. 70 Ebd., S. 150. 71 Menke: „Werte, Wertungen und das Politische“, S. 154f. 72 Ebd., S. 156. 73 Axel Honneth: Das Recht der Freiheit, Frankfurt a. M. 2011, S. 18. 74 Ebd., S. 35f. (Kursivierung von uns). 75 Was sonst soll der Begriff „Einrichtung“ besagen? 76 Siehe hierzu die Studien von Alain Ehrenberg: L’Individu incertain, Paris 1995; ders.: Das erschöpfte Selbst (1998), Frankfurt a. M./ New York 2004 (mit einem Vorwort von Honneth). 77 Vgl. Luhmanns oben schon zitierte Formel und die damit verbundene These, dass diese Semantik „von den Strukturproblemen der modernen Gesellschaft ablenkt“ (Politik, S. 359). 78 Samuel S. Huntington: The Clash of Civilizations, New York 1996. 79 Die im Hinblick auf Wertfragen brisanten Themen waren zu dieser Zeit die „Durchökonomisierung aller Lebensbereiche“, die Ablösung des Leitwertes Leistung durch den neuen Leitwert Erfolg, die ‚Ent-wertung‘ von Verantwortung als handlungsorientierender Gesichtspunkt etc. Siehe hierzu Dörre/Lessenich/Rosa (Hrsg.):

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Soziologie – Kapitalismus – Kritik, S. 236 u.a.; Rudolf Hetzel/Wolfgang Weigand: Im Dickicht der Organisation. Komplexe Beratungsaufträge verändern die Beraterrolle, Göttingen 2014, S. 17; Sighard Neckel: Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur in der Marktgesellschaft, Frankfurt a. M./New York 2008, bes. S. 45–99; Claudia Honegger/Sighard Neckel/Chantal Magnin (Hrsg.): Strukturierte Verantwortungslosigkeit, Frankfurt a. M. 2010, passim. 80 Sommer: Werte, S. 12. 81 Wenig Beachtung fand hingegen Jürgen Große: Der ferne Westen. Umrisse eines Phantoms, München 2016. 82 Gegen alternative Diagnosen verteidigt Rosa seine These in: ders. u.a.: Soziologie – Kapitalismus – Kritik, Frankfurt a. M. 2009, S. 205–223. 83 Frühere Schriften deuten aber bereits in diese Richtung. Siehe Hartmut Rosa: „Die prozedurale Gesellschaft und die Idee starker politischer Wertungen. Zur moralischen Landkarte der Gerechtigkeit“, in: Herfried Münkler (Hrsg.): Konzeptionen der Gerechtigkeit, BadenBaden 1998, S. 395–425; sowie ders.: Individuelle Identität und kulturelle Praxis, Frankfurt a. M. 1998. (Anmerkung von uns, L.E., L.W.). 84 Vgl. Charles Taylor: Negative Freiheit, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–51. 85 Vgl. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität [1989], Frankfurt a. M. 1994, S. 17. Zu Taylors Unterscheidung zwischen starken und schwachen Werten bzw. Wertungen siehe auch Rainer Forst: Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 168ff., 331ff. – „Starke Wertungen sind – anders als der Utilitarismus glaubt – die eigentlich handlungsleitenden Überlegungen, denn sie sind unauflöslich mit der Selbstinterpretation von Personen verbunden: Sie legen den Rahmen fest, als welche Person man sich versteht“ (ebd., S. 331). Siehe ferner Rosa: „Integration, Konflikt, Entfremdung“, passim. 86 Rosa: Resonanz, S. 228f. (Kursivierung im Text). 87 Rosa: Resonanz, S. 717. 88 Ebd., S. 229. 89 Als ein solcher „zentraler starker Wert“ lässt sich zum Beispiel die Idee der „Nachhaltigkeit“ betrachten. „Spätmoderne Subjekte sind davon überzeugt, dass der Schutz und die Erhaltung der Wälder und Ozeane, Gletscher und Käfer, Delfine und Eisbären um ihrer selbst willen und um der Erhaltung der Natur als solcher willen von überragender Wichtigkeit sind“ (ebd., S. 717). 90 Die Annahme, Rosa revitalisiere mit seinem Konzept die schelersche Idee einer ‚materialen Wertethik‘ und die damit verknüpfte scharfe Kritik am Formalismus der kantischen Ethik, geht fehl. Denn Scheler siedelt die Wertquelle nicht in der Welt an wie Rosa, sondern behauptet nur die „evidente Erkenntnis […] eines ‚An-sich-Guten‘ für mich“ (Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik [1913–16], Bern 1954, S. 495). 91 Rosa, Resonanzen, S. 747. 92 Vgl. hierzu insbes. Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit (Unruhe bewahren), Salzburg 2017.

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93 Da die Texte von Rosa und Sommer gleichzeitig entstanden sind, nehmen sie nicht (kritisch) aufeinander Bezug. Rein von der Sache her lässt sich Sommers Studie als polemische Replik auf Rosas Buch lesen. 94 Sommer: Werte, S. 173f. – Soll das heißen, dass Sprechakte, mit denen beliebige Werte vertreten werden, schon ausreichen, um „zusammenzufinden“? Schwer vorstellbar. Man nehme nur einmal an, dass eine bestimmte wertgeleitete Person oder Gruppe eine andere Person oder Gruppe als vernichtenswert betrachtet. Was könnte „zusammenfinden“ in diesem Fall heißen? Vermutlich hat Sommer bei seiner These harmlose Phänomene wie etwa „Wellness“ vor Augen gehabt, also einen Wert, der „flexibel genug ist, um eine potenziell unendliche Zahl individueller Besonderheiten und Maßstäbe aufzunehmen, ein pluralistisches und demokratisches Ideal, das jeden einschließt und auf das sich alle einigen können.“ (Monica Greco: „Wellness“, in: Ulrich Bröckling u.a. (Hrsg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 293–299, hier: S. 296). 95 Sommer: Werte, S. 12, 94, 134, 141, 172. Autoren, die Werte nicht als bloße, wenn auch nützliche Fiktionen betrachten, subsumiert Sommer unter den Begriff „Wertontologen“ oder „gestandene Wertontologen“ (S. 83), ohne dass der ‚Wert‘ dieses Labels klar wird. Wer genau fällt (neben Scheler) unter diese Kategorie? Vielleicht Allan Bloom, der den ‚hochwertigen‘ abendländischen Bildungskanon verteidigte (The Closing of the American Mind, New York 1987), Angela Merkel, die immer wieder die ‚westlichen Werte‘ beschworen hat, Hartmut Rosa, dessen Konzept starker Werte oben erläutert wurde, und wohl auch Johannes Heinrichs, der sich mit dem folgenden dezidierten Statement Gehör zu verschaffen suchte: „[D]ie Letztwertfundamente einer pluralistischen Demokratie [stellen] humanistisch-religiöse Fundamente dar: die Unverletzlichkeit der Würde des Einzelnen […] und all die Fundamentalwerte wie Wahrheit und Gerechtigkeit haben ihre Wurzeln in der Unbedingtheitskomponente des menschlichen Geistes. ‚Das, was uns unbedingt angeht‘ (Paul Tillich), das Heilige, die Letztwerte, sind die Leitideen menschlicher Spiritualität, wie immer sie sich näher ausprägen mag.“ (Johannes Heinrichs: Gastfreundschaft der Kulturen. Der Weg zwischen Multikulti und neuem Nationalismus, 2. erweiterte Auflage, Stuttgart 2017, S. 41f.; siehe auch Heinrichs Kurz-Kommentar zu Sommers Buch: https://www.amazon.de/Werte-Warum-brauchtobwohl-nicht/product-reviews/3476026493). – Am Ende dieser Parade möglicher Kandidaten für den Ehrentitel ‚Wertontologe‘, erhebt sich die Frage: Handelt es sich beim Begriff des ‚gestandenen Wert­ ontologen‘ um mehr als eine ‚nützliche Fiktion‘, die etwas demontiert, das es gar nicht (mehr) ‚gibt‘? 96 Sommer: Werte, S. 168f. 97 Ebd., S. 173. 98 Ebd., S. 174. Bemerkenswert ist, dass Sommer zwar viel über das sagt, was Werte sind bzw. nicht sind, aber kaum etwas darüber

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mitteilt, was Fiktionen eigentlich sind. Hierzu nüchterne Auskünfte bei Möllers: Die Möglichkeit der Normen, S. 242ff. 99 Sommer: Werte, ebd. 100 Ebd., S. 113. Diese Aussage ähnelt Hartmut Rosas Bemerkung: „Auch ein Materialist und Hedonist verfügt über (zumindest implizite) Vorstellungen davon, worauf es (letztlich) ankommt, worum es im Leben geht.“ (Resonanzen, S. 229). 101 Siehe Yascha Mounk/Roberto Foa: „The Signs of Deconsolidation“, in: Journal of Democracy, January 2017, S. 5–16; ferner: dies.: „The Danger of Deconsolidation: The Democratic Disconnect“, in: Journal of Democracy, July 2016, S. 5–17. Eine alternative Sicht bieten Christian Welzel: Freedom Rising. Human Empowerment and the Quest for Emancipation, New York/Cambridge 2013; Amy C. Alexander/Christian Welzel: „The Myth of Deconsolidation: Rising Liberalism and the Populist Reaction“, Institute of Law and Economics, Working Paper 2017, Nr. 10, Universität Hamburg. Siehe auch: Online Exchange ‚Democratic Deconsolidation‘; https://www.journalofdemocracy.org. 102 Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren der regressiven Moderne, Frankfurt a. M. 2016; Christoph Guilluy: No Society: la fin de la classe moyenne occidentale, Paris 2018; David Goodhart: The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics, London 2017. 103 David Goodhart: „Die ‚Anywheres‘ und die ‚Somewheres‘. Die wachsende Kluft zwischen der breiten Mitte der Gesellschaft und der liberalen Oberschicht“. Vortrag vom 1.5.2017 – Online: https://rotary. de/gesellschaft/die-anywheres-und-die-somewheres-a-10639.html (Kursivierung von uns). 104 Und dazu gehört selbstverständlich auch das gesamte semantische Umfeld mit seinem Arsenal beliebter Vokabeln: starke Werte/schwache Werte, Wertbindung, Wertewandel, Werteverschiebung, Wertebalance, Wertesynthese, Wertecocktail, Wertekrise, Werteerosion, Wertekonflikt, Wertekluft etc. 105 Inwieweit die Einzelstudien des vorliegenden Bandes diesem Anspruch (wenigstens partiell) genügen können, bleibt dem Urteil der LeserInnen überlassen. 106 Siehe hierzu die (oben bereits diskutierte) von Joas herausgearbeitete Eigenheit der Werte. 107 Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, Frankfurt a. M. 2012, S. 11; vgl. auch die Formel „Orientierung am Kreativen“, ebd., S. 343. 108 Ebd., S. 11. Nicht zufällig enthält der vorliegende Band eine Reihe von Beiträgen zu ästhetischen Themen. 109 Ebd., S. 345f. 110 Ebd., S. 356f. 111 Vgl. u.a. Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hrsg.): Kreation und Depression, Berlin 2011; dazu auch Ehrenberg: L’Individu; ders.: Selbst. 112 Reckwitz: Kreativität, S. 368.

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Das Leid des Einzelnen und der Wert der Institutionen. Gibt es noch tragische Konflikte in Zeiten der VerhaltensNormalisierung?

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Die handlungsorientierende Kraft von Normen und Werten hat seit den 1990er-Jahren in spätmodernen westlichen Gesellschaften stark abgenommen. Zunehmend richten sich Menschen, die auf der Höhe der Zeit sind, nach medial präsentierten Datensätzen, die das Verhalten der Interaktionsteilnehmer statistisch erfassen und coram publico so aufbereiten, dass Kurvenlandschaften entstehen, in denen jedes Individuum sich selbst positionieren kann (egal, ob es sich um die Höhe des Alkoholkonsums, die Einhaltung von Hygienepraktiken, die Spendenbereitschaft oder die Frequenz von Museumsbesuchen handelt). Die Kurven ermöglichen zwar keine scharfen Differenzierungen, aber sie lassen sich – trotz gleitender Übergänge – grob in drei Häufigkeits-Zonen unterteilen: in zwei Extrembereiche, die niedrige oder hohe Ausschläge verzeichnen, und einen mittleren Bereich, der das durchschnittliche bzw. gewöhnliche Verhalten anzeigt. Die einzelnen Akteure, die ihre – sei es lebenswichtigen, sei es banalen – Entscheidungen mit Blick auf solche Angaben treffen, werden nicht mehr von internalisierten Normen gesteuert, die sie sich in komplexen Erziehungsprozessen angeeignet haben, sondern durch externe Informationen, die sie aus dem Fernsehen, der Zeitung, dem Internet etc. beziehen. Sie sind jedoch – wie man vielleicht glauben könnte – keineswegs Objekte einer gezielten Manipulation oder Konditionierung. Sie haben vielmehr die Freiheit der Wahl, ob sie etwas Bestimmtes a) eher selten und/oder vorsichtig, b) in Art und Umfang genauso wie die meisten anderen oder c) in extremer Form und/oder ständig tun, ob sie also auf spezifischen Handlungsfeldern als ‚Asketen‘, ‚Normalos‘ oder ‚Virtuosen‘ in Erscheinung treten (und natürlich statistisch erfasst werden) wollen. Auch die verschiedenen Möglichkeiten, diese drei idealtypisch skizzierten Typen zu kombinieren, lassen sich in einer Normalverteilungskurve abbilden. Im mittleren Bereich werden sich dann erwartungsgemäß diejenigen Profile von Handlungs-Sets finden, welche für Personen charakteristisch sind, die keinen ‚klassischen‘ Charakter mehr aufweisen, sondern hier asketisch, dort durchschnittlich und dann und wann in diesem oder jenem Gebiet auch exzessiv sind.

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Dass es in einer solchen auf quantitative und nicht länger qualitative Differenzen geeichten Gesellschaft Konflikte gibt zwischen Akteuren, die stark differierende Positionen in der Datenlandschaft besetzen, dürfte unbestreitbar sein. Ob dies aber noch Konflikte sind, die unter bestimmten Umständen eine tragische Dimension annehmen können, steht in Frage. Bei tragischen Konflikten handelt es sich um Konflikte zwischen Positionen, die den gleichen hohen Rang besitzen und sich nicht einfach durch andere (ggf. funktional äquivalente) Positionen ersetzen lassen. Hinzu kommt, dass diese Konflikte früher oder später unvermeidlich sind und nur unter Inkaufnahme gravierender Opfer (oder Kosten) behoben oder zumindest vorübergehend stillgestellt werden können. In einer gleichzeitig durch Prozesse der Individualisierung und der Bildung leistungsfähiger Institutionen gekennzeichneten Gesellschaft sind Konflikte zwischen individuellen Ansprüchen einerseits und Erfordernissen zur Stabilisierung von Institutionen andererseits fast unvermeidbar und oft auch unlösbar. Besonders aufschlussreiches Material liefern Konflikte, die lange verborgen bleiben, dann aufbrechen, bis zur Ermattung diskutiert und behelfsmäßig kleingearbeitet werden, wieder in den Hintergrund treten, um schließlich erneut ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Ein Beispiel: Am 14. August 2018 stellt der Generalstaatsanwalt von Pennsylvania, Josh Shapiro, einen fast 900 Seiten starken Bericht über mutmaßliche Fälle von sexuellem Missbrauch vor. Die Ermittler trugen, so meldet die Presseagentur DPA, nicht nur Material über die Taten von 300 Priestern zusammen, die im Verlauf von 70 Jahren Tausende von Kindern missbraucht haben sollen, sie fanden auch heraus, dass die Kirchenführung ihre Einrichtungen mit erheblichem Aufwand geschützt und eine hemmungslose Praxis der Vertuschung betrieben hat. Die Konfliktfront ist evident: Die Opfer, die endlich, nach vielen Jahren, zu sprechen beginnen, bestehen darauf, dass dasjenige, was ihnen angetan wurde, offiziell anerkannt und – soweit dies juristisch noch möglich ist – bestraft oder zumindest durch angemessene Entschädigungen

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abgegolten wird. Die Vertreter der Kirche wiederum verteidigen mit allen erdenklichen Mitteln Institutionen, die in ihren Augen derart wichtige Aufgaben erfüllen, dass die Schäden, die angerichtet wurden, gegenüber dem hohen Zweck, dem die Kirche dient, kaum ins Gewicht fallen. Das alles stand freilich schon vor mehr als acht Jahren auf der Agenda: Wer im Frühjahr 2010 die Verlautbarungen der Massenmedien aufmerksam und anhaltend zur Kenntnis nahm, konnte leicht den Eindruck gewinnen, dass die Gesellschaft ihre zivilisatorische Decke lüftete und etwas lange und gründlich Verborgenes ruchbar werden ließ: den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen innerhalb besonders ‚achtbarer‘ und auf ihren guten Ruf äußerst bedachter Institutionen wie Kirche und Schule. Auffällig war, dass zunächst nur einige wenige Delikte – die Taten pädophiler Priester in den USA und Irland – ans Licht der Öffentlichkeit gelangten. Dann aber brachen in unterschiedlichen Regionen die Dämme des Schweigens und Nichtwissens.1 Wöchentlich, wenn nicht täglich, wurden weitere, eben erst entdeckte oder aus den Archiven wieder hervorgeholte und dramatisch aufbereitete Fälle gemeldet. Eine neugierige und empörungswillige Bevölkerung ließ sich mit Informationen, Beschuldigungen, Eingeständnissen, privaten Geschichten, Kommentaren, Erklärungen, Beschwichtigungen etc. zum Thema „Missbrauch“ regelrecht überfluten. „Sexueller Missbrauch und kein Ende“, hieß es treffend in der Süddeutschen Zeitung.2 Allerdings handelte es sich in erster Linie gar nicht um aktuelle Ereignisse, die zum Vorschein kamen und beschrieben oder besprochen wurden, sondern überwiegend um alte, zumeist verjährte Taten. So geriet bei all den Aktivitäten, die sich mit dem Aufrühren, Bearbeiten und Bewältigen vergangener Ereignisse befassten, die gegenwärtige Situation, über die man nur wenig zu wissen schien, fast völlig aus dem Blick. Gleichwohl erzeugten die Medienberichte und die öffentlichen Debatten (z.B. auf Kirchen- und Parteitagen) eine Atmosphäre, in der die unausgesprochene Parole „Gefahr im Verzug“ das Denken und Handeln der verantwortlichen Instanzen bestimmte.

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Sofortige Maßnahmen waren angezeigt. Auch die Bundesregierung spürte offenbar den Handlungszwang und leistete ihren Beitrag. „Als Reaktion auf die Missbrauchsfälle vor allem in der katholischen Kirche“ richtete sie im Mai 2010 eine mit 65 Mitarbeitern ausgestattete Anlaufstelle für Fälle sexuellen Missbrauchs ein. Bereits im September präsentierte deren Leiterin, die sogenannte „Missbrauchsbeauftragte“ Christine Bergmann, in ihrem Zwischenbericht erste Befunde. Die Auswertung von 2500 Briefen, E-Mails und Anrufen ergab Folgendes:

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„91% der Opfer sind über einen längeren Zeitraum hinweg misshandelt worden. Mehr als die Hälfte der Anrufer vertrauen sich über die Hotline zum ersten Mal überhaupt jemandem an. In fast der Hälfte der Fälle fand Missbrauch im Umfeld einer Einrichtung wie der Kirche oder der Schule statt, davon wiederum mehr als 60% in der katholischen Kirche. Bei der überwiegenden Mehrheit liegt die Tat zwanzig Jahre und länger zurück. Etwa die Hälfte der Betroffenen besteht auf eine Entschädigung in Form von Therapien und Geld.“3 Die Einrichtung der Anlaufstelle war nicht die einzige Maßnahme der Bundesregierung. Hinzu kamen die Initiierung und Moderation von Round-Table-Gesprächen zwischen kirchlichen Funktionären und Vertretern von Vereinigungen, die die Opfer des Missbrauchs inzwischen gegründet hatten. Ferner wurde eine TV-Kampagne gestartet, die – wie es hieß – dem „Verschweigen ein Ende setzen“ soll. Im Auftrag der Bundesregierung drehte der bekannte Filmregisseur Wim Wenders eine Reihe von Kurzfilmen, die für die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch plädieren und mittlerweile unter dem griffigen Titel „Spots gegen das Schweigen“ regelmäßig im Fernsehen gezeigt und in der Presse wohlwollend kommentiert worden sind. Ob sich damit der politische Maßnahmenkatalog erschöpft hat oder ob die Ereignisse auch rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen werden, ist

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derzeit noch unklar. Im Dezember 2008 lehnte der Bundestag jedenfalls noch eine Änderung der Verjährungsregelungen für Missbrauch entschieden ab. Die damalige Petition von Norbert Denef, der „als Kind jahrelang von einem katholischen Priester missbraucht“ wurde und „als erstes deutsches Opfer eine finanzielle Entschädigung“4 erhielt, blieb erfolglos und von der Presse auch weitgehend unbeachtet. Die gelieferte Begründung für die Ablehnung ist aufschlussreich, weil sie rein funktional argumentiert und den Begriff der „Verdunkelung“ in einer Weise benutzt, die die Erhellung der Tatbestände zur Quantité négligeable macht: „Verjährungsregelungen sind zur Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit unabdingbar. […] Der Rechtsverkehr benötigt klare Verhältnisse und soll deshalb vor einer Verdunkelung der Rechtslage bewahrt werden, wie sie bei später Geltendmachung von Rechtsansprüchen auf Grund längst vergangener Tatsachen zu befürchten wäre.“5 Da es bekanntlich Verbrechen gibt (z.B. Mord), die keiner Verjährung unterliegen, hätte man vernünftigerweise mit dem Schweregrad der Gesetzesübertretung oder mit dem im Laufe der Zeit absinkenden Interesse der Gesellschaft an der Verfolgung oder Aufklärung bestimmter, weniger gravierender Straftaten argumentieren müssen und nicht mit einer dubiosen Verdunkelungsgefahr, die der Rechtslage angeblich droht. Immerhin macht der Begründungstext deutlich, dass eine beachtliche Differenz zwischen den Interessen und Ansprüchen von individuellen Opfern und dem Interesse eines Staates besteht, der in erster Linie die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung im Ganzen zu gewährleisten und dabei unter anderem für Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu sorgen hat. Das vorgetragene Argument spricht gewissermaßen Klartext. Es macht etwas offensichtlich, das selten ausgesprochen und zum Gegenstand von Diskussionen erhoben wird, die sich jenseits soziologischer Fachkreise abspielen. Wer den Versuch unternimmt, den Wert des Einzelnen und den Wert von Institutionen miteinander zu vergleichen und die höhere Bedeutung der Institutionen auch nur in Erwägung zu ziehen, rührt in einer Gesellschaft, deren Verfassung die Würde des Individuums

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zum Leitgesichtspunkt des sozialen Lebens erklärt oder gar verklärt, an ein Tabu. Allein schon der vorsichtig geäußerte Gedanke, dass der Schaden, den Institutionen durch die Verfolgung von Straftaten, die einige ihrer Mitglieder unter Ausnutzung ihrer Amtsgewalt begangen haben, unter gewissen Umständen größer sein könnte als das Leid der einzelnen Opfer solcher Taten, gäbe reichlich Anlass für Missverständnisse, Projektionen und Unterstellungen. Arnold Gehlens abgeklärte Behauptung, der Mensch müsse bereit sein, sich von Institutionen, die eine gesellschaftlich unverzichtbare Leistung erbringen, nicht nur schützen, sondern auch verzehren zu lassen,6 ist als wissenschaftliche These eines Soziologen zulässig, vielleicht sogar Karriere fördernd. Als offizielle Maxime, die von Vertretern der Kirchen, der Erziehungssysteme, der politischen Parteien, der staatlichen Behörden usw. ausgegeben würde, wäre sie in einer demokratischen Gesellschaft schwerlich konsensfähig – also nicht normal. In den offiziellen Erklärungen und Bulletins betroffener Institutionen haben stets das Mitgefühl mit den Opfern und die in Aussicht gestellte Abgeltung der Taten einen deutlichen Vorrang vor dem Schutz der Institution und der Schonung von Amtsträgern. Exemplarisch ist das Verhalten des Papstes nach Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in Irland: Am 16. Februar 2010 konnte man in der Tageschau hören und sehen, wie Benedikt XVI. die Pädophilie als eine „Sünde gegen Gott“ bezeichnete und ankündigte, dass er in Kürze einen Brief an die Iren schreiben und Hilfe für die Betroffenen anregen wolle.7 Hinter der mit effektvoller Rhetorik und Gestik zelebrierten moralischen Verurteilung der Taten und der Anregung zur Hilfeleistung blieb die dringliche Frage nach den Ursachen der Geschehnisse verborgen. Und dies war natürlich kein Zufall. Jede innerhalb einer Institution begangene und durch deren Strukturen begünstigte Straftat wirft das gravierende Problem der Zurechnung auf. Gewöhnlich wird dieses Problem dadurch gelöst, dass man die Vergehen wenigen vereinzelten

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Akteuren anlastet. So wurde beispielsweise in einer Erklärung der Pressestelle des Vatikans ausdrücklich von den „Sünden einer geringen Zahl von Priestern“ gesprochen. Dass hier aber nicht nur ein paar sündige Individuen und Außenseiter am Werk waren (und wahrscheinlich weiterhin sind), sondern institutionelle Bedingungen innerhalb der Kirche den Nährboden für sexuellen Missbrauch erzeugten (und weiterhin erzeugen), machte hingegen die Metaphorik deutlich, deren sich der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, der Jesuitenpater Hans Langendörfer, bediente. „Die Enthüllungen zeigen“, so führte er aus, „ein dunkles Gesicht der Kirche, das mich erschreckt. Wir wollen das Thema offen angehen.“ Aber auch Langendörfer beeilte sich, die strukturellen Aspekte, die er mit dem Hinweis auf das „dunkle Gesicht der Kirche“ in den Blick nahm, zu relativieren: „Wir können nicht wollen, dass die christliche Botschaft und die Glaubwürdigkeit vieler kirchlich Engagierter wegen der Verfehlung mancher zugrunde geht.“8 Der vage Ausdruck „mancher“ signalisiert allerdings, dass es sich vermutlich nicht bloß um eine geringe Zahl von Tätern und Vergehen handelt, mit denen man sich wird befassen müssen. Bemerkenswert ist auch Langendörfers Absichtserklärung, das heikle Thema „offen“ anzugehen. Dies widerspricht eindeutig der bislang gängigen Strategie, welche darauf abzielte, interne Lösungen des Problems zu finden und jede Form von Öffentlichkeit zu vermeiden. Uta Ranke-Heinemann hat in einem brisanten Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik vom April 2010 diese Strategie analysiert und einer scharfen Kritik unterzogen. Sie bezieht sich auf zwei vatikanische Geheimschreiben, die sich mit der „Ahndung von Pädophiliefällen“ befassen. Das erste aus dem Jahr 1962 stammt von Kardinal Ottaviani, das zweite aus dem Jahr 2001 wurde von Kardinal Ratzinger verfasst. Beide Texte betonen die „ausschließliche Kompetenz des Vatikans“ für diese Vergehen. Ranke-Heinemann kommt zu dem Schluss: „Nachdem […] Kardinal Ratzinger seit 1981 allen Bischöfen das Geheimschreiben Kardinal Ottavianis von 1962 eingeschärft hatte, verpflichtete er sie 20 Jahre später

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auf sein eigenes Geheimschreiben. Beides mit dem Ziel: nichts aus den Gemäuern der katholischen Kirche nach außen dringen zu lassen.“9 Bei der Behandlung des Falles Lawrence Murphy, also jenes amerikanischen Paters, der zwischen 1950 und 1974 ca. 200 gehörlose Kinder missbraucht hatte, folgte man exakt diesem Skript. In einem Brief vom 6. April 1998 riet Kardinalssekretär Tarcisio Bertone, der wohl wichtigste Mitarbeiter von Papst Benedikt XVI., dem zuständigen Erzbischof von Milwaukee, Rembert Weakland, „von einem sogenannten kanonischen Verfahren gegen den geständigen Täter“ ab.10 Bertone warnte seine Bischofskollegen vor der „immanenten Schwierigkeit, ein solches Verbrechen in einem Verfahren zu ahnden, dessen Durchführung in strengster Geheimhaltung erfolgen muss“. Überdies betonte Bertone „die Schwierigkeit, Beweise und Zeugen beizubringen, ohne den Skandal zu vergrößern“11. Einen schlagenden Beweis für Ranke-Heinemanns These lieferte der Fall Denef. Norbert Denef wurde zwischen 1959 und 1966 von dem katholischen Pfarrer Alfons Kamphusmann missbraucht. Nachdem er viele Jahre später das zuständige Bistum davon unterrichtete und eine Entschädigung verlangte, wurden ihm 25.000 Euro angeboten. „Dem Bescheid über das Geld lag eine Erklärung bei, er solle sich verpflichten, nicht öffentlich über das Geschehene zu sprechen. […] Gegen diese Schweigeklausel hat [Denef] zwei Jahre lang gekämpft. Am Ende wurde sie gestrichen. Das Geld hat er genommen und will damit eine Stiftung gründen, die sich gegen das ‚Verschweigen, Verleugnen und Vertuschen sexualisierter Gewalt‘ einsetzt.“12 Denefs moralische Empörung, seine verschiedenen öffentlichen Aktionen, seine Proteste gegen ‚runde Tische‘, die disparitätisch besetzt sind und die Opfer selbst ausgrenzen bzw. nur durch Stellvertreter zu Wort kommen lassen, sind mehr als verständlich. Andererseits ist die Präferenz der betroffenen Institutionen für eine „interne Lösung“ der Probleme hochfunktional. Man wählt zunächst einmal Formen der Schadensabwicklung und Schadensbegrenzung, die die

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Medien-Öffentlichkeit zu umgehen suchen und auch den Rechtsweg (Anzeigen, Klagen etc.) tunlichst vermeiden. Die Taten sollen nicht allgemein bekannt und diskutiert werden. Und dies aus ersichtlichen Gründen. Die betroffenen Institutionen und die jeweiligen Leitungsgremien befürchten, dass der Ruf der Institution Schaden nimmt und damit auch die soziale Funktion der Einrichtung nicht mehr adäquat erfüllt werden kann. Darüber hinaus sind natürlich auch handfeste, aber ungern beim Namen genannte ökonomische Interessen im Spiel: Jede Rufschädigung bedeutet fast unweigerlich Mitgliederschwund und kann erhebliche finanzielle Einbußen zur Folge haben. Wird dieses wohlkalkulierte und diskrete Vorgehen durch die Publikation der Verstöße und Straftaten durchkreuzt, so kommt es zu offiziellen Stellungnahmen, in denen es primär darum geht, den Opfern durch geeignete Hilfsmaßnahmen oder Entschädigungen gerecht zu werden und gleichzeitig den Verdacht zu entkräften, dass die Vorkommnisse Anlass geben zu Rückschlüssen auf die institutionellen Bedingungen, unter denen die Täter-Opfer-Beziehung überhaupt erst gedeihen konnte. Durchweg sind solche Statements darum bemüht, das fehlerhafte oder kriminelle Verhalten den einzelnen Tätern, deren krankhaften Triebimpulsen und egoistischen Veranlagungen und gerade nicht der Institution zuzurechnen. Wie berechtigt diese Furcht vor öffentlichen Debatten ist, lässt sich seit Monaten an Diskussionsrunden im Fernsehen, an themenbezogenen Zeitungsartikeln und Beiträgen in den aktuellen Formaten der Netzkommunikation ablesen. Die Stoßrichtung der medialen Auseinandersetzungen mit dem Missbrauch speziell in der katholischen Kirche ist leicht erkennbar: Man interessiert sich nicht nur für die Täter und Opfer, sondern auch für skandalöse Vorgänge hinter den Kulissen, für geheime Direktiven und Vertuschungsaktionen. Aber man fragt zudem nach den tieferen Ursachen. In einem bereits am 2. Februar 2010 in der taz erschienenen Artikel mit dem provokanten Titel „Das Schweigen der Lämmer“ gab Bernhard Pötter erste Antworten: „Der Zölibat ist nur ein Symptom, nicht die Ursache.

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Die liegt in der verklemmten Sexualmoral der katholischen Kirche.“13 Pötter verweist auf Eugen Drewermanns umstrittenes Standardwerk Die Kleriker und versucht im Anschluss an dessen tiefschürfende Analysen den Bodensatz der kirchlichen Missbrauchskultur freizulegen. Was er ausspricht, bezeichnet er als ein „offenes Geheimnis“:

„Das Milieu zieht Menschen mit dem Sexleben eines Pubertierenden magisch an. Das sind dann Priester, die von einem Intimleben auf Augenhöhe mit einem Partner (ein Drittel der katholischen Priester gelten als schwul) oder einer Partnerin nur träumen können, für die eigene sexuelle Erfahrungen immer mit Schuld und Heimlichkeit verbunden sind. Und der Priestermangel führt dazu, dass manche Bistümer offensichtlich ungeeignete Kandidaten zu Priestern weihen.“14 64

Diese und ähnliche Argumente bzw. Herleitungen wurden von Seiten der Kirche gelegentlich mit der These gekontert, dass nicht etwa die kirchliche Triebunterdrückung pathologische Effekte zeitige, sondern vielmehr die exzessive Sexualisierung der Gesellschaft seit den 1960er-Jahren: Enthemmung und Enttabuisierung der Sexualität habe auf die schwächsten, sittlich nicht völlig gefestigten Mitglieder der Priesterschaft einen verheerenden Einfluss ausgeübt und sie zu ihren sündhaften Taten verführt. Die von der Kirche gehegte menschliche Scheu und Zurückhaltung in sexuellen Belangen sei durch die Medien- und Spektakelgesellschaft untergraben worden. In letzter Instanz trügen mithin die ‚bösen‘, alle sexuellen Tabus durchbrechenden Kräfte der spätmodernen Gesellschaft und namentlich die Protagonisten einer entfesselten Sexual-Aufklärung – Kinsey, Kolle und Konsorten – die Verantwortung. Bemerkenswert an dieser simpel gestrickten Argumentation ist eigentlich nur, dass man die Zurechnung der Taten auf wenige Einzeltäter hier durch eine tiefer gelagerte und grundsätzlichere Schuldzuweisung unterfüttert oder gar ersetzt. Denn ‚das Böse‘ wird nicht mehr allein im Individuum,

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genauer: in der sexuellen Hörigkeit des einzelnen Menschen, verortet, sondern in einer übergreifenden sozialen Struktur und dem ihr korrespondierenden ‚Zeitgeist‘. Im Kontrast zu dieser inzwischen längst abgeklärten Sexualaufklärung kann sich die Kirche als legitime Macht einer kontemporären Gegenaufklärung ins rechte Licht setzen; einer „Gegenaufklärung […] im strengen Sinne“, die – wie Botho Strauß in seinem Essay „Anschwellender Bocksgesang“ erklärt hat – „immer die oberste Hüterin des Unbefragbaren, des Tabus und der Scheu sein [wird], deren Verletzung den Strategien der kritischen Entlarvung lange Zeit Programm war.“15 Freilich ist das Problem des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche nicht erst unter den epochalen Bedingungen der sogenannten sexuellen Befreiung virulent geworden. In seinem Theaterstück Das Liebeskonzil thematisierte Oskar Panizza schon 1895 den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und erregte derart großes Aufsehen, dass er die Publikation seiner als gotteslästerlich beurteilten Szenenfolge mit einer Gefängnisstrafe büßen musste. Der Umgang der katholischen Kirche mit Delikten, die einen Image-Schaden für die gesamte Institution nach sich ziehen können, ist ein markantes Beispiel dafür, dass gesellschaftliche Einrichtungen, die eine spezielle Funktion erfüllen und den Charakter von Organisationen mit eigens ausgewählten Mitgliedern haben, es durchweg vorziehen, aufgetretene Probleme intern zu lösen.16 Das gilt in erhöhtem Maße für Regelverletzungen, die mit dem Grad der Ausdifferenzierung und Abschottung der jeweiligen Institution in Zusammenhang stehen. Die Abwendung von Image-Schäden ist jedoch nicht der alleinige Grund für die Präferierung interner Ermittlungen und Problemlösungen. Zu beachten ist auch folgender Tatbestand: Typisch für Institutionen, die innerhalb der Gesellschaft eigene Bezirke und Lebenswelten bilden, sind oft ungeschriebene Codes, Verhaltensmaßregeln und Sanktionsmechanismen, die mit den offiziell gültigen rechtlichen Bestimmungen (und moralischen Normen) nicht übereinstimmen. Dieser Sachverhalt gehört

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gleichsam zur Normalität sozialer Prozesse17 und liefert immer wieder Stoff für Skandale und oft auch Anlass für externe Eingriffe, die strukturelle Reformen durchführen und neue Kontrollinstanzen etablieren sollen. Entsprechende Fälle und Skandalgeschichten lassen sich in großen Mengen beibringen. Nicht nur typische ‚geschlossene Institutionen‘ wie Klöster18 und Internate, sondern auch militärische Einrichtungen, Behörden, Schulen, Pflegeheime, Werkstätten für Behinderte, Universitäten, Firmen, Banken etc. sind wahre Fundgruben für Verhaltensweisen, die innerhalb der jeweiligen Institution anders bewertet werden als außerhalb: Oft gehört intern etwas zur Normalität, was außerhalb verpönt ist, und zuweilen wird sogar durch ‚ungeschriebene Gesetze‘ intern etwas geboten, was extern streng verboten ist. Für Phänomene wie Folterungen, Misshandlungen, grausame Initiationsrituale, sexuelle Übergriffe, Mobbing, Überwachung, Bestechung, Unterschlagung, Plagiate, Fälschungen usw. existieren in den unterschiedlichen Institutionen je eigene Beurteilungsmaßstäbe und spezielle Vorstellungen über eine nützliche, dem Geist der Institution angemessene Behandlung oder Ahndung der (auf welche Art auch immer) publik gewordenen Fälle. Man stößt deshalb bei gründlicher Untersuchung zumeist auf zwei Typen von Sprechakten: zum einen auf die offiziellen, für Außenstehende vorgesehenen Beschreibungen, Bewertungen, Rechtfertigungen, Entschuldigungen etc., zum anderen auf die internen, nur für den engen Kreis der Zugehörigen bestimmten Darstellungen. Allein die reale Praxis liefert Auskunft über die wahre Geltung der hier und dort gesprochenen Worte. So gilt etwa innerhalb der katholischen Kirche der Kindesmissbrauch – trotz anderslautender Äußerungen hoher Stellen – als eine eher lässliche Sünde. Der geständige und Reue bekundende Täter darf mit Gnade rechnen. Er wird nur versetzt, nicht etwa exkommuniziert und der weltlichen Gerichtsbarkeit übergeben. Dies mag – wenn es sichtbar und medial verbreitet wird – Empörung auslösen, aber erstaunlich und unbegreiflich ist es nicht.

Das Leid des Einzelnen und der Wert der Institutionen Dass die Opfer sich wehren und ihre Abwertung durch die Institution nicht hinnehmen, sich also nicht lammfromm aufopfern für deren Nimbus, schürt den Konflikt und stellt dem Wert der Kirche den Wert der leidenden Individuen entgegen. Der offene Kampf dieser zwei Werte begann 2010 und er ist noch längst nicht beendet – wie die aktuellen Verlautbarungen aus Pennsylvania belegen. Tragisch war er bislang nur für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Ob er auch den Untergang der Kirche in ihrer jetzigen Gestalt zur Folge haben wird, muss sich erst noch erweisen.

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Lutz Ellrich

Endnoten

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Besonders wirkungsvoll war jene Aktion, mit der Klaus Mertes die Vorfälle am Berliner Canisius-Kolleg publik machte. Am 28. Januar 2010 schrieb der Rektor dieses von Jesuiten betriebenen Gymnasiums einen Brief an 600 ehemalige Schüler des Kollegs und informierte sie darüber, dass „bis in die neunziger Jahre hinein Schüler des Kollegs systematisch sexuell missbraucht wurden.“ (Mattias Drobinski: Die Konsequenz, in: Süddeutsche Zeitung, 12.8.2010, S. 3). Hans Jürgen Jakobs: Strip Poker beim Lehrer. Sexueller Missbrauch und kein Ende, in: Süddeutsche Zeitung, 13.3.2010 (Online-Version: sueddeutsche.de). F. Heckenberger, K. Prummer und D. Stawski: 2500 Opfer suchen Hilfe. Missbrauchsbeauftragte Bergmann: Kirche soll zahlen, in: Süddeutsche Zeitung, 22.9.2010, S. 8. Barbara Hans: Scham fressen Seele auf, in: SPIEGEL ONLINE, 12.2.2010. S. 1 von 3. Zitiert nach ebd., S. 2 von 3. Vgl. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, Teil I: Institutionen. Vgl. die nähere Beschreibung und Interpretation dieser Szene bei Ute Ranke-Heinemann: „Man sah die Bischöfe an einem großen Tisch mit dem Papst zusammensitzen und ‚reuig‘ Rat beim heiligen Vater suchen. Der Papst betonte die besondere Verabscheuungswürdigkeit der Pädophilie […]. Die ‚reuigen‘ Bischöfe stimmten in allem zu. Der Fernsehzuschauer hatte […] keineswegs den Eindruck einer ernsten Aussprache, sondern eher den eines gemütlichen Kaffeetrinkens unter Freunden, auf dem Tisch fehlte nur der Kuchen: Kurzum: Die Szene in den Nachrichten passte nicht zu einem Bußgang von sündigen Bischöfen, denen der Papst die Leviten liest.“ (Papst Benedikt und die große Täuschung“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2010, S. 43–50, hier: S. 43). Zitiert nach WELT ONLINE: „Fast 100 Kirchenmitarbeiter unter Verdacht“, 6.2.2010. Hervorhebung vom Autor. Ute Ranke-Heinemann: Papst Benedikt und die große Täuschung, S. 43. Patrick Schwarz: Geheimprotokoll belastet wichtigsten Mitarbeiter des Papstes, in: ZEIT ONLINE, 5.4.2010, S. 3 von 5. Ebd., S. 4 von 5. Barbara Hans: Scham fressen Seele auf, S. 2 von 3. Ein aufschlussreiches Beispiel für Abwiegelungskünste erwähnt Barbara Hans in einem weiteren Artikel zum Thema: Ein Missbrauchsopfer, das sich mit Briefen an „Würdenträger der Kirche“ wandte, erhielt u.a. eine Antwort mit folgendem Text: „Vielen Dank für Ihr Schreiben, Ihr Schicksal bewegt uns, die besten Wünsche für Ihre Gesundheit – und Gottes Segen.“ (Barbara Hans: „Ich verwalte meinen Körper nur noch“, in: SPIEGEL ONLINE, 25.2.2010, S. 2 von 4). Bernhard Pötter: Das Schweigen der Lämmer, in: taz, 2.2.2010

Das Leid des Einzelnen und der Wert der Institutionen (Online-Version, S. 1 von 3). 14 Ebd., S. 2 von 3. 15 Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang, in: Heino Schwilk/ Ulrich Schacht (Hrsg.): Die selbstbewußte Nation, Frankfurt a. M. 1996, S. 19–40, hier: S. 35f. 16 Vgl. u.a. die TV-Dokumentation: Sünden an den Sängerknaben von Mona Botros (ARD, 7.1 2015). 17 „Modernen Gesellschaften bleibt nichts anderes übrig, als ein Schattenreich der Inoffizialität, der latenten Regelung auszudifferenzieren und zugleich abzudunkeln. Würde diese Schattenwelt insgesamt erhellt, dann würden Gesellschaften wegen Zuvielwissens über sich selbst handlungsunfähig – genauso wie Individuen, die jede Regelung bewusst regeln wollten.“ (Karl Otto Hondrich: Enthüllung und Entrüstung, Frankfurt a. M. 2002, S. 43). 18 Vgl. die exemplarische Studie von Bastian Obermayer, Rainer Stadler: Bruder, was hast du getan? Kloster Ettal. Die Täter, die Opfer, das System, Köln 2011.

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Verfall der Werte? Zum Zusammenhang subjektiver und gesellschaftlicher Skripte

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Sind die Demonstranten von Pegida, die Wähler von Le Pen und Trump furchtsam? Es scheint so. Sie fürchten sich, so heißt es, vor Muslimen und Fremden generell, vor dem Euro und vor der Zukunft. Aber vielleicht ist auch eine andere Deutung des Phänomens des Rechtspopulismus berechtigt. Womöglich sind seine Vertreter hoffnungsvoll. Sie haben den Eindruck, dass sie endlich mit ihren Vorstellungen von Volksgemeinschaft, Rassenreinheit, Geschlechterordnung und Kameralwirtschaft durchdringen könnten. Endlich, so öffnet der Zeitgeist ein Fenster, kann das dem linksliberalen Gender- und Diversitymainstream politisch Inkorrekte offen kritisiert werden, können dessen Tabus gebrochen werden, die dem rechten Denken schon lange am Herzen liegen: Waffen für alle, Auslese der Besten, endlich darf man sagen, dass man schon Kennedy töten wollte, dass die Juden am Holocaust selbst schuld waren und ob es ihn überhaupt gab, kann man laut die jeweilige Nationalhymne singen, am besten schon morgens vor dem Unterricht. Hoffnung also, keine Furcht. Wenn wir die Welt so sehen, als ambivalenzgesteuerte Bühne für Furcht und Hoffnung, dann treten noch andere Hoffnungsbilder auf: Der Salafist hofft auf eine Welt ohne Bilder und irritierende Kulturpraktiken, auf eine männliche Bart- und eine weibliche Niqabmode, auf ein Kalifat mit göttlicher Ordnung. Die Queeraktivistin hofft auf eine Welt ohne Männlichkeit und Weiblichkeit, in der alles geht und nichts sich scheuen muss. Der Putinist hofft auf eine Welt slawisch-orthodoxer Ewigkeit, in der Stärke etwas gilt. Die Degrowth-Kämpferin hofft auf eine Welt ohne Empire, kapitalistische Globalisierung und Wachstumswahn. Was der eine erhofft, befürchtet die andere. Für die, für die Vernunft den Werthorizont definiert, ist die Antwort zwar nicht einfach, aber klar: Wir brauchen Verfahren, die die Stakeholder so unterschiedlicher Hoffnungen und Befürchtungen auf einen Prozess der inneren und äußeren Mediation verpflichten. Philosophen würden von Deliberation

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sprechen, von Verhandlung, Kommunikation und Diskurs. Wenn Links- und Rechtsextreme, Tiefgläubige und überzeugte Atheisten miteinander auskommen sollen, sind klare Umgangsregeln nötig, deren Verletzung energisch sanktioniert werden muss. Aber können die Protagonisten solch konflikthafter Hoffnungen und Befürchtungen überhaupt etwas dafür? Entscheidet man sich zum Salafismus oder Feminismus? Die Frage, ob Hoffnung und Furcht Motive der Zukunftsgestaltung sind, legt nahe, dass auch unsere starken Überzeugungen die Folge von Wahlhandlungen sind. Sind wir also frei zur Furcht und frei zur Hoffnung? Ich möchte diese Fragen aus Sicht der Zukunftsforschung diskutieren. Es ist kein ganz einfaches Terrain, was wir durchmessen werden, auch deshalb, weil es uns ganz persönlich betrifft. Wir alle wissen, dass die Frage, ob ein Glas halb voll oder halb leer ist, ob wir optimistisch oder pessimistisch auf die Welt schauen, sowohl eine Charakter-, eine Habitus-, als auch eine Stimmungsfrage ist. Nicht immer ist man guten Muts, nicht immer passt der melancholische Tango.

Hoffnung als Prinzip Wir wissen, dass das von Ernst Bloch in den 1940er-Jahren untersuchte und beschworene „Prinzip Hoffnung“ vom Messianismus apokalyptischer Religionen bis zum Utopismus der Linken einen gewaltigen Veränderungswillen motivierte. Die Hoffnung auf ein besseres Morgen hat die Menschheit begleitet und für Gewaltiges begeistert. Am Ende des ersten Bandes seines mitten im Großen Krieg geschriebenen Buches wird wuchtig gehofft: „Die Menschen wie die Welt tragen genug gute Zukunft; kein Plan ist selber gut ohne diesen gründlichen Glauben in ihm.“1 Am Ende des zweiten Bandes werden Freiheit und Muße dazu gestellt: „Wirkliche Muße lebt einzig vom jederzeit gewärtigten, zu guter Zeit vergegenwärtigtem Selberseins- oder Freiheits-Inhalt in einer gleichfalls unentfremdeten Welt; erst darin kommt Land.“2 Und dann, am Ende

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des großen Essays gegen die Hoffnungslosigkeit, wird das innerweltliche Jerusalem gekannt:

„Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“3

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Als ich jenen Text zum ersten Mal las, im Jahr 1979, als junger Student in Tübingen, kritisch fleißig unterstreichend und anmerkend, auf dem Weg von und nach Israel, zu den dortigen Kibbuzim, den einzigen wirklichen Sozialismen auf Dauer, da ahnte ich schon: Eine Heimat ohne Menschen, in der niemand war, ist ein gefährlicher Traum. Meine Freunde, voll revolutionärer Inbrunst, Besetzerdrang und Protestlust, die sich an Bloch, Bakunin und Marx ergötzten, schienen mir dann fern, auch wenn ich mit ihnen lebte, kochte, reiste. Blochs linkes, gedankenvolles Tagträumen vermochte auch den säkularen oder besser: den gottlos Liebenden Zukunft einzusäen, dass es weitergeht trotz Vietnam, Biafra, kalten Kriegen, dem Hunger in der Welt, der Traurigkeit des Holocaust. Aber wohin genau die Hoffnung führt, die Zukunft hoffen lässt, das blieb erstaunlich dunkel. Doch es gab noch andere Wege, schon immer, auch für mich damals, in der frühen Zeit des Erwachsenwerdens. Ich wollte Psychoanalytiker werden und ich wollte ein guter Mensch sein oder werden. Ich wusste, da wäre noch einiges zu klären, vor allem die Frage: Wie halte ich es mit der Religion, keine Frage, eine Feststellung. Sie prägte meine Kindheit und Jugend, aber sie war beim Denken zunehmend hinderlich geworden, zu kindlich. Es brauchte Zeit, die eigene Vaterschaft, um jene Kindlichkeit abzulegen ohne das Wie-ein-Kind-Sein zu verlieren.

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Wir wissen vom großen Paulus-Wort, jenem Satz aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die Liebe aber ist die größte unter ihnen.“ (1. Korinther 13,13) Hoffnung auch hier, die Liebe stellen wir erst einmal zurück, sie wird noch zum Schlüssel. Hoffnung, das heißt: etwas Trauriges, Belastendes, Elendes muss nicht bleiben, es wird nicht bleiben! Uns wird geholfen werden. Durch den Aufstand, an dem wir uns beteiligen. Durch das Schicksal, das es hoffentlich gut mit uns meint. Durch Gott, der uns führt. Ohne Zukunftswillen stehen wir morgens nicht auf. Ohne Zukunftshoffnung freuen wir uns nicht darauf. Wir sind involviert. Wie wir die Frage nach der Glasfüllung beantworten, neigen wir auch dazu, die Antworten der anderen zu bewerten. Nur selten liebt der Pessimist die Gesellschaft der Optimisten und umgekehrt. Wir halten uns an unseresgleichen. Aber was wissen wir darüber? Gibt es Forschungsergebnisse zur Zukunftssicht? Hat die Zukunftsforschung etwas zur Zukunftsgestaltung, zur Nahrung von Hoffnung beizutragen? Ist eine gestaltete Transformation zu einem künftigen, besseren Zustand auf wissenschaftlicher Basis denkbar?

Vier Methoden der Zukunftsforschung Betrachten wir zunächst die empirische Zukunftsforschung, die mit Megatrend-Analysen, Szenarien, Roadmaps und Stakeholderpartizipation die Grundlage für alle Transformationsreflexionen legt.4 Diese vier Methoden der Zukunftsforschung verdienen durchaus mehr Bekanntheit. Machen wir uns ein wenig mit ihnen vertraut und seien wir aber auch nicht zu enttäuscht, wenn nicht immer alles ganz präzise erscheint. Starten wir mit dem Konzept „Megatrend“. In der Zukunftsforschung wird darunter ein globaler, alle oder möglichst viele Lebensbereiche durchdringender, mindestens seit einer Generation wirksamer Prozess des sozialen und bzw. oder technologischen Wandels verstanden. Was so ubiquitär geschieht, so die Annahme, hat einen Drive, eine Dynamik

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und wird auch in Zukunft wirksam. Der Begriff Megatrend wurde in den 1980er-Jahren von John Naisbitt verbreitet, eher journalistisch-beraterisch gefüllt und wird bis heute auch so verwendet. Die Zukunfts-Beratungsagentur „Z_Punkt“ aus Köln listet beispielsweise gleich 20 Megatrends auf, darunter so kategorial verschiedene und begrifflich unpräzise wie „Neue Mobilitätsmuster“, „Lernen von der Natur“, „Business-Ökosysteme“, „Neue Stufe der Individualisierung“ oder „Demografischer Wandel“.5 Es ist daher nicht verwunderlich, dass in der seriösen Forschung zu sozialem und technologischem Wandel das Konzept „Megatrend“ praktisch nicht auftaucht. Damit arbeitende Trendforscher wie „Z_Punkt“ oder der medial präsente Matthias Horx gelten in der akademischen Zukunftsforschung mit ihren Fachgesellschaften, wie dem „Netzwerk Zukunftsforschung“6, und ihren Zeitschriften, wie dem „European Journal of Futures Research“7, eher als Journalisten oder Unternehmensberater. Reinhold Popp, einer der Herausgeber dieser Zeitschrift, schimpfte deshalb: „Ein wesentlicher Teil der in der heutigen populärwissenschaftlichen Zukunftsliteratur spektakulär als ‚neue‘ Ergebnisse der Zukunftsforschung dargestellten Megatrends wurde (…) bereits vor sechs bis sieben Jahrzehnten – viel weniger spektakulär – als plausible gesellschaftliche Entwicklungstendenzen publiziert.“8 Dennoch hat das Konzept „Megatrend“ einen zumindest heuristischen Sinn. Die soziologische Forschung zum sozialen Wandel hinterlässt auch nach weit mehr als 100 Jahren Empirie die große Lücke der Zukunft. Vor allem nach dem Zweiten der Weltkriege entstand auch aus dem Bedürfnis nach einer Prognostik, nach einer wissenschaftsbasierten Planung die Zukunftsforschung als Disziplin. In einer brillanten Arbeit hat die Zeithistorikerin Elke Seefried die Geschichte dieser Disziplin im Zeitraum 1945 bis 1980 rekonstruiert.9 Den Zukunftsforschern von Hermann Kahn bis Robert Jungk ging es gleichermaßen um die Hoffnung auf ein besseres Lesen wie um die Vermeidung einer atomaren Weltvernichtung. Die vielleicht wirksamste Megatrend-Analyse legte das Ehepaar Meadows im Jahr 1972 mit der Studie

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Grenzen des Wachstums vor. Sie wurde im Auftrag des „Club of Rome“ erstellt und von der Volkswagenstiftung mit damals einer Million DM finanziert.10 Das zweite Konzept der Zukunftsforschung, die Szenarioanalyse, ist nur methodisch originell. Denn das Denken in Szenarien, das Gedankenexperiment des „Was-wäre-wenn“, ist in Literatur, Theater und Film alt. Peter Fonagy hat den „Alsob-Modus“ als eine zentrale Kompetenz der Mentalisierungsentwicklung des Kindes beobachtet, als „Playing with Reality“ zwischen dem 18. Lebensmonat und dem Alter von vier Jahren. Unter dem Als-ob-Modus wird ein Zustand verstanden, in dem die Realität suspendiert, geradezu aufgehoben wird.11 Szenarien sind ein wissenschaftlich systematisierter Als-obModus. Wir kennen sie aus der Demographie und der Versicherungsmathematik. Bevölkerungsprognosen operieren mit Szenarien. Zwar wissen wir schon heute ziemlich genau, wie viele in Deutschland geborene über 70-Jährige im Jahr 2089, also in 70 Jahren, in Deutschland leben werden: sicher weniger als heute. Doch so wenig man vor 70 Jahren etwas von der Antibabypille wusste, wissen wir heute vielleicht vom Erfolg der Lebensverlängerungspillen, von der Öffnung oder Schließung der Grenzen, dem Einschlag des Asteroiden oder dem Atomkrieg im allzu Nahen Osten. Szenarien simulieren solche Entwicklungspfade, hoffnungsvolle wie fürchterliche, bisweilen mit statistischer Eleganz und starken, gut begründeten Annahmen, bisweilen freilich auch, wie im letzten Bericht an den Club of Rome, den der damalige Assistent der Meadows‘, Jørgen Randers, verantwortet, mit absonderlichen Männergedanken: So soll der aus Sicht der Autoren hoffnungsvolle Nach-Wachstums-Zustand auch dadurch erreicht werden, dass jede Frau mit nur einem oder keinem Kind eine Summe von 80.000 Dollar erhält, „sobald sie 50 Jahre alt ist“; dieser „Bonus“ wäre „eine Wertschätzung derer, die dazu beitragen, dass die Menschheit verantwortungsvoller mit der Erde umgeht“12. Man kann solche Gedanken nur so verstehen: Wer Kinder in die Welt setzt, ja, wer selbst ein Kind ist, geht nicht verantwortungsvoll mit der Erde um.

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Szenarioanalysen mit wissenschaftlich derart unlogischen und ethisch fragwürdigen Annahmen sind nicht neu. Auch Vertreibungen und Ermordungen von Minderheiten wurden meist generalstabsmäßig geplant, Kriege praktisch immer. Der Wirtschaftspsychologe und Kahnemann-Kollege Philip Tetlock hat in seinem lesenswerten Buch Superforecasting. Die Kunst der richtigen Prognose die Kunst des Forecasting, der Voraussage, wohl erstmals auf der Mikroebene empirisch untersucht. Die erfolgreichsten Probanden, die „Superprognostiker“ zeichneten sich vor allem durch zwei Eigenschaften aus: Sie aktualisieren ihre Vorhersagen häufiger und vor allem aktualisieren sie ihre Überzeugungen.13 Prognosen, die in Szenarien systematisiert werden, sind schwierig, aber nicht unmöglich. Die dritte Methode, die Entwicklung von „Roadmaps“, ist nur noch am Rande eine Methode der Zukunftsforschung, eher eine Methode der Zukunftsgestaltung, die vor allem in frühen Innovationsphasen der Technikentwicklung zunehmend eingesetzt wird. Roadmaps sind eine Art Landkarte in der Zeit, ein Planungsinstrument, das ein äußerst breites Spektrum interner und externer Entwicklungen systematisiert: „Roadmaps liefern Darstellungen über den Stand der Produkte, der Technik oder von Technologien in einem Innovationskontext zu einem bestimmten Zeitpunkt und über die Art, Geschwindigkeit und Richtung möglicher Forschungs- und Technologieentwicklungen. Somit sind Roadmaps ein Instrument der Vorausschau (Foresight).“14 Dem Roadmapping vergleichbare Suchverfahren aus dem Bereich des corporate oder political Foresight sind beispielsweise die Suche nach „schwachen Signalen“ im Rahmen des „Horizon Scanning“, aber auch die Methode der Delphi-Befragungen, einer komplexen Befragung meist von Experten in mehreren, aufeinander aufbauenden Wellen. Die führt zur vierten Methode, der „Stakeholderpartizipation“. Sie ist im Grunde uralt, die afrikanische Tradition des „Palavers“ gehört ebenso dazu wie der neuzeitliche Korporatismus, die Regierung durch Verbände, bei der möglichst viele Interessen schon frühzeitig in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Neu ist auch hier die wissenschaftliche

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Systematisierung, ob durch erziehungs- und bildungswissenschaftliche Theorie und Empirie wie bei der Methode der „Zukunftswerkstätten“ oder auf sozialwissenschaftlicher Grundlage wie ein „Stakeholder-Panel Technikfolgenabschätzung“ und andere Formen der Diskursanalyse.15 Nach der eher technokratischen Phase der Zukunftsforschung hat sich seit den 1970er-Jahren zunehmend die Forderung nach Selbstermächtigung, nach realer Demokratie artikuliert, wenngleich ganz sicher noch nicht durchgesetzt. Die Beteiligung möglichst aller Stakeholder bei Erforschung und Gestaltung von Zukunft folgt auch einer humanwissenschaftlichen Erkenntnis der letzten Jahrzehnte: dass wir Menschen in jeder Hinsicht auf soziale Netzwerke angewiesen sind, dass wir durch sie erst zu den Menschen werden, die wir sind. Soziale Netzwerke können Depression im Alter verhindern,16 sie unterstützen in der Wahl zwischen Hoffnung und Furcht die Hoffnung. Die meisten Menschen sind nicht gern allein, jedenfalls wollen sie Gesellschaft und Bindung selbst entscheiden. Die Methode Stakeholderpartizipation folgt dieser anthropologischen Realität: Soziale Zukunft entsteht durch Kommunikation.

Theorie der Zukunft Die vier exemplarisch präsentierten Methoden der Zukunftsforschung – Megatrend-Analyse, Szenariotechnik, Roadmapping und Stakeholder-Partizipation – sind wie Methoden stets in Verbindung mit einem Gegenstandsbereich die Basis jeder Disziplin. Doch ohne Theorie, ohne Epistemik, wäre Wissenschaft eher Kunsthandwerk, wären wir weit von der Wissensgesellschaft der Gegenwart entfernt. Was aber ist Zukunft, theoretisch betrachtet? Wie lassen sich die drei großen Ideen von Zukunft – die Utopie, die Dystopie und die Heterotopie – epistemisch begreifen? Diese drei Ideen changieren um die Polarität von Hoffnung und Furcht. Die Utopie ist der hoffnungsvolle Nicht-Ort. Utopien, so die vor allem literaturwissenschaftlich engagierte Utopieforschung,17 sind auch deshalb Nicht-Orte, weil sie häufig auf eine Zeitachse

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verzichten, sie können gleichzeitig mit dem Leser auf einer fernen Insel existieren, wie das Utopia, das Thomas Morus 1516 beschreibt, eine sozialreformerische Denkschrift „Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“, so die Übersetzung des lateinischen Titels. Dystopien wiederum sind zukunftspessimistische Beschreibungen einer Welt, die man nur fürchten kann, diktatorisch, gewaltsam, verroht, sie finden sich in Filmen wie Minority Report und in Romanen wie Aldous Huxleys Schöne neue Welt. Der dritte Zukunftstypus, die Heterotopie, ist sicher am unbekanntesten. Michel Foucault hat den Begriff bekannt gemacht. Heterotopien, so Foucault, seien „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“18 Utopien, Dystopien und Heterotopien sind offensichtliche Konstruktionen, sprachliche, mentale Früchte der Bemühung zwischen Hoffnung und Furcht eine Idee von Entwicklung, von Zukunft zu platzieren. Wie lässt sich diese bewegliche Zukunft jenseits der Literatur, der Versprachlichung erforschen? Aus Sicht des kritischen Rationalismus, der mit dem Philosophen Karl Popper verbundenen positivistischen Perspektive, können wir gar nicht über Zukunft sprechen, nur über die gegenwärtigen Vorstellungen von Zukunft. Armin Grunwald, der derzeit vielleicht bedeutendste Technikfolgenforscher, hat vor diesem Hintergrund die Zukunftsforschung sehr nüchtern gestutzt:

„(1) Zukunft ist etwas Erforschbares (…); (2) der Begriff der Zukunftsforschung hat daher seinen Sinn; (3) die erforschbare Zukunft ist jedoch keine Gegenwart einer zukünftigen Zeit, sondern Teil der heutigen Gegenwart; (4) Zukunftsforschung ist daher keine Wissenschaft von ‚der‘ Zukunft, sondern von ihren je gegenwärtigen Konstruktionen.

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(…) Zukunftsforschung erforscht nicht künftige Gegenwarten, sondern die Bilder, die wir uns heute von ihnen machen. Zukunftsforschung erforscht bestimmte Aspekte der Gegenwart.“19

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Grunwalds Überlegungen klingen plausibel. Sie operieren auf der Grundlage einer linearen Zeit, die anfing und weitergeht, die jedenfalls weder zyklisch noch gegenläufig gedacht wird. Womöglich ist diese Annahme zu rigide. In seinem Buch-Essay Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen diskutiert Rüdiger Safranski, des mythischen und mystischen Denkens lange Zeit unverdächtig, auch jene „unmodernen“ Zeitkonzeptionen aus einer Zeit vor der Uhr, vor allem der Atomuhr.20 Der Managementforscher Claus Otto Scharmer lenkt in Theorie U den Blick auf die „entstehende Zukunft“, von ihr her solle viel mehr gedacht und geführt werden, er plädiert für eine „Aktionsforschung“ in der Folge Kurt Lewins, für das Ernstnehmen schöpferischer Prozesse und für das „Sehen“ einer möglichen Zukunft durch eine Pflege der Intuition. Dabei helfen, so begründet und belegt er anschaulich, gerade jene alten und doch hochmodernen sozialen und psychologischen Techniken wie die Meditation in der konfuzianisch-buddhistisch-daoistischen Tradition und die goetheanistische Methode, mit der Rudolf Steiner eine Brücke zwischen östlichem und westlichen Denken baute.21 Kommt tatsächlich Zukunft auf uns zu, ist alles womöglich etwa schon da, was wir noch gar nicht sehen können, oder ist es gleichzeitig da, ist die lineare Zeit nur ein Konstrukt? Das ist sicher die schwierigste Frage der Zukunftsforschung. Denn gilt das lineare Zeitmodell überall und immer, dann hat Grunwald mit Popper recht: Zukunftsforschung wäre ausschließlich Gegenwartsforschung. Zyklische und retardierende Zeiten finden wir in Science-Fiction- und anderen Filmen, aber kein Messinstrument hat sie beobachtet. Gleichwohl: Die Kosmologie, die Teilchen- und die Astrophysik und andere Pioniere der Sciences, der harten Wissenschaften mobilisieren gewaltige Ressourcen in Politik

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und Wirtschaft, um mit Beschleunigern wie dem Genfer CERN auch dem Zeiträtsel auf die Spur zu kommen. An dieser Stelle mag genügen, etwas Unsicherheit, eine fragende, forschende Haltung zu evozieren. Denn seien wir ehrlich: Zyklische und retardierende Zeitvorstellungen mögen für den einen voller Hoffnung sein – wir können uns noch einmal reinkarnieren, noch einmal leben und dann aber, gewitzt durch das leicht misslungene Leben, das wir gerade führen, auf jeden Fall besser, karmisch zutreffender, befreiender. Für die andere mag die Ergänzung der linearen Zeit freilich ganz fürchterlich nach Dämonen klingen, nach Rausch, Traum und Wahn, nach einer großen Verlustgeschichte der Moderne, die wir doch gerade erst erreichten und verstehen.

Verfall oder Aufstieg von Werten

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Wenn wir heute, im adoleszenten Beginn des 21. Jahrhunderts, über Existenz und Wirkung der Ambivalenz von Hoffnung und Furcht und über Verfall und Aufstieg von Werten im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft nachdenken, dann scheinen wir in das Auge eines Hurrikans zu blicken: Um uns herum tost die Welt und hier, während des Nachdenkens, ist die Ruhe trügerisch. Carolin Emcke sagte in ihrer über weite Strecken nachdenklichen und nachdenkenswerten Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche einen Satz, der jenes Hurrikan- und Vulkanerleben prägnant fasst und auf den ersten Blick ganz hoffnungsvoll klingt:

„Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese zunehmend verrohende Welt. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können, was uns hinterlassen wurde, befragen, ob es gerecht genug war, wir können, was uns gegeben ist, abklopfen, ob es inklusiv und frei genug ist – oder nicht. Wir können neu anfangen und die alten Geschichten weiterspinnen wie einen Faden Fesselrest, der heraushängt, wir können verschiedene Geschichten zusammenweben und

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eine andere Erzählung erzählen, eine, die offener ist, leiser auch, eine, in der jede und jeder relevant ist.“22

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Das klingt frei, freiheitssuchend, anerkennend auch den, der und die jetzt noch draußen ist, klein gehalten, gedemütigt. Der Satz, den ich aber meinte, ist der erste der zitierten Passage und eigentlich sind es nur vier Worte, die mich stolpern ließen: „diese zunehmend verrohende Welt“. Ist das wirklich so? Ist die heutige und die absehbar künftige Welt wirklich verrohter als die Welt, die war? Emcke weiß von der rohen Gewalt. Als sie 2014 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung den JohannHeinrich-Merck-Preis entgegennahm, dankte sie mit einer ausführlichen Beschreibung des IS-Videos der Ermordung des amerikanischen Journalisten James Foley.23 Das ist fürchterlich zu sehen, zu lesen, zu empfinden, nicht nur die Ermordung, auch die Demütigung, mit der er gezwungen wird nicht nur die US-Regierung, sondern auch seinen Bruder, einen Soldaten der US-Army, als eigentlich Schuldige seiner gleich anstehenden Ermordung auszusprechen. Aber ist das wirklich „zunehmend verrohend“? Waren die Massenmorde der Nationalsozialisten, die Tötungskampagnen Stalins, der Zynismus der Kulturrevolution Maos, die Lager Nordkoreas, die kolonialen Ausrottungen, war all das nicht noch roher? Als Soziologe möchte ich die Tatsachen sprechen lassen und nicht nur das konstruktivistische Bild, das ich mir, das andere sich von den Tatsachen machen. Der kanadische Evolutionspsychologe Steven Pinker hat in seinem wuchtigen Werk Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit empirisch zu belegen versucht, warum Gewalt und Verrohung mit der Moderne abund gerade nicht zugenommen haben.24 Eine derart optimistische Weltsicht muss natürlich infrage gestellt werden. Sie widerspricht der Intuition oder besser: dem Vorurteil vieler Zeitgenossen, nach der es im Falschen, also im Kapitalismus, eben nichts Richtiges geben könne. Ein Evolutionspsychologe hätte besser ein Team von Historikern und Anthropologen um sich geschart, um dem Vorwurf allzu lockerer Quellenarbeit zu

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entgehen. Doch Pinkers Grundannahmen scheinen empirisch durchaus plausibel. Hoffnung ist keineswegs falsch oder blind. Carolin Emcke wurde für ihre Rede zumeist gelobt. Meine Kritik entzündet sich am Stolpern über den Grund der Hoffnung, für die sie eintritt. Sie plädiert, wie jede Humanistin und irgendwie anschließend an Hannah Arendt und Jürgen Habermas, für das Dennoch, für das Trotzdem, für das laute Rufen im Walde, das einen herausführt in das Licht, das freilich stets umschattet bleibt. Letztlich können wir, so diese Weltsicht, das Auge des Hurrikans nicht verlassen. Ist es aber wirklich so, dass unsere Welt zunehmend verroht, ist also Furcht das eigentlich angemessene Gefühl und Hoffnung ganz kontrafaktisch? Die Antwort auf diese Frage entscheidet über viel. Sie ist möglich, doch nicht leicht. In seinem neuen Buch hat der bisherige Vorsitzende der deutschen Soziologengesellschaft, Stephan Lessenich, die Zeitdiagnose der Gegenwart auf den Begriff der „Externalisierungsgesellschaft“ gebracht, die dem Prinzip Neben uns die Sintflut frönt. Er buchstabiert den Preis der Spaltung der Welt in Zahlen und Gedanken aus, vor allem den ökologischen Preis, aber auch den sozialen. Das macht einen beim Lesen traurig, es ist diese Emcke-Gefühl, was in einem hochzieht, wir können uns nur behaupten, aber nicht mehr ganz verstehen, geschweige wirklich den Weltlauf ändern. Lessenich verwendet von 201 Textseiten eine halbe Seite auf „einige Basiselemente einer radikalen institutionellen Reform der Externalisierungsgesellschaft“ wie einen „globalen Sozialvertrag zur Verzögerung des Klimawandels“ und alles mit dem Ziel einer konsequenten „Politik der doppelten Umverteilung“: „im nationalgesellschaftlichen wie im weltgesellschaftlichen Maßstab, von oben nach unten und von ‚innen‘ nach ‚außen‘“. Zweifellos ist das eine „Mammutaufgabe“, die ohne eine „Instandbesetzung der politischen Institutionen“ nicht zu schultern sei.25 Das klingt doch ein wenig raunend-revolutionär, Bloch-Ton, in den Sätzen schon die Anerkennung des Scheiterns des Mammutprojektes angelegt. Denn wie sollte, muss man fragen, jene „Instandbesetzung“ gelingen, wenn die Menschen, außer den jeweiligen

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Autoren natürlich, so fürchterlich verstrickt sind in die Logik der Externalisierung. Diese dann doch hoffnungsarme Verzweiflung brachte im Rahmen der Emcke-Diskussion Christian Geyer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf einen weiteren, für unsere Zwecke der Ambivalenzrekonstruktion äußerst geeigneten Gedanken. Er verbindet Emckes Überlegungen und Resonanz mit einer Reflexion auf die feministische Philosophin Judith Butler, die 20 Jahre vorher über hate speech, die öffentliche Hassrede, sprach. Geyer schreibt sich Schritt um Schritt in die Melancholie, denn die Hassrede ist da, es bleibt nur das Dagegenreden, ohne Erkenntniswunsch: „Die vollzogene Gegensprechhandlung selbst ist die Botschaft.“ Da „mag sich die Versammlung der Hassenden vielleicht nicht verbieten lassen. Wohl aber lässt sie sich mit einer Gegenversammlung derer beantworten, die sagen, dass Hass schlecht und Liebe gut ist.“26 Das klingt nach einer linksbürgerlichen Verteidigung der Political Correctness in den Räumen, in denen ihre Redner noch über das Hausrecht verfügen. Aber dann wird Geyer dunkel, er zitiert ausgiebig, wenn auch ohne Quellenangabe aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das an diesem diskurs- und damit erkenntnisfreien Babylon ordentlich schuld sei, denn „in puncto Meinungsfreiheit ist mit dem Bundesverfassungsgericht in der Tat nicht zu spaßen“. Wir suchen also das Urteil, das der damalige, konservative Gerichtsvorsitzende Papier in seiner Kammer im Jahr 2008 verantwortete und finden eine in der Tat für ein konservatives Land äußerst beachtliche Passage:

„Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht. Die Bürger sind grundsätzlich auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen oder die Änderung tragender Prinzipien zu fordern. Die plurale Demokratie des

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Grundgesetzes vertraut auf die Fähigkeit der Gesamtheit der Bürger, sich mit Kritik an der Verfassung auseinander zu setzen und sie dadurch abzuwehren.“27 Geyer zitiert freilich den letzten Satz nicht, mit dem das Gericht auf die deliberative Dimension der Verhandlungsdemokratie verweist und vertraut, und kommt zu einem weitaus pessimistischeren, furchtsamen Fazit:

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„Das begünstigt die Moralisierung des öffentlichen Raums, seine volkspädagogische Aufladung. Wenn man die Hassredner schon nicht bestrafen kann, so heißt es, dann ist soziale Ächtung alles, was zu tun übrig bleibt. Man stellt Meinungen einfach ab, privatrechtlich zu Recht, weil das Recht auf Meinungsfreiheit ja keinen überall durchsetzbaren Anspruch begründet, zumindest nicht in privatwirtschaftlich organisierten Foren, zu denen auch Zeitungen und Facebook gehören. Oder man hält mit längst vertrauten Weisheiten dagegen. Ein Strukturwandel der Öffentlichkeit, der für unsere Debattenqualität ein Debakel ist.“28 Lessenich, Emcke und Geyer erscheinen in dieser Erzählung wie prototypische Vertreter einer Gedankenwelt, die entgegen dem eigenen Selbstverständnis nicht recht in der Moderne und ganz gewiss nicht in der Wissensgesellschaft der Gegenwart und näheren Zukunft angekommen ist. Sie fürchten Großes und hoffen Kleines. Das Denken der Moderne ist freilich genau umgekehrt: Großes erhoffen und Kleines befürchten. Ich möchte diese nicht unkühne Deutung abschließend mit einigen Hinweisen begründen, ohne Beweiswunsch, solche Diskurse enden ganz selten mit Eindeutigkeit. Wenn wir als Individuen, als Subjekte auf die Zukunft blicken, entscheidet mit unserer immer wieder neu erforderlichen Entscheidung zwischen optimistischer Hoffnung und pessimistischer Furcht ganz wesentlich unsere Interpretation der Welt: Ist sie noch halb voll oder schon halb leer?

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Jürgen Osterhammel legte mit seinem Opus Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts eine Weltgeschichte jener ersten Epoche der Globalisierung vor: „Weltgeschichte will ‚Eurozentrismus‘ ebenso wie jede andere Art von naiver kultureller Selbstbezogenheit überwinden. Dies geschieht nicht durch die illusionäre ‚Neutralität‘ eines allwissenden Erzählers oder die Einnahme einer vermeintlich ‚globalen‘ Beobachterposition, sondern durch ein bewusstes Spiel mit der Relativität von Sichtweisen.“29 Jenes lessenichsche Externalisierungsgeschäft tauchte auch damals gewaltig auf, die koloniale Aufteilung der Welt konstituierte die Peripherie, nur selten entzogen sich große Regionen der Globalisierung. Die Abschließung Japans durch die Außenpolitik des Tokugawa-Shōgunates von den 1630er-Jahren bis zur erzwungenen Öffnung des Landes durch eine kleine US-Flotte im Jahre 1853 war ein isolationistischer Sonderweg, der wohl nur aufgrund der Insellage so lange durchgehalten werden konnte. Was in den letzten zwei Jahrhunderten geschah, war eine bis heute andauernde Umwälzung der Verhältnisse, die Etablierung einer „Weltkultur“. Der amerikanische Soziologe und Erziehungswissenschaftler John Meyer hat diesen Begriff für sein an Pierre Bourdieu anschließendes Programm des Neo-Institutionalismus genutzt, das sich mit einem Gedanken und einem Beispiel illustrieren lässt.30 Der Gedanke ist, dass die soziale Wirklichkeit durch Institutionen konstituiert wird, deren Kern wiederum ein „Skript“ ist, ein komplexes Set an Prinzipien und Durchführungsbestimmungen. Diese gesellschaftlichen Skripte korrespondieren nun mit subjektiven Skripten, denn wir Menschen sind selbst institutionalisiert, Meyer spricht vom „scripted actor“, wir können uns überhaupt nicht gesellschaftsunabhängig vorstellen, ein Gedanke, der übrigens auch im Mentalisierungsansatz von Fonagy zentral ist. Anschaulich wird dieser Gedanke an einem von Meyer immer wieder, auch in Vorträgen genutzten Beispiel: Stellen wir uns vor, wir würden mitten im Pazifischen Ozean eine rege bewohnte größere Insel entdecken. Innerhalb von fünf oder maximal zehn Jahren gäbe es dort, weitgehend ohne

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Bevölkerungsaustausch, Autobahnen, Schulen, Hochschulen und Antidiskriminierungsgesetze. Die Weltgemeinschaft, repräsentiert durch die Vereinten Nationen, legte ihr Netz der Skripte auf die Insel und ihre Insulaner, die sich mehr oder weniger schnell dieser neuen Weltkultur anschließen. Der Schlüssel zur Weltkultur ist das Bildungs- und Wissenschaftssystem. Gewiss kann man einwenden, dass solch ein idyllisches Sozialisierungsmodell nicht selbstverständlich ist, so viele Gegenbeispiele für verfehlte Weltkultur-Transfers sind präsent, von Afghanistan bis zu den Reservaten der Indianer in Nordund Südamerika. Dennoch: Die Kritiker der Weltkultur, die in ihr nur Kolonialismus und Orientalismus sehen, sind von der Macht der Weltkultur so überzeugt, dass sich allerheftigste Gegenmittel legitimieren lassen. Besonders heftig wütet ein archaischer, freilich oft hochmodern inszenierter Islamismus, bis hinein in die Semantik. Die afrikanische Plage Boko Haram kann übersetzt werden mit „Bücher sind Sünde“, oder direkt: „Westliche Bildung verboten“ oder „Die moderne Erziehung ist eine Sünde“. Das ist harte Moderne-Kritik, bitterste und doch schlichteste Werte-Dekonstruktion. Derartige Fundamentalismen sprechen allem Modernen, also Westlichem, im Osten oder Süden Authentizität ab. Mögen pastunische oder saudische Mädchen auch noch so gerne lernen und Ärztin werden wollen, das wird ihnen nur gelingen, wenn ihre Mütter und Väter es wollen. Sie wollen es, überwiegend. Warum ist das so? In seinem Aufsatz Is Thinking with ‚Modernity‘ Eurocentric? diskutiert Sanjay Seth vom Goldsmith College der University of London zunächst verschiedene Ansätze, die Moderne nicht-eurozentrisch, sondern pluralistisch zu verstehen, ihre vielfältigen Wurzeln in allen Weltregionen und Weltreligionen zu sehen. Doch sein zentraler Gedanke ist – und er trifft zu –, dass wir die Moderne überhaupt nur in den Kategorien der Moderne denken können.31 Das gilt auch für jede Modernekritik und das erklärt auch die Verwirrung, die der performativ perfekt inszenierte Auftritt radikal anti-moderner Gruppen wie der IS oder – im christlichen Milieu – der Kreationisten auslöst. Form und Inhalt passen überhaupt nicht zusammen – und sie tun es

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doch! Auch die rückwärtsgewandtesten Revolutionäre tragen die Skripte, die sie hassen, in sich, die Skripte der Moderne, von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Macht uns das nun Hoffnung oder Furcht? Lassen Sie mich meinen von einem idealistischen Realismus oder einem realistischen Idealismus geprägten Ausflug in Geschichte und Zukunft abschließen und in die Gegenwart und an diesen Ort zurückkehren. Zukunftsgestaltung kannte immer schon beides: Hoffnung und Furcht, Optimismus und Pessimismus. Individuen und Gesellschaften, in denen Furcht und Pessimismus überwiegen, in der die immer neue Ambivalenz zu ihren Gunsten entschieden wird, sind weder erfreuliche Partner noch Orte. Das wäre aus Sicht der Zukunftsforschung nur eine Geschmacksfrage, keine wissenschaftliche. Aber es wirkt offensichtlich zurück, Hoffnung wie Furcht steigern sich aneinander, eine hoffende, zukunftsoffene Gemeinschaft wird ihre eigene Zukunft als ihr eigenes Projekt zumindest mitbetrachten. Die furchtsame Gemeinschaft wird sich abschließen, Abweichler im Innern bestrafen, im Äußeren bekämpfen. Furcht kommt zu Furcht. Aber eben auch: Hoffnung zu Hoffnung. Gegen die Realität einer Externalisierungsgesellschaft lassen sich Idee und Konzept einer „Internalisierungsgesellschaft“32 setzen, in der „Soziale Nachhaltigkeit“ als Gedanke und Prinzip handlungsleitend wird, also nicht die Kurzfristigkeit und Kurzsichtigkeit einer kapitalistisch-industrialistischen politischen Ökonomie. In der Räume für Kunst üblich sind, bekannte und hergebrachte wie unscheinbare und umstrittene. Narrative sind noch keine Werte, sie sind Erzählungen, wie es Homers Odyssee war, deren Wertungen der Welt der Götter entstammten, wie alle vormoderne Wirklichkeit vom Göttlichen durchdrungen war. Werte verfallen nicht, die empirische Wertforschung beobachtet Verschiebungen,33 vor allem der World Values Survey, die spektakuläre Dauerbeobachtung der Werte-Entwicklung der Welt,34 zeigt das eindrucksvoll. Da ist keine Postmoderne in Sicht, kein Wertrelativismus, aber eben auch keine alte Ordnung mehr, sondern Pluralismus, multiple Werteordnungen,

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die große Unübersichtlichkeit. Wir können das auf der Ebene der Subjekte beobachten und bei uns selbst anfangen.35 Nicht immer, so sagte der Zen-Lehrer Suzuki, anhaften, nichts bleibt. Was könnte das konservative Denken ewiger Werte mehr verunsichern. Mittlerweile sind die Kinder der Konservativen nicht nur langhaarig, sondern auch noch divers, homosexuell, will man sie nicht verlieren, muss man die alten Werte überprüfen. Das, so begann der Beitrag, erzürnt die rechten Truppen, sie klammern sich am Mythos alter Ordnung, des tiefen Deutschland oder Russland, also Flucht aus den Werten, lasst sie dekonstruieren, nichts soll bleiben, wir schwimmen im Meer der Freiheit. Furcht und Hoffnung, überall Ambivalenzen, wir wollen sie zu Widersprüchen treiben, vielleicht treibt das den Klassenkampf an, endlich Kampf und Rauch, endlich Bewegung. Aber wohin. Nur Lärm, Rauschen, wie es Niklas Luhmann befürchtete, wenn Kommunikation nicht an Kommunikation anschließt, oder, wie es Talcott Parsons wusste, wenn Normen und Werte vermischt werden, wenn Übliches, Moralisches, der Ordnung von Gemeinschaften Dienliches, plötzlich als Wert aufgewertet wird, aufgeladen, die Überforderten sehen den Verfall der Werte, die Freunde der Vernunft sehen Vielfalt.

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Literatur

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Behrendt, Siegfried (2009): Integriertes Technologie-Roadmapping. Ein Instrument zur Nachhaltigkeitsorientierung von Unternehmen und Verbänden in frühen Innovationsphasen, in: Popp, Reinhold/ Schüll, Elmar (Hrsg.), Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Berlin/Heidelberg: Springer, S. 255–268. Bloch, Ernst, 1977 (1959): Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände, 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bohleber, Werner, 2014: Auf der Suche nach Repräsentanz – Analytisches Arbeiten an der Schnittstelle von Ungedachtem und symbolisch Repräsentiertem, in: Psyche, 48. Jg., 9–10, S. 777–786. Emcke, Carolin, 2016: Wir können neu anfangen. Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, in: Süddeutsche Zeitung v. 24.10.2016, S. 9. Fonagy, Peter, 2009, Bindungstheorie und Psychoanalyse, 3. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta. Foucault, Michel, 2002 (1967): Andere Räume, in: Barck, Karlheinz/Gente, Peter/Paris, Heidi/Richter, Stefan (Hrsg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, 7. Aufl., Leipzig: Reclam, S. 34–46. Geyer, Christian, 2016: Benimm und Erkenntnis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.10.2016, S. 9. Grunwald, Armin, 2009: Wovon ist Zukunftsforschung eine Wissenschaft?, in: Popp, Reinhold/Schüll, Elmar (Hrsg.), Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Berlin/Heidelberg: Springer, S. 25–35. Lessenich, Stephan, 2016: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, München: Hanser Berlin. Meyer, John W., 2005: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Opielka, Michael, 2006: Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Opielka, Michael, 2007: Kultur versus Religion. Soziologische Analysen zu modernen Wertkonflikten, Bielefeld: transcript. Opielka, Michael, 2017: Soziale Nachhaltigkeit. Auf dem Weg zur Internalisierungsgesellschaft, München: oekom. Opielka, Michael, 2017a: Villa Mare. Reisebericht, Norderstedt: BoD. Opielka, Michael, 2018: Von mir aus. Versuch mit den Augen, Norderstedt: BoD. Opielka, Michael, 2019: Sisyphus. Ein glücklicher Mann, Norderstedt: BoD. Opielka, Michael/Oertel, Britta/Evers-Wölk, Michaela/Henseling, Christine, 2014: Dialogprozesse und Diskursanalysen, in: TAB-Brief, 43, Februar, S. 10–14.

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Endnoten

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1 Bloch 1977, S. 519. 2 Bloch 1977, S. 1086. 3 Bloch 1977, S. 1628. 4 Popp/Zweck 2013. 5 http://www.z-punkt.de/themen/artikel/megatrends. 6 http://www.netzwerk-zukunftsforschung.eu. 7 http://link.springer.com/journal/40309. 8 Popp 2012, S. 6. 9 Seefried 2015. 10 https://www.volkswagenstiftung.de/veranstaltungen/ veranstaltungskalender/herrenh%C3%A4user-symposien/40-jahregrenzen-des-wachstums-symposium-mit-dennis-meadows. 11 Fonagy 2009. 12 Randers/Maxton 2016, S. 224. 13 Tetlock/Gardner 2016, S. 168. 14 Behrendt 2009, S. 256. 15 Opielka u.a. 2014. 16 Schwarzbach u.a. 2014. 17 Voßkamp 1982. 18 Foucault 1993, S. 39. 19 Grunwald 2009, S. 26. 20 Safranski 2015. 21 Scharmer 2011. 22 Emcke 2016. 23 https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/johannheinrich-merck-preis/carolin-emcke/dankrede. 24 Pinker 2011. 25 Lessenich 2016, S. 195. 26 Geyer 2016. 27 BVerfG, 1 BvR 1565/05 – Rn. 11 v. 15.9.2008 http://www.bverfg.de/e/ rk20080915_1bvr156505.html. 28 Geyer 2016. 29 Osterhammel 2009, S. 19. 30 Meyer 2005. 31 Seth 2016. 32 Opielka 2017. 33 Opielka 2007. 34 http://www.worldvaluessurvey.org/wvs.jsp. 35 Opielka 2017, 2018, 2019.

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„Das wahre Drama ist seiner Natur nach endlos“. Hauptmann, Brecht und die Überwindung der poetischen Gerechtigkeit

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In meinem Beitrag zum Begriff der „Wertedekonstruktion“ untersuche ich einen zentralen Wert der Moderne: die Idee der Gerechtigkeit. Deren Entwicklung markiert eine zunehmende Erweiterung einer im engeren Sinne juristischen Idee der Gerechtigkeit, d.h. eine zunehmende Fokussierung von Delikten, die im engeren juristischen Sinne keine Straftat darstellen, die also – in bestimmten historischen Phasen – nicht von einem staatlichen Rechtswesen sanktioniert wurden bzw. werden können. Die Erfassung solcher Delikte, so meine Grundthese, ist eine Art Spezialität zweier jenseits des staatlichen Rechtssystems operierender Gerechtigkeitsprinzipien: der poetischen Gerechtigkeit und der restaurativen Gerechtigkeit. Ich gehe davon aus, dass sich diese beiden Prinzipien – ohne im engeren Sinne bereits so benannt worden zu sein – seit der griechischen Antike ähnlichen Delikten bzw. schuldhaften Handlungen widmeten. Es sind dies eben jene schuldhaften Handlungen, die in ihrer jeweiligen historischen Epoche nicht juristisch sanktioniert wurden bzw. sanktioniert werden konnten. Die Sanktion vollzog sich daher zunehmend im sozialen Raum der Öffentlichkeit oder aber im sozialen Raum des Theaters, wie etwa die lange Themenliste tragischer Schuld verdeutlicht, denken wir nur an das Motiv der Verblendung, der Intrige, der Verschwörung, des Verrates, der Verführung, der Unterdrückung, der Verdrängung oder gar der Kollektivschuld. Diese Schuldmotive sind im juristischen Sinne nicht unbedingt sanktionsfähig, können aber sowohl für soziale Konflikte wie auch für ästhetische Dramen prägend sein. Z.B. ist das in der Renais­sance ausgesprochen konfliktreiche Thema der Verteidigung eines Stadtstaates durch fremde Berufssoldaten bzw. Söldner in Shakespeares ästhetischem Drama „Othello“ verarbeitet und durch das Schuldmotiv der Intrige interpretiert worden. Die im Drama dargestellte Intrige ist keine Straftat im engeren juristischen Sinne, der Intrigant Jago wird aber durch die in diesem Drama angelegte poetische Gerechtigkeit mit aller Härte, also mit Folter, bestraft. Andere Delikte in diesem Sinne sind etwa das hybride Handeln in der griechischen Tragödie, die Intrige im Drama Shakespeares, die Verschwörung in der „tragedie classique“, die Verführung im

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bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts, die psychische bzw. ökonomische Unterdrückung im naturalistischen Drama um 1900 oder die verdrängte Kollektivschuld im dokumentarischen Theater des 20. Jahrhunderts. Mich interessiert nun die Frage, wie diese im engeren juristischen Sinne nicht sanktionierbaren Schuldmotive einerseits auf einer kommunitaristischen, andererseits auf einer theatralen bzw. medialen Ebene verhandelt wurden. Anhaltspunkt dieser Fragestellung ist die von den Theateranthropologen Victor Turner und Richard Schechner entwickelte Theorie des sozialen Dramas. Beide begriffen das Verhältnis von sozialem und ästhetischem Drama als Konvergenz, d. h. als äußerst produktiven, wechselseitigen Austausch bzw. wechselseitige Kommentierung. Mein Beitrag folgt diesem Ansatz. Ich gehe jedoch – anders als Turner und Schechner – von einem konfliktuellen Verhältnis von sozialem und ästhetischem Drama aus. Das soziale Drama im Sinne Turners basiert auf dem Prinzip der restaurativen Gerechtigkeit, d. h. auf der gemeinschaftlichen Konfliktlösung einer communitas mit dem Ziel des „Täter-Opfer-Ausgleichs“. Es folgt nach Turner dem Prinzip der Mediation, d.h. der sozialen Versöhnung einer verstrittenen Gemeinschaft. Das ästhetische Drama basiert dagegen auf dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit, d.h. auf dem fiktiven Kausalzusammenhang von Schuld und Bestrafung bzw. von Unschuld und Belohnung. Es folgt damit dem Prinzip der Medialisierung (medialization), d.h. der (massen-) medialen Unterhaltung eines Publikums. Jede Medialisierung sozialer Konflikte transformiert also das soziale Drama in die heterogene Matrix der poetischen Gerechtigkeit. Und umgekehrt transformiert jede Mediation eines Dramenstoffes das ästhetische Drama in die heterogene Matrix der restaurativen Gerechtigkeit. Diese Bifurkation des „sozialen Dramas“ in den Pol der Mediation und den Pol der Medialisierung ist in der Geschichte des Theaters häufig als Widerspruch verstanden worden, der immer wieder zu kritischer Selbstreflexion dieses Mediums beitrug, bis schließlich – so die gängige These – das mit Bertolt Brecht einsetzende postdramatische Theater des

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20. Jahrhunderts den Wert der poetischen Gerechtigkeit bewusst dekonstruierte. Mein Beitrag fragt nun, inwiefern diese Dekonstruktion der poetischen Gerechtigkeit richtig datiert wurde. Beginnt sie tatsächlich mit Brecht? Um diese Frage zu beantworten, werde ich im Folgenden Brechts Beziehung zu Gerhart Hauptmann untersuchen. Brechts Auseinandersetzung mit Hauptmann ist eine für die Theaterentwicklung des 20. Jahrhunderts sicher zentrale Beziehung, die von Hans-Joachim Schrimpf über Klaus Detlef Müller bis hin zu Jan Knopf immer wieder umfangreich untersucht worden ist.1 Angesichts der zuvor angedeuteten Problematik ist die Deutung dieser Beziehung zwischen Brecht und Hauptmann jedoch nicht ausreichend, ja vordergründig: Auf der einen Seite steht in den Analysen dieser Beziehung der tragisch-deterministische Naturalismus Gerhart Hauptmanns, der den Menschen als unfreies Wesen und die Welt als ungerecht inszeniert, auf der anderen Seite steht Brechts marxistische Überzeugung, man müsse dem Zuschauer die Differenz zwischen der dekadenten bürgerlichen Gesellschaft und der erreichbaren schönen neuen sozialistischen Welt ausreichend erläutern, also den Naturalismus als letzte Ausgeburt bürgerlicher Ideologie überwinden. Entsprechend begriff man in der Forschung die Auseinandersetzung Brechts mit Hauptmann zumeist als die strategische Überwindung einer eher konservativen durch eine eher progressive Weltanschauung, gemäß der von Brecht schon Ende der 1920er-Jahre formulierten These vom „verbrecherischen“ Wesen des Naturalismus, die er in seinen Bemerkungen „Über die Verwertung der theatralischen Grundelemente“ ausführte:

„Der Naturalismus offenbart schon in seinem Namen seine naiven, verbrecherischen Instinkte. Das Wort Naturalismus ist selber schon ein Verbrechen. Die bei uns bestehenden Verhältnisse zwischen den Menschen als natürliche hinzustellen, wobei der Mensch als ein Stück Natur, also als unfähig, diese Verhältnisse zu ändern, betrachtet wird, ist eben verbrecherisch. Eine ganze bestimmte Schicht versucht

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hier unter dem Deckmantel des Mitleids mit den Benachteiligten die Benachteiligung als natürliche Kategorie menschlicher Schicksale zu sichern. Es ist die Geschichte der Benachteiligten.“2

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So eindeutig Brecht hier seine stets neu wiederholte Kritik an der naturalistischen Mitleidspoetik formuliert, so unverkennbar bleibt dennoch seine zeitlebens andauernde Auseinandersetzung mit dem Theater Gerhart Hauptmanns. Diese Kontinuität lässt sich sicherlich nicht allein durch die Frontstellung zweier Weltanschauungen erklären. Denn wie Heinz Dieter Tschörtner schon in den 1980er-Jahren zeigen konnte, changierte Brecht in seiner Beziehung zu Hauptmann stets neu zwischen Faszination und Kritik, zwischen Nachahmung und Überwindung.3 Grob ließen sich fünf Phasen unterscheiden: Zunächst die Zeit bis 1920, in welcher der damals 22-jährige Brecht ein eindeutig positives Verständnis von Hauptmanns bürgerlichem Trauerspiel entwickelte, wenn er in seinen Rezensionen in der „Augsburger Zeitung“ das bürgerliche Trauerspiel „Rose Bernd“ als „revolutionäres Stück“ feierte. Dieser Phase folge dann nach Tschörner jener lange Zeitraum von 1921 bis ungefähr 1938, in welchem Brecht ein deutlich kritisches bzw. negatives Verständnis von Hauptmanns bürgerlichem Trauerspiel entwickelt habe, also insbesondere die „Rose Bernd“ als typisches Beispiel einer bürgerlichen Mitleidspoetik à la Lessing diskreditierte. Es dominiert das marxistische Argument: „Das Schicksal der Rose Bernd, der Weber usw. kann nicht mehr als tragisch empfunden und also auch nicht mehr als tragisch vorgegeben werden“, denn das bürgerliche Publikum, das „Tränen über das Schicksal der unehelich schwangeren Rose Bernd“ vergoss, werde nicht zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufgefordert. Eben diese Sicht ändert sich jedoch erneut in der Phase von Ende 1938 bis ungefähr 1948, in welcher Brecht mit Blick auf die Komödie „Der Biberpelz“ und die Tragödie „Die Weber“ ein wiederum positives Verständnis von Hauptmanns Realismus entwickelte. So etwa bezeichnete er in seinen „Notizen

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über realistische Schreibweise“ von 1940 „Die Weber“ durchaus emphatisch als „Standartwerk des Realismus“: „das erste große Werk, das die Emanzipation des Proletariats hervorbringt […] Der Proletarier betritt die Bühne, und er betritt sie als Masse. Alles wirkt hier als revolutionär.“ Auch Hauptmanns Komödie „Der Biberpelz“ wird in diesem Zusammenhang erwähnt, also jenes Theaterstück Hauptmanns, das Brecht zweifellos am stärksten beeindruckte. Dies verdeutlicht die berühmte Bearbeitung unter dem Titel „Biberpelz und roter Hahn“ aus dem Spätsommer 1950. Nach einer erneuten kritischen Phase zwischen 1948 und 1950, in welcher Brecht mit Blick auf „Die Weber“ ein negatives Verständnis von Hauptmanns Realismus entwickelte, bearbeitete er auf Anraten von Therese Giehse also gegen Ende seines Schaffens Hauptmanns Komödie „Der Biberpelz“ und die Tragödie „Der rote Hahn“. Was Brecht zu dieser Bearbeitung bewogen hat, lässt ein Brief an Berthold Viertel vom August 1950 erahnen, der auf Viertels Plan einer Inszenierung von Hauptmanns „Die Ratten“ reagiert:

„Ich weiß, wie Sie an den ‚Ratten hängen‘, aber wenn man die Stücke mit (leidenschaftlicher) Kühle abwägt, so kommt meiner Meinung nach heraus, dass ‚Biberpelz‘ und ‚Roter Hahn‘ einfach das mehr aktivisierende Stück ist, es zeigt einen Fehler (anstatt eine Fehlgeburt). Die Wolffen, mit all ihrer bedeutungsvollen Lebenskraft und Weisheit, liegt falsch.“4 Ich gehe davon aus, dass dieser Aspekt der „Aktivisierung“ bzw. Aktivierung des Zuschauers entscheidend war für Brechts zeitlebens neu ansetzende Beschäftigung mit dem Theater Gerhard Hauptmanns. Denn natürlich lag für Brecht „die Chance und die Zukunft des Theaters gerade in der Aufhebung des Konsumentenstandpunkts, in der Aktivierung des Zuschauers“, wie etwa Jan Knopf betonte.5 Wenn für Brecht nun ‚Biberpelz‘ und ‚Roter Hahn‘ die am stärksten „aktivisierende[n]“ Theaterstücke Hauptmanns gewesen sind, dann dürfte sich dieses Urteil sicherlich nicht auf die weltanschaulichen Hintergründe

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dieser Dramen, sondern auf deren spezifische Dramaturgie beziehen, die ein Mitspielen bzw. Mitdenken des Publikums am intensivsten auslöste. Und erst heute, vor dem Hintergrund einer dank der Arbeiten Erika Fischer-Lichtes entstandenen Theorie des performativen Theaters, dürfte diese Idee der Aktivierung des Publikums wirklich angemessen nachvollziehbar und erklärbar sein. Ich möchte diese Grundthese anhand der folgenden fünf Schwerpunkte verdeutlichen. Ich werde zunächst mit Hilfe von Victor Turner und Richard Schechner die Theorie des performativen Theaters skizzieren. Deren Modell des „social drama“ soll theoretische Grundlage meiner Unterscheidung von poetischer und restaurativer Gerechtigkeit sein. Ich werde dann in einem zweiten Schritt Brechts erneute Beschäftigung mit Hauptmanns „Der Biberpelz“ untersuchen, die entscheidend für Brechts Übergang vom Lehrstück hin zum epischen Theater war: Dieser Übergang vollzog sich also nicht zufällig zu Beginn von Brechts erneuter Positivierung Hauptmanns Ende 1938. Ich werde dann in einem dritten Schritt auf den neuralgischen Punkt dieser Auseinandersetzung zusteuern, indem ich entgegen der gängigen Forschungsmeinung ein Zurückbleiben Brechts hinter der naturalistischen Dramaturgie behaupten werde. Brecht scheiterte letztlich immer wieder an der naturalistischen Überwindung der poetischen Gerechtigkeit. Zur Prüfung dieser These werde ich zunächst einmal mit Blick auf Gerhart Hauptmanns Tragödie „Der rote Hahn“ fragen, ob diese Tragödie als eine Restitution poetischer Gerechtigkeit zu lesen ist. Wäre dem so, dann wäre Brecht gewissermaßen entschuldigt. Handelte es sich stattdessen um eine Mitleidspoetik, dann wäre Brechts Bearbeitung ebenfalls sehr nachvollziehbar, insofern Brecht die beiden Stücke Hauptmanns modernisiert hätte. Ich werde jedoch beide Optionen verwerfen und stattdessen zu zeigen versuchen, dass diese Tragödie als Ausdruck einer alternativen Gerechtigkeitsidee Gerhart Hauptmanns verstanden werden muss. Um diese dritte Alternative neben der aus der Brecht-Forschung hinlänglich vertrauten Frontstellung

„Das wahre Drama ist seiner Natur nach endlos“ von Mitleidspoetik einerseits, poetischer Gerechtigkeit andererseits begrifflich zu fassen, werde ich den Begriff der restorative justice wieder aufgreifen: Hauptmanns Tragödie „Der rote Hahn“ scheint mir eine frühe Form dieser Gerechtigkeitsidee zum Ausdruck zu bringen. Vor diesem Hintergrund jedoch erscheint Brechts Bearbeitung mit dem Titel „Biberpelz und roter Hahn“ als eine durchaus fragwürdige Rückkehr zu der von Hauptmann wie den Frühnaturalisten bewusst überwundenen Idee der poetischen Gerechtigkeit, wie in einem vierten und letzten Schritt zu zeigen ist.

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Grundlage meiner folgenden Überlegungen ist der Begriff des „sozialen Dramas“, wie ihn der Ethnologe Victor Turner im Anschluss an Kenneth Burke definierte. Das soziale Drama begriff Turner in seiner Studie „Drama, Fields and Metaphors“ als einen „aharmonic or disharmonic social process, arising in conflict situations“. In „The anthropology of performance“ wird dieser Prozess zurückgeführt auf eine „eruption from the level surface of ongoing social life, with its interactions, transactions, reciprocities, its customs making for regular, orderly sequences of behavior“.6 Zugleich wird das soziale Drama in vier Phasen einer öffentlichen Aktion unterteilt: 1) Breach, also den Bruch mit der sozialen Norm, 2) Crisis, also vom Normbruch ausgelöste, drohende soziale Krise; 3) Redressive action, bei der wiederum eine informelle Mediation, aber auch eine formale juristische Rechtsprechung eingreifen kann; 4) Reintegration oder irreparable schism, also Wiederherstellung der sozialen Norm 7 oder aber irreparabler Bruch. Social Drama

Breach

Crisis

Redressive Process

Reintegration Recognition of Irreparable Schism

Bildquelle: Richard Schechner: Performance Theory, London 1988, S. 190

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Dieses Modell sozialer Konfliktbewältigung ist von Richard Schechner als Grundlage seiner performance theory von 1977 weitergedacht worden. Schechner ging davon aus, „that this scheme can be discerned in Greek tragedies, Shakespearean plays, or the drama of Ibsen or O’Neill“, even in „Chekhov, Ionesco, or Beckett“8. Aus Turners universellem Modell des „social drama“ entwickelte Schechner ein interaktives Theaterkonzept, d.h. ein „infinity-loop model of the interaction between social and aesthetic drama“9 gemäß dem folgenden Schaubild: Social drama Works “in the world“

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Visible

and political a cial ctio So n Consequential

Hidden

Staging Th

s e a t r i c a l t e c h n i q ue

Aesthetic drama Works “on unconsciousness“

al techniques atric The Staging

Actual

Consequential Virtual So n cia l and ti o p o li t i c a l a c

Bildquelle: Richard Schechner: Performance Theory, London 1988, S. 190

Während Theaterkünstler soziale und politische Handlungen als Material bei der Inszenierung eines ästhetischen Dramas, also einer Theateraufführung, verwenden, eignen soziale und politische Aktivisten sich theatrale Techniken an, um die Aktivitäten des sozialen Dramas zu unterstützen, die wiederum das Theater beeinflussen, und so fort. Schechner und Turner gingen also beide davon aus, dass „soziale Dramen in ästhetischen Dramen kulturelle ‚Doubles‘ finden“, also eine „Konvergenz“ zwischen beiden Formen besteht. „The stage drama“,so schreibt Turner im Anschluss an Schechners infinityloop-Model, „is a metacommentary … on the major social dramas of its social context (wars, revolutions, scandals, institutional changes)“10. Meine Frage lautet nun: Ist diese Feedback-Schleife tatsächlich so kongruent, wie Turner und Schechner es behaupten? Lassen sich soziale Dramen und deren Delikte also in

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eben dieser Form medialisieren, wie es die These vom „social drama“ unterstellt? Einen Anhaltspunkt für die Beantwortung dieser Frage liefert die Theorie der restorative justice. Diese entstand in den 1970er-Jahren in Australien, Neuseeland und den USA und bezeichnet eine alternative Form der Konfliktlösung jenseits der gängigen gerichtlichen Strafverfahren. Die restorative justice bzw. restaurative Gerechtigkeit bringt die direkt Beteiligten (Geschädigte, Beschuldigte) und die Gemeinschaft in einem Mediationsverfahren zu einer Suche nach Lösungen zusammen und umgeht dabei das herkömmliche Justizsystem. Damit widerspricht die restaurative Gerechtigkeit dem juristischen Sanktionsrecht: Statt zusätzlichen Leidens für die Täter soll es Wiedergutmachung für die Opfer geben. Im Sinne des philosophischen Kommunitarismus11 geht es dabei um eine value restoration12, also die Wiederherstellung des sozialen Konsenses über die gültigen sozialen Werte und Normen, die durch einen Regelverstoß verletzt wurden.13 Zudem stehen nicht nur die Straftat des Täters, sondern auch die Schäden und die Bedürfnisse des Opfers im Zentrum. Der Täter wird also nicht in den hermetischen Welten des Gerichts und des Gefängnisses sanktioniert, sondern zu einer Rechenschaft verpflichtet, die er in einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem Opfer sowie einer eng begrenzten sozialen Gemeinschaft abzugeben hat.14 Dabei geht es nicht um Belohnung und Bestrafung, sondern um Heilung und Versöhnung, also um den „Täter-Opfer-Ausgleich“ mit dem Ziel der Reintegration des Täters. Die Nähe der restaurativen Gerechtigkeit zu Turners Theorie des „social drama“ zeigt sich im gemeinsamen ethnologischen Ausgangspunkt. Denn wie Turners Theorie des „social drama“ an Ritualen der Ndembu – einem Bantu-Volk im heutigen Zambia, dem damaligen britischen Protektorat Nord-Rhodesien – orientiert ist, so ist auch die Theorie der restorative justice anhand von traditionellen Kulturen sogenannter „pre-state societies“ entwickelt worden.15 Was in archaischen Nomadenstämmen als „Restitutionsverhandlung“ im Falle des Rechtsvergehens die alte Form der (Blut-)Rache ersetzte, wirkte nach Weitekamp bei den australischen Ureinwohnern, den ägyptischen Beduinen

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und vielen indianischen Gesellschaften bis heute fort und lieferte die Grundlage der um das Jahr 1970 entstandenen Modelle der restorative justice.16 Das family group conferencing war ursprünglich eine Konfliktlösungsstrategie der Maori, der zu den Polynesiern gehörenden Ureinwohnern Neuseelands,17 die ohne staatliche Organe der Rechtsprechung ihre Konflikte gemeinschaftlich im erweiterten Kreis der Familien von Tätern und Opfern regelten. Erst später ging dieses Modell in das neuseeländische Jugendstrafrecht ein.18 Die sogenannten sentencing circles entstanden auf dem Yukon-Territorium in Kanada, die seit 1980 in Nordamerika bekannten healing oder peacemaking circles gehen auf traditionelle Konfliktlösungsformen der Navajos und anderer amerikanischer Indianervölker zurück,19 die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission basiert auf der ubuntu-Philosophie der Zulu.20 Die Nähe der restaurativen Gerechtigkeit zu Turners Theorie des „social drama“ zeigt sich zudem in Turners Begriff der redressive action, der wie die restorative justice angesichts einer Straftat nicht die Bestrafung, sondern vielmehr die Wiedergutmachung bzw. die Heilung anstrebt. Diesem Prinzip der redressive action folgen etwa die in Nordamerika praktizierten Victim/Offender Mediations, die in Vermont entstandenen Reparative Boards, das in Neuseeland und Australien praktizierte Family Group Conferencing oder die in Brasilien ganze Nachbarschaften oder Schulen integrierenden Restorative Circles.21 Was aber geschieht, wenn das Theater selber schon auf der Bühne eine Bestrafung im Sinne der poetischen Gerechtigkeit vollzieht? Ist dies nicht das Ende des „social drama“, muss dieses daher nicht stets diese Differenz zwischen poetischer und restaurativer Gerechtigkeit berücksichtigen?

2 Vor dem Hintergrund dieser beiden Gerechtigkeitsideen komme ich nun zu Brechts Auseinandersetzung mit Gerhard Hauptmann. Dabei hat man zumeist betont, dass Brecht der Modernere der beiden war, weil er ein offeneres Theater

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entwickelte, gemäß einer schon 1927 von Brecht im Rahmen seiner Rundfunkexperimente erhobenen Forderung: „Hörer sollen zum Mitspieler werden.“ Brecht habe mit dieser Idee vom Lehrstück bzw. vom Mitspiel den Feedback-Wunsch des performativen Theaters vorbereitet, wie etwa seine Theorie des Lehrstücks zeige, die auf die gemeinsam mit Paul Hindemith entwickelte „These vom gemeinschaftsfördernden Wert des Musizierens“22 zurückging. An die Stelle der für das klassische Musiktheater konstitutiven Trennung von Ausführenden und Publikum trat die Beteiligung des Publikums durch Mitsingen und die Aktivierung von Laien als Darstellern. Diese Offenheit der Form als wesentlichem Merkmal des Lehrstücks findet sich beispielsweise in „Die Maßnahme“ von 1929. In diesem rechtfertigen sich die Protagonisten, die vier kommunistischen Agitatoren, vor einem „Kontrollchor“, der das Parteigericht repräsentiert, für die Tötung bzw. Opferung eines jungen Genossen. Dabei durchläuft das Stück in seinen acht Szenen die typischen vier Phasen eines „social drama“ im Sinne Schechners, also den Bruch mit der sozialen Norm, die Krise bzw. den Konflikt, den Versuch der Konfliktlösung durch das Ritual der Opferung des jungen Genossen und schließlich die erfolgreiche Wiederherstellung der revolutionären Gruppe. Zudem liegt hier ein Musterbeispiel einer autopoietischen Feedback-Schleife vor, denn das Stück mündet in der Diskussion mit dem Publikum, inwieweit die Revolution moralische Grundsätze verletzen darf, um Ausbeutung und Unterdrückung wirksam zu bekämpfen. Auch sollten sich die Darsteller jene im Lehrstück angelegten Lernprozesse aktiv erarbeiten, der Begriff des Lehrstücks gelte demnach „nur für Stücke, die für die Darstellenden lehrhaft sind. Sie benötigen also kein Publikum.“23 Im Grunde also ist mit dem Lehrstück schon alles entwickelt, was der Naturalismus nicht erreichte. Und doch gibt es eines zu bedenken: Die Opferung des jungen Genossen durch die Agitatoren basiert zweifellos auf dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit, also der Bestrafung einer Schuld. Der junge Genosse scheiterte in dem Versuch, sich gemäß den Direktiven der Revolutionäre zu verhalten.

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Statt die von den Agitatoren beschlossenen Aktionen durchzuführen, gefährdete er durch sein stets aufs Neue zum Ausdruck gebrachtes Mitleid immer wieder die Arbeit der Gruppe: Darum wird er schließlich geopfert bzw. getötet. Angesichts dieser Gerechtigkeitsidee scheint mir Brechts intensive Auseinandersetzung mit den Dramen Gerhard Hauptmanns, mit den „Webern“, vor allem aber mit Hauptmanns Komödie „Der Biberpelz“ von 1893, aus einer Rückständigkeit Brechts erklärbar. Brecht lernte hier Dinge, die dann zu seiner um 1930 einsetzenden Entwicklung des epischen Theaters führten. Bekanntlich äußerte Brecht schon 1929 in seinem Kölner Rundfunkgespräch die These, dass ein „episches Theater“ mit dem Naturalismus begonnen habe. „Die Anfänge des Naturalismus waren die Anfänge des epischen Dramas in Europa.“24 Von einem Einfluss Gerhart Hauptmanns auf Brechts Idee des epischen Theaters auszugehen, ist also keine allzu kühne These. Schon 1972 hatte Reinhold Grimm wohl erstmals bemerkt, dass die für den Naturalismus so typischen Dramen mit offenem Schluss als Ausgangspunkt des epischen Theaters Bertolt Brechts anzusehen seien: „die berühmten ‚offenen Schlüsse‘ – man denke an den Guten Menschen von Sezuan – sowie die Erkenntnis, dass die Kunst dem geschichtlichen Wandel unterliegt und somit keine ‚absolute Ästhetik‘ duldet: all dies sind Züge, die Brecht und der Naturalismus gemeinsam haben.“25 In der Tat befasste sich Brecht während seines gesamten Schaffens immer wieder mit dem Schicksal der Mutter Wolffen aus Hauptmanns „Der Biberpelz“ und dessen Prinzip des offenen Dramas, bei dem die erwartete Sanktion eines doppelten Diebstahls schlicht ausbleibt. Allerdings finden sich keinerlei Belege für diesen Einfluss, im zitierten Rundfunkgespräch wird jedoch auf die von Hauptmann entwickelte „epische Form“ verwiesen, und diese wiederum als „undramatisch“ bezeichnet:

„Das naturalistische Drama entstand aus dem bürgerlichen Roman der Zola und Dostojewski, der seinerseits wieder das Eindringen der Wissenschaft in Kunstbezirke

„Das wahre Drama ist seiner Natur nach endlos“ anzeigte. Die Naturalisten (Ibsen, Hauptmann) suchten die neue Stoffe der neuen Romane auf die Bühne zu bringen und fanden keine andere Form dafür als eben die dieser Romane: eine epische. Als ihnen nun sofort vorgeworfen wurde, sie seien undramatisch, ließen sie mit der Form sofort auch die Stoffe wieder fallen, und der Vorstoß kam ins Stocken, anscheinend der Vorstoß in neue Stoffgebiete, in Wirklichkeit aber der Vorstoß in die epische Form.“26

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Der Umbruch in der Bewertung Hauptmanns lässt sich präzise auf die Zeit der beginnenden Arbeit Brechts an der „Mutter Courage“ datieren, die Brecht im Jahreswechsel 1938/39 im schwedischen Exil verfasste und 1941 in Zürich erstmals inszenierte. Denn während Brecht noch 1937 im Essay „Das Anschneiden von Problemen“ dieses Anschneiden als den „Fehler der großen Naturalisten à la Hauptmann“ bezeichnete, findet sich in den „Notizen über realistische Schreibweise“ von 1941 nicht nur die emphatische Würdigung der „Weber“ als „Standardwerk des Realismus“, sondern auch eine sehr signifikante Kommentierung der Komödie „Der Biberpelz“:

„Der Schiller der ‚Räuber‘ und der Kleist des ‚Kohlhaas‘ hatten einen Zustand der Welt geschildert, in dem das ‚Recht‘, um sich durchzusetzen, alle juristischen Formen zerbrechen muss. Auch in den ‚Webern‘ und im ‚Biberpelz‘ findet Gesetz und Ordnung keine sympathisierende Zeichnung. Die realistischen Dichter tragen der Realität Rechnung. Sie sind die Anwälte der Wirklichkeit, die sich herausgebildet hat, und sie sprechen gegen überkommene und überholte menschliche Vorstellungen und Verhaltungsweisen.“ Aufschlussreich ist der Vergleich zu Schiller und Kleist: In beiden Fällen spricht Brecht von einem „Recht“, welches „alle juristischen Formen zerbrechen“ müsse. Während bei Schiller und Kleist aber das neue Recht „sich durchzusetzen“ versuche, finden im „Biberpelz“ „Gesetz und Ordnung keine sympathisierende Zeichnung“: Damit dürfte meines Erachtens

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das Fehlen der poetischen Gerechtigkeit gemeint sein, also das offene Ende der Komödie. Dieses offene Ende sei durch eine knappe Inhaltsskizze verdeutlicht: Die Mutter Wolffen ist Heldin des Stückes, eine äußerst durchsetzungsfähige Frau, die zunächst ein gewildertes „Stück Rehwild“ dem Spreeschiffer Wulkow als „verendet gefundenen“ Rehbock verkauft, und dann auf ähnliche Weise plant, einen Biberpelz aus dem Besitz des Rentners Krüger, des Dienstherren ihrer Tochter, zu entwenden, um diesen ebenfalls dem an Rheuma leidenden Spreeschiffer Wulkow zu verkaufen und so einen Großteil ihrer Schuldenbegleichen zu können. Nachdem sie in einer Nacht- und Nebelaktion den besagten Biberpelz des Rentners Krüger in ihren Besitz bringt, erstattet dieser Anzeige, wird jedoch vom Amtsvorsteher von Wehrhahn nicht für voll genommen, da dieser eher daran interessiert ist, „dunkle Existenzen, politisch verfemte, reichs- und königsfeindliche Elemente“ wie etwa den Privatgelehrten Dr. Fleischer wegen Majestätsbeleidigung verhaften zu lassen. Als dieser Dr. Fleischer nun seinerseits dem Amtsvorsteher berichtet, er habe einen heruntergekommenen Spreeschiffer in einem für dessen Verhältnisse viel zu feinen Biberpelz gekleidet gesehen, also den Diebstahl zur Anzeige zu bringen versucht, wird dies von Wehrhahn als Lappalie abgetan. Die Komödie endet also, ohne dass die Diebstähle aufgeklärt würden, im Gegenteil: Die Kläger Krüger und Fleischer werden vom Amtsvorsteher nicht nur abgewiesen, es werden die Schuldigen – Mutter Wolffen und Spreeschiffer Wulkow – bei dieser Abweisung beratend hinzugezogen, ja gar als „ehrliche Haut“ gepriesen. Wir haben es hier zweifellos mit einer Realsatire zu tun, die den preußischen Obrigkeitsstaat – personifiziert im preußischen Junker und Amtsvorsteher von Wehrhahn – in all seiner ideologischen Borniertheit ausstellt. Das Stück ist aber noch weit mehr, zeigt es doch ein Delikt, welches im engeren juristischen Sinne keine Straftat darstellt, also nicht von einem staatlichen Rechtswesen sanktioniert wird. Ein solches Delikt wird im Drama der Neuzeit bevorzugt durch ein jenseits des staatlichen Rechtssystems operierendes Gerechtigkeits-

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prinzip sanktioniert: die poetische Gerechtigkeit. Eben diese bleibt jedoch aus: Zunächst stahl die listige Mutter Wolffen einen Holzstapel des Rentners Krüger in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, bei der ihr gar der ahnungslose Amtsdiener Mitteldorf behilflich ist. Als Rentner Krüger wegen der Diebstähle Anzeige erstattet, wird der Fall vom Amtsvorsteher von Wehrhahn jedoch nur halbherzig bearbeitet. Und auch der zweite Diebstahl der Mutter Wolffen, also der Titel gebende Biberpelz, wird vom Amtsvorsteher nicht sanktioniert, die listige Diebin kommt am Ende ungestraft davon. Das offene Ende der Komödie basierte also auf dem Fehlen der finalen Sanktion gegenüber der durch doppelten Diebstahl schuldig gewordenen Heldin.27 Eben darin liegt die große Provokation dieser Komödie: Dass in „Der Biberpelz“ eine Mutter Holz und Biberpelze stiehlt, ohne dafür bestraft zu werden, schien dem zeitgenössischen Theaterpublikum schwer nachvollziehbar: Man blieb sitzen und erwartete den fünften Akt, der jedoch in diesem Vierakter nicht stattfand. Wir erkennen diese Provokation auch und vor allem durch die Folie des sozialen Dramas, wenn wir das Modell von Turner und Schechner nochmals bemühen: Dem Bruch mit der sozialen Norm im Sinne des schechnerschen Modells entspricht zwar der Diebstahl eines Holzstapels im 1. Akt der Komödie, und der dann folgenden Krise bzw. dem Konflikt die auf den Diebstahl folgende Anzeige von Krüger im 2. Akt. Dann aber wird das Schema in hohem Masse irritiert, denn es folgt eine Wiederholung des Anfangs, also ein zweiter bzw. weiterer Bruch mit der sozialen Norm, nämlich der Diebstahl des Biberpelzes im 3. Akt, sowie ein weiterer drohender Konflikt, insofern auch dieser Diebstahl durch den Bericht Dr. Fleischers im 4. Akt zu einer Art Anklage kommt. Aber dann ist diese Komödie auch schon zu Ende, es fehlt also sowohl eine Konfliktlösung durch ein Ritual als auch eine finale Sanktion im Sinne einer Wiedergutmachung. Dieser offene Schluss scheint mir eine entscheidende Voraussetzung für Brechts Idee des epischen Theaters. Die Einflüsse von Hauptmanns „Der Biberpelz“ zeigen sich bei Brecht erstmals in der „Mutter Courage“, deren Verwandtschaft mit

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Hauptmanns Mutter Wolffen aus „Der Biberpelz“ erstmals von Herbert W. Reichert festgehalten wurden: Beide Mutterfiguren missachten die Gesetze, zeichnen sich durch ein Profitstreben bzw. – im Falle der Mutter Courage – durch eine Positivierung des Krieges aus. Und dennoch sind beide sympathische Charaktere: Sie sind ungebildet, aber schlagfertig, ernähren eigenhändig ihre Familie, haben Geschäftssinn, Mut und Verstand.28 Brechts Mutter Courage verliert zwar in den Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges ihre drei Kinder und verarmt schließlich. Allerdings ist sie nicht Opfer in einem Rührstück, sondern versucht ähnlich wie die Mutter Wolffen, durch krumme bzw. amoralische Kriegsgeschäfte ihr Geld zu machen. Dieses Geld erwirbt sie als Marketenderin, die mit ihrem Planwagen dem schwedischen Heer auf seinen Raubzügen durch das zerstörte Deutschland folgt und es mit Waren versorgt. Sie ist trotz aller menschlichen Leiden nicht am Frieden interessiert, der ja geschäftsschädigend wirken würde. Zu diesem Ziel setzt sie wie Mutter Wolffen gar die eigenen Kinder ein: Ihr ältester Sohn Eilif wird für die Kriegsdienste angeworben, ihr jüngerer Sohn Schweizerkas wird als Zahlmeister eingesetzt, ihre durch Misshandlung verstummte Tochter Kattrin wird von der Mutter für die Geschäfte eingespannt. Alle drei Kinder sterben am Ende: Eilif wird erschossen, weil er in einer kurzen Friedensphase geraubt und geschändet hat; Schweizerkas geht an seiner Redlichkeit zugrunde, weil er eine Regimentskasse verstecken will und entdeckt wird. Kattrin opfert sich in ihrer Kinderliebe, indem sie die Einwohner der Stadt Halle vor den eindringenden Truppen warnt. Die Hoffnung der Courage, ihren Sohn Eilif wiederzusehen, ist darum vergeblich, wie der Zuschauer weiß. Das Schicksal der Courage bleibt jedoch offen, ebenso wie in Hauptmanns „Der Biberpelz“. Zudem muss sich das Publikum über Schuld oder Nichtschuld der Heldin sein eigenes Urteil machen, auch dies teilt es mit dem Publikum der ersten Biberpelz-Inszenierungen. Aber auch in den übrigen Brechtstücken dieser Frühphase seines epischen Theaters um 1940 findet sich ein offenes Ende: In „Das Verhör von

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Lukullus“ von 1940 gibt es zwar eine Gerichtsszene als Handlungsrahmen, die Erwartung der Hörer auf den Ausgang des Prozesses wird aber durch das offene Ende des Hörspiels irritiert. Und auch in „Der gute Mensch von Sezuan“ gibt es eine ähnliche Form moralischer Schuld, insofern die ökonomischen Verhältnisse dem Helden Shen Te notwendige Gesten der Nächstenliebe unmöglich machen. Auf dieses Problem aber wissen die Götter keinen Rat, weshalb sich das Publikum seinen eigenen Schluss (in der Wirklichkeit) suchen soll. Es gilt also in diesen epischen Dramen die Maxime aus „Der gute Mensch von Sezuan“: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen.“29 Brechts Entwicklung vom Lehrstück zum epischen Theater ist demnach im Sinne dieser erneuten Beschäftigung mit Hauptmann durch den Versuch motiviert, die Idee der poetischen Gerechtigkeit und deren Prinzipien der Bestrafung und Belohnung hinter sich zu lassen. Gegen diese beiden Grundprinzipien setzt Brecht jeweils ein moralisches Vergehen, dessen Ahndung am Ende ausbleibt. Die gemeinsame Schnittmenge zwischen Hauptmanns Komödie und Brechts epischem Theater sind also Delikte, die nicht mehr durch die poetische Gerechtigkeit sanktioniert werden: Brechts schuldige Figuren wie etwa Shen Te aus „Der gute Mensch von Sezuan“ werden im Unterschied zu dem schuldig gewordenen Genossen des Lehrstücks „Die Maßnahme“ nicht bestraft. Die Sanktion bleibt aus, damit die Zuschauer im Anschluss an das offene Ende eigene Lösungen finden. Diese liegen zwar bei Brecht – anders als bei Hauptmann – in der marxistischen Veränderung der Gesellschaft. Entscheidend aber ist, dass Brechts mit der „Mutter Courage“ einsetzende Idee des epischen Theaters das offene Ende der hauptmannschen Komödie „Der Biberpelz“ übernimmt.

3 Nun muss man wissen, dass es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Beispiele für die Überwindung der poetischen Gerechtigkeit im Naturalismus gibt. In Ibsens „Das Puppenheim“

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von 1879 etwa verlässt die Heldin Nora aus Gründen der Selbstverwirklichung den Ehemann und die gemeinsamen Kinder, das Ende bleibt jedoch offen. In Strindbergs „Fröken Julie“ von 1889 endet eine Liebelei zwischen dem Knecht und der Tochter des Herrn in einem tödlichen Machtkampf, ohne dass zwischen Täter und Opfer unterschieden werden könnte. Zudem entwickelt sich um 1887 unter den Berliner Frühnaturalisten der literarischen Vereinigung Durch!, zu deren Mitgliedern auch Hauptmann gehörte, eine äußerst kritische Haltung zum Prinzip der poetischen Gerechtigkeit. Hauptmann brachte also mit dem offenen Ende seiner Komödie „Der Biberpelz“ eine generelle Skepsis der Frühnaturalisten zum Ausdruck, wie schon Wulf Segebrecht zeigen konnte. Segebrecht verwies u. a. auf den folgenden Kommentar Herrmann Conradis, der 1887 in einem Aufsatz im „Magazin für die Literatur des Inund Auslandes“ betonte: 112

„Wenn neuerdings in der Literatur allenthalben die Tendenz aufwacht, diesem geistlosen Fetischismus [der poetischen Gerechtigkeit] ein Ende zu machen; die Welt, allerdings durch eine machtvolle Individualauffassung vertieft, so darzustellen, wie sie ist; das Leben so brutal und gemein, wie es ist, im Spiegel der Kunst festzuhalten, so sehe ich darin von philosophischem wie in gewissem Sinne auch von sozialem Standpunkte ein wichtiges Heilsmoment, ein bedeutendes Zukunftssymbol.“30 Ich gehe davon aus, dass Brecht nach der Hochphase seines von Hauptmann inspirierten epischen Theaters wieder zur poetischen Gerechtigkeit zurückkehrte, also hinter die Frühnaturalisten zurückfiel. Dieser „Rückfall“ zeigt sich deutlich in Brechts Bearbeitung jener beiden Theaterstücke Hauptmanns, die das gesamte Schicksal der Mutter Wolffen zum Thema hatten: die Komödie „Der Biberpelz“ von 1893 und die Tragödie „Der rote Hahn“ von 1901. Nach Brecht entwickelt sich die Heldin, die in der Komödie die Mutter Wolffen und in der Tragödie die neu verheiratete Frau Fielitz ist, „von der Gaunerin

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zur Verbrecherin“. Brechts Urteil ist eindeutig: „Der Rote Hahn zeigt das dicke Ende des individualistisch geführten Freiheitskampfes der Wolffen.“ Dies bezog sich auf die neue Schwere der Straftat: Dem doppelten Diebstahl der Wolffen in der Komödie folgte in der Tragödie der Frau Fielitsch ein Versicherungsbetrug, basierend auf einer Brandstiftung, sowie die Preisgabe eines Unschuldigen. Denn die Fielitz lenkt den Verdacht auf Gustav, den geistig behinderten Sohn des pensionierten Gendarms Rauchhaupt, der schließlich zu Unrecht verdächtigt wird. Mutter Wolffen, inzwischen verwitwet und nunmehr Frau des Schusters Fielitz, steht wieder im Mittelpunkt der Ereignisse, auch ihre älteste Tochter Leontine, der Amtsvorsteher von Wehrhahn und der Amtsschreiber Glasenapp treten erneut auf. Schon die erste Szene, die in der Werkstatt des „Schuhmachermeisters und Polizeispions“ Fielitz spielt, weist jedoch Unterschiede zur „Diebskomödie“ „Der Biberpelz“ auf. Mutter Wolffen, nun Frau Fielitz, hat wieder einmal einen Plan, wie sie ohne große Anstrengung zu Geld kommen kann. Sie möchte es jenen Leuten im Dorf gleichtun, deren Häuser in jüngster Zeit abgebrannt sind, was deren Besitzern enorme Versicherungsgelder einbrachte. Ihrem Gatten Fielitz gefällt es jedoch gar nicht, an einem solchen Versicherungsbetrug mitzuwirken, bis er sich schließlich den Argumenten seiner Gattin geschlagen gibt. So folgt auf den Plan die verbrecherische Tat: Das Ehepaar reist nach Berlin, nachdem es zuvor sein eigenes Haus in Brand gesteckt hat. Allerdings findet der Schmiedemeister des Dorfs mit Namen Langheinrich ein Stück Zündschnur, also ein Indiz für die Schuld der Eheleute Fielitz, verschweigt dies aber. Dadurch gerät nun wiederum der geisteskranke Gustav, Sohn des pensionierten Gendarms Rauchhaupt, in Verdacht, da er zur Tatzeit am Tatort gesehen wurde und zudem eine Schachtel Streichhölzer verlor, während Frau Fielitz – erneut mit Hilfe des Amtsvorstehers Wehrhahn – die Behörden von ihrer Unschuld überzeugen kann. Gustav wird nun abgeführt, die Fielitz erhält aber dennoch anonyme Briefe, die sie beschuldigen. Vor allem Vater Rauchhaupt setzt ihr zu, weshalb die Fielitz von Angst und Gewissensbissen heimgesucht wird. Ähnlich wie in „Der Biberpelz“ bleibt

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die eigentliche Brandstifterin jedoch unentdeckt und damit auch ungesühnt, allerdings stirbt sie gegen Ende der Tragödie. Ist dies nun poetische Gerechtigkeit, da die Mutter Wolffen in „Der rote Hahn“ der Tod ereilt? Ist diese Tragödie schlicht ein „grausiges, krasses Stück“, also eher Ausdruck einer Mitleidspoetik? Oder verfolgt Hauptmann in dieser Tragödie eine jenseits dieser beiden Optionen angesiedelte, alternative Gerechtigkeitsidee? Und wie ließe sich diese Gerechtigkeitsidee, wenn sie denn existiert, begrifflich fassen? Auskunft liefert das Verhältnis zwischen der Täterin und dem zu Unrecht Verdächtigten. Ich zitiere dafür die zentrale Passage aus Hauptmanns Tragödie:

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„FRAU FIELITZ: Sie sein schon a närr’scher Kerl, Rauchhaupt. Und aso verdreht … das gloobt eener nicht. Erscht han Sie da Jung’n immer woll’n los sein… […] Was sein mir: Sie, ich, und mir alle zusamm? Mir han uns musst schinden und schuften durchs Leben, eener so gutt wie der andere dahier. […] Unsereens muss jeden Dreck doch anfassen. Da heeßt’s immer: gutt sein. Wie fängt ma’s ock an? […] Ma will ebens aus dam Matsche rauskomm, wo mir alle uns rumbeißen tun mitsamm … Raus, fort! – Meinswegen ooch hicher nuff. … Is wahr, dass Se woll’n vo hier fortziehn, Rauchhaupt? RAUCHHAUPT: Frau Meestern, ick ha det in Sinne jehat. […] Wo eener so weit is jewest, det er sich – als Beamter! – ’n Strick hat jenomm, und det er sich … Meestern, ick weeß et nich! Ich weeß et nich, det ick det soll jemacht hebb’n! Aber losjeschnitten hebben se mir. FRAU FIELITZ: Ich sprech, mir stoßen halt doch amal an! Ich tu mich ooch nich um de Leute bekimmern, wenn Se aber mal verkoofen woll’n – wer weeß! … Ich wer mit Schmarowski reden, am Ende täten Se einig werden.“31 Gemäß dieser von mir etwas verkürzten Szene wollte Rauchhaupt selbst seinen Sohn Gustav einst loswerden. Zudem fordert die Fielitz kein Mitleid für sich; vielmehr stecken

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beide gemeinsam „im Dreck“. Und Rauchhaupt hatte Selbstmordgedanken, ist also kein strafender Held. Schließlich lässt Hauptmann gar erkennen, dass der Schwiegersohn der Fielitz, der Schmarowski finanzielles Interesse an Rauchhaupts Land hat. Es zeichnet sich in diesem Schlussakt also gar ein finanzieller Ausgleich von Täterin und Opfer ab. Knapper gefasst ließe sich sagen: Bei Hauptmann gibt es am Ende nicht nur die leidende Täterin Wolffen bzw. Fielitz, sondern auch das leidende Opfer Rauchhaupt, wohingegen der Richter, also Amtsvorsteher Wehrhahn, als Rechtssprecher vollkommen ausgeblendet wird. Bei Hauptmann dominiert demnach weder Mitleidspoetik noch poetische Gerechtigkeit. Stattdessen entwickelt diese Fortsetzung eine Gerechtigkeitsidee, die sich als eine frühe Form der restorative justice beschreiben ließe. Zwar ist das Unrecht, das die Frau Fielitz durch die Denunziation des geistig behinderten Jungen begeht, zweifellos als solches ausgewiesen und kritisiert. Aber es wird nicht bestraft, sondern ist Teil einer düsteren Sicht auf die menschliche Existenz, aus deren Elend weder der Täter noch das Opfer je hinausfinden werden. Insofern aber liest sich dieser Schlussdialog zwischen der Fielitz und Rauchhaupt als bewusste Alternative zum eigentlich erwartbaren Strafverfahren. Er bringt die direkt Beteiligten, also den Geschädigten und die Beschuldigte, zu einer Suche nach einer Lösung oder zumindest einer Erklärung zusammen. Man könnte gar das in Aussicht gestellte Gespräch mit Schmarowski als Versuch der Wiedergutmachung materieller und immaterieller Schäden, also als Versuch der Wiederherstellung von positiven sozialen Beziehungen, lesen. Hauptmann sucht hier eine Alternative zum Prinzip der Strafe, und steht eben damit der restaurativen Gerechtigkeit weit näher, als dies in der Forschung bisher gesehen wurde.

4 Kommen wir vor diesem Hintergrund nochmals zu Brechts Bearbeitung dieser beiden Stücke Gerhard Hauptmanns: „Der Biberpelz“ und „Der rote Hahn“. Brecht betonte an diesen

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beiden Dramen stets Hauptmanns hohe „Kunst der Beobachtung“, kritisierte allerdings Hauptmanns mangelnde „Kenntnis des historisch Wesentlichen“:

„Wir mussten also die Arbeiterbewegung (Sozialdemokratie) in Sicht bringen, welche Hauptmann nahezu völlig übersieht. Den Vertreter des liberalen Bürgertums, Dr. Fleischer, beließen wir natürlich, setzten aber seinen Liberalismus gegen die radikaleren Forderungen der Arbeiterbewegung ab, d.h. gaben ihm einen leise komischen Anstrich. Im roten Hahn führten wir anstelle des Rauchhaupt einen sozialdemokratischen Arbeiter ein; hauptsächlich, um der Wolffen einen bewussten Vertreter ihrer Klasse gegenüberzustellen. Das Gespräch der beiden im letzten Akt scheint nicht übel gelungen, dank des Umstands, dass dieser Mann als Vater des Sündenbocks Gustav von der Wolffen auch persönlich geschädigt worden ist.“ 116 In Brechts Bearbeitung gibt es also einen Prozess gegen Frau Fielitz. Zudem weiß Rauert um Fielitz’ Verbrechen. Eben darum will Fielitz Rauerts Mitleid, er hingegen statuiert poetische Gerechtigkeit. Diese Veränderung verdeutlicht die äquivalente Passage in Brechts Bearbeitung: „FRAU FIELITZ: Rauert, Sie sind a Roter, nich? Se missen doch e Mitefiehl haben mit die armen Leute. Eene neie Untersuchung wird’ ich ni aushalten, ni mit meinem Herze. RAUERT: Wat Sie sich injebrockt ham, det missen Se schon auslöffeln. […] Sie ham jegloobt, Se könn’ sich jesundstoßen, wenn Sie Brand lejen, Sie ham’s nich jeschafft, und die andern, die Jroßen, werden’s ooch nich schaffen. Sie sind aus Peterswalde, Sie sind Tochter von ’nem Weber, Frau Fielitz. Et jibt so wat wie ’ne Arbeiterbewejung, davon müssen Sie jehört haben, Sie sind ’nen andern Weg jejangen, ihren eigenen, nich mit Ihrer Klasse! Jetzt, wo Se bis zum Halse im Dreck stecken, woll’n Se von uns Mitgefühl. Nee, det is nich.“

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Brecht zeigt die Fielitz also als eine isolierte Täterin, der er ein triumphierendes Gericht bzw. ein triumphierendes Opfer, nämlich Rauert und Sohn, gegenüberstellt. Es triumphiert die poetische Gerechtigkeit, also jener „in der Dichtung oft erscheinende, in der Wirklichkeit vermisste Kausalzusammenhang von Schuld und Strafe“, der durch einen „Fluch der bösen Tat“ demonstriert wird und dem juristischen Sanktionsrecht entspricht: Ein richtender Autor bestraft und belohnt seine Dramenhelden. Dies verdeutlicht ein weiterer Kommentar Brechts: „Die Wolffen, die von ihrer allgemeinen Beliebtheit gelebt hat … stirbt an ihrer Unbeliebtheit. Der Tod der Wolffen erregt wenig Mitleid. Die Giehse erreicht das dadurch, dass sie die Brandstifterin Mitleid mit sich selbst empfinden lässt. Das ‚Ma langt … Ma langt nach was!‘ der Sterbenden klingt hohl.“ Man kann zweifellos weiterhin die brechtsche Auseinandersetzung mit Hauptmann als einen Versuch der Überwindung des Naturalismus beschreiben. Allerdings sollte man diesen Versuch einer Überwindung nicht länger gleichsetzen mit einer Überwindung der „bürgerlichen Mitleidspoetik“, denn diese hatte ja schon Hauptmann selbst überwunden. Vor allem ist es an der Zeit, die Frage nach der Modernität Brechts nicht länger zu Ungunsten Hauptmanns zu diskutieren, also Brechts episches Theater als eine Fortführung und Modernisierung des hauptmannschen Naturalismus zu deuten. Denn dies blendet die Tatsache aus, dass Brecht jene alte Idee der poetischen Gerechtigkeit, die Hauptmann aus dem Theater verbannte, wieder zurück auf die Bühne holte. Dass man statt der Bestrafung des Lasters auch einen Untergang der Tugend aus Gründen des Mitleids inszenieren kann, diese Idee hatte freilich schon Lessing. Und dass es zudem möglich ist, einen neutralen Helden wie etwa Ödipus für einen bloßen Fehler im Sinne der hamartia zu bestrafen, war bekanntlich schon das Argument der Aristotelischen Poetik, die sich dadurch vom poetischen Gerechtigkeitsgedanken der Tragödie des Aischylos unterscheidet. Hauptmanns Lösung von dieser Tradition richtete sich jedoch von Beginn an gegen die beiden für poetische Gerechtigkeit entscheidenden Prinzipien von Bestrafung und Belohnung. Gegen

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diese beiden Grundprinzipien setzte er die Idee des „offenen Dramas“, dessen Ende offen ist, ja vielleicht gar vollständig ersetzt wird durch eine der restorative justice vergleichbare Idee des Vergessens und Mediatisierens der Schuld. Zweifellos hat Brecht aus diesem offenen Drama Wesentliches gelernt, insbesondere die Aktivierung des Zuschauers, die aus der Irritation eines offenen Endes hervorgeht. Dennoch aber gleicht Brechts Auseinandersetzung mit Hauptmann dem Märchen vom Hasen und dem Igel: Stets dann, wenn der siegesgewisse Brecht sich dem Ziel des offenen Theaters am nächsten wähnte, scheint sich Hauptmanns Idee des Dramas als eigentlicher Sieger zu entpuppen. Wie nahe zumindest Hauptmann dem offenen Theater war, verdeutlicht mein letztes Zitat:

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„Das wahre Drama ist seiner Natur nach endlos. Es ist ein fortdauernder innerer Kampf ohne Entscheidung. In dem Augenblick, da diese fällt, bricht das Drama ab. Da wir aber jedem Bühnenwerk eine Entscheidung zu geben gezwungen sind, hat jedes gespielte Drama im Grunde etwas Pedantisches, Konventionelles an sich, was das Leben nicht hat. Das Leben kennt nur den fortdauernden Kampf, oder es hört überhaupt auf. Das ideelle Drama, das ich schreiben möchte, wäre eines, das keine Lösung und keinen Abschluss hätte.“32

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Burkhard Meyer-Sickendiek

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17 J. Braithwaite: Restorative Justice: Assessing Optimistic and Pessimistic Accounts, in: Crime and Justice: An Annual Review of Research 25 (1999), S. 15. 18 Gabrielle Maxwell/Allison Morris: The New Zealand Model of Family Group Conferences (1994), in: C. Alder and McCold, P. (Hrsg.): Toward a mid-range theory of restorative criminal justice: A reply to the Maximalist model. Contemporary Justice Review 3/4 (2000), S. 357–414. 19 Robert Yazzie/James Zion: Navajo Restorative Justice: The Law of Equity and Harmony, in: B. Galaway and J. Hudson (eds.): Restorative Justice: International Perspectives, Monsey, NY, S. 157–174. 20 D. J. Louw: The African concept of ubuntu and restorative justice, in: D. Sullivan/L. Tifft (Hrsg.): Handbook of restorative justice: a global perspective, New York 2006, S. 161–173. 21 Douglas J. Sylvester: Myth in Restorative Justice History, Utah Law Rev. 471 (2003), S. 493–94. 22 Klaus-Dieter Krabiel: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politischästhetischen Erziehung, Frankfurt a. M. 1995, S. 227. 23 Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 1035. 24 Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 15, S. l51. 25 Reinhold Grimm: Episches Theater, Köln/Berlin 1972, S. 26. 26 Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 151. 27 Zur Auseinandersetzung Brechts mit Hauptmann vgl.: H. D. Tschörtner: Ungeheures erhofft. Zu Gerhart Hauptmann. Werk und Wirkung, Berlin 1986, S. 267–295. 28 Herbert W. Reichert: Hauptmanns Frau Wolff und Brechts Mutter Courage (1961), in: Hans Joachim Schrimpf (Hrsg.): Gerhart Hauptmann. Wege der Forschung, Darmstadt 1976, S. 289–300. 29 Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 1607. 30 Zitiert nach: Wulf Segebrecht: Gerhart Hauptmann und die „Poetische Gerechtigkeit“, in: Grenzfrevel. Rechtskultur und literarische Kultur, hrsg. von Hans-Albrecht Koch [u.a.], Bonn 1998, S. 68–78, hier: S. 73. 31 Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke, Bd. 2, hrsg. v. Hans-Egon Hass, Berlin 1965, S. 67. 32 Josef Chapiro: Gespräche mit Gerhart Hauptmann, Berlin 1932, S. 162.

Moritz von Stetten

Verfassungsbruch, Wertekrise, Demokratieverfall? Der Kampf um politisch-rechtliche Deutungshoheit in der sogenannten „Flüchtlingskrise“

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1 Einleitung

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Im Januar 2016 schalten sich die ehemaligen „Verfassungsrichter Udo di Fabio und Hans-Jürgen Papier in die öffentliche Debatte zur sogenannten Flüchtlingskrise ein. Sie werfen Kanzlerin Merkel nicht nur „Außerachtlassung geltenden Rechts“ (di Fabio) und „eklatantes Politikversagen“ (Papier) vor. Udo di Fabio stellt in einem von der CSU in Auftrag gegebenen Gutachten fest, dass die Bundesregierung ihren verfassungsrechtlichen Pflichten zur „wirksamen Kontrolle der Bundesgrenzen“ nicht gerecht geworden sei. Sofort fand der Begriff des Verfassungsbruchs Eingang in die Diskussion. Seitdem ist umstritten, ob das Unterlassen von Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze im Sommer 2015, das zur Einreise Hunderttausender Menschen geführt hat, mit der bestehenden Rechtsordnung vereinbar war oder nicht. Der folgende Beitrag argumentiert, dass diese Problemzusammenhänge nicht vorschnell als rein verfassungsrechtliche Fragen eingestuft werden sollten. Es ist ein verbreiteter Mythos der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass politische Probleme immer dann entstehen, wenn Gerichte, Parlamente, Regierungen und Behörden zu schwach sind, um den verfassungsrechtlichen Rahmen zu schützen. Dadurch werden politische Kämpfe auf sachliche Fragen reduziert. Es geht mir im Folgenden nicht darum, die Details der gesetzlichen Rahmenbedingungen der deutschen Migrations- und Asylpolitik nachzuzeichnen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass selbst auf der Ebene der Entstehung und Entwicklung von Grundgesetz und Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein enger und unauflösbarer Zusammenhang von Verfassungsgerichtsbarkeit einerseits und politisch-demokratischen Kämpfen andererseits besteht. Es gibt keine verfassungsrechtliche Lösung für politische Kämpfe, genauso wenig wie es eine politische Lösung für verfassungsrechtliche Grundsatzkonflikte gibt. Mit Bezug auf die Entstehungsgeschichte des Bundesverfassungsgerichts zeige ich zunächst, dass politische Kämpfe und verfassungsrechtliche Fragen schon immer untrennbar

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miteinander verwoben sind (2). Diese Verwicklung entflammt sich in der „Flüchtlingskrise“ mit besonderer Wucht – sie ist aber keine Neuheit für das Verfassungsrecht. Danach gehe ich auf den theoretischen Streit über rechtspositivistische oder werteorientierte Verfassungsverständnisse ein (3). Dabei verweise ich auf Ingeborg Maus’ radikaldemokratische Auslegung des Rechtspositivismus sowie dessen Dialektik von rechtsstaatlicher Rahmung und demokratischer Kontrolle. Schließlich plädiere ich für einen demokratischen Kulturoptimismus, der nicht die angebliche Brüchigkeit des demokratischen Rechtsstaats in Krisenzeiten heraufbeschwört, sondern dessen Gestaltungsmöglichkeiten unterstreicht (4).

2 Die Politisierung des Bundesverfassungsgerichts

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Das BVerfG gilt heute als eines der stärksten Verfassungsgerichte der Welt. Sein Einfluss ist nicht nur auf formalrechtliche Fragen begrenzt, sondern umfasst eine Reihe von Kompetenzen, die in anderen Staaten mit Verfassungsorgan undenkbar wären. Die Selbstermächtigung des BVerfGs in der institutionellen Neuaufstellung der Nachkriegszeit lässt sich daran anschließend als Geschichte einer zunehmenden Politisierung des BVerfGs beschreiben. Im Folgenden zeichne ich diesen Prozess nach, um die politischen Machtkämpfe sichtbar zu machen, die ihn begleitet haben. 2. 1 Die Letztinterpretation der Verfassung Die starke Rolle des Reichspräsidenten sowie ein schwacher Staatsgerichtshof wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als zentrale institutionelle Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik angeführt. Hinzu kam die Erzählung, dass der formal orientierte Rechtspositivismus in seiner defensiven Auslegung der Rechtsordnung unfähig gewesen sei, dem erstarkenden Nationalsozialismus etwas

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entgegenzusetzen. Daher wurde in den entscheidenden Gremien und Versammlungen der Nachkriegszeit diskutiert, wie sich ein stärkeres Verfassungsgericht in ein demokratisches System eingliedern lassen könne. Der vorbereitende Verfassungskonvent der westdeutschen Ministerpräsidenten und der Parlamentarische Rat ließen noch offen, wie das Verhältnis zu den anderen Gerichten gestaltet werden kann. Bis zur Annahme des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVErfGG) durch den Bundestag am 1. Februar 1951 konnte man sich lediglich auf organisatorische Fragen einigen. Einzig die Aufnahme der Verfassungsbeschwerde ins BVerfGG zeigte eine neue Richtung auf. Schon Anfang der 1950er-Jahre kam es jedoch zum offenen Streit zwischen Gerichtspräsident Hermann Höpker-Aschoff und Justizminister Thomas Dehler (FDP), welcher zu diesem Zeitpunkt noch als zuständiger Minister über die Haushalts-, Personal- und Geschäftsordnungshoheit des BVerfGs verfügte. Der angesehene Präsident drohte mit Rücktritt im Falle einer erneuten Kandidatur Dehlers bei der Bundestagswahl 1953, sodass die SPD im Juni 1953 eine Mehrheit für die organisatorische Unabhängigkeit und einen Sonderetat des Bundesverfassungsgerichts organisieren konnte. Neben dem Streit mit der Bundesregierung verfolgte das BVerfG auch von Beginn an eine offensive Strategie im Umgang mit den anderen hohen Gerichten. Im sogenannten GutachtenStreit (1955) stellte das BVerfG fest, dass alle verfassungsrechtlichen Stellungnahmen anderer Gerichtshöfe Anfang der 1950er-Jahre nichtig seien, wenn das BVerfG zu einer anderen Schlussfolgerung kommt. Das BVerfG verwies damit auf die Möglichkeit der Letztinterpretation, die ihm faktisch zustehe. Den starken Persönlichkeiten des BVerfG mit ihrer internationalen politischen Erfahrung und ihrem spürbaren Machtbewusstsein wussten die anderen Gerichte nichts entgegenzusetzen. Die Folge war eine Änderung des BVerfGGs im Jahr 1956, die festlegte, dass das BVerfG unmittelbar zuständig für Fragen der Verfassungswidrigkeit ist. Die Konkurrenz zu anderen Gerichtshöfen war somit geklärt.

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2.2 Die Verfassung als „objektive Wertordnung“: das Lüth-Urteil

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Von entscheidender Bedeutung für die Rechtsprechung des frühen BVerfGs, und möglicherweise sogar die starke Stellung des BVerfGs bis heute, ist das sogenannte LüthUrteil aus dem Jahr 1958. Das Urteil ist benannt nach dem damaligen Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth, der im Oktober 1950 öffentlich einen Boykott des Films „Unsterbliche Geliebte“ des Regisseurs Veit Harlan bei der „Woche des deutschen Films“ forderte. Hintergrund für den Aufruf war die Rolle von Veit Harlan im Dritten Reich. Harlan hatte mit dem nationalsozialistischen Film „Jud Süß“ immensen Erfolg gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwischen 1943 und 1945 sahen 20 Millionen Zuschauer den Film. Joseph Goebbels lobte ihn mehrfach höchstpersönlich. Im Laufe seines Entnazifizierungsverfahrens Ende der 1940er-Jahre wurde Harlan dennoch zwei Mal freigesprochen und entlastet. Lüth interpretierte den Freispruch anschließend als rein formellen, im Grunde bedeutungslosen Akt, der an der moralischen und politischen Verwerflichkeit von Harlans Schaffen nichts ändert. Kurz nach Lüths Boykottaufruf beantragten die Filmfirmen (Produktion und Verleih) von Harlan eine einstweilige Verfügung gegen Lüth, welche im Februar 1951 vom Hanseatischen Oberlandesgericht bestätigt wurde. Im November 1951 kam es zur Verurteilung Lüths durch das Landgericht Hamburg. Daraufhin entschied sich Erich Lüth auf Rat seines Anwalts, des bekannten SPD-Politikers Dr. Adolf Arndt, dazu, beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde einzureichen. Die Argumentation lautete, das Urteil verletze Lüth in seinem grundgesetzlich garantierten Recht auf freie Meinungsäußerung. Die notwendigen Dokumente wurden von Arndts damaligem Mitarbeiter, dem späteren Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis angefertigt. Aufgrund der massiven Überlastung des Ersten Senats mit der Prüfung von Verfassungsbeschwerden sowie den schon genannten institutionellen Emanzipationsbestrebungen des

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BVerfG kam es erst im Januar 1958 zum Urteil. Dieses war dann aber umso gewichtiger, da das BVerfG nicht nur das Urteil des Hamburger Landgerichts aufhob, sondern zudem eine umfassende Begründung mit einer neuartigen Verfassungsinterpretation vorlegte. Grundsätzlich verhandelte das BVerfG den Art. 5 GG (Meinungsfreiheit), den Lüth einforderte, im Verhältnis zu § 826 BGB, welcher eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung als Strafbestand auslegt. Es stellte sich nun die Frage, ob Lüths Boykott-Aufruf eine sittenwidrige Schädigung im Sinne der Ausnahmen von Art. 5 GG, Abs. 2 darstellt, oder ob dieser von Art. 5 GG geschützt werden müsse. Die Neuartigkeit des Lüths-Urteil bestand darin, dass das BVerfG annimmt, eine Abwägung zwischen einem Grundrecht (Art. 5 GG) sowie einem zu schützenden Rechtsgut (Art. 5 GG, Abs. 2) vornehmen zu müssen. Lüth wurde somit nicht nur Recht im Sinne von Art. 5 GG gegeben, sondern im Hinblick auf eine Abwägung zwischen diesem Grundrecht und einem Rechtsgut, welches zunächst nur als einfaches Recht festgelegt ist. Im Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 (1 BvR 400/51) versteht das BVerfG die Grundrechte (bzw. den Grundrechtsabschnitt von Art. 1 bis 20 GG) nicht nur als „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“, sondern auch als „objektive Wertordnung“. Das BVerfG verweist dabei auf das Grundgesetz als „keine wertneutrale Ordnung“, sondern als „Wertsystem“, das für „alle Bereiche des Rechts“ Geltung beansprucht. Alle Bereiche des Rechts, Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung würden Impulse durch diese Werteordnung erhalten und jegliche bürgerliche Rechte in ihrem Geiste ausgelegt. Das Lüth-Urteil hat dementsprechend den Spielraum für Grundrechtsdeutungen deutlich erweitert. Einerseits betrifft dies die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf Zivil-, Straf-, Verwaltungs- und Sozialrecht. Andererseits ergeben sich Handlungsaufträge und Schutzpflichten, die deutlich über die Einklagbarkeit von Abwehr- und Freiheitsrechten hinausgeht. Das Lüth-Urteil hat damit dem BVerfG den vielleicht weltweit stärksten Konstitutionalisierungsgrad zugesprochen.

Moritz von Stetten 3 Werteordnung und Rechtspositivismus: Verfassungstheorie der Nachkriegszeit Das Lüth-Urteil ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Kampfes um den rechtlich-politischen Stellenwert des Grundgesetzes. Das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde zum Anlass genommen, einige grundsätzliche Entscheidungen im Hinblick auf die eigene Rolle im institutionellen Gefüge der jungen Bundesrepublik zu fällen. Das Urteil ist darüber hinaus Teil einer größeren theoretischen Auseinandersetzung um die Funktion von Verfassungen im demokratischen Rechtsstaat. Die dort relevanten Positionen gebe ich nun in Ausschnitten wieder, um die aktuelle Rolle des BVerfG in politischen Konflikten und Kämpfen auch in ihrer theoretischen Tiefe und Bedeutung zu verdeutlichen. 3.1 Die Verfassung als Werteordnung 128 Ganz grundsätzlich steht das Lüth-Urteil in der Tradition der Wertphilosophie des 19. Jahrhunderts (Max Scheler, Nicolai Hartmann), die einen Ausweg aus dem normativen Nihilismus des radikalen Subjektivismus suchte, ohne in metaphysische Argumente zurückzufallen. Im Besonderen wurde das Urteil jedoch vor allem durch die Integrationslehre des Staatsrechtlers Rudolf Smend beeinflusst. Smend hatte Ende der 1920er-Jahre eine Verfassungstheorie vorgelegt, die sich scharf von den rechtspositivistischen Positionen abgrenzt (Smend 1928). Durch Einbezug von nicht-juristischen Argumenten suchte Smend nach einer Möglichkeit, einen engeren Zusammenhang zwischen staatlicher Integration und Verfassungstheorie herzustellen. Die Verfassung versteht er dabei als Wert-, Güter- und Kultursystem, das im Sinne einer materialen Interpretation von Grundrechten eine Abwägung und Aufhebung von Gegensätzen durch die Verfassungsrechtsprechung vorsieht. Es gibt nun mehrere Gründe für den Einfluss von Smends Theorie auf die frühe Rechtsprechung des BVerfGs. Erstens

Verfassungsbruch, Wertekrise, Demokratieverfall? galt sie als unbelastete Verfassungstheorie, die im Dritten Reich keinen Einfluss gehabt hatte. So sollte die Wehrlosigkeit eines rein formalen Verfassungsverständnisses durch politisch engagierte Wertbindungen ersetzt werden, die das Bundesverfassungsgericht (in seiner Rolle als politisches Verfassungsorgan) vorgeben kann. Zweitens schien sie einen dritten Weg zwischen Naturrecht und Positivismus aufzuzeigen. Während dem Rechtspositivismus durch die Verstrickung von Carl Schmitt in die Verfassungsinterpretation der Nationalsozialisten eine schlechte Reputation nachhing, schien der Weg zurück zum klassischen Naturrecht auch nicht mehr zeitgemäß. Die Deutung der Verfassung als materiale Wertordnung ermöglicht Streitschlichtung, Kompromissbildung und Interessenausgleich in einer pluralistischen Gesellschaft. 3.2 Der Streit um den „Hüter der Verfassung“ 129

Die Deutung der Verfassung als objektive Wertordnung ist häufig diskutiert und kritisiert worden. Die rechtspositivistischen Einwände gegenüber einer werteorientierten Verfassung nehmen dabei eine gewichtige und prominente Position ein. Zwei Spielarten der rechtspositivistischen Kritik werde ich im Folgenden einführen und erläutern. Erstens verweise ich auf den schon angesprochenen Carl Schmitt und dessen bekannte Kritik an der „Tyrannei der Werte“ (Schmitt 1967). Zweitens gehe ich auf den Vorwurf von Ingeborg Maus ein, dass Schmitt unter dem Deckmantel einer vermeintlich wertevermeidenden Verfassungstheorie antidemokratische Haltungen vertritt (Maus 1980, Maus 2004). Carl Schmitt nimmt in einem Aufsatz mit dem Titel „Tyrannei der Werte“ Stellung zur Rechtsprechung des BVerfGs nach dem Lüth-Urteil. Darin kritisiert er die Übertragung des Wertebegriffs aus Ökonomie und Liberalismus auf die Rechtswissenschaften. Generell diagnostiziert Schmitt einen Relativismus und Perspektivismus der Wertedogmatik. Daraus ergebe sich die Unberechenbarkeit von Urteilen unter dem Deckmantel von Neutralität und Toleranz. Eigentlich aber, so Schmitt, enthalte

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die Wertedogmatik eine „immanente Aggressivität“, die eine juristisch nachvollziehbare Rechtsprechungsmethode zerstören würde (Schmitt 1967, S. 46). Aus Schmitts Sicht könne der „ewige Kampf der Werte und der Weltanschauungen“ jedoch so nicht beendet werden (Schmitt 1967, S. 54). Vielmehr müsse eine Verfassung – man denke an Schmitts bekanntes Diktum, dass der Souverän über den Ausnahmezustand entscheide (Schmitt 2004) – an den Zusammenhalt und die Grenzen einer politischen Gemeinschaft gebunden werden, die als Volkssouverän auftritt. Dieser Volkssouverän ist letztendlich ein exekutives Staatsorgan, das dessen Einheit repräsentiert und ausführt. Von Hans Kelsen über Ernst-Wolfgang Böckenförde bis zu Ingeborg Maus und Ulrich Thiele haben sich zahlreiche Stimmen aus Staatslehre und Rechtstheorie kritisch mit Schmitts Demokratieverständnis befasst. Der zentrale Vorwurf lautet, dass seine Verfassungstheorie den Fokus auf einen Souverän der Exekutive lege, der Gewaltenteilung und demokratische Kontrolle nicht nur in Ausnahmefällen, sondern generell aushebelt. Schon Hans Kelsen hat in den 1920er-Jahren die schmittsche Staats- und Verfassungslehre als einen antipluralistischen Mythos politischer Einheitsbildung kritisiert, der die scheinbare Neutralität exekutiver Staatsorgane überschätzt. Es zeigt sich folglich das Problem, wie das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat konkret geregelt ist. Böckenförde sieht den entscheidenden Punkt in der Frage, wer über den substanziellen Gehalt der Rechtsordnung entscheidet: „Vertraut sich der Bürger hierfür dem gewählten parlamentarischen Gesetzgeber oder vertraut er sich dem Verfassungsgericht an?“ (Böckenförde 1990, S. 31) Böckenfördes Frage impliziert schon eine Teilantwort, nämlich dass es darauf keine eindeutige verfassungsrechtliche Antwort geben kann – schon gar nicht diejenige, die Carl Schmitt gegeben hat. Daran knüpft die Kritik von Ingeborg Maus an Schmitts Verfassungstheorie an. Maus hält das Prinzip der Volkssouveränität für das letzte Fundament des demokratischen Rechtsstaats. Die parlamentarische Kontrolle versteht sie dabei als das zentrale Instrument zum Schutz der Volkssouveränität

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gegenüber exekutiven und judikativen Gewalten. Schmitts Theorie interpretiert sie als eine Form des „soziologischen Positivismus“, der das demokratisch orientierte Verfassungsrecht nicht schützt, sondern situativ deutet und daher nachhaltig aushöhlt (Maus 1980, S. 49). Das sei letztendlich nichts anderes als eine „Relativierung des positiven Rechts im Namen des Rechts“ (Maus 1980, S. 57). Dahinter stecke nicht nur ein hierarchisches und expertokratisches Gesellschaftsbild, durchzogen von einer tiefen Skepsis gegenüber Parlamentarismus und Liberalismus. Viel stärker: Es sei die blanke Angst des konservativen Bürgertums vor den sozialen und progressiven Kräften, die innerhalb rechtsstaatlicher Strukturen dessen sozioökonomische Machtposition in Frage stellen. Ingeborg Maus stellt sich nicht nur gegen Carl Schmitts Verfassungsverständnis, sondern auch gegen die Deutung der Verfassung als Werteordnung. Im Falle des Lüth-Urteils habe das BVerfG die scheinbare Erhöhung der Grundrechte für eine Selbstermächtigung genutzt, die als Vereinnahmung von Souveränität verstanden werden müsse. Folge dieses Schrittes sei eine zunehmende „Aushöhlung des demokratischen Rechtsstaats durch den Vorrang einer entformalisierten Verfassung“ (Maus 2004, S. 849). Als Alternative bezieht sich Maus auf die Klassiker des 18. Jahrhunderts, die eine klare Trennung von Recht und Moral vorsahen, um demokratische Kontrolle zu gewährleisten. In ihrem Modell ist das Volk nicht vom Rahmen der Verfassung eingeschränkt, sondern fungiert zugleich als verfassungsgebende Gewalt. Die Politisierung des BVerfG stellt aus dieser Sicht ein demokratietheoretisches Problem dar, weil die Grenzen zwischen Verfassungswahrung und -interpretation im Sinn einer Rahmenordnung sowie Verfassungsgestaltung nicht klar zu sehen sind.

4. Kulturoptimismus in Zeiten des politischdemokratischen Kampfes Im Lichte dieser Debatten ist es mehr als kurzsichtig, die Debatte zur Migrationspolitik auf ein verfassungsrechtliches

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Problem, eine Wertekrise oder gar einen Verfall der Demokratie zu reduzieren. Auch Hans-Jürgen Papier hat ausführlich darauf hingewiesen, dass die aktuelle „Flüchtlingskrise“ nicht einfach nur als Folge eines Verfassungsbruchs verstanden werden kann. Vielmehr deutet er die unklaren Rechtsverhältnisse als Folge einer unübersichtlichen und ungeklärten Situation in der Migrations- und Zuwanderungspolitik. Zum einen ist die Aushandlung zwischen nationalen, europäischen und völkerrechtlichen Dimensionen völlig ungeklärt. Der aktuelle europäische Streit um die Geltungsreichweite und Grenzen der Dublin-III-Verordnung macht mehr als deutlich, dass hier Zündstoff für weitere politische Konflikte besteht. Zum anderen verfügt Deutschland auch jenseits der Dublin-Regelung selbst über keine klare gesetzliche Regelung in der Abwägung zwischen Zuwanderungspolitik, Asylrecht und der Gewähr von internationalem Schutz. Die Deutung des Grundgesetzes als „Wertordnung“ hat die jahrzehntelang verschleppte und ungeklärte Beschäftigung mit migrationspolitischen Fragen zwar nicht verursacht, aber begünstigt. Das Bundesverfassungsgericht kann zum Handeln auffordern, die dahinterliegenden sozialen Kämpfe aber nicht – sozusagen im Sinne eines gerichtlich verordneten Verfassungspatriotismus (Habermas) – dauerhaft lösen. Die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates müssen diese Probleme selbst lösen. Spätestens hier zeigt sich die Dimension des sozialen und politischen Kampfes in der Deutung und Ausgestaltung der bestehenden Verfassung. Hier wird deutlich, dass in Zeiten einer grundsätzlichen Wertekrise kein Verfassungsmodell vor Konflikten innerhalb der demokratisch organisierten Bevölkerung und Öffentlichkeit schützen kann. Das Wechselspiel von Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Kontrolle muss immer neu erfahren und vermessen werden. Ein demokratischer Rechtspositivismus muss dazu nicht als Fußnote einer von Kulturpessimismus getränkten Anthropologie und Gesellschaftstheorie gedeutet werden. Verfassungstheorie ist kein Teilelement einer politischen Gemeinschaft und einheitlichen Kultur, sondern selbst Gegenstand

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politischer Kämpfe und theoretischer Auseinandersetzungen. Vielmehr lässt sich Ingeborg Maus’ Kritik am „soziologischem Positivismus“ als unnachgiebiger Kulturoptimismus verstehen, der die Widersprüche und Abgründe einer demokratischen Verfassungsordnung anerkennt, ohne autoritären Deutungen nachzugeben. So können die aktuellen politischen Kämpfe als notwendiges Moment einer funktionierenden, radikaldemokratischen Rechtsordnung verstanden werden, deren größte Bedeutung darin liegt, eine über Gewaltenteilung und demokratische Kontrolle geregelte Auseinandersetzung zu ermöglichen. Ein demokratischer Kulturoptimismus erinnert daran, dass weder ein autoritärer Rechtspositivismus noch ein werteorientierter Verfassungspatriotismus die sozialen Kämpfe dauerhaft und zufriedenstellend lösen wird. Es braucht eine intensive und oftmals schmerzhafte Auseinandersetzung in dem von Gewaltenteilung und parlamentarischer Kontrolle geprägten Institutionengefüge des demokratischen Rechtsstaats. Wer ungeklärte migrationspolitische Themen auf Sachfragen reduziert, gibt einem angstbesetzten, konservativen Kulturpessimismus Vorschub, der die Sprengkraft aufgeschobener sozialer Kämpfe unterschätzt. Stattdessen braucht es einen radikaldemokratischen Rechtspositivismus, der den politischen Kampf auf allen Ebenen zulässt, ohne die fundamentale Verzahnung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Frage zu stellen.

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Literatur

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Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1990): Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik. In: Der Staat 1 (4), S. 1−31. Maus, Ingeborg (1980): Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts. München. – (2004): Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat. Zur Kritik juridischer Demokratieverhinderung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7, S. 835−850. Schmitt, Carl (1967): Die Tyrannei der Werte. In: Studien, Ebracher (Hrsg.): Säkularisation und Utopie. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag. Stuttgart, S. 37−62. – (2004): Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin. Smend, Rudolf (1928): Verfassung und Verfassungsrecht. Berlin.

Gerald Bast

Wertewandel. Produziert, behindert, verzögert.

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Zwischen Oktober 1956 und Anfang 1957 flüchteten im Zusammenhang mit dem von Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten gewaltsam niedergeschlagenen Volksaufstand in Ungarn rund 180.000 bis 194.000 Personen nach Österreich. Der österreichische Innenminister Helmer stellte die Flüchtlinge kollektiv unter das Mandat der UNHCR und gewährte ihnen pauschal Asyl. Im Dezember 1957 unterzeichnete der österreichische Bundeskanzler Leopold Figl die Europäische Menschenrechtskonvention; im August 1958 trat sie nach Genehmigung durch den Nationalrat in Kraft. 1988 wurde das im Verfassungsrang stehende Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit aus dem Jahre 1862 durch das Bundesverfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit ersetzt. In den Erläuterungen (134 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XVII. GP) ist zu lesen: Das nunmehr vorgelegte Bundesverfassungsgesetz soll dabei allerdings nicht nur den derzeitigen Stand des verfassungsrechtlichen Schutzes der persönlichen Freiheit festschreiben, sondern den vergleichsweise höheren Rechtsschutzstandard, den die österreichische Rechtsordnung teilweise durch einfachgesetzliche Regelungen bereits vorsieht, ausdrücklich verfassungsrechtlich verankern.

Im Jahr 2015 stellten 88.912 Personen in Österreich einen Asylantrag. (Quelle: BMI) Im August 2015 erklärt Herbert Kickl, damals Generalsekretär der FPÖ, in einer Presseaussendung: „Die Europäische Menschenrechtskonvention ist nicht dazu geeignet, die Völkerwanderungsproblematik in den Griff zu kriegen. Sie muss entweder auf EU-Ebene erneuert oder durch eine ‚Österreichische Menschenrechtskonvention‘ ersetzt werden. Sonst wird das hohe Gut Asyl dauerhaft zum Einfallstor für die illegale Masseneinwanderung.“ Die Europäische Menschenrechtskonvention, so Kickl, stamme aus den 1960er-Jahren, aus der Zeit des „Eisernen Vorhangs“. Sie sei nicht mehr zeitgemäß und bilde die Grundlage für eine exzessive Auslegung der Asylbestimmungen

Gerald Bast

durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der mit seinen Urteilen quasi gesetzgebend wirke. So werde etwa Homosexualität als Asylgrund anerkannt. „Was gut und richtig war in Zeiten, als es um die Aufnahme einzelner ging, funktioniert nicht mehr, wenn sich Massen von Menschen auf der Suche nach einem ‚besseren Leben‘ von einem anderen Kontinent aus nach Europa aufmachen.“1

Im Jahr 2016 wurden in Österreich 42.073 Asylanträge gestellt. Das sind um 52% weniger als im Vorjahr. (Quelle: BMI)

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Im Mai 2016 wird im Asylgesetz die Möglichkeit zur Erlassung einer Verordnung der Bundesregierung zur Feststellung der Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit beschlossen. Im September 2016 geht der Entwurf dieser Verordnung in Begutachtung. Diese in der öffentlichen Kommunikation als „Notverordnung“ bezeichnete Verordnung sieht vor, dass an Österreichs Grenzen keine Asylanträge mehr gestellt werden können, sobald die jährlich gestellten Asylanträge die Zahl von 37.500 übersteigt. In einem Interview im ORF am 23. Januar 2019 bezeichnet Herbert Kickl, der im Dezember 2017 als Innenminister der Republik Österreich auf die Verfassung angelobt wurde, die Europäische Menschenrechtskonvention als „irgendwelche seltsamen rechtlichen Konstruktionen, teilweise viele, viele Jahre alt, aus ganz anderen Situationen heraus entstanden, und die hindern uns daran, das zu tun, was notwendig ist.“ Im Februar 2019 wird bekannt, dass das Innenministerium eine „Sicherungshaft für gefährliche Asylwerber“ aus Gründen der nationalen Sicherheit und des Schutzes der öffentlichen Ordnung plant. Allerdings stellt Innenminister Kickl fest: „Eine ‚Sicherungshaft‘ gibt die derzeitige Rechtslage, vor allem das Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit, nicht her.“ Daher, so Innenminister Kickl, brauche es eine entsprechende Änderung in der Verfassung.

Wertewandel

Er erwarte sich einen „Schulterschluss im Parlament“ für eine notwendige Zweidrittelmehrheit: „Wer die Änderung nicht mitträgt, zeigt klar, dass ihm der Schutz der Bevölkerung vor kriminellen Asylwerbern kein wahrhaftiges Anliegen ist.“2

Im gesamten Jahr 2018 wurden in Österreich 13.400 Asylanträge gestellt. (Quelle: BMI)

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Das sind weniger Asylanträge, als im Jahr 1988 (15.790), in dem die Standards für den verfassungsrechtlichen Schutz der persönlichen Freiheit erhöht wurden, und um 92% weniger als die Flüchtlingszahl von 1956/57, als Bundeskanzler Leopold Figl (ÖVP) die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnete. Jener Leopold Figl, der im März 1938 von den Nationalsozialisten − formalrechtlich gedeckt durch die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes  vom 4. Februar 1933 − in „Schutzhaft“ genommen und ins KZ Dachau transportiert worden war.

69% der Österreicher halten die derzeit diskutierte Sicherungshaft für potenziell gefährlich, aber für noch nicht straffällig gewordene Personen für grundsätzlich überlegenswert. 22% der Befragten halten nichts von einer solchen Maßnahme; 9% hatten dazu keine Meinung. Besonders starke Zustimmung findet der Vorschlag bei Anhängern der Regierungsparteien: 86% der FPÖ-Wähler und 90% der ÖVP-Wähler können sich die Einführung einer Sicherungshaft vorstellen. Laut der vom Meinungsforschungsinstitut Unique research für „Profil“ durchgeführten Umfrage begrüßt auch die Mehrheit der SPÖ-Wähler den Vorschlag: Während 34% eine solche Maßnahme ablehnen, halten 56% die Einführung einer Sicherungshaft für überlegenswert.3 Weltweit werden Menschenrechte relativiert, deren Einschränkungen mit Sicherheitsversprechen gerechtfertigt. Die Berufung auf die Einhaltung von Menschenrechten wird als

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naives Gutmenschentum verspottet, mit wirtschaftlichen Interessen gegengerechnet (Trump gegenüber Saudi-Arabien) oder überhaupt tabuisiert und kriminalisiert (Türkei, Russland, China). Die dramatische Tragik der aktuellen politischen Prozesse in Europa liegt darin, dass ausgerechnet jene, die den Zerfall der westlichen, abendländischen Werte beklagen, zentrale Elemente eben dieser „westlichen Gesellschaft“, die Errungenschaften der europäischen Aufklärung sind, aufzuweichen versuchen: In Polen, Ungarn, Deutschland, Frankreich, Italien und in Österreich finden sich beredte Beispiele. Unsägliche Worte pflastern den Weg zu ungeheuerlichen Taten. Eine Gesellschaft, die sich nicht wehrt gegen die Verrohung der Worte, der wird die Kraft fehlen, gegen die Verrohung der Taten aufzutreten. Verärgertes, entsetztes oder ängstliches Schweigen lässt das Schreckliche zur Normalität werden. Wertewandel passiert nicht. Wertewandel wird produziert, behindert oder verzögert. Ein aktuelles Beispiel für Behinderung und Verzögerung eines gesamtgesellschaftlich positiven Wertewandels ist die Reaktion der österreichischen Schulverwaltung auf die weltweiten „Klimastreiks“ von Schülerinnen und Schülern. Am 15. März 2019 fanden auch in Österreich Schülerdemonstrationen zum Klimaschutz statt. Die Forderungen lauten: –– für eine nachhaltige Zukunft –– für globale Klimagerechtigkeit –– für eine gesunde Umwelt –– für Ernährungssicherheit –– für soziale Gerechtigkeit –– für uns und alle zukünftigen Generationen. Die weltweite Schüler-Bewegung „Fridays for Future“ hatte damit auch Österreich erreicht. Am Donnerstag, den 21. März 2019, einen Tag vor den nächsten geplanten Klimademonstrationen von Schülerinnen und Schülern, gab das Bildungsministerium einen Erlass an alle Landesschuldirektionen heraus. Darin wird darauf hingewiesen, dass die schulrechtliche Situation eindeutig sei. „Gemäß Paragraph 43 Schulunterrichtsgesetz (SchUG) sind die Schüler verpflichtet,

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den Unterricht während der vorgeschriebenen Schulzeit zu besuchen.“ Bleiben sie aufgrund der Teilnahme an einer Demo fern, stelle dies keinen der im Gesetz ebenfalls aufgezählten Gründe für eine gerechtfertigte Verhinderung dar. Auch der Klassenvorstand bzw. Direktor kann damit dem Schüler nicht die Erlaubnis zum Fernbleiben aus „wichtigem Grund“ geben. Im fraglichen Zeitraum habe regulärer Unterricht stattzufinden.4 Regulärer Unterricht in der Praxis heißt: 50 Minuten Geografie und Wirtschaftskunde, 50 Minuten Geschichte, 50 Minuten Biologie, 50 Minuten Chemie. Und man tut so, als habe das alles nichts miteinander zu tun, weil fächerüberschreitender Unterricht (aus vielerlei systemimmanenten Gründen) die marginale Ausnahme im Schulalltag darstellt. Noch im Jahr 2014 hat das Bildungsministerium einen Grundsatzerlass „Umweltbildung für nachhaltige Entwicklung“ herausgegeben. Darin heißt es: „Umweltbildung trägt dazu bei, Menschen zu befähigen, Verantwortung für sich selbst, für gegenwärtige und zukünftige Generationen zu übernehmen und sich aktiv an der Gestaltung einer lebenswerten Zukunft zu beteiligen. Dazu braucht es Wissen, Fähigkeiten und die Bereitschaft jedes einzelnen Menschen sich zu engagieren.“5 Auf dem Papier ist dieser Erlass noch immer in Kraft. Für die zumindest teilweise Bewältigung der Herausforderung des Klimawandels − solange uns dafür überhaupt noch Zeit bleibt − sind engagierte Menschen notwendig. Die Motivation, sich zu engagieren, ist bei jungen Menschen potenziell besonders hoch, weil sie es sind, die mit den Konsequenzen des Klimawandels noch viele Jahrzehnte leben werden müssen. Was passiert, wenn das sichtbare Engagement so vieler junger Menschen im Keim erstickt wird, weil sie und ihre Eltern mit einer Verwaltungsstrafe bedroht werden, wenn Schüler an einer Klimaschutz-Demonstration teilnehmen?

Nächstes Beispiel: Bildungspolitik Während die Europäischen Union von der politischen Elite noch immer als epochales Friedens- und Wohlstandsprojekt

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beschworen wird, laufen dem Projekt Europa die Menschen davon: Verjagt von Angst- und Hassparolen oder schlicht abgedriftet aus Desinteresse und Enttäuschung. Der Wohlstand schwindet. Europäische Bürgerinnen und Bürger werden ausgegrenzt oder grenzen sich selbst von „europäischen Werten“ wie Toleranz, Meinungsfreiheit, Trennung von Religion und Staat ab und aus. Aggression, Hass und Gewalt nehmen, befeuert von kulturellem und religiösem Chauvinismus, zu. Ehemals waren Bildung, Wissenschaft und Kunst die Wegbereiter der Europäischen Aufklärung. Für die Europäische Union ist der Zweck von Bildung die Herstellung von „employability“, die Realpolitik vergisst aber, dass der Begriff „employability“ angesichts der Veränderung der Arbeitsmärkte infolge der technologischen Revolution neu definiert werden muss. Während die Politik von „abendländischen Werten“ wie Demokratie, Aufklärung, Toleranz und Meinungsfreiheit spricht, entlassen die europäischen Bildungssysteme in zunehmender Anzahl frustrierte Personen, die mit eben diesen Werten im günstigsten Fall nichts anfangen können oder sie im schlechtesten Fall als Gotteskrieger mit Gewalt bekämpfen. Jetzt, da dieser Kampf im Herzen Europas angekommen ist, sollte den europäischen Politikern vielleicht doch langsam klar werden, dass die Fixierung der EU auf eine Wirtschaftsund Agrarunion eine Sackgasse ist, an deren Ende die Mauer steht, gegen die das Projekt Europa mitsamt den ,,abendländischen Werten“ gefahren wird. Jetzt, da verzweifelt gefragt wird, wie es soweit kommen konnte, dass in Europa ausgebildete und aufgewachsene Bürger mit den Worten ,,Gott ist groß!“ Journalisten, Karikaturisten und sogar völlig unbeteiligte Spaziergänger abschlachten, sollte die mit dem Mantra ,,MINT” (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) gepredigte bildungspolitische Doktrin, Schulen und Universitäten als Zulieferbetriebe für Betriebe, die es in dieser Form in 20 Jahren gar nicht mehr geben wird, zu sehen, endlich als gefährlicher Irrweg verworfen werden. Bildung kann eine Gesellschaft nicht verändern. Aber Bildung kann Menschen verändern. Und Menschen können Gesellschaften

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gestalten. Das ist der Grund, warum Bildung, besser: eine bestimmte Art von Bildung, die zu Priorisierung und Internalisierung von Werten wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und kritischem Denken führt, von autoritären Systemen zu allen Zeiten als gefährlich angesehen wurde und wird. Wenn technologische Entwicklungen dazu führen, dass Algorithmen und selbstlernende Maschinen immer mehr Bereiche übernehmen, von denen geglaubt wurde, sie seien für immer die Domäne des Menschen, dann stellt das sowohl einen philosophischen als auch einen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel dar. Es erscheint fast paradox, dass die Konsequenzen des Paradigmenwechsels in diesen beiden Feldern keineswegs so gegenläufig sind, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Was ist die Rolle des Menschen im Universum in Zeiten von Artificial Intelligence und Robotik? Wie definieren wir die Zukunft menschlicher Arbeit? Müssen wir uns nicht in beiden Fällen darauf fokussieren, wo der Mensch (noch) besser ist als Maschinen? Soziale Intelligenz, emotionale Intelligenz, Intuition und Kreativität befähigen dazu, gänzlich Neues, Ungewöhnliches zu denken und zu handeln. Das Weltwirtschaftsforum publiziert seit einigen Jahren darüber, wie Artificial Intelligence, Robotik und andere Formen der Digitalisierung die Wirtschaft und das, was wir unter menschlicher Arbeit zu verstehen gewohnt sind, verändern wird. Diese Veränderung wird global, tiefgreifend und in nie gekannter Geschwindigkeit vor sich gehen. In vertraulichen Gesprächen beklagen Vertreter des Weltwirtschaftsforums und einige wenige Spitzenunternehmer, dass jedes Jahr in Davos die Spitzen der Regierungen den Analysen und Schlussfolgerungen der ExpertInnen des Weltwirtschaftsforums öffentlichkeitswirksam andächtig lauschen − danach aber wenig bis gar nichts von den Schlussfolgerungen und Vorschlägen des Weltwirtschaftsforums umsetzen. Seit Jahren wird darauf hingewiesen, dass eine große Zahl der jetzt bekannten Jobs in 20 Jahren nicht mehr existieren wird. Seit Jahren wird nachgewiesen, dass die dramatischen Veränderungen der Wirtschaftsprozesse und damit

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der Arbeitsmärkte notwendigerweise zu einer Veränderung der Bildung führen müssen. Die bekannten, im Zuge der ersten Industriellen Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten zentralen Werte unserer Bildungssysteme − Aneignung und Speicherung von Wissen, Fragmentierung der Wissenslandschaft, intellektuelle Arbeitsteilung in Bildung, Wissenschaft und Forschung in immer kleiner werdenden wissenschaftlichen Disziplinen und Sub-Disziplinen − sind zwar nicht obsolet, aber zumindest dringend ergänzungsbedürftig. Wir leben in einer Welt, die gekennzeichnet ist von Veränderung, Ungewissheit und Mehrdeutigkeit. Liquid Society nannte der Philosoph Zygmunt Baumann das. Aber an unseren Bildungsinstitutionen, an denen die Menschen vorbereitet werden sollen auf das Leben in dieser Liquid Society, da herrscht weitgehend eine Kultur der Eindeutigkeit und Messbarkeit: ja oder nein. Wahr oder falsch. Richtig oder unrichtig. Auch in der Politik geht es um möglichst eindeutige und einfache Antworten. Gut oder böse, Leistungsträger oder Sozialschmarotzer, Willkommenskultur oder Grenzen dicht. Doch in einer Welt von nie dagewesener Komplexität führen einfache Antworten zwangsläufig zum Aufbau von Scheinrealitäten und in der Folge oft genug zu Enttäuschung und Aggression. Abwägen, Relativieren, Differenzieren, Hinterfragen, Verbindungen herstellen zwischen unterschiedlichen Wissensund Handlungsfeldern. – Wo hat das seinen organisierten Platz in unserem Bildungssystem? In uniformierten Bildungsstandards, Multiple-Choice-Test-Ergebnissen, ECTS-Punkten und Citation-Indices ist das nicht abbildbar. Die bereits angelaufene technologische Revolution wird unsere Art zu arbeiten und zu leben massiv beeinflussen. Innerhalb einer Generation werden bis zu 50% der heute bekannten Arbeitsplätze wegbrechen. Politiker, in seltenem Einklang mit Unternehmervertretern und Gewerkschaftern, sind bemüht die Situation klein zu reden: Es werde schon nicht so schlimm kommen. Digitalisierung und Automatisierung werden nicht so viele Arbeitsplätze vernichten wie befürchtet.

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Es habe immer schon industrielle Revolutionen gegeben und danach habe es immer wesentlich mehr Arbeitsplätze gegeben als vorher. Vernachlässigt wird dabei die Tatsache, dass die erste Industrielle Revolution 100 Jahre brauchte, bis sie ihre volle Wirkung in Wirtschaft und Gesellschaft entfaltet hatte. Vernachlässigt wird dabei, dass mit der ersten Industriellen Revolution Kinderarbeit, schreckliche Arbeitsbedingungen, Armut, Aufstände und Rebellionen einhergingen. Vernachlässigt wird dabei, dass Arbeitslosigkeit eindeutig mit Armut, Kriminalität, physischen und psychischen Krankheiten sowie politischer Radikalität korreliert. Vernachlässigt wird dabei, dass die aktuelle technologische Revolution Arbeit und Wirtschaft so rasch verändern wird wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Zweifellos wird die technologische Revolution neue Arbeitsformen und Arbeitsplätze hervorbringen. Wir wissen aber nicht, welcher Art diese Arbeitsplätze sein werden. Software-Ingenieure ist eine typische Antwort, der das in Zeiten komplexer Zusammenhänge längst obsolete Prinzip linearen Denkens zugrunde liegt. Und wir wissen nicht genau, welche Qualifikationen für diese neuen Arbeitsplätze erforderlich sein werden. Adaptivity for change und transferable skills sind daher die Schlüsselbegriffe zur Bewältigung der Zukunft. Bildung wird wichtiger denn je. Es geht um mehr Bildung für mehr Menschen, aber mit anderen Bildungszielen und anderen Bildungsinhalten: –– Umgang mit komplexen Problemen –– kritisches Denken –– Kreativität. Laut Weltwirtschaftsforum sind das die drei wichtigsten Kompetenzen für das Leben und Arbeiten im Digitalen Zeitalter. Denn „Race against the Machine“, so der Titel eines Buches über das Digitale Zeitalter, kann der Mensch nur dort gewinnen, wo er besser ist, als die Maschinen − creative skills sind gefragt: –– Umgang mit Mehrdeutigkeit und Ungewissheit –– Einsatz von Imagination, Assoziation und Intuition –– Hinterfragen bestehender Denk- und Handlungsmuster

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–– Perspektiven wechseln –– unkonventionelle Zusammenhänge herstellen. Creative skills, also genau jene Kompetenzen, die in der Auseinandersetzung mit Kunst die Hauptrolle spielen, werden zur zentralen Kulturtechnik für das Leben und Überleben im Digitalen Zeitalter. Aber auch dieser notwendige Wertewandel in der Bildungspolitik wird ignoriert von den noch immer mächtigen MINT-Lobbyisten in Wirtschaft und Politik, die behaupten, die Verteilung von Tablets an alle Schüler, flächendeckender Informatikunterricht in den Schulen und der massive Ausbau der MINT-Fächer seien die Schlüssel für das Überleben im Digitalen Zeitalter. Wissen ist Macht, hieß es einst. Kreativität ist Macht, heißt es im Digitalen Zeitalter. Die Macht liegt in der Fähigkeit zur Interpretation und kreativen Verknüpfung von Information. Die kreativen Köpfe von der Wall Street, von Google, Apple, Cambridge Analytica und Facebook wissen, nutzen und forcieren das.  Der Wertewandel in Bildung und Forschung wird kommen: –– Umgang mit komplexen Problemen, –– kritisches Denken, –– Kreativität. Die Frage ist nur, wer sich die Auswirkungen dieses bildungspolitischen Wertewandels zunutze machen wird: Jene Institutionen, die der demokratischen Entwicklung möglichst breiter Teile der Gesellschaft verpflichtet sind, oder die in dramatischer Geschwindigkeit zu wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht aufgestiegenen Datenkonzerne, die ihrem Shareholder Value verpflichtet sind. Es geht nicht um den Kampf der Kulturen, sondern um den Wettstreit zwischen Ideen- und Wertesystemen. Ersteres findet gewaltsam statt, Letzteres auf dem Feld der Bildung. Denn den Wettstreit um Werte kann man nur in den Köpfen gewinnen.

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Endnoten

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1 APA OTS0023, 23.8.2015, 11:57. 2 Die Presse, 14.2.2019, https://diepresse.com/home/innenpolitik/ 5579806/Kickl-will-Sicherungshaft-und-Verfassungsaenderung. 3 Profil, 2.3.2019, https://www.profil.at/oesterreich/umfrageoesterreicher-mehrheit-sicherungshaft-10669686. 4 https://science.apa.at/site/bildung/detail.html?key=SCI_20190322_ SCI847551854. 5 Erlass des Bundesministeriums für Bildung und Frauen, GZ BMBF37.888/0062-I/6c/2014, Rundschreiben Nr. 20/2014.

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Plädoyer für die Wiederholung der Grundrechte. Gedanken zur Kritik der Gewalt und der kulturellen Identität

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„Nichts scheint mir weniger veraltet zu sein als das klassische emanzipatorische Ideal.“ (Jacques Derrida)1

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Als im Herbst 2015 eine große Zahl an Menschen aus Ländern des Nahen Ostens, allen voran Syrien, aus Nordafrika und Afghanistan über den Balkan und westeuropäische Grenzen vor Krieg, Hunger und Wirtschaftskriminalität flohen, prognostizierte der Zuwanderungsforscher Demetrios Papademetriou eine Revolution der muslimischen Flüchtlinge, sobald die Balkanroute 2016 nach den Plänen der EU geschlossen sein würde und sich der Massenzustrom an Menschen dynamisiert hätte.2 Er sollte nur kurz Recht behalten. Im Februar 2016 kam es zu einem kleinen Aufstand an der mazedonisch-griechischen Grenze im völlig überfüllten Lager Idomeni. Menschen wollten über die Grenze und wurden abgehalten. Letztlich erreichte die EU ihr Ziel, durch die Blockierung der Ost-MittelmeerRoute und das EU-Türkei-Abkommen einen Flüchtlingsrückstau zu evozieren, der bis dato in einer stark gesunkenen Anzahl an Migranten/-innen resultiert. Man muss die Vorgeschichte der Bewegung erzählen: Die deutsche und die österreichische Regierung mit Angela Merkel und Werner Faymann an ihren Spitzen hatten zwei Monate zuvor mit dem Ausnahmegestus der „Willkommenskultur“ die Massen über die Schengen-Grenzen „durchgewunken“, während Ungarn einen Zaun an der serbischen Grenze errichtete. Und auch die Vorgeschichte zu dieser Geste: Seit Jahren lässt die EU kein Botschaftsasyl zu und erschwert Flüchtlingen dadurch die legale Einreise in den Schengen-Raum;3 die DublinVerordnung4 lässt einen gerechten Verteilungsschlüssel auf EU-Länder vermissen, weil er von einzelnen Staaten, allen voran Deutschland, blockiert wurde; 2017 und 2018 kam es in Österreich zu deutlichen Verschärfungen des Fremdenrechts. Wie es 2018 weiterging: Nicht nur die USA, auch zehn weitere Länder, darunter Österreich und andere EU-Staaten, verlautbarten den UNO-Migrationspakt nicht zu unterzeichnen. Er gilt

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als konkreteres Maßnahmenpaket, um die auch von Österreich ratifizierte Agenda 2030 (Nachhaltigkeitsziele) zukunftsorientierter zu spezifizieren. Die meisten UNO-Länder, fast 200 an der Zahl, signierten ihn im Dezember 2018. Die Begründung der österreichischen Regierung lautete, sie befürchte Souveränitätsverlust und eine „Völkerrechtsgewohnheitsbindung“. Diese Angst hatten die Visegrád-Staaten bekundet, als die EU im September 2015 ein Quotensystem vorgeschlagen hatte. Es solle kein Menschenrecht auf Migration geben. Die Begründung scheint eine rhetorische Finte zu sein oder aber Resultat eines parteipolitischen „Confirmation Bias“ – der Interpretation die eigene Sicht stärkender Informationen. Denn der Pakt sieht eine Aufweichung der Souveränität ausdrücklich nicht vor. Er nimmt das gegen ihn vorgebrachte Argument vorweg und fordert zur Ursachenbekämpfung auf, um Gründe für Migration langfristig abzubauen und gemeinsame effizientere Regelungen für die Bewältigung zu erwartender globaler Flüchtlingsströme zu etablieren. Der Pakt ist deutlich eine Reaktion auch auf die Grenzsituation zwischen den USA und Mexiko, auf die Schwierigkeiten der EU im Umgang mit der Verteilung von Geflüchteten und auf Programme rechtspopulistischer Parteien, welche die Prognose von Massenzuströmen als Argument nutzen, Grenzen zu schließen, statt Menschenrecht zu leben. Im Herbst 2018 entschied die EU-Kommission binnen zwei Jahren Frontex von 1.200 auf 10.000 Einsatzkräfte aufzustocken, um die Außengrenzen nochmals zu stärken. Gleichzeitig wird auf der zentralen Mittelmeerroute der Kampf gegen illegale Schlepper nicht nur ausgeweitet, sondern – ein neues schreckliches Kapitel im Drama – verkehrt gegen mehr als legale, nämlich humanitäre, die Menschenrechtsgesetze vorbildlich einhaltende Seenotorganisationen. Sie dürfen italienische Häfen nicht mehr anlaufen. 2018 starben mehr Menschen in den Fluten als in den Vorjahren, obwohl die Migrationsquote stark sank. Indessen versuchte in Österreich im Januar 2019 die FPÖ bzw. Innenminister Kickl dieses Mal wirklich ein Menschen-

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recht anzutasten. Als Kickl seinen Wunsch nach weiteren Verschärfungen des österreichischen Fremdenrechts verlautbarte, vertrat er im ORF-Report vom 22. Januar 2019 den Standpunkt, das Recht habe der Politik zu folgen, nicht die Politik dem Recht, womit er sich gegen die Verfassung stellte, was natürlich zu großem Unmut bei Parteien, verschiedenen Organisationen, Medien, der Regierung und in der Bevölkerung führte. Er wünscht sich, alte Gesetze infrage stellen zu dürfen. Mit seiner Aussage greift er sowohl die Europäische Menschenrechtskonvention an als auch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. In Deutschland stellte die AfD bereits im Bundestagswahlkampf 2017 die im Grundgesetz und der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten individuellen Schutz- und Asylgarantien infrage. Die Partei fordert, ähnlich wie dann auch die FPÖ, Leistungsbeschränkungen für Asylwerber/innen sowie, eine „ungeregelte Massenimmigration“ ortend, eine „Null-Zuwanderung“ anzustreben bzw. alternativ eine „Belastungsgrenze“ sowie eine „Mindestabschiebequote“ zu definieren. Unter den globalen Wanderungsbewegungen könne das Asylgrundrecht nicht aufrechterhalten werden. Die AfD fordert auch Migranten/-innen ausdrücklich zur Assimilation auf, weil es nicht die Aufgabe einer Gesellschaft sei, sich anzupassen. Die rechtspopulistische Partei sieht die kulturellen Errungenschaften Deutschlands gefährdet. Ein Jahr später, im November 2018, stellte sogar ein Mitte-Rechts-Mitglied der CDU, Friedrich Merz, das individuelle Asylrecht infrage und überzeugte einige CDU-Landespolitiker. Die sich an den aufgezählten, tendenziell immer öfter Grundrechte angreifenden und damit menschenverachtenden politischen Positionierungen zeigende und im Zuge einer Migrationsbewegung herausgebildete, als sogenannte „Flüchtlingskrise“ bezeichnete „Krise“ ist eine politische der EU-Länder und der westlichen Welt. Die Krisen der Flüchtenden selbst, die eigentlichen, sind nicht gemeint. Sie werden von der seltsamen, bildlichen, emotionalen und daher einprägsam und manipulativ wirksamen Bezeichnung der europapolitischen Krise medial überlagert. Der Begriff „Flüchtlingskrise“ evoziert ein Chaos, eine massive Überlastung, eine Dynamik, der keiner standhalten

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könne. Er evoziert auch ein Bedrohungsszenario durch die Einwanderung muslimischer Minderheiten seitens der Rechtspopulisten. Insofern der UNO-Migrationspakt bei der Regelung angstbesetzter wirtschaftlich-administrativer Herausforderungen ansetzt − Stichwort „Obergrenze“ − und fast alle UNO-Länder dieses Angebot aufgreifen, um gemeinsam an einem menschenwürdigen Strang zu ziehen, sind die ablehnenden Länder der EU jene, in denen Rechtspopulisten in der Regierung sitzen und tendenziell die Viségrad-Staaten, die in ihrer jüngeren Geschichte noch keine Einwanderung aus südlichen Ländern erlebten und deren Sorge die Angst vor Identitätsverlust ist, während sich in Westeuropa multikulturelle Gesellschaften entwickelten.

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Eine latente Verzahnung dieser Ängste konstatieren Metz/ Seeßlen in einer zynisch-ideologiekritischen Analyse des Verhältnisses zwischen Demokratie und Rechtspopulismus. Die Krise stelle sich dar als „Umwandlung von einem sozialstaatlich gebremsten, demokratisch-liberalen, aufklärerisch gezügelten Wohlfühlkapitalismus, der sich als strahlende Alternative zu muffigen, unfreien Mangelwirtschaften ‚im Osten‘ inszenierte, zu einem unbarmherzigen, Ungleichheit forcierenden, anarchisch-deregulierten ‚neoliberalen‘ Kapitalismus“.5 Was sonst soll man unter dem administrativen Problem der Obergrenze verstehen als die Angst, teilen zu müssen, sich einschränken zu müssen, etwas aufgeben zu müssen – wovon eigentlich nie die Rede war. Oder was soll das anderes sein als die Angst, nicht weiter Grundeigentümer akkumulieren zu können oder Raumvolumen zur Verfügung stellen zu müssen; die Angst vor Wachstum des Fremden statt Wachstum des Volkes. Eine regressive Angst, die der Gesellschaft nicht zutraut, das „Projekt Moderne“ zu beherrschen.6 Der Rechtspopulismus glaubt im Rückgriff auf Heimat-Symbolik, Nation und Volk in der modernen Gesellschaft eine verloren gegangene Identität von Nation, Boden, Natur und Kultur wiederzufinden,

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wo diese doch nur Phantasma einer verklärten heilen Welt sein kann, in der sich andere Teile der Gesellschaft nicht wohl fühlen und unter Heimat anderes verstehen mögen. Man denke an Alexander Van der Bellens Kampagne zur österreichischen Bundespräsidentschaftswahl 2016. Die altbekannte Besetzung des Heimatbegriffs durch die FPÖ hebelte er durch eine offensive nicht-projektive, gegenwartsbezogene und zukunftsorientierte aus. Er präsentierte ein Bild von Heimat mit den Facetten dessen, was geworden ist, bleiben soll und weiter werden soll; eine typisch naturbezogene Heimat, gleichbedeutend mit ökologisch schutzbedürftiger, und eine des Immigranten. Van der Bellen stand in der Kampagne vor den Bürgerinnen und Bürgern, auf dem Plakat, in der Naturheimat, für eben diese ein: als Immigrantenkind und als kandidierender Stellvertreter der Österreicher/innen, also als „der“ Stellvertreter auch aller Immigranten/-innen und Asylsuchenden in Österreich; sophisticated und mutig, darauf abzielend, einen ideologisch verbrämten Begriff neu zu besetzten. Bereits die Kampagne war Aufklärung – klares Asset von Van der Bellen. Nicht der FPÖ, für die der beschleunigte Gesellschaftswandel die eigentliche Projektionsfolie bildet. Man will beides: unter sich sein und die Errungenschaften der Moderne. Wohin das führt, mag man mit Metz/Seeßlen als „völkischen Turbokapitalismus“ oder „barbarisierten Neoliberalismus“7 bezeichnen.8 Unter sich sein zu wollen bedeutet, kulturelle Gleichmacherei als Identitätsbildung zu verstehen. Moderne demokratische Gesellschaften setzen hingegen auf kulturelle Differenz und Individualität als Motoren für die Ausbildung einer Selbst­ identität. Ihren Ausdruck findet das neoliberalistisch-völkische Begriffskonglomerat auch im seitens der CDU falsch gedeuteten Begriff der „Leitkultur“, wie ihn Bassām Ţībī9 im besten Sinne prägte – er forderte europäischen, dezidiert nicht nationalstaatlichen kulturellen Pluralismus statt beliebigen Multikulturalismus, Verinnerlichung der Grundrechte seitens der Muslime und eine Leitkultur.10 Der Leitkultur ergeht es unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen indessen nicht besser als der kollektiven Identität unter demokratischen. Sie setzt auf

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die Errungenschaften der kulturellen Moderne, stellt die Frage nach Universalität westlicher Werte und hat sie für den politischen Diskurs vorbereitet, das ist ihr Verdienst. Sie klammert den postmodernen Diskurs um Werterelativität in Zusammenhang mit der Frage nach kultureller Repräsentativität jedoch aus. Die Unterscheidung zwischen „kulturellem Pluralismus“ und „Multikulturalismus“ erweist sich bei genauerem Hinsehen als schwierig. Leitkultur exkludiert potenziell andere Kulturen − denn es geht nicht nur um den Islam − sowie den kulturellen Fachdiskurs. Sie klammert jedenfalls dann aus, möchte man, frei nach Viktor Orbán, dezidiert die europäische Kultur durch Grenzschließung schützen. Das war kein Ansinnen des gebürtigen Syrers Ţībī. Wenn eine Leitkultur als Werte-Dispositiv für Integration statt Assimilation stehen soll, müssen sich die europäischen Muslime ihrer von selbst bemächtigen. Das tun sie auch. Ihre Anpassungsleistung ist nicht geringer als jene der deutschen Staatsbürger. Die Bundeszentrale für Politische Bildung belegte 2011 eine Zustimmung der in Deutschland lebenden Muslime zu den Grundlagen des deutschen Staats- und Rechtssystems, die so groß ist wie jene der Gesamtbevölkerung:

„Teilweise ist ihr Vertrauen in die deutschen Institutionen sogar stärker ausgeprägt. Mit aller Vorsicht kann gesagt werden, dass die wohl bei weitem größte Gruppe von Muslimen diejenige der ‚Alltagspragmatikerʻ ist, welche sich wie wohl der größte Teil der Bevölkerung überhaupt ohne tiefere Reflexion in das bestehende System einfindet und es in seinen Grundentscheidungen – einschließlich der Menschenrechte – bejaht.“11 Die meisten muslimischen Akteure/Akteurinnen integrieren sich nicht zuletzt durch ihren zwangsläufigen Kontakt mit EU-Bürgern/-innen, wenn auch nicht alle und wenn auch nicht alle auf einmal. Aber das war ja klar, ist man gewillt zu sagen. Prägen ethische Gesichtspunkte wie Gleichbehandlung und Fairness nicht den Lebensalltag eines jeden Menschen?

Plädoyer für die Wiederholung der Grundrechte Menschen möchten sich in ihrer Umgebung wohlfühlen. Sie setzen im Normalfall zuerst auf Loyalität gegenüber der Staatsform des Landes, in dem sie sich befinden. Der/die normale Muslim/Muslimin, der/die sich für Westeuropa entscheidet, entscheidet sich für das Leben in der westeuropäischen Gesellschaft. Selbstmordattentäter sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme.

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Man kann so denken, wenn man auf Zeit setzt, Zeit der Säkularisierung und auf den Menschen, nicht das System. Fakt ist aber auch, dass gar nicht ausgemacht ist, ob der Islam an Laizismus oder Antiklerikalismus anschlussfähig ist. Viele, einschließlich Ţībī, glauben, er sei es gar nicht. Skurrilerweise mit konvertierten universalistischen Vorzeichen. Abgesehen davon, dass sich auch das Christentum in Europa bis nach dem Dreißigjährigen Krieg missionarisch betätigte, gilt heute der Islam als jene Religion mit universal, nicht nationalstaatlich, gültigem Kulturanspruch, freilich aus dem einzigen Grunde, dass er Kirche und Staat nicht trennt. Und wenn Religion keinen universalen Anspruch mehr hegt, ist sie dann noch eine Religion? Und er hat die moderne Welt – die Ausdifferenzierung der modernen Lebenswelt, Industrialisierung, Wissenschaftlichkeit, medizinischen Fortschritt bis ins Informationszeitalter – gut überlebt. Jean-Claude Milner warnt vor dem islamischen Selbstverständnis der kollektiven Identität in der Auflösung in einer „Menge“, wenn „Menge“ als höchste Form der Versammlung von Gläubigen gilt – oder auch von Ungläubigen, möchte man angesichts von Selbstmordattentaten in „Mengen“ hinzufügen. Es war Hannah Arendt, die totale Herrschaft als Absicht definierte, „alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellen“. Totale Herrschaft wäre nur möglich, gelänge es, jeden Menschen auf eine sich immer gleichbleibende Identität von Reaktionen zu reduzieren.12 Gleichmacherei käme einer Menschenmenge

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im „Singular“ gleich, „einem gigantischen Menschen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur- oder Geschichtsprozesses mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen“13. Die wiederkehrenden islamistischen (Selbstmord-)Attentate können als eine „gleichbleibende Identität von Reaktionen“ betrachtet werden, wenn sie auch singulär und dezentriert vollzogen werden, und auf Mengen statt Massen zielen (im Gegensatz zur Shoa als zentralisiertem Völkermord). Milner deutet, sich auf einen kriegerischen DschihadBegriff berufend, Attentate auf europäische Kultureinrichtungen – repräsentativ sind jene am 13. November 2015 in Paris auf Musiktheater, Restaurant und Fußballstadion; am 19. Dezember 2016 und 10. Dezember 2018 in Berlin und in Straßburg auf Weihnachtsmärkten; am französische Nationalfeiertag, dem 14. Juli 2016, auf der Strandpromenade von Nizza – als Kampf gegen integrationswillige EU-Muslimen, gegen deren Vertiefung der Zugehörigkeit zur Gesellschaft, man könnte auch sagen gegen die vom Feind gebildete Menge, weil säkulare Entwicklungen am ehesten im westlichen Kulturangebot ihre islamische Zielgruppe finden. Milner fordert eine Einschränkung der Religionsausübung in der Öffentlichkeit. Das ist strittig. Die Forderung erinnert an die Setzung einer Leitkultur und kann einen latenten Kampf der Kulturen, einen Kampf um Werte evozieren. Darüber hinaus schlägt er, anders als Vertreter der Leitkultur, die Verbürgerlichung muslimischer Einwohner durch einfachen Erwerb der Staatsbürgerschaft vor.14 Damit gibt Milner seiner Argumentation abermals einen sehr säkularen Einschlag, und zugegebenermaßen wird das Verbot der Religionsausübung damit ein wenig eingängiger, betrachtet man den Begriff „Staatsbürger“ für deutsche und österreichische Geister ungewohnt nüchtern, nämlich wie in Frankreich als durch gemeinsame Institutionen (republikanisch) getragene Bürgerschaft statt nationalstaatlich als Teilhaberschaft an einem kollektiven, willensmächtigen Akteur. In der pluralistischen Gesellschaft ist dieser Wille nur noch Nostalgie: „Es gibt keine demokratischen Minimalbedingungen

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genügende Aggregation der Einzelinteressen zu einem Staats­ interesse. Staatsbürgerschaft lässt sich nicht durch die Etablierung eines demokratischen Verfahrens kollektiver Entscheidungsfindung konstituieren.“15 Europa muss sich entscheiden, ob es den Islam als Religion integrieren oder ausschließen möchte. Diese Entscheidung hängt mit davon ab, ob es ihn als eine unter vielen Ideologien dulden oder als bedrohliches Szenario des Kalifats vorab von sich weisen würde. Im ersten Fall wäre eine Integrationsleistung gefordert. Weil islamistische Gläubige den Koran nicht säkular überführen, wäre sie keine simple Assimilation. Wenn ein Mensch gewisse Werte vertritt, assimiliert er sich nicht, sondern steht entweder zu ihnen und mittendrin wie alle anderen oder macht sich etwas vor. In dieser Situation hätte er z.B. die Option alltagspragmatisch in seinem Zwiespalt zu leben oder sich dem Dschihad anzuschließen. Ob er seine Religion ablegen müsste, käme auf die Auslegung des Korans an. Integration könnte bedeuten, die Scharia von ihrer partiell politischen Funktion zu entlasten, um die gleichwertige Rolle des Islam unter anderen Religionen im säkularen Rechtsstaat zu stärken. Im Normalfall emigrieren Menschen dorthin, wo sie glauben sich sicher und wohler zu fühlen. Ausschlüsse in Form des Verbots von Religionsausübung wären nicht nur eine Menschenrechtsverletzung, sie wären auch ineffektiv, ohne pazifistische Dschihad-Deutungen überhaupt zu prüfen. Pazifistische Dschihad-Deutungen haben eine Lobby.16

4 Von der Mehrheit der Menschen ausgehend, die den beschwerlichen Fluchtweg nach Europa nehmen und mit der Glorifizierung von Angela Merkel 2015/16 auch ein positives Zeichen in Hinblick auf die Akzeptanz westlicher Rechtsstaatlichkeit setzten, dürfte Säkularisierung nicht als Unterwerfungsgeste, sondern als Schritt in die Freiheit der eigenen Rechte wahrgenommen werden, zu denen die Glaubensfreiheit schließlich gehört. Die Umstellung auf das Credo eines

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multiethnischen und kulturpluralistischen Zusammenlebens wäre die Antwort auf das gesetzte Dispositiv aller grundrechtlichen Geltungsansprüche unserer postmodernen demokratischen Gesellschaften – das Erbe geschichtsteleologisch geprägter Zeiten, als Gelehrte und Kulturschaffende noch an der entwicklungs- und ideengeschichtlichen Überholung unvernünftiger Verstandestätigkeit festhielten. Insofern die Diskussion um Verwässerung des Asylrechts trotz der Integration der Mehrheit der Muslime, trotz zurückgehender Flüchtlingszahlen aktuell geführt wird, die Integrationshemnisse aus Angst vor einem Kalifat und wirtschaftlichen Anpassungsschwierigkeiten in einem Setting der Unsicherheiten und unklaren globalen und nationalen Bestrebungen bestehen bleiben, stellt sich die Frage nach der kulturellen, ideologischen und moralischen Bedeutung. Welche Werte vertreten wir dann noch? Sie stellte sich mir in dieser Form Anfang 2016, als ich eine erste Version dieses Textes verfasste. Drei Jahre später, 2019, sind wir dem Schreckensszenario nähergerückt. Der Angriff auf das Asylrecht hat es in den parteipolitischen Diskurs geschafft. 2016 ging er auf eine von den deutschen Qualitätsmedien luzide rezipierte17 Forderung des Historikers und Politikberaters Heinrich August Winkler in der ARD/arte-Sendung „Anne Will“ vom 30. September 2015 zurück; auf einen Zeit seines Lebens die politische Mitte repräsentierenden Intellektuellen und Politikberater Deutschlands. Vielleicht ist das sogar schlimmer als der Angriff durch rechtspopulistische Parteipolitiker. Winkler plädierte für eine „Verpflichtung zur Nüchternheit“ durch die Definition objektiver Grenzen, während das Asylrecht de iure keine quantitative Obergrenze hat. Deswegen müsse eine grundsätzliche Diskussion über Artikel 16a des Grundgesetzes erlaubt sein. Dessen erster Absatz definiert ein Grundrecht, das lautet: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Der emeritierte Geschichtsprofessor sähe gerne grundrechtlich verankert, dass Deutschland nur nach Maßgabe seiner Leistungsfähigkeit Asyl gewähren müsse. Faz.net publizierte am selben Tag einen Artikel Winklers, in dem es heißt:

Plädoyer für die Wiederholung der Grundrechte „Seit langem hätte im Bundestag mit rückhaltloser Offenheit darüber gesprochen werden müssen, was in unserer Macht steht, um zu verhindern, dass der Satz ‚Politisch Verfolgte genießen Asylrechtʻ weiterhin massenhaft falsch interpretiert wird. Da Deutschland nicht alle politisch Verfolgten dieser Welt aufnehmen kann, wäre es unsere Pflicht gewesen, einer solchen, inzwischen weltweit verbreiteten, gefährlichen Deutung so wirksam wie möglich entgegenzutreten.“18

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Voraus ging der TV-Sendung Joachim Gaucks Auftaktrede zur 40. Interkulturellen Woche in Mainz am 27. September 2015. Der deutsche Bundespräsident verteidigte dort die voraussetzungslose Gewährung von Schutz mit dem Beisatz: „Unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt, auch wenn noch nicht ausgehandelt ist, wo die Grenzen liegen.“ Wenig zuvor, am 18. September 2015, hatte Winkler auf der Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der FAZ „Denk ich an Deutschland“ in Berlin die Wertegeschichte des Westens als eine Geschichte der Verstöße gegen ihre Werte durch Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus beschrieben. Freilich, wissen wir spätestens seit Adorno/Horkheimer, die Aufklärung ist ein vielschichtiger Prozess. Winkler selbst weiß:

„Die Menschenrechtserklärungen waren klüger als ihre vielfach in männlichen und rassischen Vorurteilen befangenen Verfasser. Gruppen, die ganz oder teilweise von der Geltung der Menschenrechte ausgeschlossen wurden, konnten sich auf sie berufen, und sie taten das langfristig mit Erfolg. Die Geschichte des Westens ist also auch eine Geschichte von Lernprozessen, von Selbstkorrekturen, von produktiver Selbstkritik.“19 Dennoch erwartet der Historiker wider sein besseres Wissen, wider die von Gauck ausgesprochene Voraussetzungslosigkeit und wider das pure Menschlichkeitsargument Merkels von den westlichen Demokratien, sie müssten versuchen, Schutzerwartungen „im Rahmen des Möglichen, also nach besten Kräften,

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gerecht zu werden, wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, ihr Bekenntnis zu den Menschenrechten sei zur bloßen Rhetorik verkommen“. Warum spielt er das Mögliche gegen den Notfall und gegen Voraussetzungslosigkeit aus? Winkler interpretiert Merkels Willkommensgeste als Ableitung einer deutschen Sondermoral, die sich bereits im deutschen Grundgesetz wiederfände. Die wenigsten Verfassungen verbürgen individuelles Grundrecht – für Winkler ein Argument für eine nicht-universale Gültigkeit der Grundrechte bzw. gegen die Voraussetzungslosigkeit von akuten Notfallmaßnahmen. Das überrascht. Dass soziale Demokratie – und europäische Demokratien sind als Sozialdemokratie verfasst – liberalistische Errungenschaften wie die Individualrechte universalistisch setzt, entspricht ihrem Wesenscharakter. Daraufhin ist sie ausgelegt. Ihr Ziel ist, wie auch immer sie sie in ihrer jeweiligen Verfassung auch ausgestaltet, die Gleichheit aller. Demokratie ist die bzw. die einzige Staatsform, mit der immerhin theoretisch universal gesetzte Menschenrechte durchsetzbar sind. Wirft man sie in der Demokratie ab, dann gleich die Demokratie mit. Winkler vermisst in seiner Rede eine Folgenabschätzung durch die deutsche Kanzlerin – das ist ein Argument gegen das Größtmögliche. Dass sich die deutsche und die österreichische Regierung an die Europäische Menschenrechtskonvention hielten20 und an die Massenzustrom-Richtlinie der EU,21 soll im Versuch die humanitären Gesetze zu befolgen, besonders gewesen sein? Die Aporie, die sich durch seine Aussage ergibt, die Menschenrechte sollen nicht zur Rhetorik verkommen, dürfte Rechtspopulisten freuen. Signifikant wie bestürzend ist es, wenn solche Begründungsversuche aufkommen, sobald Europa in eine Situation geraten ist, in der das Recht zur Anwendung zu kommen hat, aktuell benötigt wird: wenn der Fall auftritt, für den es geschaffen wurde. Kämen alle Flüchtlinge der Welt, sechzig Millionen, nach Deutschland, hätte das Land erst die Bevölkerungsdichte von Israel, Indien oder Japan, rechnet der Rechtswissenschaftler Thomas Fischer vor.22

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Was stärkt einen Vorschlag wie jenen Winklers: die Angst auf der Seite der Migrationsgegner oder die Unpässlichkeit bei der Organisation der Integrationsleistung einer großen Zahl an Flüchtlingen? Sind die Menschen das Unmögliche oder ist es die Administration? Und wiegt das erste, das kulturelle Argument stärker oder das zweite, die Überforderung von Verwaltungsapparaten? Und ist diese Frage zynisch, weil selbstverständlich ist, ob ein Menschenrecht oder die Notwendigkeit kurz- bis mittelfristigen Notfallmanagements über Europas Zukunft entscheidet? Oder ist sie nicht vielmehr naiv, da gerade nur die effektiv planbare Integration Europas die Ängste vor der Anwendung der eigenen Grundgesetze abbauen könnte? Wäre es nicht vielmehr zynisch, sie für naiv zu halten? Es würde bedeuten, den Verwaltungsapparaten des Bundes und der Länder die Fähigkeit abzusprechen, mit mittel- bis langfristig effektivem Krisenmanagement auf Basis etwa des UNO-Migrationspakts eine tragbare Situation zu schaffen. Deutschland hat die Kapazität, alle Verfolgten dieser Welt aufzunehmen. Aber viele Menschen befürchten, das Elend anderer mehr als nur durch die Medien zu erfahren. Sie befürchten es spüren zu müssen. Als würde Wohlstand aus Angst vor dem eigenen Schamgefühl zur kollektiven Verdrängung stimulieren und diese Angst die populistisch manipulierte Bevölkerung blind für eine Aporie machen: Das Festhalten an den Grundund Menschenrechten ist das Einzige, was dem gefürchteten Kalifat entgegenzusetzen wäre. Der Unterschied zwischen religiös und säkular geprägtem Staat ist erst durch diese Rechte manifest geworden. Mit dem Anspruch des Kalifats zeigt sich erst, könnte man böse formulieren, dass unsere Rechte nicht universal gültig sind. Da ist es wieder, das Argument Winklers. Nur pfeift dieser zurück, während Milner eine Kraftanstrengung Europas fordert, wenn er Muslime erst recht zu Citoyens machen will.23 Und könnte man an der konkreten Benennung der Angst, die jemand bekäme, würde von heute auf morgen das ius soli24 eingeführt, nicht ablesen, wie aufgeklärt einer ist oder nicht? Positive Werte haben es unter dem Claim „Werterelativismus“

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nicht leicht. Dass von Grund- und Menschrechten repräsentierte Werte miteinander konfligieren können, führt trotz unbestreitbarer republikanischer Errungenschaften in der westlichen Welt zur Unterschätzung der ihnen durch soziale Bindung zuteil gewordenen Macht. Für Luhmann sind sie nur „Gegenstand achtungsvoller Auslegung“. Ihre Setzung assoziiert er mit Dogmatismus, ihre Unantastbarkeit gäbe ihnen eine „moralische Weihe“.25 Man kann solchen Zynismus natürlich unter der Voraussetzung entfalten, liest man die in der dritten Person Präsens aktiv formulierten Niederschriften von Gesetzesparagraphen als ontologische Entitäten wie Gespenster. Das wäre aber nur ein Missverständnis. Es ist genau umgekehrt. Es bedarf offenbar einer Setzung; sonst gäbe es keine Setzung. Gesetze formulieren eine Konvention, auf die sich eine Gruppe von Menschen, eine Gesellschaft, geeinigt hat, mit dem Zweck zu regulieren und auf etwas hinzuwirken, was bleiben soll, werden soll auch. Sein fungiert hier wie Sollen, wirkt aber stärker. Ein säkulares Gesetz hat nicht den Charakter einer Religionsschrift, es hat jenen eines Manifests, das akzeptiert wurde. Das Manifest fordert noch die Realisierung einer Utopie; das Gesetz teilt bereits die Verpflichtung zur Einhaltung der Paragraphen mit. Dass sich eine Gesellschaft auf die Menschenrechte geeinigt hat, besagt, diese Gesellschaft hat den Willen, eben dies zu tun. Dieser Willen, diese durchgesetzte Präferenz ist mehrheitlich gewünscht. Unverbrüchlich sein zu wollen ist keine Bedingung der Rechtsetzung, sondern ihr Motor, ihr Attraktor. Sommer folgerte aus dem kontingenten historischen Charakter der Menschenrechte (und ob die Eigenschaften „kontingent“ und „historisch“ die Eigenschaft „natürlich“ ausschließen, bleibe dahingestellt) unlängst, bei ihrer normativen Begründung müsse es sich um einen Fehlschluss handeln. Ihm fehlen schlicht „extranormative empirische Befunde“, um die Notwendigkeit ihrer Geltung behaupten zu können. Was ist das für ein Zirkel? Die Notwendigkeit normativer Geltung soll außerhalb (der empirischen Faktizität) normativer Einhaltungen begründet werden? Soll das bedeuten, es wäre aufgrund

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empirisch nachweisbarer Menschenrechtsverletzungen unzulässig, an der Geltung der Menschenrechte festzuhalten? Würden extranormative Fakten Normen diktieren, wir würden in einer Anarchie leben; wahrscheinlich aber hätten wir uns längst ausgerottet.26 Derartige Analyseergebnisse führen jedenfalls zu Forderungen wie jener Winklers. Deswegen konnte es dazu kommen, dass er – wissend: „zu keiner Zeit beschrieb das normative Projekt des Westens die Wirklichkeit des Westens“ – den deontologischen Charakter eines Menschenrechts über Bord wirft. Entspricht es dem Selbstverständnis einer humanitären Gesellschaft, darüber zu debattieren, ob vom Tod bedrohten Menschen vor der eigenen Haustür geholfen werden soll? Entspricht es dem Selbstverständnis einer humanitären Gesellschaft, darüber zu debattieren, ob es sich um Asylsuchende handelt, wenn Flüchtlinge durch drei EU-Staaten nach Österreich und Deutschland gekarrt wurden? Entspricht es dem Selbstverständnis einer humanitären Gesellschaft, Seenotorganisationen davon abzuhalten, Menschenleben zu retten? Woher kommt diese Desensibilisierung gegenüber Notleidenden? Von den Medien, die einmal distanziert berichten, einmal emotional. Je nach Werteschema und angelegtem Interpretationsframe der Blattmacher, öffentlich-rechtlichen sowie sozialen Medien, wird Affektivität gesteuert, Interpretation gelenkt. Das ist nicht nur eine negative Diagnose, es ist auch eine „Konsequenz aus einem sozial konstituierten Feld der Intelligibilität, das unsere Ansprechbarkeit für die andrängende Welt zu formen und zu rahmen hilft“, so Butler, die, wenn sie auf die Infragestellung der „Ontologie des Individuums“ durch Verletzbarkeit aufmerksam macht, zum einen auf Verantwortlichkeit pocht, zum anderen vor Augen führt, ein Individualrecht beanspruchen zu können, bedeute auch eine Gemeinschaft für dessen Einlösung gerade stehen zu lassen – in seiner singulären Gültigkeit, denn das Leiden ist auch singulär. Deswegen ist es richtig, wenn Verletztheit und Schutzbedürftigkeit, wenn einzelne Fälle leidender Menschen in den Medien besprochen werden, sei es beispielhaft, sei es als Ausnahmefälle. Die

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Repräsentation des Lebens gehört zu einer Kritik der Gewalt,27 und hinter einem Staatsbürger steht immer ein Mensch.

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Das Ideal der Einhaltung der Menschenrechte hat dem stillschweigenden Eingeständnis Platz gemacht, hier handele es sich nur um eine Utopie. Selbst mit der Argumentation, das natürliche Recht formuliere eine Utopie, siedelt man sie richtigerweise jenseits von Ideologie und Metaphysik an. Man lehrt sie auch heute als Faktizität. Warum? Weil selbst der gute Gesetzgeber unterscheidet, wohl wissend: Die Bezeichnung „natürliches“ Recht (im Sinne von angeboren) ist Metaphysik, dessen Paragraphen aber sind es nicht. Die österreichische Gesetzgebung etwa stellt in § 17 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs das natürliche ausdrücklich über das positive Recht. Wen interessiert eigentlich Herzensbildung? Rousseau glaubte noch an das Mitgefühl im Naturzustand. Und auch wenn wir wissen, viele haben die Luftaufnahmen von Homs und Aleppo kalt gelassen, wie auch die Flucht von Millionen Syrern sie kalt ließ, so erwärmt dieses Wissen doch viele andere. Der Gesetzgeber verfasste die Grundgesetze nicht als mystische Heilsutopien, sondern weil er an ihre letztgültige Richtigkeit zu glauben vorgibt. Ist diese Funktionalisierung tatsächlich dasselbe wie die Utopie der Geschichtsteleologie? Winkler würde vermutlich bejahen. Würde nämlich diese Tendenz verstärkt, dann würde jedes Gesetz, jedes Recht Utopie. „Das Recht ist das Element der Berechnung; es ist nur (ge)recht, dass es ein Recht gibt, die Gerechtigkeit indes ist unberechenbar: sie erfordert, dass man mit dem Unberechenbaren rechnet.“28 Und ist in den Jahren der großen Migrationsbewegung nicht die Positionierung der Europäischen Union aufgrund unterschiedlicher Haltungen ihrer Mitglieder unberechenbar gewesen und ist es immer noch? Es erfordert eine Kraftanstrengung, weil das normative Projekt des Westens nicht die Wirklichkeit des Westens beschreibt. Winkler

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übersieht vielleicht den eigentlichen Grund für die Ablehnung vieler Flüchtlinge: Europa fürchtet sich „vor [einer] ‚begründenden‘ Gewalt, vor der Gewalt, die in der Lage [sein könnte], Rechtsverhältnisse zu legitimieren oder zu verändern und die selbst als jenes, was ein Recht auf das Recht hat, erscheinen kann.“29 Derrida paraphrasiert diese Gewalt als eine bereits im Vorhinein einer Rechtsordnung zugehörige. Sie erst ermögliche eine „Kritik der Gewalt“, die Gewalt nicht bloß als Kraftausübung bestimmt. Kritik meint eine deutende Bewertung und Abwägung einer Gewalt, der vorher Sinn verliehen wurde. Somit gehört auch, was das Recht bedroht, zum Ursprung des Rechts. Man könnte sagen, es handelt sich bei dem, was bedroht, um die Auflösung des metaphysisch-teleologischen Charakters, es handelt sich um eine zumindest theoretisch mögliche, tatsächlich unbegrenzte Einforderung der Rechtsprechung. Dafür soll kein Platz sein. Das natürliche Recht soll es nicht geben, das ist wie drohender Marxismus, deswegen existiert es auch nicht. Es soll es nicht geben sollen, weil es freiheitsbeschränkend wäre. Diese Wahrheit läuft liberalistisch-egoistischen Ansinnen zutiefst zuwider. Was das Menschenrecht einfordert, ist also dialektisch. Dem entspricht Menkes Erläuterung des Attributs „natürlich“. „Natürlich“ bedeutet, Gleichheit sei nicht festgelegt (und nicht etwa umgekehrt), sondern die „Unmöglichkeit ihrer abschließenden Bestimmung“30 bedingt erst die Genese des Menschrechts. Nun sind wir in einer Situation, in der wir nicht mehr um die Deklaration der Menschenrechte streiten, sondern wir berufen uns auf sie, wenn wir sie nicht eingehalten wähnen. Wir haben einen bestimmten Status erreicht. Wir pochen darauf, dass wir uns auf sie festgelegt haben. Wenn wir nun sagen, Festlegen ist ein Gewaltakt, kommen wir dahin, zu verstehen, dass Recht zu sprechen und Gewalt auszuüben bedeutet, iterativ festzulegen. „Iterativ“ substituiert also das Attribut „teleologisch“. Die Deklaration der Menschenrechte ist nachhaltiges Resultat gesetzter, einst revolutionärer Akte. Sie ist eine dynamische Kumulation juristischer Änderungen zugunsten von Individuen unter der Prämisse ihrer Gleichstellung.

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„Die revolutionäre Berufung auf die ‚Natürlichkeit‘ der Gleichheit schließt daher nicht, sondern, im Gegenteil, öffnet erst den Raum und die Zeit der politischen Freiheit der Selbstbestimmung.“31 Aus diesem Grunde stellt, was Naturrecht genannt wird, nicht auf eine Letztbegründung ab, auf ein fertig geschriebenes, immer gültiges Buch. Sondern Ultima Ratio können die Menschenrechte nur bleiben, wenn sie nicht nur zitieren wollen, alle Menschen seien von Natur aus gleich, sondern besonnen durch ihre historisch-kontextuelle Aktualisierung friedlich Gewalt ausüben dafür, dass und inwiefern sie es bleiben. Mehr noch, der iterative Akt der Setzung ist auch auf die Zukunft gerichtet, „auf die sich die Erklärung dessen, was es noch nicht gibt, öffnet“32. Besagt: Das Wesen des Rechts ist es, unter der Prämisse, sein Bleiben habe Aktualisierungen notwendig, auf Zukunft zu setzen, indem sie gesetzt wird. Man möchte sagen: Natürlich! ist das Naturrecht gesetzt. Denn Gleichheit bedarf der Setzung – das entspricht der Natur ihrer Ungleichheit. Was ist in diesem Szenario Utopie? „Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, dass eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als dass die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie darin hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit“, schreibt Robert Musil in „Der Mann ohne Eigenschaften“33 und kennzeichnet die ausdifferenzierte moderne Lebenswelt in der brisanten wie sensiblen politischen Situation unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkriegs – ein politischer Clash, dem immerhin die Ablösung des Imperialismus durch Republiken folgte, selbst wenn Deutschland und Österreich noch zig Jahre lang nicht verstehen sollten, was das bedeutet. Da ist es wieder – das Mögliche. Wo wir mit Winkler sehen, wie die Grundrechte mit dazu beigetragen haben,die Welt zu verbessern, und wie wir mit ihm ebenso sehen, dieser Prozess ist frei von Mühsal, Rückschritt und Stagnation nicht zu haben, sollte Europa sich hüten, seine Möglichkeit einer humanitär tragbareren Basis auf den Status einer Utopie zu reduzieren, zu verniedlichen und zu bespötteln. Eine spöttisch-laxe Haltung

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wiegt sich im Glauben, dem Werterelativismus brauche nichts entgegengesetzt werden. Die Anschläge auf „Charlie Hebdo“ lehrten anderes. Geschossen wurde auf die Verspottung von Religion,34 auf den Akt der Meinungsfreiheit, der einer niveaulosen, denn die Religionsfreiheit herabwürdigenden Ausübung von Meinungsfreiheit gleichkommt. Wenn Winkler meint, nur „im Rahmen des Möglichen“ wäre Artikel 16a beizukommen, mag das redlich gemeint sein, bedeutet aber die Herabstufung des schon Erreichten auf den Status einer Werteumwertungsoffenheit, über die sich Rechtspopulisten und Dschihadisten am meisten freuen würden. Auch deswegen wäre gefährlich zu glauben, die polyvalent offenen Verfasstheiten unseres Verständnisses von Wirklichkeit bedürften eines liberalistischdeutungsbeliebigen Grundrechts – es ist genau umgekehrt. Das Grundrecht festigt erst das Ausleben von Unterschieden, es ermöglicht Selbstidentitätsfindung und kulturelle flexible Selbstbestimmungen aufgrund individualrechtlicher Bestimmungen. Den Begriff der Utopie müssen wir mit Verabschiedung und Ende der teleologischen und transzendentalen Metaerzählungen der Menschheitsgeschichte deswegen weder aufgeben noch als Gespinst einer leichtgläubigen, naiven Gemeinschaft verspotten. Adorno sprach 1964 von einem geschrumpften Utopie-Bewusstsein. Er war der Ansicht, Utopie sei die Veränderung des Ganzen. Und er hatte Recht. Das Ganze zu verändern würde bedeuten alle Staaten Europas auf jene Grundsätze einzuschwören, auf welche die deutsche und die österreichische Regierung sich im Herbst 2015 bezogen.35 Auch die Idee vom geeinten Europa bewegt sich utopisch. Die deutsche und die österreichische Regierung hatten die Grenzen geöffnet – so sieht Wirklichkeit aus, und „utopisch bewegen“ ist nur ein Oxymoron.

6 Auf die statistischen Ergebnisse der Bundeszentrale für politische Bildung referierend, sind Muslime primär ‚Alltagspragmatiker‘. Wie der größte Teil der deutschen Bevölkerung

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respektieren sie die westeuropäischen Werteordnungen. Gerade aufgrund eines waltenden Pragmatismus bedarf es keiner relativierenden Rechtsanpassung. Festgeschriebene Rationalität ob ihrer Kontingenz mit dem Bade auszuschütten, wäre, wie am erwähnten Beispiel einer versuchten Rechtsumschrift im Interesse der FPÖ angemerkt, vielmehr anachronistisch. Westliche Rationalität schwebt nicht ontologisch über kulturellen Werten anderer Gemeinschaften. Eine letztgültige Gemeinschaft mit objektiv geteilten kulturellen Werten gibt es nicht. Sich an „Solidarität“ statt an „Objektivität“ zu orientieren, versteht Rorty unter Pragmatismus. Eine Lücke zwischen Wahrheit und Handlungsrechtfertigungen müsse nicht unter allen Umständen geschlossen werden;36 sie wäre zwecks Sicherung von Solidarität hinzunehmen. Übertragen auf das vorliegende Problem: Die Aussage: „das Menschenrecht wird nicht unverbrüchlich akzeptiert und eingehalten“ ist wahr. Die Handlung wäre dennoch die Forderung des sofortigen Schutzes lebensbedrohlich Verfolgter aufgrund der Menschenrechte bzw. ihrer Inhalte. Im Grunde handelt es sich um einen Versuch, eine deontologische Ethik mit utilitaristischen Gedanken in Einklang zu bringen. Die demokratischen Gesellschaften haben dies in etwa zuwege gebracht, sie haben kulturell-diskursive Dispositive jenseits der Verherrlichung konsensueller Diskursethiken entfaltet, und sie konnten dies nur mit den Menschenrechten als Backup. Erfüllen sollen die Diskursdispositive das Begehren des Bürgers nach Ruhe und Schutz:

„Das Begehren sagt: ‚Ich selbst möchte nicht in jene gefährliche Ordnung des Diskurses eintreten müssen; ich möchte nichts zu tun haben mit dem, was es Einschneidendes und Entscheidendes in ihm gibt; ich möchte, dass er um mich herum eine ruhige, tiefe und unendlich offene Transparenz bilde, in der die anderen meinem Erwarten antworten und aus der die Wahrheiten eine nach der anderen hervorgehen; ich möchte in ihm und von ihm wie ein glückliches Findelkind getragen werden.“37

Plädoyer für die Wiederholung der Grundrechte Solch fehlende Selbstverantwortlichkeit – weil die Diskurse miteinander konfligieren – mündet in einer unerhörten Erwartungshaltung an die Gemeinschaft:

„Allmacht und Allgegenwart sind es stets, die man von der Gemeinschaft verlangt oder in ihr sucht: Souveränität und Intimität, Selbstgegenwart ohne Bruch und ohne Außen. Man möchte den ‚Geist‘ eines ‚Volkes‘ oder die ‚Seele‘ einer Versammlung ‚Getreuer‘ oder ‚Gläubiger‘, man möchte die ‚Identität‘ eines ‚Subjekts‘ oder seine ‚Eigentümlichkeit‘.38

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Mit einer nüchternen pragmatischen Haltung mag man sich vor naiven oder regressiven Attitudes schützen und kulturelle Dispositive verschiedener Art aushalten. Dem Pragmatismus auszuweichen versucht Julian NidaRümelin mit einem alternativen Entwurf von Demokratie als Kooperation, mit der Skizze einer kulturübergreifenden Diskursordnung. Die demokratische Ordnung sei primär durch die Regeln der Interaktion, die gesellschaftliche Kooperation und Solidarstrukturen erst ermöglichen, gekennzeichnet, weniger durch kulturelle Identitäten, kollektives Handeln oder gemeinsame Wertvorstellungen, meint er. Er spricht von „struktureller Rationalität“, wenn ein Akteur eine Handlungsoption wählt, die sich in eine gewünschte Struktur von Handlungen oder Strategien im Rahmen dieser interaktiven Regeln einfügt.39 Insofern seine hypothetische Vertragstheorie ambivalente Präferenzordnungen und Entscheidungsspielräume ihrer Subjekte inkludiert, ist sie offen für wertpluralistische Diskurse. Ihr Vorteil ist ihr kulturvarianter Rationalitätsbegriff. Entwickelt aus spieltheoretischen Szenarien über Wahlentscheidungen auch unter der Bedingung, dass ein Akteur rational entscheidet, wenn er seine Präferenzordnung in einem gegebenen Setting von möglichen Optionen nicht durchsetzen bzw. optimieren kann, setzt sie allerdings sehr auf strategisch eindeutiges Verhalten ihrer Akteure, die wissen, ob sie einer Entscheidung folgen möchten oder nicht. Sie setzt auf Kontexttranszendenz und nicht zuletzt auf die Absicht sich rational verhalten zu wollen im Sinne von

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sich integrieren zu wollen. Rortys Pragmatismus kalkuliert auch mit Bewusstseinszuständen und Alltagshandlungen in ihrer Kontingenz, Flüchtigkeit, Unklarheit, im Sprachspiel und ihrer Opazität, also mit normativer Unverbindlichkeit der Akteure. Akteure verhalten sich nicht voraussetzungslos rational. Der Unterschied zum Pragmatismus entzündet sich am Festhalten an Wahrheitswerten. Wertepluralistische Diskurse erlauben es unter bestimmten Voraussetzungen, zu denen eine Selbstidentität anstelle einer jedenfalls starken kollektiven Identität gehört, mit einer höheren Moral zu leben. Selbstidentität ist die Voraussetzung für die Durchsetzung eines Wertepluralismus als Aushalten der Selbstidentität des je Anderen, und das ist es, was Foucault meint, wenn er ähnlich wie Rorty frei nach Nietzsche fordert, einen „Willen zur Wahrheit“ infrage zu stellen, um Diskursfreiheit zu gewähren.40 Das wäre die höhere, nicht mit Nihilismus zu verwechselnde Moral. Die Erfahrung einer funktionierenden Durchsetzung von Diskurs- und damit Wertepluralismus würde in dieser zu erstrebenden Idealsituation von Zwängen und Zweifeln befreien und Selbstidentität stärken, statt sie aufzulösen. Sie bedarf der Demokratie. Man muss ihren kritischen und selbstkritischen Charakter affirmieren, um Identitäten nicht aufzulösen. Die Bereitschaft zu multiethnischer Pluralität setzt eine Identität, die dann eine (selbst-)kritische sein müsste, voraus.41 Hier setzt Aufklärung an. Sozial erfahrene und reflektierte Selbstidentität ist die Voraussetzung für das Entfalten einer mündige Solidarität verstärkenden Haltung und das Ausüben von argumentierter Kritik. Sie fußen auf einem Bewusstsein über Werte und Normen des friedlichen menschlichen Zusammenlebens auf den Grundsätzen der Freiheit, Gleichheit und Solidarität als Ziele, die von westlichen Gesellschaften zwar gesetzt wurden, von ihnen aber nicht okkupiert werden können, weil jedem Menschen und jeder Gemeinschaft von Menschen zusteht sich diese Ziele zu setzen. Jedem und jeder können Freiheit und Gleichheit zum Bedürfnis werden. Diese republikanischen Ziele an die eigene Kultur zu binden, würde die Gefahr des Kulturimperialismus implizieren.

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Auch für den Begriff der Kultur, die diese Werte mittransportiert, bedeutet dies Kritik zu werden, statt sich hinter kollektiver Identität zu verschanzen. Kollektive Identität definiert Kultur als eigene Lebensweise, Kritik definiert Kultur als „einen für jegliche Lebensweise relevanten Wert“42. Kultur als Kritik im Verständnis Terry Eagletons kann als Leitfaden für Integration und für die kognitive, soziale und künstlerische Gestaltung einer multiethnischen Gesellschaft dienen. Integration hat mit Kunst und Kultur den Umgang mit fremden oder speziellen Normen, Werten und Codes gemeinsam. Bei unreflektierter oder unsensibler Voraussetzung, Übertragung oder Anwendung von Codes stellen sich Dissonanzen zwischen Sender und Empfänger ein. Die Folge sind Schwierigkeiten der Integration, erwachsen aus mangelnder Sprachbeherrschung, einer anderen Kommunikationskultur oder kulturell bedingten Verhaltensweisen. Dissonanzen bieten Experimentierfelder für Neuanpassung, Umorientierung, Umgestaltung und Experimente der Wiedergewinnung. Kultureller Austausch ist Arbeit mit Subjekten, individuellen Schicksalen, Beispielen, mit Menschen, die ihre Sprache sprechen, ihre Kultur leben dürfen. Butlers Einforderung einer gesellschaftlichen Repräsentierbarkeit des Lebens wird in der kulturellen Arbeit eingelöst, wenn Integration Repräsentation des Lebens bedeuten soll, des jeweiligen Menschen seinem kulturellen Selbstverständnis nach. Sie erlaubt die Gestaltung von Konflikten, Destruktivität und Emotionen, denn kultureller Austausch impliziert per se Achtung vor dem Anderen. Butlers Verweis auf die Physis des Menschen, ihre Frage, was uns eigentlich daran hindert, ein Leben in seiner Verletzbarkeit und Schutzbedürftigkeit sichtbar werden zu lassen, mahnt an die Aufgabe des Rechts, Gewalt zu begrenzen. Denn anders als die Gewalt reguliert das Gesetz nach dem Prinzip der Gleichheit. Das erwünschte Gesetz ist ein linderndes Regulativ, kein verletzendes: Jemandem sein Individualrecht zu entziehen, bedeutet ihn zu verletzen. Die Praxis der Rechtsprechung und Rechtsetzung einer Gesellschaft hat deswegen immer

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auch mit Wertebindung zu tun, begreift man Wertehaltungen als Agens für Präferenz- und Handlungsentscheidungen. Wertebindung ist die Grundlage für die Ausbildung von Intentionen. Werte sind „emotional besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte“.43 Ergriffensein impliziert Wertbindung und umgekehrt; Kultur ist ihr Vehikel und bringt sie zum Ausdruck. Denn, mit Eagleton, keine kognitive Form ist geeigneter, die Komplexität des Herzens zu erkunden als die künstlerische Kultur.44 Europa hat eine Chance zur Entfaltung von Vielfalt und zur Bereicherung, wenn Migration und Einwanderung nicht weiter negativ belegt werden. Die Negativfärbung schafft erst die Kluft zwischen Diskurs und Realität. Wenn wir nun fragen: Was ist Herzensbildung?, können wir ahnen, ohne vorab schon zu füllen, was das vermag: Herzensbildung ist Identitätsbildung, unter dem „Umstand, dass ich die Sprache des anderen spreche und meine eigene aufgebe, dass ich mich zum anderen begebe, dass ich mich ihm ergebe, ihm hingebe, [der Umstand] stellt bereits eine eigenartige Mischung aus Kraft, Gewalt, Richtigkeit, Genauigkeit, Treffsicherheit, Recht und Gerechtigkeit dar.“45 Die Sprache des Anderen zu sprechen bezeichnet Kulturaustausch. Die deutsche und die österreichische Regierung sowie die freiwillig Helfenden schützten im Herbst 2015 Menschen in einer Notlage und „beschämten“ mit dem Festhalten an der Verfassung bzw. dem Grundgesetz gleichzeitig und unfreiwillig Europa, indem sie die Gültigkeit der humanitären Basis des europäischen Westens freiwillig voraussetzten. Seitens der Regierungen handelte es sich um einen politischen Akt, keinen naiven, sondern um die bewusste Differenzierung zwischen dem populistisch lancierten Gedanken, sich die Integration als Wohlstandsgesellschaft nicht mehr leisten zu können, also es sich nicht mehr leisten zu können, an den Errungenschaften unserer Zivilisation festzuhalten, und Defaitismus. Die Voraussetzung für diesen Akt der Solidarität und Menschlichkeit entspricht dem Wesen der Setzung und dem Glauben an die Setzung des Rechts. Die Solidaritätsbewegung im Herbst 2015 ist das, was Derrida als Iterabilität der Setzung,

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als „Ruf nach der selbsterhaltenden Wiederholung“ des Rechts bezeichnet: „Die Erhaltung verhält sich ihrerseits wieder-gründend, um jenes erhalten zu können, was sie zu (be)gründen beansprucht. Es besteht also kein strenger Gegensatz zwischen der Setzung und der Erhaltung.“46 Derrida schreibt dem Recht somit einen prozessualen, aktiven Charakter zu. Statt den Blick auf einen alten, einer geschichtsteleologischen Utopie dienenden Paragraphen, auf ein altes, geschlossenes Buch im Archiv zu richten, ist Augenmerk auf die Dynamik seiner Inhalte zu legen; auf seine aktive Rezeption, die immer schon stattfand, auch als dies Buch noch nicht geschrieben war. Diese Dynamik kommt einer neuerlichen Markierung gleich, festigt es und belegt seine Aktualität im Gebrauch. Terroristische Angriffe auf Errungenschaften der westlichen Welt beweisen mit einer zuvor nicht dagewesenen Eindringlichkeit, wie Dschihadisten auf die kollektive Identität stiftende westeuropäische Kultur zielen. Nichts wäre schlimmer als hereinzufallen und diese Gesten mit einem Gestus der Ausgrenzung und passiven Gewaltmaßnahmen zurück zu projizieren. Wenn Europa auf Kulturpluralismus und Diskursvielfalt setzen, Flüchtlingen ein neues Zuhause geben und die Aufgabe einer weitgreifenden kulturellen Integration als fruchtbare, synergetische Herausforderung mit dem Wissen um einen Gesellschaftswandel begreifen möchte, dann vermutlich durch einen begleitenden, sich begrifflich abzeichnenden Bewusstseinswandel. Vielleicht so: Die herrschenden repressiven Potenziale westlicher Gesellschaften können als „Zivilisation“ gelten und die unterdrückten als „Kultur“47. Kultur hätte es dann leichter, als Kritik der Gegenwart mitzusprechen, hätte es leichter, Aufmerksamkeit zu erzielen und würde doch in der Zivilisation verankert bleiben.

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Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1991 [1990], S. 58. „Migration produziert mehr Migration“. Warum wir uns in die Köpfe der Flüchtlinge hineindenken müssen. Ein Gespräch mit dem amerikanischen Zuwanderungsforscher Demetrios Papademetriou, Interview: Heinrich Wefing, Die Zeit, Nr. 45/2015, 5.11.2015. Zuletzt wurde ein im November 2018 vom sozialdemokratischen spanischen Abgeordneten Juan Fernando López Aguila eingebrachter Antrag für ein humanitäres Visum seitens des EU-Parlaments abgelehnt. Der Dublin-Verordnung zufolge ist jenes Land für einen Asylantrag zuständig, in dem der oder die Antragstellende erstmals EU-Gebiet betreten hat. Metz, Markus/Georg Seeßlen: Der Rechtsruck: Skizzen zu einer Theorie des politischen Kulturwandels, Berlin 2018, S. 10. Metz/Seeßlen a.a.O., S. 79f. Metz/Seeßlen, vgl. a.a.O., S. 83, S. 90f. Ihre Sorge entspricht jener von Karl Marx. Er kritisierte früh das Potenzial des Liberalismus durch die Menschenrechte demokratische Prozesse zu beschränken und erkannte im Kapitalismus die Trennung des egoistischen Einzelnen von der Gemeinschaft. Von den Menschenrechten meinte er, es handele sich um Rechte der bürgerlichen Gemeinschaft und nur vordergründig um Rechte des Menschen. Vgl. Menke, Christoph: Einleitung Demokratie, in: ders./ Raimondi, Francesca (Hrsg.): Die Revolution der Menschenrechte, Frankfurt a. M. 2017, S. 250. Ţībī, Bassām: Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglückten deutschen Debatte, aus: Politik und Zeitgeschichte, 26.5.2002, http://www.bpb.de/apuz/26535/leitkultur-als-wertekonsens ?p=all, abgerufen am 17.2.2019; ders.: Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, München 2002. Ţībī, Bassām: Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, München 2001. Rohe, Mathias: Islam und säkularer Rechtsstaat. Grundlagen und gesellschaftlicher Diskurs. Bpb – Bundeszentrale für politische Bildung, 23.3.2011, http://www.bpb.de/apuz/33391/islam-und-saekularerrechtsstaat-grundlagen-undgesellschaftlicher-diskurs?p=all, abgerufen am 7.2.2016. Rohe bezieht sich auf Katrin Brettfeld/Peter Wetzels, Muslime in Deutschland: Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politischreligiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen, herausgegeben vom Bundesministerium des Inneren, Berlin 2007, S. 24ff., S. 492ff.; BAMF (Hrsg.), Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009. Breit angelegte Untersuchungen in Deutschland aus jüngerer Zeit belegen, dass die Zustimmung zu den Grundlagen des deutschen Staats- und Rechtssystems unter Muslimen ungefähr so groß ist wie

Plädoyer für die Wiederholung der Grundrechte

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unter der Gesamtbevölkerung. 12 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 2000, S. 907. 13 A.a.O., S. 958. 14 Vgl. Milner, Jean-Claude: Rechtsstaat und Kalifat. Religiöse Ideologien und Mengen oder die Tragödie der Muslime Europas. Lettre international, 111, 2015, S. 19–24. 15 Nida-Rümelin, Julian: Was ist Staatsbürgerschaft?, S. 119–138, S. 127, S. 134f. 16 Vgl. Hafez, Kai: „Gerechter Krieg“ und Pazifismus. Ein Vergleich islamischer-westlicher Denktraditionen. In: Wissenschaft & Frieden; Frieden und Krieg im Islam, 2, Darmstadt 2010, S. 15–17. Online: https://www. wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=1612, abgerufen am 12.3.2019. 17 Insbesondere Bundesrichter Thomas Fischer findet klare Worte, wenn er diesen Gedanken als „tabubrechend, „intellektuelles Nichts, „politische Willkür“ und „Beleidigung der Verfassungstheorie“ bezeichnet. Thomas Fischer: Schaffen wir das? Eine Kolumne von Thomas Fischer, Fischer im Recht / Flüchtlinge III. Zeit Online, 6.10.2015, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-10/fluechtlingefischer-im-recht, abgerufen am 7.2.2016. 18 Winkler, Heinrich August: Deutschlands moralische Selbstüberschätzung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.9.2015, http://www.faz.net/ aktuell/politik/fluechtlingskrise/gastbeitrag-deutschlandsmoralische-selbstueberschaetzung13826534-p2.html, abgerufen am 7.2.2016. 19 Ders.: Was den Westen zusammenhält. Rede auf der Konferenz „Denk ich an Deutschland“, 18.9. 2015, Rede im Wortlaut auf FAZ.NET, 22.9. 2015, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/heinrich-augustwinkler-was-den-westen-zusammenhaelt-13815991.html, abgerufen am 7.2.2016. 20 Z.B. Abschnitt 1, Artikel 5 (Sicherheit verbürgendes Recht) oder Artikel 53 (Wahrung anerkannter Menschenrechte), www.echr.coe.int/ Documents/Convention_DEU.pdf, abgerufen am 7.2.2016. 21 http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri= URISERV:l33124&from=DE, abgerufen am 7.2.2016. 22 Schaffen wir das? Eine Kolumne von Thomas Fischer, Fischer im Recht/Flüchtlinge III. Zeit Online, 6.10.2015, http://www.zeit.de/ gesellschaft/zeitgeschehen/2015-10/fluechtlinge-fischer-im-recht, abgerufen am 7.2.2016. 23 Vgl. Milner, Jean-Claude: Rechtsstaat und Kalifat. Religiöse Ideologien und Mengen oder die Tragödie der Muslime Europas. Lettre international, 111, 2015, S. 19–24, S. 19, S. 21. 24 Nach dem Prinzip des ius soli erhalten alle Menschen die Staatsbürgerschaft eines Landes, wenn sie in diesem Land geboren wurden, und zwar ungeachtet der jeweiligen Staatsbürgerschaft der Eltern.

Marietta Böning

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25 Vgl. Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution, Berlin 1965, S. 8. 26 Vgl. Sommer, Urs: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016, S. 105. 27 Butler, Judith: Über Lebensbedingungen, in: dies.: Krieg und Affekt. Hrsg. und übersetzt von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Bedecker, Zürich 2009, S. 11–52, 11f., S. 36. 28 Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1991 [1990], S. 33f. 29 A. a. O., S. 76. 30 Menke, Christoph: Einleitung „Revolution“, in: ders. u. Raimondi, Francesca (Hrsg.): Die Revolution der Menschenrechte, Frankfurt a. M. 2017 [2011], S. 19. 31 Ebd. 32 Raimondi, Francesca: Einleitung „Deklaration“, in: dies. u. Menke, Christoph (Hrsg.): Die Revolution der Menschenrechte, Frankfurt a. M. 2017 [2011], S. 98. 33 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 2008 (23. Auflage), S. 246. 34 Dazu Milner, Jean-Claude: Rechtsstaat und Kalifat. Religiöse Ideologien und Mengen oder die Tragödie der Muslime Europas. Lettre international, 111, 2015, S. 19–24. 35 Adorno, Theodor W./Bloch, Ernst: Möglichkeiten der Utopie heute. SWF, 1964. 36 Rorty, Richard: Solidarität oder Objektivität. Drei philosophische Essays, übers. v. Joachim Schulte, Stuttgart 1988 [1987]. 37 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1991 [1972], S. 10. 38 Nancy, Jean-Luc: Die herausgeforderte Gemeinschaft, übers. v. Esther von Osten, Berlin-Zürich 2007, S. 12. 39 Vgl. Nida-Rümelin, Julian: Politische Ethik. Ethik der politischen Institutionen und der Bürgerschaft, in: ders.: Demokratie als Kooperation, Frankfurt a. M. 1999, S. 9–24, S. 17ff. 40 A. a. O., S. 33ff. 41 Eagleton, Terry: Was ist Kultur? München 2001 (2. Auflage), S. 26. 42 A. a. O., S. 92f. 43 Vgl. dazu Joas, Hans: Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1999. 44 Eagleton, Terry: Was ist Kultur? München 2001, übers. v. Holger Fliessbach (2. Auflage), S. 72. 45 Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1991 [1990], S. 32. 46 A. a. O., S. 83. 47 Eagleton, Terry: Was ist Kultur?, übers. v. Holger Fliessbach, München 2001, S. 36.

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Wenn in Mecklenburg-Vorpommern bei der letzten Wahl die rechtspopulistische AfD auf Anhieb über 20% bekommt, indem sie nachweislich Wähler für sich gewonnen hat, die sie mit der Geschichte von der Bedrohung durch Flüchtlinge agitiert hat, obwohl es in Mecklenburg-Vorpommern fast keine Flüchtlinge gibt, kein Wähler also persönlich von Flüchtlingen bedroht wird – sei es, dass er körperlich angegriffen wird, sei es, dass sie ihm seinen Arbeitsplatz oder seine Wohnung oder seine Frau wegnehmen – dann fehlt die reale Erfahrung mit Flüchtlingen. Es handelt sich um reine Angstszenarien, die nur abstrakt als Bedrohung empfunden werden, ohne dass es die reale Gefahr tatsächlich unmittelbar gibt. Populisten schüren Ängste, Rechtsextreme fischen am rechten Rand, säen Hass und Verachtung, argumentieren mit Vorurteilen – so sagen die demokratischen Parteien. So argumentieren die liberalen Kommentatoren und drücken vehement ihre Sorge aus. Und plötzlich steht, ohne dass man die Konsequenzen bedenkt, die ein solches Urteil nach sich zieht, ein Fünftel der deutschen Bevölkerung unter Verdacht, rechtsextrem und neonazistisch, also vollkommen undemokratisch unterwegs zu sein. Die demokratischen Parteien sind in Sorge und fürchten sich vor der Diktatur der Mehrheit, obwohl sie ihre eigene Legitimation aus der Tatsache ableiten, dass sie insgesamt mit Mehrheit gewählt wurden und sich deshalb Volksparteien nennen. Aber was ist, wenn die Volksparteien dramatisch an Zustimmung verlieren, und die eine, die SPD, gerade mal bei 15% dümpelt? Und die extremen Parteien, die Rechte wie die Linke, vor allem aber die Rechte, dramatische Zuwächse verzeichnen? Dann ist die Machtbasis der Volksparteien bedroht, und sie finden solche Mehrheitsentscheidungen gar nicht mehr lustig. Plötzlich und unversehens sind sie für die Diktatur der Minderheit, sie bestehen darauf, dass sie selber, trotz schwindender Zustimmung, demokratisch legitimiert sind und entscheiden können, während die Mehrheit suspekt geworden ist. Sie bestehen darauf, tendenziell als Repräsentanten der Minderheit, nämlich der qualifizierten Minderheit, der drohenden

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Diktatur der Mehrheit Einhalt gebieten und widersprechen zu können. („Ich halte den Grundsatz, dass die Mehrheit des Volkes in Bezug auf die Regierung das Recht hat, alles zu tun, für ruchlos und verabscheuungswürdig“, hatte Tocqueville 1835 nach seiner Rückkehr aus Amerika in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“1 geschrieben – und den Terminus „Diktatur der Mehrheit“ in die politische Debatte eingeführt.) Was so viele Wähler für die Parolen der Populisten – egal ob in Deutschland, Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Polen, Ungarn oder den Vereinigten Staaten – überhaupt empfänglich macht, sind nicht die verlockenden Angebote der Populisten, die gibt es nicht, sondern das dramatische Versagen der etablierten Klasse, die keine Lösungen für die fortlaufenden ökologischen, ökonomischen, finanziellen Krisen anzubieten hat. Deshalb muss man nicht die Populisten bekämpfen, sondern die Ursachen, was heißt: die Verursacher, die dafür verantwortlich sind, dass die Populisten mit ihren Parolen überhaupt erfolgreich haben werden können. Und die Verursacher sind eben die, die uns mit unseren Stimmen seit Jahren regieren. Die haben versagt. Niemand sonst. Und die sind zur Verantwortung zu ziehen. Was sind die Folgen einer globalen Wirtschaft und Finanzpolitik, die sich ja nicht naturwüchsig entwickelt, sondern von unseren Eliten zu verantworten ist? Ich zitiere da Kompetentere als mich, weil man als Kritiker immer schnell in den Verdacht kommt, Nörgler, Miesmacher, Schwarzmaler, leichtfertiger Putinversteher oder Verschwörungstheoretiker zu sein, insgesamt also nicht ernst zu nehmen sei. Ich zitiere einen vollkommen unverdächtigen Zeugen, den man allerdings ernst nehmen muss: den IWF. Der Internationale Währungsfond hat schon im Juni 2016 von der breiten Öffentlichkeit fast unbemerkt, aber von den wichtigen Zeitungen dann kurzfristig doch, wenn auch zumeist nur online, kommentiert, bevor die Nachricht ganz schnell in der Versenkung verschwunden ist, etwas gesagt, was DIE ZEIT zu der erstaunten Überschrift angeregt hat: „Ausgerechnet der Internationale Währungsfonds

Der Kanzler klare Kante und andere Ungeheuerlichkeiten ruft das Ende des Neoliberalismus aus.“ Denn genau das hat der IWF gemacht. Er hat Bilanz gezogen – und die lautet: Die Neoliberale Wirtschaftspolitik ist am Ende. Der Kommentator der ZEIT schrieb:

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„Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat eingeräumt, dass die Entfesselung der Marktkräfte die Wirtschaft in vielen Fällen nicht wie erhofft gestärkt, sondern vielmehr geschwächt habe. Dazu muss man wissen, dass es sich beim IWF um jene Institution handelt, die genau diese Entfesselung mit großem Eifer vorangetrieben hat und so zum Hassobjekt von Globalisierungskritikern in aller Welt wurde. Wenn sich der Fonds jetzt vom Neoliberalismus distanziert, ist das ungefähr so, als gäben die Grünen die Ökologie auf oder der Papst schwörte dem Katholizismus ab [...]. Nach fast drei Jahrzehnten neoliberaler Politik bleibt festzuhalten: Die Weltwirtschaft befindet sich in einem permanenten Krisenzustand, für die Fehlspekulationen einer globalen Finanzelite musste die Allgemeinheit aufkommen, und in fast allen Industrienationen ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer geworden. Das muss man erst einmal schaffen.“2 Und Strich drunter. Jetzt wird Bilanz gezogen: Die neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik hat, vom IWF eingestanden, vollkommen versagt. Wir kommen seit Jahren nicht mehr aus der ökonomischen und finanziellen Krise heraus. Die Folgen sind für die Einzelnen katastrophal. Arbeitsplätze sind nicht mehr sicher, im Gegenteil, sie werden wegrationalisiert, es gibt keine sinnvolle, verlässliche Perspektive, die Altersvorsorge ist vollkommen ungesichert, in Spanien und Italien ist jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit. Das hat die Wirtschaftspolitik doch konsequent geschafft, dass sie für die nächste Generation keine, und zwar gar keine Perspektive bereithält. In Berlin lebt jedes dritte Kind von Harz IV. Die Schulen in Berlin können nicht mal mehr Toilettenpapier kaufen. Die benachbarten Industrienationen wie Frankreich oder England oder Polen setzen weiter gegen jede Erfahrung und gegen jede Rechnung auf

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Atomenergie, die nachweislich die teuerste und gefährlichste Energie überhaupt ist, und so geht es immer weiter. Wir bewegen uns im ständigen Alarmzustand, ohne dass einer von uns Alarmierten einen Ausweg benennen könnte. Es ist so, als wären wir in einem geschlossenen Raum, in einem Kinosaal zum Beispiel, in dem zu unserer Unterhaltung ein Katastrophenfilm gezeigt wird, in dem man Menschen in einem Kinosaal sieht, in dem ein Brand ausbricht, und es bricht tatsächlich bei Betrachtung des Films über den Brand in einem Kinosaal ein Brand in diesem Kinosaal aus, in dem wir sitzen. Alle Notausgänge sind gottseidank vorschriftsmäßig beleuchtet, aber hinter der Beleuchtung gibt es keine Notausgänge. Niemand hat damit gerechnet, dass es tatsächlich eine Katastrophe geben könnte, und daran gedacht, Notausgänge einzubauen. Strich drunter und Fazit des Tages: Es scheint aussichtslos zu sein. Unser Denken hat uns über viele tausend Jahre in die Sackgasse dramatischer ökologischer, ökonomischer, ideologischer und existenzieller Katastrophen ohne Perspektive auf glückliche Veränderung geführt – wobei das Dramatischste ist, dass sich dafür kaum jemand interessiert, und jeder, der darüber redet, nur noch langweilt und nervt. Es lebt sich leichter mit Verdrängung und Verleugnung, auch wenn die das Leben kosten. Sind wir also an unserem Ende angekommen? Ist die Kakophonie ringsherum nur der Lärm des letzten Geläuts? Oder kann es vielleicht doch noch gelingen, die vorherrschenden Dissonanzen in eine Euphonie zu modulieren?

2 Kant hat das grundlegende Prinzip seiner Ethik in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten mit dem kategorischen Imperativ auf den Punkt gebracht. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“3 Kant hat diesen Satz immer wieder variiert und daran festgehalten. In der Kritik der praktischen Vernunft schreibt er: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen

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Gesetzgebung gelten könne.“4 Dieser kategorische Imperativ ist nach Kant das einzige Handlungsprüfkriterium. Unmoralische Handlungen erkennt man so an einer Form von Widersprüchlichkeit: Kein Dieb will, dass sein Diebesgut, das er als sein Eigentum ansieht, wieder gestohlen wird, obwohl er selbst mit dem Delikt des Diebstahls die Institution des Eigentums verletzt hat. Kants kategorischer Imperativ ist somit eine allgemein verständliche Handlungsanweisung ohne jede transzendentale Begründung und lässt sich leicht in die Alltagssprache übersetzen: „Stell dir vor, jeder würde dir zufügen, was du einem anderen zufügst!“ Handelst du moralisch, ist es gut für dich. Dann geht man auch mit dir moralisch um. Handelst du unmoralisch, ist es schlecht für dich, denn man wird sich auch dir gegenüber unmoralisch verhalten. Also ist es besser, du handelst moralisch. Kants kategorischer Imperativ ist die wohl klügste Richtschnur sinnvollen menschlichen Handelns, bleibt allerdings ohne Strafandrohung und ohne das Monopol, diese Androhungen bei Nichtachtung jederzeit mit Gewaltanwendung umsetzen zu können, ein folgenloser Spruch für das Poesiealbum und wohlfeile Sonntagsreden. Kant hat das gewusst und deshalb in seiner Schrift Zum ewigen Frieden zur politischen Durchsetzung des Kategorischen Imperativs einen „Völkerbund“ verlangt.5 Die totale Kontrolle aber, von der die Utopisten träumten, haben wir zwar inzwischen fast lückenlos schon erreicht. Sie garantiert aber nur noch die illusionslose Perpetuierung der herrschenden schlechten Verhältnisse und gewährt keineswegs die Aussicht auf bessere, geschweige denn glückliche Zeiten. Als Menetekel steht stattdessen vor uns das Verlöschen und Verschwinden unserer Gattung, die Drohung der selbstverschuldeten Selbstauslöschung. Es gibt soziale Organisationen, die sind älter als wir, zum Beispiel die Ameisen oder die Bienen in ihren Staaten, auch die Affen in ihren Gruppen und Gemeinschaften, sie alle sind hochkomplex organisiert und sehr viel perfekter angepasst an die Natur, die ihnen ihr Überleben garantiert, denn sie zerstören ihre Ressourcen nicht. Und alle diese Organisationen erhalten

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sich ohne ethische und moralische Normen, jedenfalls ohne Werte, wie wir sie kennen und für uns immer wieder einfordern, die uns unser Überleben garantieren sollen. Wir wissen, dass wir mit den Affen zu 98% genetisch übereinstimmen. Wir unterscheiden uns in 2%. Und diese 2% lassen uns reflexiv, also vernünftig denken, rational und idealistisch planen und künstlerisch gestalten, die lassen uns metaphysische, transzendentale Paläste der kühnsten Heilserwartung in der Radikalität fundamentalistischer Gewissheit denken – und dieses Vermögen hat uns von Anfang an in größte Turbulenzen des Unheils gestürzt. Noch aber zeugen wir uns fort. Und wenn auch in den hochindustrialisierten Ländern immer weniger Kinder geboren werden, so sind wir mit jeder Geburt dennoch eins mit unserer Natur, die offenbar nur ein (instinktives) Gesetz, nämlich das ihrer Reproduktion, kennt. Noch immer gibt es auch bei uns diese instinktiven Reste fernab der zivilisatorischen Depression. Was bedeutet das? Dass wir uns intensiver unserer ersten Natur als unserer zweiten, reflektierten widmen sollen? Das wäre wohl notwendig, allerdings nur, wenn wir es schaffen, nicht wieder in der rauschhaft mystischen Irrationalität einer hingebungsvollen Naturverfallenheit aufzugehen. Dann, eins mit seinem Leben und seinem Sterben, könnte es für jeden Einzelnen so etwas wie die Heiterkeit eines kreativen Lebens geben – im bewussten Augenblick des Wissens um seine Einmaligkeit angesichts des sicheren Todes. Treten wir kurz einen Schritt zurück, jeder für sich, und vermessen das Terrain, in dem wir uns bewegen, wieder einmal neu, als sei es eine noch unerforschte Landschaft, obwohl dessen Topographie schon lange kartographiert und nur vergessen ist. Wir lesen, dass alle Staaten, die Utopisten konstruiert haben, wenn sie denn Wirklichkeit werden würden, Alptraumstaaten wären. Orwells 1984 ist keineswegs erst eine Horrorphantasie des 20. Jahrhunderts. Neu ist nur die neue Technologie der Kontrolle, nicht aber die postulierte Universalität ihres Anspruchs – und neu ist das Erschrecken darüber, weil wohl zum ersten Mal die Leser des Utopisten die

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Gewissheit haben, dass das, was er sich vorstellt, tatsächlich Wirklichkeit werden wird. Die Utopien waren von Anfang an Systeme totaler Institutionen der Überwachung und Unterdrückung. Und damit man sich darinnen auch glücklich fühlen könne, wurde einfach auch das Glück befohlen. Fichte lieferte in seinem Geschlossenen Handelsstaat (im dritten Buch, Kapitel sieben) diesbezüglich die folgende Bestimmung: „Das Verhältnis des Volkes zur Regierung [...] ist durchaus glücklich.“6 Und wer anders empfinden sollte, der gehört nicht in das geschlossene System des Glücks, der bedroht es mit seinem Unglück und muss folglich als Feind aller Glücklichen aussortiert, was heißt: vernichtet werden. Die Maxime lässt sich polemisch griffig so formulieren: Fühle dich glücklich – oder stirb. Alle Utopien waren Polizeiphantasien der Ordnung und Unterordnung. Und immer wieder wurde der Versuch unternommen, der Gewaltherrschaft, damit sie allgemein akzeptiert werden konnte, eine transzendentale Begründung und damit eine moralische Unbedingtheit zu verschaffen. Bei Platon aber kann man schon lesen, dass diese transzendentale Begründung (wie bei allen Utopisten nach ihm) auf Lügen beruht, die selbst dann als Wahrheit zu akzeptieren sind, wenn man sie durchschaut – es sei denn man akzeptiert rigorose, drakonische Strafen an Leib und Leben.

3 Aus der Mottenkiste unserer bundesrepublikanischen Politik: Beispiel 1. Blättern wir zurück ans Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Im Hirtenwort der bayrischen Bischofskonferenz wurde damals den Sozialdemokraten, wie zuvor schon von der deutschen Bischofskonferenz und vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken, vorgeworfen sie würden die moralischen Grundwerte unserer Gesellschaft gefährden und das sittliche Bewusstsein zerstören. In einem Vortrag vor der katholischen Akademie in Hamburg wies der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt diese Vorwürfe entschieden

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zurück, weil sie am Wesen unseres Demokratieverständnisses vorbeizielten. „In unserer Gesellschaft“ – sagte er – „wird eine Vielzahl von weltanschaulichen Begründungen angeboten“, durchaus im Sinne des Grundgesetzes, denn:

„Anders als in einer Gesellschaft mit einheitlicher Sinn­ orientierung – wie etwa im Mittelalter – kann es in einer pluralistischen Gesellschaft – zu der wir uns ja bekennen – keine volle Identität der Werthaltungen aller Beteiligten geben. Die Bejahung der demokratischen Verfassung bedeutet geradezu den prinzipiellen Verzicht auf Totalkonsensus. Andererseits kann auch die Demokratie keineswegs ohne Grundwertekonsensus die Würde des Menschen bewahren. Zu dem Minimalkonsens der Demokratie gehört unerlässlich die Anerkennung des unabstimmbaren Bereichs der letzten Fragen; das sind Fragen, über die ein Parlament nicht abstimmen darf.“7 186 Was dieser Minimalkonsens sei, sei aus dem Grundgesetz ablesbar: Das Grundgesetz stelle die Unantastbarkeit der Menschenwürde fest und bekenne sich zur Unverletzbarkeit und Unveräußerbarkeit der Menschenrechte, aber – so der ehemalige Kanzler – es sei falsch, diese Grundrechte mit transzendent orientierten, mit religiösen oder sittlichen Grundwerten gleichzusetzen, sondern: „Mit der Gewährleistung der Grundrechte für den einzelnen Menschen, auch für Gruppen, eröffnet das Grundgesetz die Möglichkeit, Grundwerte zu verwirklichen.“ Das Grundgesetz sei nicht dazu da, selbst Grundwerte zu etablieren, sondern nur dazu, die freie Ausübung jeder ideologiebildenden Arbeit zu garantieren, die sich innerhalb der vom Grundgesetz festgelegten Richtlinien orientiert. Insofern sei nicht das Grundgesetz verantwortlich zu machen, wenn zum Beispiel trotz der vom Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit immer weniger von dieser Freiheit Gebrauch machen, wenn eine Religion absterbe, weil die Menschen nicht länger tradierte religiöse Überzeugungen akzeptierten. Der Staat, so der ehemalige Kanzler, habe sich

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religiös und weltanschaulich neutral zu verhalten – aber: Er hat Gesetze erlassen, die natürlich von der sittlichen Grundhaltung geprägt sind, die in der Gesellschaft lebendig ist. „So fließen über Mehrheitsentscheidungen die sittlichen Grundwerte, die in der Gesellschaft existent sind, in den Prozess der politischen Willensbildung ein“; denn, „der demokratische Staat hat die Werthaltungen und die sittlichen Grundhaltungen nicht geschaffen. Er findet sie vielmehr in den Einzelnen und in der Gesellschaft vor, und er muss bei seinem Handeln dort anknüpfen.“8 Was aber passiert, wenn der Staat keine Werthaltungen, keine verbindlichen, durch Mehrheitsvotum zustande gekommenen Grundwerte der Sittlichkeit zum Maßstab seiner Gesetzgebung geliefert bekommt, wenn, wie von allen Parteien behauptet, eine tiefgreifende Krise im Wertsystem zu beobachten ist, eine Unsicherheit, die einen Konsens unmöglich macht?9 Hier ist der Punkt, wo die Rede des ehemaligen Kanzlers interessant wird. Was passiert, wenn z.B. die Kirche ihren Auftrag nicht wahrnimmt, weil sie ihn mangels Einfluss nicht mehr wahrnehmen kann, wenn es tatsächlich, wie behauptet, keinen Konsens in Fragen der sittlichen Grundhaltungen mehr gibt, wenn es so ist, wie der ehemalige Bundespräsident Heinemann beklagte: dass die Welt zunehmend unregierbarer würde, wenn, wie Erhard Eppler, der SPD-Ökologe, damals sagte, ohne einen grundlegenden Wandel in unserem Wertsystem die vor uns liegenden Aufgaben nicht zu bewältigen seien und niemand wirklich angeben könne, wer diesen nötigen grundlegenden Wandel in unserem Wertsystem herbeiführen soll10 – was passiert dann? Der ehemalige Kanzler sagte: Gemeinsamkeit der im Prozess der Geschichte gewachsenen Kultur und Gemeinsamkeit eingeübter Lebensformen machen die Homogenität der Gesellschaft aus. Aber „wir wissen aus eigener Erfahrung, dass der Grad der Homogenität einer Gesellschaft durchaus verschieden groß sein kann. Wenn er klein ist oder wenn die Übereinstimmung in elementaren Grundwerten und Grundauffassungen fehlt, dann sind Freiheit und Würde des Menschen gefährdet.“ So sagte der ehemalige Kanzler und

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nannte dann die für diesen Fall nötigen staatlichen Mittel, die uns vor dem Chaos bewahren sollen:

„Eine Gesellschaft, in welcher der Konsens über elementare Grundwerte verloren ist, treibt auf Anarchie zu – es sei denn, sie träte die Konsensbildung an einen total reglementierenden Staat, an einen Obrigkeitsstaat, an eine Diktatur ab. Mit anderen Worten: Wenn die im einzelnen Menschen vorausgesetzten sittlichen Kräfte zur Regulierung seiner Freiheit fortfallen, wenn die inneren Regulierungskräfte der Gesellschaft ausbleiben, dann tritt eine Außenlenkung in Form von Zwang und Reglementierung an deren Stelle.“

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Soweit der ehemalige Kanzler. Er sprach als politischer Praktiker. Er beschrieb, was er sicherlich nicht gewünscht haben wird, was er aber dennoch als unabwendbar vor sich sah: Wenn der politischen Herrschaft eine allgemeinverbindliche ideologische Begründung fehlt, wenn die Legitimation nicht mehr aus einem gemeinsamen moralischen Gesinnungskontext resultiert, dann ist die Trennung von Herrschern und Beherrschten schon vollzogen – und die Rede von der demokratischen Grundordnung ist Lüge. Die Herrschaft hat sich notwendig, damit sich die Gesellschaft überhaupt noch reproduzieren kann, mit Gewalt zu legitimieren. Das ist die traumlose Pragmatik, der es inzwischen nicht mehr gelingt, sich ideologische Hoffnung einzureden. Waffen müssen in Zeiten der Krise die Ordnung im bedrohten Staat garantieren, Sondergesetze und Sondereinheiten, damit der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich inzwischen geeinigt hat, nämlich: Überleben – nicht auch noch gefährdet ist. Schmidt hat, wie man heute sagt, klare Kante gezeigt und die Grenzen und Notwendigkeiten des politischen Handelns aufgezeigt – was sich in den heutigen Zeiten der klaren Kante in dieser Radikalität kein Politiker mehr zu sagen traut. Beispiel 2: Probleme mit Flüchtlingen sind nicht neu, es gibt sie schon lange. Ich will hier – so etwas gibt es auch –

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einen vollkommen unverdächtigen, moralisch unzweifelhaft integren Politiker zitieren. Willy Brandt hat 1973 zur Zeit der Ölkrise gesagt, jetzt müsse aber sofort ein Anwerbestopp für Gastarbeiter stattfinden. Natürlich, hat er gesagt, ist das nicht Ausdruck einer feindseligen Haltung Ausländern gegenüber, aber, hat Willy Brandt gesagt, zuerst müssen wir an unsere eigenen Landsleute denken und die Einwanderung stoppen.11 Helmut Schmidt war damals Finanzminister und dezidiert „gegen Gastarbeiter aus fremden Kulturen, da haben wir uns übernommen“, so sein O-Ton im selben Film. Sieben Millionen Ausländer in Deutschland sind eine fehlerhafte Entwicklung. Die Zuwanderung von Menschen aus dem Osten Anatoliens oder Schwarzafrikas löse das demographische Problem nicht, sondern schaffe nur zusätzlich ein dickes Problem, sagte der von den Deutschen im hohen Alter hochverehrte Helmut Schmidt. 2008 schrieb Schmidt in seinem Buch Außer Dienst dann: „Wer die Zahl der Moslems in Deutschland erhöhen will, nimmt eine zunehmende Gefährdung des inneren Friedens in Kauf.“12 Sandra Maischberger fragte ihn 2011 in ihrer Talkshow, ob er glaube, dass seine Partei ihn ausschließen werde, so wie sie Thilo Sarrazin ausschließen wolle, weil er Sarrazin ausdrücklich verteidigt habe.13 Schmidt antwortete – hanseatisch knapp wie es seine Art war –: Das glaube er nicht, weil die Äußerungen von Sarrazin vernünftig sind. Er würde, sagte Schmidt in der Talkshow, seine Aussage so oder so ähnlich heute wiederholen. Er sagte, Sarrazin habe nur einen Fehler gemacht, dass er neben den kulturellen und zivilisatorischen Unterschieden auch genetische Ursachen für die Schwierigkeit der Integration von Ausländern mit anderen Religionen ins Feld geführt habe. Das sei ein Fehler gewesen und natürlich Unsinn. Schmidt hat dann Huntington und sein Buch Clash of Civilizations aus dem Jahr 1996 zitiert und darauf hingewiesen, welche Probleme es gibt, wenn Zuwanderer aus einer patriarchalischen Männergesellschaft mit muslimischer Tradition um den Persischen Golf herum nach Deutschland kommen. Da dürfe man nicht seine Augen verschließen. Alle Religionen haben Fehler gemacht,

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hat Schmidt gesagt, wenn ihre Bischöfe, wenn ihre Ayatollahs ihren Gläubigen beigebracht haben, auf die anderen Gläubigen oder Ungläubigen herabzusehen und andere für minderwertig zu halten. Wäre Helmut Schmidt nicht hochangesehener Bundeskanzler mit großer moralischer Autorität gewesen, sondern ein normaler Bürger, würde man ihn mit diesen Äußerungen einen AfD-Sympathisanten nennen, und er hätte sich vollkommen unmöglich gemacht.14 Warum habe ich diese beiden Kanzler zitiert? Weil sie Probleme erkannt und benannt haben, weil sie Lösungsvorschläge gemacht haben und sich nicht von moralisierenden Wortpolizisten einer moralisch zweifelhaften Handlungsunfähigkeit haben einschüchtern lassen. Das haben sie niemandem erlaubt, und niemand hat sich getraut, sie unter Verdacht zu stellen oder ihnen zu widersprechen.

4 190 Einmal, als das Bürgertum sich mächtig emanzipierte, gab es die Illusion, man könne den mündigen Bürger zweiteilen: Ihn als politischen Bürger in die Pflicht nehmen und ihm als privatem Bürger Freiheiten zugestehen und ihn nach eigenem Gutdünken und eigener Lust leben lassen, obwohl auch damals die Menschennatur als Ursache aller Konflikte genannt wurde: im Leviathan von Thomas Hobbes. Die Menschen beschrieb Hobbes von Natur aus als böse, ungerecht, undankbar, anmaßend und hochmütig, voller Misstrauen und Ruhmsucht – und dies seien unveränderliche ewige Naturgesetze. Die Menschen sind egoistisch und gehen gegeneinander – aber, so Hobbes, sie sind doch auch gleichzeitig vernünftig und wissen, dass sie, wenn sie gegeneinander gehen, sich aufreiben und vernichten. Deshalb schließen sie Verträge, die sie vor Übergriffen schützen sollen, deshalb wählen sie den Einen, diese zu einer Person vereinigte Menge, dem sie das Recht übertragen, in ihrem Namen über sie zu herrschen: den Souverän, den sterblichen Gott, dem alle Schutz und Frieden verdanken – und das ist der Leviathan. „Hierin liegt das Wesen

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des Staates, der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zweck, dass sie die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt.“15 Der Leviathan ist der Gesetzgeber, der das Chaos des Naturzustandes strukturiert und, einmal mit Machtvollkommenheit ausgestattet, definiert, was Übertretung seiner Gesetze bedeutet und jede Übertretung straft. Er ist die Zentralgewalt, die die sich widersprechenden Interessen der vielen Einzelnen zusammenzwingt zu dem von ihm definierten Gesamtinteresse, gegen das es keinen Widerspruch geben darf. Die Bewegung der menschlichen Geschichte sollte hier zu Ende sein. Alles Weitere wäre nur wieder Regression in den so überwundenen Naturzustand der Kriege. Hobbes hat von seinen Bürgern verlangt, dass sie sich in ihren Handlungen dem Willen des absoluten Souveräns fügen – allerdings hat er ihnen freigestellt, zu denken, was sie wollen, solange sie ihre Gedanken nicht in die Tat umsetzen. So wenig also das Individuum, wenn es gehorsam ist, für sein Handeln verantwortlich ist, ebenso wenig kann es, solange es gehorsam ist, für sein Denken zur Verantwortung gezogen werden. Damit hat Hobbes in sein System der Ordnung einen Sprengsatz gelegt, dessen Gefährlichkeit er unterschätzte. Er glaubte, wenn nur die Eigentumsverhältnisse vernünftig geregelt wären – und dazu gehörte, dass denen, die Eigentum hatten, das Recht auf ihr Eigentum zugesprochen wurde – alle Konflikte gelöst wären, weil die, die kein Eigentum hatten, auch kein Recht und keinen Anspruch auf solches haben sollten. Das gemeine Volk und seine Bedürfnisse und Begehrlichkeiten hat er aus seinen Überlegungen ausgeklammert. Der Geist des einfachen Volkes sei „wie weißes Papier und fähig, alles aufzunehmen, was ihm von der öffentlichen Autorität aufgeprägt wird“16. Sein Argument war: Wenn das gemeine Volk dazu habe gebracht werden können, religiöse Dogmen anzuerkennen, die wider alle vernünftige Einsicht behauptet werden, dann kann es nicht schwer

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sein, es auch zum Gehorsam gegenüber dem Leviathan zu bewegen; wenn nötig mit Gewalt, weil dessen Ansprüche ja vernünftig sind. Die von Hobbes postulierte Gleichheit der Menschen war eine Fiktion, eine Zweiklassengleichheit, die die Mitglieder seines Staates verpflichtete, die Gesetze des Besitzkapitalismus durch Verinnerlichung zu akzeptieren, egal ob sie nun über Besitz verfügten oder nicht. Die Freiheit des Individuums bestand darin, sich frei zu denken, nicht frei zu handeln. David Hume hat gegen die Fiktion des Gesellschaftsvertrages polemisiert und sie wertlos genannt. Die mit dem Gesellschaftsvertrag suggerierte Freiheit sei bloß rhetorische Volte, um die realen Macht- und Besitzverhältnisse zu verschleiern. Er wusste, dass mit dem Zugeständnis, jedes Individuum könne frei denken, was es wolle, die Mine gelegt worden war, die die Ordnung im Staat sprengen konnte. Das würde unweigerlich passieren, wenn tatsächlich jeder Einzelne seine Wünsche radikal verwirklichen wolle. Hume warnte, wenn die Autorität des Souveräns nicht bis in den Bereich der Wünsche hineinreiche, sei sie nicht mehr absolut, sondern beschädigt, und die Grenze, die da markiert sei, könne jederzeit überschritten werden, weil niemand einsehen wird wollen, dass sein Denken und sein Urteil nicht Wirklichkeit werden können soll. Um die Ordnung im Staat aufrechtzuerhalten, darf es nach Hume überhaupt keinen Bereich der subjektiven Willkür und des besonderen Begehrens geben. Es darf nicht die Möglichkeit des privaten Rückzugs geben. Hume wollte Eindeutigkeit und Klarheit. Herrschaftsverhältnisse sind, was sie schon immer waren, Gewaltverhältnisse. Und die Gewalt muss bis in das Innere jedes Subjekts reichen, muss das moralische Wollen definieren, weil sonst der Widerspruch gegen die Souveränität der Herrschaft für sich ja selber eigendefinierte Moral geltend machen könnte. Hume lässt keinen Zweifel: „Die heute vorherrschende Art der Machtausübung ist ausschließlich auf Flotten und Armeen gegründet; sie ist rein politischer Natur und ihre Autorität das Ergebnis etablierter Staatsgewalt.“17 Hume insistierte auf

Der Kanzler klare Kante und andere Ungeheuerlichkeiten Anerkennung des realen Sachverhalts: „Die ursprüngliche Errichtung der Staatsgewalt beruht auf Gewaltanwendung; sie wurde nur zwangsweise akzeptiert. Auch spätere Regierungen stützen sich auf Macht; die Leute haben keine Wahl, sondern sind verpflichtet Gehorsam zu leisten.“18 Das beklagt Hume keineswegs. Er argumentiert nicht gegen die Souveränität. Im Gegenteil. Die Triebe des Menschen streben nach schrankenloser Verwirklichung, nach unbeschränkter Freiheit und Einverleibung. Notwendig müssen deshalb die Leidenschaften geopfert werden. Sie müssen domestiziert werden, weil sonst in der Maßlosigkeit des Begehrens Einzelner die Gesellschaft als Ganze aufgerieben werden würde. Die Vernunft gebietet Zügelung und Kontrolle der Leidenschaften, deren vernünftige Beschränkung:

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„Ein geringes Maß an Erfahrung und Beobachtung genügt, uns davon zu überzeugen, dass keine Gesellschaft ohne die Autorität einer Obrigkeit bestehen kann und dass ein Verfall dieser Autorität unausweichlich ist, falls ihr nicht strikter Gehorsam geleistet wird. [...] Wenn ihr mich nach den Gründen fragt, die uns zum Gehorsam gegenüber der Staatsgewalt verpflichten, so antworte ich ohne Zögern: ‚Weil andernfalls die Gesellschaft nicht bestehen könnte.‘“19 Auch Hobbes wusste natürlich, dass der Gesellschaftsvertrag, den er vernünftig, weil freiwillig aus Einsicht zustande gekommen, nannte, seinen Ursprung darin hat, dass einer die Macht ursupierte, mit Gewalt und verführender Rede Gesetze machte, die die anderen zu akzeptieren haben. „Es gibt kaum einen Staat auf der Welt, dessen Anfänge mit gutem Gewissen zu rechtfertigen sind.“20 Verträge ohne das drohende Schwert sind bloß Worte, deren Magie nicht ausreicht, die gegeneinanderstehenden Interessen zu versöhnen, auch wenn die Vernunft längst weiß, dass die Leidenschaften und die Radikalität des Begehrens, wenn sie nicht – was die Selbsterhaltung gebietet – gezügelt werden, die Gattung insgesamt und damit eben auch jeden Einzelnen vernichten würden.21

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Alles auf Anfang. Der philosophische Hund – Platon Was ist das Zentrum der Philosophie Platons? Da wird man schnell antworten: seine Lehre von den Ideen. Ich denke jedoch, dass dem nicht so ist. Im Zentrum und zu Beginn all seiner Überlegungen, aus der sich alle weiteren Gedanken, auch seine Ideenlehre entwickelt, steht etwas sehr Einfaches, das er täglich und jederzeit bedroht sieht: das einfache Überleben. All seine Anstrengung ist auf nichts Anderes gerichtet, als die Bedingungen der Möglichkeit zu erörtern, unter denen das Überleben gewährleitet werden kann. Dafür entwickelt er dann die ganze Kosmologie seiner Ideen und schreibt die Göttergeschichten, die ihm nicht passen, um, damit die Götter zu den Vorbildern werden, die er für die Ordnung in seinem Staat benötigt. Er schafft sich seine transzendentale Beglaubigung selber, er ist der Erfinder und Herr seiner Metaphysik. Er beschreibt, wie Ideologie entsteht, wie man sie durchsetzt und wie man sie zur Sicherung der geltenden Ordnung bewahren muss. Eine Stadt, lässt Platon Sokrates sagen, entsteht aus unseren Bedürfnissen: Wir bedürfen der Nahrung, der Wohnung und der Kleidung. Und da nicht jeder alles gleich gut verrichten kann, sondern aufgrund seiner natürlichen Anlagen eines geschickter, somit besser und schöner herstellt, ist es nur sinnvoll, dass jeder der ihm gemäßen Tätigkeit nachgeht: Der Ackersmann wird das Feld bestellen, den Pflug aber und all das übrige Werkzeug wird ihm der Schmied liefern. Und so braucht eine Stadt Baumeister und Weber, Schuster, Schmiede und Holzarbeiter, auch Hirten und Schäfer. Der Ackersmann braucht das Vieh, um das Feld zu bestellen, wie die Schuhmacher und Weber Leder und Wolle haben müssen. Eine Stadt braucht Handelsleute und Krämer, denn all das, was produziert wird, muss verkauft werden auf dem Markt, und so wird, wie Platon in der Politeia weiterschreibt, „die Münze als bestimmtes Zeichen zum Behuf des Tausches entstehen“. Zuletzt gibt es noch Dienstleistende, deren Verstand nicht reicht, dass

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man sie der Gemeinschaft zuzählen könnte, die aber über körperliche Kräfte verfügen für allerlei schwere Arbeiten. Das sind die Taglöhner, „welche denn den Gebrauch ihrer Kräfte verkaufen und den Preis derselben Lohn nennen“22. Die Bewohner einer solchen Stadt werden einfach, doch vergnügt leben und die Götter lobpreisen, einander beiwohnen – vernünftig allerdings, denn aus Furcht vor Armut und Kriegen werden sie nicht über ihr Vermögen Kinder zeugen. Das Essen ist sparsam, aber sättigend: Getreide werden sie ziehen und Wein, die Gerste für die Graupen, den Weizen für das Mehl, auch „Zukost“ sollen sie haben: Salz und Oliven, Zwiebeln, Käse und Kohl. Zum Nachtisch billigt ihnen Sokrates Feigen zu, Erbsen und Bohnen, Myrtenbeeren und Kastanien, die sie im Feuer rösten können, und dazu einen mäßigen Schluck Wein. Sokrates’ Schüler Glaukon wendet ein, dass man Schweine nicht schlechter füttern würde als die Bürger der von Sokrates als ideal beschriebenen Stadt. Sokrates belehrt Glaukon darüber, was denn passieren wird, wenn die Bürger bekämen, was Glaukon für sie und sich verlangt. Er beschreibt ihm die üppige, aufgeschwemmte Stadt. Natürlich wird es einigen nicht reichen, bescheiden, doch glücklich zu leben, da sie meinen, ein glückliches Leben sei ein genüsslicheres. Polster werden sie wollen, Salben, Räucherwerk und Freudenmädchen und süßes Backwerk. Für ihre Häuser werden sie Maler bestellen, Gold und Elfenbein und bunte Weberei soll die Wohnung schmücken; Schaukünstler, Musiker, Dichter und Rhapsoden und Tänzer werden in die Stadt kommen. Die Reichen werden mehr Diener brauchen: Wärterinnen, Kindermädchen, Putzmacherinnen, auch Bartscherer – und all diese Leute benötigen dann wieder mehr Bäcker und Köche, mehr Baumeister, Schuster und Ackersmänner und Viehhirten, da der Bedarf an allem sehr schnell steigen wird. Doch „Grund und Boden, welcher damals hinreichte“, alle Bedürfnisse zu befriedigen, ist jetzt nicht mehr genug vorhanden. Also müssen dem Nachbarn Viehweiden und Ackerland genommen werden, wie natürlich auch der Nachbar Land erobern muss, denn dessen Bedürfnisse sind ebenfalls gestiegen. So folgt notwendig, dass die aufgeschwemmte Stadt Kriege

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führen muss. Dass aber kann keine vernünftige Stadt sein, aus deren Lebensweise notwendig der Krieg folgt. Also wird der vernünftige König bescheiden sein und auch seine Bürger zur Bescheidenheit anhalten: Einfach und schlicht soll die Ernährung sein. Syrakusische Tische und sizilianische Mannigfaltigkeit der Speisen, auch attisches Backwerk sind zu verbieten. Sie schwemmen den Leib bloß auf und füllen ihn mit „Feuchtigkeit und bösen Dünsten“ wie einen Sumpf. Das aber sind keine Krankheiten. Und die darunter leiden, soll man nicht pflegen, denn sie sind dem Staat gar nicht nützlich. Und wenn ein Leiden durch Brennen und Schneiden oder sonstige Mittel nicht geheilt werden kann, soll man es einfach lassen und sich nicht weiter kümmern. Der vernünftige Bürger lässt sich keine kleinliche Lebensführung, keine mildernden Umschläge und keine Schonung verordnen. Er hat keine Zeit, lange krank zu sein, denn er darf sein Geschäft nicht vernachlässigen. „Wenn aber der Körper es nicht ertragen kann, so stirbt er eben und ist aller Händel ledig.“23 Und wie man achthaben muss, dass der Leib gesund ernährt wird, so muss man auch aufpassen, dass die Musik die Seele nicht krank macht. Alle klagende und jammernde, die vermischt lydische und die hochlydische muss verboten werden, auch die weichliche und schlaffe ionische und lydische Tonart darf es nicht geben. Allein die dorische ist die einer solchen Stadt gemäße. Also muss man auch aufpassen, sagt Sokrates, dass keine Instrumente mehr hergestellt werden, die die verbotenen Tonarten zu spielen erlauben: keine Saiteninstrumente, keine Harfen und Zimbeln, vor allem keine Flöten, nur die Lyra und die Kithara sollen erlaubt sein.24 So, sagt Sokrates, reinigt der weise König die Stadt, die unvernünftig schwelgte. Er verbietet alles, was die Entfaltung der Glückseligkeit hemmt und straft schwer jeden, der gegen diese Gebote verstößt. Achtgeben muss der Herrscher auch auf die Nachkommen. So, wie man bei den Jagdhunden und dem edlen Geflügel und auch bei den Pferden aufpasst, dass von den Edlen immer nur die Besten sich fortpflanzen, so soll auch bei den Menschen nur der Trefflichste der Trefflichsten beiwohnen, die Kinder der Schlechtesten aber soll man gar

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nicht aufziehen. Von „Blühenden und Vollkräftigen“25 sollen die Kinder gezeugt werden. Die Frau soll mit dem 20. Jahr anfangen und bis zum 40. Jahr gebären, der Mann soll zeugen, wenn er die größte Stärke im Laufen hinter sich hat, vom 25. Jahr bis zum 55. Mutige Jünglinge, die durch Tapferkeit sich auszeichnen, sollen reichlich Erlaubnis haben, den Frauen beizuwohnen, damit die meisten Kinder von solchen gezeugt werden. Aber alle, die älter oder jünger sind, soll man wegen unheiliger, widerrechtlicher Handlung anklagen und deren Kinder aussetzen. Ihnen wird keine Auferziehung gestattet. Die guten Kinder werden von Wärterinnen im Säugehaus aufgezogen, die Mütter kennen ihre Kinder nicht und stillen deshalb nicht nur das ihre. Die schlechten Kinder aber und die verstümmelten wird man „wie es sich ziemt, in einem unzugänglichen und unbekannten Ort verbergen“. Damit die Stadt aber auch wirklich sicher und glücklich leben kann, braucht sie gegen ihre Feinde Wehrmänner, Soldaten. Und wie jeder seiner besonderen Natur nach für bestimmte Tätigkeiten prädestiniert ist, so soll es in dieser vernünftigen Stadt auch keine allgemeine Wehrpflicht geben, sondern nur die, die aufs Beste geeignet sind, die Tapfersten und Eifrigsten, sollen die Stadt vor äußeren und inneren Feinden beschützen. Sie sollen scharf sein und wachsam. Doch wenn sie so von Natur aus beschaffen sind, sagt Sokrates, dann besteht die Gefahr, dass sie nicht nur mit ihren Feinden kämpfen werden, sondern auch miteinander und auch gegen friedliche Bürger, vielleicht sogar Schmeichlern und Demagogen folgen gegen ihren gerechten Herren und König. Darum muss der Soldat hart sein gegen seine Feinde, sanft aber gegen alle Befreundeten. Dass aber das Eine, die Tapferkeit, Schärfe und Angriffslust, sein Anderes, die Sanftheit, nicht ausschließen muss, sieht man, sagt Sokrates, bei denen, die den Soldaten ähneln: „Du weißt wohl, dass das edler Hunde Art ist, von Natur aus gegen Hausgenossen und Bekannte oft so sanft zu sein wie nur möglich, gegen Unbekannte aber ganz das Gegenteil. Dies ist möglich; und es ist nichts Widernatürliches, dass wir einen Wehrmann suchen, der so ist.“26 Damit aber der Soldat erkennt, gegen wen er sanft zu

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sein hat, gegen wen aber gewalttätig, muss er unterscheiden lernen: das Gute vom Schlechten. Der Soldat muss von Natur aus philosophisch sein, genauso wie man es an den Hunden sehen kann. Der Soldat ist ein philosophischer Hund. Das Gute kann er vom Schlechten unterscheiden, wenn er lernt. Dafür hat der König Sorge zu tragen: dass seine Soldaten lernen, das Gute vom Schlechten, den Freund vom Feind zu unterscheiden. Er hat für eine vernünftige Erziehung zu sorgen: sowohl für die Seele als auch für den Leib. Der gute Soldat muss von Kindheit an auf seinen Beruf vorbereitet werden, denn, so sagt Sokrates, gerade die ersten Jahre sind bestimmend für das weitere Leben.27 Und wie man früh achtgeben muss, was für Märchen den Kindern erzählt werden, so muss man auch die Märchen für die Größeren, die Schriften des Homer und des Hesiod z.B. untersuchen, ob sie vernünftig sind und wahr – das nämlich sind sie, sagt Sokrates, ganz und gar nicht. So etwa, wenn Hesiod schreibt, dass Kronos seinem fürchterlichen Vater Uranos, der allnächtlich in wilder Gier seine Gattin, die Erde, die Göttin Gaia, umarmte, das Geschlecht mit der Sichel abschnitt, dass Kronos später all seine Kinder, kaum dass sie aus dem heiligen Leib der Göttin Rhea kamen, verschlang, weil ihm geweissagt war und er deshalb befürchtete, dass ihm dasselbe Schicksal wie seinem Vater zustoßen könnte, dass Kronos später von seinem Sohn Zeus umgebracht wurde – dies alles, sagt Sokrates, also die ganze Genealogie der griechischen Götter, „sollte wohl, auch wenn es wahr wäre, unverständigen und jungen Leuten nicht so unbedacht erzählt werden, sondern am liebsten verschwiegen bleiben.“ All diese Geschichten, in denen Götter Göttern nachstellen und einander bekämpfen, selbst wenn sie wahr sein sollten, sind zu verbieten. Auch alle Göttergefechte, die Homer beschrieben hat, „mag nun ein verborgener Sinn dahinter stecken oder auch keiner.“28 Denn leicht könnten die Soldaten verwirrt werden und gleich den Göttern, die doch Vorbilder sind für uns hier unten, untereinander in Feindschaft geraten. Allein wie Gott seinem Wesen nach ist: nämlich gut und wahr und gerecht, so darf gedichtet werden.

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Und da Gott das Vollkommenste ist, sind auch alle Geschichten zu verbieten, in denen er die Gestalt wechselt, eines schnöden Vergnügens willen, „lediglich aus Verlangen nach der Liebeslust.“29 Ein wahrhaft philosophischer Herrscher wird nur die Dichter dulden, die die Tapferkeit und Besonnenheit, das Edelmütige und Fromme besingen, jedem anderen aber, selbst dem bedeutendsten seines Fachs, wird er zwar seine Verehrung bezeugen, ihn auch loben, er sei ein heiliger, wunderbarer und anmutiger Mann, doch in die Stadt wird er ihn nicht hineinlassen. Die sorgfältig erzogenen Krieger – Wissen, Wollen und Tun fallen bei ihnen zusammen – werden den Staat schützen und dafür sorgen, dass der dritte Stand arbeitet. Die Gerechtigkeit der Stadt ist vollkommen, wenn jeder das Seine tut. Drei Stände also gibt es: die weisen Regenten als lenkende Vernunft, die Soldaten als kontrollierende und schützende Instanz und den „Nährstand“, die Arbeiter und Bauern, die so vernünftig sein sollen, „wie eben etwas vernünftig sein kann, was seiner Natur nach auf Erwerb, Besitz, Begehrlichkeit, Notdurft gerichtet sein muss“30. Die Kardinaltugenden – Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit – sind in diesem Staat verwirklicht. So ist er ein Staat der Gerechtigkeit: Jeder hat das Seine, indem er das Seine tut. Damit aber niemand, kein Soldat, kein Arbeiter und kein Bauer unzufrieden ist und zweifelt, soll diese Ordnung als gottgewollt und damit natürlich gelehrt werden, auch wenn das – Sokrates selbst nennt es Dreistigkeit und ihm ist sehr unwohl bei dieser Behauptung – eine Lüge ist. Allen Bürgern soll nämlich eingeredet werden, sie seien das, was sie jetzt sind, schon vor ihrer Geburt unter der Erde gewesen. Dort hätten sie all ihre Fertigkeiten erlernt. Deshalb hätten einige die natürlichen Anlagen, die Arbeit eines Schmiedes zu verrichten, andere aber die eines Webers. Gott selbst hätte sie für diese Welt vorbereitet. Sie müssten also zufrieden sein und dürften nicht klagen. Und Glaukon glaubt, dass Sokrates, wie er zugibt, sich schäme, wenn er weiter sagt, man müsse allen Bürgern einreden: „Ihr seid nun freilich alle, die ihr in der Stadt seid, Brüder; der bildende Gott hat denen von euch, welche geschickt sind,

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zu herrschen, Gold bei ihrer Geburt beigemischt, weshalb sie denn die Köstlichsten sind, den Gehilfen aber Silber, Eisen hingegen und Erz den Ackerbauern und den übrigen Arbeitern.“31 Gott hätte jedem seine natürliche Stelle auf Erden zugewiesen. Da die Ordnung also eine göttliche sei, dürfe sie von Menschen nicht umgestoßen werden, und es ist sicher, „dass die Stadt dann untergehen werde, wenn Eisen oder Erz die Aufsicht über sie führe.“ So träumt Platon den idealen Staat. Rein ist er und tugendhaft. Doch die Tugend bedarf der Soldaten und der Lüge, um sich zu behaupten. Und das weiß Platon natürlich, denn er selber hat die Lügen ja in die Welt gesetzt. „Es scheint – sagt Sokrates – dass unsere Herrscher allerlei Täuschungen und Betrug werden anwenden müssen zum Nutzen der Beherrschten.“32 Und es gibt auch keine Hoffnung, dass das Lügen aufhören wird, nur: Was die erste Generation noch als Lüge erkennt, werden deren Nachfahren einfach hinnehmen und glauben, als sei es das Selbstverständlichste. In diesem Staat wird Ruhe und Ordnung sein, die Bürger werden bescheiden und arbeitsam sein, gehorsam und tugendsam. Eine gerechte Regierung wird darüber wachen, dass alle Gesetze eingehalten werden. Und alles, was den Gesetzen zuwiderläuft, wird unterbunden. Aber, klagt Sokrates: „Unter den nicht notwendigen Vergnügen und Begierden scheinen mir einige gesetzwidrig zu sein, welche zwar in allen Menschen entstehen, werden sie aber von den Gesetzen und den besseren mit Vernunft verbundenen Begierden im Zaum gehalten, so verlieren sie sich aus einigen Menschen entweder gänzlich, oder es bleiben doch nur wenige und schwache Spuren zurück, bei anderen erhalten sie sich stärker und häufiger.“ Auf die Frage Glaukons, welche nicht notwendigen Vergnügen und Begierden er denn meine, antwortet Sokrates – und beschreibt damit exakt, was Freud viele Jahrhunderte später „die Wiederkehr des Verdrängten“ nannte:

„Die im Schlaf zu entstehen pflegen, wenn das Übrige der Seele, was vernünftig und mild ist und über jenes

Der Kanzler klare Kante und andere Ungeheuerlichkeiten herrscht, im Schlummer liegt, das Tierische und wilde aber, durch Speisen und Getränke überfüllt, sich bäumt und den Schlaf abschüttelnd losbricht, um seiner Sitte zu frönen. Du weißt, wie es dann, als von aller Scham und Vernunft gelöst und entblößt zu allem fähig ist. Denn es unternehmen, sich mit der Mutter zu vermischen, wie es ja meint, macht ihm nicht das mindeste Bedenken, oder mit irgendeinem anderen, sei es Mensch, Gott oder Tier, oder sich mit irgendetwas zu beflecken, und keiner Speise glaubt es sich enthalten zu müssen, mit einem Wort, von keinem Unsinn und keiner Unverschämtheit bleibt es zurück.“33

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Ein Staat, in dem alles reglementiert ist, schafft Albträume, das sind die Spesen, die, wie Platon denkt, zu vernachlässigen sind. Aber das ist egal, solange dem Träumenden verboten wird, darüber zu reden. Siehe oben Thomas Hobbes im Leviathan. Da kann der einzelne Bürger denken, was er will, solange er darüber nicht öffentlich redet und zum Widerspruch wird. Das geht lange gut. Bis dann eines Tages die Unterdrückten die Bastille stürmen, oder sich, wie in Frankreich, gelbe Westen anziehen und unorganisiert ohne Programm auf die Straße gehen, weil es ihnen reicht. Athen ist an den Widersprüchen, die sich entfalteten aufgrund der schon weit entwickelten Produktivkräfte, die in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu den Produktionsverhältnissen standen, zugrunde gegangen. Platon versuchte, den Verfall aufzuhalten durch eine Staatsverfassung, deren Modell die der siegreichen Spartaner war. Auf dem Peloponnes gab es die drei Kasten seines Idealstaates: die Heloten, die Spartiaten und den Rat der Alten. Die militärische Überlegenheit der Spartaner schien ihm die logische Folge eines autoritären, puritanischen Aristokratismus zu sein. In seinem Alterswerk, den NOMOI (entstanden vermutlich 352 v.Chr., ein erster Entwurf stammt aber wohl schon aus den 360er-Jahren), beschrieb Platon resigniert den zweitbesten Staat, einen Polizeistaat, der ohne philosophische Regenten auskam, so wie die Alten in Spartas Rat auch keine Philosophen, sondern Militärs waren. Im

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besten Staat, der Politeia, ist allein der mächtige Philosoph fähig, der Verkommenheit der Athener Demokratie zu begegnen und das gewaltsam zu etablieren, was doch unmittelbar einsichtig und gottgewollt, also natürlich sein sollte: das Wahre, Gute und Gerechte. Platons Idealstaat ist ein Terrorstaat, regressiv und barbarisch, der mit Lügen und Gewalt durchsetzt, was er demagogisch als das Wahre ausgibt, der ständig verbieten muss und der auch verbieten muss, was er mit seinen Verboten selbst produziert: die Träume und Alpträume der Untertanen. Die Menschennatur war für Platon Ursache aller Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Natur musste beherrscht werden und die Menschennatur musste es auch – und zwar ohne Rest, ohne dass tief innen noch ein Rest von Autonomie übrig blieb, weil der das Gesamtsystem unterminieren würde. Deshalb schickte Platon seinen Bürgern wider alle Vernunft die Soldaten bis in ihre geheimsten Träume. Im Idealstaat Platons gab es ein Traumverbot, damit der Traum vom idealen Staat Wirklichkeit werden konnte.

6 Der Paritätische Wohlfahrtverband hat die neuesten Zahlen in Deutschland gerade veröffentlicht.34 Trotz bester Auftragslage der Wirtschaft und zunehmenden Reichtums – so gibt es allein im letzten Jahr (2018) einen Zuwachs von 250.000 (!) neuen Millionären in Deutschland – steigt die Armut der Bevölkerung dramatisch und ist auf einem historischen Höchststand. Nahezu 16% der Bevölkerung leben in Armut. 16%, das sind bei rund gerechnet 80 Millionen Einwohner fast 13 Millionen. Und weil sich unter dieser Zahl niemand etwas vorstellen kann, habe ich nach einem Bild gesucht, das diesen Irrsinn verdeutlicht. Zähle ich die Einwohner der 14 größten Städte in Deutschland zusammen – dann komme ich auf diese Zahl. Arm in Deutschland sind so viele Menschen, wie derzeit zusammen in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf, Dortmund, Leipzig, Essen, Bremen,

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Dresden, Hannover und Nürnberg leben. Alle Einwohner dieser Städte zusammen ergeben die Zahl der Armen in unserem Land. Und wer gilt in Deutschland als arm? Arm sind Menschen, wenn sie über weniger als 60% des mittleren Einkommens verfügen. Zugrunde liegt dabei „das gesamte Nettoeinkommen des Haushaltes, inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, andere Transferleistungen oder sonstige Zuwendungen“. In Deutschland gilt per dieser Definition als arm, wer als Single weniger als 917 Euro netto verdient, bei einer Alleinerziehenden mit einem Kind unter sechs Jahren liegt die Grenze bei 1.192 Euro. Die Mieten steigen überall, die Schulen verkommen, die Straßen verkommen, die Luft ist verschmutzt, es gibt auf dem Land kein Internet. Es gibt auf dem Land zu wenig Lehrer, zu wenig Pfleger, zu wenig Landschaftsgärtner, es gibt keine Krankenhäuser, keine Kaufmannsläden, keine Gastwirtschaften, keine funktionierenden Bahn- und Buslinien und so weiter und so weiter. Das Ganze ist ein Elend mit Ansage. Jeder weiß es, zumindest spürt es ein jeder. Und wer das weiß, wundert sich nicht, dass die AfD diesen unglaublichen Zuwachs an Wählerstimmen hat. Nicht, das sei noch einmal gesagt, weil das alles Nazis und Neonazis sind, sondern weil sie naiv hoffen, nachdem die etablierten Parteien und ihre Repräsentanten dieses Desaster angerichtet und vollkommen versagt haben, dass es (nur) mit einer radikalen Kehrtwendung besser werden kann. Schuld am Zuwachs radikaler, insbesondre rechtsradikaler Gruppierungen sind allein und ausschließlich die Parteien und Repräsentanten, die die Wirtschafts- und Finanz- und Sozialpolitik der letzten 30 Jahre mit ihren katastrophalen Folgen zu verantworten haben. Es gibt, wenn man die komplizierten Brüche philosophischer Systeme und Spekulationen aus ihrer hochdifferenzierten Komplexität auf die Möglichkeiten praktischer Anwendung heruntergekürzt hat, nur eines, dem man Respekt bezeugen sollte. Nämlich keiner angemaßten Autorität und keiner noch so erhabenen Idee. Sondern wem dann? Respekt sollte man nur dem Leben selbst zollen. Alles, was dem Erhalt des Lebens dient, ist zu respektieren, also zu achten, und alles was das Leben

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einschränkt oder gefährdet oder riskiert, ist unnachsichtig zu bekämpfen und zu vernichten. Nicht anders kann die Antwort auf der Frage lauten, wie denn moralisches Handeln aussehen kann, weil daraus alle weiteren moralischen Handlungen notwendig folgen. So einfach, so kompliziert ist das. Wenn wir über Werte reden, dann müssen wir nicht lange nachdenken, welche Werte unsere Gesellschaft moralisch zusammenhalten können. Wir müssen auch nicht lange darüber nachdenken, ob diese Werte notwendig sind. Oder ob wir neue brauchen, um die anstehenden Probleme zu bewältigen. Es sind die Werte der bürgerlichen Gesellschaft. Es sind nicht die Werte der feudalen Gesellschaft, nicht die Werte einer Sklavenhaltergesellschaft, nicht die Werte einer kannibalistischen Gesellschaft. Es sind die Werte der bürgerlichen Gesellschaft, die in unserer Verfassung und im Bürgerlichen Gesetzbuch ihren Niederschlag gefunden haben. Sie regeln unser heutiges Zusammenleben und garantieren uns unsere Zukunft. Es gibt deshalb keinen Werterelativismus. Im Laufe der Geschichte der Aufklärung haben wir die Normen unseres Zusammenlebens definiert. Und die sind für uns heute unhinterfragbar absolut. Damit das möglich ist, und die Werte nicht miteinander in Kollision geraten und sich behindern und beschädigen, gibt es eine Hierarchie der Werte, die streng zu beachten ist. Die Gleichheit zum Beispiel steht über der Freiheit, obwohl beides, die Gleichheit wie die Freiheit, Werte der bürgerlichen Gesellschaft sind und Forderungen der Französischen Revolution waren. Ich kann mich aber nicht schrankenlos in meinem Freiheitswillen verwirklichen wollen, weil ich damit notgedrungen einen anderen in seinem Freiheitswillen einschränken werde, also muss eine gemeinsame, für alle geltende Freiheit zuvor definiert werden, in der sich alle gleichermaßen entwickeln und ausleben können, ohne einander zu behindern. Die Balance des möglichen Glücks der bürgerlichen Gesellschaft ist bekannt. Sie muss nur durchgesetzt werden. Und das ist das Problem. Denn dann bin ich sofort schon wieder bei der klaren Kante der zitierten Kanzler und bei den rigorosen Einsichten Platons.

Der Kanzler klare Kante und andere Ungeheuerlichkeiten 7 Wer das aber nicht wahrhaben will, weil es ihm zu menschenverachtend und zu kalt ist, kann sich natürlich in die Wärme flüchten, dahin, wo Hegel seine Märchenstunde abhält und davon fabuliert, dass sich die Geschichte der Menschheit zu einem bestimmten Zweck objektiv verwirklicht, weil sich in ihr der Weltgeist vernünftig entfaltet. Dann muss man allerdings vernachlässigen, dass nach der Niederschrift in zwei Weltkriegen, in diversen politischen Säuberungsaktionen und in den darauffolgenden Jahren der globalen Ausbeutung vor allem in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, die über die Rohstoffe verfügen, die wir zur Entwicklung und Entfaltung unserer hochzivilisierten Technologie und Wirtschaft benötigen, hunderte von Millionen von Toten zu beklagen sind. Und man sollte wissen, dass Hegel selbst gleich in der Einleitung in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ geschrieben hat: 205

„Diejenigen unter Ihnen, meine Herren [die Damen sind hier nicht angesprochen, KB], welche mit der Philosophie noch nicht bekannt sind, könnte ich nun etwa darum ansprechen, mit dem Glauben an die Vernunft, mit dem Verlangen, mit dem Durste nach ihrer Erkenntnis zu diesem Vortrag der Weltgeschichte hinzuzutreten; und es ist allerdings das Verlangen, nach vernünftiger Einsicht, nach Erkenntnis, nicht bloß nach einer Sammlung von Kenntnissen, was als subjektives Bedürfnis bei dem Studium der Wissenschaft vorausgesetzt werden müsste. Wenn man nämlich nicht den Gedanken, die Erkenntnis der Vernunft, schon mit zur Weltgeschichte bringt, so sollte man wenigstens den festen, unüberwindlichen Glauben haben, dass die Vernunft in derselben ist, und auch den, dass die Welt der Intelligenz und des selbstbewussten Wollens nicht dem Zufall anheim gegeben sei, sondern im Lichte der sich wissenden Idee sich zeigen müsse.“35 Wer das glauben mag, weil es ihm hilft, soll das nur getrost tun. Hegel hat das aus Gründen für vernünftig gehalten.

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Resümee: Das kurze Zeitalter des Neoliberalismus, das mit seinen ökonomischen und finanziellen Verwerfungen zu einer dramatischen Schieflage in der Gesellschaft geführt hat, neigt sich, auch wenn man das vieler Orten in den westlichen Industrienationen noch nicht wahr haben will, unweigerlich, trotz aller ideologischen und wirtschaftlichen Rettungsversuche, dem Ende zu. Wir müssen uns neu erfinden. Lösungsvorschläge sind im Verlaufe unserer Geschichte immer wieder gemacht und hier skizziert worden. Deren Werte sind allesamt bekannt. Andere wird es auch im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung wohl nicht geben. Erste Resultate der neuen Zeit kann man in der rasanten Entwicklung Chinas schon erkennen.36 Die allerdings werden denen kaum gefallen, die in der Regel nur ihren eigenen materiellen Vorteil im Sinn haben, zu ihrer Legitimation aber scheinheilig von Demokratie, Menschenrechten und Toleranz reden. 206

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Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika (1835/1840), Zürich 1987, S. 376. 2 Siehe http://www.zeit.de/2016/24/neoliberalismus-staat-marktwaehrungsfonds. 3 Immanuel Kant: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Theorie-Werkausgabe Bd. VII, Frankfurt a. M. 1968, S. 51. 4 Ebd., S. 140. 5 Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I, Theorie-Werkausgabe Bd. XI, Frankfurt a. M. 1968, S. 209. 6 Johann Gottlieb Fichte: Der geschlossene Handelsstaat (1800), Berlin 2014, S. 85. 7 Helmut Schmidt: Daß Menschen denken, sprechen, handeln können, in: Frankfurter Rundschau, 27. 7. 1976. 8 Ebd. 9 Koch, Werner: Bezahlte Rowdys, gekaufte Gewalt, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 6.7.1986. 10 Erhard Eppler: Qualität des Lebens, in: IG Metall für die Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Aufgabe Zukunft – Qualität des Lebens. Bericht über die vierte internationale Arbeitstagung der IG Metall der BRD (1972), Band 1: Qualität des Lebens, Frankfurt a. M. 1974, S. 91f. 11 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=jWp7RuXd3M4. 12 Helmut Schmidt: Außer Dienst, München 2008, S. 236. 13 Zur Kontroverse um Thilo Sarazin und dessen Buch Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (München 2010), siehe den Wikipedia-Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Thilo_Sarrazin. 14 Menschen bei Maischberger, ARD 23. 8. 2010. Siehe auch: https://www.youtube.com/watch?v=jdgeqm85Pzc. 15 Thomas Hobbes: Der Leviathan, Berlin 1976, S. 134 f. 16 Ebd., S. 117. 17 David Hume: Die wertlose Fiktion vom Gesellschaftsvertrag, München 1976, S. 165. 18 Ebd., S. 171. 19 Ebd., S. 173 f. 20 Hobbes: Der Leviathan, S. 539. 21 Bei Nietzsche ist nachzulesen, wie die Wahrheit der Moral der Herrschaft sich in die Gemüter der Beherrschten eingeschrieben hat: „Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder, die widerlichsten Verstümmelungen, die grausamsten Ritualformen aller religiösen Kulte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hilfsmittel der Mnemonik erriet.“ (Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: KSA 5, hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1988, S. 295). 22 Platon: Politeia, in: Sämtliche Werke Bd. 3, hrsg. von Walter F. Otto u.a.,

Knut Boeser

Reinbek bei Hamburg 1957 ff.; im Folgenden zitiert nach der Stephanus-Nummerierung, hier: 369 b–372 c. 23 Ebd., 403 d–408 b 24 Ebd., 398 c–399 c 25 Ebd., 458 e–461 e 26 Ebd., 374 c–376 e 27 Ebd., 376 e–378 e 28 Ebd., 376 e–378 e 29 Ebd., 390 c 30 Ernst Hoffmann: Platon, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 117. 31 Politeia 415 a–d 32 Ebd., 459 c 33 Ebd., 571 b–572 b 34 Der Paritätische Gesamtverband (Hrsg.): Der Armutsbericht 2018, Berlin 2018. 35 G. F. W. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Theorie-Werkausgabe Bd. 12, Frankfurt a. M. 1970, S. 21 f. (Kursivsetzung von mir, K.B.). 36 Vgl. Frank Sieren: Zukunft? China! Wie die Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert, München 2018.

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Michael Wimmer

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen. Bemerkungen zur Diskussion um den vermeintlichen Verfall der Werte in pluralistischen Gesellschaften

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„Wir geben vor, etwas für Werte zu tun und verraten sie damit. Deswegen kann ich das Wort ‚Werte‘ nicht mehr hören. Ich möchte doch alle bitten, die allgemeinen Regeln einzuhalten. Das genügt nämlich – und leckt mich am Arsch mit Werten!“1

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„Den Akku auftanken, gelassener durch den Alltag gehen, konzentriert im Hier und Jetzt sein – dieses Bedürfnis ist gigantisch groß in unserer Welt.“ Mit diesen Worten preist Brigitte Huber, die Chefredakteurin der Frauenzeitschrift Brigitte, eine Achtsamkeits-App mit dem beziehungsreichen Titel „Balloon“ an, die von Brigitte-Leserinnen zu Sonderkonditionen erworben werden kann. Für Huber antworte die App auf den Megatrend Achtsamkeit, um mit „einer immer komplexeren und globaleren Welt besser fertig zu werden“. Seit sie die App benutze, fühle sich Brigitte Huber „wieder komplett, so, als wären verschiedene Teile meines Ichs wieder zusammengefügt“2. Auch wenn in dieser als Geleitwort verkleideten Annonce der Begriff des Wertes nicht vorkommt, so ist die Geschichte rund um die App dennoch Ausdruck einer gehypten Werterwartung. Diese besteht in der Hoffnung, in einer verunsichernd dahinrasenden Welt könnte es mit technischen Mitteln gelingen, den Wert der eigenen Persönlichkeit zu retten und mit sich selbst noch einmal ins Reine zu kommen. Dass es in dem Artikel um Werbung bzw. um eine Frage des Preises geht, erscheint nicht zufällig. In einer Phase, in der marktwirtschaftliche Prinzipien in die letzten Poren des Alltagslebens gedrungen sind, scheint es nur zu logisch, auch die Werteverhältnisse zu ökonomisieren. Immer wenn ich es mit einem Begriff zu tun habe, den ich gedanklich nicht klar zu fassen vermag, konsultiere ich Grimms Wörterbuch. Und fort finde ich die Bestätigung, dass der Begriff „Wert“ auch sprachgeschichtlich schon immer in enger Beziehung zu „Kaufsumme“ und „Preis“ gestanden ist. Er bezieht sich dort auf „mannigfache (Wert-)objekte, d.h. materielle und geistige Güter“. In seinem systematischen Versuch mit dem Titel „Wert“ aus 1926 kam J.E. Heyde zum Schluss, dass

Michael Wimmer

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in der Verwendungsgeschichte sein Anwendungsbereich als Synonym für „Preis“ zwar nicht geschmälert wurde, sich der Begriff des „Werts“ darüber hinaus aber zu einem wichtigen Fachwort der Volkswirtschaft und der Philosophie weiterentwickelt hätte, dessen Inhalt aber umstritten und oft definiert worden sei: „Darüber hinaus nimmt Wert geradezu den Charakter eines Schlag- und Modewortes an, das alle Welt bei passender und unpassender Gelegenheit im Munde führt.“3 Auf der Grundlage einer solchen Beliebigkeit der Inhalte dessen, was als „Werte“ verstanden werden will, scheint es fürs Erste erstaunlich, wenn in regelmäßigen Abständen ihr allgemeiner Verfall konstatiert wird. Die kulturpessimistische Verfallsgeschichte reicht weit vor Arthur Schopenhauers „Untergang des Abendlandes“ zurück und bezieht sich heute vor allem auf die Kollateralschäden kapitalistischer Vergesellschaftung. (Dass das Lautwerden kulturpessimistischer Stimmen – heute mehr denn je – einhergeht mit einer grundsätzlichen Infragestellung freiheitlich-demokratischer Grundordnungen, sollte uns zu denken geben. Wie ein roter Faden zieht sich in deren Wortmeldungen die Behauptung durch, illiberale bzw. autoritäre Herrschaftsformen wären weit besser in der Lage, einen überkommenen Wertehaushalt einer Gesellschaft in Ordnung zu halten.)

Die Werte realisieren sich in den Kaufentscheidungen Während allenthalben vom Zusammenbruch der Werte in pluralistischen Gesellschaften die Rede ist, kommt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich4 zu ganz anderen Schlussfolgerungen. In seinen von ästhetischen Beobachtungen inspirierten Überlegungen ortet er – ganz im Gegenteil – eine neue Konjunktur von Werten. Eine solche leite sich vom Umstand ab, dass der schiere Gebrauchswert von Waren und Dienstleistungen immer weniger ausreiche, genügend Käufer*innen zu finden. In einer „Kultur, in der sich fast alles um Individualität und Kreativität drehen“5 würde, müssten bei jedem Kauf­ akt Werte getauscht werden, die über den puren Geldwert

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen hinausweisen. Allein aufgrund des Aussehens eines Produkts würden Gefühle mittransportiert, die den/die Käufer*in in die Lage versetzen, bestimmte Werterfahrungen zu machen. Daraus sei, so Ullrich, eine – mit den kapitalistischen Verkehrsformen durchaus kompatible – Bekenntniskultur entstanden, die ein „Leben mit Werten“ zu einer neuen „Kulturtechnik“ habe werden lassen. Als solche könne sie als Ausdruck eines Wohlstandserfolgs verstanden werden, der sich nicht mehr nur in materiellem, sondern auch immateriellem (und damit wertehaltigem) Besitz manifestiere. Die damit verbundene Bekenntnis-Attitüde, sich nicht nur Waren aller Art, sondern auch die damit verbundenen Werte leisten zu können, findet ihre Entsprechung im Stand sozialer Ungleichheit:

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„Wer reicher ist, kann sich nicht nur mehr leisten, sondern steigert – durch den Erwerb guten Gewissens – fortwährend das eigene Selbstwertgefühl, während die Ärmeren, die nach wie vor damit beschäftigt sind, ihre materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, viel schlechtere Chancen haben, ein Wertebewusstsein zu entwickeln, sich zu bestimmten Werten zu bekennen oder diese zu realisieren.“6 Dass ein solches durch die grassierende Individualisierung von Wertvorstellungen hervorgerufenes „moralisch-ideelles Wohlstandsgefälle“ die sozialen Gegensätze eher weiter zuspitzt als nivelliert, liegt auf der Hand. Noch einmal verschärft wird die gesellschaftliche Polarisierung per Wertediskurs durch den Umstand, dass Werte gerne im Plural auftreten. Geht es nach Niklas Luhmann, dann käme einem rundum positiv konnotierten Wert-Vokabular in erster Linie eine „palliative Funktion“ zu. Werte würden in der Kommunikation immer schon vorausgesetzt, nicht aber der Kommunikation selbst ausgesetzt.7 Entsprechend blieben die hinter den Behauptungen eines Werte-getriebenen Handelns verborgenen Interessensgegensätze und Zielkonflikte im öffentlichen Diskurs nur zu leicht ausgeklammert. Und so kann Luhmann all denen, die sich auf

Michael Wimmer

die Suche nach der sozialen und damit politischen Dimension des Wertediskurses begeben wollen, ins Stammbuch schreiben: „Das Sprechen von Werten wirkt somit immunisierend, ja schützt vor Streit; und wer sie anführt, schiebt die Last der Komplexität dem zu, der einen Einwand vorbringen möchte.“8

Werte und Kultur als zwei Seiten einer Medaille

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Traditionell stehen Werte in einem engen Verhältnis zur jeweiligen kulturellen Verfassung der Gesellschaften, in denen diese hochgehalten werden wollen; man könnte sogar sagen, dass ohne einen normativ aufgeladenen Wertehorizont die Rede von „Kultur“ keinen Sinn macht. Was aber bedeutet es für diese Verwobenheit aus Werten und Kultur, wenn sie – wie alle anderen lebensweltlichen Aspekte – von einer umfassenden ökonomischen Durchdringung erfasst werden? Ullrich spricht in diesem Zusammenhang von der Transformation der Werte in „moralische Surrogate“. Als solche hätten sie den Vorteil, „moralisch und politisch komplizierte Fragen, also kulturelle Fragen, in simple Bekenntnisakte zu verwandeln“. Von ihnen wird erst gar nicht mehr erwartet, dabei helfen zu können, zu entscheiden, wie man sich verhalten soll, wenn man moralisch handeln will. Hauptsache, man kann Werte als persönliches Profil vor sich hertragen. Weitgehend entkoppelt von allfälligen kulturellen bzw. die Gesellschaft als Ganzes betreffenden Ansprüchen böten Werte alles andere als ein festes Fundament oder gar eine Letztbegründung für ein kollektives Handeln. Bedient wird ausschließlich die individuelle Ebene; und in der Tat kann die moralische Befreiung aus überkommenen kulturellen Korsetten mit Hilfe persönlicher Wertvorstellungen („Das ist mir wichtig!“) durchaus als Akt der Emanzipation interpretiert werden, bliebe da nicht der Nachgeschmack, es handle sich dabei ausschließlich um die kreative Gestaltung von Bekenntnisgeschichten zur Selbstprofilierung. Was aber bedeutet es, wenn sich der die jeweilige Kultur begründende Wertediskurs zuletzt stark auf den Marktplatz der Güter und Dienstleistungen verschoben hat? Beim

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen Versuch, die Begriffe „Werte“ und „Kultur“ gemeinsam zu googlen, wird das Ausmaß ihrer wirtschaftlichen Durchdringung unmittelbar deutlich. Es erscheinen allesamt Vokabeln aus der Sphäre einer globalisierten Wirtschaft wie Unternehmenskultur, Kundenorientierung, Kompetenz und Leistung, Integrität, Teamfähigkeit, Verantwortung, Interkulturalität oder Wertschöpfung. Mit diesem Bias wird klar, wer heute das Sagen nicht nur über die „Werte“, sondern auch über „Kultur“ hat: Es sind die, die „Wirtschaft machen“ und die aus ihrer Vormachtstellung ihre Vorteile ziehen. Daraus aber folgt unausweichlich die Frage, welche Konsequenzen sich aus der daraus resultierenden Verschärfung der sozialen Ungleichheit ergeben, die es mit sich bringt, dass die Definitionsmacht über Werte und die sie repräsentierende Kultur mehr denn je höchst ungleich verteilt ist.9

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Als der Mittelstand die Werte bestimmte und über die ideologischen Mittel verfügte, sie durchzusetzen Historisch gesehen war die Entwicklung des wertebasierten Kulturbetriebs eng mit der Herausbildung eines Mittelstandes verbunden, der im Umgang mit Kultur soziale Distinktion zu gewinnen trachtete. So sehr ihre Mitglieder darauf erpicht waren, sich in ihrem kulturellen Verhalten von anderen sozialen Gruppen (mit Ausnahme der Aristokratie, die es nachzuahmen galt) abzugrenzen, so sehr beanspruchten sie, als eine Art Gralshüter eines gemeinsamen Wertevorrates die Gesellschaft als Ganzes zu repräsentieren. Auf diese Weise nahm sich diese ursprünglich schmale soziale Gruppe das Vorrecht heraus, ethische Prinzipien bzw. einen Kanon an moralischen Vorschriften als ein gemeinsames Wertegerüst für alle gleichermaßen verbindlich zu machen. Konnte bis in die 1970er-Jahren noch von der – vor allem von sozialdemokratischen Regierungen gespeisten – Hoffnung ausgegangen werden, dass früher oder später alle Menschen den Status des Mittelstandes erreichen würden, so hat die neoliberale Offensive spätestens seit den 1980er-Jahren zu neuen gesellschaftlichen Polarisierungen

Michael Wimmer

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geführt, die heute selbst prononcierte Soziologen von einem Niedergang des Mittelstandes sprechen lassen.10 Eines der zentralen Ergebnisse dieses Auseinanderdriftens ist die Relativierung der Dominanz mittelständischer Kultur- und Wertvorstellungen. An ihre Stelle getreten ist eine neue Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, wobei die Akteur*innen nicht mehr darauf abstellen, damit verbundene Wertvorstellungen zu harmonisieren, sondern – wie es eine neue Europäische Rechte vormacht – gegeneinander in Stellung zu bringen. Das ist im Prinzip nichts Neues und doch drauf und dran, die politische Landschaft in Europa nachhaltig zu verändern: Unter umgekehrten Vorzeichen haben bereits in den 1960er-Jahren die British Cultural Studies den als falsch denunzierten Versprechungen einer bürgerlichen kulturellen Hegemonie mit ihrem für alle geltenden Wertediktat heftig misstraut. Aus einer linken klassenkämpferischen Sicht meinte damals Stuart Hall11 als einer der wichtigsten Repräsentanten, bei Kultur handle es sich um ein ewiges Kampffeld („a constant battle-field“), auf dem unterschiedliche Interessen aufeinander treffen würden. Der Ausgang der dort ausgetragenen Konflikte hänge weniger von oktroyierten Werten als von den jeweiligen Perspektiven und Interessen derer ab, die sich daran beteiligen (können).

Von „Culture Clashes“ zu „Value Arbitrariness” Geht es nach Hall, dann können wir eine für alle gleichermaßen verbindliche Rede über die kulturelle Verfassung eines Gemeinwesens und die in ihr enthaltenen Werte ganz schnell vergessen. Zu sehr sind handlungsleitende Wertvorstellungen an die jeweilige Zugehörigkeit zu einer spezifischen sozialen Gruppe gebunden. Diese entscheidet, was als gut und richtig anzusehen ist und was nicht. Und so sehen wir uns als Kinder einer Konsensdemokratie auf durchaus schmerzliche Weise gezwungen, noch einmal zu lernen, was es heißt, wenn in einer Phase wachsender „Culture Clashes“12 anstrebenswerte

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen

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Werte der einen als Instrumente der Benachteiligung Anderer ins Treffen geführt werden können. Folgt man aber den Anfangsbeobachtungen, dann liegt das spezifisch Neue im aktuellen Wertediskurs in einem Ausmaß an Individualisierung eines verbliebenen wohlhabenden Mittelstands, der meint, auf ein gemeinsames kulturelles Substrat verzichten zu können. Vereinfacht gesagt: In einer Phase zunehmender Entsolidarisierung13 ist es dem/der idealtypischen Vertreter*in des Mittelstandes weitgehend egal, was andere warum wie machen, solange er oder sie seine oder ihre eigene wertbasierte Selbstverwirklichung leben kann. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ein auf individuelle Selbstverwirklichung setzender Liberalismus in den einschlägigen Mittelstandsmilieus auf allen Linien gewonnen hätte. In dem Maß, in dem sich ihre erfolgsverwöhnten Vertreter*innen von einem wachsenden Teil frustrierter Krisenverlierer*innen abheben, vertieft sich bei diesen der Verdacht, die Wortführer*innen im bisherigen Wertediskurs hätten ausschließlich zu ihrem Vorteil mit gezinkten Karten gespielt und sie um ihre Lebenschancen betrogen. So tritt an die Stelle einer mittelständisch-bürgerlichen kulturellen Hegemonie eine unheilige Allianz eines links-nationalistischen Gewissensmilieus und rechter Modernisierungskritiker*innen, die drauf und dran sind, den Absolutheitsanspruch auf Kultur und Werte eines alten und desavouierten Mittelstandes zu übernehmen. Beide versuchen noch einmal, einen auf ihr Elektorat zugeschnittenen Wertekoffer zusammenzustellen und zur Grundlage ihrer Vorstellungen vom einzig richtigen Leben zu machen, die es gilt, mit den Mitteln einer neuen Kulturpolitik zum Maßstab des politischen Handelns zu machen. Das Ergebnis ist die Renaissance wachsender sozialer und politischer Spannungen, die angetrieben ist von einer kulturkämpferischen Aufladung, die längst überwunden schien. Ehe man es sich versehen hat, ist wieder die politische Rede von „kulturfremden“14 Menschen und Völkern, deren Wertvorstellungen man mit aller Härte entgegentreten müsse, am besten dadurch, dass man ihre Anwesenheit in der

Michael Wimmer

eigenen „Kulturnation“15 um fast jeden Preis zu unterbinden versucht. Und wir erfahren einmal mehr, dass der Wertediskurs selbst, jedenfalls in der Weise wie er von den verschiedenen Kräften des Parteienspektrums vorangetrieben wird, das Selbstverständnis von den Werten, die per se (und für alle gleichermaßen) gut wären, ad absurdum führt. Werte können sich ganz offensichtlich fundamental widersprechen und eignen sich hervorragend für den politischen Kampf. Beispiel gefällig? Während es die einen in der aktuellen Migrationsdebatte als einen besonderen Wert ansehen, Grenzen offen zu halten, sehen die anderen ihren politischen Ehrgeiz in dem Ausmaß befriedigt, als es ihnen gelingt, diese zu schließen.

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Die Rekonstruktion eines rechten kulturellen Hegemonieanspruchs zeigt sich auch in einem polarisierenden Wertediskurs In dem Maße, in dem ein bürgerlicher Mittelstand seinen Anspruch auf kulturelle Hegemonie aufgegeben hat (bzw. sich im Zuge der kapitalistischen Dynamik als Krisengewinner hat korrumpieren lassen) sind rechts- (in geringerem Ausmaß auch links-)populistische Kräfte in ganz Europa drauf und dran, im Anspruch auf Repolitisierung seine Nachfolge anzutreten. Mit ihren Konstruktionsversuchen einer erneuerten kulturellen Identität legen sie es nicht nur darauf an, einer verunsichernden Vereinzelung der sich benachteiligt Wähnenden entgegenzuwirken. Ihre Absicht ist es, mit Hilfe dieses Bedürfnisses nach Wiedervergemeinschaftung einen Keil in die liberal verfassten Gesellschaften zu treiben und ihrerseits den Anspruch auf die Herstellung einer rechten kulturellen Hegemonie zu erheben. Ihre zentralen Werte speisen sich in erster Linie aus traditionellen kulturellen Homogenitätskonstruktionen, die historisch zwar nie bestanden haben und sich doch dafür eignen, neue Formen der gesellschaftlichen Hierarchisierung („Unsere Leute zuerst“16) vorzunehmen.

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Sie wenden sich damit unmittelbar gegen Art und Ausmaß einer kulturellen und damit auch Werte relativierenden Diversität, wie diese als zentrale Voraussetzung pluralistischen Gesellschaften innewohnt. Das grassierende Gefühl des Isoliertseins, das mehr und mehr Menschen in inhaltslos aggressiver Weise umtreibt, soll noch einmal mit einem Angebot der Zugehörigkeit zu einer nationalen, ethnisch-kulturellen oder religiösen Gruppe kanalisiert werden. Aufgerufen werden damit weithin unhinterfragbare Werte zur kollektiven Identitätsbildung, die mithelfen sollen, sich als Mitglied natürlicher Gemeinschaften in positiver Weise von anderen (von denen man in der Regel nichts weiß und auch nichts wissen will) abzugrenzen. Die Triebkraft besteht dabei in der Hoffnung, das eigene Lebensbzw. Selbstwertgefühl zu verbessern. Diese „anderen“ werden bei der Gelegenheit gerne für die Widrigkeiten der „eigenen“ Gruppe verantwortlich gemacht; eine Figur, die sich übrigens – jedenfalls bis jetzt – hervorragend zur Verschleierung sozialer Konflikte bzw. ihrer Verursacher*innen eignet. Wenn wir also konstatieren müssen, dass Werte für eine kulturaffine Mittelstandselite (von Rechtspopulist*innen gerne als „Hautevolee“ beschimpft17) vor dem Hintergrund umfassender Vermarktwirtschaftlichung fürs Erste nicht viel mehr bedeuten als das aufzuzählen, was ihren Mitgliedern ganz persönlich wichtig ist, so sind die an die Macht strebenden Populist*innen dabei, diese noch einmal zu zentralen Bestandteilen eines kollektiven Selbstverständnisses ihres Elektorats zu machen und damit in ein gemeinsames „Wir“ zu gießen. In der Gestalt einer auf kultureller Homogenität beruhenden – Renationalisierung treten sie an, ihre Werte wahlweise gegen die „anderen“ oder „die da oben“ zu definieren und durchzusetzen. Diese Neuauflage an kulturellen Identitätskonstruktionen birgt in ihrer aktuellen politischen Dynamik ein großes Gefahrenpotential, wenn es darum geht, ein wertebasiertes Regelwerk, das bislang das Europäische Integrationsprojekt getragen hat, außer Kraft zu setzen. Da mögen Kunsttheoretiker*innen wie Bazon Brock noch so sehr drauf hinweisen, dass es sich bei „kultureller Identität“ um eine „Fiktion“ handelt.18 In seinen

Michael Wimmer

diesbezüglichen Überlegungen weist er nach, dass das, was gerne als spezifische „kulturelle Leistung“ verhandelt wird, in erster Linie der Logik unserer sozialen Natur geschuldet ist. Demzufolge bleibt den heranwachsenden Mitgliedern einer sozialen Gruppe gar nichts anderes übrig, als die für die Gruppe verbindlichen kulturellen Regeln zu antizipieren und als Grundlage in die eigene Lebensgestaltung zu integrieren. Wenn aber dieser Prozess der „Entkulturalisierung“ die schiere Grundbedingung dafür darstellt, in die Welt zu kommen, dann spricht wenig dafür, auf die je besonderen kulturellen Bedingungen besonders stolz zu sein; sie sind stattdessen die unabweisbaren Grundbedingungen dafür, dass heranwachsende Menschen in ihren jeweiligen sozialen Konstellationen hinreichende Überlebenschancen erhalten.

Exkurs: die Rolle der Kunst 220

Nicht nur für Brock handelt es sich bei diesen Wiederbelebungsversuchen einer quasi naturhaften kulturellen Zugehörigkeit (mit allen damit verbundenen Wertvorstellungen) um die verzweifelte Suche nach Essentialität, und sei es in Form von kultureller Selbstgenügsamkeit. In diesem Zusammenhang weist er der Kunst als herausragendem Medium die Funktion zu, Wertvorstellungen überhaupt bewusst zu machen, diese zu befragen, zu irritieren und da und dort auch zu übersteigen. Kunst erschöpfe sich nicht darin, die jeweiligen kulturellen Gegebenheiten, in die alle Menschen nolens volens hineingeboren sind, darzustellen bzw. zu einem Alleinstellungsmerkmal zu überhöhen, sondern – ganz im Gegenteil – sie im Prozess der Individualisierung zu überwinden. Ihm zufolge liege die besondere Qualität von Kunst darin, ihre jeweiligen kulturellen Identitätsphantasmagorien hinter sich zu lassen und das Individuum als Mitglied einer Weltgesellschaft ins Zentrum zu rücken: „Kunst stellt ja gerade eine Form der Überwindung von regionalen, religiösen, ethischen, rassischen oder Sprachgemeinschaften zugeordneten kultischen Handlungen dar. Kunst war von vorneherein eine universelle

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen Sprache […] Es kann folglich nur eine Kunst geben, so, wie es auch nur eine Wissenschaft (und nicht etwa eine deutsche oder eine französische Physik) gibt.“ Mit dieser Definition verweigert Brock die Unterordnung von Kunst unter politische Konzepte einer „Kulturnation“, wie sie gerade im Rahmen der aktuellen österreichischen türkis-blauen Kulturpolitik noch einmal fröhliche Urstände feiern, die er als eine „kontrafaktische Fiktion“ denunziert.

Im Spannungsverhältnis von Kultur und Zivilisation: Können die zivilisatorischen Errungenschaften auf eine gemeinsame über-kulturelle Wertebasis bauen?

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Obige Überlegungen sollten deutlich machen, dass Werte in ihren kulturellen Verfasstheiten nicht absolut gesetzt werden können. Bei genauerem Hinschauen entpuppen sie sich in ihrem Anspruch als sakrosankte, für alle verbindliche Handlungsweisen nur allzu schnell als Herrschaftsinstrumente, die das Gegenteil von dem bewirken, was sie vorgeben. Das gilt auch für die jeweiligen kulturellen Kontexte, in denen als absolut geltende Wertansprüche verhandelt werden. So sehr man die längste Zeit vermuten konnte, einem wertebasierten Gegeneinander sei Dank einer durch kapitalistische Dynamik beschleunigten Individualisierung ein für alle Mal der Boden entzogen, so zeigen sich jetzt immer deutlicher die Folgen diesbezüglicher Restaurationsversuche und mit ihnen das Aufbrechen neuer gesellschaftlicher Bruchlinien. Die sozialen Unterschiede können in einer Phase des Rückbaus des Wohlfahrtsstaats mit materiellen Mittel nicht mehr kompensiert werden; als Ersatz dafür wird den Betroffenen kulturelle Überhöhung angeboten. Gibt es überhaupt noch eine Ebene, auf der Werte eine absolut positive Wirkung entfalten könnten? Es liegt nahe, dafür die nationalstaatliche, allenfalls die transnationale bzw. europäische Ebene aufzusuchen. Immerhin repräsentieren diese (auch wenn rechtspopulistische Kräfte dies zunehmend in Frage stellen) multi-kulturelle Gesellschaften, deren Mitglieder im

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Rahmen jeweiliger politischer Verfassungen übereingekommen sind, zusammen ihre zum Teil ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen zu leben. So spricht vieles dafür, dass verfassungsgebende Werte über die jeweiligen kulturellen Besonderheiten der Bürger*innen als gemeinsam akzeptiertes Regelwerk hinauszuweisen vermögen, um so Verbindlichkeit innerhalb der nationalen Grenzen herzustellen. Ein Blick in die „Wertefibel“19 der aktuellen Bundesregierung bestätigt fürs Erste meine Einschätzung. Diese „Fibel“ richtet sich an alle österreichischen Bürger*innen und die, die es werden wollen. Hier werden die Werte Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Republik und Föderalismus angeführt, an denen sich alle gleichermaßen zu orientieren hätten. Nun mag man darüber streiten, ob Demokratie oder Föderalismus Werte im engeren Sinn darstellen oder ob diese Begriffe nicht in erster Linie Verfahren beschreiben, mittels derer Interessenskonflikte besser oder schlechter gelöst werden können.20 Nicht streiten aber kann man darüber, dass diese „Werte“ keine österreichische Besonderheit darstellen. Statt dessen spricht vieles für die Einschätzung, dass es sich bei den obengenannten Begriffen um überstaatliche zivilisatorische Errungenschaften handelt, die im Sinne der Gleichheit aller Menschen nicht nach ausschließlich lokaler, regionaler oder nationaler, sondern nach Weltgeltung verlangen. Mit kaum einem anderen Begriffspaar ist so viel Schindluder getrieben worden wie mit „Kultur“ und „Zivilisation“. Dies zeigt allein der Übersetzungsversuch Samuel P. Huntingtons breit diskutierter Schrift „Clash of Civilisations“21 ins Deutsche, die mit „Kampf der Kulturen“22 betitelt wurde. Nach dieser unscharfen Verwendung werden Werte ziemlich wahllos einmal kulturellen und einmal zivilisatorischen Kontexten zugeordnet. Hinter diesen beiden Bereichen stehen jedoch ganz unterschiedliche Konzepte des gesellschaftlichen Zusammenlebens und ihrer Begründungen. Den aufklärerischen Traditionen Europas folgend zeichnen sich zivilisatorische Errungenschaften gerade dadurch aus, dass sie – im Unterschied zu Kultur – auf alle Menschen

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(ungeachtet ihrer spezifischen ethnischen, religiösen oder sonstigen Wertorientierung) angewandt werden wollen. Anders gewendet: Wir reden hier von der Quintessenz einer historischen Erfahrung nach einer in ihrer Grausamkeit einmaligen Konfliktgeschichte in Europa, die darin besteht, einige wenige zentrale Wertvorstellungen aus ihren jeweiligen kulturellen Kontexten herauszulösen und zum Maßstab des transkulturellen Zusammenlebens zu machen. Als zentraler Beleg dient mir hierfür die Interpretation des Ersten Weltkriegs von Wolf Lepenies. Der deutsche Soziologe erachtet in seiner Veröffentlichung „Kultur und Politik“23 den Ersten Weltkrieg als einen Kampf zwischen Kultur- und Zivilisationsverfechtern, im Rahmen dessen die Verfechter*innen einer spezifisch deutschen kulturellen Superiorität als zentralem Wert gegen ihre Relativierer im Gewand zivilisatorischer Verflachung in Gestalt von Demokratie und transkultureller Modernität angetreten sind. Man könnte sagen, es habe sich dabei um einen grundlegenden Wertekonflikt gehandelt, der sich auch in strikt gegeneinander gerichteten Konzepten von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ wiederfindet. Die Grundlage hierfür lieferte Ferdinand Tönnies wegweisende Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft“,24 die erstmals 1887 erschienen war. In diesen „Grundbegriffen einer reinen Soziologie“ setzte er sich mit den unterschiedlichen Konzepten des sozialen Zusammenhalts auseinander. Für ihn ging „Gemeinschaft“ auf starke Grundelemente wie Blut, Ort oder Geist, also Familie, Freundschaft, Übereinstimmung, Religion, und damit auf „Kultur“ zurück. Diese würden ihm zufolge als unhinterfragbare und daher auch nicht zu relativierende Werte eine natürliche Einheit bilden. Im Gegensatz dazu beruhe „Gesellschaft“ auf weitgehend anonymisierter Individualität, in der im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf voneinander isolierte Menschen allein und in permanenter Spannung gegeneinander stehen würden. Um zu überleben, müssten sie sich auf den Aufbau einer „gesellschaftlichen Zivilisation“ (Tönnies) verlassen, in der Frieden und Verkehr anstatt durch das Hochhalten von Werten von brüchigen Konventionen geprägt würden.

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Für Tönnies waren die Prioritäten klar, wenn er „Gesellschaft“ im Sinne einer Großveranstaltung zur Wertrelativierung als eine unheilvolle Endphase einer kapitalistischen Fehlentwicklung begriff. Im Gegensatz dazu verstand er „Gemeinschaft“ als Ausdruck eines natürlich menschlichen, weil wertebasierten Verhaltens als kulturell vergemeinschaftete Wesen. Ich erwähne insbesondere Tönnies’ Konstruktion dieses Gegensatzpaares von kulturell aufgeladener „Gemeinschaft“ und kapitalistisch getriebener „Gesellschaft“, weil vieles dafür spricht, dass der damit verbundene Konflikt nicht ausgestanden ist und so unsere Vorstellungen des Zusammenlebens (bzw. der Unmöglichkeit des Zusammenlebens) bis heute nachhaltig bestimmt. Wenn sich auf den Konsequenzen des angedeuteten Grundkonflikts zwischen gemeinschafts- und gesellschaftsbasierten Wertvorstellungen in den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs ein Set an global gleichermaßen hochgehaltenen zivilisatorischen Errungenschaften herausgebildet hat,25 so bleiben dennoch Zweifel, ob die damit verbundenen trans-kulturellen Wertvorstellungen – angesichts der auch weltweit ungleichen Machtverhältnisse – nicht doch mit einem spezifischen Bias ausgestattet sind. Immerhin – so die Vermutung von „Kulturrelativisten“26 – seien die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthaltenen Rechte nur in ihren jeweiligen spezifischen kulturellen Kontexten interpretierbar. Sie gehen davon aus, dass Kulturen und ihre Werte nur von „innen heraus“ zu verstehen seien, ein Umstand, der notwendigerweise zu einer Kritik allgemeingültiger Annahmen führen müsse. Gerade im postkolonialen Diskurs versuchen ihre Vertreter*innen deutlich zu machen, dass die herrschende Interpretation der Allgemeinen Menschenrechte nach wie vor einer stark eurozentristischen Sicht folge, die – einmal mehr – dazu führen würde, dass von privilegierten Gruppen als allgemein verbindlich deklarierte Wertvorstellungen das Gegenteil von dem bewirken, was sie versprechen: Diskriminierung und Fremdbestimmung.27

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen Der einzig verbleibende Wert auf globaler Ebene besteht im Recht auf Rechte In besonderer Weise weist auf diesen Umstand die jüngste Veröffentlichung des Islamwissenschaftlers Stefan Weidner „Jenseits des Westens“28 hin. Sein Plädoyer, „Diversität“ als globalen Wert ernst zu nehmen, führt ihn zur gut nachvollziehbaren Vermutung, dass selbst die abstraktesten Konstruktionen global gleichermaßen geltender Wertvorstellungen nicht entkulturalisiert werden können. Mit einer Ausnahme: das Recht auf Rechte. Diese Minimalvariante erscheint Weidner der einzig mögliche Konsens, auf den sich gemeinschafts- ebenso wie gesellschaftsorientierte politische Ansprüche auf globaler Ebene ungeachtet ihrer ansonsten von spezifischen Interessen geleiteten Wertvorstellungen einigen können sollten.

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Ist ein demokratisch verfasstes Zusammenleben ohne kulturspezifische Wertvorstellungen möglich? In diesen Zusammenhang scheint mir die Erwähnung eines Diskurses hilfreich, der den Wertehaushalt demokratisch verfasster Gesellschaften unmittelbar berührt. Unter dem Titel „Böckenförde-Diktum“29 unternahm der prominente deutsche Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde den Versuch, den kulturellen Implikationen von demokratisch verfasster Rechtsstaatlichkeit auf den Grund zu gehen. Dabei kam er zu dem Schluss, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Unter dem Eindruck des sinkenden Einflusses vor allem der katholischen Kirche auf das staatliche Geschehen ging er also der Frage nach, ob demokratische Verkehrsformen des gegenseitigen Interessensausgleiches auf staatlicher Ebene ohne ihr spezifisches kulturelles (in diesem Fall religiöses) Substrat gedacht werden können. Jürgen Seifert, Dolf Sternberger und Jürgen Habermas haben versucht, in ihrem Konzept des „Verfassungspatriotismus“30, das die Ausgestaltung des europäischen

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Einigungsprozesses politisch wesentlich bestimmt hat, ohne die Beschwörung einer spezifisch deutschen „Leitkultur“ auszukommen. Im Gegensatz dazu besteht Böckenförde auf eine engere Verschränkung kulturspezifisch gemeinschaftlicher und liberal gesellschaftlicher Faktoren, die nur zusammen ein wertebasiertes Gemeinwesen aufrechtzuerhalten vermögen. Dass er sich dabei mit ihm nahen und heute wieder auf die politische Tagesordnung tretenden antidemokratischen Werten der damaligen Katholischen Kirche herumschlagen musste, steht auf einem anderen Blatt.31

Abschließende Bemerkungen

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Die hier angestellten Überlegungen machen es nicht einfach, den Stellenwert eines Wertediskurses angesichts der tiefgehenden Veränderungen der europäischen Gesellschaften eindeutig zu beschreiben. Immerhin hat das Diktat eines vermeintlich alternativlosen Neoliberalismus, die Lebenswelten nicht nur der europäischen Bürger*innen in einem umfassenden Prozess der Globalisierung zu transformieren, zu einer Ökonomisierung auch der Wertehaushalte samt ihrer kulturellen Kontexte geführt. Damit kehrt die Diskussion um die Bedeutung von Werten im Prinzip wieder dorthin zurück, wo sie begonnen hat: in den Bereich des Ökonomischen. Die beiden französischen Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre haben dafür den Begriff des Kulturkapitalismus gefunden. In ihrer jüngsten Veröffentlichung „Bereicherung“32 erläutern sie, wie vor allem industrielle oder spekulative Kriterien darüber Auskunft geben wollen, was den Wert eines Gegenstands ausmacht. Diese entscheiden über die kulturelle Anreicherung von Objekten und damit über die kulturelle Verfassung von Gesellschaften als moderne Marktplätze. Damit werden „Storytelling“ oder „Narrativierung“ zu entscheidenden Methoden der Aufwertung von Gebrauchsgütern. Kurz gesagt: Die Qualität eines Produkts oder einer Dienstleistung erweist sich in den Geschichten, die sie zu erzählen vermögen. Ähnliches vollziehe sich mittlerweile auch

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen in den Geschichtsbildern ganzer Nationen; das könne am Beispiel der französischen Luxus- und der Tourismusindustrie exemplarisch studiert werden: Nationale Traditionen dienen nicht mehr zur politischen Stabilisierung von Staaten, sondern zur Positionierung von Produktklassen. Diversifizierung kann auf Dauer nicht über die soziale Frage hinwegtäuschen

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Damit kommt es zu einer fortschreitenden Individualisierung von Wertbedeutung, die sich zuallererst am Image der jeweiligen Produkte und Dienstleistungen orientiert. Sie führe zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Fragmentierung, die sich mittlerweile in vielfältigen wertbesetzten Partialidentitäten ergeht, die weitgehend unvermittelt nebeneinander existieren. Der US-amerikanische Ideengeschichtler Mark Lilla weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass sich diese Form des segregierenden Liberalismus zunehmend als ein „zweischneidiges Schwert“33 erweist: In dem Maße, in dem „Diversity“ als zentraler gesellschaftlicher Wert verhandelt wird, kommt es ihm zufolge notgedrungen zu einem Verlust des Sozialen. Auf diese Weise können über einzelne kulturelle Besonderheiten hinausgehende Formen der sich aus der herrschenden Wirtschaftslogik ergebenden sozialen Diskriminierung nicht mehr als gemeinsam verhandelt werden. Die Konsequenzen zeigen sich einerseits in einer Beliebigkeit der Inhalte; etwa wenn Frédéric Martel in seiner Studie „Mainstream – Warum funktioniert, was allen gefällt“34 darauf hinweist, dass immer mehr Menschen der Orientierungsrahmen, um eigene Entscheidungen zu treffen, abhandenkommt. Populist*innen auf dem Weg zur Eroberung der kulturellen Hegemonie Entscheidender ist aber möglicherweise eine – vor allem von Populist*innen absichtsvoll herbeigeführte – Entwertung von Politik bei gleichzeitiger Zuspitzung von Interessengegen-

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setzung. In dem Maß, in dem demokratische Verfahren daran scheitern, diesen Widerspruch aufzulösen („Stillstand!“), erhöhen sich die Zustimmungsraten für autoritäre Lösungen.35 Dafür befördernd wirkt der Umstand, dass immer mehr Menschen angesichts der mannigfachen Krisenerscheinungen, ganz egal welche kulturelle Identität sie pflegen, mit den negativen Auswirkungen einer Politik konfrontiert sind, die darauf abstellen, Krisengewinne zu privatisieren und die Verluste zu ihrem Nachteil zu sozialisieren. Dies hat zu einem massiven Verlust an Glaubwürdigkeit der herrschenden Eliten geführt, die sich als Verteidiger*innen absoluter Werte in weiten Teilen der Bevölkerung allzu sehr in Misskredit gebracht haben. Der Rechtspopulismus kann als eine Antwort auf diese Fragmentierungs- und Entwertungsprozesse verstanden werden. Im Versuch, die mannigfachen Verlustgeschichten politisch zu kanalisieren, erweisen sich ihre Vertreter*innen als strategische Meister*innen, wenn es darum geht, kulturelle Zugehörigkeiten zu konstruieren. Dazu gehört die Errichtung von Feindbildern in Bezug auf Personengruppen, die dem ungehinderten Wiederaufleben kultureller Dominanzen im Wege stehen würden. Darauf errichtet werden noch einmal Konzepte kulturell homogener Nationalstaatlichkeit, die sich in der gegenwärtigen Stimmungslage trefflich gegen alle Versuche einer transnationalen bzw. trans-kulturellen Vereinigung ins Treffen führen lassen.36 Eine solche Politik, die mittlerweile selbst liberale Vordenker*innen wie den österreichischen Politologen und Journalisten Eric Frey37 von der unabdingbaren Notwendigkeit des Umbau Europas zu einer Festung inklusive einem forcierten Grenz- und Mauerbau sprechen lässt, lässt alle Hoffnungen, Europa könnte sich noch einmal als Ausgangspunkt global verbindlicher zivilisatorischer Errungenschaften profilieren, rasch schwinden. Diese politischen Konstruktionsversuche zur Schaffung von neuen/alten kulturellen Identitäten, die sich scharf gegen andere abzugrenzen versuchen, haben dazu geführt, dass bislang außer Streit geglaubte fundamentale Wertvorstellungen heute wieder zur Disposition stehen. So machte die

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen österreichische Bundesregierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft 2018 klar, dass sie willens ist, „in einem mutigen und großen Entwurf“ selbst die EU-Wertegemeinschaft begründende Regeln zum Asylrecht auszuhebeln38 und auf dem Primat nationaler Bevorzugung zu bestehen.39 Wenn als eine Reaktion darauf der vormalige Vizekanzler und prononcierte ÖVP-Politiker Erhard Busek in einem Interview meint: „Mit der christlichen Wertehaltung ist derzeit in Europa kein Staat zu machen“40, dann wird überdeutlich, dass nicht die Werte an sich zählen, sondern der politische Kontext, in dem diese verhandelt werden. Die Krise des Liberalismus und der Verlust an Gegenwehr

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Alle diejenigen, denen Werte ein Anliegen sind, kommen um die Tatsache nicht herum, dass sich der Liberalismus nicht nur in Europa in einer tiefen Krise befindet.41 Damit steht das politische Konzept zur Disposition, das sich bislang am erfolgreichsten darin erwiesen hat, Menschen zu ermöglichen, ihre persönlichen Wertvorstellungen in vollen Zügen auszuleben, und verliert seinen allgemein gültigen Charakter. Das bedeutet nicht das Ende der Werte; vielmehr eine beträchtliche Umwertung von Werten, die uns zu denken geben sollte. Zur Verdeutlichung der damit verbundenen Gefahren soll an dieser Stelle nochmals auf den Siegeszug einer „Pädagogischen Wertlehre“ samt „wertphilosophischer Pädagogik“ hingewiesen werden, die gut dazu geeignet war, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine junge Generation auf ihre Einfügung in autoritäre Regime inklusive deren unbedingten Wertvorstellungen vorzubereiten. Wenn im Zuge der jüngsten Neuauflage der deutschen „Grundwertediskussion“ noch einmal auf den Bedarf einer vertieften Werterziehung hingewiesen wird, so sollte nicht vergessen werden, dass sich deren Befürworter*innen auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder vehement gegen eine „einseitige Überbetonung von Emanzipation, Anti-Autorität, Gesellschaftskritik oder Wissenschaftsorientierung gerichtet [haben]“42.

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Wenn also der Beitrag die These vertritt, dass mit Werten keine Demokratie (mehr) zu machen ist, bezieht er sich dabei vor allem auf die Vermutung, dass das Bekenntnis zum einen oder anderen Wert heute nicht mehr ausreicht, um diesen zum Leben zu erwecken. Vielmehr spricht vieles dafür, dass solche Wert-Bekenntnisse immer häufiger das Gegenteil von dem bewirken, was sie bewirken wollen. Werte sind und bleiben Herrschaftsinstrumente

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Wenn Kulturpessimist*innen den Verfall von Werten beklagen, so schlage ich vor, sich nicht in erster Linie um die Wiedergewinnung von Werten zu bemühen, sondern um die Wiedergewinnung einer offenen Zukunft und damit eines Begriffs des Politischen, der Werte als das erkennt, was sie sind: Interessen einzelner sozialer Gruppen. Das aber bedeutet, die Bereitschaft, sich in politische Kämpfe um Regeln zur Organisation eines künftigen Miteinanders einzulassen, Gegenpositionen zu entwickeln, Interessen zu vertreten und im Rahmen demokratischer Konfliktaustragung an Kompromissen mitzuwirken. Es ist unübersehbar, dass eine zunehmend autoritär fixierte neue politische Klasse daran interessiert ist, die Definitionsmacht über ein Set an Werten zu erobern und zugleich die öffentlichen Räume zur kritischen Auseinandersetzung mit eben diesem zu schließen. Um hier noch einmal dagegenzuhalten, werden wir in mühsamen Aushandlungsprozessen um die Machtfrage nicht herumkommen. Angesichts der aktuellen Gefährdungen des demokratischen Grundkonsenses könnten neue Beteiligungsmodelle, die im Kulturbereich im Rahmen von Cultural-Governance-Modellen43 erfolgreich erprobt worden sind, mithelfen, um in der ganz konkreten Auseinandersetzung mit anderen die Vorteile demokratischer Verfahren zu erleben, auch wenn die Wertvorstellungen der jeweils Beteiligten nicht 1:1 umzusetzen sein werden. Selbst wenn damit der politische Sieg über die Reaktion noch nicht garantiert ist: Als Menschen, die solcherart gelernt

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen haben, Achtsamkeit gegenüber anderen bei der Erstellung und Einhaltung gemeinsam akzeptierter Regeln zu üben, können wir uns immerhin den Kauf einer Achtsamkeits-App ersparen.

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Endnoten

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Interview mit Karl Schwarzenberg in der Basler Zeitung „Vielleicht müssen wir die Sache an die Wand fahren“. Online: https://bazonline.ch/ausland/europa/vielleicht-muessen-wir-diesache-an-die-wand-fahren/story/18160854. Brigitte Nr. 15 vom 4.7.2018, S. 3. Heyde, Johannes Erich (1926): Wert. Eine philosophische Grundlegung. Stenger: Erfurt, S. 31. Ullrich, Wolfgang (2017): Wahre Meisterwerke. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur. Wagenbach: Berlin. Ullrich a.a.O., S. 23. Ullrich a.a.O., S. 42. Luhmann, Niklas (Hrsg.) (1997): Die Kunst der Gesellschaft. Suhrkamp: Berlin. Luhmann a.a.O., S. 799. In dem Zusammenhang lohnt es sich, auf Gayatri Chakravorty Spivaks Text „Can the Subaltern Speak? – Postkolonialität und subalterne Artikulation“ hinzuweisen. Online: http://www.turia.at/ pdf/inh_spivak.pdf [19.7.2018]. Siehe dazu z.B. Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp. Frankfurt a. M. Hall, Stuart (1965): The Popular Arts. New York: Pantheon Books. Der Begriff „Culture Clash“ ist mittlerweile vor allem im Filmbereich zu einem eigenen Genre geworden, in dem Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft konflikthaft aufeinander treffen. Culture-Clash-Komödien nutzen Differenzen des alltäglichen Lebens und der damit verbundenen Wertvorstellungen. Dabei geht es häufig um klischeehafte Eigenarten von Angehörigen verschiedener Nationalitäten (Urlauber*innen, Migrant*innen), aber auch um schichtspezifische Unterschiede. Häufiges Thema sind interkulturelle Liebesbeziehungen, die nur schwer mit Familie und sozialem Umfeld vereinbar sind, dargestellt in übertriebener Inflexibilität zumindest eines Teils der Protagonist*innen (Eltern etc.) bei der interkulturellen Kommunikation. Siehe dazu u.a. den deutschen Soziologen Christoph Butterwege. Online: https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-beklagtentsolidarisierung-in-der-gesellschaft.1008.de.html?dram:article_ id=164306 [19.7.2018]. Der Autor Thilo Sarrazin zeigt als ehemals prominentes SPD-Mitglied, wie weit die Rede hierarchisch konstruierter kultureller Beziehungen bzw. Nichtbeziehungen bereits ins Zentrum der europäischen Gesellschaften gelangt ist. Die Ankündigungen des italienischen Innenministers Matteo Salvini, Roma und Sinti zählen und dann, wenn irgend möglich, ausweisen zu wollen, stoßen offenbar mittlerweile auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Online: https://www.mzweb.de/politik/thilo-sarrazin-fuehlt-sich-bestaetigt-sote-22774496

Mit Werten lässt sich keine Demokratie (mehr) machen

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und: https://kurier.at/politik/ausland/salvini-italienische-romamuessen-wir-leider-hier-behalten/400052906 [19.7.2018]. 15 Der Begriff der „Kulturnation“ ist zentral im aktuellen Regierungsprogramm der türkis-blauen Koalitionsregierung in Österreich. Online: https://www.wienerzeitung.at/_em_daten/_ wzo/2017/12/16/171216_1614_regierungsprogramm.pdf [19.7.2018]. 16 https://www.fpoe-parlamentsklub.at/artikel/haimbuchner3-unsergeld-fuer-unsere-leute [19.7.2018]. 17 Siehe dazu etwa Norbert Hofer im jüngsten Präsidentschaftswahlkampf: https://www.fpoe-parlamentsklub.at/artikel/norbert-hofervan-der-bellen-hat-die-hautevolee-und-ich-die-menschen [19.7.2018]. 18 Brock, Bazon (2002): Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991–2002, Ästhetik des Unterlassens, Kritik der Wahrheit – wie man wird, der man nicht ist. DuMont: Köln. Online: https://bazonbrock.de/ werke/detail/?id=12§id=142 [19.7.2018]. 19 http://www.staatsbuergerschaft.gv.at/fileadmin/user_upload/ Broschuere/RWR-Fibel.pdf [19.7.2018]. 20 Dass „Demokratie“ keinen Wert an sich darstellt, zeigt sich an den aktuellen Anzeichen von „Demokratiemüdigkeit“, die in Europa mittlerweile ein Ausmaß erreicht haben, das antidemokratische und autoritär verfasste Herrschaftsformen mehrheitsfähig erscheinen lässt. Online-Hinweis: https://www.zeit.de/news/2017-12/28/deutschlandpeter-fuerchtet-demokratiemuedigkeit-nach-neuauflage- der-grossenkoalition-28050403 [19.7.2018]. 21 Huntington, Samuel P. (2002): Clash of Civilisation. UK: Schuster & Schuster. 22 Huntington, Samuel. P. (2002): Kampf der Kulturen. München: Goldmann. 23 Lepenies, Wolf (2006): Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. München: Hanser. 24 Ferdinand Tönnies (2010): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 25 Siehe dazu etwa die UN-Menschenrechtscharta, die in ihrer Universalität, Egalität und Unteilbarkeit für alle Erdenbürger*innen gleichermaßen Geltung haben. Online: https://www.menschenrechtserklaerung. de [19.7.2018]. 26 Siehe dazu etwa: Eriksen, Thomas Hylland (2010): Small places, large issues: An introduction to Social and Cultural Anthropology. London: Pluto Press. 27 Siehe dazu etwa: Brown, Owen: Rights from the Other Side of the Line: Postcolonial perspectives on human rights. Online: https://www.iapss.org/wp/wp-content/uploads/2014/10/Pol25_ Brown.pdf [19.7.2018]. 28 Weidner, Stefan (2018): Jenseits des Westens. München: Hanser.

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29 Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976): Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 30 Die Frage nach der Bedeutung des Verfassungspatriotismus sollte zu einem Zeitpunkt noch einmal besondere Bedeutung erlangen, als die Behauptung einer spezifischen deutschen „Leitkultur“ in den 1980er-Jahren die politische Diskussion erreichte. 31 Dazu Jan-Werner Müller in der NZZ: „Böckenförde erkannte hier ein grundsätzliches Problem zu einer Zeit, als die katholische Kirche noch offen mit Regimen wie demjenigen Francisco Francos in Spanien paktierte. Die Katholiken waren offenbar nur dann bereit, die Demokratie anzuerkennen, wenn sie ihre naturrechtlichen Forderungen – vor allem in Sachen Bildung und Familie – hundertprozentig erfüllt sahen.“ Online: https://www.nzz.ch/feuilleton/dasboeckenfoerde-diktum-was-haelt-demokratien-zusammenld.1312681 [19.7.2018]. 32 Boltanski, Luc/Esquerre, Arnaud (2018): Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Berlin: Suhrkamp. 33 https://www.zeit.de/2016/50/identitaetspolitik-debatte-rassismusrechtsextremismus-linke-rechte-liberalismus [19.7.2018]. 34 Martel, Frédéric (2011): Mainstream – Wie funktioniert, was allen gefällt. München: Albrecht Knaus Verlag. 35 https://kurier.at/politik/inland/politologe-filzmaier-starkermann-knapp-vor-mehrheit/222.540.538 [19.7.2018]. 36 Dass auch andere Konzepte möglich sind, hat zuletzt die bolivianische explizit pluri-nationale Verfassung bewiesen, die explizit von der gleichberechtigte Zugehörigkeit verschiedener Nationen und Kulturen spricht. Online-Hinweis: http://www.bolivia.de/fileadmin/ Dokumente/Presse-Medien_Dt%2BSp/Interessante%20Dokumente/ CPE_aleman.pdf [19.7.2018]. 37 https://derstandard.at/2000082091102/Was-aus-liberaler-Sichtfuer-eine-Festung-Europa-spricht [19.7.2018]. 38 https://diepresse.com/home/innenpolitik/5404038/Kickl-will-Asylantraege-auf-europaeischem-Boden-verhindern [19.7.2018]. 39 An dieser Stelle sei darin erinnert, dass die FPÖ unter Jörg Haider bereits 1992 ein Volksbegehren mit dem Titel „Österreich zuerst“ initiiert hat. Es wurde von 416.531 Menschen unterstützt. 40 Franz Fischler in einem Interview mit der Tageszeitung Kurier vom 8.7.2018 mit dem Titel „Wird die FPÖ europäisch? „Eine Illusion“. 41 Krastev, Ivan (2018): Über die Krise der liberalen Demokratie. In: Europäische Rundschau 2/2018. Wien, S. 61–72. 42 Siehe dazu: Werterziehung; moralische Erziehung, Moralpädagogik. In: Ritter, Joachim (u.a. ) (2004): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel: Schwabe AG, S. 591ff. 43 Siehe dazu: http://www.bpb.de/apuz/32190/zur-begruendungvon-cultural-governance?p=all [19.7.2018].

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Normen und Werte prägen unser Handeln, unser Denken. Wir alle meinen das zu wissen, können sie artikulieren, leben danach und bemerken es mitunter schmerzlich, wenn wir von ihnen abweichen. Wir haben Wertehaltungen in unseren Familien gelernt und in den Institutionen, die wir in der jeweiligen Gesellschaft und Kultur durchlaufen haben. Wir haben Bildung erfahren. Bilder, Erzählungen, Klänge, Geschmäcker sind uns begegnet und wurden von uns erzeugt. Es gab und gibt diejenigen, von denen wir uns angezogen fühl(t)en, und jene, die wir strikt ablehn(t)en, die wir nicht akzeptieren können, wohl hinterfragt oder ohne viel darüber nachzudenken. Wir haben diesen Kanon mit Neuem konfrontiert und herausgefordert, wir haben ihn Prüfungen unterzogen und uns damit besser kennengelernt. Wir haben herausgefunden, was uns etwas wert ist. Wovon wir, folgen wir Hans Joas in seiner Argumentation darin, wie Werte entstehen, ergriffen werden.1 Und die wir, um von einer eher umfassenden zu einer etwas spezifischer umrissenen Applikation zu gelangen, dann als Kunstschaffende, als Forschende, als Intellektuelle vertreten, für die wir stehen. Wie sehr und auf welchen Ebenen aber erlauben sich in diesen Feldern tätige Menschen bei der Frage nach Werten genauer hinzusehen, in die Tiefe zu gehen? Erlauben sich bzw. finden es angebracht oder auch unumgänglich, sich zu fragen, woraus sich dieser Wertekanon rekrutiert, woraus im Detail er beschaffen ist, was er einschließt bzw. ausschließt? Welche Strukturen konstituieren ihn? Welche Muster lässt er erkennen und vor allem – welchem Weltbild entspringt dieses Deutungssystem? Ist mir das Weltbild deutlich, so kann ich nachvollziehen, mit welchen Konsequenzen dieses in den Verhaltensvorschriften einer Gesellschaft wieder zum Tragen kommt, in den Normen einer Gesellschaft verwirklicht wird und auf die Handlungsentscheidungen des Agierens und Unterlassens jedes einzelnen Menschen Einfluss nimmt. Mit anderen Worten: wie dieses Weltbild Sinn-, Macht- und Herrschaftssysteme konstituiert.

Doris Ingrisch

Ich gehe in dieser Gedankenskizze von der Perspektive der Akteur_innen aus, da Wertarchitekturen, Werthaltungen und Wertkonflikte in ihnen und durch sie passieren, durch sie im Prozess der Sinnzuschreibung konstruiert, perpetuiert und aber auch verändert werden. Kulturen werden dann als Medium verstanden, durch die Wertvorstellungen weitergegeben werden. D.h. alles, was als Kampf der Werte betrachtet wird, beginnt und endet, um mit Karen Barad zu sprechen, in intra-actions, Intra-Aktionen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur_innen, die ihrerseits im Prozess des Werdens anzunehmen sind – „‚Environments‘ and ‚bodies‘ are intra-actively co-constituted“2.

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Doch gehen wir zunächst noch einmal einen Schritt zurück. Gehen wir zur im 19. Jahrhundert im Westen begründeten Axiologie, der Wertphilosophie, die sich, aus unterschiedlichsten Ausformungen und Perspektiven dem Thema der Werte mit dem Ziel annahm, die Grundlagen für alle Teilbereiche der Philosophie bereitzustellen. Eduard von Hartmann, Max Scheler bzw. Oskar Kraus stehen hier, basierend auf logo- wie anthropozentrischen Grundannahmen, als wesentliche Vertreter eines europäischen philosophischen Nachdenkens über Güte und Übel, über Richtiges und Falsches.3 Die Axiologie steht damit in engem Kontakt zur Ethik. Gegenwärtige Ansätze treiben, fokussierend auf derzeit bestehende Wertekonflikte, die interdisziplinäre Werteforschung voran, indem sie klassische und gegenwärtige Theorien zueinander in Beziehung setzen, dem Wertewandel in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen nachspüren und die damit Hand in Hand gehenden geopolitischen, kulturellen und sozioökonomischen Transformationsprozesse im Kontext von Globalisierung und deren Praxen in den Blick nehmen. Die Bedeutungsbandbreite dessen, was als Wert verstanden wird, erweiterte sich. Jüngere kritische Forschungsrichtungen wie u.a. die Wissenschaftsforschung, wiesen seit der zweiten Hälfte des

„ … im Chaos eine andere Ordnung erraten …“

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20. Jahrhunderts auf die Fraglosigkeit hin, die viele der klassischen Denkrichtungen den eigenen Denkstrukturen und Wertigkeiten entgegenbrachten. Vor allem jener der engen Verbindung der Wissens- und Geschlechterordnung, die sich in der westlichen Welt Ende des 18. Jahrhunderts als neues gesellschaftskonstituierendes Weltbild entwickelt hatte. Die grundsätzliche und eine Gesellschaft tragende Wertematrix ist hier die Dichotomisierung der Begriffe, die zugleich mit einer Naturalisierung sowie einer Hierarchisierung einherging. Die Hierarchisierung folgt einem einfachen Muster. Weiblich Konnotiertem wurde durchwegs weniger Wert beigemessen als dem männlich Konnotierten. Geist, Kultur, Mann versus Körper, Natur, Frau stellen leicht nachzuvollziehende Beispiele dafür dar und lassen sich problemlos bis in unsere Tage extrapolieren. Dass sich die gleiche Matrix auch in notierter versus improvisierter Musik verbirgt oder sogar in Vorstellungen davon, was Wissenschaft und was Kunst zu sein habe und wer mit welcher Persona sie zu betreiben imstande sei, mag vielleicht im allerersten Moment Kopfschütteln hervorrufen. Dies hat doch nichts mehr mit den klassischen Vorstellungen von Geschlechtern zu tun! Oder doch? Der Verweis auf die unterschiedliche Bewertung von Ratio und Intuition kann an dieser Stelle ein derartiges Zögern unterstützen.4 Denn freilich steht die männlich konnotierte Ratio auf der Werteskala immer noch weit über der weiblich konnotierten Intuition. Die Verwobenheit von Wissens- und Geschlechterordnungen, so Christina von Braun und Inge Stephan, sei nicht dem Zufall zuzuschreiben. Es bestehe „vielmehr eine enge historische und inhaltliche Verbindung zwischen dem Wandel der Wissensordnung und dem Wandel der symbolischen Geschlechterordnung“5. Die dezidierte, ihren Gegenpol ausschließende Bipolarisierung der Begriffe, der Trennzwang, wie Dieter Wuttke zugespitzt formulierte, ist mit dafür verantwortlich zu machen, dass Frauen und Männer ab dem Ende des 18. Jahrhunderts in der westlichen Welt als grundsätzlich andere Entitäten oder auch Kunst und Wissenschaft als inkommensurabel betrachtet wurden. Eine Entsprechung findet sich in der Bedeutung von Propositionalität im

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Gegensatz zur Nicht-Propositionalität, von Theorie im Gegensatz zu Praxis, von Aktivität im Gegensatz zu Passivität etc.

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Dieser Mechanismus, der mir aus der Perspektive der inter- und transdisziplinär denkenden kulturwissenschaftlichen Gender Studies als so zentral in der Auseinandersetzung mit den Werten und deren gesellschaftlichen Dimensionen und Implikationen erscheint, kann am Beispiel der Sinne eingehender veranschaulicht werden. Der Hinweis auf die historischen Dynamiken, die Bedeutung der Sinne im Laufe der Zeit in ihrer Wirkmächtigkeit als realitätsschaffende Kräfte von Vorstellungen, reicht dazu aus. Sinne haben eine Geschichte.6 So ist es von gar nicht marginaler Bedeutung, dass das Sehen in westlichen Kulturen bereits seit langem als wichtigster Sinn betrachtet wurde, als derjenige, dem das meiste Vertrauen geschenkt wurde und vielleicht auch noch wird. Bis ins 5. vorchristliche Jahrhundert war das jedoch nicht der Fall.7 Das Hören und das Sehen entfalteten sich in einem bipolaren, geschlechtsspezifisch konnotierten Ordnungsschema und stellten dieses dadurch her. Die „great divide theory“8, so Walter Ong, rekurrierte auf neue Maßstäbe. Die Literalität wurde über die Oralität, die in enger Verbindung mit dem Mythos als prä-rational eingestuft wurde, gesetzt.9 Dass Literalität wie das Sehen mit Aktivität, Oralität wie das Hören mit Passivität konnotiert und dieses wiederum mit den Vorstellungen des Männlichen und Weiblichen in Verbindung gebracht wurde, spricht seine eigene Sprache. Verbunden mit den Konnotationen von Distanz versus Nähe kristallisierten sich dementsprechend die erkenntnistheoretischen Paradigmen der Neuzeit wie Objektivität im Gegensatz zu Subjektivität heraus. Das hierarchische Gefälle dieser Pole, die Abwertung des Subjektiven in Verbindung mit Emotionalität und Passivität, ist nur zu bekannt. Die audiovisual litany setzt diese Implikaturen fort. Unbeteiligtheit, Geordnetheit, Festigkeit steht der Beteiligtheit, dem Engagement, der Positioniertheit oder auch der

„ … im Chaos eine andere Ordnung erraten …“ Vergänglichkeit gegenüber. Die diesen Begriffen eingeschriebenen Be-Wertungen konstituieren ein ganzes Weltbild.

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Eine weitere, mit der konstitutiven Verwobenheit von Wissens- und Geschlechterordnungen Hand in Hand gehende Matrix, die lange Zeit unhinterfragt bestand, ist die Kolonialität westlicher Wissensformationen. Hier geht es ebenfalls darum, Voraussetzungen des Wissens in ihrer Entstehungsgeschichte zu begreifen und die Konzepte der ihnen innewohnenden Wertearchitektur zu hinterfragen. Auch bei diesem Fokus stehen Machtverhältnisse im Zentrum, die durch ihre spezifische Art der Wissensproduktion, ihre Ein- und Ausschlusskriterien, erzeugt und gesetzt werden. Der Mechanismus des Ignorierens und des pejorativen Umgangs damit richtet sich diesmal gegen außereuropäische Weisen der Wissensgenerierung und -formationen. Damit steht die Vorstellung von einem universellen Wissen, das Prinzip des Universalismus, der Anspruch der Reduktion des Vielfältigen und Diversen mit auf dem Prüfstand. Sabine Broeck spricht vom „Subtext der kolonialen Täterschaft“, der die Errungenschaft der Aufklärung kompromittiere.10 Selbst humanistische Haltungen sind dann danach zu befragen, was sie ausblenden. Die Frauengeschichtsschreibung brachte dieses Thema mit der Frage nach der Beurteilung der Aufklärung aus der Perspektive von Frauen auf, wodurch deutlich wurde, dass Frauenforschung nicht als add on zu etwas wie einer „allgemeinen Geschichte“ zu verstehen sein könne, sondern sich mit dieser Perspektive das gesamte Denkgebäude, das Verständnis von Vergangenheit insgesamt radikal verändere und neu zu denken sei.11 Mit den Begriffen Zentrum und Peripherie beschreibt Enrique Dussel das Zusammenwirken von Demokratiebestrebungen, Bürgerfreiheit und Wohlstand auf der einen Seite sowie Eroberungen, Genozide und Ausbeutung auf der anderen, dessen dramatische Effekte sich aus einer Trennung dieser beiden Seiten erzeugen.12 Diese sich in der globalisierten Welt

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perpetuierende Perspektive der symbolischen Gewalt kann mit Charles W. Mills als „epistemology of ignorance“ charakterisiert werden.13 Verflechtungen auf den unterschiedlichsten, nicht allein der epistemologischen Ebenen, erzeugen eine, wie Walter Mignolo sie nennt, koloniale Matrix.14 Auch die Erkenntnisse der Logik der Kolonialität müssen ihrer Fraglosigkeit entzogen werden. Denn sie stammen aus Strategien, die Wertungsprozesse unterstützen, welche „ein (post)koloniales Grenzregime aufrechterhalten und damit Hybridisierungs-, Diffusions- oder Verflechtungszusammenhänge zwischen Gruppen, Kulturen, Nationen, Gesellschaften ausblenden.“15 Epistemische Gewalt wahrnehmen zu lernen, zu benennen und neue Wege zu beschreiten, die kritisch und zugleich sorgsam mit Definitions- und Wirkungsmacht umgehen, ist ein unabdingbares Element, wenn wir uns der Wertehaltungen bewusst werden, die in der Regel als gegeben erscheinen. Dieses dem, was gemeinhin unter Wissen verstanden wird, innewohnende Konzept von Gewalt kann mit Begriffen von Michel Foucault als subjugated knowledge respektive symbolische sowie kulturelle Gewalt, wie Pierre Bourdieu, Jean Claude Passeron und Johan Galtung sie beschrieben, gefasst sowie mit Gayatri Chakravorty Spivaks Kritik am Eurozentrismus verbunden werden.16 Zugleich aber auch mit dem Konzept der diskursiven, sprachlichen Gewalt.17 Wieder liegt all diesen Positionen die Wirkmächtigkeit des Trennzwanges, die Matrix des Entweder-Oder zugrunde – Mythos versus Wissenschaft, Tradition versus Moderne, Armut versus Entwicklung etc. Sie verleiht der westlichen Wertearchitektur, in der sich Wissens- und Geschlechterordnungen mit der Kolonialität des westlichen Wissens wie der Kolonialität der Macht verschränken, Stabilität.18

5 Wie unentrinnbar dieses der Matrix innewohnende Wertenetz, das im westlichen Denken und ihrer/n Sprache/n fixiert ist, auch erscheinen mag, das darin Verborgene, das

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Ausgegrenzte, das zum Verschwinden Gebrachte kann sagbar, sichtbar, hörbar, fühlbar, erfahrbar gemacht werden. Auch wenn vehemente auf vielen Ebenen angesiedelte Interessen hinter der Beharrung auf hegemonialen Zugängen stehen, das Denken ist in Bewegung, neue Denkräume öffnen sich.19 Gloria Anzaldúa hat mit ihrem in „Borderlands/La Frontera: The New Mestiza“20 vorgestellten Konzept nicht nur neue Akzente im Kanon von Grenzdispositionen gesetzt, sondern völlig neue Dimensionen eröffnet. Sie zielt auf ein mit dem border consciousness einhergehendes self, eine plurality of self, das sie mestiza nennt. Ihre Intention, über das binäre System hinauszugehen, wird in dieser Herangehensweise ebenso sichtbar wie im Mix von Stilen und Sprachen, mit dem sie einem linguistic terrorism, der Abwertung, dem Nicht-Gehört-Werden, der Kritik an und damit der Unterdrückung einer Gruppe von Menschen aufgrund ihres Sprechens, entgegentritt. Walter Mignolo, der an Gloria Anzaldúas Überlegungen zur Grenze anschließend das Konzept des border thinking entwickelte, forderte ebenfalls, der kolonialen Grammatik zu entsagen.21 Er plädiert für ein Lernen des Verlernens, das wohl nicht zufällig in Resonanz mit einem Undoing Gender geht. Bei aller Kritik auch an Mignolos Ansatz, steht er für ein Denken, das über die Dominanzkategorien westlichen Denkens hinausweist. Damit sensibilisiert und plädiert er dafür, „to undo the subalternization of knowledge“ auf allen Ebenen.22 Die Verbindung dieses Ansatzes mit Erkenntnissen aus den Gender/Queer/Trans Studies ist, wie Gloria Anzaldúa zeigte, bei diesem Unterfangen unumgänglich. Maria Lugonés’ spricht, um weitere Facetten anzudeuten, von einem embodied consciousness, in dem der Blick auf Wirkungsmächtigkeit der Dualitäten sowie die vulnerability zentral für eine Dekolonialisierung des Denkens bzw. des Wissens zu betrachten sind.23 Das sich den unterschiedlichsten Formen des Denkens und Wissens öffnende border thinking als Basis widersagt der Sicherheit. Sich dieser Art von Werten und ihrer agency anzuvertrauen, fordert etwas anderes. Es fordert ein Bewusstsein des Miteinanders, des Sich-aufeinander-Beziehens, des Aufeinander-bezogen-Seins.

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Ein umfassendes Re-Thinking der Werte und eine Neuordnung, in deren Prozess die bisher abgewerteten, nicht zuletzt, weil weiblich konnotierten, Werte auf ihr Potential hin zu untersuchen sind, steht bevor. Werte, die sich bislang am wenig geschätzten Ende der gesellschaftlichen Skala befunden haben, bieten Impulse, neue Perspektiven, die Welt zu verstehen, aufzuspannen, Perspektiven, die Wege aus den gegenwärtig so augenscheinlichen multiplen Krisensituationen von Demokratie, Wirtschaft, Klima etc. weisen könnten. Bemühungen um eine Kultur der connectedness,24 eine Kultur der relatedness,25 die von Verbundenheit, dem Dazwischen, dem Opaken, den Unschärfen etc. inspiriert ist, stellen Versuche dar, im Und wahrzunehmen und zu denken.

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Wenn es bei meiner aus einer sehr spezifischen Perspektive vorgenommenen Zuwendung zu Wertearchitekturen um die Art und Weise, Welt zu denken und sensibel für die jeweilige Matrix dieses Denkens zu sein, geht, so macht diese zu hinterfragen bei der Aussicht auf die menschliche Weiterentwicklung freilich nicht halt. Konsequenterweise stehen ausnahmslos alle bislang gezogenen Grenzen und die damit einhergehenden Machtverhältnisse auf dem Prüfstand. Die traditionelle Unterscheidung zwischen dem Menschlichen und Nichtmenschlichen bildet in philosophischen Überlegungen seit langem keine Ausnahme. Wird das dichotomisierende, trennende Denken, das auf der aristotelischen Logik, der denkenden Kunst, die auf dem Prinzip der Zweiwertigkeit und dem Prinzip der Extentionalität beruht sowie durch das Axiom vom ausgeschlossenen Dritten charakterisiert wird, aus der Ruhe gebracht, so zeigen sich nicht mehr nur die Pole von Begrifflichkeiten, sondern ein Spektrum, ein Kontinuum, die ganze Bandbreite eines in-between. Lineares Denken erweitert bzw. verschränkt sich mit vernetztem, lateralem, und das nicht nur zur Gewinnmaximierung im Sinne des neuen Geistes des Kapitalismus.26 In einem solchen Denken

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wird Subjektives nicht allein in seinem Mangel an Objektivität begreifbar. Es würde zudem ermöglichen, die Qualität des Intuitiven tiefer verstehen lernen zu können, auch in seiner Konsequenz, dessen Wert in ökonomischen Begriffen neu zu bestimmen. Würden wir uns daran erinnern, dass bis ins späte 18. Jahrhundert die Begriffe Fakt und Fiktion in der westlichen Welt noch nicht getrennt voneinander waren,27 könnte, auch wenn es daran scheitert, mit sogenannten Fakten festgemacht zu werden, dem Dazwischen wesentlich mehr Bedeutung beigemessen werden. Selbst im Verständnis von Zeit, welche die westliche Gesellschaft meint, an ökonomischen Maßstäben messen zu müssen, und die uns im ersten Moment so gegeben und unveränderlich erscheint, liegt eine enorme Chance, bislang unbeachtete Wertigkeiten zu erproben und das Wertespektrum zu öffnen. Das in der physikalischen dreidimensionalen Definition von Zeit steckende Konzept der Linearität sowie die Einigung auf Zeitzonen und staatliche Zeit-Regelungen offenbaren diese als enorme Wirkmächtigkeit tragendes Konstrukt. Die Messbarkeit – Atomuhren stehen derzeit bei Gangfehlern von 10−15, 10−18, mit für Nicht-Physiker_innen unfassbaren Abweichungen von einer Sekunde in etlichen Millionen Jahren – suggeriert jedoch, dass es sich um etwas Gegebenes handelt. Völlig andere Dimensionen bieten sich allerdings, wenn wir Zeit als Äon denken, den Fokus auf die dynamische Sicht der Zeit, die zyklische Zeit, die Zeit des Werdens, aber auch der Ewigkeit, oder Kairos, den perfekten Moment. In der Philosophie verbindet sich das Nachdenken über Zeit wiederum mit Fragen der Existenz, des Bewusstseins, der Veränderung, die mitunter in der Frage nach der Kunst des Lebens münden. Diese Konzeptionen sprechen unterschiedlichste Kontexte der Welterfahrung an, verweisen auf die Pluralität und Pluralisierung philosophischer Zeitlichkeitsanalysen, in denen und über die hinaus uns zu bewegen wir aufgerufen sind. Analog dazu veränderte sich auch die Vorstellung von einem Text. Nicht mehr die Autorität der Autor_innen, der Disziplin, des Kanons steht dann im Zentrum, sondern, wie Rosi

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Braidotti betont, die Interaktionszusammenhänge und Beziehungen, die durch rhizomatische Denkweisen wahrnehmbar werden. Hier ist der Umgang, die Verantwortlichkeit zu überdenken, gefragt, „die in der Transversalität der durch sie erzeugten Affekte liegt, in den durch sie ermöglichten und getragenen äußeren Zusammenhängen und Relationen“28. Denken ebenso wie Lesen oder Schreiben können in dieser Art neu begriffen werden – als eines „in Netzwerken von Ideen, Anderen oder Texten“.29 Basis eines nomadic reading/thinking ist dann allerdings nichts Geringeres als die Entterritorisierung der Vorstellungen von festen Identitäten zugunsten eines relationalen Bezugsrasters. Auch diffraktives Lesen, ein Lesen durcheinander hindurch, das Karen Barad aus ihrer, aus der Quantentheorie entwickelten onto-epistemologischen Herangehensweise heraus empfiehlt, verändert das Denken über Welt, über Richtig und Falsch.30 Sie fordert im Rahmen des agential realism hegemoniale Wertecluster weiter heraus. Die Agentialität des Materiellen ebenso anzunehmen wie Momente der Ungetrenntheit im Intra-Agieren macht erneut die Bedeutung des Weltbildes prominent, aus dem heraus Wertearchitekturen passieren bzw. es konstituieren. Dichotomie, die Zweiteilung, die Spaltung in zwei Teile, verdeutlicht vom Begriff her bereits das Entzweischneiden, etwas, das getan wird, nicht etwas, das von sich aus, ohne unser Zutun, existiert. Beim Sich-vom-Cartesianischen-Erbe-Lösen sind genau dieser Schnitt, the cut, und dessen Konsequenzen von Bedeutung. Was wir als getrennt begreifen, ist im Grunde das, was der cut erzeugte. Dementsprechend versteht Karen Barad matter nicht bloß als materiale Gegebenheit. „Rather, matter is a substance in its iterative intra-active becoming – not a thing, but a doing, a congealing of agency.“31 Weder das Materielle noch das Kulturelle werden in diesem Ansatz privilegiert. Realität in diesem Sinne ist materiell-kulturell. Neue Begriffe wie naturecultures32 oder spacetimemattering33 bringen dieses Denken mit den darin enthaltenen Wertungen auch auf der sprachlichen Ebene zum Ausdruck.

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In „Eine Poetik der Vielfalt“ spricht Éduard Glissand, aus anderer Perspektive kommend, von einer All-Welt, die eine besondere Qualität aufweist. Sie „besteht in der Poetik dieser weltweiten Beziehung selbst, die es erlaubt, sowohl das Leiden als auch die Zustimmung, das Negative und das Positive, als Kenntnis seiner selbst und des Gesamten zu sublimieren“34. Er formuliert hier eine Kritik am hegemonialen Schema eines kontinentalen Denkens, in dem Kontrolle und Vorhersehbarkeit einen wichtigen Stellenwert einnehmen, und fordert das archipelische Denken, ein Denken der Simultaneität des Hier und Dort, Nah und Fern.35 Sich darauf einzulassen, bedinge einen enormen Unterschied. Denn es bedeute, „sich auf die Gegenwart, seine Gegenwart, in der man lebt, auf neue, nicht mehr empirische oder systematische, sondern poetische Weise einzustimmen“36. Éduard Glissant hält die Poesie oder „in jedem Fall die Anwendung des Imaginären zu einer prophetischen Vision der Vergangenheit und der fernen Räume“ für die einzige Möglichkeit, „uns in die Unvorhersehbarkeit der Weltbeziehung einzubringen“.37 Verena Winiwarter fordert dezidiert dazu auf, Poesie auch als Werkzeug der Wissenschaft in Betracht zu ziehen – „… von der Befreiung aus dem selbstgewählten Gefängnis der traurig-düsteren Sprachohnmacht durch die Kraft der Poesie werde ich also erzählen und einladen, sich aufzumachen, dorthin, wo wir die Sprache als Geschenk erhalten: in uns und zu den anderen.“38 Damit stellt sie eine andere als durch die Epigoninnen der Kriterien der neuzeitlichen Wissenschaft gewonnene Qualität der Wissensproduktion und -kommunikation in Aussicht. Eine behutsame Wissenschaft, wie sie diese nennt, in der Verhältnisse und Beziehungen zum Forschungsgegenstand neu zu bestimmen sind. Beteiligt zu sein, den Mut zu haben, soviel wie möglich vom Ganzen wahrnehmen zu wollen, muss letztlich in der Darstellung und in der Sprache seinen Ausdruck finden. An dieser Stelle wird erneut und in besonderem Ausmaß die enge Verbindung mit Werteclustern und

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-haltungen deutlich. Werte/n in ihrer Qualität als Beziehung zum Gewerteten. Wie das in einer Welt zu realisieren ist, deren akademische Wissensproduktion auf Impactpunkten gerankter Journals, Zitationskartellen und Ähnlichem aufruht, und die Innovation, Kritisches und Widerständisches zwar fordert, jedoch durch ihre Mechanismen, Strukturen und Praxen, denen sich zu unterwerfen bei der Drohung des eigenen Untergangs karrieretechnisch kaum zu umgehen ist, unmöglich macht, deutet erneut auf die jeglichem Wissen eingeschriebenen Machtmechanismen.

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Ins Und des in-betweens zu gelangen, dies schwang bereits bei den Überlegungen zu den Sinnen mit, ist über ein Bewusstwerden darüber, nach welchen Kriterien Kulturen, Gesellschaften wahrnehmen, zu erreichen. In der Auseinandersetzung mit den Imperativen von Epochen können neue Angebote des Welterfahrens und -verstehens gesetzt werden. Schärfe als verborgener Imperativ der Moderne setzt, so Bernhard Hüppauf, Getrenntheit und Eindeutigkeit voraus. Sie dient dazu, Welt überschaubar zu machen. Schärfe erzeugt Klarheit und Planbarkeit, sie ermöglicht Grenzen. Eindeutigkeit und Schärfe zur Perfektion getrieben schaffen als Instrumente totalitärer Regime, wie jene des 20. Jahrhunderts bezeugen, zudem die Bedingungen für den durch den Nationalsozialismus verursachten Zivilisationsbruch, den Dan Diner als Riss in der Geschichte, als Infragestellen der Grundlagen westlicher Zivilisation ausmachte.39 In der Unschärfe verschwimmen Grenzen, verschwimmt das Getrennte. Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit tritt hervor. Der Blick fixiert nicht mehr, er schweift. Unschärfe stellt Hegemoniales in Frage, regt das Sich-Wundern und den Dialog an.40 Sie öffnet uns der Imagination und dem Wahrnehmen von Potentialität. Mit ihr lernen wir etwas für eine kreative, innovative Entwicklung Unumgängliches. Wir lernen, unsere Souveränität aufs Spiel zu setzen. „Wer sich auf die Produktivität

„ … im Chaos eine andere Ordnung erraten …“ der Fremdheit im Umgang mit Gegenständen und Situationen, mit anderen und mit sich selbst einlassen möchte“, so Caroline Bebek und Jörg Holkenbrink, „muss souverän genug sein, seine eigene Souveränität ‚auf’s Spiel setzen‘ zu können“41. Die Anerkennung unseres Un- und Nicht-Wissens in diesen besonderen Momenten, in denen wir das, was uns als Subjekte ausmachen sollte, riskieren, ermöglicht, wie Judith Butler in ihrem Werk über die Kritik der ethischen Gewalt betont, „menschlich zu werden, ein Werden, dessen Notwendigkeit kein Ende nimmt“42. Dies stellt eine enorme Herausforderung dar. Aber sie ist entscheidend dafür, wer wir sind und wofür wir stehen.

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Wassily Kandinskys im Jahr 1927 in einem Aufsatz geäußerte Beobachtung „So wie seinerzeit das feine Ohr in der Ordnungsruhe das Donnern hörte, kann das scharfe Auge im Chaos eine andere Ordnung erraten. Diese Ordnung verlässt die Basis ‚entweder-oder‘ und erreicht langsam eine neue –‚und‘“43 beschäftigt auch das 21. Jahrhundert. Viel von diesem Und ist bereits zu hören, wenn wir dem sich zwischen den Klängen und Tönen Befindlichen lauschen. Wir können es sehen, wenn wir, den cut überwindend, uns z.B. in einem metaphysischen Sehen üben.44 Können es fühlen, riechen, schmecken, wenn wir diesen Sinnen aus ihrer weiblich konnotierten Abwertung heraushelfen. Zwischen 0 und 1 existieren unendlich viele Zahlenwerte. Sie wahrzunehmen, wahrnehmen zu lernen, und in den unterschiedlichsten Dimensionen zum Ausdruck zu bringen, einerlei um welches Thema es sich handelt, ist möglich. Die Zeit wieder zum Duften zu bringen, regt Byung Chul Han von andere Seite her und mit dem Bild der Glücksgefühle auslösenden Madeleines aus Marcel Prousts „Recherche du temps perdu“ an. Er schöpft seine Überlegungen zur gegenwärtigen Zeitkrise aus dem Befund der Dyschronie, die er als Ursache für ein Schwirren der Zeit ausmacht. In ihr sei lediglich eine atomistische Identität zu realisieren, die den Menschen arm an Welt sein lässt. Durch die Revitalisierung der Vita contemplativa

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sowie der Verbindung von Vita activa und Vita contemplativa könnte diese Armut zu überwinden sein.45 Wahrnehmungen vertiefen, Beziehungen entstehen lassen und die Freundlichkeit des Seins, all das entsteht nicht im Nebeneinander, nicht in der Hast, nicht im Zufall.46 Im Einander-nahe-Sein, in der Bezogenheit, im einander Gewahren – mit anderen Worten im Und – beginnt es zu duften.

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„ … im Chaos eine andere Ordnung erraten …“ Literatur

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Endnoten

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1 Vgl. Joas, Hans: Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1999. 2 Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway, Durham, London 2007, S. 170. 3 Vgl. Hartmann, Eduard von: Philosophie des Schönen, Berlin 1887; ders.: Grundriss der Axiologie oder Wertwägungslehre, Bad Sachsa im Harz 1908; Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle an der Saale 1913; Kraus, Oskar: Die Werttheorien. Geschichte und Kritik, Brünn, Wien, Leipzig 1937. 4 Vgl. Ingrisch, Doris: Intuition, Ratio & Gender? Über Bipolaritäten und andere Formen des Denkens, in: Ellmeier Andrea/Ingrisch, Doris/ Walkensteiner-Preschl, Claudia (Hrsg.): Ratio und Intuition. Wissen/s/Kulturen in Musik*Theater*Film, Wien, Köln, S. 19−43. 5 Braun, Christina von/Stephan, Inge: Gender @ Wissen, in: dies. (Hrsg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 7. 6 Vgl. Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987; Jütte, Robert: Geschichte der Sinne: von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000. 7 Vgl. Mayr, Franz: Wort gegen Bild. Zur Frühgeschichte der Symbolik des Hörens, in: Kuhn Robert/Kreutz, Bernd (Hrsg.), Das Buch vom Hören, Freiburg im Breisgau 1992, S. 16−27. 8 Vgl. Ong, Walter: Orality and Literality, London, New York 1982. 9 Vgl. auch Vernant, Jean-Pierre: Forms of Belief and Rationality in Greece, in: Arnason, Johann P./Murphy, Peter (Hrsg.): Agon, Logos, Polis. Stuttgart 2001, S. 118–126. 10 Broeck, Sabine: Dekoloniale Entbindung. Walter Mignolos Kritik an der Matrix der Kolonialität, in: dies/Alexandra Karentzos (Hrsg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, S. 165–175, hier S. 169. 11 Vgl. u..a. Opitz, Claudia: Aufklärung der Geschlechter, Revolution der Geschlechterordnung. Studien zur Politik- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Münster u.a. 2002. 12 Vgl. Dussel, Enrique: Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmoderne, Düsseldorf 1993. 13 Mills, Charles W.: The Racial Contract, Ithaca, New York 1997, S. 18; vgl. Sullivan, Shannon/Tuana Nancy (Hrsg.): Race and Epistemologies of Ignorance, Albany 2007. 14 Mignolo, Walter D.: Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien 2012. 15 Reuter, Julia: Postkoloniale Soziologie. Andere Modernitäten, verortetes Wissen, kulturelle Identifizierungen, in: Broeck/Karentzos: Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, 2012, S. 298–313, hier S. 298. 16 Vgl. Foucault, Michel: Power/Knowledge: Selected interviews and other writings, New York 1980, aber auch Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean Claude: Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt.

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28 Braidotti, Rosi: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt a. M., New York 2014, S. 169. 29 Ebd., S. 169. 30 Barad, Karen: Intra-active Entanglements. An Interview with Karen Barad by Malou Juelskjær and Nete Schwennesen, in: Kvinder, Køn & Forskning/Women, Gender and Research 1–2, 2012, S. 10–24, hier S. 13. 31 Kleinman, Adam: Intra-actions, in: Mousse Magazine 34, 2012, S. 78–81, hier S. 80. 32 Vgl. Haraway, Donna J.: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Vol. 1, Chicago 2003. 33 Barad, Karen: Nature’s Queer Performativity, in: Qui Parle: Critical Humanities and Social Sciences, 19/2, 32, 2011, S. 121–158. 34 Glissand, Éduard: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg 2005, S. 62. 35 Vgl. Pearce, Marsha: Die Welt als Archipel / The World as Archipelago, in: Kulturaustausch/Cultural Exchange: Journal for International Perspectives 2 (2014), S. 18–19. 36 Glissand, Kultur und Identität 2005, S. 63–64. 37 Ebd., S. 64. 38 Winiwarter, Verena: Poesie als Werkzeug der Wissenschaft. in: Ingrisch, Doris/Mangelsdorf, Marion/Dressel, Gert (Hrsg.): Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst, Bielefeld 2017, S. 161–176, hier S. 162. 39 Vgl. Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 2002, (orig. 1989); Diner, Dan: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988. 40 Vgl. Ingrisch, Doris/Sodomka, Andrea: unschärfen. eine art konferenz https://www.mdw.ac.at/ikm/unschaerfen letzter Zugriff: 7.10.2018; dies. unschärfen – zweite art konferenz https://oe1.orf.at/artikel/ 649722, letzter Zugriff: 7.10.2018. 41 Bebek, Carolin/Holkenbrink, Jörg: Denkräume in Bewegung setzen. Performance Studies: Möglichkeiten der Transformation in fächerübergreifenden Studienprojekten mit dem Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst, in: Schelhowe, Heidi/ Schaumburg, Melanie/Jasper, Judith (Hrsg.): Teaching is Touching the Future. Academic Teaching within and across Disciplines, Bielefeld 2015, S. 76–82, hier S. 77. 42 Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a. M. 2003, S. 144. 43 Kandinsky, Wassily: Einiges über synthetische Kunst, in: ders. Essays über Kunst und Künstler, Bern 1973 (orig. 1955), S. 99. 44 Vgl. Smid, Tereza: Poetik der Schärfenverlagerung (Zürcher Filmstudien 29), Marburg 2012. 45 Vgl. Han, Byung-Chul: Der Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Bielefeld 2009. 46 Ebd., S. 51.

Ferdinand Schmatz

Das Andere versuchen. Offene Wertfindung durch poetische Um-Setzung

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Wir wollen den Begriff des Kampfes nicht neutralisieren oder verdrängen. Er darf aber in Relation gestellt werden. In jenen Feldern, in denen er gesetzt, gedacht, ausgesprochen und verhandelt wird. Ein „Kampf um Werte“ kann nur verlorengehen, er liegt schon begrifflich in der Veranlagung des Vorhabens schief, wenn er, der Begriff des Kampfes, kriegerische Praxis erfährt. Denn wir wissen: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. (Wittgenstein) Kampf führt zu Krieg, wird er angewendet in einem Feld, das diesen Krieg wünscht. Die Gründe liegen auf der Hand. Er muss es aber nicht, wenn dieses Feld anders bestellt wird. Von anderer, sagen wir: poetischer, Hand geführt. Die Dichterin Gertrude Stein analysiert den Begriff des Krieges auf ihre, poetologisch begründete Weise: Sie macht das Hauptwort Krieg „nervös“. Nervös wie die „menschliche Natur“, die sie als „großen Krieg“ versteht – wenn diese Natur den „Krieg als Vater aller Dinge“ begreift. Damit ist jenes Feld gemeint, das zur Erhaltung von Macht dient, diese Macht ist. Das Zeitwort „kriegen“ wäre aber eine Alternative zum Hauptwort „Krieg“, im Sinne von: jemanden beschenken, jemanden etwas zukommen lassen, auch wenn es auf ein kriegen Wollen reagieren sollte. Dieses in das Wort Hinein-Tauchen, um es anders an die Ufer des kommunikativen Austausches treiben zu lassen, ist ein Weg, den die Dichtung, die Kunst versucht. Sie, und damit ihre Autorinnen und Autoren, deuten einen bestehenden Wert, sagen wir: den eines Begriffs, der semantisch verankert ist, um. Oder bringen dessen innerste Bedeutung, einen seiner „wahren“ Kerne, an die Oberfläche der Seite. Wobei kein absolut gesetzter Wahrheitsanspruch besteht. Sie verschieben dessen fixierte Bedeutung nicht nur gleichsam in einen anderen Kontext, sondern sie wenden ihn in diesem erweiterten oder verengten Feld aus seinen Wurzeln

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heraus gedacht ANDERS an. Bedeutung als Funktion der Kommunikation, die „Wahrheit“ wird verhandelt. Möglicherweise so: Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts. (Franz Kafka) So geht sie, diese Dichtung des Erforschens und Transformierens vor: Das Wort in seinem neu zu erkundenden Gehalt wird Gebrauch – Bedeutung – und erfährt somit Handlung. Wir wiederholen: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. (Wittgenstein) Gebrauch weist auf Handlung hin, ist Handlung: Das Feste, Starre des Ausgangswertes wird in Dynamik versetzt. Die Bedeutungs-Bewegung vom „Krieg“ zum „Kriegen“ bei Gertrude Stein, die metonymische Einbringung Kafkas – des Körperlichen in die Dinge, von den Stufen zu den Füßen – eröffnen eine andere, nicht übliche Herangehensweise an die Begrifflichkeit. Und vor allem: eine andere Verwendung der zunächst festgelegten und damit auch oft von den Festlegern verteidigten Inhalte. Sagen wir: Sie, die Festleger oder: die Strukturen der Macht, bilden mit den Begriffen eine Mauer. Eine Mauer aus Sprache. Die Mauer der Sprache. „Was wir brauchen, ist die mauerlose Sprache“, könnte hier eine Forderung oder eine Antwort oder (zumindest) eine Alternative sein, die den Vorgang des Öffnens schon mit in sich trägt. Öffnen heißt hier natürlich auch: untergraben, unterwandern, durchlöchern. Heißt: flüssig machen. Die dichterische Hand aus Händen wird tätig. Die Philosophin Julia Kristeva nennt ihr sprachtheoretisch-strukturelles Werk: „Die Revolution der poetischen Sprache.“ Sie spricht also dezidiert von Revolution, an deren Anfang wohl die Idee eines Umsturzes steht, dem ein Kampf oder

Das Andere versuchen

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Krieg folgen könnte. In der Dichtung allerdings – und das arbeitet Kristeva in ihrer Analyse der Werke der Avantgarde wie jenes Mallarmés eindrucksvoll heraus – wendet sich dieser Kampf dem Bestehenden der Sprache, ihrem Dispositiv zu. Also der Sprache an sich, aber vor allem auch der Sprache in sich, jener im Körper und Bewusstsein des Individuums, im individuell erfahrenden und zu lebenden Sinn. Aber: Da dieser von außen strukturiert auf das Ich zugreift, wendet sich das dichterisch sich formende Ich gegen dieses un-eigene Ich. Und gegen das damit verbundene von außen konstruierte Wir – das als Entfremdetes verstanden wird. Analysiert, bearbeitet und transformiert wird die Sprache dieser Entfremdung, die dieses Ich und Wir positiv wie negativ konstituiert und dominiert. Als Hoffnung oder Ziel dieser Sprach-Arbeit steht ein individuell bestimmtes Selbst. Die Hand aus Händen erweitert sich um Körper, der nie als Ganzheit erstarrt. Der damit verbundene Versuch der Auflösung dieser Fremdbestimmung geht also über in eine neue Konstituierung, (zumindest) in den Versuch derselben. Also halten sich Destruktion und Konstruktion die Waage. Beide Akte bedingen einander. Kristeva nennt diese Ebenen die Phäno- und Geno-Sprache: jene der allgemeinen Oberfläche und jene der individuellen Innerlichkeit, die mit innerster Körperlichkeit korrespondiert, ja diese zu sein wünscht. Damit sind auch die Hierarchien des inneren Gerichtshofes, vor allem ihre sprachlichen Parameter und Grundfeste, einer Art Untersuchung durch die Dichtung ausgesetzt. Die nicht selten zur Erschütterung des Selbst oder Ichs ihrer Autorinnen und Autoren führt. Eine Untersuchung, ein künstlerisches Forschen, das sich (wie erwähnt) gegen die Zuschreibungen des „eigenen“ Ichs wendet, da es mit deren fremdbestimmten Werten, vorrangig sprachlichen, vollgefüllt ist. Und das sich dadurch in einer Art über die Sprache hinaus reichenden Ohnmacht befindet, für die es grundlegenderweise

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nichts kann. Aber in sich nichts anderes als den damit ausgelösten und sanktionierten Zustand erfährt – und zunächst einzulösen hat. „Was kann das Blech dafür, wenn es am Morgen als Trompete erwacht“ – schreibt Rimbaud in Bezug auf ein Ich, das erkennt, ein ANDERES zu sein. Dieses Anders-Sein ist jedoch nicht der Zustand des Offenseins für das ANDERE, wohin die Kunst zu streben aufbricht. Es ist der Zustand des Abgerichtet- und Eingerichtet-Seins, der zum Profit derer führen soll, die diesen Zustand bewirken, oktroyieren. Also heißt es für die Trompete: Den Moment des Blechs vor dem Aufwachen zurückzuerobern. Um dann seine eigene Trompete, sein eigenes Instrument zu entwickeln, und nicht ein instrumentalisiert vorgegebenes im Orchester der Macht. Wieder kommen uns kriegerische Worte dazwischen, aber nennen wir dieses Zurückerobern doch lieber im Sinne Gertrude Steins: ein Zurück-Kriegen, das dann nach vorne, oder zumindest in ein Jetzt, in eine selbstbestimmbare Gegenwart eines Nullzustandes weist, von dem aus neu aufgebaut werden kann.

2 Allerdings: Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen. (Franz Kafka) Kafka. Immer wieder Kafka. Er gilt nicht nur für Canetti als der Experte der Macht. Er bekämpft sie nicht als kriegerischer Agitator, er stellt in seinen Romanen und Erzählungen keine eindeutige Gegenwelt dar. Er spricht aufgrund seiner sozialen, kulturellen und religiösen deterriorialisierten Stellung in Prag die Sprache des Randes. Kafka ist auf anderen poetologischen Wegen ein Verschieber der Bedeutungen als Gertrude Stein und die Avantgarde. Er zerpflückt die Mechanismen der Macht mit kleinsten Eingriffen in die Sprache, ihre Syntax, ihren Klang. Er schafft

Das Andere versuchen

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jene „kleine Literatur“, die sprachlich deterritorialisiert eine große Literatur des Widerstands wird. Die nach Auswegen aus den oktroyierenden Systemen strebt, die vom Individuellen bis in die sozialen Felder reicht. Eine Haltung, ein Ethos, die und das gesucht wird. Was in der praktischen Umsetzung möglicherweise scheitert – aber genau diese Möglichkeit als andere Lebensform durch die dichterische Haltung und Arbeit versucht. Freiheit? Ja: Der „Versuch der Realisation von Freiheit“ – wir haben ihn von Ernst Jandl vernommen. Das ist das Vorhaben, der „Kampf“ der Kunst und Dichtung, der nicht zu gewinnen ist, weil er es gar nicht auf Gewinn abgesehen hat. Der damit den Feind nicht im Gegenüber sieht, sondern in den eigenen Verhaltensweisen, die zugerichtet sind von den diversen Mechanismen der Macht. In denen „natürlich“ die Sprache eine durchaus künstliche, aber tief pragmatische Rolle der Unterdrückung einnimmt. Aber:! Die dadurch die Möglichkeit des Widerstands bietet. Die Sprache nämlich. Und das heißt auch wortwörtlich. Und damit die Möglichkeit der Öffnung ihrer starren Paradigmen und Modelle, die eine Wirklichkeit stabilisieren und bestätigen sollen, ja müssen – und damit den Raum für den und das Andere versucht, zu erkunden und zu öffnen, ohne dass dies als unbedingt einzulösendes Vorhaben verstanden sein will. Scheitern ist möglich. „Die moderne Literatur entsteht aus dem Versuch, das Scheitern zu erfassen“, so O. Wiener in Bezug auf das Werk Arno Schmidts. Auch hier finden wir den Begriff des Versuchs und nicht jenen der absolut gesetzten Wahrheit als solcher, die einem Zweckentsprechen gleichgeschaltet ist. Die Aufgabe einer Werte um-setzenden Dichtkunst wird es also sein, diese Zweckentsprechung zu entkräften, dies medial zu transponieren und ihr eine neue Ausgangsbasis für Wertfindung zu verleihen: als Schrift, als Gesprochenes, als Gezeigtes – mit durchaus medial erweiterter Hand.

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Was ihr dabei mit feiner Feder oder dem Lichtstrahl des Lasers die Hand und das Auge führt, ist einerseits die dynamische Einbindung der dichterischen und künstlerischen Traditionen, auch im soziökonomischen wie politischen Feld. Andererseits ist es die Pranke der Kritik an den verheerenden und verlogenen medialen Manipulations-Maschinen im Dienste machtbesessener Ideologien. Die Hand aus Händen, „die von den Zehenspitzen bis zum Verstand reicht“ (O. Wiener), dreht das ideologisierte Verhältnis von Sender und Empfänger hinsichtlich der Botschaftsfestlegung wider jedes beliebige Durchmischen und Vermengen um. Durch Formen, die Inhalte mit erzeugen, und Inhalte, die sich entsprechende Formen suchen, erobern, sich verschwistern, entzweien, um wieder zusammenzuwachsen. In der Gegenwart. Der Sprache. Der Kunst. Der Gesellschaft. Vor uns. In uns. Um uns. Ausschwärmend und einwandernd in das Bewusstsein und in die Handlungsweisen der sie Lesenden, Hörenden und Erfahrenden. Als poetisch angewandte Intervention, von einer der Stille und des beredten Schweigens bis hin zum körperlich ausstoßenden Schrei. Hannah Arendts Unterscheidung zwischen Erkennen und Denken hinsichtlich des Handlungsprozesses sagt es: Ein Denken, das die Materialität der Sprache mit-denkt, überwindet das rein formale Denken. Ohne diese bedeutungsstiftende Arbeit mit dem Material der Sprache wäre es ein Denken ohne praktischen „Nutzen“ oder eben nur eines, das den vorgegebenen Mustern, auch jenen der Werte, dient. Kein Beitrag zur Vita activa. Das wissenschaftliche Verbinden des Denkens mit der Logik ist rein systemisch, was zu positiven wie negativen Entwicklungen führen kann. Dieses Verbinden ist es, das die Dichtung und Kunst zu ihrer Sache machen kann: in ungewohnter Form die üblichen logischen Muster, auch jene der Alltagssprache, zu verwandeln.

Das Andere versuchen

Denken und Erkennen mit anderen Mitteln wird zum angewandten Tun über die Sprache allein hinaus – eine tätige Kunst, ihre Setzungen gesellschaftlich verhandelbar. Ein Unruhe bewahrender Gesang im Chor der zweckgerichtet befriedenden Systeme der Kommunikation. Um diesen in die Ohren, Augen und damit in den Körper der Gegenwart zu senden, auf dass er sich dort als handlungsstiftend entpuppen möchte: Auf die Verwandlung! Wunsch, Indianer zu werden: Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. (Franz Kafka) 265

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Demokratie in der Krise Demokratisierung durch Kunst

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1 Einleitung Ist die Demokratie in einer Krise? Das Erstarken von demokratiegefährdenden populistischen Bewegungen in Europa und den USA seit der Jahrtausendwende kann als ein Indiz dafür genommen werden, dass sich die Demokratie in ihrer derzeitigen Form in der westlichen Welt in einer Krise befindet. Dieser Text sucht nach Wegen, die aus dieser Krise herausführen können. Nach einer kurzen Erörterung, weshalb von einer Krise der Demokratie gesprochen werden kann, widmet sich der Aufsatz der Rolle der Zivilgesellschaft und damit verbunden jener der Sozialen Kunst. Anhand von zwei Beispielen, Tania Brugueras Immigrant Movement International und dem von mir gemeinsam mit Katharina Morawek umgesetzten Projekt Die ganze Welt in Zürich, werden konkrete Einblicke in die Möglichkeiten von Kunst als Experimentierfeld zur Selbstermächtigung marginalisierter Gruppen und Personen gegeben. 267

2 Krise der Demokratie Seit einigen Jahren sind nationalistische und rechtspopulistische PolitikerInnen in Europa und den USA in Regierungen vertreten oder stehen ihnen sogar vor. Hierzu zählen Lech Kaczyński in Polen, Viktor Orbán in Ungarn, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, Aljaksandr Lukaschenka in Belarus, Heinz Christian Strache und die FPÖ in Österreich, die SVP in der Schweiz und schließlich Donald Trump in den USA. Noch nicht Teil der Regierung, aber sehr erfolgreich in Opposition sind Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden, die Schwedendemokraten in Schweden, die AfD in Deutschland sowie andere rechtsnationale Bündnisse und Parteien. Diese Politiker und Gruppierungen stellen eine Gefahr für die Demokratie dar, da sie dezidiert und wiederholt Positionen vertreten, welche den Grundprinzipien der Demokratie widersprechen. Teil ihres politischen Programmes ist die Einschränkung der Pressefreiheit, sie versuchen Sachdebatten durch xenophobe Vorurteile zu emotionalisieren und

Martin Krenn

stellen verschiedentlich die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in Frage. Eine Erklärung für den Rechtsruck und den Erfolg nationalistischer Parteien wird in der allgemeinen Politikverdrossenheit und zunehmenden Entfremdung der BürgerInnen von ihren VertreterInnen in den Parlamenten und den Regierungen gesucht. Der Soziologe Zygmunt Bauman (2016) sagt dazu:

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„Die Krise der Demokratie resultiert in den Augen der Bürger aus ihrer tatsächlichen und vermeintlichen Unfähigkeit zu liefern. Die Hilflosigkeit der Politiker, ihr Verweis darauf, es gebe keine Alternative, sie könnten also gar nicht anders, wird als Kapitulation empfunden. Die Attraktivität des starken Mannes oder der starken Frau – Donald Trump in den USA, Marine Le Pen in Frankreich – gründet auf der Behauptung und dem ungeprüften Versprechen, sie könnten anders handeln, sie seien in ihrer Person selbst die Alternative.“ Dieser politische Bestandsaufnahme Baumans geht eine historische Entwicklung voraus. Der Journalist und Aktivist Pedram Shahyar (2010, S. 113) analysiert, dass die gesellschaftliche Modernisierung im letzten Jahrhundert eine Ausdifferenzierung der Systeme und Strukturen mit sich brachte. Shahyar argumentiert, dass diese jedoch „nicht per se der Grund für die Krise der Demokratie“ sei. Nur eine horizontale Ausdifferenzierung entferne die Bevölkerung vom politischen System, eine radikale Demokratiekritik verlange deshalb, dass die Ausdifferenzierung vertikal verlaufe. Der sich immer weiter global ausbreitende Neoliberalismus trage einen entscheidenden Anteil an der horizontalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft bei, die sich in sozialer Ungleichheit, Entscheidungsohnmacht und Diskriminierung ausdrücke. Die Zivilgesellschaft stelle sich allerdings dagegen, sie kämpfe gegen die Entkoppelung der politischen Institutionen von der Bevölkerung, durch welche „Wünsche und Interessen der

Demokratie in der Krise

Bevölkerung vom politischen System nicht mehr aufgegriffen werden.“ (Shahyar 2010, S. 113) Stimmt man dieser Analyse zu, dann ist eine Sicht zurück auf eine Zeit, in der etwa die Sozialpartnerschaft in Österreich noch zu funktionieren schien, reine Nostalgie. Der Weg aus der Krise der Demokratie besteht heute darin, die Zivilgesellschaft zu stärken. Auf Basis demokratischer Werte und Prinzipien müssen andere Lösungen für die aktuellen Probleme gefunden werden, als jene, die von post-faschistischen und populistischen rechten Parteien propagiert werden. Aufgrund massiver Stimmverluste scheinen die etablierten Parteien der „Mitte“ jedoch überfordert zu sein und ahmen die nationalistische Propaganda zum Teil sogar nach.

3 Zivilgesellschaft

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Wie kann eine Demokratisierung der Demokratie erreicht werden und was bedeutet der Begriff Zivilgesellschaft? Betrachtet man Zivilgesellschaft aus einer akteurszentrierten Sicht, dann sind damit handelnde selbstorganisierte Menschen und Gruppen gemeint. Das Ziel ist Veränderung, den Staat und die Gesellschaft zu reformieren oder sogar zu revolutionieren. Einer normativen Auffassung von Zivilgesellschaft folgend, handelt es sich bei ihr um eine gerechte BürgerInnengesellschaft, welche von den Aktivitäten sozial engagierter politischer Gruppen, sozialer Bewegungen und NGOs ausgeht (Zimmer 2012). Ein weiteres Merkmal der Zivilgesellschaft ist, dass sie nicht hierarchisch, sondern in Form „autonom verflochtener Netzwerke“ organisiert ist (Brangsch 2010, S. 161). Ihre Geltung als demokratisierende Kraft bezieht sie aus ihrer kritischen Funktion gegenüber den Machtzentren der Politik, Wirtschaft und staatlichen Verwaltung. Der staatlich regulierte Raum müsse deshalb von einem selbstbestimmten öffentlichen Raum unterschieden werden, „der sich eben nicht notwendig dem gegebenen politischen System unterordnen muss, vielmehr dieses durch die konsequente Ausschöpfung bürgerlicher Freiheitsrechte infrage stellt.“ (Brangsch 2010, S. 161)

Martin Krenn

3.1 Politik im Grabensystem Antonio Gramsci schrieb in den 1930er-Jahren:

„Die Gewaltenteilung und die gesamte Diskussion um ihre Verwirklichung und die seit ihrem Aufkommen entstandene juristische Dogmatik sind das Resultat des Kampfes zwischen [der] Zivilgesellschaft und der politischen Gesellschaft einer bestimmten historischen Periode mit einem gewissen instabilen Gleichgewicht der Klassen, durch die Tatsache bestimmt, dass gewisse Intellektuellenkategorien (im unmittelbaren Staatsdienst, vor allem Zivil- und Militärbürokratie) noch zu sehr mit den alten herrschenden Klassen verbunden sind.“ (Gramsci 2012, H. 6, § 81)

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Gramsci subsumiert unter den Begriff alle nicht-staatlichen Organisationen, „welche die öffentliche Meinung und damit den ‚Alltagsverstand‘ prägen. […] Zu ihr zählen die Kirche, die Gewerkschaften, die Presse […], aber auch ‚die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs verschiedener Art bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und der Straßennamen‘.“ (ak − analyse & kritik 2000) Gramci schrieb zum Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts:

„Die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand; von Staat zu Staat mehr oder weniger, versteht sich, aber gerade dies verlangte eine genaue Erkundung nationaler Art.“ (Gramsci 2012, H. 7, § 16) Die Rolle der Zivilgesellschaft (welche bei Gramsci noch keine einheitliche politische Position vertritt) wird von ihm mit der Metapher des Stellungskriegs beschrieben:

Demokratie in der Krise

„Mit ihr ruft Gramsci die verschachtelten Grabensysteme der Schlachtfelder des ersten [sic] Weltkriegs in Erinnerung. Wie diese bestehen die ‚Zivilgesellschaften‘ der entwickelten Staaten des Westens aus einer sehr komplexen und doch widerstandsfähigen Struktur aus ineinander verzahnten Institutionen, um die gestritten wird. […] Macht ist für Gramsci in den entwickelten Gesellschaften in keinem bestimmten Staatsapparat (wie etwa der Regierung) und an keinem Ort der Gesellschaft lokalisiert, sondern über die gesamte Zivilgesellschaft verstreut.“ (Marchart 2010, S. 290) Oliver Marchart schließt daraus, dass Politik an sich in einem unübersichtlichen Grabensystem stattfinde und der Kampf um Hegemonie deshalb eine andauernde und „letztlich unabschließbare Angelegenheit“ (Marchart 2010, S. 290) sei.

4 Demokratisierende Kunst 271 Stimmt man Marchart zu, dann ist auch die Demokratie (als eine Form von Politik) letztlich eine unabschließbare Angelegenheit. Sie bedarf einer andauernden Demokratisierung und Erneuerung, ohne dass dabei grundsätzliche Ordnungsprinzipien (Freie Wahlen, Gewaltenteilung, Verfassung usw.) verlassen werden. Wann und wie trägt nun die Kunst dazu bei? 4.1 Kunst ist politisch Eine Vorbemerkung: Kunst ist immer politisch. Sie bezieht ihre politische Bedeutung aus dem Kontext, für welchen ein Werk hergestellt wird, und dem Kontext, in welchem es gezeigt wird. Novi Kolektivizem, das Designstudio des Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK) reichte zum Beispiel 1987 einen Plakatentwurf für den Tag der Jugend zu Ehren des Geburtstags Josip Broz Titos ein und gewann den dazu ausgerufenen Wettbewerb. Es war eine Guerrilla-Aktion des Kollektivs, insofern es sich bei dem Entwurf um eine fast vollständige Kopie eines Bildes des Nazi-Künstlers Richard Klein handelte.

Martin Krenn

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Lediglich die Nazi-Flagge wurde gegen eine jugoslawische Fahne ausgetauscht und statt des Reichsadlers wurde eine Friedenstaube ins Bild montiert. Der durch das Kollektiv provozierte Kunst-Skandal durchkreuzte die damals vorherrschende Ideologie und Ästhetik des jugoslawischen Regimes und zeigte die politische Bedeutung des Kontextes für Kunst auf. Walter Benjamin analysierte bereits 1934 in seinem Aufsatz „Der Autor als Produzent“ die Bedingungen, durch welche Kunst und Literatur politisch werden. Er schrieb: „Die richtige politische Tendenz eines Werkes schließt seine literarische Qualität ein, weil sie seine literarische Tendenz einschließt.“ (Benjamin 2013) Benjamin legte dar, dass die soziale und politische Situation seiner Zeit den/die DichterIn zwinge, sich zu entscheiden, wem seine/ihre Tätigkeit dienen soll: entweder der Bourgeoisie oder dem Proletariat. Der/die AutorIn könne es nicht vermeiden, immer im Dienste einer Klasse zu stehen. Benjamin deklarierte, dass es deshalb keine neutrale Position in der Kunst gäbe. Wer sich nicht politisch positioniere, diene dem Status quo und somit der Bourgeoisie. 4.2 Soziale Kunst Eine Kunstform, welche der Zivilgesellschaft besonders nahe steht, ist die Soziale Kunst1. Der Begriff Soziale Kunst ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche politisch engagierte Kunstpraxen, die Partizipation von und Kooperation mit Menschen innerhalb und vor allem außerhalb des Kunstbetriebes suchen. (Krenn 2017, S. 242) Kunstprojekte dieser Kunstsparte positionieren sich nicht nur politisch, sondern verstehen sich häufig selbst als Teil sozialer Bewegungen. Beispiele dafür finden sich seit den 1960er-Jahren in den Arbeiten und Projekten aktivistischer (KünstlerInnen-)kollektive wie etwa ACT UP, Ala Plastica, Critical Art Ensemble, Group Material, Park Fiction, PublixTheatreCaravan, Raqs Media Collective, REPOhistory, ®TMark, Superflex, Temporary Services, The Art of Change, The Atlas Group und WochenKlausur.

Demokratie in der Krise

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Wie bereits ausgeführt, ist es ein wesentliches Merkmal der Zivilgesellschaft, sich nicht politischen Strukturen unterzuordnen. Für Soziale Kunst spielt die ästhetische Autonomie eine entscheidende Rolle, um sich von dominanten politischen Strukturen zu befreien. Die Freiheit der Kunst wird in Österreich seit 1982 im Art. 17a StGG in der Verfassung garantiert. Es handelt sich um ein Grundrecht, das künstlerische Ausdrucksformen schützt. Ästhetische Autonomie ist jedoch weit mehr als das Verbot von Zensur. Sie steht für Selbstverwaltung, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Der Kampf um Autonomie war und ist Teil jeder künstlerischen Praxis und zieht sich quer durch die Kunstgeschichte. Ging es im 18. Jahrhundert darum, sich von Kirche und Mäzenatentum zu emanzipieren, so wurde im 19. Jahrhundert eine formal-ästhetische Unabhängigkeit eingefordert, um sich nicht nach dem Geschmack des Publikums richten zu müssen. (Fenner 2013, S. 40−41) Im 20. Jahrhundert gipfelten die Autonomiebestrebungen der KünstlerInnen in der Anti-Kunst der Avantgarde: Kunst befreite sich sozusagen von sich selbst. Durch diese Negation der Kunst in der Kunst entstandenen neue politische Kunstpraxen. John Heartfield etwa gestaltete Fotomontagen als Cover für die „Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“ (A-I-Z). Die ästhetische Autonomie zeigt sich in seinen Arbeiten darin, dass er nicht kommunistische Propaganda illustrierte, sondern mit künstlerischen Mitteln faschistische und totalitäre Ideologie dekonstruierte. In Heartfields Kunst wird der/die BetrachterIn mitgedacht: Erst durch den kritischen Blick der LeserInnen können die antifaschistischen Botschaften entschlüsselt werden. Anstatt l’art pour art, welche sich ausschließlich auf formale Kriterien stützt, basieren seine politischen Fotomontagen auf einem dialogischen Verhältnis mit dem/der BetrachterIn. Ausgehend von dieser und anderen politischen Praxen der Avantgarde entwickelte sich im 20. Jahrhundert die Soziale Kunst, welche durch Kollaborations- und Partizipationsangebote in einen direkten Dialog mit den RezipientInnen tritt. Als „Wertebasis“ gelten für sie die Grundprinzipien der Demokratie, also jene der Freiheit, Gleichheit und Solidarität (Krenn 2016).

Martin Krenn

Werden diese Prinzipien ernst genommen, dann geht Soziale Kunst über die Schaffung von sozialen Wohlfühl-Situationen hinaus und beginnt aktiv in Herrschaftsverhältnisse zu intervenieren, Hierarchien zu hinterfragen und unterschiedliche Formen der Diskriminierung zu bekämpfen. 4.3 Arte Útil Ein prominentes Beispiel für politisch engagierte Soziale Kunst bilden die Projekte der aktivistischen Performancekünstlerin Tania Bruguera. In Kooperation mit und vertreten in den wichtigsten Museen der Welt (Van Abbemuseum, Queens Museum of Art, Tate Modern, MoMA u.v.m.) entstehen Kunstprojekte, die der Gesellschaft Nutzen bringen sollen.

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“Whether through self-organised groups, individual initiatives or the rise of user generated content people are developing new methods and social formations to deal with issues that were once the domain of the state. Arte Útil case studies show how these initiatives are not isolated incidents, but part of a global movement shaping our contemporary world.” (Bruguera 2018) Dieses Anliegen zeigt sich in Brugueras kollaborativem Langzeitprojekt Immigrant Movement International (IMI), das sie von 2010 bis 2015 begleitete. Das Projektziel ist, MigrantInnen als globale BürgerInnen neu zu definieren und KünstlerInnen dazu anzuregen, aktiv auf soziale und politische Problemfelder einzuwirken. Es gelang ein Gebäude im Corona-Viertel des Stadtteils Queens in New York zu bekommen und dort mit Unterstützung des Queens Museums und der Organisation Creative Time ein Community-Zentrum zu etablieren. So entstand eine Gemeinschaft, die überwiegend aus MigrantInnen aus Lateinamerika (hauptsächlich aus Mexiko und Ecuador) sowie aus der Karibik und China besteht. Im Laufe der Jahre hat sich IMI durch die Gründung von Vereinigungen und kollektiven Aktionen in anderen Ländern wie Mexiko,

Demokratie in der Krise

Großbritannien, Holland, Schweden und Israel erweitert. Von ihrer Hauptniederlassung in Corona aus hat IMI Bildungsprogramme, Symposien, Gesundheits- und Rechtsdienste sowie Workshops durchgeführt. (Bruguera und Kershaw 2015) Eine der Aktivitäten des IMI, die Immigrant Respect Campaign, setzt sich aus einer Plakatkampagne, einem temporären Lichtmonument für MigrantInnen und weiteren Aktionsformaten zusammen. In einer Ausstellung, gehostet von Artes Mundi, wurden schließlich die BesucherInnen aufgefordert, einen Vertrag zur moralischen Verpflichtung zur Förderung der Rechte von EinwanderInnen zu unterzeichnen. (Artes Mundi 2012) Die vielschichtigen Aktivitäten des IMI, welche hier nur im Ansatz beschrieben werden können, machen das Projekt zu einem Musterbeispiel für politisch engagierte demokratisierende Soziale Kunst. 4.4 Dialogical Aesthetics 275

Das ästhetische Potenzial sozialer Kunst wird von dem Kunstkritiker Grant Kester (2004, S. 82–123) als „Dialogical Aesthetics“ definiert. Er hebt sie von einer Kunst ab, die ausschließlich provozieren und den/die BetrachterIn schockieren will, die er als „‚orthopedic‘ aesthetic“ (Kester 2004, S. 87) bezeichnet. Provokations-KünstlerInnen verhielten sich so, als wüssten sie, wie man die Welt richtig wahrzunehmen habe, und schockierten den/die BetrachterIn als „an inherently flawed subject whose perceptual apparatus requires correction“ (Kester 2004, S. 88). Im Gegensatz dazu strebten in der dialogischen Kunst die KünstlerInnen einen Austausch auf Augenhöhe mit den RezipentInnen an. Der Vorgang der Partizipation an einem sozialen Kunstprojekt würde eine ästhetisch-dialogische Langzeit-Erfahrung ermöglichen, die im Gegensatz zum kurzzeitigen Schockerlebnis einer „orthopädischen“ Kunst stünde. 4.5 Die ganze Welt in Zürich Das dialogische Langzeit-Kunstprojekt Die ganze Welt in Zürich. Konkrete Interventionen in die Schweizer Migrations-

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politik, umgesetzt von 2015 bis 2017 mit der Kuratorin Katharina Morawek in der Shedhalle Zürich, ist ein Beispiel dafür. Das in Zusammenarbeit mit einer transdisziplinären Arbeitsgruppe realisierte Projekt zielte darauf ab, mit den Mitteln der Kunst konkrete Vorschläge für eine StadtbürgerInnenschaft in Zürich zu entwickeln und öffentlich zu propagieren. Im Gegensatz zur Staatsbürgerschaft, die an die Grenzen eines Nationalstaats, an Mobilitätskontrolle und Sesshaftigkeit gebunden ist, knüpft die StadtbürgerInnenschaft den Anspruch auf Rechte, Pflichten und Ressourcen an den Lebensmittelpunkt. Sie entspricht dem Motto: „Alle die hier sind, sind von hier.“ (Alain Badiou u.a.) Durch eine StadtbürgerInnenschaft solle der Zugang zu öffentlichen Gütern, Diensten und Ressourcen, die Prozedere der politischen Teilhabe sowie die Anerkennung kultureller Identitäten ausgehandelt (Köhler 2013) werden. Die Shedhalle Zürich fungierte als Ort, an dem über Sachzwänge hinaus gemeinsam nachgedacht, verhandelt und politisch agiert wurde. Der Hafen diente dem Projekt als Metapher und es wurde das dialogische Format der Hafen-Gespräche erfunden. Sie bildeten einen performativen Raum, an dem Mitglieder der Arbeitsgruppe sowie VertreterInnen von Interessensgruppen, EntscheidungsträgerInnen, StadtpolitikerInnen und MitarbeiterInnen öffentlicher Einrichtungen teilnahmen. Eingeleitet durch eine gemeinsame Bootsfahrt auf dem Zürichsee, fanden sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Shedhalle fungierte als ein geschützter Raum. In drei öffentlichen Hafen-Foren, die jeweils einen Tag dauerten, trafen lokale und internationale AkteurInnen aufeinander, tauschten Erfahrungen aus und diskutierten Konzepte zur StadtbürgerInnenschaft. Parallel dazu wurde in der Shedhalle eine Ausstellung über Soziale Kunst gezeigt, welche das Projekt in die Tradition von sozial engagierten Kunstprojekten der letzten Jahrzehnte setzte. Eine der vielen Initiativen, die durch Die ganze Welt in Zürich entstanden, ist der unabhängige Verein Züri City Card, welcher bis heute aktiv ist. Der Zweck des Vereins ist:

Demokratie in der Krise

„die Einführung einer City Card für die gesamte Wohnbevölkerung des städtischen Großraum Zürich. Damit sollen die Rechte und deren Durchsetzung sowie die gesellschaftliche und politische Stellung der InhaberInnen dieser City Card unabhängig von einem geregelten Aufenthaltsstatus gestärkt werden. Der Verein arbeitet mit politischen und sozialen Bewegungen in Zürich und anderen Städten in- und ausserhalb der Schweiz zusammen.“ (Züri City Card 2018) Auch wenn die Züri City Card noch nicht durchgesetzt werden konnte, so gelang es dem Projekt dennoch, zahlreiche AkteurInnen der Zivilgesellschaft zusammenzubringen und einen spezifischen Beitrag zur Demokratisierung der Demokratie zu entwickeln: das Modell einer Züricher StadtbürgerInnenschaft, welches auf Umsetzung wartet.

5 Conclusio 277 Dieser Beitrag zeigte auf, wie die „Krise der Demokratie“ und das Erstarken demokratiefeindlicher nationalistischer Politik durch dialogische, soziale und politische Alltags-Praxen bekämpft werden kann. Im Gegensatz zu einer Kunst, die auf Provokation und ein Schockerlebnis der BetrachterInnen setzt, strebt die Soziale Kunst den Dialog mit dem Publikum an. Die Beteiligten machen, indem sie sich politisch engagieren und/ oder zu einer konkreten Verbesserung des sozialen Lebens beitragen, eine ästhetische Erfahrung. Politisch engagierte Soziale Kunst wirkt sich demokratisierend auf die Gesellschaft aus. Die dialogische Struktur der Sozialen Kunst schließt Differenzen und Konflikte nicht aus. Vielmehr kann sie, wie die genannten Beispiele belegen, bestehende Differenzen in der Gesellschaft herausarbeiten, in produktive Konflikte eintreten, Mechanismen der Bevormundung und Unterdrückung durchkreuzen und dadurch neue Wege aus der Krise der Demokratie und zur Demokratisierung derselben eröffnen.

Martin Krenn

Literatur

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Endnote

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1

Dieser Text definiert sozial engagierte Kunst als Soziale Kunst. Es gibt allerdings auch andere Bezeichnungen, für sozial engagierte Kunstpraxen, wie etwa Partizipatorische Kunst, Community art, Relationale Kunst oder Soziale Plastik. Aus Platzmangel kann hier nicht auf alle Begriffe eingegangen werden.

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Umkämpfte Werte. Die Punk-Andacht von Pussy Riot im Spannungsfeld von Kunst, Politik und Religion

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1. Soziale Funktionssysteme, Ästhetik und politische Kunst

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Zwischenmenschliche Interaktionen und soziale Funktionssysteme (wie etwa Politik, Recht, Ökonomie, Religion, Kunst, Wissenschaft)1 lassen sich nicht nur im Medium philosophischer Begriffe oder einzelwissenschaftlicher Fachterminologien, sondern auch im Medium ästhetischer Darstellungen reflektieren, d.h.: zu Objekten einer (kritischen) Betrachtung und Beurteilung machen. An die Stelle der ‚Selbstbeschreibungen‘, die die beteiligten Akteure und die innersystemischen Diskurse liefern, treten in all diesen Fällen distanzierte ‚Fremdbeschreibungen‘, die ein beträchtliches Irritations- und Störpotenzial besitzen (können).2 Die Besonderheit ästhetischer Darstellungen liegt nun darin, dass sie sich bei ihren vielfältigen modelhaften Reproduktionen und utopischen Entwürfen gesellschaftlicher Verhältnisse semiotischer bzw. semantischer Mittel bedienen, die primär dem Bereich der Anschauung (Bilder, Metaphern, Töne etc.) zugehören. Diese Konzentration auf die Sphäre der Sinnlichkeit, die zu einer – zumindest partiellen – Entmachtung der Begriffe führt, schafft die nötigen Voraussetzungen, um die jeweils gewählten Gegenstände einem radikalen Prozess der Verdichtung und oft auch Verfremdung zu unterwerfen. Im Zuge ihrer spezifischen Reflexion menschlicher Beziehungsstrukturen und sozialer (Sub-)Systeme setzen sich Werke der bildenden Kunst, literarische Texte, Theateraufführungen und Performances im engeren Sinne – sei es implizit oder explizit – mit Normen und Werten3 auseinander, ohne die sich soziale Ordnung kaum herstellen und stabilisieren ließe, ohne die jedoch ebenso wenig eine faktisch bestehende Ordnung zu problematisieren wäre. Gerade jene künstlerischen Praktiken, die sich selbst als politisch begreifen und definieren, versuchen – mit ihren eigensinnigen Verfahren – ganz gezielt teils selbstverständlich gewordene und fest verankerte, teils angezweifelte oder bereits ins Wanken geratene gesellschaftliche Normen und Werte hinsichtlich ihrer Gültigkeit, die nicht auf formal-recht-

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liche Geltung reduzierbar ist, zu befragen. Politische Performance-Kunst erhebt sogar den Anspruch, vorhandene (durch Sanktionsdrohungen gestützte) Normen und Werte auch jenseits des theatralen Als-ob-Modus herauszufordern und ein Stück weit in politische (aber auch religiöse oder juristische) Prozesse einzugreifen, wie sich anhand der zeitgenössischen radikalen Performances des russischen Kollektivs Pussy Riot und des russischen Aktionisten Pjotr Pawlenskij zeigen lässt. Anders als durch Propaganda explizit in Dienst genommene, homogene, ‚glatte‘ Kunstwerke und -akte, die eine vorschriftsmäßige, normative Klarheit (so z.B. im sozialistischen Realismus) anstreben, zeichnen sich künstlerische Praktiken, die einen berechtigten Anspruch auf ästhetische Raffinesse und Innovation erheben, durch spielerische Tendenzen aus und erzeugen schillernde inhaltlich-formale Ambivalenzen. Solche Uneindeutigkeiten sind gerade im Hinblick auf Werte-Diskussionen mit ihren häufig zur Abstraktion tendierenden ‚raumfüllenden‘, ‚großen‘ Konzepten produktiv.

2. Die Punk-Andacht Bereits ein flüchtiger Blick auf den Punk Moleben (PunkGebet oder genauer übersetzt Punk-Gottesdienst, Punk-Andacht) „Bogoroditsa, devo, Putina progoni!“ („Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin!“) legt nahe, dass die berühmteste Protest-Aktion der regierungskritischen feministischen PunkGruppe Pussy Riot im Geflecht der sozialen Subsysteme angesiedelt ist. Mit Politik, Kunst und Religion entspringt ihre Skandal-Performance gleich mehreren gesellschaftlichen Systemen und verhandelt deren Werte-basierte Relationen und systeminterne Wert-Konflikte. Am 21. Februar 2012, während der russisch-orthodoxen Masleniza (der Butterwoche, die der westlichen Karnevalszeit entspricht und mit dem Sonntag der Vergebung ihr Ende findet), flitzten fünf junge Frauen auf den Ambo4 der

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traditionsbeladenen und symbolträchtigen Christ-Erlöser-Kathedrale5 in Moskau, um eine spöttische Punk-Andacht abzuhalten, die sich nicht nur gegen Wladimir Putin (damals zur Abwechslung als Premierminister tätig) und dessen eifrigen Unterstützer Patriarch Kyrill richten sollte, sondern zugleich politischen Protest mit religiöser Symbolik zu verbinden wagte. Nachdem die Aktivistinnen in Windeseile ihre Wintermäntel abgelegt und ihre Gesichter unter neonfarbenen, aus Skimützen gefertigten Maskenhauben verborgen hatten, versuchten sie in ihren karnevalesk-bunten, explizit mädchenhaft anmutenden Kleidchen und Strümpfen, die nun zum Vorschein kamen, ihr Spott-Gebet aufzuführen. Ungeschnittenes verwackeltes Videomaterial zeigt, wie vier der Aktivistinnen die für Pussy-Riot-Auftritte typischen punkig-schroffen Choreographien ansetzen und dazugehörige ‚Gesänge‘ (hier größtenteils hastiges chorisches Aufsagen bzw. Schreien) anstimmen. Während eine der Frauen mit ihrer bereits ausgepackten Elektrogitarre von Ordnungskräften festgehalten wird, führen vier andere – die Ikonostase wirkungsvoll im Rücken6 – mehr oder weniger synchron einige einstudierte Tanzbewegungen aus, fallen auf die Knie und bekreuzigen sich, bevor sie – nach nur wenigen Augenblicken von Sicherheitsleuten überwältigt – aus der Kirche geschleift werden. Vom einstudierten Text, den sie nicht komplett aufsagen können, sind lediglich einzelne Fetzen hörbar, wobei der kurze obszöne Ausruf „Scheiße, Scheiße, Scheiße Gottes“, der sich auf die unhaltbaren Verhältnisse in Kirche und Staat bezieht, in aller Deutlichkeit erklingt.7 Im anschließend sehr zügig veröffentlichten Videoclip8 – welcher erst den eigentlichen Medienskandal und die staatliche Verfolgung (ob nun in dieser oder in der umgekehrten Reihenfolge) nach sich gezogen hat – werden die in der Christ-Erlöser-Kathedrale entstandenen Aufnahmen mit zwei Tage zuvor gemachten Bildern der Pussy-Riot-Aktivistinnen aus einer anderen Moskauer Kathedrale kombiniert und mit einer neuen Tonspur versehen, die das vollständige Protest-Lied der Band enthält:

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Mutter Gottes, Du Jungfrau, jage doch Putin fort Jage doch Putin fort, jage doch Putin fort Priesterrock – schwarz, Schulterklappen – aus Gold Die Kirchengemeinde bringt kriechend den Sold Zum Gespenst im Himmel die Freiheit gemacht Gay Pride in Ketten nach Sibirien gebracht Der KGB-Oberst9 – ihr heiligster Mann – Liefert Protestierende zur U-Haft sodann Um Seine Heiligkeit nicht zu betrüben Müssen die Frauen gebären und lieben Scheiß, Scheiß, des Herrn Scheiße [4 x] Mutter Gottes, Du Jungfrau, werd’ Feministin Werd’ Feministin, werd’ Feministin 284 Kirchliches Loben verrotteter Führer Kreuz-Umzug aus schwarzen Limousinen Zu dir in die Schule kommt der Prediger bald Geh zum Unterricht rasch und versorg ihn mit Geld Patriarch Gundjaj glaubt fest an Putin Besser sollt’ der Hundsfott an Gott glauben Der Gürtel der Jungfrau ersetzt keine Meetings Mit uns bei Protesten – die Jungfrau Maria10 Scheiß, Scheiß, des Herrn Scheiße [4 x] Mutter Gottes, Du Jungfrau, jage doch Putin fort Jage doch Putin fort, jage doch Putin fort11

Umkämpfte Werte 3. Wider die politisch-religiöse Symbiose in der zeitgenössischen russischen Gesellschaft

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Mit ihrer Grenzüberschreitung, die sich zuallererst als ein physisches Eindringen in die Sphäre des Sakralen manifestiert, reagiert die Punk-Andacht auf eine andere Transgression, nämlich auf die verfassungswidrige Verschmelzung kirchlicher und staatlicher Strukturen. Die Performance liefert eine Antwort auf die politische Agitation des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, der öffentlichkeitswirksam für Putins dritte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation wirbt und friedliche Straßenproteste verurteilt. „[D]as von der byzantinischen Mutterkirche übernommene [und in der heutigen Zeit völlig überkommene] Ideal der Symphonie, d.h. einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche“12 fordern die Pussy-Riot-Frauen mit ihren musikalischen und textuellen Punk-Dissonanzen heraus. Diese stets weiter anschwellende, „[u]nheilige Allianz“13 soll wieder aufgebrochen werden; denn die verfassungswidrige Verschmelzung von Religion und Politik, gegen die sich die Performance richtet, untergräbt eine der zentralen Errungenschaften moderner säkularer Gesellschaften: die Trennung der Institutionen Kirche und Staat. Diese Kernschmelze beantwortet Pussy Riot mit einer ebenfalls hybriden Aktion, die nicht nur demonstrativen politischen Protest in künstlerische Ausdrucksformen kleidet, sondern sowohl religionskritische als auch glaubensbejahende Züge aufweist. Die System-triadische Anlage des Punk-Gebets verhandelt weitere Werte-Konflikte auf verschiedenen Ebenen: Im Text des Punk Moleben geht es um die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und um die staatliche Verfolgung Homosexueller – also um politische Fehlentwicklungen, die von der (nach außen) traditionell homophoben und obrigkeitshörigen Kirche forciert werden. Des Weiteren werden die von der Kirche – auch und gerade – jenseits ihrer Mauern propagierte konservative Einstellung Frauen gegenüber sowie die kirchliche Einmischung ins Bildungssystem kritisch thematisiert.

Lisa Wolfson 4. Anspielung auf innerreligiöse Werte-Konflikte

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Der mehrdeutig-hybride Charakter des Punk Moleben liegt bereits in der generellen politisch-künstlerischen Konzeption und medialen Dimension der Pussy-Riot-Performances begründet. Doch erst ihre vielfältigen inhaltlich-formalen Bezüge zur Religion verleihen der Punk-Andacht ein eigentümliches semantisches Schillern. Es handelt sich bei dieser medialisierten Performance um eine eigenwillige und provokante Stilisierung eines kirchlichen Rituals und somit um eine Stilisierung zweiten Grades, die ein aus festen Handlungsabläufen bestehendes religiöses Geschehen – zugleich parodistisch und ernsthaft – wiedergibt. Die textliche Ebene des Punk-Gebets und seine musikalische Umsetzung lassen nämlich keine eindeutige Lesart zu, sondern bilden eine Doppelhelix aus spöttischer Kritik und aufrichtigem Bittgesang. Die Musik spiegelt dabei die hybride Anlage des Textes wider: Derbe punkig vertonte Strophen wechseln sich ab mit dem melodischen Refrain, der eine übersinnliche weibliche Kraft-Gestalt anruft. Maria wird angefleht, in ein perverses politisches System einzugreifen, das Religion für seine Zwecke vereinnahmt und von dieser – gleichsam im Gegenzug – instrumentalisiert wird. Zudem wird sie gebeten, Feministin zu werden (um auf diese Weise für die Rechte der Frauen einzutreten).14 Die religiöse Komponente des Punk Moleben lenkt die Aufmerksamkeit auf die Werte-Konflikte innerhalb der Russisch-Orthodoxen Glaubensgemeinschaft. Dies geschieht zunächst einmal anhand der Strophen, die moralische Korruption und Geldgier der Kirchenmänner anprangern und implizit auf wahre christliche Werte wie Nächstenliebe und Bescheidenheit rekurrieren. Im Refrain scheint sodann eine authentische Frömmigkeit auf als Kontrast zur demonstrativ ausgestellten Religiosität. Doch auch und gerade der angerissenen Live-Performance fällt in diesem Kontext eine nicht zu unterschätzende Rolle zu, da sie die konservative patriarchale Welt der offiziellen Kirche mit karnevalesker Frauenpower konfrontiert und (nicht nur den Staat, sondern auch) die Kirche

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zu einer Reaktion ‚veranlasst‘, mit der sie sich letztlich selbst entlarvt: Fröhliche feministische Priesterinnen besetzen den Ambo und verspotten die Missstände, indem sie religiöse Symbole mit politischem Protest verknüpfen. Drei von ihnen – Nadeschda Tolokonnikowa (Nadja), Marija Aljochina (Mascha) und Jekaterina Samuzewitsch (Katja) – werden anschließend ihrer Anonymität beraubt, als die Staatsmacht ihrer habhaft wird. Von sehr vielen ihrer Landsleute gehasst oder verachtet – nicht zuletzt aufgrund der staatlich-kirchlichen Propagandakeule, die das Trio systematisch verteufelt und diskreditiert –, von wenigen in Russland bewundert und geliebt, avancieren diese Frauen für die einen zu Frevlerinnen, Hexen und Ausgeburten der Hölle. Die anderen erkennen in ihnen nicht nur mutige Künstlerinnen, sondern betrachten die inhaftierten Pussy-Riot-Frauen aus christlicher Perspektive als Sündenböcke des Regimes, die unverdient leiden müssen, als heilige Narren (Jurodiwye), die hemmungslos unbequeme Wahrheiten äußern oder gar als Märtyrer, die übermächtigen Gegnern unbeugsam trotzen.15

5. Eine (Post-)Performance vor Gericht Die sozialhistorischen Wurzeln des Pussy-Riot-Prozesses reichen in die Zeiten der ehemaligen UdSSR mit ihrem verschärften Vorgehen gegen Dissidenten und ihrem Misstrauen unangepassten Künstlern gegenüber. Zugleich schreibt sich die strafrechtliche Verfolgung in eine ganze Reihe von konventionell ‚moralisch’ und teils explizit religiös motivierten „Gerichtsprozesse[n] gegen Kunst, Künstler und Kuratoren in Russland nach der Perestroika“16 bzw. „seit der Jahrtausendwende“17 ein – wie im Falle der skandalisierten Moskauer Ausstellungen Vorsicht, Religion! (2003) und Verbotene Kunst 2006.18 Die Anklage warf dem Pussy-Riot-Trio „Hooliganismus [entspricht dem ‚Rowdytum‘ bzw. der ‚Störung der öffentlichen Ordnung‘] motiviert durch religiösen Hass und religiöse Feindseligkeit“ sowie „Feindseligkeit gegenüber einer sozialen Gruppe“, nämlich jener der orthodoxen Gläubigen vor. 2013 wurde in der Duma ein Gesetz verabschiedet bzw. verschärft, welches „die

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Gefühle von Gläubigen“ explizit schützt und ihre Verletzung unter eine erhebliche Strafe stellt. Doch als die jungen Frauen vor Gericht gestellt wurden, existierte dieser zusätzliche ‚Gummi-Paragraph‘ in dieser Form noch nicht. Sie selbst rechneten bei ihrer Aktion allenfalls mit einer Verurteilung zu den notorischen 15 Tagen Haft wegen eines Bagatelldeliktes.19 Zur Spezifik der zeitgenössischen politischen Aktionskunst gehören nicht nur kalkulierbare Risiken, sondern auch unberechenbare Konsequenzen, die zu Ausläufern des ursprünglichen künstlerischen Aktes gehören und als Post-Performance(s) charakterisiert werden können.20 Während des farcenhaften Showprozesses von höchster Theatralität entfaltete die post-performative Dimension des Punk Moleben ihre eigene faszinierende Wirkkraft, als die angeklagten Aktivistinnen aus ihrem von Hunden bewachten Glaskäfig heraus ihre politischen, ethischen und ästhetischen Positionen gegen den grotesken Widerstand der Gerichtsmaschinerie vorzubringen versuchten – stets ungebrochen und versehen mit philosophischen, kunstwissenschaftlichen sowie theologischen Erläuterungen.21 Während ein Wachmann und eine Kerzen-Hüterin der Christ-Erlöser-Kathedrale als Geschädigte in epischer Breite ihre anhaltenden „moralischen Leiden“22 schilderten, wurden Nadeschda, Marija und Jekaterina, die man um 5 Uhr morgens aus ihren Zellen holte und gegen Mitternacht zurückbrachte, angemessene Verhandlungspausen und Mahlzeiten systematisch verweigert23 – offenbar als Vorgeschmack auf die eklatanten Menschenrechtsverstöße, die Marija und Nadeschda in den Strafkolonien erleben sollten. Jekaterina wurde bei der Berufungsverhandlung nach monatelanger Untersuchungshaft auf Bewährung entlassen, weil ein Wachmann sie während der Live-Performance in der Kathedrale festgehalten hatte. Die Tatsache, dass die beiden anderen Aktivistinnen kleine Kinder hatten, wurde gesetzeswidrig nicht als ein mildernder Umstand berücksichtigt.24 Mit einer erstaunlichen Konsequenz lehnte die Richterin der ersten Instanz sämtliche Anträge der Verteidigung ab

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und ließ stattdessen – in einem säkularen Gerichtsverfahren, versteht sich – eine ausführliche Erörterung mittelalterlicher Kirchenrechtsbeschlüsse von Seiten der Anklage zu. Nicht nur die unbequemen Anwälte des Trios bekamen keine Gelegenheit für eine angemessene Kommunikation mit dem Gericht; seit Beginn des Prozesses und bis zur rechtlich gesicherten Möglichkeit, ihr Schlusswort zu sprechen, wurden auch die eloquenten Frauen aufgrund ihrer politischen Statements immer wieder mit Redeverbot belegt. Jegliche Erläuterungen der Aktion und Einwände gegen die Anklage wurden schlicht ignoriert, der politische Kontext des Punk Moleben negiert. Im Sommer 2018 wurde der 2013 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereichten Klage der drei Aktivistinnen entsprochen.25 Hier sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Putin selbst (am 7. Oktober 2012 in einem Interview anlässlich seines 60. Geburtstags) die Inhaftierung der Aktivistinnen und das erfolgte Gerichtsurteil der vermeintlich unabhängigen russischen Justiz während der laufenden Berufungsverhandlung lobend kommentiert und eine öffentliche Empfehlung zur Aufrechterhaltung des Strafmaßes abgegeben hat: „[…] das Gericht verpasste ihnen eine Dwuschetschka. Sie wollten es und sie haben es gekriegt. Ich habe nichts damit zu tun.“26 In dieser Aussage taucht eine bemerkenswerte sprachliche Neuschöpfung für zwei Jahre Gefängnis auf, die Putin in Anlehnung an zärtlich-zynische Begriffs-Verniedlichungen und -Euphemismen des (von ihm bekanntlich auch bei anderen Gelegenheiten gerne verwendeten) Unterwelt-Jargons geprägt hat. Die nicht übersetzbare Dwuschetschka (sinngemäß: ‚zwei Jährchen‘) ist in Russland zu einem geflügelten Wort avanciert, das im Kontext rechtlicher Fragen je nach politischer Einstellung entweder als ein humorvoll konnotierter und zugleich adäquater Ausdruck Gebrauch findet oder aber mit bitterer Ironie aufgegriffen wird.27 Anhand der juristischen Folgen des Punk Moleben wird eine weitere, wahrlich fatale System-Entgrenzung erkennbar: Ohne jedwede Hemmung zeigt das Recht, wie es seine

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Eigenständigkeit ans politisch-religiöses Interessengemenge abtritt. In dieser doppelten Indienstnahme und dreifachen Verschmelzung28 kommen zentrale juristische Werte demokratischer Gesellschaften wie Unabhängigkeit der Gerichte, Wahrung der Menschenrechte (Schutz vor Diskriminierung, Folterverbot) während des Prozesses, in Untersuchungshaft und beim eventuellen Verbüßen der Haftstrafe abhanden.

6. Werte der Kunst

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Während die Freiheit der Kunst (als eines im Zuge der funktionalen Differenzierung entstandenen eigenständigen Subsystems) neben der Trennung von Kirche und Staat einen weiteren zentralen Wert für die modernen Gesellschaften westlicher Prägung bildet, ist die strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung des Pussy-Riot-Trios Teil einer beunruhigenden Entwicklung zur Einschränkung der Kunstfreiheit. Die Punk-Andacht (samt ihren leiblich-medialen Komponenten: Live-Performance, Video, Text, Musik, Videoclip sowie Post-Performance vor Gericht und im Gefängnis) vollzieht sich nicht lediglich als eine künstlerisch-politische Handlung von einem bestimmten Eigenwert, indem sie mit ästhetischen Mitteln die kirchlich-staatliche Symbiose veranschaulicht und (als eine Art Lackmustest) herausfordert. Sie entlarvt ‚nebenbei‘ die Erosion des Rechts und provoziert ebenfalls philosophische Fragen nach der Definition wie auch nach der ethischen und ästhetischen Dimension der Kunst – Was ist Kunst? Was macht ihren Wert aus? Wie weit darf sie gehen? – und offenbart eine ganze Reihe Kunst-bezogener gesellschaftlicher Werte-Konflikte: Erstens handelt es sich um die ästhetische Herausforderung in der Praxis der zeitgenössischen Kunst per se, die selbst im 21. Jahrhundert gegenüber ‚gewöhnlichen‘ Rezipienten und staatlichen Institutionen (etwa Gerichten) nicht als Kunst gilt. So wird Pussy Riot vorgeworfen, dass ihre Aktion in der Kathedrale keine Kunst sei. Weil sie nicht schön (harmonisch, traditionell, allgemein anerkannt, seicht, patriotisch) ist und aus dem Rahmen (des Museums, des Theaters

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oder schlicht der Konvention) fällt, erhält zeitgenössische Aktionskunst lediglich den Status einer sogenannten Kunst – wie im Pussy-Riot-Prozess explizit geschehen.29 An zweiter Stelle wäre die ästhetisch-ethische Herausforderung der radikalen modernen Performance- bzw. Aktionskunst angesiedelt, der in Russland gerne auch in alltäglichen Diskussionen vorgehalten wird, dass Kunst eben nur innerhalb ihres institutionellen Settings existieren dürfe. Dieses wird durch Politik, Recht, Religion, aber auch durch konventionelle bürgerliche Moral festgelegt (die nicht unbedingt mit der offiziell-religiösen kirchlichen identisch ist). Während harte PussyRiot-Kontrahenten aus dem Lager der empörten Gläubigen über die angebliche (kirchlichen Regeln zufolge keinesfalls zutreffenden) Entweihung der Kathedrale30 lamentierten und die angebliche Verletzung religiöser Gefühle mit physischer Verwundung gleichsetzten, argumentierten zahlreiche anderen Kritiker der Skandal-Performance, dass sie zwar weder der Russisch-Orthodoxen Kirche angehören noch überhaupt religiös seien, aber so etwas in einer Kirche nicht billigen könnten. Der dritte Werte-Konflikt an dieser Stelle betrifft die (nicht nur innerhalb der russischen Gesellschaft) problemlos akzeptierte Okkupation der Kunst durch (machtvolle) politische, religiöse und ökonomische Strukturen. Die Auseinandersetzung um Pussy Riot in Russland verdeutlicht, dass ihre Gegner die potentiellen Verbindungslinien zwischen politischem Protest und authentischer Volksfrömmigkeit (die im Kontrast zur offiziellen Kirche steht) genauso wenig nachvollziehen können wie die Zusammenführung von politischem Widerstand mit christlich-orthodoxen Symbolen31 innerhalb avantgardistischer ästhetischer Experimente, die sie schon gar nicht als Kunst begreifen können oder wollen. Dass Letztere in ihren konventionelle(re)n, ‚zahmen‘ Ausdrucksformen von Politik (Staat) und/ oder Wirtschaft (Markt) in Dienst genommen wird, kümmert die bigotten Moralisten hingegen wenig. Der Philosoph und Kunsttheoretiker Boris Groys erläutert den künstlerischen Wert des Punk Moleben und die gesellschaftliche Rolle der Kunst wie folgt: Bereits seit der

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Renaissance thematisiert und verhandelt europäische Kunst die Grenze zwischen Sakralem und Profanem, zwischen Normativem und Nicht-Normativem, Anerkanntem und Nicht-Anerkanntem, sozial Akzeptiertem und Ausgeschlossenem. Künstlerische Empirie erforscht gesellschaftlich vorherrschende Werte und semantische Hierarchien. Sie untersucht kulturelle Grenzen, indem sie diese verletzt, und thematisiert kulturelle Normen, indem sie diese nicht befolgt. Aber die Besonderheit der künstlerischen Geste liegt darin, dass sie die Konventionalität, die soziale Bedingtheit gesellschaftlicher Werte-Grenzen und -Hierarchien vorführt, ohne sie jedoch für ungültig zu erklären. Deswegen hat auch Pussy Riot keine reale, durch Eigentumsrecht garantierte Grenze verletzt, sondern lediglich eine symbolische Grenze zwischen dem Sakralen und dem Profanen überschritten: Die Aktivistinnen haben bloß die Expansion des Profanen in die sakrale Sphäre verwirklicht – als Reaktion auf das Eindringen des Sakralen in die profane Sphäre seitens der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die Verletzung vorherrschender symbolischer Normen, Werte-Hierarchien und kultureller Grenzen macht für Groys die Punk-Andacht zu einem gelungenen ästhetischen Akt, der am Puls der Zeit operiert. Seit dem 20. Jahrhundert versucht moderne Kunst die Aufmerksamkeit der Betrachter vom Text auf den Kontext, vom Objekt (einem Kunstwerk im Museum, einem Drama auf der Theaterbühne etc.) auf die soziale Situation der Rezipienten zu lenken. Deshalb mussten die Aktivistinnen ihre Punk-Andacht in der mächtigen Christ-Erlöser-Kathedrale abhalten und nicht irgendwo im öffentlichen Raum. Gerade aufgrund der mehrheitlich heftigen negativen Reaktionen innerhalb der russischen Gesellschaft (Ablehnung, Hass, Unverständnis, Verachtung) liest Groys die Punk-Andacht als eine wirkmächtige „soziale Plastik“ im Sinne von Joseph Beuys; denn die Konflikte zwischen Befürwortern und Gegnern von Pussy Riot, ihre Diskussionen, Interpretationen, Kommentare und Handlungen lassen ideologisch konfigurierte gesellschaftliche Spaltungen zum Vorschein kommen und verleihen dem sozialen Konglomerat Form und Struktur.32

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Zur Unterscheidung und Bestimmung von Interaktionen unter Anwesenden und sozialen Funktionssystemen siehe Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997; André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a. M. 1999. Vgl. André Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung, Frankfurt a. M. 2000. Zu den verschiedenartigen Funktionen von Normen und Werten siehe den Beitrag von Ellrich/Wolfson in diesem Band. Dessen Betreten geschieht gewöhnlich nur nach priesterlicher Genehmigung und soll angeblich (diese Regel ist umstritten) nur Männern vorbehalten sein. Zur Geschichte und Semantik dieses Sakralbaus sowie zur profanen geschäftlichen Tätigkeit auf dem Gelände vgl. etwa Jan Matti Dollbaum: Christ-Erlöser-Kathedrale, in: Дekoder. Russland entschlüsseln, http://www.dekoder.org/de/gnose/christ-erloeser-kathedrale (2.1.2018). Die offiziellen Bilder von Putin und Medwedjew – Kerzen haltend und sich rege bekreuzigend – stammen just von dort. Dies widerspricht ebenfalls den kirchlichen Regeln, die eine Zuwendung zu den heiligen Bildnissen verlangen. Vgl. Radio Swoboda [Radio Freiheit]: Оригинальная запись выступления Pussy Riot в ХХС [Originalaufzeichnung des Auftritts von Pussy Riot in der CHEK (Christ-Erlöser-Kathedrale)], in: YouTube (seit 5.6.2012), https://www.youtube.com/watch?v=FoJqzGG7u_k (26.2.2017). Der Clip ist – seit dem Skandal auch englisch untertitelt – im Netz zugänglich. Gemeint ist Putin. Beim erwähnten Gürtel handelt es sich um die damals ausgestellte und beworbene Reliquie. Das ursprünglich englische Wort „miting“, das die Pussy-Riot-Autorinnen wählen (es korrespondiert mit „Putin“ in Form von „Putina“/„mitingow“), wird im Russischen traditionell für „Versammlung“, „Kundgebung“ und „Demonstration“ verwendet. Anders als die wörtlichen Übersetzungen orientiert sich meine Übertragung nicht nur am politischen und kulturellen Gehalt, sondern auch an der ästhetischen Form der Verse. Diese Übersetzung beruht auf der eingesungenen Version, die von der ersten Liedtext-Veröffentlichung im Netz geringfügig abweicht. Ulrike Huhn: Russisch-Orthodoxe Kirche, in: Дekoder. Russland entschlüsseln, http://www.dekoder.org/de/gnose/russisch-orthodoxekirche (2.1.2018). Elke Windisch: Meinung: Unheilige Allianz, in: Der Tagesspiegel vom 12.5.2002, http://www.tagesspiegel.de/meinung/unheilige-allianz/ 311814.html (6.1.2018). Hier findet der Ausdruck zur Charakterisierung der ‚modernen‘ Verschmelzung von Putins Staatlichkeit mit der Russisch-Orthodoxen Kirche (neben der Feststellung, dass beide „[w]ie siamesische Zwillinge“ auftreten) bereits 2002 im Kontext des Zweiten

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Tschetschenienkrieges Verwendung. Seit der Pussy-Riot-Affäre lässt sich die Formulierung „unheilige Allianz“ (bezogen auf Staat und Kirche in Russland) immer wieder in der deutschsprachigen Presse nachlesen. Doch auch der Refrain selbst bleibt ambivalent: Je nach Interpretation offenbart er sich als ein authentisches Flehen oder als eine (zumindest teilweise) ironisch anmutende Anrufung höherer Mächte in politischen Angelegenheiten, die nur durch die Menschen selbst (ihr Engagement, ihren Protest) verändert werden können. Der Refrain des Liedes, ja die gesamte Punk-Andacht offeriert mehrere Lesarten zugleich und verweigert sich einer eindeutigen Festlegung. Die Aktivistinnen werden von manchen Beobachtern mit Martin Luther als Reformator einer korrumpierten Religion verglichen und mit Jesus, der die Händler aus dem Tempelbezirk vertrieb. Bei seiner ersten künstlerischen Protest-Aktion Naht, die im Laufe des ersten PussyRiot-Verfahrens als Unterstützung für die inhaftierten Punkerinnen entstand, bezieht sich Pjotr Pawlenskij explizit auf die entsprechende Stelle des Neuen Testaments. Der Künstler postiert sich mit zusammengenähten Lippen vor die Kasaner Kathedrale in St. Petersburg und hält ein Erläuterungstransparent hoch, demzufolge Pussy Riot die berühmte Aktion Christi wiederaufgeführt hätten. Sandra Frimmel: Kunsturteile. Gerichtsprozesse gegen Kunst, Künstler und Kuratoren in Russland nach der Perestroika, Wien/Köln/Weimar 2015. So die präzisierte Zeitangabe im Klappentext zu Frimmels Buch, die just mit dem Beginn der Putin-Ära zusammenfällt. Vgl. Frimmel, Kunsturteile. Zu den juristischen Voraussetzungen für die Anklage siehe Caroline von Gall: Vorerst gescheitert: „Pussy Riot“ und der Rechtsstaat in Russland, in: Bundeszentrale für politische Bildung. Dossier Russland. Analyse vom 6.11.2012, http://www.bpb.de/internationales/ europa/russland/148165/analyse-pussy-riot-und-der-rechtsstaatin-russland?p=all (5.1.2018). Für Pawlenskij bilden gerade diese post-performativen Entwicklungen die eigentliche künstlerische Aktion. Siehe auch das Reenactment des Verfahrens in Milo Raus dokumentarischem Film „Die Moskauer Prozesse“ von 2014. Vgl. dazu Christina Schmidt: Reenactment impossible. Die Moskauer Prozesse von Milo Rau, in: Milena Cairo u.a. (Hrsg.): Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2016, S. 477–490. So und ähnlich der genaue Wortlaut im Prozess (auf Russisch „moralnye stradanija“). Vgl. etwa den Bericht der Anwältin: Rusreporter [Russkij Reportjor]: Свидетельский театр: о суде над группой „Pussy Riot“ [Augenzeugentheater: von der Gerichtsverhandlung der Band „Pussy Riot“], R: Mikhail Ugarow/Warwara Fajer. Aufgeführt und aufgezeichnet im

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Teatr.doc, Moskau am 27.8.2012, in: YouTube (seit 30.8.2012), https://www.youtube.com/watch?v=r9LL2E5lyFo (22.10.2016), TC 1:17:25–1:19:47; siehe auch Anonymus: Klage in Straßburg: PussyRiot-Sängerin kämpft für Band-Kolleginnen, in: Die Welt vom 19.10.2012, https://www.welt.de/politik/ausland/article110059262/ Pussy-Riot-Saengerin-kaempft-fuer-Band-Kolleginnen.html (2.1.2018). Julia Smirnova: Berufung abgelehnt: „Es gibt keine Spaltung bei Pussy Riot“, in: Die Welt vom 10.10.2012, https://www.welt.de/politik/ausland/article109747638/Es-gibt-keine-Spaltung-bei-Pussy-Riot.html (2.1.2018). Anonymus: Urteil des EGMR: Russland muss „Pussy Riot“ entschädigen, in: Die Tagesschau vom 17.6.2018, https://www.tagesschau.de/ ausland/pussy-riot-111.html (17.7.2018). Vgl. Anonymus: Защита Pussy Riot обвинила Путина в давлении на суд [Die Verteidigung von Pussy Riot beschuldigte Putin der Druckausübung auf das Gericht], in: Lenta.ru vom 8.10.2012, https://lenta.ru/news/2012/10/08/dvushechka (3.1.2018). Zur Etymologie: „Dwa“ heißt auf Russisch „zwei“, „dwuschka“ bedeutete umgangssprachlich eine sowjetische Zwei-Kopeken-Münze, zudem wird damit heute noch eine Zweizimmerwohnung umschrieben, mit „trjoschka“ – von „tri“, also „drei“ – bezeichnete der Volksmund in der UdSSR familiär einen Drei-Rubel-Schein, „trojak“ steht darüber hinaus für eine dreijährige Gefängnisstrafe. Von welcher das Recht – anders als Politik und Religion – keinesfalls profitiert. Vgl. Marija Aljochinas Schlusswort vor Gericht am 8.8.2012, in: Maria Alyokhina, Yekaterina Samutsevich, Nadezhda Tolokonnikova: Pussy Riot Closing Statements, in: n+1 Magazine. Online Only vom 13.8.2012, https://nplusonemag.com/online-only/online-only/pussy-riot-closingstatements (26.6.2017). Dass hierfür ein gewaltsames Blutvergießen von Nöten wäre, lassen die Hetzer außer Acht (vgl. etwa TV Rain: Человек под Дождем: Павел Адельгейм [Mensch im Regen: Pawel Adelgejm] (Erstausstrahlung am 14.10.2012), in: Архив. Священник Павел Адельгейм о Pussy Riot, РПЦ и борьбе за права [Archiv. Priester Pawel Adelgejm über Pussy Riot, die ROK (Russisch-Orthodoxe Kirche) und den Kampf um Rechte], https:// tvrain.ru/teleshow/interview/svjaschennik_pavel_adelgejm_o_pussy_ riot_rpts_i_bo-331600 (1.2.2017); frei zugänglich auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=DFzO6KSA1vY (27.2.2017), TC 00:08:56–00:09:20). Im Übrigen hielt sogar der gekränkte Patriarch eine erneute Weihe der Kathedrale nicht für erforderlich. Vgl. Samuzewitschs Schlusswort vor Gericht. Vgl. Boris Groys: Акция Pussy Riot как социальная скульптура [Die Pussy-Riot-Aktion als soziale Skulptur], 2012, in: Открытый университет [Öffentliche Universität], https://openuni.io/course/1/ lesson/14/material/150 (20.3.2019).

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Die Tage von Jeanne Dielman sind aufs Genaueste getaktet. Jeder Handgriff sitzt, sei es beim Spülen des Geschirrs, beim Kochen oder beim Glattstreifen des Leintuchs. Die Regisseurin Chantal Akerman gewährt uns gemeinsam mit der Kamerafrau Babette Mangolte viel Zeit, den Handlungen von Jeanne Dielman zu folgen. „Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ hat Akerman fünfundzwanzigjährig im Jahr 1975 gedreht. Der Film erzählt über die Dauer von mehr als drei Stunden die Geschichte einer jungen Witwe, die mit ihrem adoleszenten Sohn zusammenlebt. Ihr Geld verdient sie mit Prostitution, die sie mit der gleichen Nüchternheit vollzieht wie die alltäglichen Gesten der Ordnung. Ihre Freier empfängt sie zu Hause, in der Wohnung im Haus 23 der Rue de Commerce. Der Straßenname wird zu einem Synonym für das Private, das im Öffentlichen aufgeht, oder vom Leben, vom Bios, das von Ökonomie und Politik durchdrungen ist. Wir Zuschauer_innen haben Zeit zuzusehen, wenn Jeanne Dielman sich Zeit nimmt, um ein Pfund Hackfleisch mit einem Ei zu vermengen, um Kaffee zu kochen, ihren Sohn bei seinen Schulaufgaben abzufragen oder seine Schuhe zu putzen. Wir sehen beim Aufknöpfen des Hausmantels nach getaner Arbeit im Haushalt und beim Zuknöpfen der Bluse nach getaner Dienstleistung als Prostituierte zu. Jeanne Dielmans Tagesordnung bekommt einen Riss, als sie eines Tages eine Stunde zu früh aufsteht. Die täglichen Riten geraten durcheinander, Jeanne Dielman hat plötzlich Zeit, sie muss warten, bis der Laden öffnet, warten bis der Freier kommt. Warten und Denken. Der Film endet mit einem Mord. Es ist der künstlerischen Qualität und Komplexität der Filme von Chantal Akerman geschuldet, dass sich keine einfachen geraden Schlüsse ziehen lassen, dass wie bei Jeanne Dielman Opferstatus und Täterschaft verschwimmen. Akerman zeichnet vielmehr über weite Strecken des Films eine, so scheint es zunächst, völlig leidenschaftslose Frau. Monoton, ruhig und nahezu mechanisch schreiben sich die Bewegungen der Protagonistin fort. Bis zu dem Moment der Krise, dem Wendepunkt, die in der Ermordung des Freiers kulminiert.

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In diesem irrationalen Mord blitzt ein Moment des Gefühls, oder besser des Affekts, auf, wie wir ihn während des ganzen Films nicht sehen. Die deutliche Spaltung von Affekt und Verstand, wie sie Akerman vorführt, beschreibt Hannah Arendt als eine Folge einer Weltlosigkeit, die mit der Neuzeit eingesetzt habe und in der die Unberechenbarkeit von Begierden, Gefühlen und Ängsten dem rational-rechnerischen Verstand gegenüberstünde – eine Spaltung, die das Innere des Menschen zerreißen würde, so Arendt. Nicht den Menschen, und nicht den gesellschaftlichen Menschen sieht Arendt in dieser Spaltung von Subjekt und Objekt, sondern den vergesellschafteten Menschen, dem sie nach der Klassengesellschaft eine klassenlose Gesellschaft prophezeite. Akermans Film spielt im kleinbürgerlichen Milieu, also in einer traditionellen Klassengesellschaft, in der soziale Unterschiede kenntlich gemacht werden. Der Ort der Handlung ist eine Wohnung, deren penetrante Aufgeräumtheit alle Zeichen einer festen sozialen Ordnung beinhaltet, jedoch nicht ohne Hinweis auf ein anderes Leben. Eine zentrale Rolle spielt etwa eine barockisierte Suppenterrine, in der Jeanne Dielman das Geld aufbewahrt, das sie von ihren Freiern erhält. Die zweckentfremdete Suppenterrine steht also nicht für ein aktives gesellschaftliches Leben in Wohlstand mit den Ritualen der Gastfreundschaft, sondern für dessen Imagination als Platzhalter für ein nicht gelebtes Leben. Um die Figur der Jeanne Dielman in ihrer Brüchigkeit zwischen Trauer, Hoffnung, Resignation und Emanzipation sichtbar zu machen, hat Chantal Akerman eine Gegenbesetzung vorgenommen und die Hauptrolle mit Delphine Seyrig, einer Grande Dame, wie sie sie nennt, besetzt. Seyrig ist mit Rollen in dem Film „Abschied aus Marienbad“ oder Bunuels „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ bekannt geworden und verleiht Jeanne mit ihrer Eleganz und ihrem präzisen Spiel eine besondere Kraft. Nicht nur das perfekte Äußere der Figur und deren bestimmte und exakte Handlungen, sondern auch die Ruhe und

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Konzentration, mit der Jeanne Dielman ihre Arbeiten ausführt, sind bestechend. „I made this film to give all these actions that are typically devalued a life on film“1, sagt Chantal Akerman in einem Interview und betont den rituellen Charakter, der dem Putzen, Waschen, Kochen, Einkaufen innewohnt. Akerman erzählt von ihrer jüdischen Familie, in der Rituale im Alltag einen großen Stellenwert eingenommen haben, und die in ihrer Stetigkeit etwas Friedliches an sich hätten. Das friedliche Moment der Wiederholung, der Sicherheit, der Wiederkehr des Immergleichen zerbricht freilich am Verkauf des Fleisches, des eigenen Körpers, dem sich Jeanne Dielman auf starre und monotone Weise aussetzt. Und dennoch ist es ein Film über den Wert der Arbeit. Auf einem ersten Höhepunkt feministischer Kritik und Emanzipation in der Mitte der 1970er-Jahre verleiht Chantal Akerman nun der Hausarbeit, die wie sie sagt, „typically devalued“ ist, ein Stück Würde in der Widersprüchlichkeit und Spannung zwischen entwerteter, entfremdeter Arbeit einerseits und werter und würdevoller Arbeit andererseits. Akerman setzt dabei auf die Form, auf eine Form als Wert. So beschreibt etwa die Zubereitung von Fleisch im Film das Verhältnis zum eigenen und zum anderen Körper auf gewalttätige, monströse, beharrliche und erotische Weise gleichermaßen. Die Form des Wertes liegt dabei in der ästhetischen genauso wie in der politischen und ökonomischen Dimension der Form. Die Gemengelage aus Ekel und Sorgfalt, mit der Jeanne Dielman das Fleisch bearbeitet, bildet die ökonomischen Abhängigkeiten ab, denen sie ausgesetzt ist. Ihr Tun ist kein Handeln mehr, würde Hannah Arendt sagen. In der mechanischen Wiederholung verliert sich das Selbst. Das Tun formt sich zum Prozess, argumentiert Arendt, wenn etwa das Denken zu einer Gehirnfunktion degradiert wird, welche aber „die elektronischen Rechenmaschinen erheblich besser, schneller und reibungsloser vollziehen als das menschliche Gehirn“2. Die besondere Qualität von Chantal Akermans Film liegt jedoch darin, dass sie aus der Schilderung des automatisierten Tuns nicht den Schluss zieht, die Arbeit selbst zu entwerten,

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sondern vielmehr die Bedingungen, die auf die Arbeit einwirken, zu adressieren. Diese Bedingungen formieren sich hier in erster Linie aus dem Verhältnis der Geschlechter zueinander, das sich in den Körpern ebenso widerspiegelt wie im Stellenwert der Arbeit. Die übliche Trennung der Geschlechter findet ihren Ausdruck nicht zuletzt in der Trennung oder Zuordnung von Arbeitsformen, wie sie, nur wenig abgeschwächt, auch heute noch in vielen Gesellschaften eine hegemoniale Stellung einnimmt, wenn, um es zuzuspitzen, Frauen Hausarbeit und Männer Erwerbsarbeit verrichten oder Frauen auch dann, wenn sie erwerbstätig sind, für die Hausarbeit zuständig sind. Hannah Arendt beschreibt im letzten Kapitel der „Vita activa“ die Dynamik, die aus dem Handeln ein Tun macht, und aus der gestaltenden Lebenskraft eine Naturkraft, die vielen unhintergehbar und sogar unkritisierbar erscheint, und auf die in konservativen Geschlechtervorstellungen immer wieder rekurriert wird. Diese Transformation von der Lebenskraft in die Naturkraft ist in zweifacher Hinsicht problematisch – so gerät die Autonomie des Subjekts, die über die eigenen Handlungen entscheiden kann, ins Hintertreffen, und die als Naturkraft empfundene Ordnung erhöht den Druck und fordert das Subjekt dazu auf, sich dem Schicksal zu fügen. An der Hausarbeit tritt diese polarisierte Trennung der Arbeitsform besonders deutlich zutage. Hinzu kommt, dass selbst in reflektierten Analysen tradierter Geschlechterrollen an Arbeiten wie dem Putzen, der Pflege, dem Waschen und Bügeln der Wäsche zwar die geschlechtsspezifische Aufteilung kritisiert wird, dass aber diese Arbeiten am besten ausgelagert oder unsichtbar gemacht werden, um tradierte Ordnungen zu vermeiden – sprich, eine emanzipierte Form der Hausarbeit ist keine Hausarbeit. Eine Folge dieser eindimensionalen Kritik ist eine noch größere Entwertung der Arbeit und eine Verschiebung zu noch mehr Ungleichheit und Würdelosigkeit. Auch der junge französische Schriftsteller Edouard Louis, der in seinem aktuellen Buch „Wer hat meinen Vater umgebracht“ zurecht die politischen Verhältnisse kritisiert, die aus seinem Vater einen alkoholkranken, groben

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und gewalttätigen Kerl gemacht haben, beschreibt das Kehren der Straße, das Buckeln, um den Dreck anderer aufzuheben, als Demütigung und schreibt damit die Entwertung der Arbeit fort. Die amerikanische Schriftstellerin Lucia Berlin hat für diesen Konflikt um den Wert der Arbeit eine andere Form gefunden. Aus dem Tun ein Handeln zu machen, stellt für Lucia Berlin eine Möglichkeit dar, sich Arbeit in emanzipierter Form anzueignen. In ihrem „Manual For Cleaning Women“, einer Sammlung von Kurzgeschichten, die 2015 etwas mehr als zehn Jahre nach ihrem Tod erschienen ist, beschreibt Berlin, die selbst viele Jahre als Putzfrau und Krankenpflegerin gearbeitet hat, um ihre vier Söhne durchzubringen, nachdem ihr alkoholkranker Mann gestorben war, nicht die Arbeit als entwürdigend, sondern setzt mit ihrer Kritik vielmehr an den sozialen Beziehungen zwischen denjenigen, die Dienste leisten, und denen, die Dienste empfangen, an. Lucia Berlin schreibt vom beruhigenden Geräusch des Staubsaugers und von der wärmenden Sonne im Rücken beim Putzen der Fenster, sie schreibt aber auch von den Strategien der Demütigung, die hierarchische Verhältnisse herstellen und aufrechterhalten, nicht zuletzt um dem eigenen Status einen Wert zu verleihen. Und genauso schreibt Lucia Berlin über Betrügereien, Vertrauensmissbrauch und fragwürdige Tricks, die einander zugemutet werden, und lotet damit die soziale Dimension in der Frage des Arbeitswertes aus. Helmut Draxler fragt in seinem kurzen Statement zur Konferenz „Value, Art, Form“, wie soziale Werte überhaupt verhandelt werden können: „How can my values be yours, and yours be mine?“ Lucia Berlins Antwort auf diese Frage wäre wahrscheinlich die des Schreibens – des Schreibens als aktive Handlung und Verhandlung von Werten, Beziehungen und Machtverhältnissen von Teilhabe, Zugang und Anerkennung. Ganz im Sinne von Bertolt Brecht war Lucia Berlin eine lesende Arbeiterin, die sich im Schreiben leidenschaftlich auf menschliche Schwächen einließ, und damit die Arbeit am Leben3 nicht nur hinterfragte, sondern als „Transformation und nicht als Verzerrung der Wahrheit“4 begriff.

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Zur Allegorie wird die Transformation der Arbeit bei Jeff Wall in der großformatigen Fotografie „Morning Cleaning“ aus dem Jahr 1999. In den frühen Morgenstunden arbeitete Jeff Wall zusammen mit der Putzkraft, die den Auftrag hatte, den „Barcelona-Pavillon“ von Mies van der Rohe zu reinigen, an der fotografischen Aufnahme, beteiligte also die Putzkraft an der künstlerischen Produktion. Der deutsche Pavillon der Weltausstellung von 1929 ist heute, in seiner Rekonstruktion aus dem Jahr 1980, zugänglich für die Öffentlichkeit und gilt als Touristenattraktion. Für Jeff Wall war zum einen der dokumentarische Charakter der Fotografie von Bedeutung, um die Rolle der Dienstleistung im Verhältnis zum Massenpublikum sichtbar zu machen. Zum anderen hob er mit seiner Arbeit auf die spezifische Vorstellung der Moderne ab, Unordnung unsichtbar zu machen. Glas und hochpolierter Onyx, schwarze Teppichflächen und weiße Ledersessel vermitteln allesamt eine sensible Materialität, die fast verletzbar wirkt und darüber hinaus einer besonderen Pflege bedarf. Der männlichen Putzkraft gewährt Jeff Wall hier einen besonderen Auftritt. Im ästhetischen Spiel mit dem Morgenlicht, den Schaumschlieren auf den Glasscheiben, die mit der Maserung des Marmor korrelieren, und der verdichteten, fast kontemplativen Stimmung, die Jeff Wall im Bild herzustellen vermag, verleiht er dem Mann nicht nur eine bemerkenswerte Präsenz, die mit Georg Kolbes Skulptur einer weiblichen Figur mit dem Titel „Morgen“ im Außenbereich des Pavillons in Beziehung steht, er nimmt auch jegliche Hektik und Mühsal aus dem Bild. Jeff Wall gibt damit der Arbeit eine Form, die sich als Produkt von Zeit und Leben darstellen lässt. In einer durch und durch ökonomisierten Welt, in der Leistung aus dem Quotienten von Arbeit und Zeit errechnet wird, in der es um die Reduktion der Zeit im Verhältnis zur aufgewendeten Energie und um die Austauschbarkeit und Mensch und Maschine geht, scheint es angebracht, einem Wert der Arbeit das Wort zu reden, der sich am Leben und an der Gestaltungskraft des Einzelnen in seiner Beziehung zur Gesellschaft orientiert: Live, Work, Pose.5

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Endnoten

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1 https://youtu.be/shBTcqIV7Ks, gesehen am 22.3.2019. 2 Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Serie Piper, München 2005, S. 410. 3 „Arbeit am Leben. Das gespenstische Soziale des Kinos“ war der Titel einer Tagung, die Helmut Draxler 2003 für den Grazer Kunstverein konzipiert hat. 4 Lucia Berlin, A Manual For Cleaning Women, Selected Stories, ed. by Stephen Emerson, Picador, New York 2015, S. XIX. 5 „Live, Work, Pose“ ist der Titel einer Netflix-Serie, die 2018 erstmals ausgestrahlt wurde, und in der die Ausschlussstrategien aus Arbeit und Gesellschaft für People of Color verhandelt werden.

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1 Das Zeitalter der Biomacht

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Leben wir in einer Zeit, in der alle westlichen Werte zerfallen? Ist unsere Gesellschaft mit dem Ende der Metaphysik konfrontiert? Worin wird diese entfesselte Form des Kapitalismus, der zur dramatischen Schere zwischen Armen und Reichen innerhalb eines Landes und zwischen Ländern der nördlichen und südlichen Hemisphäre führt, am Ende noch gipfeln? Eines jedenfalls ist sicher: Wir befinden uns im Zeitalter der Biomacht, in der es um Effizienz, Rationalismus und Produktion geht. Doch was für Konsequenzen hat diese Tatsache für unsere Gesellschaft? Das Wort „Biomacht“ leitet sich von „bios“ ab, einem Begriff, der aus dem Griechischen stammt und übersetzt so viel wie „leben“ meint. Aber was genau bedeutet „leben“? Für die einen fängt Politik an, wo Leben aufhört, für die anderen wiederum ist es genau umgekehrt: Politik hat an sich schon mit Leben zu tun. Die Definition des Begriffes „Biomacht“ ist jedenfalls nicht wertfrei, sondern immer konflikthaft. Es handelt sich bei „Biopolitik“ um ein theoriepolitisches Feld, in dem gearbeitet wird, und um keinen objektiven Forschungsgegenstand. Wie lässt sich nun aber dieser Begriff deuten? Die Frage ist immer, auf welchen Wortteil der Akzent gelegt wird. Ist es das Leben oder ist es die Politik, was soll hier betont werden? So schälen sich zwei Bereiche heraus: Zum einen der Bereich, in dem Lebensprozesse zum Gegenstand der Politik erhoben werden – wie es beispielsweise bei den Euthanasieprogrammen in Zeiten des Nationalsozialismus geschah − und zum anderen der Bereich, in dem es zur Regulierung des Lebens durch Politik kommt. Deutet man den Begriff naturalistisch-politisch, so steht das Leben über der Politik; geht man jedoch von einem rational-historischen Begriff aus, so verhält es sich genau umgekehrt.1 Foucault geht davon aus, dass es, wenn „Biopolitik“ oder „Biomacht“ betrieben wird, zu einer Abstraktion des Lebens von den substanzhaften Trägern kommt. So gibt es beispielsweise im Zeitalter der Biomacht keine singulären Existenzen mehr, sondern sogenannte „Bevölkerungen“.2

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Zu wichtigen Strömungen der Biopolitik kann man z.B. die Entwicklung modernen Wissens in Statistik sowie Demografie zählen. Dass es dem Menschen nun möglich ist, in die biologischen Verhältnisse einzugreifen und diese zu regulieren, verändert seinen Umgang mit der Welt. Natur ist kein selbstständiges Substrat mehr, sondern ein Korrelat der Regierungshandlungen. Neuerungen, was den von Michel Foucault entwickelten philosophischen Diskurs über den Begriff „Biopolitik“ anbelangt, haben sowohl Giorgo Agamben als auch Michael Hardt und Antonio Negri mit ihren Theorien gebracht. Bei Agamben taucht erstmals die Trennung zwischen nacktem Leben und politischer Existenz auf, während Hardt und Negri die Theorie vertreten, dass es in unserer Gesellschaft zu einer Auflösung der Grenzen zwischen Ökonomie und Politik kommt.3 Biopolitik steht für eine neue Form der Vergesellschaftlichung, in der sich die Grenzen zwischen Ökonomie und Politik sowie zwischen Reproduktion und Produktion auflösen, so die Philosophen Hardt und Negri. Das Duo setzt sich kritisch mit dem bei Foucault und Agamben entwickelten Topos „Biomacht“ auseinander. Hardt und Negri stellen sich die Frage, wie es möglich ist, dass Arbeit, die doch an sich ein lebensbejahendes Potenzial hat, zur Bedeutung kapitalistischer Disziplin, Ausbeutung und Dominanz in unserer Gesellschaft werden kann. Dabei analysieren Hardt und Negri die Rolle der Arbeit im Prozess der kapitalistischen Produktion und kritisieren liberale und sozialistische Ideen des Arbeitsbegriffes sowie institutionelle Reformen von einem radikal demokratischen Standpunkt aus.4 Als ein weiterer wichtiger Philosoph, der sich mit dem Begriff der Biopolitik auseinandergesetzt hat, ist Giorgio Agamben zu nennen. Sein wichtigstes Werk ist wahrscheinlich „Homo sacer“ aus dem Jahre 1995. Hier bezeichnet der Philosoph die Gegenwart als katastrophischen Endpunkt der politischen Situation; es gäbe eine innerste Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus. PhilosophInnen wie Walter Benjamin, Hannah Arendt, Georges Bataille und auch Michel

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Foucault schufen als Basis die Trennung zwischen nacktem Leben („zoé“) und politischer Existenz („bios“); diese Unterscheidung ist aber laut Agamben erst der Anfang.5 Politik entsteht in seiner Theorie durch das Markieren einer Grenzlinie, die zum Schutz um das Gesetz gezogen wird. Unter einem „Homo sacer“ versteht Agamben demnach einen Menschen, den man straflos töten darf. Nacktes Leben, das ist etwas, das für Staatslose, Flüchtlinge und Hirntote gilt − ihnen widerfährt kein Schutz durch das Gesetz.6 Doch zurück zu Foucault: Bei Biomacht handelt es sich nach Foucault um jene politische Macht, die das Leben im Allgemeinen vereinnahmt. Zielsetzung dieser Macht sei es, so der Philosoph, eine normalisierte Gesellschaft zu kreieren, in der sich die Gouvernementalität, die sich der Lebensprozesse annimmt, für die Entwicklung der Individuen der Bevölkerung zuständig fühlt. Das erstreckt sich von den Bereichen Ernährung, Hygiene sowie Gesundheitsvorsorge und Zuwanderung bis hin zur Medizin und dem Einsatz psychotroper Substanzen. Im Sinne der Biomacht wäre es, Leben zu optimieren, zu steigern, zu regulieren. Während, so Foucault, die Gesellschaften früher bestrebt waren, „leben zu lassen und sterben zu machen“, hat sich dieses Verhältnis im Zeitalter der Biomacht umgedreht. Es geht nun darum, „leben zu machen und sterben zu lassen“. Der Mensch wird zum Schöpfer. Die heutigen Ausprägungsformen dieser Art der Optimierung ziehen sich, wie bereits erwähnt, durch alle Lebensbereiche: Sie reichen von der Impfpflicht, der biometrischen Erfassung, dem Organhandeln über die Schönheitschirurgie bis hin zum Diätenwahn, zum Bild des Jungenmädchens und zur Immigrationspolitik. 7 Ein neuer Trend, der diese Form der Herrschaft über den eigenen Körper auf die Spitze treibt, wäre das sogenannte „Self-Tracking“, bei dem Menschen freiwillig ihre Körperfunktionen akribisch genau dokumentieren und auswerten. Suboptimale Vorgänge im eigenen Körpersystem sollen nicht nur überwacht, sondern auch verbessert werden. Durch die Disziplinierung der Körper – z.B. mittels Self-Tracking und Self-Enhancing – sowie durch die Regulierung der Bevölkerung

Sophie Reyer

entstehen neue Rechte wie beispielsweise das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheit oder das Recht auf Sexualität. All diese relativ neuen Strömungen und Bewegungen lassen kaum mehr Raum für geistiges Wachstum, Stille, metaphysische Momente oder menschliche Begegnungen. Welche neuen und anderen Werte könnten die Krise beenden? Gibt es heutzutage noch praktische Möglichkeiten für die Installation menschlicher Werte? Wie kann Widerstand geleistet werden?

2 Formen des Widerstandes

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Auch, wenn der Ausgangpunkt nicht allzu rosig zu sein scheint, gilt es, nicht den Mut zu verlieren. Denn: Wie bei allen fragwürdigen Strömungen gibt es auch gegen die Vorherrschaft der Biomacht inzwischen spannende Bewegungen in den Bereichen Kunst, Kultur und Wissenschaft, die sich mit biopolitischen Vorgängen befassen, sie durchleuchten sowie sie zu stören versuchen. Neue Kämpfe werden heute ausgetragen: die der Friedensbewegungen, die der Frauenbewegung, die der Schwulenund Lesben-Bewegung, um nur einige zu nennen. Bestimmte politische und soziale Gruppierungen versuchten und versuchen, sich gegen das Regieren einer biopolitischen Instanz durch Individualisieren zu wehren. Sie treten einerseits vehement für das Recht auf Anderssein (sei es nun im Bereich Körper, Geschlechtsentwurf, „Rassen“entwurf) ein, aber andererseits auch gegen das, was das Individuum isoliert oder von der Gemeinschaft abspalten soll. Als Widerstand gegen die Naturalisierung der Macht soll beispielsweise eine Lebenskunst entworfen werden, wie sie in der griechischen Antike existiert hat. Menschliche Existenz soll wieder als Kunstwerk verstanden werden, die „Ästhetik der Existenz“ wird zum Parameter der Lebensführung. Eine weitere Art und Weise, wie sich auf dieses Gesellschaftssystem reagieren lässt, wäre das Bio-Hacking. MedienaktivistInnen benutzen nun vermehrt unreine Theorien, indem sie die Sprache der Wissenschaft in Frage stellen, eine Art und

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Weise des Ausdrucks suchen, die sich von der institutionell abgesicherten Sprache abhebt. Denn die Ausübung von Biomacht zeichnet sich auch dadurch aus, dass ExpertInnenwissen sich meist bestimmter Codes bedient, die der allgemeinen Gesellschaft nicht zugänglich sind. Diesen MedienaktivistInnen geht es nicht darum, ExpertInnenwissen vorzukauen bzw. so zu verpacken, dass es allgemein verständlich wird. Vielmehr soll es Laiengruppen ermöglicht werden, sich biotechnologisches Wissen als Allgemeingut anzueignen. Genauso gibt es auch SchriftstellerInnen, die sich in ihrer Sprachbehandlung von dem in Moment vorherrschenden Prosastil des Mainstream abheben, mit semantischen Strukturen brechen und neue Formen des Ausdrucks suchen. Ein Beispiel hierfür wäre Hélène Cixous, die in ihrer „écriture feminine“ eine Art des Schreibens betreibt, das sich eher am Klang der Sprache entlang tastet, als dass es sich an einem stimmigen Gesamtkonzept abarbeitet oder eine traditionelle Form bedient. So wird die Produktionsmaschinerie nicht einfach beliefert; vielmehr kommt es zur Auslotung neuer Bereiche und Möglichkeiten, Sprache zu denken.8 Eine ähnliche Herangehensweise lässt sich auch bei den Projekten des „Institute of Applied Autonomy“ feststellen. Das „Institute of Applied Autonomy“9 experimentierte beispielsweise mit einem selbst gebauten Roboter, der den Menschen auf der Straße avantgardistische Formen der Sprachbehandlung näherbringen sollte. ExpertInnenwissen und deren Umgang mit Sprache wird bei dieser Art von Aktionen nicht nur diskursiv, sondern auch technologisch angegriffen.10 Eine Künstlergruppe, die sich intensiv mit dem Spiel der schöpfungsgeschichtlichen Codes und somit auch mit Mythenbildung und Science-Fiction auseinandersetzt, ist „The Critical Art Ensemble“. In „cult of the new eve“ beispielsweise wird eine neue Generation, genannt „2nd Generation“, angekündigt, die sich jenseits traditioneller Männlich- und Weiblichkeitsdichotomien ansiedeln soll. In der Arbeit „flesh machine“ werden unterschiedliche Facetten der Biomacht durchleuchtet und listenartig aufgezählt. Die Trennung von Sexualität und Reproduktion soll verneint, der Wert und die Stimme von Amateuren und

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Nichtspezialisten forciert, die Achtsamkeit gegenüber dem Zusammenhang zwischen Sexualität und sozialer Verantwortlichkeit klar gemacht werden. Denn im Zeitalter der Biomacht wurden Sexualität und Lust von dem Bereich der Empfindsamkeit auf den Bereich der Vermittlung verschoben, so Franco Berardi. Der Körper im Körper des Anderen wird nicht mehr wahrgenommen, soziale und ethische Verantwortlichkeit ist zu Gunsten der Diktatur des Neoliberalismus zurückgetreten. In dem Moment jedoch, in dem die Ko-Präsenz des einen Körpers im anderen, in dem „das eigene Atmen“ und die Verbundenheit gespürt wird, kann es wieder zu einer sozialen und ethischen Haltung kommen, in der es nicht darum geht, Bedeutung an sich zu schaffen, sondern vielmehr Macht und Dogmatismus ironisch zu kritisieren.11 Ein weiteres wichtiges Feld, das es zu beleuchten gilt, ist die Eugenik. Unter Eugenik wird die Anwendung wissenschaftlicher Ideen auf die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik verstanden, deren Zielsetzung es – wieder im Sinne der Biomacht – ist, den Anteil an positiven Genen zu vergrößern. Neben der Optimierung des menschlichen Körpers sind im Zeitalter der Biomacht auch gentechnisch verändertes Saatgut sowie der Einsatz von biologischen Waffen, künstliche Befruchtung und andere Aktivitäten der Reproduktionsindustrie ein wichtiges Thema. Die kritische Beschäftigung mit diesen Sujets in der Kunst kann als eine besondere Form des Widerstandes gelesen werden. Eine weitere Gruppe, die sich intensiv mit dem Begriff der Biomacht auseinandersetzt und aktivistisch arbeitet, ist „mayday wien“. Diese Vereinigung versucht, den „Wirbegriff“ des Prekariats zu stärken. Als wichtige Aspekte können hier beispielsweise Streiks, lose organisierte Gruppentreffen, das Erstellen von Blogs im Internet und organisierte Vorträge genannt werden. Das Internet ist im Übrigen, da es die Menschen, die es bedienen, entkörpert, auch ein geeignetes Medium, durch das Biomacht ausgeübt werden kann und wird.12 Auch im „Guerilla Gardening“ kann eine Form des Widerstandes gesehen werden: das Streuen von Samenbällen im

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öffentlichen Raum sowie das Anbringen von Moosgraffiti an öffentlichen Plätzen ist eine Gegenbewegung zur Vorherrschaft der Biomacht, wenngleich ihr der Geschmack der Öko-Unschuld anhaften mag. Mittels Aktionen im öffentlichen Raum soll es bei diesen performatorischen Ereignissen zu einer Kooperation von Mensch und Natur kommen, indem Eigentumsrechte verletzt werden und der Kampf gegen Landknappheit gekämpft wird. In meiner Kurzdokumentation „hallo, gartenpiraten“ habe ich mich mit einem Guerilla Gardener unterhalten und ihn zwölf Stunden bei seinen Interventionen neben der Hauptuniversität Köln begleitet. Stefano Chiolo, mein Protagonist, bringt nicht nur immer wieder Laubbälle, Moosgraffiti und andere Objekte im öffentlichen Raum an, die der Sensibilisierung der Gesellschaft dienen sollen; er betreut auch noch die Pflanz-Stelle Kalk, in der er Menschen unterschiedlichen Alters und aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten das Anbauen von Gemüse und Getreide nicht nur beibringt, sondern auch ermöglicht.13 Doch wie kann Widerstand in Kunst übersetzt werden? Zum Beispiel durch einen weiteren Bereich, die sogenannten „Urban Interventions“.14 Unter „Urban Interventions“ wird die Weiterentwicklung künstlerischer Interventionen im städtischen Raum verstanden. Diese Art der Interventionen weisen ein Wechselspiel von Kunst, Architektur, Performance, Installation und Aktivismus auf. Das Öffentliche wird zu einem privaten Erlebnis umfunktioniert. Oft sind die Arbeiten oder Aktivitäten anonym; sie thematisieren jedoch immer die Beschaffenheit des Stadtbildes. Die Straße wird zum Material, wird Leinwand und Galerie, Versuchsanstalt, wird Atelier und Labor. Nun muss das Publikum nicht mehr bestimmte Räume betreten, in der es Kunst „konsumieren“ kann – nein, die Kunst kommt zum Publikum. Und das in Form von modifizierten Straßenschildern, Schaukeln an Bushaltestellen, Moosgraffiti an alten Wänden, Bildern aus Sand oder Schnee oder auch Flashmobs. Wir werden aufgerufen, unsere Umwelt zu entdecken, sie auf neue Art wahrzunehmen und mit ihr in Verbindung zu treten. „Urban Interventions“ versetzen das öffentliche Leben mit Kommentaren und kritisieren

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auf reflektierte Weise, indem sie sich auf die Planung, Nutzung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums beziehen und mit ihm spielen. Ebenso wird in den Strömungen der Street Art die Stadt selbst zum Kunstwerk und dient als Material für kreative Arbeit. Dies ist ganz im Sinne der Situationisten, einer 1957 gegründeten Gruppe europäischer Künstler und Intellektueller, die sich für Revolution im Alltag durch einen spielerischen Umgang mit dem urbanen Raum einsetzten. So werden zweckgebundene Stadtmöbel entfremdet, verwandelt sich jeder Pflasterstein, jede Telefonzelle, jede Bushaltestelle zu einem Ort, an dem sich kreatives Potenzial entfalten kann. Vor allem die Theorien der Situationistischen Internationale sind für diese neue Bewegung eine große Inspirationsquelle. Diese Künstlergruppe wollte bereits in den 1960er-Jahren die Kontexte der Kunstrezeption verändern, indem sie die Kunst aus den Museen in Kneipen und andere öffentliche Orte brachte. Eine weitere Idee war, Metro-Schächte für nächtliche Partys zu nutzen und Abfahrtszeiten an Bahnhöfen zu fälschen, damit zufällige Begegnungen entstehen konnten. Nach Auffassung der Konzeptionisten entsteht Kultur durch Spiel, durch die Wechselwirkung von Spaß und Spannung. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga prägte 1938 den Begriff des „Homo ludens“, des spielenden Menschen.15 Durch den Akt des ziellosen Umherschweifen in der Stadt schärften die Situationisten ihre Talente in Hinblick auf Spiel und Spontaneität. Nun konnte man sich ein Stück weit von den zweckgerichteten Handlungen in der Stadt befreien und offen werden für ein völlig neues Erleben des urbanen Raums. Eine weniger körperliche Form des Widerstandes ist das sogenannte „Cultural Hacking“. Der Begriff „Cultural Hacking“ stammt aus dem Computer-Hacking und bezeichnet eine Idee der Umkodierung und Verfremdung bestehender kultureller Codes. Über Manipulation und Zweckentfremdung von Alltagsgegenständen, -regeln sowie -routinen im öffentlichen Raum wird die Strategie verfolgt, hervorzuheben, was aus dem „Rahmen“ fällt, was tabuisiert ist. Neue Lesarten

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des Gewohnten sollen ermöglicht werden. Cultural Hacking als Kunst verläuft dabei entlang den Linien des Subtil-Politischen. Doch diese Strömung ist im Grunde nicht neu. Vom Dadaismus über den Situationismus bis hin zum Punk existiert eine direkte Entwicklungslinie zu aktuellen Formen subversiver Strategien. Und diese folgen der Logik von Hackern: Sie penetrieren unbekannte Systeme, orientieren sich darin und strukturieren diese dann auf überraschende Art und Weise um. Damit verkörpert Cultural Hacking die zeitgenössische Fortsetzung der Kunst des Handelns im Sinne von Michel de Certeau. In mimetischen Prozessen nähert sich der Mensch seiner Umwelt an. Nachahmung ermöglicht es ihm, die Außenwelt in die Innenwelt zu holen und die Innenwelt in die Außenwelt auszudrücken. In diesem Sinn ‚gleicht‘ sich der Hacker den Codestrukturen an, holt diese Außenwelt in seine Innenwelt und drückt diese Innenwelt wiederum in jene Codestrukturen aus. Cultural Hacking kann in diesem Sinne als eine zwar besondere, vielleicht radikale, vielleicht aber einfach nur interaktive Angleichung an und Aneignung von Kultur verstanden werden. Die permanente Fremdüberwachung im öffentlichen Raum führt dazu, dass der Mensch zum Schauspieler wird, sich ständig inszenieren muss, was zu einer Verschiebung in der Fremd- und Eigenwahrnehmung führt, wie ich es auch in meinem Gedicht „big brother“ thematisiere. Doch auch das Theater hat seine Möglichkeiten, auf die Strömungen unserer Zeit zu reagieren. Die politische Frage ist, so Jaques Rancière, immer eine Frage beliebiger Körper, die sich ihres Schicksals bewusst werden und es zu lenken beginnen. Insofern hat politisches Theater mit der Frage von Macht und Ohnmacht zu tun, konzentriert sich auf das Verhältnis dieser beiden Entitäten in Bezug zum Körper. Eine lyrische Sprache – wie etwa die von Antonine Artaud – ist eine, die aus dem Körper kommt. Sie ist dem Klang näher als der Syntax oder der Semantik. Die Macht, die Worte ausüben können, die Ohnmacht, in der sie uns zurücklassen − das muss Thema eines biomachtkritischen Theaters sein. Auf keinen Fall darf das Grauen banalisiert werden. Es sei kein problematischer Zustand, dass wir durch

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die Massenmedien und andere neue Formen der Berichterstattung zu viele Körper sehen, so Rancière. Nein – wir sehen bloß zu viele anonyme Körper. Diesen entindividualisierten Individuen wieder eine Stimme zu geben, halte ich für einen wichtigen Prozess, dem man sich im politischen Theater aussetzen muss.16 Theater beinhaltet nach wie vor das wichtige Element der Sprache. Wie sieht aber nun in Zeiten der Biomacht eine subversive Sprache aus? Wie ist es möglich, in unserer Gesellschaft zu einem Subjekt zu werden, das, wenn es spielt, sich der Codes und Bilder bewusst ist, mit denen es operiert? Wie passiert Gegenwehr, wie kann das Individuum sich gegen die Vorherrschaft der Biomacht auflehnen? Roman Jacobson unterscheidet drei Arten von Schreibweisen. In der alltäglichen Kommunikation beispielsweise erläutert ein Objektbegriff den anderen. Anders verhält es sich bei einer wissenschaftlichen, das heißt, objektiven Schreibweise. Hier dienen Meta- Begriffe dazu, Objektbegriffe präzisionierend kurz zu fassen. Die Anordnung der Zeichen jedoch bleibt hierarchisch. Das metasprachliche System ist davon überzeugt, einen Sachverhalt bestimmend beschreiben zu können; was jenseits dieser Rahmen vor sich geht, wird ignoriert. Die Begriffshierarchie dieser Sprachpraxis ist in diesem Fall mit strengen Handlungsprogrammen gekoppelt. Die Funktionalität der poetischen Sprache jedoch hebt sich von diesen beiden Feldern ab. Syntax und Begriff können in einer poetischen Sprache sowohl der Regel als auch des Paradigmas fast vollständig entbunden sein. So ist in dem Gedicht „schtzngrmm“17 von Ernst Jandl beispielsweise die Syntax hauptsächlich auf den reinen Rhythmus reduziert. Dennoch handelt es sich bei dem Text um keine Konsonantenanhäufung, sondern um ein bedeutungserzeugendes Gedicht. Diese Bedeutung aber – und das gilt für alle poetischen Texte – wird durch die Brüche mit sprachlichen Regeln und Normen erzeugt. Die poetische Äußerung thematisiert die brüchige, fragile Verbindung von Gesagtem und Ungesagtem. Über die Inszenierung des Gesagten soll dem Ungesagten − oder vielleicht auch dem Unsagbaren? – Ausdruck

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verliehen werden. Die poetische Sprache wagt sich an die Ränder heran und kann in dem Sinne auch Gegenstimmen erzeugen. Meine Arbeiten stehen im Kontext des Widerstandes.18 Implizit politisches Theater würde ich meine Art des Theaters insofern nennen, als auf der strukturellen Ebene vorgegebene Sprachformen hinterfragt und eine neue Art der Sprache, fernab der herkömmlichen Syntax, fernab von altbekannten Metaphern und Zuschreibungen, gefunden werden. Dies soll eine Sprache sein, die in erster Linie der Klanglichkeit und der Rhythmik folgt und erst in zweiter Linie dem Transportieren von Inhalt dienen soll. Denn das weibliche schreibende Subjekt steht in der Tradition einer „écriture feminine“, die sich den rhythmischen Strukturen der Sprache verbundener fühlt als dass sie versucht, ein übergeordnetes Formschema zu erfüllen. John L. Austin schreibt in seiner Theorie der Sprechakte, dass performative Äußerungen auf eine ganz besondere Weise unernst seien, wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder von einem Schauspieler auf der Bühne getätigt werden, oder aber, wenn der Sprechende sie zu sich selbst sagt. Jede Äußerung, meint er, kann diesen Szenenwechsel in gleicher Weise erleben. In diesem Fall wird die Sprache auf eine klare und durchschaubare Art und Weise unernst gebraucht. Austin schreibt, die gewöhnliche Handhabe der Sprache würde „parasitär ausgenutzt“. Er bezeichnet diesen Aspekt des Sprachgebrauchs als einen Teilaspekt einer Sprache der Auszehrung und geht im weiteren Verlauf seines Werkes nicht näher darauf ein. Ich möchte mich jedoch in dem Begriff der Etoilation, der Auszehrung, verbeißen, um ihn auszuzehren: Ist es nicht in Zeiten der Biopolitik notwendig, sich auf Auszehrung einzulassen? Wenn alte, nicht-operierte bzw. nicht-optimierte Gesichter in unserer Gesellschaft als subversiv gelten, ist es dann nicht auch eine Sprache, die ihre Auszehrung, ihre Falten, ihre Kerben thematisiert und feiert? Je weiter sich die performative Äußerung von Umständen, die einem gesellschaftlichen (Ideal-)Bild entsprechen − und damit meine ich auch den herkömmlichen Theatersaal und die klassischen Literaturhäuser − entfernt, umso stärker ist ihre Subversivität.19

Sophie Reyer 3 Ausblick: Hoffnung?

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Die Fülle an kritischen Strömungen lässt auf jeden Fall hoffen. Wodurch aber ist es dem einzelnen Individuum möglich, im Alltag Widerstand zu leisten? Wie genau sieht heute ein spirituelles Kunstwerk aus? Was kann der religiös-metaphysische Aspekt an einem Theaterstück sein? Was ist Form? Welche Rolle könnte das Verhältnis von Innen- und Außenwelt bei der künstlerischen Produktion spielen? Von welcher Seite nähert man sich dem künstlerischen Material? Wie muss eine subversive Sprache aussehen? Wenn man heutzutage schon „den äußerlich perfekten Menschen“ züchten könnte, wie sähe denn bitte dann ein innerlich perfekter Mensch aus? Inwieweit existieren männlich sowie weiblich codierte Ansätze, Sprachmaterial zu gestalten? Wie ist es möglich, in unserer Gesellschaft zu einem Subjekt zu werden, das, wenn es spielt, sich der Codes und Bilder bewusst ist, mit denen es operiert? Versatzstücke, „Fleckerlteppiche“: Was war Kunstproduktion jemals anderes als eine Arbeit mit bereits vorgefundenem und in Geflechten neu verwobenem Material? Wie lässt sich also Eigenes schaffen, das über sich selbst nachdenkt und kritisch bleibt? Was kann dabei Schrift leisten, was gesprochene Sprache nicht kann? Die Fragen bleiben. Und das ist gut so, denn auch das Fragen ist eine Form von Widerstand. Was gibt es also noch hinzuzufügen? Der Ball geht an den Leser. Wie soll ich enden?

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Vgl. Thomas Lemke: Biopolitik. Zur Einführung. Junius Verlag GmbH, Hamburg 2007, S. 13ff. Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1977, S. 10ff. Vgl. Lemke, Thomas: S. 15ff. Vgl. Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a. M. : Campus 2002, S. 24ff. Vgl.: Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002, S. 50ff. Vgl. Lemke, Thomas, S. 25ff. Vgl. ebd. Vgl. Hélène Cixous: Selected Plays of Hélène Cixous. Routledge, USA and Canada 2004. Bei dem „Institute for Applied Autonomy“ handelt es sich um eine Gruppe amerikanischer Aktivisten, die sich mit Technologie als Protest auseinandersetzen. Vgl. https://theinfluencers.org/en/institute-applied-autonomy, Stand vom 2.8.2018. Vgl. http://www.critical-art.net/TacticalMedia.html, Stand vom 9.9.2014. Vgl. http://euromayday.at, Stand vom 2.6.2016. Vgl. Sophie Reyer: hallo, gartenpiraten! Dokumentarfilm, Köln, Kunsthochschule für Medien 2014. Vgl. Julia Jahnke: Eine Bestandsaufnahme zum globalen Phänomen Guerrilla Gardening (Memento vom 7.9.2012 im Internet Archive) Humboldt-Universität zu Berlin, Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät, Masterarbeit, 29.10.2007, S. 5ff. Johan Huinzinga: Geschichte und Kultur. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. und eingeleitet von Kurt Köster. Kröner, Stuttgart 1954. Vgl. Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer. Passagen Verlag, Wien 2009, S. 22ff. Ernst Jand: rechts und rinks. gedichte statements peppermints. dtv, München 1997. Neuauflage: Luchterhand, München 2002. Vgl. Roman Jakobson: Semiotik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998, S. 40ff. Vgl.: John Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Reclam, Stuttgart 1972, S. 80ff.

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Als Gesellschaft. Die Herstellung von Kunst und neuen Selbstverhältnissen

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Das Wechselverhältnis von Kunst und Gesellschaft ist Teil der spezifischen Geschichte dessen, was einmal Abendland hieß, und betrifft – neben sich wandelnden künstlerischen Praxen und Programmatiken – Auffassungen dessen, was wir als Politik und Gesellschaft verstehen, genauso wie das, was wir als Wissen oder Gewissheiten verstehen. Diese Geschichte ist mit unterschiedlichen Begriffen geschrieben worden. Egal welche Begriffskonstellation man favorisiert – von einer darstellenden Funktion zur freien Kunst, von der Sinnstiftung zur Zerstörung jedes Sinns, von der Repräsentation zur Autonomie und zum Impetus der Rückführung der Kunst ins „Leben“ (Bürger 1974), der mit der Avantgarde kam – die Idee, dass künstlerisches Machen sich von anderen Formen der Produktion und Existenz unterscheide, trägt einen historischen Index, mit dem sich die Kunst im 20. und 21. Jahrhundert immer wieder aufs Neue konfrontieren musste und immer noch muss. Zumindest zwei Ebenen lassen sich hier unterscheiden: einmal die immer wieder aufs Neue zu befragende politische Natur ästhetischer Verfahren, eine „politische Ästhetik“, die gerade nicht eine „Ästhetisierung der Politik“ ist, als die Walter Benjamin die Anstrengungen der Futuristen rund um Filippo Tomaso Marinetti charakterisierte. Eine Ästhetisierung der Politik verhelfe den Massen nicht zu ihrem Recht, sondern zu ihrem Ausdruck, so das Verdikt Benjamins (Benjamin 1977, 168f.). Dem stehen seit Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Versuche der Politisierung der Kunst gegenüber: Vom ästhetisch-politischen Aktivismus der Dadaisten über die konstruktiven Verfahren des russischen Formalismus über Fluxus und den Situationismus führte dieser Weg zu im weitesten Sinn „partizipativen“ Ansätzen seit den 1970er-Jahren. Die Initiative „Les Nouveaux Commanditaires“ („Neue Auftraggeber“), um die es in diesem Aufsatz geht, wurde 1992 in Frankreich von François Hers gestartet (vgl. Les Nouveaux Commanditaires 2013).1 Es geht ihr darum, die Entstehungsbedingungen zeitgenössischer Kunst um einen neuen Ansatz zu erweitern. BürgerInnen werden von MediatorInnen dabei unterstützt, bei international renommierten Künstlerinnen ein

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eigenständiges Werk für einen spezifischen lokalen Kontext in Auftrag zu geben. Weit über 300, oft mehrjährige Produktionen aller künstlerischer Sparten wurden bisher in Frankreich, aber auch in Deutschland, Norwegen, Chile, Kamerun, Indien, Nigeria, Südafrika und im Irak realisiert. Die Finanzierung erfolgte über private oder öffentliche Förderer. Sie nehmen seit den 1990er-Jahren einen neuen Anlauf zur Um- und Ausgestaltung des Verhältnisses von Kunst und Politik zu „Leben“ und geben in ihren zahlreichen Projekten immer wieder neue Antworten auf die Frage „Who can now say what art is meant to be?“, jene Frage, die jeder Videodokumentation der Projekte vorangestellt ist. Die Antwort darauf fällt naturgemäß mit jedem Projekt anders aus. Ich möchte mich hier einigen Stellschrauben im Verhältnis von Kunst und Gesellschaft nähern, die von den Projektbetreibern je neu justiert wurden. Meine These ist, dass der spezifische Modus der Zusammenarbeit in Projekten der „Nouveaux Commanditaires“ ein spezifischer und äußerst produktiver Modus des „Als“ oder des „Als-ob“ ist. Einen Hinweis darauf gibt der letzte Satz im Manifest der „Neuen Auftraggeber“: „Ebenso wird das Kunstprojekt nicht zum emblematischen Ausdruck eines einzelnen Individuums, sondern mehrerer unabhängiger Personen, die entschlossen sind, als Gesellschaft aufzutreten und dem zeitgenössischen Projekt einen gemeinsamen Sinn zu geben.“ Mehrere Personen, die dazu entschlossen sind, als Gesellschaft aufzutreten. Das scheint mir eine tragfähige Definition des Politischen unter gouvernementalen Vorzeichen zu sein. Begreift man „Gesellschaft“ nämlich mit Walter Benjamin oder Jacques Derrida als eine soziale Relation, die stets im Kommen begriffen ist, sich also nie realisiert, sondern gerade in ihrer Selbstbefragung besteht, wäre Politik ein seltenes Ereignis, das darin besteht, dass eine Gruppe sich konstituiert, als etwas in die Öffentlichkeit geht, mit dem Anspruch das Gegebene hinter sich zu lassen, etwas anderes sein zu wollen: eine andere soziale Form, eine bis dahin unbekannte Zusammensetzung von Akteuren, eine neue Form der Kommunikation, die neue Verkörperungen von Beziehungen vorantreibt.

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Mir scheint es kein Zufall zu sein, dass in einer solchen Konstellation die Kunst eine zentrale Systemstelle einnimmt, begreift sich doch die Kunst der Moderne gegenläufig zur pragmatischen Definition von Politik als „Kunst des Möglichen“ (Otto von Bismarck) als ein Verfahren zur Exploration des nur Halbgewussten, des Kontingenten, mehr als Ahnungsvermögen denn als Technik zur Zielerreichung. Eine solche Haltung findet sich beispielsweise in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, in diesem nicht abgeschlossenen und nicht abschließbaren Roman, der den Möglichkeitssinn als literarische Methode entwickelt. Der Möglichkeitssinn ignoriert nicht einfach die Wirklichkeit, sondern baut eine andere Beziehung zu ihr auf, eine, in der die Ziele und Wege des Handelns sich multiplizieren, sich auffächern, unübersichtlich werden (vgl. dazu Vogl 2007), Verengungen und Sachzwänge sich als „pedantisch“ herausstellen. Eine „pedantische Genauigkeit“ (gemeint ist in diesem Fall die Jurisprudenz, an anderen Stellen aber auch die Wissenschaften)2, die sich an Sachlichkeit orientiert, folgt – so Musil – Phantasiegebilden, da sie dem Missverständnis unterliegt, dass sich Menschen in ihrem Sinn rational verhalten (Musil 1978, 247). Der Möglichkeitssinn ist also nicht nur spleening, phantastisch, träumerisch, sondern produktiv, er erfindet Hirngespinste, um die Wirklichkeit neu zu bewerten, um in ihr noch nicht entdeckte Möglichkeiten aufzuspüren. Der Möglichkeitssinn ist kein Fischen im Trüben, vielmehr gleicht „der Mann mit gewöhnlichem Wirklichkeitssinn […] einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirklichkeitssinn, den man auch Möglichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt“. (ebd., 17) Die Zielgerichtetheit und angebliche Faktizität des „auf den Köder beißenden Lebens“ (ebd.) tauscht Musil gegen eine konkrete, raumgreifende und raumstrukturierende – wenn auch zunächst erratische oder poetische – Praxis. Musil nennt dieses Verfahren „phantastische Genauigkeit“, ein Verfahren, das den Tatsachen treuer ist, als es schlichte Sachzwanglogiken sind, und das über

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einen positivistischen Objektivitätsbegriff hinausgeht, indem es das Faktum der menschlichen Imaginationskraft mitbedenkt (ebd., 247). Es korrespondiert dem pragmatisch-idealistischen Fiktionalismus von Hans Vaihingers „Philosophie des Als-ob“. Der Kantianer Vaihinger schlug bereits 1911 vor, nicht Ungewusstes und Unbekanntes auf Bekanntes und „Wirkliches“ zu beziehen, sondern Modelle der Wirklichkeit als „nützliche Fiktionen“ (das können Atome, Gott oder die Seele sein), die in lebenspraktischen Zusammenhängen ihren Sinn entfalten, in all ihrer Widersprüchlichkeit zu untersuchen (Vaihinger 2007/1913). Inwieweit solche Verfahren des Als und des Als-ob dem Zauber marktwirtschaftlicher Welterschließung, der Fähigkeit des Kapitals, neue Möglichkeiten zu erfinden, verwandt ist, werde ich abschließend befragen.

Kunst bitte kommen: Anlässe 322 Doch zunächst: Zu welchen Anlässen erklingt der Ruf nach Kunst? Auffällig häufig hat der Ruf nach Kunst heute mit so genannten „existentiellen“ Fragen zu tun. Die Neugestaltung der Krankenhauskapelle in Marseille durch Michelangelo Pistoletto, die Renovierung der Aufbahrungshalle der Pathologie des Hospitals in Garches, die sanitären Anlagen einer Obdachlosenbetreuungseinrichtung in Bordeaux: Stets wird seitens der Künstler und der AuftraggeberInnen betont, dass es hier ums Ganze ginge. Um Leben und Tod, um den Sinn des Lebens, um „Korporealitäten“3 und um die sozialen Beziehungen zu „Anderen“: Obdachlosen, MigrantInnen, Verstorbenen. Dies klingt zunächst nach einer klassischen Definition von Kunst, dem Verständnis von Kunst als säkularisierter Religion, die in Sinnfragen Orientierung bietet, wenn Religion nicht mehr greift oder schwierig geworden ist (etwa in Marseille, wo die konfessionelle Polyphonie am Krankenbett zum Wunsch nach einer multikonfessionellen Umwidmung der ehemaligen Kapelle führte). Die zweite Auffälligkeit ist, dass sich der Ruf nach der Kunst mit Zweifeln an „rationalen“ Versionen der Sorge um

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Körper und Seele verbindet. Folgt man Michel Foucault, ist moderne Politik wesentlich eine Sorge um Körper und Seelen der Einzelnen, die parallelgeschlossen ist mit Agenturen einer überindividuellen Biopolitik (Krankenhäuser, Sozialeinrichtungen, Versicherungswesen etc.). In der Reflexion der AuftraggeberInnen war ein Wunsch stets explizit: die neu zu gestaltenden Räume innerhalb klassischer biopolitischer Einrichtungen nicht funktionalistisch anzugehen, sondern der individuellen Sorge um Leib, Leben und Seele Raum zu geben. So ist immer wieder die Rede davon, dass Architekten nicht genügend Imaginationskraft hätten, sich individuelle Nutzungen vorzustellen, aber auch die Sorge um eine Austreibung des „Spirituellen“ wird artikuliert. Nur: Was genau meint spirituell hier, und warum sollen ausgerechnet KünstlerInnen eine spezifische Kompetenz haben, damit umzugehen? Es wirft zumindest ein interessantes Licht auf den imaginierten Wirkungsraum der Kunst, dass ihre Zuständigkeit in einigen Projekten da angesetzt wird, wo früher der Seelsorger, der Pastor (und später seine wissenschaftlichen Doubles: der Psychologe, der Soziologe) tätig waren. Wenn wir die Metaphysik probehalber aussparen, rückt der Künstler/die Künstlerin in eine Systemstelle ein, die Foucault als „Pastoralmacht“ adressiert hat (Foucault 1985): die unauffällige Seelenführung, die ihre Herkunft in rituellen und asketischen Praxen der Antike hat und in der Moderne via Erziehung und konsequenter Selbstbefragung zur inkorporierten Selbstregulierung der Individuen wird. Aus solch einer Perspektive wäre aktuelle künstlerische Produktion weniger als ein „Rückfall“ in den repräsentativen Modus (beispielsweise der Expression Gottes in der Architektur und Ausgestaltung der großen Kathedralen des Mittelalters und der Renaissance) denn als eine Explikation und Exponierung der Arbeit des modernen Individuums an sich selbst zu verstehen. Künstlerische Arbeit ist dann Arbeit an Basisoperationen der Selbstvergewisserung in Anbetracht der Zumutungen eines Zwangs zum produktiven Leben. In so einem Sinn sind die Aussagen von Beteiligten verstehbar, die sich auf Spiritualität, seelische Bedürfnisse, Bedürfnisse sozial Benachteiligter

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nach „personhood“ und gesellschaftlicher Teilhabe beziehen. Etwa, wenn die Errichtung eines Hamams von den BetreiberInnen als inkludierende Geste und als Gegenprojekt zu einer nur verwaltenden Hygienemaßnahme für Obdachlose verstanden wird. Michelangelo Pistoletto meint im Video über die Umgestaltung des Gebetsraums im Krankenhaus Marseille: „L’art assume la religion“. Die Kunst nimmt die Religion an, übernimmt sie. Kunst als Religion, das meint nicht, dass Kunst in der Moderne Metaphysik wäre, sondern macht sie zu einer Instanz, die politische Instrumentalisierungen der Seelsorge aufnimmt und ausstellt.

Mit offenem Ausgang: Lückenkunst

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Die Projekte setzten – so könnte man sagen – ein, wo die Gewissheiten der Moderne ins Wanken geraten sind: das Vertrauen in eine rationale Bearbeitung menschlicher Bedürfnisstrukturen durch Instanzen der öffentlichen Hand, in den Forschritt durch einen Wettstreit der Ideen, in die Delegation der Metaphysik an das Individuum und sein Glücksstreben. Welches Vertrauen wird anstelle dessen gesät? Es lässt sich an den jeweils kultivierten Praxen – und nur dort – ablesen.4 Der Fokus der Neuen Auftraggeber liegt auf Prozessen des – vor allem verbalen – Austauschs zwischen allen Beteiligten. Dieser Austausch verfolgt allerdings nicht das (aufklärerische) Ideal eines Wettstreits der richtigen und wahren Idee, selbst wenn es auf den ersten Blick einem habermasianischen Szenario einer vernünftigen Konsensbildung gleichen mag. Ihr Medium ist jedoch nicht die gelehrte Abhandlung, die umfassende Darlegung und konsensuelle Lösung eines Problems, sondern das Sprechen selbst: die Artikulation von Wünschen und Interessen genauso wie von Zweifeln und Widersprüchen; häufig steht zudem am Anfang explizit das Nicht-Wissen, das Nicht-sagen-Können. Nicht eine ausformulierte „job-description“, ein detaillierter „Auftrag“, steht am Beginn der Zusammenarbeit zwischen AuftraggeberInnen, VermittlerInnen und

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KünstlerInnen, sondern das Gegenteil davon: ein Wunsch, etwas zu machen, der noch nicht gebahnt ist. Eine – mit Musil gesprochen – Schnur, die durchs Wasser gezogen wird. Das jeweilige „Problem“ wird nicht nach einem bereits vorstrukturierten Schema gelöst, sondern woanders hin gebracht: meist in den konkreten Raum, in/an/um den herum etwas passieren soll. Das Gespräch wird in der Folge nach und nach erweitert, wiederum nicht nur in Richtung von ExpertInnen (auch die gibt es: ArchitektInnen, LandschaftsplanerInnen, HandwerkerInnen, die AuftraggeberInnen selbst), sondern vor allem und in erster Linie in Richtung der Bedingungen, die der zu gestaltende Raum selbst vorgibt: Die vorhandenen baulichen Fakten (Wände, Farben, Licht), die umgebende Landschaft, die in Gebäuden der öffentlichen „Hygiene“ enormen funktionalen und pekuniären Bedingungen (beispielsweise Ausstattungspreise pro Quadratmeter, die sich aus der prospektiven Nutzung errechnen, vielerlei Sicherheitsnormen). Zunächst wird also Unübersichtlichkeit produziert und erst nach und nach schält sich etwas heraus, das sich nicht mehr von seinen Entstehungsbedingungen abtrennen lässt. Die materiellen Bedingungen des Entwurfs werden selbst zu Gesprächspartnern, mit denen ein Umgang gepflegt wird, der sich von klassischen Entwurfs- und Planungsprozessen unterscheidet, die auf eine Beherrschung und Berechenbarmachung des Raums und des Prozesses als Ganzem aus sind. Vergleicht man die Prozesse und Kommunikationen in Garches, Marseilles und Bordeaux mit dem Ablauf einer üblichen öffentlichen Ausschreibung, werden die Unterschiede augenfällig: Eine bauliche Maßnahme mag von den MitarbeiterInnen und NutzerInnen gefordert worden sein, sobald sie in das Rad der Verwaltung eintritt, läuft sie nach einem bestimmten Schema ab: Definition der Anforderungen, Ausschreibung, Auswahl kompetitiv eingebrachter Vorschläge (meist durch ein Expertengremium). An all diesen Schaltstellen agieren die „Nouveaux Commanditaires“ anders: Weder gibt es zu Beginn einen klaren Anforderungskatalog noch eine Ausschreibung noch ein „objektivierbares“ Prozedere der Auswahl des Künstlers/der Künstlerin. Hingegen werden an allen

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Stellen die Vermittlungsinstanzen multipliziert: durch die Einschaltung des Mediators/der Mediatorin etwa oder durch das dauernde Mitreden der AuftraggeberInnen, aber auch durch die idiosynkratische „Auftragserledigung“ der KünstlerInnen. Diese wiederum hat weniger mit einer angeblichen individuellen Genialität zu tun als mit der aktuellen gesellschaftlichen Rollenzuschreibung an KünstlerInnen als „frei“, die in den Projekten genutzt wird, um alternative Problemlösungen auszukundschaften. Alexander Kluge hat von dem, was moderne Rationalisierungs-, Normalisierungs- und Systematisierungsverfahren – absichtlich oder unabsichtlich – offen lassen, einmal als „Die Lücke, die der Teufel lässt“ (2003) gesprochen. Die Verfahren der Neuen Auftraggeber scheinen diese Lücke von innen her dehnen zu wollen, sie nisten sich genau da ein, wo kein Verfahren greift, um die Lücke selbst zu möblieren. Durch diesen Prozess entstehen nicht nur neue Kunstwerke, sondern auch neue Selbstverhältnisse und Wissensformen bei den AuftraggeberInnen sowie neue Nutzungsvarianten bei den KlientInnen der Agenturen der Sorge.

Verhältnisse, Missverhältnisse: Vermittlungen Eine Kritik an der Methode der „Nouveaux Commanditaires“ könnte lauten, sie sei nichts als eine Fortsetzung marktwirtschaftlicher Produktionsweisen mit den Mitteln der Kunst, ein Vorwurf, den sich die „partizipative“ Kunst in den letzten Jahren zunehmend gefallen lassen musste. Der Vorwurf lautet präziser, Partizipation würde überall dort unterstützt, wo Staat oder Markt versagten, sie verwende dabei – unter dem Deckmantel des Empowerments – analoge Methoden des Interessensausgleichs und diene letztlich der Produktivmachung von Humanressourcen, wo diese leicht „schädlich“ für den Gesellschaftskörper werden könnten, indem sie arbeitsunfähig und/oder unzufrieden (und damit politisch unberechenbar) würden. So werden inzwischen partizipative Verfahren in Stadtentwicklungs-, Bau- und Umweltprojekten als Folge

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des Scheiterns modernistischer Paradigmen der Planung von oben recht routiniert eingesetzt.5 Sie dienen häufig eher einer vordergründigen Optimierung der KundInnenzufriedenheit als einer ernsthaften Befragung und Kritik geplanter Projekte. Insbesondere in Bezug auf partizipative Verfahren in der Stadtentwicklung, aber auch im Prozess der Umgestaltung ehemaliger Industrien in Orte der „Kulturindustrie“ (ein klassisches Beispiel wäre die Umgestaltung der Bergbauanlagen im Ruhrgebiet zu Ausstellungshäusern ihrer selbst oder der zeitgenössischen Kunst) ist der Verdacht, dass Kunst und Partizipation als Schmiermittel einer Postfordisierung von Arbeit und Konsum dienen, schwer von der Hand zu weisen. Und in einigen Projekten der „Nouveaux Commanditaires“ (insbesondere solchen, die der Stadt- und Dorfverschönerung dienen) ist ein solcher Zug erkennbar. Beispielsweise ist das „Monster von Tours“, das von den AnwohnerInnen in Auftrag gegeben wurde, um dem alten Marktplatz ein neues Gesicht zu geben, und das vor seiner Inauguration große lokale Debatten provozierte, inzwischen selbstverständlicher Bestandteil des Kulturprogramms für TouristInnen geworden: Die ästhetische Provokation hat den Platz innerhalb einer kulturellen Ökonomie klar aufgewertet. Spannend sind allerdings jene Projekte, in denen es nicht ohne weiteres zu einem Interessensausgleich zwischen AuftraggeberInnen, KünstlerInnen und FördergeberInnen kommt, in denen Missverhältnisse die Lage charakterisieren: KünstlerInnen, die ihren AuftraggeberInnen nicht sagen, was sie vorhaben, überzogene Budgets, jahrelange Verzögerungen beim Bau eines Denkmals, ein neu gestaltetes Hamam für Bedürftige, das den prospektiven KlientInnen zunächst einmal Angst einjagt. Hier wird deutlich, dass das magische Dreieck AuftraggeberIn, KünstlerIn, VermittlerIn sich nicht auf das magische Dreieck KonsumentIn, ProduzentIn, Markt abbilden lässt. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass die VermittlerInnen sich nicht (wie der Markt) unsichtbar machen, sondern mit wiederum eigenen Interessen, Meinungen und Beziehungsgeflechten auftreten. Ähnlich der in letzter Zeit immer stärker markierten und valorisierten Position der KuratorInnen im Kunstfeld sind

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die VermittlerInnen hier nicht einfach neutrale „ErmöglicherInnen“, sondern bilden einen eigenständigen Pol im Prozess: Sie haben von ihrem professionellem Selbstverständnis und ihrer Biographie geprägte Ansichten darüber, was Demokratie bedeutet, was Kunst ist, welcher Künstler/welche Künstlerin aus welchem Grund geeignet sein könnte, Ansichten, die nicht unbedingt deckungsgleich mit dem sind, was die AuftraggeberInnen an sie herantragen. Ebenso auf Seite der KünstlerInnen: Sie verstehen sich nicht als „AnbieterInnen“ einer Ware, sondern (je nach Selbstverständnis) als SchöpferInnen eines Werks oder wie etwa Xavier Veilhan in Tours als „Vektor, durch den hindurch ein Objekt entsteht.“ Diese Multiplikation von Rollen erinnert an Bruno Latours Emphase auf die zentrale Rolle von „Mittlern“ in Prozessen der Wissensproduktion und solchen der Produktion des Sozialen. Eine solche zentrale Rolle können menschliche oder nicht-menschliche MittlerInnen nur dann spielen, wenn sie nicht „übersetzen“, sondern einen Unterschied machen: den Auftrag von dort nach da bringen und dabei die Idee selbst gestalten und verändern. Anstatt Verhältnisse zu regulieren und Prozesse zu optimieren, geht es eher darum, Missverhältnisse herzustellen und aushaltbar zu machen. Dabei muss Platz sein für Bartleby-Situationen, für Verlangsamung und Stotterei (Stengers 2008, 37), für Inkommensurables, für Streitsachen, für die Einforderung von Anteilen, für – mit Jacques Rancière gesprochen – ein Unvernehmen (Rancière 2002) als das seltene Ereignis des Politischen. Von einer anderen Seite, aber unter einem ähnlichen Blickwinkel betrachtet, ist das Interessante an vielen der Projekte ihr Umgang mit Zeit: Die Projekte dauern, sie werden hin- und her gewälzt, sie erfahren Ablenkungen, bleiben in der Schwebe. Das widerspricht sowohl dem Kalkül einer raschen Abschöpfung von (sozialem, affektivem) Mehrwert als auch der Idee des Kunstwerks als singulärem Ereignis. Der Langsamkeit und einem möglichen Scheitern Raum zu geben, damit unterscheiden sich die „Neuen Auftraggeber“ von anderen, zumal ökonomischen, Agenturen des Möglichkeitssinns.

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Literatur und Quellen

Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1974. Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1982), in: ders.: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982. Frankfurt a. M. (Materialis) 1985. Alexander Kluge: Die Lücke, die der Teufel lässt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003. Les Nouveaux Commanditaires (Hrsg.): Faire art comme on fait société, Paris (les presses du réel) 2013. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2002. Isabelle Stengers: Spekulativer Konstruktivismus, Berlin (Merve) 2008. Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Saarbrücken (VDM) 2007. (Reprint der Ausgabe von 1913). Joseph Vogl: Über das Zaudern, Zürich, Berlin (Diaphanes) 2007.

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Eine frühere Fassung dieses Beitrags ist in diesem Sammelband auf Französisch erschienen: Lex Noveaux Commanditaires: Faire art comme faire la société, Paris (les presses du réel) 2013, S. 741–752. Nebenher gesagt enthalten die Passagen Musils eine veritable Philosophie der Mittler, des Intermediären und des Dritten: Das Gericht und die modernen Wissenschaften wären nur dazu in der Lage, zwischen zwei Zuständen zu entscheiden (schuldig/unschuldig, krank/gesund, zurechnungsfähig/unzurechnungsfähig), obwohl doch die meisten Menschen halbkrank, teilweise schuldig und teilweise unschuldig sowie nur zu einem gewissen Grad zurechnungsfähig seien (vgl. ebd., S. 242). Der Ausdruck „Korporealitäten“ hat sich in einer ganzen Reihe von kulturwissenschaftlichen sowie wissenschaftshistorischen und -theoretischen Feldern, die sich mit Körperpolitiken beschäftigen, eingebürgert: Der Analyse von Tanzpraktiken, Verfahren der Medizin und insbesondere Verkörperungen von Krankheit und Behinderung, aber auch dem Körperlich-Werden von politischem Widerstand dient er als Matrix. Es ist auffällig, dass in den Publikationen, etwa dem Manifest der „Nouveaux Commanditaires“, eine eher traditionelle Nomenklatur vorherrscht. Dies reicht vom Namen des Projekts („Auftraggeber“) über die Betonung „bürgerlichen“ Engagements bis hin zum strategischen Einsatz der Rede vom „berühmten“ Künstler. Die Praxis scheint mir erfreulich weit über die klassischen Rollenzuschreibungen hinauszugehen. Vgl. etwa die umfassende Darstellung und Reflexion solcher Verfahren in nationalen Agenturen, z.B. www.partizipation.at, der Informationswebseite für Partizipation und nachhaltige Entwicklung des Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft Österreich.

Josef Rhemann

Der Wert des Menschen. Anthropotechnik versus humanspezifische Selbstbestimmtheit

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Grenzen der menschlichen Natur

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Das 21. Jahrhundert steht im Zeichen des Gedankens und der Möglichkeit anthropotechnischer Veränderungen durch Eingriffe in die Grundlagen der menschlichen Natur, welche zu einer massiven Verschiebung der bisher gekannten Gattungsgrenzen führen und damit in der weiteren Folge den ontologischen Status der anthropologischen Verfassung radikal in Frage stellen. Transplantationsmedizinische, neurochirurgische sowie bio-, gen- und computerinformationstechnische Eingriffe in die körperlichen, neuronalen und kognitiven Lebensgrundlagen würden, so heißt es, zu einer fundamentalen Verkünstlichung der bisher mit der menschlichen Natur identifizierten, bio-psychosozialen Humanexistenz führen. Sofern angenommen wird, dass die Grenzen zwischen dem „natürlichen“ Menschen und seinen bio- und computertechnischen Korrelaten zunehmend verschwimmen, beinhaltet die Vorstellung (oder sollte man nach dem tatsächlichen Wissensstand besser sagen – die Phantasie) einer hochtechnisierten Zukunft der materialen und mentalen Grundausstattung der menschlichen Natur allerdings das Paradoxon einer nahezu übermenschlichen Selbstüberschreitung bei gleichzeitigem Rückfall auf das vormenschliche, teils sogar präbiologische Niveau einer hochtechnisierten künstlichen Bio-Maschinenexistenz von Mensch-Maschinen-Hybriden. Indes lassen sich solche Vorstellungen nur unter der Bedingung aufrechterhalten, dass dabei von der entelechialen und somit prozessual-entwicklungslogischen Grundstruktur der im Selbstunterschied des materiellen Seins verankerten anthropologischen Verfassung abgesehen wird. Dagegen gilt es, diese als grenzenloses Gedanken-Denken entfesselte, mechanistische Anthropotechnik an die Ontologie des Selbstunterschieds zurückzubinden, um dadurch die für das Menschsein ohnehin unvermeidliche Selbstüberschreitung in den mit Selbst-Denken gekoppelten Vernunftgrenzen seiner entelechial festgeschriebenen Existenzbedingungen zu halten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach der Entelechie der anthropologischen Verfassung

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Mensch-Sein aus drei Grunddimensionen des Selbstunterschieds des materiellen Seins resultiert: 1.) aus der Einlagerung des Menschen in einen kosmischen Prozess des Werdens einer universalen, absoluten Bewegung; 2.) aus der lebendigen Bewegung und Entwicklung des mit einem Gehirn ausgestatteten menschlichen Organismus, dessen zentrische Eigenaktivität über eine Innen-Außen-Grenze informationsverarbeitend lernt; 3.) aus einer in der Spannung von Individualität und Sozietät gehaltenen, exzentrischen Bewusstseinsaktivität, gebildet durch mentales Lernen mit dem Resultat des in kognitive und praktische Autonomie mündenden Geistes der anthropologischen Verfassung. Diese bildet gleichzeitig den Rahmen für eine der unvermeidlichen Selbstüberschreitung des Menschen geschuldete, entelechiale Anthropotechnik. Unter den allgemeinen Bedingungen der damit verbundenen, prozessual-entwicklungslogischen Struktur des sich in sich selbst unterscheidenden Seins offenbart sich MenschSein als permanente, exzentrische Selbstüberschreitung in einem prinzipiell unabgeschlossenen Werden zur Freiheit. Angesichts dieser prinzipiellen Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit des Werdens zur Freiheit versucht sich Anthropotechnik mit einem kompensatorischen, zumeist mit Macht geladenen Kompetenzangebot. Allerdings steht heute die mechanistisch unvernünftig entfesselte, postentelechiale Anthropotechnik, im Unterschied von einer an die ontologischen Grundbedingungen des Mensch-Seins rückgebundenen entelechialen Anthropotechnik, in einem unauflösbaren Widerspruch zu dem in die anthropologische Verfassung ontologisch eingeschriebenen Anspruch und Wert des Werdens zur Freiheit. Die gängige Strategie der postentelechialen Anthropotechnik stützt sich zum einen auf den von Platon klassisch antik vorbereiteten, von Descartes neuzeitlich etablierten Dualismus zwischen einer das Menschsein bestimmenden, ontologischen Relevanz einer kognitiv strukturierten Leibinnerlichkeit und einer dieser äußerlich gegenüberstehenden, ontologisch zu vernachlässigenden, der von Bacon propa-

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gierten Naturbeherrschung unterworfenen Körperlichkeit. Zum anderen ebnet genau diese ontologische Vernachlässigung der naturhaft verstandenen, organischen Körperlichkeit etwa anderthalb Jahrhunderte nach Bacon das Terrain für die Okkupation durch die u.a. bei LaMetttrie beheimateten, mechanisch materialistischen Deutungsmuster, welche den Menschen als energetisch selbst organisierte Körper-Maschine erscheinen lassen: „Der Körper des Menschen ist eine Maschine, die ihre Triebfedern selbst spannt, ein lebendiger Inbegriff der ewigen Bewegung.“1 Dabei erfährt die bei Platon etablierte epistemologische Ontologie eine Vorzeichenumkehrung: An die Stelle der seelisch-kognitiven Innerlichkeit tritt die nach den methodischen Prinzipien der vergleichenden Anatomie erforschte Gehirnphysiologie als ontologische Grundlage des mit Erkenntnis ausgestatteten Seins. Die kognitive Organisation der Seele zeigt sich darin als körperlich-organische Funktion des Gehirns: 333

„Die verschiedenen Zustände der Seele stehen also immer in Wechselbeziehung zu denen des Körpers. Um diese Abhängigkeiten und ihre Ursachen besser darlegen zu können, wollen wir uns der vergleichenden Anatomie bedienen. Schauen wir uns das Innere der Menschen und der Tiere also einmal an [...] Im Allgemeinen gleicht das Gehirn der Vierbeiner in Form und Zusammensetzung dem des Menschen.“2 Diese Aussage scheint erstens im Lichte der heutigen Genforschung durch die Tatsache bestätigt, dass Menschen mit schimpansenartigen Primaten 98,7% der Gene verbindet. Zweitens versucht uns die kognitive Neurobiologie darzulegen, dass die seit Platon und Aristoteles als Seelenfunktion betrachtete Kognitivität durch die neuronale, im Sinne einer durchaus auch empfindungsfähigen Computerinformationsmaschine deutbare Organisation des Gehirns determiniert wäre. So gesehen wären Begriffe wie „Bewusstsein“, „Geist“ oder eben „Seele“ mehr oder weniger leere Worthülsen, welche besser durch entsprechende Begriffe der neurobiologischen Organisation des

Josef Rhemann

Gehirns zu ersetzen wären. In diesem Sinne argumentierte bereits LaMettrie:

„Da nun aber alle Funktionen der Seele dermaßen von der entsprechenden Organisation des Gehirns und des gesamten Körpers abhängen, dass sie offensichtlich nichts anderes sind als diese Organisation selbst, haben wir es ganz klar mit einer Maschine zu tun [...] Das Denken entwickelt sich doch ganz offensichtlich mit den Organen. Warum sollte die Materie, aus der sie bestehen, nicht auch Schuldgefühle hervorbringen können, seit sie irgendwann einmal im Laufe der Zeiten die Fähigkeit des Empfindens erworben hatte? ‚Seele‘ ist also nur ein leeres Wort, von dem man keinerlei inhaltliche Vorstellung hat. Ein seriöser Denker sollte es nur gebrauchen, um den Teil in uns zu bezeichnen, der denkt.“3 334

Die Anthropotechnik des 20. und 21. Jahrhunderts steht im Zeichen der technischen Instrumentalisierung der Körper-Maschine im Sinne der neuzeitlichen Wissenschaft. Zu Beginn des Ersten Buches seiner Aphorismen betonte Bacon seinerzeit, dass Naturerkenntnis auf Experiment und Beobachtung gründet: „Der Mensch, der Diener und Ausleger der Natur, wirkt und weiß so viel, als er von der Ordnung der Natur durch Versuche oder durch Beobachtung bemerkt hat; weiter weiß und vermag er nichts.“4 Indes resultiert aus dieser sich scheinbar der Natur unterwerfenden Haltung des Dienens und Auslegens gleichzeitig ihre Unterwerfung unter die in sie eingreifende, gesellschaftlich und politisch organisierte Herrschaft des Menschen. Zum Unterschied vom späteren Diktum Kants, wonach nicht wir uns in unserem denkenden Erkennen nach den Dingen, sondern die Dinge sich nach unserer Erkenntnis zu richten haben, scheint sich Bacon eher dem vorsokratischen Ideal verschrieben zu haben, nach welchem Weisheit bedeutet, gemäß der Natur zu handeln, indem man auf sie hört: „Denn der Natur bemächtigt man sich nur, indem man ihr nachgibt.“5

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Noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wurde, sei es implizit oder explizit, ein unter keinen Umständen überschreitbarer, die menschliche Ursprungsnatur begrenzender, ontologisch wirksamer Rahmen für Eingriffe in die Humanexistenz unterstellt. Sämtliche Versuche, im Bestreben nach Distanzierung von der Naturunmittelbarkeit unter Einsatz von Anthropotechniken in die menschlichen Lebensgrundlagen einzugreifen, sei es unter Einsatz religiös affizierter Kultpraktiken oder eben mit profanen Kulturtechniken, fanden bisher in den normativ wirksamen Wesensbestimmungen der Humanexistenz ihr „natürliches“ Regulativ. Aus der Sicht des kulturwissenschaftlichen Diskurses der historischen Anthropologie orientiert der Begriff der Anthropotechnik auf das Verständnis des Menschen als Produkt (seiner selbst). Aus dieser Sicht stellt sich im nächsten Schritt die Frage nach den dafür verantwortlichen Produktionsverfahren. Hatte Marx dabei seine Aufmerksamkeit auf die sozialökonomischen Verfahrensgrundlagen bei der Selbstproduktion des Menschen, namentlich die sich über technische Produktionsmittel vermittelnde Kreativintelligenz menschlicher Arbeitskraft, gerichtet, findet sich bei Heidegger die Zurücknahme der mit der politischen Ökonomie versuchten, gesellschaftlichen Begründung der Humanexistenz in deren existentialontologische Fundierung. Dies hat zur Folge, dass Technik nicht mehr als materiell wirksames Moment einer der Verausgabung von Arbeitskraft geschuldeten, intelligent organisierten ökonomischen Produktion und Reproduktion der menschlichen Lebensvoraussetzungen verstanden werden kann, sondern als rein ontologisch relevanter Akt des Entbergens des menschlichen Wesens in seinem Sein. Von diesem ausgehend stellt sich allerdings erneut die Frage nach der auf Sein gründenden und von diesem keineswegs abtrennbaren, anthropotechnischen Produktion bzw. Selbstproduktion des Menschseins. Von hier aus lässt sich dann auch eine Differenz zwischen „sanften“ entelechialen und „harten“ postentelechialen Anthropotechniken bestimmen: Erstere beschränken sich auf jenes gattungsgeschichtlich hervorgebrachte Inventar von

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Selbstformungsprozeduren, für deren Gesamtheit der Begriff der sich in den entelechialen Rahmen des Menschseins einfügenden Kultur (mit den darin einschlägig implizierten Kulturtechniken) eingesetzt werden kann. Dagegen wird mit den zweitgenannten „harten“ Anthropotechniken der entelechiale Rahmen der anthropologischen Verfassung gesprengt, zumal sich ihr Einsatz im biologischen Grundlagenfeld der Gene und Gehirne nicht mehr auf technische Gestaltung der Lebensführung unter den entelechial vorgegebenen Rahmenbedingungen beschränkt, sondern darüber hinaus auf Eingriffe in die organisch substantiellen Kernbereiche des menschlichen Lebens und damit auch in die mit ihr untrennbar verbundene, intellektuelle Substanz des bisher gekannten Menschseins abzielt.6

Anthropotechnik und der Wert der Freiheit 336

Im Unterschied zu den bisher mehr oder weniger an einer ontologisch ausgezeichneten Ursprungsnatur des Menschen orientierten, entelechialen Anthropotechniken tendieren die postentelechialen Anthropotechniken des 21. Jahrhunderts zur mehr oder weniger sorglosen Sprengung der ontologischen Rahmenbedingungen. Dies mit der möglichen Konsequenz einer Radikaltransformation der Conditio humana, welche letztendlich „Das Ende des Menschen“7 bedeuten würde. Der gegenwärtige Typ einer auf biogenetisch fundamentale, den Gattungsrahmen sprengende Eingriffe abgestellten, postentelechialen Anthropotechnik erklärt sich unter anderem auch vor dem Hintergrund des vor allem im 20. Jahrhundert vollzogenen, paradigmatischen Wechsels vom mechanischen und makrophysikalischen zum mikrophysikalischen und mikrobiologischen Verständnis des menschlichen Seins in der Welt und dem darauf beruhenden Selbst-Verständnis des Menschen und der menschlichen Natur. Demgemäß soll sich der Mensch vor dem Hintergrund der Informationstheorie, Informationstechnologie, der Quantenphysik und der Neurobiologie des 20. und 21. Jahrhunderts

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künftig nicht nur als Gestalter der ihm gegenüberstehenden, sondern ebenso auch als Konstrukteur der an und in ihm selber liegenden, namentlich organischen, Natur verstehen. Das so geartete Selbstverständnis des Menschen im dritten Jahrtausend erfordert entsprechende Umgestaltungen in der sprachlichen Codierung der anthropotechnischen Eingriffsfelder angesichts der epistemologisch problematisch zu beurteilenden Situation einer postentelechial begriffenen Menschennatur. Dementsprechend wird die menschliche Natur gegenwärtig vor allem in der sprachlichen Fassung der Codes der Bio-, Neuro- und kybernetischen Informationswissenschaften sowie auch der Quantenphysik dargestellt. Demnach repräsentiere zum Beispiel die helixartige Gestalt der Gene den mit chemischen Bioinformationen programmierten Code eines (menschlichen) Organismus, dessen Funktionsgrundlage als sich selbst aktivierendes, autopoietisch steuerwirksames Programm gedeutet wird. Lebewesen werden demnach nicht mehr als entelechial bestimmbare Art- und Gattungsgestalten begriffen, sondern als selbstorganisiert prozessierende, genetische Informationskomplexe. Genau darauf stützen sich so manche Visionen künstlich herstellbaren Lebens. Im Zuge einer Umkehrung einer ganz bestimmten Variante der Molekularbiologie in Gestalt des postbiologischen Physikalismus bräuchte man hierzu den genetischen Informationsprogrammen nur noch eine entsprechend computerisierte Fassung verleihen und schon hätte man die Lebenssubstanz als virtuelles Softwareprogramm in der Hand. Damit wäre der Weg für die künstlich intelligente, beliebig gestaltbare, unendlich kopierbare (klonbare) und letztendlich von der Sterblichkeit befreite – oder zumindest auf Unsterblichkeit konvergierende − Stufe der ultimativen Perfektionierung des Lebens erreicht. Daher gilt es, sich mit der Frage des ontogenetischen Anfangs auseinanderzusetzen: Wann überhaupt beginnt menschliches Leben? Analog zu der von Hegel beim Einstieg in die dialektische Logik vorgeschlagenen Gedankenführung, derzufolge sich der Anfang mit dem Sein als Werden entpuppt, lässt sich durchaus auch der menschliche Lebensanfang vorstellen: der Anfang nicht als Ursprung, sondern als Prozess. In diesem

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Fall als Prozess des sozialen und ontogenetischen Werdens, beginnend von der sexuierten Beziehung potenzieller Eltern bis hin zur Geburt und Sozialisation eines daraus entspringenden Kindes. Wenn man nun im Sinne eines gentechnologisch unbeeinflussten Anfangs den das Geschehen beurteilenden Blick darauf richtet, dass die aus einer natürlichen Zeugung resultierenden Embryonen aus einer sexuierten Beziehung heraus entstehen, welcher eine symbiotische Beziehung des frühestkindlichen embryonalen Individuums folgt, so lässt sich daraus eine thesenhafte Feststellung ableiten, welche lautet: „Die Beziehung ist der Anfang und Menschwerdung geschieht in Beziehungen.“8 Somit folgt aus dem natürlichen Verlauf des menschlichen Anfangs, dass dieser sich keineswegs auf eine biologische Faktizität reduzieren lässt, sondern dass es sich bereits bei der embryonalen Entwicklung von Beginn an um genetisch und biosozial strukturierte, entelechial wirksame Entwicklungsprozesse handelt, welche von vornherein auf gattungsrelevantes Menschsein hin angelegt sind. An die darin eingelagerte Antizipation des Selbstbestimmungsrechtes künftiger genmanipulierter Individuen schließt sich vor allem auch die Frage nach dem für sie zu erwartenden Freiheitsgrad in ihrem späteren Erwachsenenleben. Das philosophische Selbstverständnis einer daraus zu gewinnenden Perspektive menschlicher Werte, ausgehend vom Wert des Menschen als solchem, wird sich in der gegenwärtigen Lage mit einfachen Verweisen auf traditionelle ontologische Begründungsargumente der klassischen Metaphysik ebenso wenig begnügen können wie mit herkömmlichen subjektphilosophischen oder poststrukturalistischen Modellierungen des Menschenbegriffes. Worum es dagegen einer an Plessner anschließenden, sich ihres philosophisch-anthropologischen Kerngehalts besinnenden Philosophie des 21. Jahrhunderts gehen kann, ist der sich seiner an Aristoteles, Kant, Hegel und Marx anknüpfenden Theoriegeschichte bewusste Versuch einer historisch-genetischen Rekonstruktion des Menschseins aus seinen wechselwirkend

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zusammenhängenden, sozial- und individualgeschichtlichen Bedingungen. Menschsein lässt sich demnach in der Parallelführung von Theoriegeschichte und Gattungsgeschichte als bis heute unabgeschlossener Prozess des Menschwerdens begreifen, als gattungsgeschichtlicher und ontogenetischer Anschluss der Kultur des Geistes an die Natur des Organismus, im Zuge dessen im Spannungsfeld von Individualität und Sozietät die für die Humanexistenz konstitutiven Lernleistungen ausgebildet und die aus ihnen resultierenden, emotionalen und kognitiven Strukturen aufgebaut werden. Sie beinhalten die bis zu einem bestimmten Grad variablen, historisch entwicklungsfähigen, anthropologischen Konstanten, darunter auch jene zentralen Denk-Kategorien, welche es dem Menschen ermöglichen, sich selbst in seiner Individualität, Sozietät und Historizität zu begreifen. Eine solche, vielleicht sogar die zentrale Kategorie für das allgemeintheoretische und praktische Selbstverständnis des Werts des Menschen, findet sich in den bei Aristoteles und Kant angesprochenen Begriffen der Freiheit und Autonomie. Indes besteht für den heutzutage unbestrittenen, entwicklungsgenetisch verfolgbaren Dominanzwechsel von der primär biologischen Instinktregulation zur kognitiv selbstgeleiteten Handlungsorganisation nach wie vor Erklärungsbedarf. Selbst wenn die seinerzeit von Marx, in Abhebung von Darwin, ins Spiel gebrachte Theorie der sozialen Selbstkonstituierung des Menschseins durch Arbeit in die Überlegungen einbezogen wird, bleibt damit die Frage nach dem Wert des Menschen zumindest dann offen, wenn dabei nicht die von Marx ebenfalls betonte, wenn nicht sogar im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehende Frage des möglichen Autonomie- und Freiheitsgewinns der sich über Arbeit hervorbringenden Subjekte beantwortet wird. Im Anschluss an die von Kant in seiner praktischen Philosophie formulierten Prinzipien kann die den Wert des Menschen heute grundlegend bestimmende Frage unter anderem auch nach der moralischen Berechtigung des ökonomisch-marktwirtschaftlich verursachten, anthropotechnischen Einsatzes

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computerisierter Verfahren der Bio- und Gentechnologie auch im Lichte der Philosophischen Anthropologie von Plessner vor dem Hintergrund der Überlegungen von Aristoteles und Kant danach beurteilt werden, ob die Freiheit und Autonomie eines künftigen, mit Zuhilfenahme solcher Verfahren hervorgebrachten, menschlichen Individuums – und damit auch dessen Wert als Mensch – eben grade durch die technische Verfahrensanwendung seiner Hervorbringung eingeschränkt wird oder nicht.

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Literatur

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Endnoten

Aristoteles: Physik (347 v. Chr.), Hamburg 1988 F. Bacon: Neues Organ der Wissenschaften (1670), Darmstadt 1981 U. Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973 J.G. Fichte: Die Bestimmung des Menschen (1800), Hamburg 2000 F. Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München 1992 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik (1816), Hamburg 1985 M. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1993 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt 1974 I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt 1997 K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Erg., Bd. 1 K. Marx: Thesen über Feuerbach, MEW 3 J. O. de La Mettrie: Der Mensch als Maschine (1748), Nürnberg 1985 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Frankfurt a. M.1981 J. Piaget: Biologie und Erkenntnis(1967), Frankfurt a. M. 1974 J. Reich: Es wird ein Mensch gemacht. Möglichkeiten und Grenzen der Gentechnik, Berlin 2003 R. Rehn, Ch. Schües, F. Weinreich (Hrsg.): Der Traum vom besseren Menschen, Frankfurt a. M. 2003 J. Rifkin: Das biotechnische Zeitalter. Die Geschäfte mit der Gentechnik, München 2000 P. Sloterdijk: Nicht gerettet, Frankfurt a.M. 2001 P. Virilio: Die Eroberung des Körpers, München/Wien 1994

1 La Mettrie 1985, S. 26. 2 Ebd., S. 32. 3 Ebd. S. 67f. 4 Bacon 1981, S. 26. 5 Ebd. 6 Vgl. Sloterdijk. 7 Fukuyama 1992. 8 Ebd., S. 35.

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Abstract

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Wir leben in einer gefährlichen Gegenläufigkeit unserer Wertekanons: Einerseits sorgen sich beispielsweise immer mehr Menschen um das Wohlergehen von Tieren (und konstruieren im Zuge eines kultisch gelebten Veganismus gern auch eine ethische Überlegenheit), andererseits werden Millionen Menschen nach wie vor verfolgt, entrechtet und aus niederen Beweggründen getötet – großteils unter Billigung der „Supermächte“, die diese Verbrechen gegen die Menschheit verhindern könnten. Humanistisch motivierte Innovatoren fristen oft ein brotloses Schattendasein, während sich selbst ein augenscheinlicher Altruist wie Elon Musk auf den zweiten Blick als spiegelbildlicher Antagonist zu Nikola Tesla (dem Namenspaten hinter Musks Autofirma Tesla) herausstellt. Denn während der historische Tesla all seine Patente kostenlos der Menschheit zur Verfügung stellte und in Armut verstarb, akquiriert Multimilliardär Musk automatisch alle Patente, die unter seiner Ägide entstanden sind. Unstrittig ist, dass Elon Musk ein echter Innovator ist, dessen technologische Visionen die Menschheit auf neue Ebenen bringen werden; sein Beispiel zeigt jedoch ebenso unstrittig, wie unerlässlich eine große Portion Egomanie für das Erreichen außergewöhnlicher Ziele ist. Auf eine bizarre und beinahe cartoonartige Weise negiert US-Präsident Donald Trump abermals die bürgerliche Idealvorstellung, Soziopathie und unverhohlener Egoismus seien für Erfolg auf der internationalen politischen Bühne abträglich; Trumps Erfolg legt indes nahe, es handle sich bei diesen pathologischen Charakterdefiziten nachgerade um Grundbedingungen für Reichtum, Einfluss und Anerkennung. Geradezu undemokratisch hingegen erscheint bisweilen die Hexenjagd, die auf Trump-Wähler und Unterstützer losbrach. Kognitive Dissonanzen sind in dieser entropischen Wertedekonstruktion zum flächendeckenden Phänomen geworden; mit anderen Worten: Wer versuchen würde, seine Weltsicht ohne jegliche „Double Standards“ durchzusetzen, würde sich

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automatisch in eine radikale und damit randständige Position begeben. Und da wir Menschen intuitiv auf der Seite der Mehrheit stehen wollen, schweigen wir lieber und lassen diverse Mechanismen zur Dissonanzreduktion wirksam werden. Große Herausforderungen an unsere Wertesysteme konkretisieren sich insbesondere durch den wachsenden Sektor rund um künstliche Intelligenz, gemeinsam mit den flankierenden Technologien der Robotik und der molekularen Nanotechnologie. Während künstliche Intelligenz am Kern der kommenden Transformationen liegt, erhält sie durch Robotik gewissermassen Arme und Beine – und durch Nanotechnologie möglicherweise Omnipotenz. Mit fortschreitender Intelligenz unserer künstlichen Agenten formulieren sich ergo auch immer deutlicher Fragen ethischer Natur, die ergründen sollen, welche Werte wir in maschineller Intelligenz implementieren sollten. Überdies lassen transhumanistische Technologien fundamentale Reformationen des Menschenbildes erwarten, und die damit verbundenen Herausforderungen an traditionelle Religionssysteme sind gewaltig. Wie gehen wir aber mit diesen und anderen gegenwärtigen und künftigen Wertekrisen um? Ist so etwas wie ein globaler Wertekanon unerlässlich, um humanistische Ideale umzusetzen, und ist dieser überhaupt theoretisch erreichbar? Wie verändert sich das Menschenbild, wenn der Mensch einmal obsolet für weitere technologische Revolutionen geworden ist? Beinahe unbemerkt avancierte die Trias von künstlicher Intelligenz, Robotik und Nanotechnologie zum strukturbestimmenden Gestaltungsprinzip unserer Gegenwart und Zukunft. Diese futuristischen Technologien versprechen enorme Fortschritte im Allgemeinen und valide Lösungen für viele der dringendsten Probleme der Menschheit im Besonderen. Andererseits implizieren diese Technologien jedoch inhärente Kontrollprobleme und fordern uns heraus, neue ethische Standards zu definieren sowie die Entwicklung und Einführung dieser Technologien zu regeln. Innerhalb eines unbekannten Zeitrahmens werden exponentielles Wachstum und

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beispiellose Fortschrittsraten unweigerlich zu einer Form von nicht-biologischer Intelligenz führen, die zunächst Parität mit der Menschheit erreicht, um bald darauf unsere Fähigkeiten bei weitem zu übersteigen. Zu diesem Zeitpunkt, so unklar das genaue Datum auch sein mag, werden Emulationstechnologien es ermöglichen, nicht nur das menschliche Gehirn abzubilden, sondern schließlich auch eine virtuelle Kopie des Geistes zu erstellen und ihn in einer simulierten Umgebung oder auf einer Festplatte zu implementieren. Humanoide Roboter werden in die Gesellschaft integriert werden und anschließend grundlegende Bürgerrechte erhalten; der humanoide Konversationsroboter SOPHIA hat im übrigen bereits 2017 in Saudi-Arabien Bürgerrechte erhalten. Dies ist aus ethischer Sicht besonders prekär, da dieser Roboter momentan mehr Rechte besitzt als die meisten saudi-arabischen Frauen. Der Mensch wird sein Gehirn durch den Einsatz von Maschinen-Hirn-Schnittstellen wie Elon Musks Projekt NEURALINK verbessern. Menschen, die mit solchen Geräten ausgestattet sind, werden übermenschliche Fähigkeiten und einen IQ besitzen, der um ein Vielfaches größer sein wird als der der hellsten Köpfe. Doch wie sollen wir regeln, wer sein Gehirn augmentieren darf und wer nicht? Wie können wir einen fairen Wettbewerb gewährleisten, wenn augmentierte menschliche Intelligenz den Arbeitsmarkt beflügelt? Und wie sollten solche augmentierten Menschen überhaupt genannt werden? Die bevorstehenden Revolutionen sind in der Tat komplexer und herausfordernder als jede andere technologische Revolution zuvor, und sie erfordern unsere fokussierte, interdisziplinäre Arbeit und vereinte Rationalität, um sicherzustellen, dass das Ergebnis humanistisch angemessen und wünschenswert ausfällt. Das bedeutet auch, die Kräfte der wichtigsten Denker und führenden Köpfe der Welt, von der Wissenschaft über die Politik bis hin zur Wirtschaft, zu bündeln, aber natürlich müssen sich auch die religiösen Führungspersönlichkeiten dieser mehrstufigen Herausforderung stellen. Um Maschinen zu schaffen, die ethisch handeln, erscheint es naheliegend, dass die erste Voraussetzung ein Kanon von

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Kernwerten wäre, den wir dann für die maschinelle Intelligenz übersetzen. Der zweite Teil des Problems ist nicht im Entferntesten so schwer zu lösen wie der erste Teil, und zwar deshalb, weil wir als Spezies seit Jahrtausenden keinen gemeinsamen Moralkodex finden konnten. Die Kulturen und Philosophien scheinen zu unterschiedlich zu sein, um sich unter einem einzigen Banner des Denkens vereinen zu lassen. Das große Problem ist jedoch: Wir müssen diesen moralisch-ethischen Konsens finden, bevor ein intelligenter Agent es für uns tut. Dieser Konsens kann den kulturellen Unterschieden nicht Rechnung tragen, da er weltweit umgesetzt werden muss. Daher muss ein solcher Moralkodex abstrakt genug sein, um kulturelle Unterschiede überwinden zu können, aber greifbar genug sein, um in klaren und nicht-ambivalenten operativen Regeln ausgedrückt werden zu können. Was uns direkt zu dem zugrundeliegenden, wesentlichen Kommunikationsproblem führt: Wir kennen keine eindeutige Terminologie (außer in Code). Isaac Asimovs berühmte drei Robotergesetze dienen als gutes Beispiel für dieses Dilemma: 1. „Ein Roboter darf einen Menschen nicht verletzen oder durch Untätigkeit einen Menschen zu Schaden kommen lassen.“1 2. „Ein Roboter muss Befehlen gehorchen, die er von Menschen entgegengenommen hat, außer wenn solche Befehle mit dem Ersten Gesetz kollidieren.“2 3. „Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange dieser Schutz nicht im Widerspruch zum ersten oder zweiten Gesetz steht.“3 Während es Asimov sicherlich gelungen ist, kompakte Gesetze mit einer kohärenten Logik zu schaffen, gelten seine Robotergesetze aufgrund unserer ambivalenten und kontextabhängigen Sprache als gescheitert. Wir haben zu viel Raum für Interpretationen. Was versteht man unter „einen Menschen verletzen“? Oder was bedeutet es, „zu Schaden zu kommen“? Es hängt absolut vom Kontext ab. Ein Masochist, der einen Sexroboter bucht, um von diesem gefoltert zu werden, könnte sogar klagen, seine Rechte (als Konsument) seien verletzt

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worden, indem er nicht verletzt wurde (wie gefordert). Die menschliche Kommunikation ist zu umfassend und arbeitet auf zu vielen Ebenen, um sich der Distinktion maschineller Intelligenz anzupassen, und wir können nicht erwarten, dass Maschinen uns richtig verstehen, wenn wir ihnen das nicht beibringen. Hier eine unvollständige Liste von Begriffen, die wir (neu) definieren müssen, um unsere Sprache und unsere Philosophie zukunftssicher zu machen: –– menschliches Bewusstsein/ andere Formen von Bewusstsein –– Geist –– Identität –– freier Wille –– Intelligenz –– Rationalität –– Moral –– Ethik –– Realität –– Wahrnehmung –– Qualia –– Mensch / Menschlichkeit –– erweiterte Menschen –– robotische Entitäten –– hochgeladene Erinnerungen und Bewusstseine etc. –– Gleichheit / Ungleichheit Die größte Herausforderung besteht darin, unsere jahrtausendealte Gewohnheit zu überwinden, unterschiedliche – und zum Teil gegensätzliche – Denkschulen zu entwickeln, ständig über Alternativen nachzudenken und diese zu formulieren; im Gegensatz dazu müssen wir Komplexität reduzieren und allgemein akzeptierte Definitionen schaffen, die einer Maschinenintelligenz keinen Interpretationsspielraum lassen. Aber dies wird nicht allein durch die Schärfung unserer Kommunikationsmittel erreicht werden können. Sobald wir eine eindeutige Terminologie gefunden haben, müssen wir noch einen Konsens darüber finden, wie ein intelligenter Agent handeln soll – ethisch gesprochen.

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Die laufenden und bevorstehenden technologischen Revolutionen stellen insbesondere für die traditionellen Religionen eine Herausforderung dar. Dies liegt zum Teil an den skizzierten Veränderungen des Menschenbegriffs, aber auch an den ontologischen Paradigmenwechseln, die mit der Singularität oder jeder Form von Intelligenzexplosion einhergehen könnten. Zunächst müssen wir definieren, was ein Mensch im Wesentlichen ist und was der Begriff der Menschlichkeit in Zukunft beinhalten sollte. Wenn wir anerkennen müssen, dass im Bereich der Simulationstechnik kein humanes Embodiment mehr notwendig ist, sollten hochgeladene menschliche Bewusstseinsinhalte-/formen dann fortan als (ehemalige) menschliche Wesen gelten, die mit Rechten und Würde ausgestattet sind? Solche technologisch erschaffenen Eintitäten wären somit genauso schützenswert wie Menschen, sofern wir von einem Quasibewusstsein ausgehen müssen. Im Wesentlichen brauchen wir künftig ein erweitertes und modifiziertes Menschenbild, das sich nicht a priori ausschließlich über die Biologie definiert. Doch daraus ergibt sich in der logischen Konsequenz ein ethisches Dilemma: Wenn der Status als Mensch nicht mehr an eine körperliche Erscheinungsform gekoppelt ist, sondern in einem technologischen Transformationsprozess erworben werden kann, bedeutet dies dann im Umkehrschluss, man kann diesen Status auch wieder verlieren? Erwiesenen Unmenschen – Diktatoren, Massenmördern, Terroristen etc. – könnte somit der humane Status aberkannt werden. Diese Konsequenz würde unweigerlich aus der Entkopplung von biologischer Erscheinungsform und Status als Mensch resultieren; „Unmenschen“ der oben genannten Kategorie wären demnach dann zwar mit menschlichem Embodiment ausgestattet, hätten aber ihren Status als Teil der Menschheit durch ihr Handeln verwirkt. Sollte es jemals zu einem juristisch relevanten Aberkennen des menschlichen Status kommen, dann muss um jeden Preis verhindert werden, diese Aufgabe künstlichen Intelligenzen zukommen zu lassen.

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Die Vernachlässigung dieser Themen würde unweigerlich zu Formen von „mind crimes“ führen, also Situationen, in denen relevante Formen von Bewusstsein geschädigt würden, während diese tatsächlichen Rechtsverletzungen ignoriert würden. Auch wenn eine „Whole Brain Emulation“ nie stattfinden wird, bleiben diese vorhersehbaren ethischen Probleme bestehen, einfach weil viele KIs, einschließlich Konversations-Bots, Black-Box-Systeme sind, die selbst von ihren Entwicklern nicht vollständig verstanden werden. Somit werden wir irgendwann in der Zukunft in ein Stadium eintreten, in dem Bewusstsein und Empfindsamkeit mit einer Perfektion und Glaubwürdigkeit simuliert werden könnten, die es uns unmöglichen machen könnte, die Existenz einer Form von Bewusstsein mit ausreichender Entschiedenheit zu leugnen. Noch prekärer wäre allerdings, wenn wir diese Frage gar nicht mehr entscheiden könnten. Wenn die Systeme so überzeugend „bewusst“ agieren, dass wir nicht mehr zwischen bewussten und nicht-bewussten Systemen unterscheiden können und wir gleichzeitig ein emergentes Entstehen von Bewusstsein nicht bauartbedingt ausschließen können, müssen wir in dubio pro reo handeln, um ethisch angemessen zu bleiben. Mit anderen Worten: Wenn die Technologie in Bezug auf Bewusstsein und Qualia ambivalent wird und wir die Empfindsamkeit nicht qua Design ausschließen können, dann müssen wir so handeln, als ob nachgewiesen wurde, dass die KI bewusst ist.

Transhumanismus Als technologisch getriebene Bewegung von Futuristen strebt der Transhumanismus danach, menschliches Leben zu transformieren, was schließlich zur Verschmelzung (oder sogar zum sukzessiven Ersatz) des biologischen Lebens durch Technologie führen könnte. In einer offiziellen Erklärung von 2013 hat die katholische Kirche die Konzepte und Bestrebungen des Transhumanismus als Reduzierung und Abwertung des menschlichen Lebens kategorisch abgelehnt.4 Durch die Betonung der Technologie und die Erweiterung der humanen

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Biologie würden die Konzepte des Transhumanismus das Leben in seinen ursprünglichen Formen beeinträchtigen und potenziell verdrängen. Der Elefant im Raum ist jedoch die ethische Problematik, die sich aus einer allgemeinen Ablehnung von transhumanistischer Technologie ergibt. Am Beispiel molekularer Nanomedizin manifestiert sich eine Kaskade ethischer Probleme, die relevant werden, wenn wir den Einsatz transhumanistischer Technologien kategorisch ablehnen. Denn molekulare Nanotechnologie könnte eine bezahlbare globale Gesundheitsversorgung gewährleisten und damit die Lebensqualität von Milliarden von Menschen verbessern. Die Global Health Care Equivalency (GHCE), eine Initiative des Nanowissenschaftlers Frank Boehm, ist bestrebt, den Weltmarkt innerhalb der nächsten 30 Jahre zu versorgen. Als konstruktivistische Technologie wird die molekulare Nanomedizin den Umbau von Atomen nutzen, um aus atomaren „feed stocks“ Medikamente herzustellen (natürlich zu sehr geringen Kosten) oder in Form von Nanobots Zellen auf molekularer Ebene direkt umzugestalten.5 Transhumanistische Technologien werden sich etablieren – egal ob die Kirche sie unterstützt oder vernachlässigt – und diese Technologien werden viel mehr Leben retten als beispielsweise Kondome. Es wäre daher nicht nur ignorant, die Entwicklung von transhumanistischen Technologien zur Steigerung der Lebenserwartung wie fortgeschrittene Nanomedizin zu stoppen – es wäre ein ethisches Dilemma, da diese Technologien versprechen, die Lebensqualität im Allgemeinen zu erhöhen und viele Krankheiten im Besonderen zu bekämpfen. Was wir wirklich und dringend brauchen, ist eine Regelung des Zugangs zu bestimmten Technologien. Während die Global Health Care Equivalency die Förderung einer Versorgung für ALLE, also einen Anstieg der Gleichberechtigung, verspricht, könnten die Entwicklungen bis zu deren globaler Umsetzung zu einer zunehmenden Ungleichheit führen, wenn nicht alle den gleichen Zugang zu diesen Innovationen haben.

Auf der Suche nach verbindlichen menschlichen Kernwerten Im schlimmsten Fall würde nur eine Elite von den beispiellosen Möglichkeiten molekularer Nanomedizin profitieren, während eine globale Grundversorgung noch nicht etabliert wäre. Deshalb sollte sich die Kirche darauf konzentrieren, die Rechte der Unterprivilegierten zu unterstützen und dazu beizutragen, dass die globale Gesundheitsversorgung für alle gewährleistet ist, bevor fortschrittlichere Technologien an den exklusiven Kreis der Multimilliardäre abgegeben werden. Eines der wichtigsten Probleme wird also die Regulierung der ethisch angemessenen Nutzung transhumanistischer Technologien sein. Das Verbot dieser Innovationen würde nur zu vermeidbarem Leid und Todesfällen führen; vielmehr wird die Herausforderung darin bestehen, diese Technologien auf ethisch angemessene Weise und zum Wohle aller Menschen – nicht nur der Privilegierten – einzusetzen.

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Die Singularität als „materialistische Version der Auferstehung“ Viele sehr unterschiedliche Vorstellungen, Hoffnungen und (Vor-)Ahnungen sind mit dem undurchsichtigen, noch hypothetischen, aber nicht a priori unwahrscheinlichen Konzept der erwarteten Singularität verbunden. Während noch weitgehend unklar ist, was die Singularität genau sein wird, scheint klar: Wir sprechen hier von einem fundamentalen Paradigmenwechsel, der den Verlauf der Menschheitsgeschichte für immer verändern wird. Ein Schlüsselaspekt der Singularität ist die transhumanistische Idee, biologisches Leben mit Hilfe der Technologie zu optimieren und anschließend zu transzendieren. Der konservative Kommentator Wesley Smith prägte diesen Aspekt als „materialistische Version der Auferstehung“6: Der Mensch nutzt die Technologie, um die Grenzen seines physischen Körpers zu überwinden, um die Unsterblichkeit zu erreichen. Was die christliche Lehre betrifft, so würde die Auswirkung der Singularität vor allem das Konzept des Imago Dei beeinflussen: Wenn der Mensch wirklich nach Gottes Ebenbild gemacht wurde, wie konnte dann die Menschheit Maschinen entwickeln,

Karl Johannes Lierfeld

352

die eigene Formen von Verstand annahmen? Anstatt als Abwertung des menschlichen Lebens könnte die Singularität vielmehr als eine Erhöhung der Menschheit und der Fähigkeiten, die wir erworben haben, interpretiert werden. Die Überwindung unserer Biologie und die Entwicklung starker, autonomer Argumentationsmaschinen muss nicht unbedingt im Widerspruch zum Konzept des Imago Dei stehen, denn wenn die Menschheit nach dem Bild Gottes geschaffen wird und diese Maschinen nach dem Bild von uns gemacht werden, dann würden wir hiermit eine technologische Version des Imago Dei schaffen, die in weltliche Bereiche eingebettet ist. Die beiden Phasen der Transformation, die zur Wiederkunft führen, sind Transformation und Auferstehung. Die Singularität ähnelt der Phase der Transformation, indem sie die physischen und spirituellen Bedingungen der Menschheit verändert. Im Wesentlichen könnte eine verlängerte Lebensspanne, die durch Methoden der „life extension“ erreicht wird, das Leben nachhaltig genug machen, um schließlich bis zur Wiederkunft Christi zu bestehen. Es ist höchst fragwürdig, ob ein „verlängerter“ biologischer Geist mit einem (wenn überhaupt möglich) hochgeladenen Bewusstsein gleichzusetzen wäre.

Das Simulationsargument/Simulationshypothese Der gesunde Menschenverstand und die moderne Philosophie sagen uns: Wir haben keinen Zugang zur Realität selbst oder mit Kant zu den Dingen an sich; was wir als Realität wahrnehmen, ist lediglich die innere Simulation der äußeren Welt. Diese wird durch eine noch weithin unbekannte, personalisierte virtuelle Realität geschaffen, die wir unser Bewusstsein nennen. Alles wird von unseren fünf Sinnen übertragen und in unserem Gehirn verarbeitet – also könnte es nicht auch ausgetrickst werden? Der zugrunde liegende Zweifel an der Realität des Realen, der Wahrhaftigkeit unserer Wahrnehmung, ist jahrhundertealt und wurde besonders ikonisch durch René Descartes´ bösen Dämon beschrieben, der unsere Verbindungen mit

Auf der Suche nach verbindlichen menschlichen Kernwerten

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der objektiven Außenwelt unterbricht, um uns zu manipulieren. Eine zeitgenössische Version dieses ontologischen Zweifels ist das Simulationsargument (und alle entsprechenden Theorien). 2001 – zwei Jahre nach der Veröffentlichung des legendären Simulationsblockbusters THE MATRIX – versuchte der Oxford-Philosoph Nick Bostrom, den Boden unserer Realität grundlegend zu erschüttern. Bostrom nimmt die Prämisse von THE MATRIX beunruhigend wörtlich und verwendet Wahrscheinlichkeitsrechnung, um drei mögliche Versionen mit sehr tendenziösen Wahrscheinlichkeiten darzustellen. Die grundlegende Verstörungskraft dieses Gedankenexperiments ist in seiner schwer widerlegbaren inneren Logik verwurzelt: 1. Der Anteil der posthumanen Zivilisationen, die ein posthumanes Stadium erreichen, ist sehr nahe bei Null.7 2. Der Anteil der posthumanen Zivilisationen, die daran interessiert sind, Ahnensimulationen durchzuführen, liegt sehr nahe bei Null.8 3. Der Anteil aller Menschen mit unserer Art von Erfahrungen, die in einer Simulation leben, ist sehr nahe bei eins.9 Bostroms Hypothese löste eine leidenschaftlich geführte Debatte über die Grundlagen dessen aus, was wir wirklich wissen. Dabei formuliert Bostrom lediglich eine bekannte Bedrohung für die Authentizität und den allgemeinen Wert der menschlichen Erfahrung neu: Alles könnte illusionär sein – und dabei technologisch evoziert. Da die eingehenden Informationen alle kodiert und dekodiert sind, könnten diese Informationen tatsächlich der Input sein, den eine Computersimulation auf den Einzelnen übertragen könnte. Der Umstand, dass wir das Argument nicht sicher widerlegen können (auch aufgrund seiner selbstimmunisierenden Qualitäten), öffnet den Horizont für die äußerst unwahrscheinliche, aber mögliche Option, in einer simulierten Realität zu leben. Postmoderne Philosophen wie Baudrillard haben die Simulationsdebatte beeinflusst und bereits in den 1970er-Jahren die Begriffe Simulation, Dissimulation und Hyperrealität (neu) geprägt, und Baudrillards Metapher „Wüste des Realen“ fand im Blockbuster „THE MATRIX“ Erwähnung. Tatsächlich werden

Karl Johannes Lierfeld

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zukünftige Simulationen die Wirklichkeit grau und hoffnungslos aussehen lassen, eine Gefahr, die zu Formen der kollektiven Flucht führen könnte. Das Simulationsargument veranschaulicht, wie unsicher wir über Wahrnehmung, Erfahrung, Qualia und Realität im Allgemeinen sind. Allein durch die Tatsache, dass wir die Hypothese nicht a priori widerlegen können, ist dieses faszinierende Gedankenexperiment einen zweiten Blick wert. Im Jahr 2016 gab die Bank of America bekannt, dass die Wahrscheinlichkeit, in einer kollektiven Computersimulation zu leben, zwischen 10 und 30% liege, und ein Team von Wissenschaftlern wurde beauftragt, uns aus dieser „falschen Realität“ herauszuholen. Rationales Denken erinnert uns jedoch daran, dass es keine Möglichkeit gibt, die Simulation aus dem Inneren der Simulation heraus zu identifizieren, so dass das Gedankenexperiment heuristisch sinnlos ist. Eine Gefahr einer starken KI würde jedoch entstehen, wenn diese ihr Ziel darin festlegen würde, herauszufinden, ob die Realität simuliert wird oder nicht. Wenn dies das finale Systemziel wäre, könnte die KI alle verfügbaren Ressourcen verschwenden und alle Rohstoffe in programmierbare Materie verwandeln, wodurch die Wüste des Realen in Computronium umgewandelt würde. Das Simulationsargument stellt die Frage nach Gott auf eine zeitgenössische Weise und verlagert den Fokus in den Bereich der – noch unbekannten – Technologie. Daher kann die Simulationstheorie nicht bestätigt werden, da auch jegliche Beweise simuliert sein könnten. Die Chancen stehen gut, dass die These auch weiterhin nicht komplett geleugnet oder widerlegt werden kann, solange wir keine privilegierten Einblicke finden, wie unser Gehirn innere Zustände aus der äußeren Realität destilliert. Das Simulationsargument ist letztlich eine sich selbst immunisierende Theorie, genau wie eine Verschwörungstheorie auch. Dennoch könnte es pseudoreligiöse Bewegungen mit starken Glaubenssystemen etablieren, die sich aus unseren tiefen Zweifeln an der Natur von Realität, Bewusstsein und Wahrnehmung ergeben. Viel relevanter wäre aber die Erforschung der einzigen Simulation,

Auf der Suche nach verbindlichen menschlichen Kernwerten von der wir sicher wissen, dass wir in sie eingebettet sind: die Geheimnisse unseres Bewusstseins.

Ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel, der alle Metaphysik verändern könnte

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Die Forschung an „Whole Brain Emulation“ könnte zu einem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel führen, indem beispielsweise wissenschaftlich objektiviert wird, was mit dem Bewusstsein passiert, wenn das biologische Gehirn stirbt, oder die Frage entscheiden werden kann, ob eine Seele existiert oder nicht. Ungeachtet der heuristischen Gültigkeit hätte ein solcher (vermeintlicher) Durchbruch sicherlich große Auswirkungen auf die Weltreligionen. Theoretisch könnte es eine wissenschaftliche Erklärung für die Seele geben. Während die Eingangskanäle der fünf menschlichen Sinne in klarer Kausalität arbeiten und der klassischen Physik gehorchen, gilt dies nicht für fast alles andere, was im menschlichen Bewusstsein geschieht. Keine Wahrnehmungsschicht (oder deren Verarbeitung), die auch nur entfernt subjektiv/unbewusst ist, kann mit klassisch-physikalischen Methoden abgeleitet oder erklärt werden. Stattdessen scheinen psychologische, emotionale oder mentale Zustände im Allgemeinen den undurchsichtigen Regeln der Quantenphysik zu folgen. Die Quantensphäre, die von Unsicherheit, Ambivalenz und Nicht-Determinierbarkeit geprägt ist, erscheint als zeitgenössische Erklärung für die Subjektivität des Bewusstseins und könnte schlussendlich auch zu einem wissenschaftlich fundierten Konzept der Seele führen. Forschungen zur Hirnemulation und zerebralen Architekturen könnten auch zeigen, was nach dem Tod passiert. Während dies nur ein zeitgenössisches wissenschaftliches Modell sein könnte, könnte es sich trotz seines in Wahrheit möglicherweise geringen heuristischen Potenzials zu einer Anschauung des Mainstreams entwickeln. Jeder wissenschaftliche Paradigmenwechsel könnte einen tiefgreifenden Einfluss auf das religiöse Ökosystem haben.

Karl Johannes Lierfeld

Es ist durchaus vorstellbar, dass ein solcher wissenschaftlicher Durchbruch – ob gültig oder nicht – zur Entwicklung religiöser Kultbewegungen oder gar Formen von digitaler Gnostik führen könnte. Und aufgrund der exponentiellen Eigenschaften des digitalen Zeitalters könnte innerhalb weniger Jahre eine neue Weltreligion entstehen. Deshalb sollte gerade die Kirche kritisches Denken, moderne Formen der Rationalität und zukunftsfähige Ethik fördern und aktiv an einer Formulierung ethischer Konsensnormen arbeiten.

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Auf der Suche nach verbindlichen menschlichen Kernwerten Literatur

Asimov, Isaac: Runaround. Street & Smith. New York City 1942. Bostrom, Nick: Philosophical Quarterly (2003) Vol. 53, No. 211, S. 243–255 (first version: 2001) http://www.fiamc.org/bioethics/madrid-declaration-on-science-life https://www.nanoappsmedical.com https://motherboard.vice.com/en_us/article/z4m978/ how-would-the-worlds-religions-respond-to-the-singularity

Endnoten

1 Asimov, Isaac: Runaround. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Vgl. http://www.fiamc.org/bioethics/madrid-declaration-onscience-life. 5 Vgl. https://www.nanoappsmedical.com. 6 https://motherboard.vice.com/en_us/article/z4m978/ how-would-the-worlds-religions-respond-to-the-singularity. 7 Bostrom, Nick: Are you living in a computer simulation? In: Philosophical Quarterly (2003) Vol. 53, No. 211, S. 243–255 (erstmals: 2001). 8 Ebd. 9 Ebd. 1 Gebbers, Anna-Catharina und Udo Kittelmann “To Give Visible Action To Words”, aus Julian Rosefeldt „Manifesto“, Koenig Books, London 2016.

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Susanna Jalka

Drei Thesen zum Streit als Wert. Ein Manifest

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Konstruktiv streiten zu können, überwindet das Weltbild des Untertanen-Geistes

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Konflikte werden in althergebrachter Sicht als etwas Bedrohliches erlebt. Denn Konflikte sind Ereignisse, die sich durch Widersprüche, Gegensätze, Spannungen und komplexe unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen auszeichnen.1 Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von absoluter Macht, von strengen Herrschaftsstrukturen. In solchen hierarchischen Gesellschaften festigen die Machthabenden ihre Positionen mittels Geboten und Strafen. Es gibt wenig Spielraum für Widersprüche und Gegensätze, für Konflikte und unterschiedliche Interessen. Wer den zugewiesenen Ort in der Hierarchie in Frage stellt, muss mit Strafe rechnen. Widersprüche werden mittels Gewalt geregelt. Konflikte sind also gefährliche Geschehnisse. Die Entscheidungsträger in der Öffentlichkeit waren und sind meistens Männer, die ihre Macht zur Absicherung ihrer Positionen und Pfründe einsetzen. Die Kontrolle im innerfamiliären Raum wird von Frauen übernommen. Die strenge Regelung aller Beziehungsstrukturen ermöglicht kaum, Widersprüche als positive Erfahrung für die Entwicklung von Identität zu nutzen. Das System der Gebote und Strafen behauptet Eindeutigkeit. Hierarchische Systeme bringen keine Fähigkeiten hervor, die das Erkenntnis suchende Deuten komplexer Konfliktgeschichten und die Entwicklung kreativer Gestaltungsfreiheit unterstützen. Die Komplexität selbst wird geleugnet. Zweifel an als „eindeutig“ behaupteten Fakten werden als Widerstand verfolgt. Die patriarchale Elite verfügt über die Deutungsmacht und damit auch über die Verordnung der Strafen für Ungehorsam und Schuld. Konfliktsituationen werden so unweigerlich zu Ereignissen, die mit Gewalt-Erfahrungen einhergehen. Die Einstellung, dass es ratsam ist, Konflikte zu vermeiden, wird von Generation zu Generation weitergegeben. So lang die gesellschaftlichen Strukturen der Macht sich nicht ändern, ändern sich auch die sozialen Kompetenzen nicht. Erst mit der

Susanna Jalka

360

Industrialisierung und deren politischen Folgen wurde die parlamentarische Demokratie (menschheits-geschichtlich gesehen „unlängst“) zur Probe als Experiment mit offenem Ausgang in einigen Ländern eingesetzt. Weder Politiker noch Bürgerinnen und Bürger, weder Eltern noch Großeltern der neuen, heranwachsenden Generationen verfügen über Erfahrungen und entsprechende Kompetenzen einer Kultur des konstruktiven Konfliktverhaltens. Das bekannte Wort von Heraklit „Der Krieg ist der Vater aller Dinge und der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien“2 beschreibt, dass alles Werden aus dem Streit der Gegensätze entsteht. Der Krieg oder anstelle des Begriffs „Krieg“ setzen wir den „Streit“ ein, der Streit lässt aus dem auseinander Strebenden das Neue entstehen. In den Gegensätzen, meint Heraklit, zeigt sich die spannungsgeladene Einheit als Zusammengehörigkeit des Verschiedenen. Die Ordnung, die der Streit herstellt oder befestigt, ist vom Sklaven bis zum König die einer Hierarchie. Der Geist der Weisheit kann zwar aus den widerstreitenden Interessen Leben und Sinn erschaffen, jedoch die hierarchische patriarchale Ordnung der Macht wird er zur Zeit des Heraklit nicht überwinden. Welche Entwicklungen ermöglichen uns heute, den Abbau hierarchischer Strukturen zu denken und entsprechend zu handeln? Wenn wir anstelle des Begriffs „Krieg“ den „Streit“ einsetzen, ermöglichen wir jedenfalls die Vorstellung, dass die Gegensätze im konstruktiven Streitgespräch bearbeitet werden können. Wenn wir die Sprache beim Wort nehmen, will uns der Begriff „Krieg“ bereits verpflichten, die Gegensätze als zerstörungsmächtige Feinde einander bekämpfend zu definieren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden von Wissenschaftlern der Ökonomie, Soziologie und Psychologie Techniken für konstruktive Kommunikation erarbeitet. Methoden der De-Eskalation, der Verhandlungsführung, der Mediation, der aktiven Transformation von Konfliktspannung in Erkenntnis und mehr werden als erlernbare Kompetenzen

Drei Thesen zum Streit als Wert

präsentiert. Diese Methoden sind erlernbar, als Fähigkeiten ermöglichen sie faires Streiten, das zu gemeinsamen Entscheidungen führen kann.

Ambivalenz als Erweiterung des Möglichen zu begreifen, ist eine der Voraussetzungen für die Transformation von Konfliktspannung in Erkenntnis

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„Nichts scheint mir sichrer als das nie Gewisse.“3 Es geht um die Erweiterung der Denkmöglichkeiten. Es geht um die Herausforderung, Sicherheit neu zu denken, Spannung zu halten, Ambivalenz als Erweiterung des Möglichen zu begreifen. Entwicklungen von Technologien bewirken seit jeher alles erfassende Veränderungen. Die immer schnelleren Entwicklungen von Technik beeinflussen heute extrem beschleunigend alle Bereiche des menschlichen Lebens. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden in immer wieder neuen Produktionsprozessen innovative Erfindungen und technologische Möglichkeiten erschaffen, die dann mit gewaltigen Innovationsschüben alle gesellschaftlichen Bereiche ergreifen. Die Arbeit in industrieller Fertigung führte zu Proletarisierung und diese wiederum zu sozialen Verwerfungen, die enorme politische Entwicklungen in Gang setzten. Der technische Fortschritt wirbelte die jahrhundertealte aristokratische Ordnung der Gesellschaft hinweg. Neue soziale Strukturen entstanden, durch technische Entwicklungen in Gang gesetzt. Die angeblich von Gott gewollte soziale Hierarchie und die Macht der Kirchen wurden hinterfragt. Die Vorstellung eines den Lauf der Welt ordnenden Gottes verschwand seit dem 18. Jahrhundert aus vielen Bereichen des täglichen Lebens. Der Mensch wurde als Produkt der Evolution gesehen, wie Millionen andere Arten, Tiere und Pflanzen. Der Klassenkampf wurde in unseren westlichen Ländern institutionalisiert. Der Bruch mit gesellschaftlichen Traditionen verlangte nach einem neuen Denken. Es geht um ein Denken, das Widersprüche aushalten und Spannungen halten kann. Es geht um die Überwindung des unbedingt Eindeutigen. Es geht

Susanna Jalka

362

um kreatives Denken, das Gegensätze nicht in eindeutigen, quasi objektiven Sicherheiten auflösen muss. Die Psychoanalyse ist eine der wichtigsten Repräsentanten dieser Entwicklung. Sie ist ein Forschungsobjekt der Phänomenologie. Die Psychoanalyse ist die Erkenntnistheorie, die das Unbewusste als einen wirkungsmächtigen Bestandteil unseres Denkens und Handelns erklärt. Sie beschreibt, wie das Unbewusste erkenntnisfähig und sprachmächtig unsere Entwicklung beeinflusst und begleitet und somit auf die Menschwerdung Einfluss nimmt. Es geht um ein Innen nach der Überwindung der absoluten Ordnung im Außen und es gilt, dem Paradoxon standzuhalten, nämlich dem „Fortschritt“, der auf Verdrängung aufbaut, eben dieses Verdrängte zu präsentieren. Das heißt also, sich den Konflikten zu stellen und sie bewusstseinsfähig und damit zum möglichen Ausgangsort für Erkenntnis werden zu lassen. Harmoniesehnsucht steht im Dienst von Traditionen und offenbart sich als Lähmung für die Entwicklung von Kompetenzen im Umgang mit Spannungen. Für das neue Denken geht es darum, Widersprüchliches bewusst zu machen und sich zugleich der Verlockung zu widersetzen, die Auflösung des Dilemmas mittels einer Rechenoperation zum Ergebnis einer scheinbaren Harmonie zu bringen. Das Ziel, Bewusstsein für Komplexität zu entwickeln, und zwar hier für die Komplexität von Konfliktstrukturen, erfordert, Konflikte nicht als Bedrohung, sondern als Potential für Entwicklung zu verstehen. Differenzen sind stets Ausgangsorte für Entwicklungen. Es geht darum, Fähigkeiten für die Transformation von Konfliktenergie in Erkenntnis zu erwerben. Es geht darum, Widersprüche als Spannung fruchtbar zu machen. Und diese Spannung zu halten. Es gilt also, im Tun, im Reden und bereits im Denken diese Fähigkeiten einzuüben. Die Quantenphysik tritt als eine andere Art der Revolution – besonders für die Naturwissenschaften – auf. Sie entwickelt ein grundlegend neues Theoriegebäude und kann als Physik der Beziehungen und Möglichkeiten bezeichnet werden. Unser Denken wird von den quantenphysikalischen

Drei Thesen zum Streit als Wert

363

Erkenntnissen intensiv herausgefordert. Im quantenphysikalischen Prozess zeigen sich, je nach Versuchsanordnung, die Elementarteilchen als Energie oder als Entfaltung des Geistigen. Die Beobachtung, ja sogar das Denken kann das Ergebnis beeinflussen. Mit den Möglichkeiten quantenphysikalischen Zugangs versuchen Görnitz & Görnitz4 die Evolution des Geistigen zu erklären. Sie beschreiben das Bewusstsein als bisher höchste Evolutionsstufe. Als sich selbst reflektierender Geist vermag es die Entwicklungen der Evolutionsstufen zu erkennen. In der Quantenphysik wird, quasi als Urstoff unserer Welt, eine gemeinsame Grundlage für Materie, Energie und Bewusstsein angenommen, wobei Kooperation das wesentliche Grundprinzip der Entwicklung ist. Psychoanalyse und Quantenphysik bilden radikale Herausforderungen für unser Denken, Verstehen und für die Entwicklung von Vorstellungen.5 Es geht um nichts weniger als um die Erweiterung von Denkmöglichkeiten, um die Überwindung der Sicherheit im Eindeutigen.6 Die komplexen Prozesse von Konfliktgeschehen durchlaufen grundlegende Veränderungen, wenn dieses Denken gelingt. Die Transformation der Konfliktspannung in Erkenntnis wird damit möglich.

Gewissheiten in Frage zu stellen, zeichnet konstruktive Konfliktkultur aus „Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht!“7 Es geht hier also um die Beweglichkeit im Denken, aber nicht nur um diese. Auch die Sinneswahrnehmungen, die Empfindungen, die Gefühle sind in Bezug auf ihre Beweglichkeit gefragt. Den eigenen Standpunkt zu reflektieren, sich selbst wahrzunehmen in den eigenen Bedürfnissen und ebenso den gegensätzlichen Standpunkt und die gegensätzlichen Bedürfnisse wahrzunehmen, in der Differenz die Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen, keine absoluten Wahrheiten anzuerkennen, jegliche Gewissheit wieder in Frage stellen zu können, das zeichnet die konstruktive Konfliktkultur aus. So präsentiert sich der

Susanna Jalka

364

Grundwert des Streitens als Kompetenz, Zukunft sichernd und gemeinsame Entscheidungen möglich machend. Generell dominiert allerdings noch die seit Generationen weitergegebene Haltung, Konflikte als Bedrohung zu sehen und daher ein Leben ohne Konflikte anzustreben. Wenn dann die unausweichlichen – weil ja das Leben überhaupt ermöglichenden – Differenzen und Konflikte entstehen, wird mit Gegenmaßnahmen geantwortet: Spannungen werden in Gewalt transformiert, von Kränkungen, Abwertungen und Ausgrenzungen bis zu aggressiver Selbstverletzung. Das daraus resultierende Leiden wird als Folge der Konflikte gesehen und bestätigt damit wieder die ursprüngliche Meinung über Konflikte. Das Potential des Konflikts erschließt sich nicht, solang diese innere Abwehr besteht. Aggressionen im privaten und im öffentlichen Raum, Zerstörung von Allgemeingut, kleine Betrügereien, so genannte Kavaliersdelikte aller Art werden im Alltag als „normales“ Konfliktverhalten akzeptiert. Sie werden als Kollateralschäden zur Kenntnis genommen. Damit einher gehen die Erwartungen an die Sozialpolitik, als Reparaturbetrieb und im Sinne der Schadensregulierung zu funktionieren. Diese Form des Rückzuges aus sozialer Verantwortung ist auch eine Form von Gewalt, wenn die Sorge um die Gemeinschaft auf öffentliche oder private Institutionen übertragen wird. Bewusst übernommene Verantwortung für den konstruktiven Umgang mit Konflikten verlangt nach aktivem Einsatz von Gefühlen, Empfindungen und flexiblem Denken. Bewusst übernommene Verantwortung für die Verarbeitung von Konflikt-Erfahrungen strebt nach Verständigung. Die persönliche Entwicklung mittels Selbstreflexion gelingt in konstruktivem Bemühen um Auseinandersetzung mit sich und mit anderen. Es geht um bewusstes Erkennen und Begreifen der eigenen Gestaltungsfreiheit und entsprechendes Handeln. Denn die Entwicklung einer globalen Gesellschaft, die wir uns auf der Basis demokratischer emanzipierter Subjekte wünschen, verlangt Mitwirkung und Engagement. Konfliktfähigkeit beginnt im Umgang mit den eigenen inneren Konflikten und erstreckt

Drei Thesen zum Streit als Wert

365

sich auf eine Streitkultur im gesellschaftlichen und im globalen Kontext. Es geht um bewusste Orientierung in einem Ordnungssystem, das auf Gemeinsamkeit aller beruht. Es geht um mehr als symbolische Gesten, die all die anderen von neokolonialen Strukturen Betroffenen beschwichtigen sollen. Die Verantwortung für ein gelingendes Leben liegt, wenn die traditionellen weltlichen Machtstrukturen verfallen, bei den einzelnen Individuen. Der Prozess der Emanzipation des gesellschaftspolitischen Subjekts findet zeitgleich mit einer Umwandlung religiöser Traditionen statt. Die kirchliche Macht und Kontrolle über einzelne Menschen und über die Gesellschaft schwindet langsam – zugleich mit dem in der Aufklärung eingeleiteten Ende der personalisierten Gottesvorstellungen. Die Vorstellung eines den Lauf der Welt ordnenden Gottes verschwindet allmählich seit dem 18. Jahrhundert aus vielen Bereichen des täglichen Lebens und aus den Wissenschaften. Die Beseitigung des transzendenten Bezugs politischer Ordnung trägt zur Auflösung der alten feudalen Strukturen bei und führt nach und nach zu einer mehr oder weniger verbreiteten Gleichgültigkeit in Bezug auf Religion. So gesehen erscheint die Moderne als Verfallsgeschichte einer Religiosität, die in einem streng hierarchischen Ordnungssystem von Schuld und Strafen funktionierte. Ideologien mit quasi religiösem Charakter treten an die Stelle traditioneller Glaubensvorstellungen. Die neuen Formen von Religiosität sind weithin religiöse Glaubenssätze ohne personale Gottesvorstellungen. Die Frage nach Gott ist nicht mehr die Voraussetzung für soziales Handeln. Politische Religionen und Ideologien, ökonomisch basierte Ersatzreligionen sind aber ebenso imstande, Menschen kontrollierend zu funktionalisieren: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h., der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.“8 Konflikte, die von gesellschaftlichen Strukturen, von der marktwirtschaftlich orientierten Ordnung ausgehend als Gewalt wirken, wurden von Johan Galtung als „strukturelle Gewalt“

Susanna Jalka

366

bezeichnet. „Galtung unterschied zwischen physischer und psychischer Gewalt, zwischen direkter [...] und indirekter Gewalt (und) struktureller Gewalt, die von gesellschaftlichen Strukturen ausgeht“.9 Mit diesen Konflikten bewusst und konstruktiv umzugehen, verlangt Widerstandskraft und Mut. Sicherheitsdenken geht im Konfliktfall von Bedrohung aus und definiert Schutz als Maßnahmen der Abwehr, Verteidigung und Gegendrohung. Im Gegensatz zu der Sicherheit, die durch möglichst totale Kontrolle aller Bedrohungen, mit – meist militärischer – Macht erreicht werden soll, fordert Immanuel Kants Habe Mut! dazu auf, sich der Angst vor dem Ungewissen zu stellen. Durch die Angst hindurch, in der Erfahrung der existentiellen Ungewissheit wird der Angst ihre Bedrohung genommen und sie kann zur Freiheit werden, sich dem Ungewissen anzuvertrauen. „Ich wünsche allen, jedem Einzelnen von euch einen Grund zur Empörung. Das ist kostbar. Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Naziwahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert.“10 Widerstand kommt aus Empörung, meint Stéphane Hessel, und fordert uns auf, Widerstand zu leisten, denn Widerstand heißt Neues schaffen.

Nachlese Persönliche und gesellschaftliche Konfliktkultur erfordert aktive Mitwirkung selbstbewusster selbstverantwortlicher Individuen in der Gemeinschaft und in ihrer Beziehung zu allem Leben. Das weltschaffende Vermögen des reflektierenden Geistes kann viele Vorstellungen und Strategien des Handelns entwickeln, um in den sich historisch verändernden Herrschaftsverhältnissen Zukunft zu gestalten. Für die Entwicklung und Stabilisierung von demokratischen Gesellschaften ist der Umgang mit Konflikten von außerordentlicher Bedeutung. Das gilt für die Entwicklung des Individuums wie auch für den Abbau hierarchischer Strukturen in allen Bereichen der Gesellschaft. Überall wirkt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Ob wir individuell und als Gesellschaft fähig

Drei Thesen zum Streit als Wert

sein werden, Konfliktspannungen nicht in Gewalt, sondern in Erkenntnisse zu transformieren, das ist quasi der Lackmustest für unser aller Zukunft. Streit ist in diesem Sinn also einer der Basis-Werte für gelingende Zukunft!

367

Endnoten

1 2 3

4 5 6 7 8

9 10

Jalka, Susanne: Konstruktiv Streiten, Das Einmaleins der Konfliktintelligenz. Eichborn, Frankfurt a. M. 2001. Heraklit von Ephesos, vorsokratischer Philosoph, geboren um 520 v. Chr., gestorben um 460 v. Chr. Villon, Francois, französischer Dichter im Spätmittelalter (1431–1463): Die Ballade von den Vogelfreien; Nachdichtung Paul Zech: Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn Francois Villon. Erich Lichtenstein, Weimar 1931. Görnitz, Brigitte, Thomas Görnitz: Der kreative Kosmos. Spektrum, Heidelberg 2002. Mann, Frido, Christine Mann: Es werde Licht. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2017. Hustvedt, Siri: Die Illusion der Gewissheit. Rowohlt, Reinbek, 2018. Luxemburg, Rosa: deutsche Politikerin, Mitbegründerin der KPD, geboren 1870, ermordet 1919. Das Zitat stammt aus dem vielschichtigen, um 1921 verfassten Fragment „Kapitalismus als Religion“ von Walter Benjamin (nach Baecker, Dirk (Hrsg.): Kapitalismus als Religion. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2003.) Jahn, Egbert: Frieden und Konflikt. Springer, Wiesbaden 2012, S. 37. Hessel, Stéphane: Empört Euch! Ullstein, Berlin 2017, S. 10.

Michael Getzner Johann Bröthaler

368

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich

1 Kultureinrichtungen in einem föderalen Staat

369

Kultureinrichtungen umfassen vielfältige öffentliche und private Institutionen; unter Kultureinrichtungen im weiteren Sinn können sowohl Institutionen verstanden werden, in denen kulturelle Ereignisse stattfinden (z.B. Theater, Konzerthäuser, Museen, Veranstaltungszentren), aber auch Infrastrukturen, die der Vermittlung und der Ausbildung im Kulturbereich dienen, beispielsweise Musikschulen, Volkshochschulen und Kunstuniversitäten. Das Angebot an Kunst- und Kulturerlebnissen, -events oder auch -ausbildungen ist, wie auch das künstlerische Schaffen selbst, in Österreich frei und verfassungsrechtlich geschützt (Artikel 17a des StGG, 1988; vgl. Neisser, 1983). Im Sinne eines breiten Kulturbegriffs werden unter Kulturbetrieben Organisationen verstanden, die kulturelle Leistungen und kulturelle Symbole in verschiedenen Ausformungen produzieren (Hasitschka, 2018). Für viele Einrichtungen im Kunst- und Kulturbereich gibt es daher keine gesetzlichen Grundlagen oder Vorgaben im Sinne einer Definition, was als Kunst oder Kultur zu gelten hat, welche Lehr- oder Kunstformen praktiziert werden, oder was beispielsweise als „Musikschule“ oder „Kunsteinrichtung“ verstanden werden kann. Die österreichischen Gebietskörperschaften haben auf verschiedenen Ebenen allerdings eine Reihe gesetzlicher kunst- und kulturpolitischer Grundlagen geschaffen, z.B. hinsichtlich der öffentlichen Kunstförderung, der Einrichtung der Bundesmuseen und -theater oder – speziell auf Länderebene – die Verabschiedung von Musikschulgesetzen und die Einrichtung von Musikschulwerken. Wie Zembylas und Mokre (2003) ausführen, ist der Kunst- und Kulturbegriff wie auch die Definition von Kultureinrichtungen häufig nicht klar abgrenzbar, selbst wenn die COFOG (Classification of the Functions of Government) in statistischer und wirtschaftsklassifikatorischer Hinsicht einige definitorische Grundlagen bereitstellt, wie öffentliche Aufgaben bzw. Ausgaben in der Systematik staatlichen Handelns zu erfassen sind. In der amtlichen Statistik sind beispielsweise unter „Kunst und Kultur“ Kategorien wie

Michael Getzner/Johann Bröthaler

370

darstellende Kunst, Museen, Archive, Wissenschaft, baukulturelles Erbe, Film, Kino, Video, Bibliothekswesen, Literatur, bildende Kunst, Foto, Architektur, Design, Musik, Kulturinitiativen und -zentren sowie die Volkskultur, Heimat- und Brauchtumspflege enthalten. In der Wirtschaftsstatistik (d.h. z.B. in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung) sind „Kunst“ und „Kultur“ materiell auch in vielen wirtschaftlichen Aktivitäten zu finden (u.a. in der Kategorie „Kreative, künstlerische und unterhaltende Tätigkeiten“). Hinsichtlich der Zuteilung zu Sektoren sind Kunst und Kultur natürlich auch im Sektor „Private Organisationen ohne Erwerbszweck“ (neben dem öffentlichen und dem privaten Sektor) zu finden. Dieser kurze definitorische Aufriss soll zeigen, dass Kunst und Kultur verschiedene Sektoren und verschiedene wirtschaftliche Aktivitäten in der Volkswirtschaft berührt. Private Haushalte wie auch Unternehmen und die öffentliche Hand können in diesem Rahmen vielfältige künstlerische und kulturelle Aktivitäten entfalten; kaum werden die Rechtsträger dazu gesetzlich verpflichtet, womit die meisten Aktivitäten in diesem Bereich der freien Gestaltung und Entscheidung unterliegen. Im Folgenden soll anhand von drei kurzen Beispielen die Diversität an öffentlichen kulturellen Einrichtungen, Nutzer/innen wie auch der Finanzierung gezeigt werden, und zwar auf der Ebene der österreichischen Bundesländer. Hinsichtlich des Bereiches der Musik und der Form und Organisation von Musikschulen sind in den österreichischen Bundesländern in unterschiedlicher Weise Musikschulwerke eingerichtet. Dies bedeutet nicht, dass private Initiativen oder gewinnorientierte Unternehmen nicht ebenfalls „Musikschulen“ einrichten können. Wie Hahn (2016) zeigt, sind die verschiedenen (öffentlichen bzw. öffentlich geförderten) Musikschulwerke in den österreichischen Bundesländern sehr divers, sowohl was die Finanzierung als auch die Ausstattung, die Dichte und Größe sowie die Organisation und Trägerschaften anlangt. Tabelle 1 zeigt, dass die Anzahl an Musikschulen in den österreichischen Bundesländern, die Anzahl an Schüler/innen sowie die Versorgungsdichte und Erreichbarkeit

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich

371

von Musikschulen in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich ist. Zum Vergleich werden die entsprechenden Daten für Volksschulen angeführt. Während die Größe von Volksschulen in den meisten österreichischen Bundesländern etwa 90 bis 120 Schüler/innen pro Volksschule beträgt (mit Ausnahme des Burgenlandes und Wiens), ist die Größe und Versorgungsdichte bei Musikschulen wesentlich breiter gestreut. Bei Volksschulen folgt die Dichte und Versorgung etwa der Bevölkerungsdichte (Einwohner/innen pro km² Dauersiedlungsraum), während bei Musikschulen die Versorgung stark von anderen Kriterien (wie beispielsweise die je bundeslandspezifische Organisationsform des Musikschulwesens und deren kulturpolitische Bedeutung) abhängig sein dürfte. Ein weiteres Beispiel ergibt sich im Bereich der Museen (siehe Tabelle 2). Bezogen auf die Anzahl an Einwohner/innen ist die größte Dichte an Museen in Oberösterreich, Tirol und Salzburg zu finden (etwa rund 80 Museen pro 1 Mio. Einwohner/innen). Allerdings findet die Versorgungsdichte wiederum kaum eine Korrelation mit der Anzahl an Besucher/innen in Museen; diesbezüglich sind Museen im Burgenland und Salzburg sehr erfolgreich. Ein drittes Beispiel lässt sich im Bereich der aktiven Musiker/innen finden. Die Statistik zeigt (siehe Tabelle 2), dass Blasmusikvereine und -initiativen, die im Österreichischen Blasmusikverband vertreten sind, ebenfalls eine sehr unterschiedliche Anzahl an Mitgliedern aufweisen und der Anteil an Mitgliedern im österreichischen Vergleich in Tirol und Oberösterreich am höchsten ist (etwa 17.000 bis 20.000 Mitglieder pro 1 Mio. Einwohner/innen), während in Kärnten und im Burgenland die entsprechenden Traditionen weniger stark vertreten sind. Im urbanen Wien hingegen ist das Musizieren in Blasmusikkapellen kaum populär. Eine gewisse Korrelation zwischen der Mitgliedsdichte und der erhaltenen Subventionen ist hierbei feststellbar. Hohe Subventionen in Tirol und der Steiermark und niedrige Subventionen in Kärnten stehen in einem Zusammenhang mit der jeweiligen Mitgliedsdichte. (Dabei ist noch keine Kausalität unterstellt: Hohe Subventionen können die

Michael Getzner/Johann Bröthaler

lokalen Musikaktivitäten fördern; umgekehrt kann aber auch eine niedrige Mitgliedsdichte dazu führen, dass keine Kapazitäten vorhanden sind, um Förderungen zu lukrieren und entsprechende Projekte zu entwickeln.) Tabelle 1: Kulturelle Einrichtungen in österreichischen Bundesländern im Vergleich (Anzahl der Musikschulen und Musikschüler/innen im Vergleich zu Volksschulen)

Österreich

Burgenland

Kärnten

2014

366

16

27

2015

371

16

28

2014

189,0

6,3

13,8

2015

204,1

6,4

14,5

Durchschnittliche Größe von Musikschulen (Schüler/ innen pro Musikschule)

2014

516,3

394,0

511,0

2015

550,1

399,5

516,6

Musikschüler/innen pro 1.000 Einwohner/innen

2014

103,3

113,6

123,2

2015

103,7

108,5

122,6

Einwohner/innen pro Musikschule

2014

23.690

18.144

20.722

2015

23.624

18.252

20.042

2016

108

58

89

2017

110

60

91

2016

2.884

1.678

2.440

2017

2.899

1.691

2.460

270,43

117,76

228,45

Anzahl an Musikschulen

Anzahl an Musikschüler/ innen (in Tsd.)

372

Volksschüler/innen pro Volksschule Einwohner/innen pro Volksschule Bevölkerungsdichte (Einwohner/innen pro km² Dauersiedlungsraum, 2018)

Anm.: Die präsentierten Daten und Berechnungen beziehen sich jeweils auf die zuletzt verfügbaren Angaben. Quelle: Statistik Austria (2018), eigene Berechnungen und Zusammenstellung.

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich

Niederösterreich

Oberösterreich

Salzburg

Steiermark

Tirol

Vorarlberg

Wien

128

68

16

49

26

18

18

128

68

16

49

30

18

18

57,8

37,8

9,6

20,9

18,5

14,5

9,8

58,7

39,2

10,9

22,1

25,5

15,5

11,5

451,4

556,5

600,1

426,0

711,7

803,7

544,8

458,3

576,3

678,1

450,4

848,4

860,3

639,8

167,0

119,6

82,2

83,0

113,8

166,3

25,6

159,6

116,1

86,8

82,0

145,9

167,0

27,1

12.893

21.326

33.990

25.091

28.314

21.267

101.563

13.016

21.535

34.295

25.252

24.835

21.562

103.422

100

106

114

94

75

102

252

101

109

117

96

76

103

255

2.653

2.634

3.015

2.684

1.997

2.367

6.869

2.638

2.658

3.066

2.711

2.005

2.372

6.825

143,77

215,19

368,88

236,95

476,72

689,82

5.876,66

Michael Getzner/Johann Bröthaler

Tabelle 2: Museumsbesucher/innen, Mitglieder im Blasmusikverband und Subventionen nach österreichischen Bundesländern (2016)

Österreich

Burgenland

Museen (Anzahl insgesamt)

553

16

33

80

Museen mit Gütesiegel

198

10

17

25

Anzahl an Museen pro 1 Mio. Einwohner/innen

63

55

59

48

Anzahl an Museen mit Gütesiegel pro 1 Mio. Einwohner/innen

22

34

30

15

18.172

344

247

898

80.8

93.9

84.3

83.8

2.073

1.177

440

539

106.514

3.653

5.040

25.007

Mitglieder des österreichischen Blasmusikverbandes pro 1 Mio. Einwohner/ innen

12.153

12.509

8.981

15.009

Subventionsquote (öffentliche Subventionen von Ländern und Gemeinden, konsolidiert, in % der Gesamtausgaben des Österreichischen Blasmusikverbands bzw. der Landesverbände)

23%

26%

15%

20%

Besucher/innen pro Jahr (in Tsd.)

374

Anteil zahlender Besucher/innen (%) Besucher/innen pro 1.000 Einwohner/innen Mitglieder des österreichischen Blasmusikverbandes

NiederKärnten österreich

Anm.: Die präsentierten Daten und Berechnungen beziehen sich jeweils auf die zuletzt verfügbaren Angaben. Quelle: Statistik Austria (2018), eigene Berechnungen und Zusammenstellung.

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich

Oberösterreich

Salzburg

Steiermark

Tirol

Vorarlberg

Wien

117

41

83

60

28

95

35

20

34

19

10

28

80

75

67

81

72

51

24

36

27

25

26

15

1.144

2.627

759

1.516

306

10.333

60.5

96.3

72.5

65.2

80.1

79.7

781

4.787

614

2.034

787

5.550

24.410

7.699

19.546

14.918

5.304

937

16.669

14.031

15.797

20.023

13.666

503

16%

31%

27%

29%

25%

60%

Michael Getzner/Johann Bröthaler

376

Die hier im Detail dargestellten regionalen Unterschiede zeigen sich auch in einer Gesamtbetrachtung der Kulturausgaben der österreichischen Bundesländer und Gemeinden. Wichtig für diese Betrachtung ist, dass die Ausgaben von Ländern und Gemeinden um die jeweiligen (gegenseitigen) Transfers bereinigt werden, d.h. dass Ausgaben für eine bestimmte Sparte (z.B. Kulturzentren, Museen, Musikschulen) von Ländern und Gemeinden gemeinsam betrachtet und um gegenseitige Transfers, die das Volumen der Ausgaben insgesamt erhöhen, bereinigt werden. Der Anteil der Kulturausgaben am Gesamtbudget der Gemeinden (ohne Wien) betrug in den letzten zehn Jahren (2007 bis 2017) gleichbleibend zwischen 4,0 und 4,3%; jener der Länder lag bei 2,2 bis 2,5% mit leicht sinkender Tendenz, während Wien (als Land und Gemeinde) zwischen 2,6 bis 2,9% der Gesamtausgaben für Kultur ausgab. Dieser gleichbleibende Trend täuscht darüber hinweg, dass die Ausgaben für Kultur in den österreichischen Bundesländern sehr unterschiedlich sind. Im Durchschnitt gaben die österreichischen Bundesländer inkl. der jeweiligen Gemeinden von 120 EUR/Einwohner/in (Burgenland) bis 274 EUR pro Einwohner/in (Vorarlberg) für Kulturagenden aus (Wien liegt hierbei in der Sonderstellung als Land und Gemeinde bei 206 EUR pro Einwohner/in) (siehe Abbildung 1). Die Kulturausgaben der Gemeinden in den einzelnen Bundesländern allein nach ihrer Höhe zu beurteilen, ist allerdings problematisch, da Kulturausgaben von der Struktur, der Lage und der Größe der Gemeinden abhängen. Aufgrund der unterschiedlichen Gemeindegröße in den einzelnen Bundesländern ergeben sich dadurch erhebliche Unterschiede. Wie Abbildung 2 zeigt, korrelieren die Kulturausgaben stark mit der Größe der Gemeinden; kleinere Gemeinden (bis 2.000 Einwohner/innen) geben mit 66 EUR pro Kopf (d.s. 2,47% der kommunalen Gesamtausgaben) deutlich weniger aus als größere Gemeinden, z.B. bis 50.000 Einwohner/innen; diese wenden 178 EUR pro Kopf (d.s. 4,87% der Gesamtausgaben) auf. Wien als Land und Gemeinde gibt pro Kopf 206 EUR aus, entsprechend der Größe des Wiener Haushalts sind dies aber

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich Bundesland Gemeinden (im jeweiligen Bundesland) 300

250

200

146,1

120,9

150

69,1

100

162,8

141,0

120,4 138,9

109,0

206,1

43,7

50 76,6

111,2

81,3

129,8

108,3

69,3

132,9

111,3

101,0

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0

Abbildung 1: Kulturausgaben der österreichischen Bundesländer und Gemeinden (in den jeweiligen Bundesländern) (EUR pro Kopf, 2017) Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf Basis Statistik Austria (2018); GemBon (2018).

Michael Getzner/Johann Bröthaler

nur 2,56% der Gesamtausgaben. Die oben in Abbildung 1 dargestellten Ausgaben der Gemeinden und Bundesländer sind daher nicht direkt vergleichbar, da die Bundesländer unterschiedliche Größenklassen und insbesondere eine unterschiedliche Anzahl an Städten (über 10.000 Einwohner/innen) aufweisen. Insbesondere die Landeshauptstädte tragen wesentlich zu überdurchschnittlichen Kulturausgaben bei. Insgesamt bleibt die funktionsspezifische Deckung der Kulturausgaben durch entsprechende Einnahmen im Zeitablauf in etwa gleich; von (konsolidierten) Kulturausgaben der Länder und Gemeinden in Höhe von 1,892 Mrd. EUR (2017) wurden 407 Mio. EUR durch entsprechende (konsolidierte) Einnahmen gedeckt (Ausgabendeckungsgrad 21,5%).

2 Dezentralisierung von Kultureinrichtungen aus ökonomischer Sicht 378

Wie sind aber die im vorangegangenen Abschnitt kurz erläuterten Unterschiede erklär- oder begründbar? Die ökonomische Theorie des Föderalismus hat eine Reihe von positiven und normativen Erklärungsansätzen hierzu entwickelt. Vor allem die normativen theoretischen Ansätze erklären, warum es aus ökonomischer Sicht (nicht) sinnvoll sein kann, bestimmte staatliche Aktivitäten auf unterschiedlichen Ebenen der Gebietskörperschaften (z.B. nationale, regionale, lokale Ebenen) zu verteilen. Für Kultureinrichtungen gilt dies in besonderem Ausmaß, da – wie oben ausgeführt – derartige Einrichtungen keinen klaren und gesetzlich bestimmten Definitionen folgen und die Förderung von Kunst und Kultur bzw. das Betreiben von Kultureinrichtungen im Wesentlichen „freiwillige“ öffentliche Aufgaben umfassen (damit soll nicht gesagt werden, dass die Förderung von Kunst und Kultur nicht gesellschaftlich und volkswirtschaftlich in höchstem Maße notwendig ist). Im Gegensatz zu staatlichen Pflicht- und Ermessensaufgaben (z.B. öffentliche Sicherheit, Schulpflicht, Rechtsprechung, Sozialpolitik) fallen viele kulturbezogenen öffentlichen Aktivitäten in die Entscheidungsfreiheit der politisch Handelnden

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich Kulturausgaben der Gemeinden je Größenklasse in Euro pro EW Anteil der Kulturausgaben an Gesamtausgaben der Gemeinden je Größenklasse in % 300 6,90% 250 2,56% 200

4,87% 4,34%

150

4,28%

100

4,16%

3,09% 2,47%

50 66

84

124

138

178

268

206

126

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00 EW 20 .0 01 –5 0. 00 0 EW üb er 50 .0 00 EW

20 .0

EW 1–

00

10 .0 0

1– 10 .0

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5. 00

5. 0 1– 2. 50

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EW

EW

0

Abbildung 2: Kulturausgaben der Gemeinden nach Größenklassen (EUR pro Kopf, % der Gesamtausgaben der Gemeinden, 2017) Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf Basis Statistik Austria (2018); GemBon (2018).

Michael Getzner/Johann Bröthaler

380

(vgl. Mitterer et al., 2016). Beispielsweise gibt es für Gemeinden gesetzliche Verpflichtungen in Bezug auf den Erhalt der Gemeindestraßen und der Wasserver- und Abwasserentsorgung sowie den Betrieb von Volksschulen. Hinsichtlich des Betreibens eines Kulturzentrums oder der Förderung von Kulturinitiativen bestehen jedoch keine kommunalen Verpflichtungen im engeren Sinn. Im Folgenden werden aus Platzgründen nur wenige ausgewählte Ansätze kurz beleuchtet, die die unterschiedliche Verteilung von Aufgaben auf die Gebietskörperschaften erklären können. Die Theorie des Föderalismus setzt zunächst an der Effizienz zentralstaatlicher versus dezentralisierter Aufgabenerfüllung an (Oates 1972; Oates 2005). Die grundsätzliche Überlegung des fiskalischen Föderalismus basiert auf den räumlich-territorial unterschiedlichen Präferenzen der Bürger/innen für öffentliche Güter und Dienstleistungen, wie beispielsweise die Ausstattung mit Musikschulen. Die Wahl des Standortes, die Einrichtung und Größe von Musikschulen könnte auch in einem gemeinsamen (zentralen) Kulturministerium erfolgen. Dieses würde auf Basis verschiedener Indikatoren und lokaler Informationen die Musikschulen planen und betreiben. Sind allerdings die Präferenzen (also beispielsweise als wie erstrebenswert der Besuch von Musikschulen vor Ort generell gesehen wird oder die Wahl von Musikrichtungen) regional deutlich unterschiedlich, kann diesen unterschiedlichen Präferenzen durch eine standardisierte zentralstaatliche Planung nicht differenziert genug begegnet werden. Eine Differenzierung kann am ehesten durch eine Dezentralisierung der Verantwortung für die öffentlichen Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen erreicht werden. Aufgrund der besseren Berücksichtigung der Präferenzen der Bürger/ innen ist die Dezentralisierung hierbei im Vergleich zu einer standardisierten Versorgung effizienzsteigernd. Das Dezentralisierungsargument, unterschiedliche Ebenen (Gebietskörperschaften) mit öffentlichen Aufgaben zu betrauen, stellt somit auf die vertikale Verteilung der Verantwortung ab, d.h. auf die Übertragung einer öffentlichen

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich

381

Aufgabenerfüllung an eine bestimmte Gebietskörperschaftsebene. Die Dezentralisierung aus dieser Sicht funktioniert aber nur dann effizient, wenn insbesondere zwei Voraussetzungen erfüllt sind: –– Die Dezentralisierung hat neben den Effizienzvorteilen (Berücksichtigung lokaler Präferenzen beispielsweise hinsichtlich der Inanspruchnahme von Musikschulen) auch Nachteile in Form von sogenannter „Transaktionskosten“: ein einheitliches System der Planung und Entscheidung ist häufig kostengünstiger in der Verwaltung, während dezentrale Systeme in der Regel höhere Abstimmungs-, Informations- und Planungskosten mit sich bringen (z.B. werden anstatt völlig einheitlicher und einmal verabschiedeter Managementprozesse in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Strukturen entworfen und aufgebaut). –– Dezentralisierung ist nur dann effizient, wenn die Verantwortung für die öffentlichen Aufgaben auch mit der Einnahmen- und Ausgabenverantwortung zusammenfällt. Dies bedeutet im Idealfall eines effizienten Systems, dass die Entscheidung für den Betrieb einer Musikschule in der Gemeinde liegt, Nutzer/innen in der Gemeinde wohnen, und die Gemeindebürger/innen (bzw. Nutzer/ innen) sämtliche Kosten (in Form von Schulbeiträgen oder allgemeinen Steuermitteln) selbst tragen. Die zwei genannten Argumente zeigen, dass einerseits festgestellt werden müsste, wie unterschiedlich die Präferenzen der Bürger/innen in den Bundesländern hinsichtlich der Einrichtung von Musikschulen tatsächlich sind. Weiters müssten die Präferenzunterschiede auch in Geld bewertet werden, um den möglichen zusätzlichen Kosten eines dezentralen Systems gegenübergestellt zu werden. Neben dem Dezentralisierungskonzept, welches die vertikale Verteilung der Aufgabenerfüllung betrifft, sind für die horizontale Verteilung von Kultureinrichtungen unter anderen zwei wichtige Erklärungsansätze vorhanden: Einerseits weisen Kultureinrichtungen, z.B. Musikschulen, Größenvorteile auf.

Michael Getzner/Johann Bröthaler

382

Dies bedeutet, dass je nach Kapazität und Anzahl unterrichteter Musikschüler/innen unterschiedliche Kosten pro Stunde (bzw. Schüler/in) entstehen. Generell haben Infrastrukturen wie auch Schulen die Eigenschaft, mit hohen Anfangsinvestitionen verbunden zu sein. Dies bedeutet, dass durch eine Vergrößerung der Kapazitäten wie auch der Anzahl an betreuten Schüler/inne/n die Kosten pro Ausbildung (pro Schüler/in) sinken. Mit anderen Worten heißt dies aber auch, dass nicht in jeder Gemeinde, in der Kinder eine Musikschule besuchen wollen, eine solche betrieben werden kann bzw. sollte. Ökonomisch sinnvoller ist es, Kultureinrichtungen wie Musikschulen in größeren Gemeinden bzw. sogenannten „zentralen Orten“ zu schaffen, um die Kosten pro Schüler/in zu reduzieren. Die Einrichtung von Musikschulen in größeren Gemeinden bringt mit sich, dass diese Standortgemeinden für die umliegende Region eine regionale Versorgungsfunktion übernehmen, d.h. sogenannte „regionale Spillover-Effekte“ produzieren. Der Nutzen der Einrichtung entsteht hierbei nicht nur in der Standortgemeinde, die wesentliche Kosten für die Errichtung und den Betrieb der Musikschule trägt, sondern auch in den Umlandgemeinden (in Abhängigkeit der Erreichbarkeit, d.h. des Aufwands für die Anfahrt). Die Findung eines optimalen Standortes in einer Region ist daher (auch) eine Abwägung der Kosten und Nutzeffekte. Einerseits soll eine optimale Größe einer Musikschule erzielt werden: Wie oben (Tabelle 1) gezeigt, liegt die vorherrschende Größe einer Musikschule bei etwa 400 bis 500 Schüler/innen (bei höherer Siedlungsdichte und entsprechender Erreichbarkeit auch höher). Andererseits soll der Anfahrtsweg für die Musikschüler/innen nicht zu lang sein. Die Verteilung der Kultureinrichtungen, z.B. Musikschulen, im Raum (d.h. in einer Region) hängt somit von einer Reihe von Faktoren ab, die die horizontale Verteilung von Infrastrukturen zwischen den Standortgemeinden betreffen. Für die Effizienz und Wirksamkeit von staatlichen Ausgaben für Infrastrukturen ist immer auch die Finanzierung von großer Bedeutung. Wie Hahn (2016) zeigt, ist die Finanzierung der Musikschulen in Österreich eine Mischfinanzierung

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich

383

unterschiedlicher Gebietskörperschaften. Einerseits werden Musikschulen durch die Bundesländer finanziert (im groben Durchschnitt etwa zur Hälfte). Die Gemeinden tragen etwa ein Drittel bei, der Rest wird durch die Schüler/innen (bzw. deren Eltern) in Form des Schulgeldes getragen. Die öffentliche Finanzierung beträgt somit 75 bis 80% (in Wien bis rund 90%). Neben den hier sehr kurz skizzierten ökonomischen Argumenten, die eine räumliche Verteilung von Kulturinfrastrukturen bestimmen können, können allerdings auch einige Aspekte der politischen Ökonomie von Bedeutung sein. Wie Getzner (2004) für die Kulturausgaben der österreichischen Bundesländer zeigt, sind Präferenzen der politischen Entscheidungsträger/ innen (z.B. Ideologie und Parteizugehörigkeit) nicht unwesentlich bei der Erklärung von Unterschieden der Länderausgaben (siehe für die Bundes- und Landesebene auch Getzner, 2015 und 2018). Hinzu kommt, dass im österreichischen System des Föderalismus die Bundesländer selbst kaum eine Einnahmenverantwortung tragen und dadurch die Finanzierung der Musikschulen durch die Länder schlussendlich auch auf einem mit Effizienzproblemen behafteten System basiert. Die unterschiedlichen Ausgaben der Bundesländer und Gemeinden sowie die Mischfinanzierung von Kulturaufgaben, z.B. Musikschulen, wird im Vergleich der Ausgaben pro Schüler/in bzw. hinsichtlich der Deckung der Ausgaben durch funktionsspezifische Einnahmen deutlich (Abbildung 3). Dem österreichischen Durchschnitt von etwa 2.000 EUR pro Schüler/in entsprechen am ehesten die Bundesländer Burgenland, Kärnten, Oberösterreich und Vorarlberg. Niedrigere Ausgaben weisen Niederösterreich, Tirol und Salzburg auf, während Wien überdurchschnittliche Ausgaben für die Musikschulen aufwendet. Die unterschiedlichen Ansätze der Finanzierung zeigt Abbildung 4; wie Hahn (2016) feststellt, wurden 2015 und 2016 etwa 18–19% der funktionsspezifischen Ausgaben durch entsprechende Einnahmen (z.B. Gebühren, Schulgeld) gedeckt. Wie bereits oben bei der Frage der räumlichen Unterschiede der Kulturausgaben erörtert, spielen aber auch bei den Ausgaben für Musikschulen entsprechende Unterschiede in der

Michael Getzner/Johann Bröthaler

Ausgaben pro Schüler/in (2015)

Netto-Ausgaben pro Schüler/in (2015)

Ausgaben pro Schüler/in (2016)

Netto-Ausgaben pro Schüler/in (2016)

4.470

6000

1.433

2.013

2.038

2.996 2.297

2.374

2.800

554

558

630

1000

613

1.426

1.150

2.107 2000

1.752

3000

2.331

2.725

4000

1.665

3.533

5000

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Abbildung 3: Ausgaben und Netto-Ausgaben der österreichischen Bundesländer und Gemeinden (in den jeweiligen Bundesländern) für Musikschulen (EUR pro Schüler/in, konsolidiert) Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf Basis Statistik Austria (2018); GemBon (2018).

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich Funktionsspezifische Deckung der Ausgaben durch Einnahmen (2015) 25,9% 28,8%

Funktionsspezifische Deckung der Ausgaben durch Einnahmen (2016)

15

19,2% 18,3%

20,7% 20,9%

22,1% 23,3% 16,3% 15,2%

17,5% 19,4%

20

13,5% 14,5%

16,9%

25

22,0%

30

3,4% 2,7%

10

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Abbildung 4: Deckung der funktionsspezifischen Ausgaben durch funktionsspezifische Einnahmen der österreichischen Bundesländer und Gemeinden (in den jeweiligen Bundesländern) für Musikschulen (%, konsolidiert) Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf Basis Statistik Austria (2018); GemBon (2018).

Michael Getzner/Johann Bröthaler

Siedlungsstruktur und der Organisation des Musikschulwesens eine große Rolle; somit sind aus den unterschiedlichen Niveaus an Ausgaben für das jeweilige Musikschulwesen der Länder vorab nur schwer Rückschlüsse auf die Effizienz und Effektivität der Aufgabenerfüllung im föderalen System Österreichs zu ziehen.

3 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

386

Der vorliegende Beitrag stellt die unterschiedlichen kulturpolitischen Aufgaben der österreichischen Bundesländer und Gemeinden im Kontext von Theorien des Föderalismus dar. Einerseits ist empirisch zu beobachten, dass die Bundesländer und Gemeinden im Kulturbereich sehr unterschiedliche Aktivitäten entfalten, diese differenziert organisieren und entsprechend vielfältige Ausgaben tätigen, die unterschiedlich finanziert werden. Die Theorie des Föderalismus bietet eine Reihe von Erklärungsansätzen, warum die Aktivitäten, Ausgaben und Finanzierungen so verschieden sind. Es ist allerdings aus den vorhandenen Daten zunächst nicht erkennbar, welche Systeme der österreichischen Bundesländer effizient sind. Beispielsweise können Unterschiede in den Ausgaben pro Schüler/in eine Reihe von Gründen haben, u.a. in der Größe der jeweiligen Musikschulen, dem Angebot und der Intensität des Unterrichts, der Siedlungsdichte und damit verbunden der Anzahl an Schüler/innen pro Schule. Ähnlich sind die unterschiedlichen Ausgaben für Kulturagenden insgesamt zu sehen: Ohne eine entsprechende Sicht auf das konkrete Angebot an (öffentlichen) Gütern und Dienstleistungen ist ein bloßer Vergleich der Ausgaben wenig zielführend. Wichtig hierbei sind jedenfalls die unterschiedlichen Präferenzen der Bürger/innen für öffentliche Dienstleistungen bzw. für die verschiedenen Bereiche der Kulturpolitik und öffentlicher Kulturdienstleistungen. Somit zeigt sich anhand der erörterten statistischen Daten auch ein erheblicher Forschungsbedarf in Bezug auf Präferenzen und Zufriedenheit der sowie Nutzung von Kultureinrichtungen durch die Bürger/innen.

Exkurs: Regionale Kultureinrichtungen und -ausgaben in Österreich Literatur und Quellen

387

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Biografien

Gerald Bast

Dr. jur., Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Board-Member der European League of Institutes of the Arts, Kuratoriumsmitglied des Europäischen Forums Alpbach. Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Promotion in Rechtswissenschaften. Als Rektor initiierte er an der Universität für angewandte Kunst Wien zahlreiche neue Programme wie Social Design, TransArts, Cross-Disciplinary Strategies – Applied Studies in Art, Science, Philosophy and Gobal Challenges sowie ein Doktoratsstudium der Künste. Er begründete das Angewandte Innovation Lab zur disziplinenübergreifenden Kommunikation zwischen Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Er publiziert in den Bereichen Hochschulrecht und Hochschulmanagement sowie Bildungsund Kulturpolitik und hält weltweit Vorträge über die gesellschaftliche Rolle von Kunst und Kunstuniversitäten sowie über die Verbindungen von Kunst, Bildung und Innovation.

Marietta Böning

Assistentin der Vizerektorin für Forschung in Kunst und Wissenschaft und Lehrbeauftragte am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft (M.A.); Kulturmanagement (MAS). 2008−09 Forschungsstipendiatin an der JohannesKepler-Universität Linz. Literaturkritikerin (u. a. Der Standard, Literaturhaus Wien); Lyrikerin; literatur- und kulturwissenschaftliche Vorträge und Publikationen zur Urheberrechtsdebatte in Zusammenhang mit Hyper- und Intertextualität, Poetik, Kultursoziologie. Monografie: Killer Content vs. Kommerz (2006).

Knut Boeser

Dr. phil., hat in Berlin und Paris Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Psychologie studiert, war zunächst Chefdramaturg, dann Intendant am Renaissancetheater Berlin, danach Chefdramaturg an den Staatlichen Schauspielbühnen Berlin, später Chefdramaturg am Theater in der Josefstadt, Wien. Er war Dozent (für Drehbuch und Stoffentwicklung) an der „Internationalen Filmschule Köln“,

gab u.a. Bücher über Max Reinhardt, Erwin Piscator und Oscar Panizza heraus, schreibt Essays, Drehbücher, Theaterstücke und Prosa, war Mitglied der Kuratoriums des Österreichischen Filminstituts, bis 2014 im Verwaltungsrat der FFA (Filmförderungsanstalt), bis 2015 Geschäftsführender Vorstand im Verband Deutscher Drehbuchautoren (VDD) und ist Mitglied der Deutschen Filmakademie. Sein Roman „Nostradamus“ wurde in elf Sprachen übersetzt.

Johann Bröthaler

Ass. Univ.-Prof., ist Leiter des Forschungsbereichs Finanzwissenschaft und Infrastrukturpolitik im Institut für Raumplanung der Technischen Universität Wien. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind öffentliche Haushalte, Finanzstatistik, Finanzausgleich, ökonomische Bewertungsverfahren, fachspezifische Software- und Informationssysteme und E-Government.

Lutz Ellrich

Em. Prof. für Medienkulturwissenschaft an der Universität Köln. Studium der Philosophie, Soziologie und Theaterwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: gesellschaftstheoretisch orientierte Medienanalyse, Surveillance Studies, Verstehen fremder Kulturen, Organisations- und Konfliktforschung, experimentelles Theater. Aktuelle Projekte: Facetten der Gewalt; Misstrauen in Bürokratien, Netzwerken und Märkte; Recht und Unrecht der Piraterie. Publikationen u. a.: „Beobachtung des Computers“ (1995), „Verschriebene Fremdheit“ (1999), „Die Unsichtbarkeit des Politischen“ (2009), „Vorführen und Verführen. Vom antiken Theater zum Internetportal“ (2011).

Michael Getzner

Univ.-Prof. für Finanzwissenschaft und Infrastrukturökonomie am Institut für Raumplanung (Technische Universität Wien); Habilitation 2001 für Volkswirtschaftslehre (Universität Klagenfurt). Seine Forschungsgebiete sind Finanzwissenschaft, Infrastrukturpolitik, Ökologische Ökonomik, Kulturökonomik.

Biografien

Karin Harrasser

Univ.-Prof. für Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in Körper-, Selbstund Medientechniken, Wissen und Evidenz, Prozessen der Verzeitlichung, Theorien des Subjekts/der Objekte sowie Geschlecht und agency. Sie hat sich in den letzten Jahren theoretisch und praktisch mit Fragen der performativen Qualitäten von Wissen beschäftigt, etwa mit der Entwicklung von Bühnen-, Film- und Ausstellungsformaten (z.B. Die Untoten. Life Sciences und Pulp Fiction, Kampnagel 2011, Das Milieu der Toten, Berlin/Hamburg beide mit Hannah Hurtzig). Mit Elisabeth Timm gibt sie die Zeitschrift für Kulturwissenschaften heraus. Buchpublikationen: „Prothesen. Figuren einer lädierten Modern“ (2016), „Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen“ (2013). „Parahuman. Neue Perspektiven auf das Leben mit Technik“ (hrsg. zus. mit Su­ sanne Roeßiger, 2016), „Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns“ (2017). Ihre Übersetzung von Donna J. Haraways „Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene“ (2016) erschien unter dem Titel „Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän“ (2018).

Doris Ingrisch

Gastprof. am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Ihre Forschungsprojekte und Publikationen umfassen die Bereiche Gender sowie Cultural Studies mit derzeitigem Schwerpunkt Kunst und Wissenschaft im Dialog, Wissenschaft, Kunst und Gender, Wissenschaftsgeschichte, Exil/ Emigrationsforschung sowie qualitative und experimentelle Methoden. Veröffentlichungen u.a.: „Kunst_Wissenschaft. Don’t Mind the Gap! Ein grenzüberschreitendes Zwiegespräch“, Bielefeld 2014 (hrsg. zusammen mit Susanne Granzer), „Gender_Kultur_ Management. Relatedness in und zwischen Wissenschaft und Kunst. Transdisziplinäre Erkundungen“, Bielefeld 2017 (hrsg. zusammen mit Beate Flath und Franz-Otto Hofecker), „Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst“, Bielefeld 2017 (hrsg. zusammen mit Marion Mangelsdorf und Gert Dressel).

Susanne Jalka

Von Kind an und von Haus aus mit Friedensthemen, Psychoanalyse und Kunst aufgewachsen, beeindruckt von Erlebnissen in unterschiedlichen Ländern und Kulturen und angeregt von interessanten akademischen Studien, Lern- und Lehrsituationen, lebt DDr. Susanne Jalka jetzt wieder in ihrer Geburtsstadt Wien. Nach Ausbildungen in Psychologie, Psychoanalyse, Religionswissenschaft und Sexualwissenschaft wurde ihr klar, dass sie die zentralen psychotherapeutischen Erkenntnisthemen als emanzipatorische Bildungsangebote anbieten will. In diesem Sinn entwickelt sie Materialien, Projekte, Workshops und Seminare zu Demokratie- und Friedensbildung als soziale Kompetenz. Sie publiziert und engagiert sich als Friedenslobbyistin.

Martin Krenn

Univ.-Doz. Martin Krenn ist Künstler, Kurator und lehrt seit 2006 an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er studierte Malerei an der Universität für angewandte Kunst Wien von 1991 bis 1997 und elektronische Musik an der Universität für darstellende Kunst Wien von 1992 bis 1996. 2016 promovierte er an der Ulster University (Belfast, UK) zu „The Political Space in Social Art Practices“. 2017 wurde er an der Universität für angewandte Kunst Wien für das Fach „Kunst und kommunikative Praxis“ habilitiert. Krenn verschränkt in seiner Praxis Kunst, soziales Engagement und politischen Aktivismus. Seine Projekte, Fotoarbeiten und Filme widmen sich schwerpunktmäßig der Rassismuskritik, der Erinnerungs- und Gedenkarbeit sowie verschiedenen Kampagnen zu Bleiberecht, Asylwesen und Migration. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland.

Johannes Lierfeld

Dr. phil., debütierte 2005 als Drehbuchautor bei „Soko Köln“. Es folgte die Entwicklung mehrerer Serienkonzepte für Pro7 und Sat1 im Auftrag von Studio Hamburg (hier war Lierfeld u.a. an der Thriller-Serie „Deadline“ beteiligt). Publikationen (Auswahl): „MEDICA“ (gemeinsam mit dem KI-Entwickler Scott Cote, 2017); „Artificial Superintelligence: Utopias, Dystopias, Disruptions“ (2018 auf Englisch erschienen, erscheint

Biografien

2019 auf Deutsch). Der Medienwissenschaftler ist neben seiner Autorentätigkeit als Lehrbeauftragter für Drehbuchpraxis und Medientheorie an der Universität Köln und der Phillips-Universität Marburg sowie als Speaker und Berater für Start-ups tätig.

Burkhard MeyerSickendiek

Prof.-Doz. Dr., Literaturwissenschaftler, lehrt und forscht an der FU Berlin. Besondere Forschungsgebiete: Affektpoetik; deutsch-jüdische Moderne; Theorie der Satire; Intertextualität; Romantik − Moderne; Bildungsroman; Gattungstheorie; Ästhetik des Grübelns. Forschungsprojekte: Leiter der VW-Forschergruppe „Rhythmicalizer. A digital tool to identify free verse prosody“; Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft, Johann Nestroy Gesellschaft; 2001−2003 wissenschaftlicher Koordinator an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Promotionsstudiengang „Literaturwissenschaft“. Monographien (Auswahl): Zärtlichkeit. Zu den aristokratischen Quellen der bürgerlichen Empfindsamkeit (2015); Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium der Poesie (2011); Tiefe. Über die Faszination des Grübelns (2010); Was ist literarischer Sarkasmus? Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne (2009); Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen (2005); Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im neunzehnten Jahrhundert: Immermann − Keller − Stifter – Nietzsche (2001).

Sophie Anna Reyer

Freischaffende Schriftstellerin. Publikation der Lyrikbände − „geh dichte“ (2005) und „binnen (miniaturen)“ (2010). 2008 erschienen die Romane „vertrocknete vögel“ sowie „baby blue eyes”. 2009 Uraufführung „Schneewittchenpsychose“ im Theater in der Drachengasse, Wien. Seit 2009 Redaktionstätigkeit für die Grazer Literaturzeitschrift „Lichtungen“ sowie Leitung der Jugend Literaturwerkstatt Graz für 14- bis 19-Jährige im Literaturhaus Graz. Master of Arts in Komposition/Musiktheater 2010 sowie Diplom in Szenisch Schreiben bei uniT 2010. Teilnahme am Stück-für-Stücke-Lehrgang

am Schauspielhaus Wien 2010. 2010 entstanden ihre Theatertexte „vogelglück“ und „hundpfarrer“. Seit 2011 Studium an der Kunsthochschule für Film und Medien in Köln. 2012: Lyrikband „flug (spuren)“ sowie das Theaterstück „baumleberliebe“. 2013: Erscheinung des Prosabandes „marias. ein nekrolog“ sowie Lyrik „die gezirpte Zeit“. 2013: Aufführung des Kindertheaterstück „Anna und der Wulian“ (Badische Landesbühne, Regie: Joerg Bitterich). Weitere Publikationen: u.a. „Der kleine Mann aus Salz“, „Baumleberliebe“, „Krieg der Kröten“. Lehrauftrag zum Thema „Performanz und Biomacht“ am Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft der Universität Wien 2015. Seit 2016 Lehrgangsleitung der Wiener Schreibpädagogik gemeinsam mit Barbara Rieger. 2017 Dr. phil. mit der Arbeit „Performanz und Biomacht“. 2019 erschienen „Die Freiheit der Fische“ und „Veza Canetti − eine Biographie“.

Josef Rhemann

Ao. Univ.-Prof. i.R. Dr. phil., lehrt und forscht über philosophische Anthropologie, Moralphilosophie und Ontologie an der Universität Wien, insbesondere im Zusammenhang mit Anthropotechnik, der Gegenwartsdiskussion um die Gehirn-Geist-Debatte; Neurobiologie; genetischer Anthropologie, Problemen der Human- und Sozialwissenschaften, Sozialphilosophie der Sexualität.

Ferdinand Schmatz

Dr. phil., lebt als freier Schriftsteller in Wien. Studium der Germanistik und Philosophie in Wien. Seit 2012 Leiter des Instituts für Sprachkunst und Univ.-Prof. an der Universität für angewandte Kunst. „Tokyo, Echo oder wir bauen den Schacht zu Babel, weiter“. Gedichte (2004), „Durchleuchtung. Ein wilder Roman aus Danja und Franz“ (2007), „quellen“. Gedichte (2010), „Portierisch. Nachrichten aus dem Berge in Courier New“ (2012) sowie zuletzt „das gehörte feuer. orphische skizzen“ (2016) und „aufSÄTZE!: Essays zur Poetik, Literatur und Kunst“ (2016).

Biografien

Eva-Maria Stadler

Univ.-Prof., leitet die Abteilung Kunst und Wissenstransfer und ist Institutsvorständin am Institut für Kunst und Gesellschaft an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Sie unterrichtete an der Akademie der bildenden Künste in München und Wien sowie an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart. 2012−2013 war sie Leiterin der Galerie der Stadt Schwaz und 1994−2005 Direktorin des Grazer Kunstvereines. 2006−2007 arbeitete sie als curator in residence an der Akademie der bildenden Künste Wien, von 2007−2011 hatte sie die Position der Kuratorin für zeitgenössische Kunst am Museum Belvedere in Wien inne.

Moritz von Stetten

Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Universität Bonn, Promovierender am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. Gastaufenthalt am Westminster Law and Theory Centre (London, UK) auf Einladung von Prof. Andreas Philippopoulos-Mihalopoulos. Promotionsstipendiat der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, Philosophische Fakultät der Universität zu Köln. Lehrbeauftragter am Max-Weber-Institut für Soziologie, Universität Heidelberg. Magisterstudium der Politikwissenschaft, Philosophie und Soziologie, Universität Heidelberg. Auslandsstudium der Politikwissenschaft und Soziologie, University of Manchester (UK).

Michael Wimmer

Priv.-Doz. Dr. phil., Musikerzieher und Politikwissenschafter. Seit 2003 ist er Gründungsdirektor des europäischen Forschungsinstituts EDUCULT zu kultur- und bildungspolitischen Fragen. Zuvor war er langjähriger Leiter des Österreichischen Kulturservice (ÖKS). Seit 2011 ist er Dozent an der Universität für angewandte Kunst Wien zu Kulturpolitikforschung sowie Lehrbeauftragter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften, am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien sowie am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM) an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst. Er war Mitglied der Expertenkommission

des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur zur Einführung der Neuen Mittelschule. International ist Michael Wimmer als Berater des Europarats, der UNESCO und der Europäischen Kommission in kultur- und bildungspolitischen Fragen aktiv. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Internationalen Konferenz für Kulturpolitikforschung (iccpr).

Lisa Wolfson

Dr. phil., arbeitet über politische Performance im digitalen Zeitalter aus theater- und medienkulturwissenschaftlicher Perspektive. Zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten gehören anthropologische Aspekte der Medien, Figuren des Komischen, Diskurse der Fremdheit, mediale Repräsentationen von Transkulturalität, Darstellungen der Roma in Theater und Medien sowie Ästhetik und Politik im heutigen Russland. Dissertation: Das Mysterium der Puppe. Semantik und Funktion eines Zwischenwesens (Berlin 2018).

Marietta Böning, Vizerektorat für künstlerische und wissenschaftliche Forschung, Universität für angewandte Kunst Wien

Lutz Ellrich, Institut für Medienkultur und Theater, Universität zu Köln

Library of Congress Control Number: 2019937127 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Lektorat & Korrektorat: Grafische Gestaltung: Papier: Schriften: Druck:

Else Rieger Theresa Hattinger Impact Natural, Arctic Volume White Maison Neue, Miller Text Holzhausen Druck GmbH, Wolkersdorf, Österreich Printed in Austria

Projektleitung "Edition Angewandte" für die Universität für angewandte Kunst Wien: Anja Seipenbusch-Hufschmied, A-Wien Content and Production Editor für den Verlag: Angela Fössl, A-Wien

ISSN 1866-248X ISBN 978-3-11-065874-3 Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN PDF 978-3-11-066147-7) erschienen. www.degruyter.com