Werkzeug Sprache in Therapie, Beratung und Supervision: Das Arbeitsbuch [1 ed.] 9783666453311, 9783525453315

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Werkzeug Sprache in Therapie, Beratung und Supervision: Das Arbeitsbuch [1 ed.]
 9783666453311, 9783525453315

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Hans Lieb

Werkzeug Sprache in Therapie, Beratung und Supervision DAS ARBEITSBUCH

Hans Lieb

Werkzeug Sprache in Therapie, Beratung und Supervision Das Arbeitsbuch

Mit 16 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: MvanCaspel/Shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-45331-1

Inhalt

Teil I  Einladungen in die Welt der Sprache 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2 Sprache ist alltäglich und wenig ist selbstverständlich . . . . . . . . . . . . . . . 11 3 Ziel des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 4 Die Welt der Sprache: ein Streifzug durch die Sprachphilosophie . . . . 14 4.1 Selbstverständliches ist nicht mehr selbstverständlich: Wenden in der Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 4.2 Fünf pragmatische Perspektiven auf Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 5 Klartext und Meta-Klartext-Klarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 5.1 Klartext als Sprachperformanz – 11 Klartextmerkmale . . . . . . . . . . . . . 20 5.2 Zu Indikation und Kontraindikation von Klartext . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 5.3 Klartext als Metaebene: Meta-Klartext-Klarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Teil II  Zeigen – Üben – Reflektieren: Das Werkzeug Sprache nutzen 1 Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen 29 1.1 Zuhören, hinhören, nachfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.1.1 Wie nachfragen, statt zu schnell interpretieren? . . . . . . . . . . . . . 29 1.1.2 Wie Schlüsselwörter heraushören und wie diese Schlüssel verwenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.1.3 Wie sich für implizit Mitgesagtes sensibilisieren und das dann erkunden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.1.4 Wie noch unvollständige oder vage Satzteile erkennen und dann Vervollständigungen anregen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.1.5 Was? Wem? Wen? – Wie sich für Objektformulierungen sensibilisieren und diese gegebenenfalls verändern? . . . . . . . . . . 41 1.1.6 »Ich versuch’s mal« – Wie Verbspezifika erkennen und damit jonglieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

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Inhalt

1.1.7 »Könntest du mal?« – Wie Konjunktive registrieren und mit Veränderungen experimentieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1.1.8 Wer »links« sagt, denkt »rechts« mit – Wie Aussagen zugrunde liegende Leitunterscheidungen und Prämissen erkennen und erforschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1.1.9 »Könnte hier mal jemand …?« – Wie Adressaten von Aussagen erfoschen, klären und neu formulieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1.1.10 Tonfall, Mimik, Gestik – Wie angemessen mit nonverbalen Komponenten oder nonverbaler Kommunikation umgehen? . . 56 1.1.11 »Mein Leben ist eine Achterbahn!« – Wie den Reichtum von Metaphern nutzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1.2 Wie sicher im Land der Fragen navigieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1.2.1 »Können Sie sich vorstellen?« – Wie klare Fragen formulieren? 64 1.2.2 »Glaubst du, ich mag das?« – Wann und wie Fragen in Aussagen und Aussagen in Fragen transformieren? . . . . . . . . . . 67 1.2.3 Anschlusskommunikation: Ist eine Antwort eine Antwort? – Was tun, wenn dem (scheinbar) nicht so ist? . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1.3 Der Blick auf den Sprecher und das Sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1.3.1 Hypothesentransparenz: Wie Klienten Hypothesen konstruktiv mitteilen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1.3.2 Sprachübungen: Subjekt, Prädikat, Objekt, Tilgung, Adressierung, Selbstkommentierung, Ironie, Schweigen, Metaphern – aus vagen Sätzen Klartext machen . . . . . . . . . . . . . 79

2 Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele . . . . . . . . . . . 87 2.1 Die Systeme und die Sprachspiele anderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.1.1 Wie die Sprachspiele anderer erkennen und für Veränderungen nutzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.1.2 Sätze folgen Sätzen, die Sätzen folgten: Wie die Logik von Anschlusskommunikation erkennen und für Veränderungen nutzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2.1.3 Wie sich für verletzende und kränkende Sprechakte in einem System sensibilisieren und damit umgehen? . . . . . . . . 96 2.2 Sich selbst als Mitspieler in Sprachspielen beobachten und das für Veränderungen nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Inhalt

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3 Meta-Klartext-Klarheit: Macht und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Übersicht zum Downloadbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Link und Codes für das Downloadmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Teil I

EINLADUNGEN IN DIE WELT DER SPRACHE

1 Einleitung

Sprachliche Kenntnisse und Fertigkeiten können therapeutische und supervisorische Konzepte nicht ersetzen, Sprachwissen, Sprachfertigkeiten und Sprachsensibilitäten die Effektivität solcher Konzepte aber deutlich erhöhen. Mein Interesse an Sprache hat mehrere Quellen. Ich habe oft die Rückmeldung bekommen, ich käme schnell »auf den Punkt«. Dahinter steckt zum einen meine Freude am Reden, mein eigenes und das von anderen. Wenn ich jemanden etwas Konkretes frage und die Antwort darauf letztlich meine Frage nicht beantwortet, registriere ich das manchmal ungeduldig. Oft frage ich dann noch einmal nach. Umgekehrt freue ich mich, wenn es gelingt, einen Satz, einen Wunsch, eine Erwartung präzise auszudrücken und die Bemühung darum nicht nur für mich, sondern auch für andere hilfreich ist. Das gilt für mein privates Leben und noch mehr für meine berufliche Tätigkeit als Therapeut und Supervisor. Das Bemühen um sprachliche Klarheit hat aber auch seinen Preis. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein genaueres Beleuchten dessen, was gesprochen wird, als Provokation oder Konfrontation erlebt werden kann. Wenn man dafür sensibel und offen ist, kann man sich aber auch darüber wiederum sprachlich verständigen. Vor diesem Hintergrund lade ich die Leser dieses Buches in die praktische Welt der Sprache im professionellen Kontext ein. In Teil I stelle ich zentriert dar, was ich in meinem Grundlagenbuch zur »praxisorientierten Sprachphilosophie und Linguistik« ausgeführt habe (Lieb, 2020). In Teil II geht es mit Beispielen, praktischen Übungen und Angeboten zur Selbstreflexion um die Praxis des Hinhörens, des Sprechens und der Beobachtung der Sprachspiele von Systemen. Ziel dieses Arbeitsbuches ist die Erweiterung der Sprachkompetenzen. In diesem Buch wird unter Sprache stets das vokale oder schriftliche Sprechen verstanden. Auf die Gebärdensprache wird nicht eingegangen. Es wird mal die männliche, mal die weibliche Form verwendet, die Nennung schließt aber beide Geschlechter ein.

2 Sprache ist alltäglich und wenig ist selbstverständlich Sprache ist ein Gebiet, auf dem vieles selbstverständlich erscheint, was es bei genauerer Betrachtung nicht ist. Sprache ist zudem ein Bereich, in dem gegensätzlich erscheinende Sprachtheorien gleichermaßen wichtig und richtig sind. Sprache ist das zentrale Medium in Therapie, Beratung und Supervision – auch wenn wir alle wissen, dass es jenseits von Sprache immer etwas gibt, das nicht zu versprachlichen ist. Man könnte annehmen, dass sich alles, was innerhalb eines Menschen oder zwischen Menschen vor sich geht, in Sprache fassen und erzählen lässt. In der Realität ist das anders, wie folgendes Beispiel zeigt: Nach etlichen und für ihn hilfreichen Gesprächen lässt sich mit einem Klienten eine wiederkehrende und für ihn leidvolle existenzielle Grunderfahrung herausarbeiten: dass er vieles von dem, was er in sich erlebt, weder vor sich selbst noch vor anderen sprachlich zum Ausdruck bringen kann. Auch wenn er noch so darum ringt – und dabei öfter die Augen schließt, wodurch er für andere manchmal wie »weggetreten« wirkt –, gelingt es ihm oft nicht, dafür Worte zu finden. Er bleibt damit dann sprachlos allein. Paradoxerweise war die Verbalisierung dieser »sprachlich existenziellen Einsamkeit« für ihn wohltuend und hilfreich. Zu weiteren Selbstverständlichkeiten, die sich bei genauerer Betrachtung als solche auflösen, gehört folgende Annahme: Mit Sprache würden wir »etwas« mitteilen – einzelne Wörter würden dieses »Etwas« bezeichnen oder benennen. Das so Bezeichnete existiert aus dieser Sicht irgendwie vor oder neben der Sprache, z. B. ein Gefühl oder ein Gedanke, und wird dann von uns in Worte gefasst. Ein Streifzug durch die Sprachphilosophie und eine Reflexion unserer Erfahrungen zeigen, dass dem keineswegs so ist. Es gilt nämlich auch umgekehrt: Das, was wir durch Sprache mitteilen wollen, lebt in uns auch deshalb, weil wir bereits in der Sprache »leben«. Was wir in uns erleben, ist immer schon durch die Tatsache vorbestimmt, dass wir uns »im Haus der Sprache« befinden. Eine weitere Selbstverständlichkeit ist die Annahme, wir würden unsere Gespräche »führen«. Demgegenüber lässt sich zeigen, dass das Gespräch oft mehr uns führt, als wir dieses führen. Man kann das auch als Gegenüberstellung von »Sprechakt« und »Sprachspiel« formulieren. In der Sprechaktkonzeption steht die Sprecherin im Mittelpunkt. Diese kommuniziert und man kann betrachten, wie sie das macht und ob und wie das beim Zuhörer ankommt. Kommunikation wird aus dieser Sicht von Sprechenden erzeugt. Die »Sprachspiel«-Perspektive geht demgegenüber davon aus, dass eine Person allein gar nicht kommunizieren kann. Zur Kommunikation gehören immer sowohl der etwas Mitteilende als auch der das Mitgeteilte Aufnehmende nebst anderen daran Beteiligten. Das kommunikative Geschehen folgt dabei seinen eigenen Regeln, Dynamiken und Mustern und erst dieses »ganze Spiel« ergibt die Kommunikation.

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Sprache ist alltäglich und wenig ist selbstverständlich

Radikal zu Ende gedacht erzeugt dann die Kommunikation die Sprecher und nicht diese die Kommunikation – nicht die Fußballspieler erzeugen also das Fußballspiel, sondern das Fußballspiel die Spieler. Mit der Gegenüberstellung von »Sprache als Verständigung« und »Sprache als machtorientiertem Handeln« stehen sich zwei zwar weniger gegensätzlich erscheinende, aber doch unterschiedliche Sichtweisen gegenüber. Beide sind praktisch relevant. Die eine sieht in der Sprache ein Mittel, sich auszutauschen, sich gegenseitig etwas mitzuteilen und zu verstehen. Das ist unsere Alltagsperspektive auf Sprache. Der Idealzustand ist dann gegenseitiges Verstehen vermittels der Realisierung dafür geeigneter Kommunikationsregeln. Dem kann etwa mit dem Soziologen Bourdieu (2005; vgl. Lieb, 2020, Kapitel 3.2.13) eine Konzeption gegenübergestellt werden, bei der einzelne Sprechakte Positionierungen sozialer Macht sind, die soziale Geltungsansprüche zum Ausdruck bringen. Hierbei ist Sprechen nicht auf Verständigung ausgerichtet, sondern auf die Herstellung oder Wiederherstellung sozialer Rollen und Positionen und damit auch Ungleichheiten. Im Unterschied zu anderen Formen von Macht geschieht das auf dem Gebiet der Sprache still und leise, weshalb Bourdieu von Sprache als symbolischer Macht spricht. Mit dieser Brille lassen sich Machtpositionierungen durch Sprache nicht nur in Klientensystemen, sondern auch im eigenen therapeutischen, beraterischen oder supervisorischen System beobachten. Auch dabei kann und sollte man sich beider Perspektiven bedienen. Man kann das Sprechen über Machtpositionen dann wiederum für eine diesbezüglich verständigungsorientierte Kommunikation nutzen. Wir werden im praktischen Teil II sehen, dass solche unterschiedlichen Perspektiven jeweils unverzichtbar sind und wie man sich ihrer bedienen kann. Fast immer, wenn sich sprachliche Selbstverständlichkeiten als Trugschluss erweisen oder wenn man von einer der beschriebenen Positionen zur anderen wechselt, öffnen sich neue Türen. Sie zu durchschreiten, lädt dieses Buch ein.

3  Ziel des Buches

Dieses Arbeitsbuch soll dazu verhelfen, Sprache als Werkzeug in Therapie, Beratung und Supervision effektiv zu nutzen. Im Mittelpunkt steht immer wieder das, was ich »Klartext« nenne: die möglichst klare Erfassung und Formulierung dessen, was tatsächlich gesagt wird oder gesagt werden soll mit allem, was dabei implizit mitgesagt wird und dann gegebenenfalls expliziter gesagt werden kann. Aus einer Metaperspektive verhilft dann die »Meta-Klartext-Klarheit« dazu, unsere eigene Sprache oder die anderer wertfrei zu beobachten und so ihre Merkmale und Muster zu erkennen. Hinsichtlich der Zielformulierung für dieses Buch landen wir schließlich in einem Paradoxon: Je mehr man nämlich von Sprache versteht und diese als Werkzeug beim Hören und Sprechen benutzen will, umso mehr weiß man, dass die Idee, Sprache sei ein Werkzeug, über das wir verfügen, Unsinn ist. Wir sind in Sprache oder noch extremer: Wir sind Sprache. Dann gibt es keinen Ort außerhalb ihrer, von dem aus man auf sie als Werkzeug zugreifen könnte. Es bleibt paradox: Therapeuten, Berater und Supervisoren müssen das Werkzeug Sprache beherrschen und nutzen – und sie können und müssen akzeptieren, dass sie immer schon mitten in Sprache sind. Die Anerkennung dieser Paradoxie als unauflöslich eröffnet Möglichkeiten, damit umzugehen. Es ist nicht Ziel dieses Buches, eine Art des Sprechens – etwa Klartext – a priori besser zu bewerten als andere. Es ist aber ein Ziel, dazu beizutragen, die verschiedenen Sprachstile und -spiele zu erkennen, zu würdigen und auf dieser Basis dann Veränderungen zu ermöglichen.

4 Die Welt der Sprache: ein Streifzug durch die Sprachphilosophie Zu den zentralen Fragen der Sprachphilosophie gehören: Wie ist das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit und wie das zwischen Sprache und Denken? Eine alte und bis heute gebräuchliche Annahme sieht in Wörtern Zeichen für Dinge der Wirklichkeit bzw. für innere psychische Vorgänge. Demnach haben wir zuerst einen Apfel in der Welt da draußen oder einen Gedanken in uns, und das bezeichnen wir dann mit einem Wort mit dem Ziel, anderen etwas mitzuteilen. Sprache ist also Informationsübertragung. Man kann auch zwischen der Sprache als Regelwerk und der Sprache als konkretem Sprechen unterscheiden, der sogenannten Sprachperformanz. Im ersteren Fall sehen wir uns z. B. an, ob Sätze im Sinne einer bestimmten Sprachnorm gebildet werden und was sich ändert, wenn man mehr darauf achtet. Im zweiten zentriert man sich ganz auf die jeweiligen Sprechakte von Personen oder auf ganze Gesprächsabläufe bzw. Sprachspiele mit ihren jeweiligen Mustern und registriert, welche Wirkung sie haben. Beobachtet man einzelne Sprechakte, sieht man primär die jeweiligen Sprecher und Hörer, die einander etwas mitteilen und damit das Gespräch erzeugen. Sieht man stattdessen das ganze Sprachspiel mit allen daran Beteiligten und dessen jeweilige Eigenlogik, wird deutlich, wie sehr Sprecher und Hörer erst durch das Gespräch zu dem werden, was sie darin sind. In Teil II werden wir sehen, wie unterschiedlich und wichtig beide Perspektiven sind.

4.1  Selbstverständliches ist nicht mehr selbstverständlich: Wenden in der Sprachphilosophie Menschen denken immer schon über das Phänomen der Sprache nach. Alle philosophischen Richtungen haben ihren Beitrag dazu geleistet. Dabei hat es einige Wendungen gegeben, nach denen vormals für selbstverständlich Gehaltenes aufgegeben werden musste. Ich fasse das für dieses Arbeitsbuch zusammen und verweise zur Vertiefung auf das Grundlagenbuch (Lieb, 2020, Teil I, Kapitel 3). In der antiken Philosophie und noch lange danach dominierte das »repräsentationistische« Sprachverständnis: Sprache besteht demnach aus sprachlichen Zeichen, die auf etwas in der Welt oder in uns verweisen. Wörter sind wie Etiketten auf Dingen (z. B. ein Apfel) oder auf inneren Vorgängen (z. B. Eifersucht). Auch heute folgen wir intuitiv und aus guten Gründen diesem Denken – etwa, wenn wir einem Klienten vermitteln, sein innerer Zustand trage den Namen »Neid« oder das richtige Wort für sein Problem sei eine bestimmte Diagnose. In der sogenannten »analytischen Wende« wurde diese Idee aufgegeben und durch die ersetzt, dass Sprache selbst bereits fundamental für unser Leben und Erleben und

Fünf pragmatische Perspektiven auf Sprache

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sie daher nicht mehr nur als Bezeichnung oder Etikett für etwas anzusehen sei. In der »hermeneutisch-phänomenologischen« Wende wird das noch vertieft und das »In-der-Sprache-Sein« als grundsätzliche Seinsweise des Menschen verstanden. Dann gibt es keinen Zustand oder keinen Ort außerhalb der Sprache mehr. Sprache und Leben, Sprache und Bewusstsein sind dann »gleichursprünglich«. Die »strukturalistische Wende« blickt ganz anders auf Sprache: Mit ihr wird Sprache zu einer eigenen Welt, zu einem eigenen System mit ihrer spezifischen Logik etwa im Hinblick auf Grammatik und Satzbau. Ob und wie im realen Sprechen dieser Logik gefolgt oder nicht gefolgt wird, hat dann allerdings einen erheblichen Einfluss auf die Sprechenden und Zuhörenden. Wir werden diese Sicht in Teil II und vor allem in der Anwendung von Klartext nutzen. Nach der »pragmatischen Wende« richtet sich der Fokus auf die konkreten Sprechakte im konkreten Leben. Dabei gilt: »Sprechen ist Handeln«. Beleuchtet wird nun, welche Folgen bestimmte Sprechhandlungen auf Beziehungen oder Personen haben.

4.2  Fünf pragmatische Perspektiven auf Sprache In meinem Grundlagenbuch über Sprache habe ich den Versuch gemacht, die eben grob skizzierten philosophischen Linien der Sprachphilosophie danach zu gliedern, welche pragmatische Bedeutung sie jeweils für unsere Arbeit als Therapeutinnen, Beraterinnen oder Supervisoren haben. Ich habe dem noch die systemtheoretische Perspektive ob ihrer hohen Relevanz für Sprache als praktischem Werkzeug hinzugefügt. Das ergab schließlich fünf Perspektiven, die in den praktischen Teil II einfließen. Ich erläutere sie im Folgenden anhand der Minisequenz eines Therapiegespräches: Patient: »Gestern hatte ich wieder eine schlimme Panikattacke!« Therapeutin: »Und wie haben Sie es geschafft, da wieder herauszukommen?«

Sprache als Bedeutungsträger: Aus dieser Sicht teilen sich Therapeut und Patientin gegenseitig etwas mit – sie geben oder erfragen Informationen. Wenn jemand zu jemandem spricht oder jemandem zuhört, geht es immer um ein »Etwas«, das mitgeteilt oder erfragt wird. Sätze und Wörter sind dann »Informationstransportmittel«. Aus dieser Perspektive muss sich der Sprecher bemühen, das, was er sagen will, möglichst deutlich zum Ausdruck zu bringen, und die Hörerin, das dann zu verstehen. Sprache gelingt, wenn der Transport gelingt. Dazu passt vor allem das bereits erwähnte »repräsentationistische« Verständnis von Sprache. Idealerweise bleibt die Bedeutung eines Wortes immer gleich – das Wort »Depression« sollte dann für jeden, der es verwendet, dasselbe bedeuten und man sollte es nur auf Zustände anwenden, für die es das richtige Etikett darstellt. Dieser Logik folgt die Klassifikation von Stö-

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Die Welt der Sprache: ein Streifzug durch die Sprachphilosophie

rungen im DSM oder ICD. Die Bedeutung von Wörtern und Sätzen liegt dann in dem, auf was sie in der realen Welt, im Verhalten oder hinsichtlich innerer Vorgänge zeigen. Sprache als Basis der Weltkonstruktion: So betrachtet geben Sätze nicht etwas wieder, das zuvor und außerhalb der Sprache existiert. Vielmehr prägen die in uns lebenden Wörter und Satzwendungen von vornherein schon das, was damit zum Ausdruck gebracht werden soll. Im zitierten Gespräch sind das z. B. die Wörter »Panikattacke« und »Herauskommen«, die das mitgenerieren, was sie benennen. Wir betreten dabei das Gebiet der »Hermeneutik«, bei der es um die Verbindung von Sprache, Symbolen, Zeichen und Leben stets in beiden Richtungen geht: wie sich das Leben in einzelnen Wörtern und Sätzen zeigt und wie diese unser Leben prägen. Beide Seiten stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Damit die Thera­peutin mit dem Wort »Panikattacke« und der Patient mit dem Begriff »Herauskommen« etwas anfangen kann, müssen beide a priori eine gemeinsame Sprachwelt teilen. Beide Begriffe erzeugen auch die Welt, über die sie sprechen. Die Welt der Therapie ist voller Begriffe, die nicht nur etwas wiedergeben, sondern das Denken, Fühlen und Verhalten von Therapeuten und Patienten prägen. Diese Perspektive der Gleichursprünglichkeit von Sprache und Leben ermöglicht es Therapeuten, Beraterinnen und Supervisorinnen auch, in einzelnen Sätzen von Klientinnen manchmal deren ganzes Leben zu »sehen« – etwa in dem Satz »Am Ende macht doch jeder, was er will!«. Sprache als Sprechakt und Sprachspiel: Therapeut und Patient weisen sich mit ihren Sätzen bestimmte Rollen zu und erzeugen damit eine bestimmte Wirkung, z. B. der Patient als Leidberichterstatter und der Therapeut als Problemlöser. Man kann das metaperspektivisch erweitern und in der sequenziellen Abfolge vieler Sprechakte ganze Sprachspiele mit ihren Regeln und Mustern sehen – so wie man in der Summe der Spielzüge einzelner Fußballspieler das ganze Spiel sieht. Philosophiegeschichtlich begegnen wir dabei den Philosophen Ludwig Wittgenstein und John L. Austin, dem Soziologen Pierre Félix Bourdieu und der sozialkritischen Philosophin Judith Butler (vgl. Lieb, 2020, Kapitel 4.1). Manche Sprechakte bringen nur Sachverhalte zum Ausdruck, andere bewirken oder verändern den, an den sie gerichtet sind, oder das, worüber eine Aussage gemacht wird, wie z. B. die Äußerung eines Standesbeamten »Ich erkläre euch hiermit zu einer Ehegemeinschaft!«. Das hat Ähnlichkeiten mit der Unterscheidung zwischen der Inhaltsebene und der Beziehungsebene oder mit der von Sachebene, Appellebene, Selbstaussage und Beziehungsdefinition von Aussagen im sogenannten Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun (1981). Wenn ein Therapeut zu einem sich selbst negativ darstellenden Klienten sagt, dass er von dessen Bereitschaft zur Selbstkritik beeindruckt sei, dann ist das ebenso ein Wirkung erzeugender Sprechakt wie wenn er mitteilt, das sei das Symptom einer Depression. Das Hilfreiche an dieser Handlungstheorie von Sprache ist die Sensibi-

Fünf pragmatische Perspektiven auf Sprache

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lisierung für die positiven oder negativen Folgen unseres Redens ganz unabhängig von den dabei zugrunde liegenden Intentionen. Judith Butler zeigt, dass und wie Sprechakte auch verletzen können. Auch Schweigen in Momenten, in denen gesprochen werden könnte, ist eine Handlung mit Wirkung. Dabei lässt sich der Blick auch auf die Auswirkungen nonverbaler Komponenten wie Gesten, Blicke oder Tonfälle richten – bei aller Vorsicht gegenüber der Interpretation dessen als Kommunikation. Ein Beispiel für potenziell nichtindendierte Folgen von Sprechakten ist die Art und Weise, wie andere darin als Subjekte »konstituiert« oder auch »dekonstituiert« werden. Ich kann mit oder zu jemandem so sprechen, dass dieser darin als handelndes Subjekt vorkommt, oder so, dass er dieser Rolle enthoben wird – mit jeweils positiven oder negativen Konsequenzen: »Was du gestern gesagt hast, hast du nicht selbst gesagt – das waren deine heftigen Emotionen!« Sieht oder erkennt man anhand der Wiederholung bestimmter Typen und Abfolgen von Sprechakten schließlich das ganze Sprachspiel, eröffnen sich für Therapie und Beratung neue Türen. Die den einzelnen Mitspielenden ja meist nicht bewussten Spielregeln oder Sprachspielmuster können aus dieser Sicht die Gesprächsteilnehmenden zu davon »versklavten« in privaten, beruflichen und auch therapeutisch-beraterischen Sprachspielen machen. Ein Vorteil dieser Perspektive ist, dass man im Fall von leiderzeugenden Spielen keine Personen als Schuldige finden muss, weil ja alle irgendwie nur »verstrickte Mitspieler« sind. In unserem kleinen Fallbeispiel könnte das ein Feststecken im Spiel sein, bei dem der Patient sich als Opfer dessen präsentiert, was er »hat«, der Therapeut darauf mit ressourcenorientierten Umdeutungen und Fragen reagiert und das ungewollt zu einer gegenseitigen Wiederholung dieser Präsentationen führt. Ein anderer Vorteil ist, dass man dann, wenn man ein Spiel oder ein Muster als solches erkannt hat, aus dem Spiel aussteigen oder die Spielregeln ändern kann. Sprache als eigenes System: Ein genauer Blick auf Wörter und Satzbau bemerkt, wie jeweils Subjekt, Verb und Objekt formuliert sind. Im bereits genannten Satz des Patienten ist dieser selbst das Subjekt, das etwas, nämlich eine Panikattacke, »hat«. Der Therapeut macht in seinem Satz den Patienten zum handelnden Subjekt und unterstellt diesem eine Tätigkeit (»herauskommen«). Sprache folgt in ihrer »Performanz« ihrer eigenen Logik hinsichtlich Satzbau und Grammatik. Um von anderen verstanden zu werden, muss sich der Sprecher daran halten und beispielsweise Subjekt, Prädikat und Objekt nennen: »Ich (Subjekt) habe (Verb, Prädikat), Panikattacken (Objekt).« Insofern diese Logik der Sprache in uns »lebt«, prägt sie damit auch unser Welterleben. Es macht dann einen Unterschied, ob formuliert wird »Die Panikattacke hat mich« oder »Ich habe eine Panikattacke«. Wenn wir Sprache als ein eigenes System sehen, können wir das in Therapie, Beratung und Supervision nutzen und gesprochene Sätze daraufhin ansehen, wie sie Subjekt, Prädikat (Verb) und Objekt formulieren und ob sie beispielsweise beim Verb den Konjunktiv (»Ich würde mir wünschen«) oder den Indikativ (»Ich wünsche

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Die Welt der Sprache: ein Streifzug durch die Sprachphilosophie

mir«) benutzen. Diese Sicht auf Sprache ist die Einstiegsstelle für den in Kapitel 5 vorgestellten »Klartext« mit seinen Regeln. Mit Blick auf die vorgegebenen Logiken der Sprache kann man sich ansehen, wie dieser in konkreten Sprechakten gefolgt wird und wie sich das eventuell verändern ließe mit welchen erwünschten neuen Wirkungen. Zum System der Sprache gehören »Signifikant« genannte Zeichen bzw. Wörter (z. B. das Wort »Selbstwert«) und das mit solchen Wörtern bezeichnete »Signifikat« (das, was in einer Person mit Selbstwert gemeint ist). Therapeuten können auch von Klienten berichtete Phänomene zu »Signifikanten« (Zeichen) machen, die auf »etwas« (Signifikat) anderes zeigen. Wenn eine Person Schmerzen hat und ärztliche Untersuchungen keine »somatischen Ursachen« finden, können diese z. B. als »Botschaft« des Körpers gedeutet werden, der den Betroffenen damit auf Stress oder einen ungelösten inneren Konflikt »hinweist«. Man kann als dafür sensibilisierte Zuhörerin registrieren, welche zentralen Signifikanten benutzt werden für welche damit bezeichneten Aspekte. Bezüglich des Satzes »Ich will, dass du mich akzeptierst« kann man klären, was genauer mit »mich« (Objekt) und was mit »akzeptieren« (Verb) gemeint ist. Derartige Klärungen in Therapien und Beratungen tragen in der Regel zum besseren gegenseitigen Verständnis und auch dazu bei, »auf den Punkt zu kommen«. Wer spricht, trifft Unterscheidungen – Systemtheoretische Sicht auf Sprache: Reflexionen über die Rolle der Sprache sind essenzieller Bestandteil von Systemtheorie und Systemtherapie. Eine ihrer zentralen Ideen ist die, dass jeder Aussage eine Unterscheidung zugrunde liegt. Der zitierte Patient unterscheidet z. B. zwischen »schlimmen« und anderen Panikattacken, die Therapeutin zwischen »etwas schaffen« und »etwas nicht schaffen«, »herauskommen« und »nicht herauskommen«. Wer sich in Therapie und Beratung dessen bewusst ist, kann das nutzen, um viele und in der Regel energetisierende Fragen zu den unterlegten Unterscheidungen zu stellen. Wenn jemand das Wort »Schuld« verwendet, unterscheidet er das von »Unschuld« und man kann fragen, welche Bedeutung diese Unterscheidung für ihn und sein Umfeld hat. Wer sagt, »jetzt« sei es gut, hat implizit ein »Vorher« vor Augen. So steht bei jeder Aussage implizit das mit im Raum, wovon das sprachlich Genannte unterschieden wird. Berichte von Klienten mit den darin verwendeten Wörtern wie »anstrengend, depressiv, unsicher« geben dann nicht »Realitäten« wieder, sondern verweisen darauf, mit welchen Unterscheidungsakten sie ihre jeweiligen Wirklichkeiten konstruieren. Diese zu ergründen und bewusst zu machen, kann sonst verborgene Veränderungsoptionen auftun. Bei einem meiner Klienten wurde mir und dann auch ihm erst bei Anwendung dieser Perspektive klar, dass er sein ganzes gegenwärtiges Leben deshalb so schlimm fand, weil er es, von ihm unbemerkt, ständig mit seinem früheren Leben verglich. Das ermöglichte ihm, sein heutiges Leben nach anderen und für ihn hilfreicheren Kriterien zu bewerten.

Fünf pragmatische Perspektiven auf Sprache

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Personen und Systeme wie Partnerschaften, Familien, Teams und Organisationen bis hin zu ganzen gesellschaftlichen Funktionsbereichen haben ganz spezifische und ihre Realitätskonstruktionen leitende Unterscheidungen. In einer Rehabilitationsklinik wird z. B. weniger zwischen »gesund–krank« als vielmehr zwischen »arbeitsfähig–arbeitsunfähig« unterschieden. Unser eigenes Sprechen und das anderer ist so gesehen immer auch ein Hinweisschild auf die zugrunde liegenden Unterscheidungen. Eine weitere Unterscheidung in der Systemtherapie ist die zwischen »Land« und »Landkarte«. Ersteres meint das konkrete Leben und Verhalten, zweiteres die Beschreibung dessen in der Sprache. Zu den Landkarten gehören nicht nur einzelne Wörter und Sätze. Sie beinhalten ganze Haltungen, Lebenskonzepte und Normen. Für Therapie und Beratung lässt sich ableiten, Klienten zu fragen, was genau sie mit bestimmten Landkartenbegriffen wie etwa »Panik«, »Treue« »Gelassenheit« oder »normale Familie« meinen – vor allem dann, wenn sie ihr reales Leben anhand der Kriterien der dazugehörigen Landkarten bewerten.

5  Klartext und Meta-Klartext-Klarheit

Im praktischen Teil II dieses Buches stehen Klartext und Meta-Klartext-Klarheit im Mittelpunkt. Klartext steht für eine bestimmte Art des Sprechens und Hörens. Bei Geheimdiensten ist der Begriff der sogenannte »entschlüsselte Text«, in der Alltagssprache eine Bezeichnung dafür, dass ein Text oder ein Satz unverschlüsselt sagt, was er sagen will. Meta-Klartext-Klarheit ist eine reflexive, das konkrete Sprechen beobachtende Ebene. Zu Klartext als Sprachnorm gehört zusammengefasst, dass Ȥ in einem Satz Subjekt, Prädikat und Objekt möglichst eindeutig genannt werden. Ȥ die Adressierung von Sätzen klar ist: Wer genau ist angesprochen und gemeint? Ȥ eine möglichst weitgehende Übereinstimmung besteht zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was »eigentlich« gemeint ist. Ȥ beim Zuhören genau hingehört und nachgefragt und das Gehörte nicht voreilig interpretiert wird. Ȥ bemerkt wird, wann etwas nur vage gesagt oder etwas Relevantes getilgt wird, um das gegebenenfalls nachfragend zu ergänzen. Meta-Klartext-Klarheit ist die bewusste Erfassung kennzeichnender sprachlicher Merkmale eines real stattfindenden Gespräches. Dabei bedient man sich der verschiedenen bereits genannten Sichtweisen auf Sprache und Kommunikation: der Blick auf einzelne Sprechakte, auf das ganze Sprachspiel, auf die sprachlichen Verständigungsbemühungen oder auf Sprechen als Formen der Machtpositionierung.

5.1  Klartext als Sprachperformanz – 11 Klartextmerkmale Performanz meint das reale Sprechen. Wie die eingangs genannten allgemeinen Normen von Klartext konkret umgesetzt werden können, soll im Folgenden anhand von elf Klartextmerkmalen gezeigt werden. Zu jedem wird jeweils eine mit »nK« (für »nicht Klartext«) und eine mit »K« (für »Klartext«) markierte exemplarische Äußerung angeführt. Diese Aspekte sind nicht unabhängig voneinander, weshalb manche Klartextaussagen »K« als Repräsentanten verschiedener Merkmale angesehen werden könnten. (1) Nachfragen und Rekonstruieren ist wichtiger als Interpretieren und voreiliges Verstehen. Klientin: »Meine Mutter gängelt mich.« nK-Therapeut: »Ja, sie will über Sie bestimmen.« K-Therapeut: »Was meinen Sie mit ›gängeln‹? Was tut Ihre Mutter, wenn sie ›gängelt‹?«

Klartext als Sprachperformanz – 11 Klartextmerkmale

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(2) Vollständigkeit des Satzes in Subjekt, Prädikat und Objekt: Im Folgenden wird das »Das«, worum es geht, einmal vage und einmal klarer mitgeteilt: nK: »Das ist bei dir doch immer das Gleiche!« K: »Dass du später als angekündigt kommst, wiederholt sich oft!«

(3) Möglichst wenig Tilgungen: Kein Satz kann alles sagen, aber das Ausmaß des Nichtgesagten kann größer oder kleiner sein. Klartext reduziert das Ausmaß getilgter Informationen. nK: »Das hier macht ein ungutes Klima!« K: »Die Art, wie wir gerade miteinander reden, macht mir Angst.«

(4) Klare Nennung von Adressierten: In Aussagen werden die damit Angesprochenen möglichst klar markiert oder benannt. In manchen Aussagen wird bewusst oder unbewusst eine »falsche Adresse« genannt: »Ich frage mich, was dich so traurig macht« – im Unterschied zu »Was macht dich so traurig?« Der Sohn sagt in der Familienrunde: nK: »Ich hätte hier gern mehr Anerkennung.« K: »Vater – von dir möchte ich Anerkennung für meinen guten Schulabschluss!«

(5) Sprachliche Präsenz der redenden Personen – höhere Kongruenz zwischen psychischem Erleben und kommunikativ Gesagtem: Die sprechende Person ist bei Klartext sehr präsent, wenn das, was in ihr abläuft, oder das, was sie mitteilen will, in dem, was sie sagt, möglichst deutlich enthalten ist. Karl vermutet, dass Monika von ihm einen Ausgleich für ihr in der Familie erbrachtes Opfer haben will. Er sagt zu ihr: nK: »Wie geht es dir zurzeit mit uns?« – Monika: »So weit ganz okay.« K: »Du hast viel für uns getan – brauchst du dafür von einem von uns einen Ausgleich?« – Monika: »Nein, ich brauche keinen Ausgleich von dir, wohl aber, dass du siehst und anerkennst, was genau ich für dich und euch geopfert habe.«

(6) Bei Klartext braucht man weniger Kontextinformationen, um einen Satz zu verstehen. Hintergrund dessen ist die Unterscheidung von E. T. Hall (Hall u. Hall, 1990) zwischen sprachlichen High- und Low-Kontext-Kulturen. In High-Kontext-Kulturen versteht man einen Satz nur, wenn man den Kontext kennt und das zur Interpretation des Gesagten nutzt, z. B. die nonverbale Begleitkommunikation, die Gesprächsumstände

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Klartext und Meta-Klartext-Klarheit

und die kulturellen Regeln für die Sprecherrollen. In Low-Kontext-Kulturen ist die Aussage davon unabhängiger und weitgehend im Satz selbst enthalten (vgl. dazu Lieb, 2020, Kapitel 3.2.15). Eine Mitarbeiterin fragt ihren Chef nach einer Gehaltserhöhung. Seine Antwort: nK – High-Kontextaussage: »In diesen Zeiten ist so etwas schwer zu entscheiden!« Dazu muss man wissen, was mit dem »Zeiten«-Verweis gemeint ist. K – Low-Kontextaussage: »Ich kann und will Ihnen jetzt weder zu- noch absagen, weil ich angesichts der Coronakrise generell keine Entscheidung über zusätzliche Ausgaben treffe.«

(7) Klartext verletzt Regeln anderer Sprachspiele. Die Befolgung der hier vorgestellten Klartextregeln kann und muss in Konflikt mit den Regeln anderer Sprachspiele kommen. Das hat eine potenziell kreativ-innovative und gegebenenfalls auch eine bedrohlich-konfliktträchtige Seite. Nicht jedes System kann und will sich auf Klartext einlassen. Man kann auch mit »Nebeltext« auf Klartext reagieren. In einer Teamsupervision treffen Vertreter verschiedener Berufsgruppen aufeinander. Konflikte liegen in der Luft: nK: »Wir müssen alle aufeinander Rücksicht nehmen und bemühen uns ja auch darum!« Die anderen reagieren darauf mit Schweigen, Lächeln, Nicken oder zustimmendem Murmeln. K durch den Supervisor: »Ich frage einmal Sie, Frau Müller. Was genau würden Sie tun oder sagen, wenn Sie hier einmal keine Rücksicht nähmen?« Und später: »Herr Maier, was würden Sie über Frau Müller denken, wenn Sie das täte?«

(8) Enge Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem: Auch wenn die klassische Etikettentheorie der Sprache, wonach ein Wort sich möglichst eindeutig auf etwas in der Realität bezieht, nicht haltbar ist, kann der Grad der Zuordnung von Wort und damit Bezeichnetem bzw. von Signifikant und Signifikat doch deutlich variieren. nK-Chef zu einem Mitarbeiter: »Es wäre gut, wenn Sie mehr Arbeitsbemühungen zeigen würden.« K-Chef: »Ich bitte Sie darum, sich über meine Anweisungen nicht zu beklagen, sondern diese zu erledigen.«

(9) Selbstkonstituierung von Sprachspielen – Klartext erzeugt Klartext: Für alle Spiele, Muster und Regeln gilt: Sind sie mal eingeführt, setzen sie sich von selbst fort. Das gilt auch für Klartext. In einer Supervisionsrunde stellt A lange und ausführlich einen Fall vor. Irgendwann äußert sich Kollege B (nK – Nebeltext bewirkt Nebeltext): »Das ist ja alles interessant!« – A: »Ja, aber auch nicht ganz einfach.«

Zu Indikation und Kontraindikation von Klartext

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K – Klartext bewirkt Klartext: »Du hast viel erzählt, aber ich weiß nicht, was du nun von mir oder von uns willst.« – A: »Okay, ich bin mir meiner Interventionen nicht sicher und möchte wissen, wie ihr mein Vorgehen bewertet.«

(10) Kongruenz zwischen Meinen und Sagen – engere Koppelung von Psyche und Kommunikation: Mit Klartext lässt sich wie folgt zwischen »meinen« und »sagen« unterscheiden: »Meinen« soll sich auf all das beziehen, was in einer Person mit dem von ihr Gesagten noch alles verbunden und »mitgemeint« ist. Deshalb wird nach einem gesprochenen Satz oft lang erläutert, was damit »eigentlich« gemeint sei. Manchmal dient das auch der Abschwächung dessen, was gesagt wurde (»Ich meinte ja nur …«). Bei Klartext stimmen »meinen« und »sprechen« mehr überein, wodurch sich Erläuterungen zum einen eher erübrigen und zum anderen wird darauf verzichtet, Gesagtes durch mitgeteiltes »eigentlich Gemeintes« zu entkräften oder es zu überfrachten. Im Coaching einer Teamleiterin sagt der Coach zu deren Umgang mit ihren Mitarbeitern zuerst »Kein Wunder, wenn die Mitarbeiter Angst vor Ihnen haben« und fügt dann hinzu: nK: »Ich meine damit, dass wir ja auch die Wirkung unserer Worte im Auge haben könnten, was natürlich manchmal schwierig ist …« K: »Ich finde Ihren Stil nämlich ziemlich autoritär!«

(11) Klartext energetisiert. Folgt man der Idee, dass Klartext manchmal jene Aspekte inhaltlich artikuliert, die sonst im psychischen Erleben oder im interaktionellen Klima eines Systems »sprachlos schlummern«, kann dessen Artikulation energetisieren: nK: »Es ist angenehm, hier mit Ihnen zu plaudern!« K: »Ich genieße die Zeit mit Ihnen! Ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt.«

5.2  Zu Indikation und Kontraindikation von Klartext Die Nützlichkeit der Klartextregeln steht der Nützlichkeit anderer Sprachstile und -  regeln nicht grundsätzlich entgegen. Bei allem in diesem Buch vermittelten Lob auf den Klartext sollte nicht übersehen werden, dass dieser nur eines von vielen Sprachspielen und er nicht immer angemessen, hilfreich und nützlich ist. Gemäß Klartext ist es z. B nützlich, in dem Satz »Ich mag das nicht« das Objekt »das« zu konkretisieren. Es kann aber auch ökonomisch sinnvoll sein, das verallgemeinernde »das« zu verwenden, wenn entweder ohnehin alle wissen, was damit gemeint ist, oder es umgekehrt sinnvoll ist, dass es niemand genauer definiert oder erfragt. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn für einen verwendeten Begriff nicht hinreichend klar ist, was

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Klartext und Meta-Klartext-Klarheit

gemeint ist, kann sich die Befolgung gemäß Klartext lohnen, weshalb es gut ist, für den Bedarfsfall dessen Regeln zu kennen und diese zu praktizieren. Klartext ist in der Regel hilfreich. Er kann manchmal aber auch mehr Probleme erzeugen als lösen – vor allem wenn er missionarisch vertreten wird. Damit er sich in Therapie, Beratung und Supervision als nützlich erweisen kann, sollten folgende Bedingungen gegeben sein: Es sollte Einigkeit bestehen, dass eine Problemkonstellation vorliegt, die sprachlich darzustellen und zu bearbeiten ist. Die Vertreter von Klartext sollten in ihren diesbezüglichen Bemühungen so verstanden und darin akzeptiert werden, dass er zur Lösung eines Problems beitragen soll. Wenn Expertinnen Äußerungen von Klienten mit der Klartextperspektive gegenbeobachten und bewerten bzw. ihrerseits Klartextäußerungen tun, werden damit wie bei allen Sprachspielen Rollen konstituiert, die beidseitig akzeptiert werden müssen. Das ist nicht der Fall, wenn jemand die Klartextbemühungen eines anderen als Verhör, Kritik oder Angriff erlebt. Wenn man das mit einer Meta-Klartext-Klarheit bemerkt, kann man darüber entweder metakommunizieren oder einfach mit den Klartextbestrebungen aufhören. Es gibt ja genug andere Sprachspiele. Klartext hilft nicht jeder Supervisandin, jedem Klienten, jedem Team. Ich erinnere mich an einen Patienten, der unentwegt von einem Thema zum anderen sprang und auf meine Frage nicht oder nur kurz einging. All meine Klartextbemühungen endeten in Frustrationen meinerseits ob ihres Misslingens – ich habe z. B. im Gespräch mit dem Patienten keinen anhaltenden roten Faden verfolgen können. In dem Fall war es für beide besser, den Klartextanspruch aufzugeben und das Gespräch auch ohne erkennbare Struktur »laufen zu lassen«. Wenn es in der Therapie – zumindest in manchen Phasen – nicht um sprachliche Klärung von Themen und Problemen geht, sondern mehr darum, dass der Klient die Therapeutin als präsent und die therapeutische Beziehung als stützend, fürsorglich und hoffnungsgenerierende erlebt, können dazu passende Blicke, Gesten und Worte jenseits der erwähnten Klartextmerkmale viel wichtiger sein. Möglicherweise schafft das aber auch den Boden dafür, sich später mit Klartext an die Bearbeitung von Problemen zu machen.

5.3  Klartext als Metaebene: Meta-Klartext-Klarheit Wenn man Merkmale und Regeln des Klartexts und einige zentrale Resultate der Sprachphilosophie und der Sprachwissenschaft kennt, kann man mit den darin enthaltenen Beobachtungskategorien konkrete Sprechakte einzelner Personen oder Sprachspiele ganzer Kommunikationsgemeinschaften beobachten und hinsichtlich ihrer Folgen bewerten. Meistens lassen sich daraus Konsequenzen für das weitere Vorgehen ableiten. Das kann bedeuten, gezielt Klartextregeln einzubringen und zu befolgen. Das kann auch zu ganz anderen Konsequenzen führen, beispielsweise zur

Klartext als Metaebene: Meta-Klartext-Klarheit

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bewussten Anpassung an ein sich explizit nicht an Klartextregeln orientierendes Sprachspiel, z. B. der Ironie, der reinen Metaphorik oder des gezielt vage gehaltenen Nebeltexts. Manche Aspekte können nur aus einer solchen Metaperspektive heraus gesehen werden, wie z. B. Muster von »Anschlusskommunikationen«, bei denen sich die Verneinung von jeweils zuvor Gesagtem wiederholt und daraus eine Kette von gegenseitigen Verneinungen wird. Oder man bemerkt plötzlich, dass in einem Gespräch alle irgendeine wichtige Frage aufwerfen, aber niemand eine beantwortet oder eine Position zu etwas einnimmt. Solche Varianten von Sprachspielen haben spezifische Auswirkungen auf die Gesprächsteilnehmenden, sind von diesen selbst inmitten des Sprachgeschehens aber oft nicht oder nur schwer zu erkennen. Die in diesem Kapitel 5 vorgestellten Normen und Merkmale von Klartext enthalten bereits viele Anwendungsregeln. Eine Ausdifferenzierung dieser Regeln zu etlichen sprachlich relevanten Bereichen erfolgt in Teil II mit exemplarischen Beispielen, kurzen theoretischen Erläuterungen, praktischen Übungen und Selbstreflexionsmöglichkeiten. Nachfolgend sei zusammenfassend genannt, worum es in Teil II geht (mit Ergänzungen im Downloadbereich): Ȥ genaues Hinhören, Ȥ Heraushören oder Herausfinden vom jeweiligen Sprecher verwendeter leitender Unterscheidungen, Ȥ Erforschen von in Sätzen enthaltenen Implikationen oder Tilgungen, Ȥ Erfassung der Spezifika der jeweils verwendeten Satzkomponenten Subjekt, Objekt und Prädikat, Ȥ Identifikation und Klärung der Adressierungen von Aussagen, Ȥ Berücksichtigung nonverbaler Komponenten inklusive Schweigen, Ȥ Nutzung von Metaphern, Ȥ Varianten angemessenen Fragens, Ȥ Klarheit des eigenen Sprechens und Mitteilens, Ȥ praxistaugliche Einnahme von Meta-Klartext-Klarheit-Perspektiven bei der Beobachtung der Sprachspiele anderer ebenso wie der eigenen, Ȥ Sensibilisierung für Sprechakte als sprachlich symbolische Machtpositionierungen. Im Downloadbereich befinden sich 16 Videos zur Veranschaulichung von Themen und Übungen. Das Buch enthält an den jeweiligen inhaltlichen Stellen mit dem Icon   gekennzeichnete Hinweise auf die Filme.

Teil II

ZEIGEN – ÜBEN – REFLEKTIEREN: DAS WERKZEUG SPRACHE NUTZEN

Ziel des praktischen Teil II ist es, die darin vorgestellten Fertigkeiten und Möglichkeiten zu kennen und zu beherrschen und sie dann in Therapie, Beratung oder Supervision zu nutzen, wenn das sinnvoll erscheint. Zuerst blicken wir auf das Sprechen anderer (einzelner oder mehrerer Personen) und üben, genau hinzuhören bis ins Detail einzelner Sätze und bezogen auf viele »Hörbereiche« mit darauf bezogenen Varianten des »Nachfragens« und »Erforschens«. Auch wenn das Nachfragen zum Hören gehört, widmet sich der nächste Bereich noch einmal dem Thema »Fragen« mit Demonstrationen und Übungen, wie gefragt werden kann und was sich dabei beobachten lässt. Anschließend richten wir den Blick auf den Sprecher in seiner Rolle, »etwas« zur Sprache bringen zu wollen oder zu müssen. Geübt wird, wie Sätze zu verschiedenen Themenbereichen im Sinne von Klartext formuliert werden können – stellvertretend für unsere Klienten, aber auch für uns Therapeutinnen, Berater und Supervisorinnen selbst. Standen bis dahin noch die jeweiligen Zuhörer und Sprecher im Zentrum, geht es anschließend um die Beobachtung ganzer Kommunikationssysteme bzw. Sprachspiele, zuerst die von Klienten und dann unsere eigenen in Therapie, Beratung und Supervision. Im letzten Teil nutzen wir noch einmal die Meta-Klartext-KlarheitPerspektive im Hinblick auf die Reflexion von Machtstrukturen in Gesprächen. Mit gelegentlichen Abweichungen werden zu diesen Themen jeweils einleitende Texte vorgestellt, das Thema zentriert theoretisch kommentiert und beleuchtet    , Fallbeispiele präsentiert    und anschließend Übungen zur Praxis    und zur Selbstreflexion   angeboten. Bei manchen Übungen werden auch die Lösungsideen des Autors angegeben. Die verwendeten Beispiele stammen aus meiner Arbeit und wurden hinsichtlich Personen grundsätzlich anonymisiert und bezüglich der Fallinhalte ohne themenbezogenen Sinnverlust gelegentlich verfremdet. Manche sind in Analogie zu vielen ähnlichen Beispielen aus meiner Praxis auch erfunden. Sofern zu einzelnen Bereichen zusätzliche Texte oder Übungen im Downloadbereich enthalten sind, wird darauf verwiesen.

1 Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Abbildung 1: Sprecher und Hörer

1.1  Zuhören, hinhören, nachfragen 1.1.1  Wie nachfragen, statt zu schnell interpretieren?

Abbildung 2: Nachfragen statt interpretieren

Patient: »Die Liebe zwischen uns ist verloren gegangen.« Therapeut: »Sie leben also ohne Zuneigung zueinander nebeneinander her.«

Mit dieser Antwort bringt der Therapeut zum Ausdruck, dass und wie er das verstanden hat. Das ist ein üblicher Vorgang, bei dem der Hörer interpretiert, was der Sprecher gemeint hat. Das »Verstehen« von jemandem läuft aber darauf hinaus, dass Gehörtes aus der eigenen Perspektive heraus rekonstruiert wird. Aus Sicht von Klartext ist es oft besser nachzufragen, was der Sprecher mit seinen Sätzen und Wörtern genauer verbindet.

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Hören ist ein aktiver Vorgang mit vielen Komponenten: Der Hörer generiert seinen eigenen Sinn aus dem, was da auf sein Ohr trifft. Wir können gar nicht anders, als das auf unsere Weise zu interpretieren. Wir können uns dessen aber bewusst sein und umschalten auf Nachfragen. Das Ziel dabei ist, als Therapeut und Berater möglichst nahe an das heranzukommen, was im Klienten, in seinem Leben vor sich geht bzw. was er davon berichten will.

Wie sich eine ganze Therapiestunde aus einem einzigen Satz entwickeln kann, wenn man fragt statt interpretiert. Herr Pongartz hat ein belastendes Leben – als Apotheker einen schwierigen Arbeitsplatz, einen zu pflegenden kranken Vater und eine an MS leidende depressive Ehefrau. In einer Stunde berichtet er viel über seine Frau und sagt dabei: »Meine Frau packt das gar nicht!« Als Therapeut habe ich nachgefragt: »Was genau heißt ›packen‹ und was ›nicht packen‹?« Wir arbeiteten dann heraus, dass er das am Resultat misst: »Packen heißt, dass es meiner Frau gut geht.« Ich fragte, was er mit »gut gehen« angesichts einer schweren Krankheit meint – was schließlich zur Frage führte: »Heißt das, dass man ein schweres Schicksal nicht packt, wenn es einem damit schlecht geht?« Im Gespräch darüber landeten wir schließlich bei der Idee, dass es durchaus zu einem »guten Packen« gehören kann, wie seine Frau melancholisch, traurig und passiv zu sein. Den Begriff des »Packens« weiter nutzend, warfen wir die Frage auf: Was wäre für ihn selbst ein »Packen« oder was wäre ein »Nichtpacken«, wenn er als gesunder, lebendiger Mann seine Frau deprimiert erlebt? Das endete bei einem für ihn wichtigen Thema: Was würde es für ihn bedeuten oder welche bisherige Regel würde es gegebenenfalls verletzen, wenn es ihm auch angesichts des Leidens seiner Frau gut ginge?

ÜBUNG

Thema: Nachfragen statt Interpretieren Beschreibung der Übung: Eine Klientin sagt Ihnen nachfolgende Sätze. Verzichten Sie darauf, diese zu interpretieren, und fragen Sie stattdessen mit je zwei Fragen nach, was die Klientin genau meint: »Ich habe zu wenig Selbstwert!« Ihre Fragen:

Zuhören, hinhören, nachfragen

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»Ich muss mehr an mich selbst denken!« Ihre Fragen:



SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Interpretieren und Nachfragen Anregung – Empfehlung: 1. Lesen Sie folgende Sätze: »Die gehen immer ohne mich aus – ich bleibe irgendwie außen vor.« »Mein Partner geht einfach nicht auf mich ein.« 2. Erlauben Sie sich, diese Sätze ganz nach Ihrem Gusto zu interpretieren, als wüssten Sie genau, was damit gemeint ist. Dann entwerfen Sie je zwei Fragen, um herauszufinden, was der Sprecher selbst damit jeweils meint. Notieren Sie hier Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

1.1.2 Wie Schlüsselwörter heraushören und wie diese Schlüssel verwenden? Video 1: SCHLÜSSELWÖRTER

Abbildung 3: Schlüsselwörter

Eine ältere Frau berichtet, dass sie als früher sozial engagierte und sich an ihrem Beruf erfreuende Frau sich nach dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren verändert habe: »Ich sitze da, liege herum – wie ein Wrack!« Diesen heftigen Begriff verwendet sie im Verlauf des Gespräches immer wieder, z. B. hinsichtlich Veränderungsideen: »Ich muss dieses Wrack wieder in Fahrt bringen.« Mit dem Wort »Wrack« bringt die Klientin verdichtet ihr Erleben zum Ausdruck – man kann es als Schlüssel zur Exploration ihres derzeitigen Welterlebens nutzen.

In relevanten Erzählungen kommen manche Wörter immer wieder vor oder in einzelnen zentrale Aspekte davon zum Ausdruck, was der Erzähler erlebt. In Anlehnung an die in Teil I dargestellte Sprachphilosophie kann man zum einen davon ausgehen, dass diese Wörter etwas zum Ausdruck bringen, was zuvor im Klienten außerhalb der Sprache vorliegt. Man kann zum anderen auch umgekehrt sagen, dass Wörter und Erleben gleichursprünglich sind und sich gegenseitig beeinflussen. Dann prägen solche Wörter die Erfahrung ebenso, wie sie diese zum Ausdruck bringen. Solche Wörter zu hören und dann nachzufragen, kann dann ein guter Schlüssel zur Welt eines Klienten sein – man kann sie daher »Schlüsselwörter« nennen.

Schlüsselwort »Schwelle« – Schlüsselwort »Risiko«: Frau Zander fühlt sich kraftlos und depressiv. Als Kontext lassen sich ihre Belastungen herausarbeiten im Rahmen der Fürsorge für ihre alte und kranke Mutter und für ihre behinderte, bettlägerige und im Heim lebende Schwester. Dem Therapeuten fallen beim Zuhören verschiedene zentrale Begriffe auf: Die Patientin berichtet wiederholt, sie habe Angst, »abzurutschen« in ein Leben, dass sie vor einer länger zurückliegenden Therapie gehabt habe, und berichtet

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Zuhören, hinhören, nachfragen

dann als Erklärung für ihren negativen Zustand, dass sie »eine Schwelle nicht überschreiten« könne. Diesen Schwellenbegriff greift der Therapeut als Schlüsselwort auf und stellt folgende Fragen: Welchen gefühlten oder vermuteten Unterschied mache es in ihrem Leben, ob sie sich vor oder hinter dieser Schwelle befinde? Als Frau Zander für das Überschreiten der Schwelle dann das Wort »Risiko« benutzte: »Welches Risiko gehen Sie ein, wenn Sie vor der Schwelle bleiben, und welches, wenn Sie darüber gehen?« Dazu wurde dann erarbeitet: Es gehe nicht um Risiken für ihre Schwester oder ihre Mutter – die würden vor und nach der »Schwelle« ganz gut überleben. Aber um welches dann? Das ließ sich nicht recht herausarbeiten. Therapeut: »Also bleibt das eigentliche Schwellenrisiko unbekannt. Wie könnten Sie das herausbekommen?« Im weiteren Dialog wurde deutlich, dass Frau Zander grundsätzlich dazu neigt, bei »Schwellensituationen« vor der Schwelle zu verharren (beruflich, privat) nach dem Motto: Lieber das bekannte Unglück diesseits als das unbekannte Glück jenseits der Schwelle. Man einigte sich dann auf ein Experiment: Sie solle bei kleinen »Tagesschwellen« (gemeint war: Sie könne etwas Ungewöhnliches, für sie Neues tun oder lieber beim Alten bleiben) einmal bewusst davor bleiben (nichts ändern) und bewusst darüber gehen (etwas bisher Ungewöhnliches tun), um mit beiden Varianten Erfahrungen zu machen.

Ein weiteres Fallbeispiel dazu finden Sie im Downloadbereich.

ÜBUNG

Thema: Schlüsselwörter erforschen Beschreibung der Übung: Im Folgenden finden sich einige in Therapie und Beratung häufig verwendete Begriffe. Unterstellen Sie, diese hätten in einer Erzählung den bereits erwähnten Charakter von Schlüsselwörtern, und finden Sie jeweils zwei Fragen, um ihren Gehalt beim Sprecher zu erforschen: Begriff Kränkung

Schuldgefühl

»Ich suche einen Ausweg!«

Mögliche Fragen

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Hier die Ideen des Autors dazu: Kränkung: Wer oder was kränkt Sie? Worin genau sind Sie gekränkt? Was wäre das Gegenteil von Kränkung (als Wortspiel: »Gesundung«)? Schuldgefühl: Was genau ist Ihr Gefühl beim Schuld-Gefühl? Worin besteht die Schuld? Wer spricht schuldig und wer könnte etwas ent-schulden? Ausweg suchen: Das wäre ein Weg heraus aus was? Was meinen Sie mit »suchen«, was wäre ein »Nichtsuchen«? Wie suchen Sie?

Eine weitere praktische Übung dazu finden Sie im Downloadbereich.

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Schlüsselwörter bei sich selbst entdecken und sich gezielt dazu befragen lassen als Weg zu sich selbst Anregung – Empfehlung: Erzählen Sie einer Person, zu der Sie hinreichend Vertrauen haben, fünf Minuten von einem Ihnen wichtigen Thema. Bitten Sie sie, nur zuzuhören und darauf zu achten, welche charakteristischen Wörter Sie gegebenenfalls verwenden, und sich diese zu notieren. Danach soll sie Sie zu zwei Begriffen wiederholt fragen: »Was genau meinst du damit?« Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

Zuhören, hinhören, nachfragen

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1.1.3  Wie sich für implizit Mitgesagtes sensibilisieren und das dann erkunden? Video 3: IMPLIZIT GESAGTES – »Also, das gibt’s doch nicht!«

Abbildung 4: Implizites und Getilgtes

»Maria und Alfred haben sich getrennt«: Dieser Satz impliziert, dass sie einmal ein Paar waren. »Ich bin in einer Warteposition.« Dieser Satz sagt (noch) nicht, worauf gewartet wird. »Ich will zunächst nur …« impliziert etwas Späteres: »… und was wollen Sie danach?« Kein Satz kann alles sagen. Sätze ruhen auf implizit Mitgesagtem oder sie tilgen wichtige Inhalte. Gesprochene Texte enthalten oft Implikationen oder Tilgungen, derer sich die Sprecher selbst nicht bewusst sind. Oft aber eben nicht immer ist dem Kontext hinreichend zu entnehmen, was in einem Satz getilgt ist, wie etwa der weitere Inhalt der Aussage »Mein Beileid!« auf einer Beerdigung. Manchmal reagieren die Hörer mehr auf das Implizite als auf das Explizite: »Lange mache ich das nicht mehr mit« kündigt etwas Getilgtes an und dieser getilgte Hinweis dürfte auf den damit adressierten Hörer stark wirken. Die Klartext-Hörregel dazu lautet: Erforsche und erfrage Implizites und Getilgtes – fülle es nicht voreilig durch deine Interpretationen.

Ein junger Klient, Angestellter bei einer großen lebensmittelerzeugenden Firma, litt daran, dass ihm dort immer wieder die Schuld für etwas gegeben wurde, wofür er aus seiner Sicht definitiv nichts konnte. Das Ganze endete in einer Kündigung und schließlich in einem Gerichtsverfahren. Zu all diesen real stattgefunden Vorgängen sagt er wiederholt, fast wie ein Mantra: »Das kann nicht sein! Das kann so nicht sein!« Dieser Satz impliziert und tilgt etwas Bedeutsames: Er bezieht sich auf etwas, das sehr wohl sein kann, weil es ja genau so geschehen ist. Das Implizite und für die Verarbeitung dessen dann natürlich Wichtige lautet: »Denn wenn es doch so sein kann, weil es ja

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

so war, dann …?« Dieses »dann …« ist hier noch implizit bzw. getilgt. Bei der »Füllung« dessen stehen vermutlich damit wohl verbundene Erfahrungen von Schmerz und Ohnmacht im Raum.

Weitere Fallbeispiele dazu sind im Downloadbereich enthalten.

ÜBUNG

Thema: Implizites und Getilgtes – Nachbesprechung eines Ereignisses in einem Team Fallbeispiel: In einer Suchtklinik hat sich etwas ereignet, das alle stark beschäftigt. Eine Gruppe von Patienten ist am Wochenende gemeinsam rückfällig geworden. Dabei sind in dieser Gruppe schon länger schwelende Konflikte eskaliert. Es kam zu körperlichen Gewaltanwendungen, bei der ein Patient erheblich verletzt wurde und per Notarzt in eine Klinik gebracht werden musste. In der Teamsupervision wird das nachbesprochen. Viele Emotionen liegen in der Luft. Schließlich sagt einer der Mitarbeiter in die Runde: »Da bleibt ein Vorwurf im Raum!« Er führt nicht weiter aus, was er damit meint. Dieser Satz hat eine offensichtliche Wirkung auf die anderen. Es wird länger dazu geschwiegen. Beschreibung der Übung: Sehen Sie sich den Satz dieses Kollegen genauer an und beantworten Sie die Frage: Was wird gesagt und was wird (noch) angedeutet bzw. getilgt? Formulieren Sie Sätze, mit denen Sie explizit nach dem Impliziten und Getilgten fragen. Ihre Fragen:

Hier die Fragen des Autors: »Wer könnte hier welchen Vorwurf haben? An wen gerichtet? Wer vermutet oder befürchtet einen solchen an sich gerichtet? Macht sich selbst jemand einen solchen?« Als Lösungsperspektive später, wenn ein Vorwurf konkret formuliert würde: »Was bräuchte der, der ihn formuliert, und was die Person, an die dieser gerichtet ist, damit es hier gut weitergeht?«

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Zuhören, hinhören, nachfragen



SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Selbstbeobachtung zu Implizitem und Getilgtem Anregung – Empfehlung: Beobachten Sie sich und andere eine Zeit lang daraufhin, wann Sie oder andere Sätze formulieren, die etwas Wichtiges andeuten, aber nicht näher aussprechen und es daher den Zuhörern überlassen ist, das für sich zu füllen. Wenn es für Sie hilfreich erscheint, könnten Sie andere von diesem Vorhaben berichten und sie bitten, Ihnen Rückmeldung zu geben, wenn sie einen solchen »Tilgungsvorgang« bei Ihnen bemerken. Finden Sie für ein oder zwei Beispiele Sätze, in denen Sie das Implizite dann direkt sagen. Einstimmungsbeispiel: Jemand fragt, ob Sie bei etwas mitmachen. Sie hören sich als Antwort selbst sagen: »Na ja, das käme darauf an.« Hier ist das, worauf es genau ankäme, noch getilgt. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:



1.1.4  Wie noch unvollständige oder vage Satzteile erkennen und dann Vervollständigungen anregen? Video 4: UNVOLLSTÄNDIGE SATZTEILE – »Es hat nicht gefunkt!«

Abbildung 5: Unvollständige oder vage Satzteile erkennen

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Subjekt: »Das Team lehnt Ihren Vorschlag mehrheitlich ab« – Hier ist das Subjekt »Mehrheit« im Abgleich zu einer Minderheit klar. Wer zu welcher Seite gehört, bleibt (gegebenenfalls aus guten Gründen) vage. Prädikat: »Ich habe es versucht, aber es ging nicht« – Hier bleiben die Verben »versuchen« und »nicht gehen« vage; man erfährt nicht, was da konkret getan oder nicht getan wurde. Objekt: »Ich habe es nun satt!« – Hier bleibt das Objekt »es« vage. Die tatsächlich gesprochene Sprache, die Sprachperformanz, ist das eine. Wenn man Sprache und Performanz gleichsetzt, gibt es nichts »Klares« oder »Vages«. Solche Sichtweisen und Bewertungen folgen sprachphilosophisch jener Sicht, nach der es neben oder über dem konkreten Sprechen eine »Sprache« mit Normen und Regeln gibt, die mehr oder weniger gut angewandt wird. Mit Blick auf diese können wir dann so etwas wie klare und vollständige, vage und unvollständige Sätze identifizieren. Das kann sich vor allem auf die in jeder Sprache zentralen Satzteile Subjekt, Prädikat (das »Tu-Wort«) und Objekt beziehen. Dann kann man einmal genau hinhören, wie diese Komponenten jeweils formuliert werden und eventuell spezifisch nachfragen. Auch hier erkennen die Sprecher oft erst mittels solcher Nachfragen ihre eigene Wortwahl und können sich gegebenenfalls selbst erforschen, was sie »eigentlich« sagen wollten. Oft entdeckt man erst durch Nachfragen zu dem, was man gesagt hat, was »da noch in einem schlummert«.

Ein 68-jähriger Ehemann und Vater erkrankte an Parkinson und musste deshalb seinen Beruf aufgeben mit erheblichen finanziellen Auswirkungen auf die ganze Familie. Frau und Tochter sagen, sie hätten dafür einen hohen Preis bezahlt. Er erlebt das als Vorwurf und bei Nachfrage wird deutlich, dass er bei diesem Thema selbst Schuldgefühle habe – angesichts seines eigenen zwar logisch unsinnigen und doch vorhandenen Vorwurfs an sich, er habe diese Erkrankung irgendwie selbst mitverursacht. Bei der Formulierung einer Selbstanklage ist er gleichzeitig das anklagende Subjekt und das angeklagte Objekt. Das Prädikat zur Frage, wessen genau er angeklagt werde oder was er im Sinne einer »Verschuldung« getan oder unterlassen habe, bleibt vage. Man kann hier viel nachfragen. In einer Stunde erfolgt das im Hinblick auf seine »Schuldgefühle«. Kernfragen zum Thema Schuld sind solche nach den jeweiligen in Sätzen explizit oder implizit formulierten Subjekten, nach den Objekten der Anklage und nach den Handlungen, den Prädikaten: Wer spricht schuldig? Wem wird etwas vorgeworfen? Was hat der »Angeklagte« oder »Schuldige« getan (als Prädikat)? In seiner Selbstanklage sah sich der Klient selbst als Täter, also als handelndes (und nun auch

Zuhören, hinhören, nachfragen

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dafür angeklagtes) Subjekt. Durch das Spektrum der genannten Fragen veränderte er das schließlich und machte »die Krankheit« zum Subjekt und sich selbst zum Objekt bzw. zu deren Opfer. Das ging mit einer Entlastung einher, die hier vor allem deshalb möglich wurde, weil dem eine genauere Befragung des Patienten hinsichtlich seiner eigenen Wortwahl vorausgegangen war. Hätte man ihm zu rasch von außen vermittelt, er sei doch Opfer und nicht Täter, hätte das möglicherweise keinen oder einen geringeren Effekt. Eine Konkretisierung des Prädikats der »Schuld-Tat« (»Was hat er getan, das die Krankheit hervorgebracht oder nicht verhindert hat?«) erübrigte sich hier – könnte in einem anderen Fall aber hoch relevant sein.

ÜBUNG

Thema: Subjekt – Prädikat – Objekt: Formulierungen des Sprechers erkennen und dann nachfragen Fallbeispiel: Eine Klientin sagt hinsichtlich ihrer Beziehungsprobleme mit ihrem Partner: »Man ist dann schnell wieder an diesem Punkt.« Um zu üben, sich ganz auf einen Satz zu zentrieren, erhalten Sie als Leser keine weiteren Informationen zum Kontext. Beschreibung der Übung: 1. Stellen Sie sich vor, Sie kennen nur diesen Satz. Beantworten Sie zunächst nur die den Satz beschreibenden Fragen: Was ist das hier formulierte Subjekt?

Was ist das hier formulierte Verb?

Wie wird der durch das Handeln erzielte Zustand beschrieben oder benannt?

2. Nun leiten Sie aus Ihren Antworten Fragen an die Klientin zur näheren Erfassung von Subjekt, Prädikat und Objekt ab: Subjektfragen:

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Verbfragen:

Fragen nach dem durch die Handlung erreichten Zustand:

Eine weitere Übung dazu finden Sie im Downloadbereich.



SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Lust auf Vorwürfe? Anregung – Empfehlung: Vorwürfe sind ein gutes Gebiet zur Identifikation darin enthaltener klar formulierter oder vage angedeuteter Subjekte, Objekte und Prädikate. Gute Vorwürfe zu formulieren, ist eine hohe Kunst. 1. Denken Sie an eine Person, an die Sie einen Vorwurf haben, und formulieren Sie diesen einmal in einem einzigen Satz – möglichst ohne lang nachzudenken. Dann sehen Sie sich Ihren Satz selbst genau an: Wer oder was ist darin das Subjekt? Haben Sie als Subjekt sich selbst als einen Vorwurf machendes formuliert (»Ich werfe vor …) oder den anderen («Du machst …»)? Ist klar, wem Sie diesen machen? Wie haben Sie das Objekt des Vorwurfes formuliert und gesagt, was konkret Sie dem anderen vorwerfen? 2. Machen Sie sich eine Zeit lang nach dem Motto »Lust auf Vorwürfe« auf die Suche: Wo und wie werden von Ihnen selbst oder anderen direkt oder indirekt Vorwürfe formuliert? Wo werden solche in Sätze anderer hineininterpretiert? Wie klar werden hier die Satzteile Subjekt, Prädikat und Objekt formuliert? Wenn etwas unklar ist: Wie wird damit umgegangen? Wird gegebenenfalls nachgefragt? Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

Zuhören, hinhören, nachfragen

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1.1.5 Was? Wem? Wen? – Wie sich für Objektformulierungen sensibilisieren und diese gegebenenfalls verändern?

Ganze Person oder Verhaltensweisen: In der Supervision eines klinischen Teams sagt Kollegin A über die (nicht anwesende) Kollegin B: »Sie will mich loswerden!« Das »sie loswerden wollende« Subjekt in diesem Satz ist die Kollegin B, das Prädikat (Verb) das »loswerden wollen«. Wir haben uns in dieser Stunde u. a. auf das Objekt zentriert. Das ist in diesem Satz mit dem »mich« zunächst die berichtende Kollegin A als »ganze Person«. Nach Klärung, was es mit dieser globalen Objektbestimmung auf sich habe, änderte sie das: Das Objekt, das die andere Kollegin loswerden wolle, sei wohl nicht die ganze Person A, sondern das aus Sicht dieser von Kollegin A in der Teamarbeit immer wieder verursachte »Problem auf der Station«. Diese Objektneudefinition ging mit kreativeren und vor allem weniger angstbesetzten Ideen einher, wie A diesbezüglich mit der Kollegin B weiter umgehen könne. »Ich entschuldige mich«: In dieser Satzversion ist hinsichtlich einer Schuld die sprechende Person gleichzeitig das Subjekt und das Objekt der »Entschuldung«. In der Version »Ich bitte dich um Entschuldigung« bleibt das Subjekt gleich, aber das Objekt ist nun eine andere Person, die um etwas gebeten wird. Wenn diese dann antwortete »Ja, ich entschuldige dich« oder »Nein, ich entschuldige dich nicht« wird die zuvor um etwas bittende Person zum Objekt des Satzes. Das Objekt in einem Satz gibt in der Regel an, worauf sich das Subjekt mit seinen Handlungen bezieht – auf wen oder was diese bezogen sind. Auch wenn das meistens kein Problem ist, können Objektformulierungen (gegebenenfalls bewusst) unklar bleiben oder in Sackgassen führen. In der Sprachfigur »Ich frage mich …« sind Subjekt und Objekt identisch und man könnte spielerisch zurückfragen: »Und was antworten Sie sich?« Oder man vermutet, dass dahinter eigentlich eine Frage an jemand anderen steht, der (noch) unbenannt bleibt. Dann wird aus »Ich frage mich, warum du so reagierst« die Frage »Was hat dich bewogen, so zu reagieren?«. Keine Formulierung ist per se besser oder schlechter. Wenn man mit John L. Austin im Sprechen Handlungen mit Folgen sieht, kann es sich aber lohnen, die Auswirkung verschiedener Objektformulierungen auf die Hörer und oft auch auf die Sprecher selbst zu beobachten und dann gegebenenfalls mit deren Veränderungen zu experimentieren.

Worüber froh sein? Im Verlauf einer Teamsupervision sagt eine Kollegin zu einer anderen, die bis dato in einer Außenseiterposition war: »Ich bin froh, dass du wieder im Boot bist.« Der ganze Nebensatz (»dass du wieder im Boot bist«) ist der Gegenstand bzw. das Objekt des »Frohseins« im Hauptsatz. Aber worüber genau ist sie froh? Es erwies sich

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

als nützlich, in der Supervision zu klären, welche der folgenden Varianten eher zutraf (es war die zweite): 1. »Ich bin für dich froh, dass du wieder im Boot bist.« Dann ist primär die damit angesprochene Kollegin das Objekt der Freude, der damit unterstellt wird, das sei gut für sie. 2. »Ich bin für mich froh, dass du wieder im Boot bist.« Dann ist primär die sprechende Kollegin selbst das Objekt ihrer Freude. Das Beispiel zeigt gut, dass es mehr um die Wirkung von Sprechhandlungen in Beziehungen geht und weniger um die Genauigkeit oder Angemessenheit als Selbstzweck. Denn in diesem Fall hatten beide Sätze unterschiedliche Auswirkungen auf die Personen und die Beziehung.

ÜBUNG

Thema: Globale versus konkrete Objektformulierung Fallbeispiel: Ein Klient, Vater von zwei Kindern, ist wegen einer Beinamputation nach einem schweren Motorradunfall körperlich behindert und als Folge der Analgetikatherapie psychomotorisch »gedämpft«. Die Beziehung zwischen ihm und seiner Familie ist in diesem Kontext immer schwieriger geworden. Der Mann sagt hinsichtlich seiner Frau: »Ich brauche, dass sie mich so annimmt, wie ich bin!« Das »brauchende« Subjekt im Hauptsatz ist der Mann. Der Nebensatz drückt das gebrauchte Objekt aus: »annehmen, wie ich bin«. Diese globale Formulierung bringt einen hohen Anspruch zum Ausdruck und kann in dieser Form für die Frau problematisch oder unerfüllbar sein, denn woran würde die Erfüllung dessen gemessen und was ist alles damit gemeint? Beschreibung der Übung: Formulieren Sie Fragen an den Mann oder die gegebenenfalls anwesende Frau, die dazu beitragen könnten, aus diesem Globalobjekt etwas Konkreteres zu machen. Wie könnte das Objekt dann formuliert werden? Ihre Fragen:

Eine Idee des Autors dazu ist die Frage an den Mann: »Was genau meinen Sie mit ›wie ich bin‹ – muss Ihre Frau jedes Tun und Handeln, jede Eigenschaft von Ihnen akzeptieren oder gar gut finden?« Eine neue Version des Objektes könnte dann vielleicht lauten: »Ich brauche von dir, dass du mich mit meiner körperlichen Versehrtheit und meiner verlorenen Beweglichkeit annimmst.«

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Zuhören, hinhören, nachfragen

Eine weitere praktische Übung zur Objektformulierung ist im Downloadbereich enthalten.

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Transformation eigener Objektformulierungen Anregung – Empfehlung: Beobachten Sie Ihre eigenen Sätze in Ihren privaten oder beruflichen Gesprächen einmal so lange, bis Sie ein von Ihnen vage formuliertes Objekt entdecken (wie etwa »Ich mag das nicht!«, wenn für Sie und andere unklar bleibt, was genau das »das« ist). Formulieren Sie es dann zunächst nur für sich selbst so um, dass es für alle klarer, verbindlicher und wohl auch handhabbarer würde. Entscheiden Sie anschließend, ob Sie diese neue Version auch so aussprechen wollen. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus der Übung:

1.1.6  »Ich versuch’s mal« – Wie Verbspezifika erkennen und damit jonglieren?

Im Folgenden geht es um die Formulierung von Verben, von »Tu-Wörtern«. Ziel ist es, sich für die von Klienten verwendeten Verben und deren Wirkungen zu sensibilisieren, durch Nachfragen zu Klärungen und gegebenenfalls zu deren Veränderungen beizutragen. Es geht zum einen um die inhaltlich gewählten Verben (z. B. »essen« oder »weinen«) und zum anderen darum, in welchem Modus sie formuliert werden. Modi sind z. B. der Indikativ als sogenannte Wirklichkeitsform (»Ich esse« – »ich weine«), der Konjunktiv als sogenannte Möglichkeitsform (»Ich würde essen« oder »Ich würde weinen« ) oder der Imperativ als Befehlsform (»Iss jetzt!« – »Weine nicht!«).

Abbildung 6: Versuchen versus tun

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Nicht können oder sich nicht trauen: Als Beispieltext soll ein Auszug aus einer Therapiesitzung dienen. Die wichtigen Verben sind kursiv markiert. Frau Brehm meint, sie könne angesichts ihres Lebens doch zufrieden sein, sei es aber nicht: »Ich könnte mich freuen, dass alles super läuft, aber ich kann nicht.« Sie verwendet bezüglich des Verbs »können« den Konjunktiv (»ich könnte«) und für das »Nichtkönnen« den Indikativ (»ich kann nicht«). Hier ließe sich nachfragen, welchen Unterschied es für sie mache, ob sie den Konjunktiv »könnte« oder den Indikativ »kann« verwendet. Solche Nachfragen bei Verben sind sehr ungewöhnlich und man braucht in der Regel Zeit, um sie nachvollziehen und beantworten zu können. Genau dieses »Innehalten« und Nachspüren gehört zu Sinn und Zweck des Nachfragens. Auf die Frage, was die Patientin mit dem Indikativ »nicht können« meint, modifiziert sie das in »ich traue mich nicht.« Dieses Verb impliziert etwas Neues: Wer sich etwas traut, geht ein Risiko ein. Das greift der Therapeut hier so auf: Therapeut: »Ich verstehe das so: Wenn Sie sich freuen, würden Sie ein Risiko eingehen? Richtig?« Patientin: »Ja.« Therapeut: »Was wäre das Risiko, wenn Sie sich über Ihr Leben freuten?« Patientin: »Wieder die Enttäuschung zu verspüren, Traurigkeit wieder wahrzunehmen.« Therapeut: »Wenn Sie sich nicht freuen, können Sie dann nicht so tief fallen?« Patientin: »Ja!«

Daraufhin entwickeln wir für die Zukunft einen »Plan B«, wie sie für den Fall, dass sie das Risiko der Freude einginge, den Absturz verhindern oder abschwächen könne. Dabei taucht wieder ein (neues) »nicht können« auf: Wenn etwas geschähe, das sie nicht beeinflussen könne – z. B. eine schwere Erkrankung eines ihrer Kinder –, dann »könne« sie »nichts tun«. Dieses bedeutungsschwangere Verb (»nichts tun können«) greift der Therapeut auf: Therapeut: »Was könnte geschehen, wenn Sie nichts tun können?« Patientin: »Dass ein Kind stirbt!« Therapeut: »Und was wäre dann der Plan B, wenn eines Ihrer Kinder gestorben wäre? Wie würden Sie dann weiterleben?« Patientin: »Der Gedanke ist zu krass. Das ist traurig!«

Im empathischen Sinne könnte man hier natürlich aufhören, über solche quälenden Inhalte weiter zu sprechen. Dann würde der Therapeut es aber gegebenenfalls ebenso wie die Patientin vermeiden, einen Plan B auch für schlimme Ereignisse zu entwickeln. Er versichert sich daher immer wieder, ob die Patientin bereit ist, diesen auch angesichts solcher Themen weiter auszuarbeiten, und diese sagt immer ja dazu.

Zuhören, hinhören, nachfragen

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Was die Ebene des Verbs bzw. des Handelns betrifft, zeigt sich: Für die Patientin endet bei der Vorstellung, ein Kind könnte sterben, ihr »Tun« – im Gefühl dann auch ihr Leben. Der Therapeut führt mittels des Verbs »weiter leben nach einem so schlimmen Ereignis« den Gedanken des Weiterlebens und damit auch eines weiteren »Tuns« ein mit Fragen zum potenziellen Fühlen, Denken und Handeln. Dazu sagt die Patientin, nun das Verb »haben« (im Konjunktiv) verwendend: »Dafür hätte ich nicht die Kraft.« Dazu entwirft der Therapeut – wieder verb- bzw. handlungsorientiert sprechend – folgende lösungsorientierte Perspektive: Therapeut – nun selbst etliche Konjunktive verwendend: »Die Trauer ist dann groß, aber nehmen wir an, das Leben gehe weiter – das wäre jetzt ein Leben ohne Kind. Nehmen wir an, Sie wüssten jetzt, dass Sie dann eine Kraft haben oder dass sich angesichts eines so schlimmen Schicksals erst eine neue entwickelt. Wenn Sie das heute wüssten und es so gesehen ein ›Weiterleben danach‹ mit einer neuen Kraft gäbe …« Patientin sofort: »Das würde mir Kraft geben!« Therapeut: »Was wissen Sie darüber, welche Kräfte da vielleicht in Ihnen schlummern? Patientin: »Ich denke, dass ich schon irgendwo Kraft haben muss, weil ich so viel auf irgendeine Art gemeistert habe.«

Die Veränderung eines Problems geht immer damit einher, dass jemand etwas anders als bisher tut oder denkt. Damit sind wir beim Prädikat bzw. dem Verb eines Satzes. Es ist daher wichtig, genau hinzuhören bzw. nachzufragen, wie ein Klient oder Supervisand in seinen Berichten das bezeichnet oder benennt, was von wem getan oder nicht getan wird – mit welchen Worten, wie konkret bzw. allgemein und vage. In Therapie und Beratung gibt es nebst vielen anderen drei bedeutungsschwangere Prädikate: haben, sein, versuchen. Deren Verwendung bringt zum Ausdruck, wie die Welt erlebt und erfahren wird, sie erzeugen dieses Erleben aber auch durch ihre Verwendung: »Ich habe Angst« ist dann etwas anderes als »Ich mache mir Angst«. Das Verb »sein« suggeriert ein ontologisches »So ist es« – der Tisch »ist da«. Problematisch wird es, wenn Verhaltensweisen oder Eigenschaften ein solcher ontologischer Seinsstatus zugeschrieben wird. »Er ist aggressiv« statt »Er verhält sich in bestimmten Kontexten aggressiv«. Das Verb »versuchen« wird verwendet, wenn es darum geht, etwas tun zu wollen, das noch nicht getan wird. Oder es wird als Tipp verwendet: »Versuchen Sie doch mal …« Problematisch wird es, wenn es mit realisiertem Tun verwechselt wird: Der Versuch, die Hand zu heben, heißt noch lange nicht, die Hand zu heben. Für solche Verbaspekte sensibilisiert, lässt sich in der Praxis erkunden, welche Rolle und welche Wirkung verschiedene Verben und Verbmodi haben.

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

ÜBUNG

Thema: Verben hören – Verben befragen – alternative Verben einfügen Beschreibung der Übung: Im Folgenden finden Sie in der linken Spalte zwei Aussagen mit Verben. Die rechte Spalte enthält Ihre Aufgabe dazu. Die 16-jährige Tochter sagt: »Ich möchte von meinem Vater gesehen werden.«

Formulieren Sie Fragen, was der Vater in den Augen der Tochter tun müsste, damit für sie das Kriterium »sehen« erfüllt ist.

Bei der Erörterung, wer die neue Teamleiterin wird, sagt A: »Ich kann mir den Kollegen B dabei vorstellen.«

Stellen Sie die Frage mal an die anderen Kollegen, was diese vermuten, was A mit »sich vorstellen« meint: Ist das ein rein visueller Vorgang oder bedeutet es mehr?

Zuhören, hinhören, nachfragen

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1.1.7 »Könntest du mal?« – Wie Konjunktive registrieren und mit Veränderungen experimentieren? Ein Team will von der Chefin, dass sie weniger kritisiert und mehr lobt. Ein Kollege formuliert das so: »Wir würden uns mehr Lob von Ihnen wünschen!« Frau Beiner schlägt ihrer Partnerin vor, wieder mehr Zeit miteinander zu verbringen. Diese antwortet: »Ja, das könnten wir versuchen.« Ein Therapeut meint, sein Patient solle seinem Vater seinen Wunsch einmal direkt mitteilen. Er formuliert das so: »Könnten Sie sich vorstellen, Ihrem Vater das Abbildung 7: »Möglich wär’s« – einmal direkt mitzuteilen?« der Konjunktiv

Der Indikativ sagt, wie es ist: »Ich gehe!« Der Konjunktiv als Möglichkeitsform spielt nur damit: »Ich könnte gehen!« Er hält die Dinge offen, legt sich nicht fest und hat daher etwas Spielerisches. Im Konjunktiv schwingt im Sinne von Konditionalsätzen oft ein potenzielles »wenn« oder »falls« mit: »Ich würde mir wünschen« beinhaltet »falls …« oder »wenn …«. Es geht nicht um die Bewertung von Konjunktiven, sondern darum, ihre Verwendung und Wirkungen zu registrieren und, wenn das hilfreich erscheint, Modifikationen zu testen.

Wir sind darauf angewiesen, dass andere unsere Wünsche und Erwartungen erkennen, verstehen und darauf eingehen. Damit das möglich wird, werden diese gegenseitig formuliert. Die Benutzung des Konjunktivs (»Ich würde mir wünschen«) ist ein guter Weg, gleichzeitig Wünsche und Erwartungen zum Ausdruck zu bringen und es anderen zu überlassen, darauf einzugehen. Der Nachteil ist, dass der Empfänger solcher Konjunktivbotschaften manchmal nicht ahnt, welch große Bedeutung ein Wunsch oder eine Erwartung für uns hat. Ein anderer ist, dass potenzielle Konflikte, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden, wenig geklärt und ausgetragen werden können, weil der Konjunktiv genau das verhindert. Folgende Beispiele verdeutlichen den Unterschied: Partner A zu B: »Es wäre schön, wenn du dich bei Konflikten mit meiner Schwester offen auf meine Seite stellen würdest« im Unterschied zu »Ich brauche dich bei Konflikten mit meiner Schwester deutlich an meiner Seite!« In der Beziehung von zwei Kollegen: »Meinst du, wir könnten unseren Konflikt einmal unserer Leitung vortragen?« im Unterschied zu »Ich finde, wir beide kommen in diesem Konflikt nicht weiter. Ich möchte hier die Leitung einbeziehen.«

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

ÜBUNG

Thema: Den Konjunktiv befragen Beschreibung der Übung: Stellen Sie je zwei Fragen zu den aufgeführten Konjunktiven. Fragen Sie danach, was sie zum Ausdruck bringen sollen und welche Relevanz der gewählte Modus des Konjunktivs im Unterschied zum potenziellen Indikativ hat. Beispiel: »Ich würde dazu lieber nichts sagen.« Fragemöglichkeit: »Was meinen Sie mit ›ich würde‹? Was ist für Sie der Unterschied zwischen ›ich würde‹ und ›ich werde‹ nichts sagen?« Konjunktiv

Ihre zwei Fragen

»Das wäre schön!«

»Da könnte man auch ganz anders reagieren!« »Könntest du mir mal bitte zuhören?«



SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Sich beim Konjunktivieren erwischen Anregung – Empfehlung: Beobachten Sie sich einmal, ob oder wann Sie sich beim »Konjunktivieren« erwischen, beim »würden«, »täten« oder »könnten«. Sie könnten auch andere darum bitten, Sie bei der Verwendung eines Konjunktivs darauf aufmerksam zu machen. Lassen Sie sich überraschen, welche Effekte diese beiden Übungen bei Ihnen haben. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

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Zuhören, hinhören, nachfragen

1.1.8 Wer »links« sagt, denkt »rechts« mit – Wie Aussagen zugrunde liegende Leitunterscheidungen und Prämissen erkennen und erforschen? Video 5: LEITUNTERSCHEIDUNGEN UND PRÄMISSEN 1 Undankbar und vorwurfsvoll – dankbar Video 6: LEITUNTERSCHEIDUNGEN UND PRÄMISSEN 2 Verzeihen – Wiedergutmachen

Prämissen

Abbildung 8: Reden ruht auf Prämissen

Freiwillig – Nichtfreiwillig: Herr Grohl will, dass seine Frau von sich aus gern an einer von ihm geliebten Freizeitaktivität teilnimmt. Die Möglichkeit, sie könne das »nur« ihm zuliebe tun, wertet er a priori als negativ. Die Klärung seiner ihn einengenden Prämisse (in einer guten Beziehung tut man freiwillig Dinge für den anderen) führte dazu, dass auch eine erbetene Teilnahme »nur dem anderen zuliebe« positiv gewertet werden kann. Leben beenden – Weiterleben: Die in ihrem weiteren Leben Schicksalsschläge befürchtende und sich dadurch in ihrer heutigen Lebensfreude beeinträchtigende Frau Brehm meint, sie könne sich bei Eintreten eines schweren zukünftigen Schicksalsschlages (etwa dem Tod eines Kindes) selbst das Leben nehmen. Diese Option ruht auf der leitenden Unterscheidung: »Leben beenden – weiterleben«. Diese Unterscheidung greift der Therapeut auf: »Ist der Gedanke, das Leben dann potenziell zu beenden, ein befreiender oder eher ein belastender?« Patientin: »Eher etwas Befreiendes. Quasi diesen Schmerz los zu sein.«

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Im Folgenden geht der Therapeut bewusst auf die Seite des Weiterlebens (zumal die Patientin zur anderen Seite sagt: »Ich würde das auch nie machen!«) und stellt Fragen zu dieser Option. Dazu meint Frau Brehm: »Das ist dann die Vorstellung von einem Kampf, den man anzunehmen hat.« Damit kommt eine andere leitende Unterscheidung herein: den Kampf annehmen oder nicht annehmen. Therapeut: »Würde das bedeuten: Weiterleben heißt, einen Kampf annehmen?« Patientin: »Ja, ich hätte nur gern etwas von dem Kampf. Ich habe eben das Gefühl, dass ich schon lange kämpfe, und ich möchte gern was davon haben, was über diese Null-Linie hinausgeht.«

Nun konnte exploriert werden, was ein Leben unter und was eines über dieser NullLinie wäre. Aus dieser Sicht kann sich ein Gespräch daran orientieren, vom Klienten (unbewusst) bei seinen Sätzen verwendete Prämissen und Leitunterscheidungen herauszuarbeiten und weiter zu explorieren – immer mit dem Ziel einer dadurch möglichen Optionserweiterung im Denken, Handeln und Fühlen. Bei der Sensibilisierung für Prämissen oder leitende Unterscheidungen, die Aussagen zugrunde liegen, geht es um eine Kombination aus genauem Hinhören, diesbezüglichen Reflexionen aus der Perspektive der Meta-Klartext-Klarheit und daraus abgeleitetem weiteren Nachfragen. Dem liegt die in Teil I aus systemtherapeutischer Sicht präsentierte Annahme zugrunde, dass jede Benennung oder Beschreibung von etwas auf einer Unterscheidung beruht (Teil I, Kapitel 4.2; Lieb, 2020, Kapitel 4.3.3). Wer sich für »antriebslos« hält, unterscheidet diesen Zustand von einem »mit Antrieb«. Daraus lässt sich eine schlichte Regel ableiten: Wenn ein Klient ein Verhalten oder einen Zustand beschreibt oder benennt (z. B. »überlastet«), fragen Sie danach, was mit dieser »Landkarte« im Leben des Klienten konkret gemeint ist und von was das unterschieden wird. Das kann Gespräche energetisieren und Türen öffnen, die verschlossen bleiben, wenn man die jeweils andere Seite nicht einbezieht oder nicht merkt, wie man sich mit durchaus veränderbaren Prämissen eingeengt hat.

Das Leben der Sportlehrerin Frau Nokert ist aus den Fugen geraten: Sie hat erfahren, dass ihr Mann (angestellter Anwalt), mit dem sie glückliche Zeiten verbracht hat, seit Jahren fremdgeht und große Summen von Geld in ihr nicht bekannten Projekten »verbraten« hat. Es kommt zur Trennung. In ihrer Schilderung verwendet sie wiederholt den Begriff »existenziell«, z. B. »existenzielle Sorgen«. Der Therapeut greift diesen Begriff auf und unterscheidet – zunächst nur für sich – zwischen »existenziellen« und »nichtexistenziellen« Themen und Sorgen. Er fragt dann nach, was für sie den Unterschied zwischen beiden Seiten ausmacht. Interessanterweise ergibt sich: Das für sie

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Zuhören, hinhören, nachfragen

»Existenzielle« begann genau dann, als sie anfing, sich in ihrer Ehebeziehung »allein« zu fühlen. Allein sein und allein zu leben, ist für sie eine Art »sozialer Tod« – Leben heißt für sie demgegenüber »in einer Beziehung« sein. Das lässt sich dann in zwei weitere für sie relevante Unterscheidungen ausarbeiten: »Allein leben als Folge eigener Versäumnisse« versus »Allein leben als nicht selbst verursachter Zustand«. Allein leben ohne eigenes Verschulden entpuppt sich als akzeptabel, allein leben mit eigener Verschuldung als Katastrophe. Bereits die Aufdeckung solcher von ihr unterlegter, ihr selbst so aber nicht bewusster prägender Unterscheidungen bewegte Frau Nokert – zum einen die Entdeckung der ihrem Erleben zugrunde liegenden Prämissen und zum anderen ob der Optionen, diese ja auch modifizieren zu können. In diesem Fall endete das mit der für die Patientin befreienden Erkenntnis, die Idee einer eigenen Verschuldung am Fremdgehen des Mannes ganz zu streichen: Nun gibt sie allein ihm die Verantwortung dafür. Allein leben wird dadurch nicht angenehm, verliert aber seine »existenzielle« Bedrohung.

Weitere Fallbeispiele dazu sind im Downloadbereich enthalten.

ÜBUNG

Thema: Begriffen und Aussagen unterliegende Unterscheidungen und Prämissen herausarbeiten Beschreibung der Übung: Die folgenden Aussagen in der linken Spalte ruhen auf ihnen zugrunde liegenden Unterscheidungen. Bilden Sie eine Hypothese, welche Seite dieser Unterscheidung mit der jeweiligen Aussage benannt oder markiert wird, und formulieren Sie dann eine Frage nach der implizit mitgemeinten, aber nicht benannten anderen Seite. Beispiel: Die Aussage »Ich finde es hier langweilig« unterscheidet zwischen »langweilig« und »nicht langweilig«. Eine Frage könnte lauten: »Was müsste hier geschehen, damit es für Sie nicht langweilig wird?« Aussage: Markierung einer Seite »Mein Sohn ist depressiv.«

»Ich trau mich das nicht.«

»Wie kann ich das wiedergutmachen?«

Frage nach der anderen Seite

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Selbstreflexion zu Unterscheidungen – mit Hilfe anderer eigene Leitunterscheidungen und Prämissen entdecken. Anregung – Empfehlung: Diese Übung können Sie auf ein kleines begrenztes Thema anwenden. Sie könnten daraus auch eine psychologisch-philosophische Reflexion ihres ganzen Lebens aufbauen. Geübt wird hier nur für den kleinen Bereich. Sie brauchen dazu einen passenden Gesprächspartner, denn allein kann man das kaum hinbekommen. Besinnen Sie sich auf ein Thema, das Sie beschäftigt und bei dem Sie immer wieder eine bestimmte Perspektive vertreten: eine bestimmte Sichtweise über sich selbst, über jemand anderen oder zu einem kontroversen Thema. Denken Sie nach und notieren Sie sich gegebenenfalls, wie und mit welchen Sätzen und Wörtern Sie Ihre Position dabei gewöhnlich vertreten. Dann machen Sie sich mit Ihrem Gesprächspartner auf die Suche: Wenn Sie Ihre Position so nennen und darstellen, wovon unterscheiden Sie Ihre Position? Wie benennen, beschreiben und bewerten Sie diese andere Seite? Was steht sich dabei gegenüber und schwingt daher immer mit? Sie könnten hier immer weiterforschen: Wie kam diese für Sie offenbar wichtige Unterscheidung in Ihr Leben? Wie werden beide Seiten bewertet? Welche anderen Unterscheidungen zu diesem Thema wären auch denkbar? Indiziert ist diese Übung vor allem dann, wenn Sie merken, dass Sie (und andere mit Ihnen) von bestimmten Begriffen, Bewertungen und Beschreibungen beherrscht sind und die Anwendung dieser Leitunterscheidung dadurch Macht über Sie hat. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

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Zuhören, hinhören, nachfragen

1.1.9 »Könnte hier mal jemand …?« – Wie Adressaten von Aussagen erfoschen, klären und neu formulieren? Video 7: ADRESSATEN VON AUSSAGEN ERFORSCHEN UND DIESE DANN DIREKT ANSPRECHEN

Abbildung 9: »Wer ist gemeint?«

Im Verlauf einer Paartherapie sagt A, der sich als nicht geschätztes »Anhängsel« von B erlebt: »Ich frage mich, welche Bedeutung die Beziehung für dich hat.« Man kann diese Aussage einmal dahingehend beleuchten, wer ihre Adresse ist. Genau genommen ist es ja A selbst – dann könnte er sich diese Frage selbst beantworten und müsste sie gar nicht aussprechen. Entsprechende Fragen durch den Therapeuten ergaben erwartungsgemäß, dass Partner B die eigentlich gemeinte Adresse ist und A ihn damit fragen will »Welche Bedeutung hat die Beziehung für dich« und später noch genauer: »Welche Bedeutung gibst du mir?« Diese Klartextklärung war schließlich für A und B gleichermaßen wichtig und hilfreich. Nun wusste A, was er wen eigentlich fragen wollte, und B fühlte sich direkt angesprochen. Für gute Fragen gilt, dass man die Antwort nicht vorhersagen kann. In diesem Fall war die Antwort von B eine berührte Zuwendung zu A – verbal und, noch wichtiger, nonverbal in Form einer Zärtlichkeit. In der Regel definiert der Kontext mit, wer die Adressaten von Aussagen sind. Wenn jemand bei der Polizeiwache von der Beobachtung einer Straftat erzählt, ist klar, wer mit welcher Intention angesprochen wird. Wenn Klienten über ihre Probleme berichten, ist klar, dass sie ihre Therapeuten in deren Rolle adressieren. Manchmal ist das aber klärungsbedürftig – auch in Therapie und Beratung: »Ist das gerade eine Aussage an mich als Therapeutin oder gilt sie jemandem aus Ihrem Leben? Als wen sprechen Sie mich mit Ihrer Erzählung an: Soll ich nur Ihr Zuhörer

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

sein, erwarten Sie von mir eine Einlassung darauf?« Wenn in einer Familie ein Mitglied über eine schöne oder schlechte Erfahrung berichtet, mag offenbleiben, an wen dieser Bericht gerichtet ist oder wer sich als Adressat angesprochen fühlt. Das hat in der Kommunikation immer zwei Seiten: (1) Wen adressiert der Sprecher wie? (2) Wer fühlt sich wie adressiert?

Adressentransformation – Eltern statt Therapeut: Eine 19-Jährige berichtet ihrer Therapeutin in einer Stunde, wie schlimm es für sie ist, immer zwischen ihren streitenden Eltern zu stehen und sich um diese kümmern zu müssen: »Wenn ich mich nicht um alles bemühen und vermitteln würde, würde alles auseinanderbrechen!« Die Adresse dieser Aussage ist natürlich die damit angesprochene Therapeutin. Als diese fragte, ob es noch einen anderen und vielleicht viel wichtigeren Adressaten gebe, wird deutlich, dass das eigentlich die Eltern sind. Wenn das klar ist, kann herausgearbeitet werden, wann und in welchem Kontext sie diesen beispielsweise sagen könnte: »Ich bin euer gemein­ sames Kind und mit meiner Vermittlerrolle total überfordert – bitte lasst mich da raus!«

ÜBUNG

Thema: Adressenklärung Beschreibung der Übung: Die linke Spalte der folgenden Tabelle enthält Angaben über eine Situation und/oder eine Aussage mit noch unklarer Adressierung. Tragen Sie in die rechte Spalte Ihre Intervention bzw. Frage ein, mit der Sie dazu beitragen, dass a) der Adressat und b) die gegebenenfalls an diesen spezifisch gerichtete Botschaft benannt wird. Aussage/Kontext

Ihre Fragen zur

Eine Mitarbeiterin eines Klinik­teams sagt in die Runde: »Ich werde hier nicht ernst genommen!« Manche fühlen sich angesprochen und beginnen, sich zu verteidigen, andere reagieren gar nicht.

Klärung der Adressen:

Klärung der Botschaften:

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Zuhören, hinhören, nachfragen

Aussage/Kontext

Ihre Fragen zur

In einer Familientherapie erzählt die 20-jährige Tochter zu Beginn, sie habe seit der letzten Stunde ein ganzes Heft über sich und ihre Familie vollgeschrieben und hätte am liebsten, dass der Therapeut das alles durchIese.

Klärung der Adressen:

Klärung der Botschaften:

In der Teamsupervision einer Klinik klagt ein Kollege lange und breit über die »Zustände« im Team und über das Verhalten von Patienten auf Station. Es bleibt aber offen, wem er damit was sagen will.

Klärung der Adressen:

Klärung der Botschaften:

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Adressatenbeobachtungen im eigenen Umfeld Anregung – Empfehlung: Beobachten Sie bei Gesprächsrunden, an denen Sie teilnehmen – vor allem bei solchen, die schwierig sind –, welche direkte und indirekte, klare und unklare Varianten an Adressierungen Sie wahrnehmen können: Wie klar oder unklar wird das markiert? Mit welcher jeweiligen Wirkung? Spielen Sie selbst gegebenenfalls mit verschiedenen Varianten und beobachten Sie die Wirkungen bei sich und anderen: Ȥ Adressieren Sie selbst einmal gezielt vage oder gezielt eindeutig. Ȥ Fragen Sie bei Adressatenunklarheiten in Aussagen anderer gezielt nach: »An wen ist diese Aussage gerichtet? Was soll dieser Person spezifisch gesagt werden?« Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

1.1.10 Tonfall, Mimik, Gestik – Wie angemessen mit nonverbalen Komponenten oder nonverbaler Kommunikation umgehen? Video 2: NONVERBALE KOMMUNIKATION – Der mitschwingende Vorwurf

Abbildung 10: Nonverbale Symbolik

Zuhören, hinhören, nachfragen

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Im Gespräch mit einem Klienten über ein belastendes Thema bemerkt der Therapeut beim Klienten, dass dieser feuchte Augen hat. Über ein potenziell dabei zum Ausdruck kommendes Gefühl spricht er nicht. Möglicherweise ist ihm diese emotionale Seite von ihm gerade gar nicht so bewusst. Ein anderer Klient lächelt während des gesamten Gespräches – ganz unabhängig von den erörterten Themen. Bei einem anderen wird – zumindest nach einer gewissen Zeit – ein vorwurfsvoller Tonfall deutlich, inhaltlich kommt keinerlei Vorwurf vor. Eine Klientin seufzt wiederholt tief, während sie erzählt. Eine Frau schüttelt an manchen Stellen der Berichterstattung ihres Mannes immer wieder leicht den Kopf, wie man es üblicherweise bei einem »nonverbalen Nein« tut.

Die Nonverbalität einer Person gehört zu deren Intimität, weshalb ihr Ansprechen in Therapie und Beratung einer besonderen Legitimation bedarf. Therapeuten und Beraterinnen erhalten üblicherweise keinen Auftrag, das anzusprechen oder zu bearbeiten. Andererseits können diese Komponenten eine große Bedeutung haben und deren explizite Beachtung Therapieprozesse befördern. Gesagtes kann durch nonverbale Aspekte (Tonfall, Sprachmelodie, Gestik, Mimik) begleitet, kommentiert, verstärkt, abgeschwächt oder auch entwertet werden. Insofern sind sie begleitender Teil der verbalen Kommunikation. Sie können aber auch eine ganz eigenständige und von der verbalen Kommunikation unabhängige Seite haben. Das Ansprechen eines Seufzens, eines potenziellen Vorwurfstons oder eines permanenten Lächelns kann die Aufmerksamkeit einer Person auf bislang nicht bewusste Teile seines Erlebens oder seines Sich-Präsentierens richten und so verbal besprechbar machen. In einer nonverbalen Komponente, etwa einem Stirnrunzeln oder einem permanenten Anlächeln, kann auch eine wichtige Beziehungsdefinition enthalten sein. Man kann gegenseitig Körperreaktionen Bedeutungen zuschreiben und sie so gegebenenfalls zu »Zeichen« oder »Signifikanten« machen, die auf »etwas« (das »Signifikat«) zeigen. Therapeuten und Berater sollten sensibel sein in der Wahrnehmung nonverbaler Komponenten und ebenso klar wie respektvoll in der Art, wie sie damit umgehen. Als Faustregel kann gelten: Man holt sich gegebenenfalls die Erlaubnis, die Aufmerksamkeit einmal darauf zu lenken und das anzusprechen. Man teilt mit (oder »zeigt« imitierend), was man beobachtet hat, und erforscht dann mit den Klienten gemeinsam, mit welchem inneren Erleben das eventuell einhergeht und ob auch eine »Botschaft« an andere darin enthalten sein könnte. Weniger ratsam ist es, Körperreaktionen nach eigenem Gusto oder eigenen Theorien zu deuten und nicht, Patienten solche Deutungen als »Wissen« oder »Erkenntnis« über sie zu verkaufen.

Auf die Frage an einen Klienten, welche Bedeutung er selbst seinem beständigen Lächeln während seiner Erzählung über die Beziehung zu seinem Vater gibt, sagte dieser nach einigem Nachdenken: »Ich schäme mich für das, was ich Ihnen dabei über mich

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

berichte.« Der Klient markierte sein Lächeln also als »beschämtes Lächeln«, das seine »Selbstscham« zum Ausdruck bringe – was sich dann als wichtiges Thema für die weitere Therapie erwies. Erst über die Fragen des Therapeuten wurde sich der Klient a) seines Lächelns und b) des darin enthaltenen Erlebens bewusst. Mit einer Klientin arbeitete ich heraus, dass sie zwischen zwei Extremen hin- und herschwankt: Sie fühle sich entweder perfekt oder als Versagerin. Die Alternative, einmal Mittelmaß sein zu dürfen, fand sie verbal gut und entspannend. Als sie dieses Wort in den Mund nahm, verfinsterte sich aus Sicht des Therapeuten ihr Gesicht. Nach eingeholter Erlaubnis, das anzusprechen, sagte er: »Wenn Sie sich jetzt im Spiegel sehen könnten, würden Sie meines Erachtens etwa Folgendes sehen.« Dann ahmte er in überzogener Weise das verfinsterte Gesicht der Klientin nach. Die Patientin lachte und äußerte: »Ja, das stimmt. So fühle ich mich auch beim Gedanken an ›Mittelmaß‹!« Nun war klar: Sollte sie aus der Dichotomie »Perfekt – Versagen« herauskommen, wäre noch daran zu arbeiten, was ein für sie verdauliches »Mittelmaß« wäre.

ÜBUNG

Thema: Nonverbales ansprechen Beschreibung der Übung: In der folgenden Tabelle werden in der linken Spalte Situationen mit nonverbalen Komponenten beschrieben, die allesamt aus realen Therapien oder Supervisionen des Autors stammen und die so den jeweiligen Klienten nicht oder nur zum Teil bewusst waren. Gehen Sie davon aus, dass von der Klientin die Erlaubnis vorliegt oder sogar das Interesse besteht, solche Komponenten anzusprechen und zu erforschen. Tragen Sie in die rechte Spalte Ihre Ideen ein, wie Sie das a) ansprechen und b) welche Fragen Sie dazu stellen könnten: Eine Klientin findet die Idee gut, sie könne an bestimmten Tagen der Woche ganz gezielt darauf verzichten, ihrer 17-jährigen Tochter bohrende Fragen zu stellen oder ihr Vorwürfe zu machen und dieser stattdessen etwas Positives zu sagen. Während sie das sagt, runzelt sie mit ihrer Stirn und ihre Mimik könnte als Ausdruck eines Zweifels interpretiert werden.

a) Wie diese Beobachtung ansprechen:

b) Was gegebenenfalls fragen:

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Zuhören, hinhören, nachfragen

In einer Supervision berichtet eine Kollegin permanent lächelnd und mit sanfter Stimme von einem beruflichen Kooperationspartner. Aus Sicht des Supervisors (!) liegt in ihrer Stimmlage aber auch etwas Anklagendes – die Sprachmelodie folgt einer Anklage (wenn sie über diesen spricht, geht ihre Stimme am Ende des Satzes immer lauter werdend hoch). Die Kollegin stimmt dieser Deutung des Supervisors sofort zu und ist explizit daran interessiert, das nun näher zu explorieren.



Mit welchen Fragen könnten Sie zusammen mit der Supervisandin das im Nonverbalen Enthaltene verbal explizit machen?

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Selbst- und Fremdselbstbeobachtung hinsichtlich nonverbaler Kommunikation Anregung – Empfehlung: Im Wissen, dass alle unsere sprachlichen Äußerungen nonverbal mit Gesten, Mimik, Tonfall, Sprachmelodie und anderen nonverbalen Komponenten begleitet werden und das keinesfalls (permanent) notwendig und nur manchmal sinnvoll ist, könnten Sie einmal beobachten und reflektieren: Selbstbeobachtung: Wenn Sie an Ihre eigenen »Nonverbalitäten« denken und diese auf keinen Fall negativ werten, was glauben oder wissen Sie, sind Ihre sich wiederholenden Spezifika hinsichtlich Gestik, Mimik, Tonfall und Sprachmelodie? Was wissen Sie darüber, wie das auf andere wirkt? Dann könnten Sie eine Zeit lang »empirisch« überprüfen, ob Sie dies tatsächlich so bei sich selbst entdecken. Sie können sich überlegen, welchen Sinn Sie diesen Aspekten hinsichtlich Ihrer selbst oder Ihrer Beziehung zu anderen unterlegen. Wenn Sie es für angemessen halten, können Sie sich mit einer vertrauten Person darüber austauschen. Fremd-Selbstbeobachtung: Fragen Sie für Sie relevante und vertrauenswürdige Personen, welche nonverbalen Aspekte sie bei Ihnen für markant halten, wie sie darauf reagieren bzw. welche Bedeutung sie dem in der Regel bisher gegeben haben.

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

1.1.11 »Mein Leben ist eine Achterbahn!« – Wie den Reichtum von Metaphern nutzen? Video 8: REICHTUM VON METAPHERN

Aufgrund der Bedeutung der Metapher in therapeutischen und beraterischen Gesprächen wird dieses Thema zweimal behandelt: einmal in diesem Kapitel 1.1.11 und ein weiteres Mal im Kapitel 1.3.2 in der Übung 10. »Ich bin flügellahm«: Im Verlauf einer Sitzung erzählt der 69-jährige nach seiner Tätigkeit als Lehrer berentete Patient von folgender Ambivalenz: Einerseits sei er mit seinem jetzigen Leben (Ehe, Rentenstatus) ganz zufrieden, andererseits leide er darunter, dass er für das vor ihm liegende Jahr anders als früher keinerlei Pläne habe. Seinen diesbezüglichen Zustand beschreibt er mit einer Metapher: Klient: »Dieses Jahr bin ich flügellahm. Ich möchte mein Haus aufräumen … und bringe da keine Bewegung hinein.« Therapeut: »Flügellahm, das ist ja ein tolles Wort!« Klient: »Es ist nicht so, dass ich das Gefühl habe, ich kriege die Flügel gar nicht hoch. Da ist schon ein Hoffnungsschimmer da, geprägt aus meiner Erfahrung mit mir selbst. Dass ich denke, da wird schon was kommen.« Die Frage des Therapeuten nach der Gefühlsqualität der Flügellahmheit beantwortet er so: »Ich glaube, ich habe eine Depression. Ich komme morgens kaum aus dem Bett, bin müde, lese lange Zeitung.«

Zuhören, hinhören, nachfragen

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Therapeut: »Was wäre das Gegenteil? Wenn Sie nicht flügellahm wären, dann sind Sie was?« Klient: »… dann bin ich gesund, vital. Dann kann ich die Flügel hängen lassen oder mich aufschwingen – ganz wie ich möchte!«

Im Weiteren ging es um den Transfer dieser Metapher in das konkrete Leben des Klienten und auch dabei um die Klärung des Kontexts: In welchen Situationen würde er die Flügel bewusst hängen lassen und in welchen sich aufschwingen? Klartext sagt, wie es ist. Die Metapher sagt: Es ist so, als ob. Das sind zwei unterschiedliche Sprachstile mit unterschiedlichen Wirkungen und Potenzialen. Beide Stile können sich gegenseitig befruchten. Kein Text kommt ohne Metaphern aus. Sie sind als Bedeutungsträger und Bedeutungsgeneratoren unverzichtbar. Meistens sind wir uns der Metaphern in unseren Sätzen nicht bewusst, etwa wenn wir hinsichtlich therapeutischer Prozesse von dabei »gegangenen Wegen« (Landmetapher), von »Wachstum« (biologische Metapher) oder mit Bezug auf einen Konflikt von dabei »eingesetzten Waffen« (Kriegsmetapher) sprechen. Eine wichtige Frage ist, ob man sich des »Als-ob-Charakters« einer Metapher bewusst ist (vgl. ausführlicher Lieb, 2020, S. 278 f.). Wenn nicht, geht die Aussage »Hier geht es zu wie im Zirkus« mit der Idee einher, man befinde sich tatsächlich in einem Zirkus. Ist man sich dessen bewusst, kann man entscheiden: Will man weiter im Raum der Metapher bleiben und diesen weiter ausmalen (Wer ist dann in der Familie der Zirkusdirektor und wer der Clown?) oder wechselt man gezielt von der Metaphorik auf das konkrete Leben (Wer muss in der Familie was tun, um den Zirkusflair zu erzeugen?). Die Kraft der Metapher liegt darin, dass sie in Bildern zentrale Zustände, Umstände und Erfahrungen zentriert. Die Metapher »Frau Müller kämpft für ihre Kinder wie eine Löwin« enthält komprimiert in einem einzigen Bild so viel, das darzustellen und zu vermitteln noch so viele Einzelsätze kaum schaffen würden. Man kann sich innerhalb des Spieles mit einer Metapher auch verlieren und damit den Bezug zum realen Leben. Dann wird eine in der Therapie metaphorisch entwickelte Lösung in Form des »Ausbruchs aus meinem Gefängnis« mit der Lösung damit angesprochener Probleme im realen Leben des Patienten verwechselt.

Eine junge, noch bei ihrer Familie lebende 24-jährige Klientin kommt nach erfolgreichem Abschluss ihres Abiturs vor wenigen Jahren und berichtet, sie fühle sich in ihrer Familie unwohl, lebe in den Tag hinein, komme sich nutzlos vor und sei weder mit sich noch der Welt im Reinen. Das sei früher einmal ganz anders gewesen. Zum Vergleich zwischen ihrem jetzigen und ihrem früheren Leben meint sie, sie oder etwas in ihr sei da wohl »aus etwas ausgestiegen«, und später, sie könne da etwas in sich

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

nicht mehr »einschalten«. Der Therapeut greift die der Technik entnommene Metapher des »Ein- und Ausschaltens« auf. Man bleibt zuerst eher im binnenmetaphorischen Raum: Wer kann einschalten, wer kann ausschalten? Was ist dann das jeweils Einund was das Ausgeschaltete? Der Transfer in das Leben erfolgte dann in Form einer Hausaufgabe: Die Klientin wurde gebeten, sich selbst einmal daraufhin zu beobachten, wann sie irgendetwas in ihrem konkreten alltäglichen Leben »einschaltet« oder »ausschaltet« (hier mit bewusster Subjektkonstituierung derzufolge die Patientin in dieser Formulierung selbst die Ein- und Ausschalterin ist. In der nächsten Stunde erzählt sie von einigen »Ausschaltbeispielen« (z. B. habe sie sich nicht dafür eingesetzt, dass ihr Geburtstag in der Familie angemessen gefeiert werde, und das ganz bewusst so entschieden). Wir arbeiten dann heraus, dass sie da nachträglich doch wieder etwas einschalten könne. Sie sorgte nach dieser Sitzung »im Einschaltmodus« dafür, dass das nachgefeiert wurde.

ÜBUNG

Thema: Binnenmetaphorische und Lebenstransferfragen stellen Beschreibung der Übungen: Die folgende Tabelle enthält in der linken Spalte drei Metaphern. Lassen Sie diese eine Zeit lang auf sich wirken. Dann tragen Sie in die rechte Spalte ein, welche Frage Sie jeweils stellen könnten, mit der Sie sich mit dem Klienten a) innerhalb des Metaphernraums bewegen und b) einen Transfer zum konkreten Leben herstellen. Metapher

Fragen

Beispiel: »Das ist jedes Mal das gleiche Theater!«

Binnenmetaphorische Frage: »Wie heißt das Theaterstück?«

Lebenstransferfrage: »Welche Rolle haben Sie in diesem Stück und was genau tun Sie dabei in Ihrem Leben?« »Irgendwie rudert jeder von uns in eine andere Richtung!«

Binnenmetaphorische Frage:

Lebenstransferfrage:

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Zuhören, hinhören, nachfragen

Metapher

Fragen

»Das predige ich nun schon seit Jahren!«

Binnenmetaphorische Frage:

Lebenstransferfrage:

»Ich fühle mich wie eine ausgetrocknete Pflanze.«

Binnenmetaphorische Frage:

Lebenstransferfrage:

Eine weitere praktische Übung dazu ist im Downloadbereich enthalten.

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Entdeckung des Metaphernreichtums in Ihrem Sprechen Anregung – Empfehlung: Wählen Sie sich ein Thema aus, das Ihnen am Herzen liegt und zu dem Sie realen oder imaginierten anderen etwas sagen oder mitteilen wollen. Dann stellen Sie sich diese anderen vor und reden spontan los. Nehmen Sie das drei Minuten lang auditiv auf, hören Sie sich das an und zählen, wie viele Metaphern Sie entdecken können. Suchen Sie sich zwei Metaphern aus und lassen Sie sich von diesen inspirieren. Da steckt noch einiges drin, was Sie dabei über sich erfahren können. Lassen Sie sich überraschen. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

1.2 Wie sicher im Land der Fragen navigieren? Das Fragenstellen war ausführlicher Teil der bisherigen Beispiele und Übungen. Hinhören und Gehörtes erfassen bedeutet immer auch, dazu Fragen zu stellen. Da Fragen zum Kernbereich therapeutisch-beraterischer und auch supervisorischer Tätigkeit gehören, werden im Folgenden noch einmal einige Sonderaspekte des Fragens behandelt.

Abbildung 11: Fragen

1.2.1  »Können Sie sich vorstellen?« – Wie klare Fragen formulieren? Video 9: UNKLARE IN KLARERE FRAGEN TRANSFORMIEREN

In einer Supervision berichtet der Therapeut davon, dass ein Klient seine therapeutischen Veränderungsimpulse zwar stets positiv aufnimmt, aber nichts davon umsetzt. Auf einem Video dazu ist zu sehen, dass der Therapeut seine Veränderungsideen stets mit folgender Sprachfigur präsentierte: »Können Sie sich vorstellen, einmal … zu tun?« Natürlich sagte der Klient ja, denn vorstellen konnte er sich die vom Therapeuten angesprochene Veränderung allemal. Der Therapeut wollte aber keine reine Vorstellung erzeugen, sondern eine Verhaltensänderung anregen. In der Supervision wurde geübt, wie er diese Intention direkter zum Ausdruck bringen und mit anderen Fragevarianten verbinden kann: »Ich habe einen Vorschlag für Sie – wollen Sie ihn hören?« Wenn die Antwort ja ist: »Mein Vorschlag ist, dass Sie einmal … (sehr konkrete Benennung des Verhaltens) tun. Was halten Sie davon? Möchten Sie das ausprobieren oder spricht etwas dagegen?«

Es ist Kennzeichen vieler Professionen, Fragen zu stellen: Detektive, Richter, Staatsanwälte, Ärzte und eben auch Psychotherapeuten, Berater und Supervisorinnen. Deshalb ist es oft eine überraschende Musterunterbrechung, wenn Klienten gefragt oder gebeten werden, einmal Fragen an ihre Therapeutinnen oder Berater zu richten. Fragen konstituieren eine Beziehung und stellen automatisch bestimmte Asymmetrien zwischen Fragenden und Befragten her. Wer fragt, gibt in der Regel das Thema vor. Umgekehrt weiß der Befragte offenbar etwas, das der Fragende noch nicht weiß. Fragen können in Inhalt und Adressierung eher vage bleiben (»Wie geht es Ihnen?«) oder den befragten Gegenstand konkretisieren (»Was denken Sie über das, was da eben gesagt wurde?«). Nach einer gestellten Frage lässt sich die Form der Anschlusskommunikation beobachten: Inwiefern wird die Frage beantwortet? Wird eine Gegenfrage gestellt? Wird ganz anders darauf reagiert? Fragen können den Zugang zum anderen öffnen oder verschließen. Es gibt Fragen, zu deren Beantwortung der Befragte etwas ganz Neues kreieren muss, weil er so noch nie darüber

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Wie sicher im Land der Fragen navigieren?

nachgedacht hat. Dann »holen« sich Fragen nicht nur »Antworten ab«, sondern regen selbst zu Veränderungen an. Alle Therapieschulen haben ihre spezifischen Varianten des Fragens. Es lässt sich auch beobachten oder erfragen, ob oder wie betreute Klientensysteme (z. B. eine Familie) sich gegenseitig Fragen hinsichtlich wichtiger Themenbereiche stellen, oder man kann initiieren, dass Fragen gestellt werden. Die »Kunst des Fragestellens« gehört zu den Kernkompetenzen von Therapeutinnen, Beratern und Supervisoren. Zu den Merkmalen einer guten Frage aus Sicht von Klartext gehört, dass klar ist, wem sie gestellt wird, was der Fragende konkret wissen will und die Frage nicht als rein »rhetorische« eigentlich eine Meinung zum Ausdruck bringt (»Ist das denn mit unseren Leitlinien zu vereinen?«). Man kann zwischen »steuernden« bzw. »sokratischen« und »offenen« Fragen unterscheiden. Erstere wollen den Befragten zu etwas Bestimmtem hinführen (»Wobei hilft es Ihnen, wenn Sie so kritisch über sich denken?«, mit dem Ziel, dass jemand freundlicher zu sich selbst wird). Das Merkmal von Zweiterem ist, dass man die Antwort nicht kennt und mit der Frage auch keine spezielle ansteuert.

»Ist euch eigentlich klar?« Ein in einem Verein lange tätiges Vorstandsmitglied gibt diesen Job auf, nachdem es zu nicht mehr überwindbaren Differenzen zwischen ihm und dem neuen ersten Vorsitzenden gekommen ist. Das ist eine markante Veränderung, die alle spüren. In der supervisorischen Betreuung des Vorstands in dieser Vereinsphase fragt der Supervisor, ob es zu dieser Konstellation Fragen untereinander gibt. Eine Frau meldet sich und fragt in die Runde: »Ist euch eigentlich klar, was das für uns alle bedeutet?« Nach Klärung, was genau sie mit dieser Frage wissen will, veränderte sie diese: »Ich finde, jeder von uns muss jetzt neue Aufgaben übernehmen. Ich will von jedem von euch wissen: ›Bist du dazu bereit?‹«

ÜBUNG

Thema: Vage Fragen in klare Fragen transformieren Beschreibung der Übung: Im Folgenden werden in der linken Spalte allgemein gehaltene Fragen formuliert. Formulieren Sie daraus eine konkretere und somit auch verbindlicher zu beantwortende Frage an den damit Angesprochenen – als wären Sie selbst der Fragende: Allgemeine Frage

Transformation in eine verbindlichere und konkreter zu beantwortende Frage

Beispiel: Der neue Leiter eines Teams weiß, dass das Team ihm gegenüber noch skeptisch ist. Er fragt: »Wie ist die Situation jetzt für Sie?«

»Was brauchen Sie von mir, um mir als neuem Leiter eine Chance zu geben?«

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Allgemeine Frage

Transformation in eine verbindlichere und konkreter zu beantwortende Frage

Ein Mitarbeiter an die neue Leitung: »Haben Sie ein ›Leitungskonzept‹?«

Frage an den Partner in der Vermutung, dem gehe es gerade nicht so gut: »Ist was mit dir?«

Lehrer an seine sich ihm verweigernde Klasse: »Was ist hier eigentlich los?«

Ein Kollege zum Kollegen angesichts eines schwelenden Konfliktes: »Können wir miteinander reden?«



SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Anregung – Empfehlung: Denken Sie an eine Ihnen wichtige Person (privat oder beruflich). Finden Sie ein Thema, das Sie emotional mit dieser verbindet und worüber Sie mit ihr noch nicht oder nicht viel gesprochen haben. Ȥ Finden Sie zu diesem Thema eine Frage an diese Person, deren Antwort Sie wirklich interessiert. Ȥ Finden Sie eine Frage, von der Sie sich wünschen, dass diese Person sie an Sie richtet. Ȥ Entscheiden Sie, ob Sie Ihre Frage stellen oder die erwünschte Frage »bestellen«.

Wie sicher im Land der Fragen navigieren?

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Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

1.2.2 »Glaubst du, ich mag das?« – Wann und wie Fragen in Aussagen und Aussagen in Fragen transformieren? Video 10: TRANSFORMATION VON AUSSAGEN IN FRAGEN – Aussage trifft Aussage – Von Aussagen zu Fragen Video 11: TRANSFORMATION VON FRAGEN IN AUSSAGEN – »Können Sie sich vorstellen?« – »Ich schlage vor.«

Fallbeispiel aus einer Supervision: In der Teamsupervision einer psychotherapeutischen Klinik sind mehrere Berufsgruppen anwesend. Es geht darum, welche Probleme die einzelnen Berufsgruppen zurzeit in der Klinik haben. Jede berichtet, wie schwer sie es gerade hat. Das aber hat keine produktive Wirkung, viele Beiträge schließen an die vorherigen mit einem »Ja, aber …« an. Im Raum stehen nun viele Klagen – was aber nicht konstruktiv wirkt. In dieser Situation half der von der Supervisorin ein­geleitete Weg des Wechselns vom Sagen zum Fragen: Die Berufsgruppen sollten sich einander gegenüber setzen und dann von Aussagen auf Fragen umschalten: »Welche konkrete Frage haben wir grundsätzlich oder hinsichtlich der aktuellen Belastungssituation an euch?« Bei den Antworten auf gestellte Fragen achtete die Supervisorin darauf, dass die Befragten diese auch beantworteten und nicht in allgemeine Erläuterungen, Beschwichtigungen oder Rechtfertigungen übergingen. Die Teilnehmenden an dieser Supervision fanden das am Ende klärend und die Berufsgruppen- Abbildung 12: Transformation von Frakooperationen stärkend. gen in Aussagen und Aussagen in Fragen

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Fragen und Aussagen unterscheiden sich nicht nur grammatikalisch, sondern auch in der Art der damit einhergehenden gegenseitigen Beziehungsdefinition. In einer Aussage macht man sich gegenüber anderen zum Auskunft-Gebenden, in einer Frage zu einem eine Information-Erbetenden. Nahezu jede Frage kann auch in eine Aussage bzw. fast jede Aussage in eine Frage konvertiert werden. In festgefahrenen Beziehungsmustern gibt es meistens sich wiederholende charakteristische Frage-Aussage-Abfolgen. Bei eskalierendem Streit werden in der Regel von beiden Seiten Aussagen formuliert bzw. Fragen, die eigentlich Aussagen sind (»Warum hörst du nie richtig zu?«). Ein Diskurs kann lähmend und ineffektiv sein, weil nur Fragen gestellt und aufgeworfen, aber keine Aussagen gemacht und damit Positionierungen bezogen werden. Insofern Therapeuten, Beraterinnen und Supervisoren die Gesprächsführung haben, können sie solche Muster bei anderen (z. B. Gruppen, Paaren, Familien, Teams) oder bei sich selbst beobachten und gegebenenfalls modifizieren. Man kann Fragende zu Aussagenden und Aussagende zu Fragenden machen. Das kann Klima und Resultat von Gesprächen verändern oder ein Gespräch besser »auf den Punkt bringen«. Wenn z. B. Kollege A wiederholt auf Fehler und Versäumnisse von B hinweist (Aussageebene) und dieser sich dazu immer wieder erklärt (Aussageebene), dann hat das Umschalten von B auf folgende Frage an A Veränderungspotenzial: »Zweifeln Sie an meiner fachlichen Kompetenz?«

Energetisierung durch Fragen: In manchen Fallsupervisionen machen Supervisanden ausführliche Aussagen über ihre Klienten. Supervisoren hören dann lange zu oder machen ihrerseits Aussagen über den Fall. So hat man nach längerer Zeit viele Aussagen über Klienten im Raum. Das kann hilfreich, manchmal aber auch komplexitätsüberfrachtet lähmend sein. Wenn dann Supervisoren – etwa mit Blick auf eine supervisorische Auftragsklärung – die Frage stellen, welche Frage der Supervisand an den Supervisor hat (»Frage sucht Frage«), kann das zentrieren, energetisieren und sicherstellen, dass diese Supervision etwas hervorbringt, das für den Supervisanden relevant und umsetzbar ist. Sagen – Fragen – Rollenwechsel: In der Regel sind Therapeutinnen und Berater die Fragenden und Klienten die Befragten. Man kann das aber auch gezielt verändern, wie das folgende Beispiel demonstriert: In einer Therapiestunde beklagt sich der Klient über einen Bekannten. Die Therapeutin stellt dazu etliche Fragen. Dann macht sie eine provokante Aussage über den Umgang des Patienten mit einem ihm damit unterstellten Kränkungserleben. Danach ändert sich das Gesprächsklima und der Klient kommt aus Sicht der Therapeutin in einen sich rechtfertigenden Duktus. Nun stehen sich Aussagen und Aussagen gegenüber. Die Therapeutin entscheidet sich, das zu ändern, und sagt: »Ich habe Sie zu diesem Thema nun viel gefragt und auch einiges gesagt. Haben Sie dazu oder auch ganz allgemein nun eine Frage an mich?« Der Klient, zunächst überrascht über diese strukturelle Veränderung der Gesprächsführung und länger nachdenkend:

Wie sicher im Land der Fragen navigieren?

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»Ja, ich sehe, da läuft etwas nicht gut. Wie Sie sagten, ist diese Kränkung und Enttäuschung bei mir kein Einzelfall – was mache ich denn jetzt damit? Wie kann ich damit umgehen?« Mit dieser Fragestellung übernimmt der Klient die Führung darüber, wie es nun für ihn gut weitergehen kann. Aussage statt Frage: Herr Zeuner ist wütend auf seinen Nachbarn, der ihn im Rahmen eines eskalierenden Streites über die Nutzung von Parkplätzen beleidigt habe. Er hat vor, mit diesem noch mal zu sprechen, befürchtet aber, aus einem solchen Gespräch als »Verlierer« herauszugehen. In der Therapie versuchen wir zu zentrieren, was genau er ihm sagen möchte. Er formuliert das zunächst so: »Warum hast du mich derart grenzüberschreitend beschimpft und beleidigt?« Er will also eine Frage stellen, die im Kern eine Aussage über den Nachbarn enthält. Das erkennend formuliert der Klient das dann so um: »Ich erwarte von dir eine Entschuldigung für dein Verhalten mir gegenüber!« Damit wirkt der Klient klar und aufrecht. Mit dieser Formulierung hat er keine Angst, aus dem Gespräch als Verlierer herauszugehen. Er möchte es noch ein paar Mal vor dem Spiegel üben, bevor er es in die Tat umsetzt.

ÜBUNG

Thema: Transformation von Fragen in Aussagen und Aussagen in Fragen Beschreibung der Übungen: Machen Sie aus folgenden Fragen jeweils eine Aussage in der Annahme, dass diese in der Frage implizit enthalten ist: Frage »Können Sie sich vorstellen, das Ihrem Kollegen einmal direkt zu sagen?«

»Warum gibst du nicht zu, dass du Angst hast?«

Darin potenziell enthaltene Aussage

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Machen Sie aus folgenden Aussagen jeweils eine Frage in der Annahme, dass diese entweder in der Aussage implizit enthalten oder in eine solche transformierbar ist: Aussage

Darin potenziell enthaltene Frage

»Wir wissen doch alle, dass er das nicht so meint!«

»Mit der Zusammenarbeit zwischen uns beiden steht es ja nicht gerade zum Besten.«



SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Transformation von Fragen in Aussagen und Aussagen in Fragen Anregung – Empfehlung: 1. Beobachten Sie einmal in einigen Gesprächen, wann Sie Fragen an andere formulieren, und fragen Sie sich: Inwiefern war das wirklich eine Frage und inwiefern wollten Sie mit der Frage eigentlich eine Aussage machen? Beispiel: Die Frage »Sollen wir das wirklich noch einmal besprechen?« könnte ja die Aussage enthalten: »Ich finde, das haben wir nun oft genug besprochen. Ich möchte damit nicht noch einmal beginnen!« 2. Beobachten Sie einmal in einigen Gesprächen, wann Sie einer anderen Person etwas erläutern, das Sie eigentlich schon oft gesagt haben. Überlegen Sie dann, welche Frage Sie statt erneuter Aussage an diese Person zu diesem Thema richten könnten. Stellen Sie diese und beobachten Sie, welchen Unterschied das für Sie, die andere Person und den Gesprächsverlauf macht.

Wie sicher im Land der Fragen navigieren?

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Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

1.2.3 Anschlusskommunikation: Ist eine Antwort eine Antwort? – Was tun, wenn dem (scheinbar) nicht so ist? Klient zum Therapeuten: »Ist es richtig, dass Therapeuten Fragen von Klienten immer mit Gegenfragen beantworten?« Therapeut: »Warum sollten Therapeuten nicht auf Fragen ihrer Klienten mit Fragen antworten?« Tochter an den Vater im Rahmen einer Familientherapie: »Bist du zufrieden mit meinem beruflichen Lebensweg?« Vater: »Mir ist wichtig, dass du zufrieden bist!« A zu B: »Liebst du mich?« B zu A: »Was verstehst du unter Liebe?«

Hier geht es nicht um den Gehalt einzelner Aussagen oder Fragen, sondern um Anschlusskommunikation: Wie schließt der jeweils nächste Sprechakt an den vorherigen an? Ein Spezialfall ist, wie auf eine Frage reagiert und ob die Frage auf der Inhaltsebene beantwortet wird. Diese Art der Fragestellung suggeriert eine Bewertung, derer man sich bewusst sein sollte: Fragen inhaltlich zu beantworten, erscheint dann besser, als nicht oder nur indirekt zu antworten. Man muss eine solche Wertung aber nicht a priori vornehmen. Man kann jede Art von Reaktion auf eine Frage als die im jeweiligen Kontext passende ansehen und würdigen. So gesehen gibt es keine »Nichtantwort«. Wir wählen hier den Weg des Sowohl-als-auch: Einerseits ist es nützlich, mit Blick auf Klartextregeln zu prüfen, ob eine Antwort inhaltlich eine Antwort ist und, wenn nicht, diese Einschätzung zur weiteren therapeutisch-supervisorischen Arbeit zu nutzen. Wenn sich diese Anwendung der Klartextlogik nicht als nützlich erweist, kann man bewusst Abstand davon nehmen, um davon abweichende Formen der Anschlusskommunikation in ihrer Eigenlogik zu verstehen und zu würdigen. Zum Nichthören oder Nichtbeantworten von Fragen kommt es oft, wenn zu einem problembeladenen Thema eine für die Befragten bis dato ungewöhn­ liche bis tabuisierte Frage gestellt wird. Sie wird dann oft überhört und insofern nicht beantwortet. Als Faustregel kann in dem Fall gelten: Man kann Klienten

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

bzw. sich in anderen Kontexten gegenseitig respektvoll mitteilen, dass das, was dazu gegebenenfalls gesagt wurde, fraglos wichtig ist, allerdings noch keine Antwort auf die gestellte Frage. Dann kann man sie wiederholen. Das ist für Klienten oft hilfreich, wenn sie mit den dann erst generierten Antworten auf gegebenenfalls überhörte Fragen etwas für sich Neues kreieren. Wenn eine Frage dreimal gestellt und nicht beantwortet wird, ist es ratsam, diese nicht noch einmal zu formulieren – dann passt sie nicht oder ist in der jeweiligen Phase nicht ankoppelungs­fähig.

Im Folgenden einige Beispielantworten auf Fragen, die auf der Inhaltsebene eigentlich keine sind: Frage

Antwort, die inhaltlich keine ist

»Ärgern Sie sich über diesen Kollegen?«

»Der Kollege war schon immer schwierig.«

»Haben Sie zu diesem Thema eine Frage an mich?«

»Ich komme bei diesem Problem einfach nicht weiter.«

»Wie finden Sie sich selbst als ängstliche Person?«

»Diese Ängste versauen mein ganzes Leben!«

A zu B: »Liebst du mich?«

B zu A: »Ich finde, du bist ein toller Mensch!«

Wenn die Nichtantwort aus einer Sicht eine kommunikative Verbundenheit aus anderer Sicht ist: In den vorgestellten Beispielen wurden etliche Antworten inhaltlich als Nichtantworten interpretiert. Die Bewertung, dass eine Antwort inhaltlich keine sei, ist stets die eines Beobachters und bringt dessen Kriterien dafür zum Ausdruck, z. B. bestimmte Klartextkriterien. Es steht jedem frei, das jeweils ganz anders zu interpretieren. Das folgende Beispiel macht deutlich, dass das, was im Sinne der Klartextperformanzregeln zunächst als »Nichtantwort« erscheint aus einer Meta-Klartext-Klarheit-Perspektive als angemessene Reaktion in einem vertrauten Sprachspiel verstanden werden und dann entsprechend damit umgegangen werden kann: Herr und Frau Meininger sind seit sieben Jahren verheiratet und haben zwei kleine Kinder. Sie ist Hausfrau, er Manager in einem Chemiekonzern. Beide betonen, sie würden sehr unter dem jeweils anderen leiden, und führen das jeweils näher aus. In einem der Gespräche äußert Herr Meininger, er wolle die Beziehung nicht fortsetzen und habe sich zur Trennung entschlossen – auch wenn er dieses Vorhaben im Moment aus finanziellen und einigen anderen Gründen nicht umsetzen könne. Er sagt das dabei den Therapeuten anblickend. Dieser wendet sich daraufhin an die Ehefrau mit der Frage: »Ist das, was Ihr Mann eben zu mir gesagt hat, für Sie bekannt oder neu?«

Wie sicher im Land der Fragen navigieren?

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Sie antwortet: »Ich lese ein Buch nicht unbedingt von vorn nach hinten. Manchmal sehe ich die letzte Seite an, bevor ich das Buch lese.« Sie erklärt dann, dass die zuletzt von ihrem Mann vorgetragenen Vorwürfe für sie so nicht haltbar seien. Therapeut zur Frau: »Und wie geht es Ihnen mit der Aussage, er habe sich entschieden, sich zu trennen? Was bedeutet das jetzt für Sie?« Frau Meininger: »Er hat mir vor einigen Tagen gesagt, er habe keine Erwartungen mehr an mich …« Im weiteren Gespräch wird deutlich, dass die Aussage des Mannes Frau Meininger getroffen hat. Der Therapeut stellt etliche Fragen an Herrn Meininger, was seine Aussage für diesen selbst bedeute und was er nun konkreter vorhabe. Alle derartigen Klartextversuche bleiben aus Sicht des Therapeuten in dieser Sitzung wie in anderen inhaltlich von beiden unbeantwortet. Er hört sich später die vom Paar erlaubte Aufzeichnung dieses Gespräches an und erkennt nun ein Muster: Fragen des Therapeuten werden von beiden nicht im Sinne der Klartextnormen beantwortet. Aus dieser Sicht handelt es sich um »Nichtantworten«. Ein ähnliches Muster lässt sich auch innerhalb des Paares beobachten: Keiner geht auf die Aussagen des anderen inhaltlich konkreter ein – weder auf direkt oder indirekt aufgeworfene Fragen noch auf Bitten oder Aussagen. Dem Therapeuten wird deutlich, dass er sich angesichts dessen zum Vertreter der Klartextnorm gemacht hat, wonach Fragen inhaltlich aufgegriffen und beantwortet werden sollten bzw. in der Anschlusskommunikation jeweils Bezug genommen werden sollte auf das zuvor Gesagte. Das Ehepaar Meininger spielt offenbar ein ihm vertrautes anderes Sprachspiel, zu dem es gehört, in der Anschlusskommunikation nicht direkt auf das zuvor Gesagte einzugehen, sondern daraufhin andere als wichtig erachtete Aspekte anzusprechen. Da beide diese Art der Konversation schon länger miteinander führen und diese offensichtlich fortführen, kann man davon ausgehen, dass sie damit in ihrer realen Sprachperformanz kommunikativ doch miteinander verbunden sind und bleiben – sie führen das ja trotz therapeutischer Veränderungsversuche beide fort. Man muss diese Kommunikation dann unbenommen der Nützlichkeit dessen in anderen Fällen nicht an von außen herangetragenen Klartextnormen mit den Kriterien einer bestimmten Art inhaltlicher Verständigung messen oder gar zu verändern suchen. Stattdessen kann diese Art der Anschlusskommunikation explizit gewürdigt werden. Der Therapeut teilt dem Paar mit, dass und wie er sich aus seiner Sicht ihnen gegenüber zu einer Art »Klartextmissionar« gemacht habe und er nun den Stil des Paares als deren Art von kommunikativer Verbundenheit würdigen könne. Der Ehemann entschied sich schließlich – bei expliziter Anerkennung der Nützlichkeit der bis dato geführten Gespräche – die Paarsitzungen vorerst auszusetzen. Die Ehefrau führte die Therapie als Einzeltherapie fort. Auch in dieser ging der Therapeut vom nachfragend-klärenden zum zuhörenden und gelegentlich kommentierenden Stil über. Frau Meininger konnte diese Gespräche mehr und mehr zur Reflexion ihres eigenen Erlebens und Denkens in der Partnerschaft und in anderen Lebensbereichen nutzen.

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Deine Antwort macht mich frei: Die nachfolgende Sequenz ist vom Autor frei erfunden, könnte sich aber genauso in einer familientherapeutischen Sitzung abspielen. Es greift noch einmal das bereits zitierte Beispiel einer Tochter-Vater-Kommunikation auf, in der die Tochter vom Vater wissen will, ob er mit ihrem beruflichen Lebensweg zufrieden sei. Als Antwort erfuhr sie »nur«, dass diesem ihre eigene Zufriedenheit wichtig sei. Das wusste sie aber schon und das war nicht ihre Frage. Der Therapeut kann die Botschaft des Vaters an die Tochter als Fürsorgebotschaft positiv werten und dann der Tochter helfen, ihre Frage nochmal zu präzisieren: »Vater, du bist für mich eine wichtige Person, weshalb deine Bewertung meines beruflichen Weges für mich große Bedeutung hat. Deshalb bitte ich dich, mir diese Frage zu beantworten: Bist du mit meinem beruflichen Lebensweg zufrieden?« Der Vater dürfte das nun besser verstehen und könnte die Frage beantworten. An dieser Stelle sei eine positive Antwort entworfen: »Ja, das bin ich. Ich erzähle anderen oft voller Stolz von dir und deinem beruflichen Weg!« Anzunehmen wäre hier ein Moment inniger Verbindung zwischen beiden. Die ehrliche Antwort könnte aber auch anders lauten, weshalb offene Klartextfragen immer auch das Risiko ehrlicher Antworten bergen.

ÜBUNG

Thema: Einschätzung – Ist eine Antwort eine Antwort? Beschreibung der Übung: Nachfolgend werden drei Fragen formuliert mit drei Antworten darauf. Schätzen Sie ein, ob oder in welchem Ausmaß die Frage inhaltlich beantwortet wird. Wenn nicht oder noch nicht ganz, überlegen Sie, wie Sie einerseits Ihren Respekt für Stil und Gehalt der gegebenen Antwort zum Ausdruck bringen und andererseits darauf hinweisen können, dass oder inwiefern die Frage noch nicht ganz beantwortet ist – um dann eventuell die Frage zu wiederholen. Fragen an eine Frau, die in einer Trennungssituation darunter leidet, dass ihre beim Vater lebende 18-jährige Tochter keinen Kontakt zu ihr will:

Von ihr gegebene Antwort:

»Vermissen Sie Ihre Tochter?«

»Ich glaube, ihr Vater will nicht, dass sie Kontakt zu mir hat!«

»Ist es das erste Mal, dass ein Mensch zu Ihnen den Kontakt verweigert?«

»Nein, das ist wie mit meiner Mutter – auch von ihr bekam ich keine Resonanz auf meine Fragen und Anliegen!«

»Was bedeutet es für Sie, wenn die Tochter den Kontakt zu Ihnen abwehrt?«

»Na ja, vielleicht sind ihr andere Dinge wichtiger als ich!«

Der Blick auf den Sprecher und das Sagen



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SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Beobachtungen – Wie werden meine Fragen beantwortet? Anregung – Empfehlung: Beobachten Sie in einem oder zwei Gesprächen in Therapie, Beratung bzw. Supervision und/oder in privaten Gesprächen einmal: 1. Wann wird eine Frage von Ihnen nicht oder nur teilweise beantwortet? 2. Wie reagieren Sie dann oder üblicherweise darauf? Wenn die in diesem Kapitel vorgestellten Ideen zu diesem Thema für Sie etwas Neues beinhalten: Was davon könnten Sie einmal ausprobieren? Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

1.3  Der Blick auf den Sprecher und das Sagen In den Kapiteln 1.1 und 1.2 haben wir Sprache und Sprechen aus der Perspektive des Zuhörens, Nachfragens und des Fragenstellens allgemein betrachtet und dabei dafür geeignete Klartextregeln angewendet. In diesem Kapitel versetzen wir uns nun in die Rolle des Sprechers, der etwas sagen will. Auch hier orientieren wir uns wieder an Klartextregeln. Dabei wird uns erneut Abbildung 13: Sprechen besonders die in Teil I vorgestellte Perspektive auf die »Sprache als eigenes System« nutzen, da sie nützliche Regeln für das Reden in Therapie, Beratung und Supervision bereitstellt. »Wohlgeformte Sätze« enthalten demnach hinreichend klar markiert Subjekt, Prädikat und Objekt. Der Satz »Ich denke gerade über Sie …« ist in diesem Sinne subjektbezogen wohlgeformter als »Man könnte über Sie denken …«. Der Satz »Mich beeindruckt Ihre Fürsorge, die Sie Ihrem Sohn gegenüber zeigen!« ist objektbezogen konkreter und vollständiger als »Ich finde, Sie sind ein guter Vater!«. Das Prädikat (Verb) ist in dem Satz »Was denken Sie über Ihren Partner, wenn er so mit Ihnen spricht?« konkreter als »Wie ist das jetzt für Sie?«.

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Zunächst geht es um einen in Therapie und Beratung zentralen Aspekt des Mitteilens. Wie klar und offen können Therapeuten und Berater ihren Klienten sagen, von welcher Hypothese über sie sie sich gerade leiten lassen, um dann einen Dialog darüber für die weitere Therapie und Beratung konstruktiv zu nutzen. Anschließend werden Sprechübungen zu einzelnen relevanten »Sprachbereichen« angeboten, zur Reduktion sogenannter getilgter Informationen, zur klaren Adressierung von Sätzen an jene, die gemeint sind, zu verbalen und nonverbalen Selbstkommentierungen und schließlich zum Umgang mit Ironie, Schweigen und Metaphern. Zwei Themen zur Sprecherrolle werden im Downloadbereich behandelt: (1) Wie man jemandem helfen kann, innerlich Erlebtes, für das es keine passenden Worte oder Sätze gibt, besser zu erfassen und dann sprachlich auszudrücken (siehe »Sprachliche Geburtshilfe: Wie Schwersagbares in Sprache bringen?«) und (2) Mit welchen Interventionen und Übungen man anderen helfen kann, Sätze klarer und damit wirksamer zu formulieren und auszusprechen (siehe: »›Sagen Sie es doch mal so‹: Beobachtete Sprachspiele anderer verändern«). 1.3.1  Hypothesentransparenz: Wie Klienten Hypothesen konstruktiv mitteilen? Video 12: HYPOTHESENTRANSPARENZ 1 – Funktionale Hypothese: Die Depression hilft einem Paar, mit einem Konflikt umzugehen Video 13: HYPOTHESENTRANSPARENZ 2 – »Sich in Ihren Konfliktpartner einzufühlen, wäre für Sie ein Nachgeben und eine potenzielle Niederlage«

Die 19-Jährige sich in Ausbildung zur Friseurin befindende Michaela hat gerade ein belastendes Leben. Ihre Eltern sind schon lange getrennt; sie lebte nach Auszug des Vaters bei der Mutter im alten Familienhaus, die nun eine neue Beziehung einging. Das Haus soll nun verkauft werden – sie muss aus diesem ausziehen und weiß nicht recht wohin. Sie ist in dieser Zeit sehr sensibel und manchmal aggressiv. Ihr Freund droht, sie deshalb zu verlassen. Sie berichtet von alledem mit viel Schmerz, Weinen und heftigem Klagen und Anklagen. Einer der Hauptangeklagten ist sie selbst: Sie wisse, dass sie vielen Verpflichtungen nicht nachkäme, Versprechungen nicht einhalte und immer wieder vergesse, was zu tun sie versprochen habe. Die validierend-emphatische Anteilnahme des Therapeuten tut ihr gut, führt aber zu keiner Lösung und stattdessen immer wieder zu ihrer Frage: »Wie kann ich mit einer solchen Lebenslage gut umgehen?« Jeder Versuch, darauf eine Antwort zu finden, endet in einer Klage, dass ihr das nicht möglich sei, was sie wiederum als Beleg ihrer Unfähigkeiten sehe. Der Therapeut merkt nach einigen Sitzungen, dass sie sich trotz aller Empathie im Kreis drehen, und bildet dazu eine Hypothese: dass es für sie angesichts einer so hochbelastenden Situation, die andere verursacht und ihr zugemutet haben, eine Art Verrat an sich

Der Blick auf den Sprecher und das Sagen

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selbst oder ein Freispruch an die Problemverursacher wäre, wenn sie sich konstruktiv an die Bewältigung dieser Lebenssituation machte – vor allem dann, wenn das mit einer Entlastung anderer verbunden wäre. Er entscheidet sich für eine »Hypothesentransparenz«, fragt die Klientin, ob sie seine Ideen über sie hören wolle (was sie sofort bejaht) und teilt sie ihr dann zentriert als Mutmaßung mit: »Vielleicht ist Ihr Vergessen und Ihr Nichteinhalten von Zusagen auch Ausdruck eines Protestes und damit von etwas, das Ihnen wichtig und heilig ist und das Sie verraten würden, wenn Sie z. B. Versprechungen einhielten und so anderen das Leben leichter machen würden.« Auf die Frage, ob sie diesen Gedanken inhaltlich nachvollziehen könne, bejaht sie das, und auf die Frage, ob da vielleicht was dran sei, meint sie: »Ich finde diese Idee gar nicht so abwegig. Ja, da ist was dran!«

Therapeutinnen und Berater bilden permanent Hypothesen über ihre Klienten, die ihr weiteres Tun und Sagen bewusst oder unbewusst prägen. Klienten wissen das, erahnen die Hypothesen bisweilen und positionieren sich dann dazu. Wenn diese für die Klienten ankoppelungsfähig sind, ist das kein Problem. Wenn nicht und wenn diese eher indirekt vermittelt oder nur erahnt werden, kann das dazu führen, dass sich Patienten indirekt dagegen positionieren, woraus sich ein mühseliges dialogisches Hin und Her ergeben kann. Das lässt sich verhindern oder beenden, wenn man den Weg der Hypothesentransparenz als eine spezifische Art von sprechendem Klartext wählt. Wichtige Bestandteile einer konstruktiven Hypothesentransparenz sind: Ȥ Einholung der Zustimmung, dass eine Hypothese mitgeteilt wird, Ȥ sprachliche Klarheit und Kürze in der Hypothesenpräsentation – rein verbal oder auch mit Bildern oder kleinen »Aufstellungen«, Ȥ Widerspruchsermöglichung für Klienten, wenn die Hypothese für sie nicht passt. Dieses Vorgehen hat therapeutische Potenz. Es kann aber nicht bei jedem Klienten(system) angewandt werden. Es ist indiziert, wenn Transparenz die Kooperation fördert, und kontraindiziert, wenn die Beziehung dadurch nachhaltig schwierig wird, die Hypothese pathologisierende oder die Klientin entwertende Aspekte enthält, oder wenn ein Klient – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage ist, mit dem Therapeuten eine solche Metaperspektive auf sich selbst einzunehmen und konstruktiv zu nutzen.

Hypothesentransparenz zu einer partnerschaftlichen Beziehungsfalle: Herr Grohl, dem wir bereits begegnet sind, leidet an der Beziehung zu seiner Frau, weil sie bei seinem geliebten Hobby des »Naturjoggens« nie mitmache. Er versuche immer wieder, es ihr »schmackhaft« zu machen, wolle aber, dass sie sich ihm freiwillig und von sich aus anschließt. Therapeut: »Ich habe eine Idee, wie Sie dabei die Beziehung zu Ihrer Frau gestalten und in eine Falle geraten.« Der Klient will diese hören.

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Therapeut: »Positiv beschrieben, achten Sie beide sehr aufeinander, weil keiner vom anderen etwas erwartet, was dieser nicht auch von sich aus will.« Der Klient äußert verbal und nonverbal Zustimmung. Therapeut: »Ich vermute, dass Sie eine große Sehnsucht danach haben, dass der Mensch, der Ihnen wichtig ist, sich Ihnen von sich aus und gern zuwendet.« Klient stimmt zu. Therapeut: »Nun zur Falle: Sie belasten Ihre Frau mit einem Wunsch oder einer Erwartung, die sie nicht einlösen kann. Sie kann nicht Ihnen zuliebe gern naturjoggen, wenn das nun mal nicht ihr Ding ist.« Klient: »Ja, das ist paradox.« Der Therapeut ergänzt das mit der Idee, dass Herr Grohl auch mit sich selbst in der Falle säße, weil er etwas für ihn Gutes, wenn es »nur« ihm zuliebe gemacht wird, so von seiner Frau nicht annehmen könne. Diese Hypothese beinhaltete für den Klienten eine neue Sicht auf sich selbst und seine Partnerschaft, die er gut annehmen konnte. Damit ließ sich dann konstruktiv weiterarbeiten.

ÜBUNG

Thema: Hypothesentransparenz als Intervention Beschreibung der Übung: Beantworten Sie vor oder nach einer Therapie bzw. Beratung einmal folgende Frage: Habe ich eine gegebenenfalls freche, »gegen den Strich bürstende«, ungewöhnliche oder konfliktträchtige Hypothese über den Klienten oder das Klientensystem aufgestellt? Formulieren Sie diese dann in wenigen zentrierten Sätzen, die auch so ausgesprochen werden könnten. Klären Sie, ob Sie das folgende Vorgehen beim betroffenen Klienten(system) für sinnvoll und möglich halten: Sie könnten Ihre Hypothese in geeigneter Form transparent vorbringen unter Beachtung der genannten drei Schritte (Einholung der Zustimmung, sprachliche Klarheit und Kürze, Widerspruchsermöglichung für Klienten). Evaluieren Sie das dann gegebenenfalls: Was hat es Ihnen, was dem Klienten und was der weiteren Kooperation gebracht? Welche Lehre ziehen Sie daraus für Ihre weitere Arbeit?

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Hypothesentransparenz als Eigensupervision Anregung – Empfehlung: Beobachten Sie (1), ob oder wann Sie in Ihren therapeutischen, beraterischen oder supervisorischen Gesprächen das Gefühl bekommen, etwas von Ihnen Vermitteltes kommt bei Ihrem Gegenüber nicht gut an. Prüfen Sie (2), ob dem, was Sie mitteilen oder vermitteln wollen, eine bestimmte Hypothese oder ein bestimmtes Bild über Ihr Gegenüber zugrunde liegt. (3) Wenn Sie diesbezüglich fündig sind, formulieren Sie Ihre Hypothese einmal in einigen wenigen zentralen Sätzen, die Sie so auch zum Ausdruck bringen könnten. (4) Beantworten Sie die Frage, wie Ihr Gegenüber Ihre

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Sicht wohl finden dürfte: neutral, positiv oder negativ? (5) Beobachten Sie nun, ob oder wie sich nach Schritt 1 bis 4 Ihre innere Beziehung zu Ihrem Gegenüber verändert, unabhängig davon, ob Sie das wirklich so mitteilen werden oder nicht. (6) Entscheiden Sie, ob Sie eine offene Hypothesentransparenz in diesem Fall für sinnvoll und nützlich halten. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

1.3.2 Sprachübungen: Subjekt, Prädikat, Objekt, Tilgung, Adressierung, Selbstkommentierung, Ironie, Schweigen, Metaphern – aus vagen Sätzen Klartext machen

Dieser Abschnitt besteht aus Sprachübungen zu den in der Überschrift genannten Themenbereichen. Bei den einzelnen Übungen kommt es nicht darauf an, ob die dabei entwickelten Formulierungen im Einzelfall für die jeweils geschilderte Situation oder Person auch passen und zur Klarheit und Problemlösung beitragen würden. Es werden reale Situationen aus der Praxis des Autors oder von ihm erfundene Situationen vorgestellt. Für sie sollen je nach Aufgabe mögliche Sätze formuliert werden ganz unabhängig davon, was diese bei bestimmten Personen in bestimmten Kontexten wirklich bewirken. Der Zweck der Übungen ist einzig der, sich in Klartext zu üben. Zur Einstimmung vorab ein Beispiel: Partner A sagt zu Partner B: »Es tut mir nicht gut, wenn du so mit mir umgehst!« Hier ist das Subjekt zuerst ein diffuses »Es«, im Nebensatz dann das »Du«. Die Verben sind anfangs »nicht guttun« und dann »mit mir umgehen«. Das Objekt ist in Haupt- und Nebensatz der Sprecher selbst (»mir« und »mit mir«). Vermutlich ist für A und B im konkreten Kontext klar, worum es jeweils geht. Der Satz selbst hält aber noch viel offen und vage. Er ließe sich klartextorientiert daher umformulieren. Man kann beispielsweise das Ich zum Subjekt machen: »Ich fühle mich gekränkt« oder »Ich mag es nicht, wenn du …« Auch das Verb lässt sich bezüglich dessen konkretisieren, was B aus Sicht von A tut: Mir gefällt nicht, »wenn du mir etwas versprichst und das nicht einhältst«, »mich so laut und aggressiv anredest«, »dauernd auf die Uhr blickst, wenn ich dir etwas erzähle« usw. Man könnte auch das Du als Subjekt einsetzen, z. B: »Du hast mir etwas versprochen und das nicht eingehalten!« In dem Fall wäre gegebenenfalls die Reaktion von A, also sein »Tun«, genauer zu markieren: »Ich denke dann, ich bin dir nicht so wichtig«, »Ich bin dann enttäuscht, verängstigt, wütend usw.«

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Ob das im Einzelfall nur Sprachkünsteleien sind oder der Beziehung von A und B wirklich etwas bringt, hängt vom jeweiligen Fall und dessen Kontext ab. Manchmal befruchtet diese Art von Klartext allerdings das weitere Gespräch und das, was am Ende dabei herauskommt. Im Folgenden werden in ähnlicher Weise Sätze oder Situationen präsentiert. Stellen Sie sich, je nach Übungsvorgabe, vor, Sie wären selbst der Sprecher oder der Angesprochene. Bilden Sie dann den jeweiligen Anweisungen folgend Klartextsätze mit von Ihnen selbst hypothetisch dazu gewählten Inhalten.

ÜBUNG 1: Vages in Konkretes verwandeln

Sehen Sie sich folgende Sätze im genannten Kontext an und fragen Sie sich, wie Subjekt und Prädikat bzw. Verb und Objekt formuliert sind. Formulieren Sie sie hypothetisch um in Richtung Klartext: Ȥ Klient zur Therapeutin auf deren Frage, was ihm die Sitzungen bringen: »Na ja, ich weiß auch nicht. Sie wissen sicher, was Sie tun, ich komme da vielleicht irgendwie nicht mit.« Übersetzen Sie diese eher vage Antwort des Klienten in einen (hypothetischen!) Klartext. Ȥ Vater zum Therapeuten über seinen Sohn (der nicht anwesend ist): »Der ist ja sicher irgendwie psychisch krank, aber man muss sich schwierigen Lebensaufgaben doch auch mal stellen – oder nicht?« Formulieren Sie diese Aussage in zwei Richtungen: a. in einen fallbezogen zentrierten und die (vermuteten) Botschaften an den Therapeuten direkter ansprechenden Satz, b. in einen Satz des Vaters an den Sohn, der diesem gegenüber den vermuteten Inhalt (z. B. einen Appell oder eine Sorge) direkter zum Ausdruck bringt.

ÜBUNG 2: Getilgtes füllen

Objekt und Verb: A hat B versetzt. B sagt: »Mit so was kann ich schlecht umgehen.« Formulieren Sie – durchaus hypothetisch hineininterpretierend – konkreter a) das Objekt »so was« und b) das Verb »schlecht umgehen«. Was genauer könnte jeweils exemplarisch gemeint sein? Subjekt: Ein 31-jähriger Patient, immer leistungsfähig, hat eine Familie gegründet, ein Haus gebaut, alles hat immer gut geklappt. Und nun erlebt er plötzlich einen körperlichen Zusammenbruch, den der Hausarzt als Burn-out deutet. Der darüber verunsicherte Patient sagt: »So was macht mich ganz kirre!« Versetzen Sie sich in seine Lage und formulieren Sie hypothetisch das Subjekt »so was« genauer. Ich statt Du – Subjektwechsel: A weiß nicht, was B von ihm will, und formuliert dazu: »Du lässt mich da im Dunkeln!« Machen Sie einen Satz mit dem Subjekt »Ich« daraus.

Der Blick auf den Sprecher und das Sagen



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ÜBUNG 3: Prädikat bzw. Verb präzisieren

Es folgen Sätze mit jeweils wenig differenzierten Verben oder im Modi des Konjunktivs und des indirekten Imperativs. Formulieren Sie diese den Anweisungen folgend um: Ȥ A sagt B etwas Positives, Lobendes, Zuneigendes. B ist verlegen und sagt: »Das kann ich kaum annehmen.« Machen Sie daraus einen Satz, der sagt, was B mit »nicht annehmen können« meint. Ȥ Das schlechte Gewissen: A hat eine Teamregel gebrochen, als er den Kollegen B offen dafür kritisierte, dass dieser mit Verweis auf seinen Krankenstand wiederholt Dinge an andere delegierte. A bereut das und sagt zu B: »Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen.« Stellen Sie sich vor, Sie wären A. Verändern Sie das Verb so, dass aus dem eher passiven »haben« ein aktiveres Denken, Bewerten oder Handeln wird. Ȥ A will oder fordert etwas Bestimmtes von B und will das B mitteilen. A tut das mit den folgenden Sätzen aber noch vage oder indirekt. Formulieren Sie die Sätze (das Verb und gegebenenfalls auch das Objekt) so um, dass B genau weiß, was A von ihm erwartet. »Ich fühle mich da nicht gesehen!« »Mir fehlt da ein Entgegenkommen von Ihnen.« »Ich finde, Sie lassen mich hängen!« Konjunktiv versus Indikativ: Stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie nicht das fühlen, was Sie (aus wessen Sicht auch immer) fühlen sollten oder lieber fühlen würden. Sie hatten das zunächst so formuliert: »Ich würde mich jetzt ja gern darüber freuen.« Verändern Sie diesen Satz so, dass kein Konjunktiv vorkommt (drei Beispiele: »Ich freue mich nicht darüber«, »Statt mich zu freuen, bekomme ich Angst«, »Ich schäme mich dafür, dass ich hier keine Freude empfinde«). Was wäre eine weitere hypothetische Formulierung? Sie merken, dass Sie in Ihren Aussagen den Konjunktiv verwendet haben. Sie akzeptieren das, formulieren ihn aber nun in einen Indikativ um. Beispiel: Aus »Es wäre schön, wenn du …« machen Sie »Ich bitte dich darum, dass du …«. Ȥ »Ich würde mir da wünschen, dass du …« Ȥ A kündigt etwas für Sie Erfreuliches an und Sie sagen: »Das wäre schön!« Ȥ Sie wollen, dass A etwas mit Ihnen unternimmt, und formulieren das so: »Könntest du dir vorstellen, mit mir gemeinsam … (z. B. einen Film ansehen)?« Vom indirekten zum direkten Imperativ: Stellen Sie sich vor, Sie hätten folgende Sätze gesprochen: Ȥ In einer Teamsitzung: »Das machen wir hier nicht so!« Machen Sie – auch wenn das etwas »scharf« klingt – daraus eine direkte Aufforderung oder einen direkten Imperativ an jemanden. Ȥ In einer Supervision: Jemand redet aus Ihrer Sicht abfällig über einen Patienten. Sie sagen spontan: »So müssen wir nicht über Klienten reden!« Formulieren Sie das um in eine direkte Aufforderung bzw. einen direkten Imperativ.

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

ÜBUNG 4: Subjekt benennen – Subjektkonstituierung bedenken

B wird während ihrer Abwesenheit von anderen für etwas kritisiert. A sagt zu den Kritikern: »Mit ihrer Vergangenheit ist B das nicht anders möglich!« Das Subjekt des Satzes ist »das«, welches B aufgrund ihrer Vergangenheit nicht möglich sei. Machen Sie daraus zwei andere, hypothetische, Subjektkonstituierungen: 1. Setzen Sie in den Satz von A Person B als handelndes Subjekt statt als »Opfer der Vergangenheit« ein und formulieren Sie ihn entsprechend um. 2. Machen Sie daraus eine Aussage, bei der A sich selbst als handelndes und in diesem Fall das Verhalten von B als erklärendes Subjekt benennt (»Ich …«). Wer handelt – ein Teil von mir oder ich selbst? Setzen Sie in den folgenden Sätzen die sprechende Person als Subjekt ein statt einen von ihr markierten Teil: »Der Feigling in mir hat mich mal wieder ausgebremst!« »Da hat meine Prokrastination mal wieder zugeschlagen!« Subjekt-De-Konstituierung – »etwas« statt handelnde Person: In der Methode der »Externalisierung« (vgl. White u. Epston, 2013) wird bewusst nicht der Klient als handelndes Subjekt konfiguriert, sondern etwas anderes. Der Klient kann so gezielt zum Opfer (z. B. »der Bulimie«) statt zum Täter gemacht werden. Wenden Sie das auf folgende Situation an: Ein Klient sagt voller Reue: »Dann habe ich vor lauter Wut meine Kinder wieder angeschrien!« Formulieren Sie den Satz so um, dass nicht Personen (also auch keine anderen Familienmitglieder) als agierende Subjekte erscheinen, sondern irgend »etwas« anderes. »Es« – ein Subjektklassiker: Ein Paar hat sich vorgenommen, die häufigen gegenseitigen Entwertungen einmal sein zu lassen. In der Therapie berichten dazu beide: »Es hat nicht geklappt!« Verändern Sie hypothetisch diesen Satz des Paares: Ersetzen Sie das Subjekt »Es« durch eine handelnde Person. Ersetzen Sie das Verb »nicht klappen« durch eines, das anzeigt, was eine Person statt des Vorgenommenen getan hat und in der sprachlichen Formulierung dann dafür auch die Verantwortung übernimmt. Das könnte z. B. so aussehen: »Ich habe mich entschieden, meinen Partner doch wieder zu beleidigen« oder in sanfterer Form: »Ich habe das, was ich mir vorgenommen habe, nicht getan.« Wie lautet Ihre Formulierung?

ÜBUNG 5: Objekt präzisieren

Ȥ Eine Patientin erzählt, dass sie mit den Ideen des Therapeuten aus der letzten Stunde viel anfangen konnte. Der Therapeut sagt dazu: »Ich freue mich darüber.« Konkretisieren Sie hypothetisch, was mit dem Objekt »darüber« konkreter gemeint sein könnte. Ȥ A sagt B etwas Positives, Lobendes, Zuneigendes. B ist verlegen und sagt: »Das kann ich kaum annehmen.« Fügen Sie für »das«, das hier nicht angenommen werden kann, ein hypothetisch klareres Objekt ein.

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Ȥ Eine Supervisorin schlägt dem Supervisanden vor, einem Patienten seine offensichtliche und potenziell konfrontative Hypothese doch einmal offenzulegen. Der Supervisand: »Oh, das traue ich mich nicht!« Formulieren Sie hypothetisch das Objekt »das« genauer.

ÜBUNG 6: Adressen von Aussagen eindeutig markieren

Andere adressieren: In einem Team sagt eine Kollegin in die Runde: »Wir sind hier zu vorsichtig miteinander!« In der Supervision wird deutlich, dass sie damit vor allem zwei Kollegen meint. Formulieren Sie daher diesen Satz so um, dass er direkt an diese beiden Personen adressiert wird. A sagt in Anwesenheit von B über dessen Verhalten: »Ich frage mich, warum du das machst.« Bilden Sie einen Satz, dessen Adressat nicht A selbst, sondern eindeutig B ist. In einer Teamrunde macht A eine Äußerung über eine Patientin, die den üblichen Einstellungen des Teams zu Patienten deutlich widerspricht. Alle halten mit fragendem Blick auf A den Atem an. Dieser sagt dann: »Ich sag ja nur!« Bilden Sie eine Hypothese, was A damit »den anderen« gegebenenfalls mitteilen will, und formulieren Sie eine eindeutig an die anderen gerichtete Frage oder Aussage, die das deutlicher zum Ausdruck bringt. Selbst adressiert werden: Jemand sagt in die Runde der Anwesenden: »Ich fühle mich hier nicht verstanden!« Sie sind Teil der Runde und vermuten, das sei auch oder besonders an Sie gerichtet, und wollen das nun klären: Formulieren Sie (1) eine Frage, mit der Sie herausfinden, ob Sie zu den Adressaten dieses Satzes gehören. (2) Formulieren Sie diese Aussage so um, dass Sie darin der eindeutige Adressat werden.

ÜBUNG 7: Sich selbst kommentierende verbale und nonverbale Satzteile1

Verbal: Sie »erwischen« sich bei einem »Selbstkommentar« und hören sich selbst sagen: »Ich weiß, das ist jetzt kindisch, aber ich bin da richtig beleidigt!« Bei den folgenden Übungen wird hypothetisch davon ausgegangen, dass solche verbale oder nonverbale Selbstkommentare auch offene oder verdeckte Botschaften an andere enthalten. Man kann üben, diese mit Klartext direkt zum Ausdruck zu bringen. Bei dem eben genannten Selbstkommentar könnte das z. B. folgende Frage sein: »Findet ihr mich kindisch, wenn ich so reagiere?« Nonverbal: Sie versuchen, ein Gefühl oder einen Gedanken zum Ausdruck zu bringen, und merken, dass es für Sie selbst und für die Zuhörer noch recht unklar bleibt. Das begleiten Sie 1

Zum Thema »Selbstkommentare« und »beiläufige Sprachfloskeln« werden im Downloadbereich Beispiele, Theorieanmerkungen und weitere Übungen und Selbstbeobachtungsmöglichkeiten vorgestellt, siehe dort unter »›Das hört sich jetzt vielleicht blöd an …‹: Wie sich für Selbstkommentare und deren Auswirkung sensibilisieren?« und »›Na ja – na gut – nicht wahr?‹: Wie hellhörig für Sprachfloskeln und deren Bedeutung werden?«.

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

mit einem gesenkten Blick, einem leichten Kopfschütteln und einem Zucken Ihrer Schultern, wie man es manchmal macht, wenn »man selbst nicht so recht weiß«. Nun wählen Sie nicht den Weg, herauszufinden, was Sie »wirklich« sagen wollen, sondern den, mitzuteilen, dass Sie gerade keine Klarheit haben, was Sie eigentlich sagen wollen. Formulieren Sie das mit einer an die anderen gerichteten Aussage. In einer Runde äußern sich alle dahingehend, dass derzeit vom Team zu viel verlangt wird. Sie sind Teil dieses Teams und merken, dass Sie in den letzten Minuten aus dem Fenster geblickt und immer wieder leicht mit dem Kopf geschüttelt haben. Fragen Sie sich einmal – natürlich rein hypothetisch –, was Sie dabei inhaltlich zum Ausdruck gebracht haben könnten, und formulieren Sie das in ein oder zwei Sätzen an die anderen Teammitglieder. Im Gespräch mit B äußern Sie eine Kritik am nicht anwesenden C. Plötzlich werden Sie sich bewusst, dass Sie Ihre Sätze über C stets mit einer »Entwertungsgeste« begleiten – etwa einer »verächtlichen« Gestik oder Mimik. Möglicherweise spricht Sie auch jemand darauf an. Sie entscheiden, den potenziellen inhaltlichen Gehalt dessen einmal offen auszusprechen. Wählen Sie nicht den Weg, das zu rechtfertigen, zu bagatellisieren oder gar zurückzunehmen, sondern den, dazu zu stehen, was es bedeuten könnte. Finden Sie zwei oder drei Sätze, mit denen Sie das ausdrücken.

ÜBUNG 8: Ironie transformieren

Klartext sucht Eindeutigkeit, Ironie spielt mit der Grenze zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit. In der Ironie schwingt etwas mit, das im Text selbst nicht direkt gesagt wird und im Rahmen der Ironie auch nicht genannt werden darf. Manchmal teilt die Ironie das Gegenteil dessen mit, was gesagt werden will: »Das hast du ja mal wieder toll gemacht!« Klartext und Ironie sind keine Gegensätze, sondern unterschiedliche Sprachspiele mit je eigenem Wert. Es ist gerade deshalb möglich, ironischen Aussagen einmal mit Klartext zu begegnen bzw. ironische in nichtironische zu transformieren. Stellen Sie sich dazu vor, Sie hätten nachfolgend vorgegebene ironische Aussagen gemacht und »übersetzen« die nun in nichtironische. Beispiel: Sie haben jemandem einen Sachverhalt immer wieder erläutert, was bei diesem aber offenbar nicht ankommt. Beim nächsten Versuch hören Sie sich selbst sagen: »Wahrscheinlich rede ich zu diesem Thema ja auch nur unverständliches Zeug!« Die Transformation könnte sich so anhören: »Ich kann sagen, was ich will – das kommt aus meiner Sicht bei Ihnen nicht an. Liegt das Ihrer Meinung nach an der Art meiner Darlegung oder an etwas anderem?« Transformieren Sie in diesem Sinne folgende ironischen Sätze in eindeutige Klar­text­aus­sagen: Ȥ Jemand macht einen erheblichen Fehler und Sie sagen: »Na, das war ja wirklich toll!« Ȥ Jemand geht nicht auf Ihre Gefühle ein und Sie sagen: »Wie wäre es mit einer kleinen Portion Empathie?« Ȥ Jemand hat Ihnen etwas erklärt, Sie haben wenig verstanden und gefragt: »Kann man das auch auf Deutsch sagen?«

Der Blick auf den Sprecher und das Sagen



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ÜBUNG 9: Schweigen in Sprache bringen2

Auch wenn Reden Silber und Schweigen Gold ist, kann es manchmal produktiver sein, etwas zu sagen, statt zu schweigen bzw. den potenziellen Gehalt eines Schweigens in Sprache zu transformieren. Deshalb dazu einige kurze Übungen. Ȥ Sie fühlen sich herausgefordert, zu einem Thema etwas zu sagen, und wissen: Was immer ich jetzt in dieser Runde sage, wird zu heftigen emotionalen Reaktionen führen. Um das zu vermeiden, schweigen Sie. Bringen Sie nun statt eines inhaltlichen Beitrages zum Thema Ihr bisheriges Schweigemotiv in maximal zwei Sätzen zum Ausdruck. Ȥ In einer Runde gilt die Regel, dass man sich zu jedem kontroversen Thema klar positioniert und darüber diskutiert. Nun haben Sie zu einem Thema einfach keine Position und können diese Regel nicht einhalten. Deshalb schweigen Sie. Nach einiger Zeit werden erwartungsvolle Blicke auf Sie gerichtet. Bringen Sie als Antwort darauf den Grund Ihres Schweigens zum Ausdruck. Ȥ Stellen Sie sich vor, Sie hätten in einer Partnerschaft die Rolle des Rationalen und Ihr Partner die des Emotionalen. Letzteres wird in Ihren Kreisen besser gewertet als Ihre Rationalität. Man fordert Sie deshalb auf, doch endlich etwas von Ihrer Gefühlswelt mitzuteilen. Sie beantworten das mit einem Schweigen, in dem vielleicht auch Ihre Not mit der Rolle des »Rationalen unter den Emotionalen« zum Ausdruck kommt. Üben Sie sich einmal, diese spezielle Not verbal zum Ausdruck zu bringen.

ÜBUNG 10: Metaphern einbringen

Dem Reich der Metaphern sind wir bereits in Abschnitt 1.1.11 begegnet. Wir vertiefen das nun durch weitere metaphernbezogene Sprachübungen. Man kann wie in 1.1.11 vorgestellt die in einem Gespräch bereits verwendeten Metaphern erkennen, aufgreifen und dann sprachlich innerhalb des Metaphernraums bleiben oder mit der »Lebenstransferfrage« vom metaphorischen »Es ist so, als ob« zum realen Leben übergehen. Bei der Metapher »Meine Beziehung zu X ist ein Zickzackkurs!« kann man binnenmetaphorisch fragen: »Wer oder was entscheidet, wann es nach Zick und wann es nach Zack geht?« Oder man kann zum Transfer fragen, was die Person in ihrem Leben bei Zick und was bei Zack tut. Wenn wir hinsichtlich der Metapher nicht mehr vom Hinhören und Nachfragen ausgehen, sondern vom metaphorischen Sprechen, dann gehört dazu auch, zu einem Thema oder einem Problem gezielt eine Metapher zu finden und diese zu präsentieren: »Bei Ihren Schilderungen sehe ich Sie als jemanden, der immer wieder an die Türen anderer klopft, diese aber verschlossen bleiben.«

2 Zum Thema Schweigen als Teil der Kommunikation und wie man damit umgehen kann, enthält der Downloadbereich unter »Beredtes Schweigen: Wie relevantes Schweigen identifizieren und damit umgehen?« Beispiele, eine Theorieanmerkung, eine praktische Übung und eine Anregung zur Selbstbeobachtung.

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Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen

Lesen Sie nun folgende Texte und warten Sie ab, ob oder welche Metapher sich dazu bei Ihnen von selbst einstellt oder Sie ganz gezielt erzeugen können. Fassen Sie diese dann in Worte: Ȥ A beklagt sich, dass B seit Jahren auf die wichtigsten Wünsche und Bedürfnisse von A nicht eingeht und diese sogar entwertet. B beklagt sich, dass A seit Jahren auf die wichtigsten Wünsche und Bedürfnisse von B nicht eingeht und diese sogar entwertet. Beide führen die Probleme in ihrer Partnerschaft auf dieses Verhalten des anderen zurück. Ȥ Der 26-jährige Klient Michael lebt noch bei seinen Eltern. Seine Geschwister sind ausgezogen. Es gibt fast täglich heftigen Streit, unter dem alle leiden. Er berichtet: »Ich versuche es, meinen Eltern recht zu machen – ich bin ja auch finanziell von ihnen abhängig. Aber was ich auch tue oder sage, es ist immer falsch. Ich bekomme dauernd Kritik und Vorwürfe. Wenn ich widerspreche, gibt es noch mehr Streit. Wenn ich zustimme, führt das zu weiteren Vorwürfen, und wenn ich nichts sage, wird mir vorgeworfen, ich würde mich der Auseinandersetzung entziehen. Ich weiß nicht, wie ich aus dieser Situation herauskommen kann!«

2 Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

Video 14: SPRACHSPIEL – Überzeugungsversuch trifft Überzeugungsversuch – Entwicklung einer Alternative

Abbildung 14: Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

Bisher ging es im Kern um Teilelemente der Kommunikation – Sprechen, Hören, Nachfragen, Fragenstellen –, die die einzelnen Teilnehmenden in ihren Sprech- und Hörakten vollziehen. Daran sind immer mindestens zwei Personen beteiligt, beim Sprechen mit sich selbst sind Sprecher und Angesprochener Teile einer Person. In den Beispielen und Übungen dazu wurden schon ganze Kommunikationssysteme und deren Sprachspiele sichtbar, etwa wenn es um das Aufeinandertreffen von Klartext mit anderen Sprachstilen ging. Der Blick von außen auf »das ganze Spiel« soll nun in Kapitel 2 vertieft werden. In 2.1 geht es um Kommunikationssysteme anderer, in 2.2 um die, bei denen wir selbst aktiv mitspielen.

2.1  Die Systeme und die Sprachspiele anderer 2.1.1  Wie die Sprachspiele anderer erkennen und für Veränderungen nutzen? Ein »Pflegestützpunktteam«, zuständig für Beratungen auf dem Gebiet der Pflege, hat es oft mit komplexen Fällen zu tun, weil im Gesamtsystem die einen (z. B. die Pflegebedürftigen) das nicht wollen, was andere für richtig halten (z. B. die Angehörigen).

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Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

Außerdem sind immer viele medizinische und rechtliche Fragen zu berücksichtigen. In einer Teamsupervision trägt ein Kollege einen solchen komplexen Fall vor. Das auf diesem Gebiet erfahrene und kompetente Team bringt dazu viele Perspektiven ein, aber der Falleinbringer kommt dadurch nicht weiter. Eine supervisorische Beobachtung des in diesem Prozess dominierenden Sprachspiels stellt fest: Immer wenn eine Person etwas gesagt hat, schließt jemand anderes mit einem »Ja, aber …« an und es werden weitere potenziell wichtige Gesichtspunkte erwähnt. Das wiederholt sich und hat am Ende eine lähmende Wirkung auf alle. Der Supervisor entscheidet sich, seine »Ja-aber-Sprachspieldiagnose« mitzuteilen mit den offensichtlichen Vor- und Nachteilen. Er schlägt eine Musterunterbrechung vor durch Einführung einer neuen Sprachregel: In den nächsten zwanzig Minuten sollen nur sich positionierende Sätze oder Meinungen gesagt und jedes »Ja, aber …« unterlassen werden. Das veränderte das Klima der Debatte und erhöhte ihre Effekte für den Falleinbringer: Nun konnten alle Leute klar sagen, was sie angesichts der Komplexität des Falles tun und was nicht tun würden. Das verhalf dem Falleinbringer schließlich dazu, seine eigene Haltung und Lösung zu finden.

In Teil I wurden in Kapitel 5 zwei Sprachperspektiven einander gegenübergestellt: Im Sprechaktansatz erzeugen Personen das Gespräch, im Sprachspiel- oder Kommunikation-System-Ansatz erzeugt die Eigenlogik der Kommunikation und der jeweiligen Sprachspiele die daran teilnehmenden Sprecherrollen. Das brachte Gadamer in seiner bekannten Formulierung so zum Ausdruck: »Wir sagen zwar, dass wir ein Gespräch ‚führen‘, aber je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung desselben in dem Willen des einen oder anderen Gesprächspartners […]. Wie das Gespräch seine Wendungen nimmt […], das mag sehr wohl eine Art Führung haben, aber in dieser Führung sind die Partner des Gespräches weit weniger die Führenden als die Geführten« (Gadamer, 1960/1990, S. 387). Mit dieser Perspektive blicken wir nun auf die Sprache. Für Sprachspiele gilt demnach dasselbe wie für Fußballspiele: Wer das Spiel als Ganzes sehen will, muss auf die Zuschauertribüne, eine Außenperspektive einnehmen und möglichst nicht parteiisch sein. Mit Meta-Klartext-Klarheit lässt sich beobachten, welche Sprachspiele die Klientensysteme gerade spielen mit welchen beobachtbaren Wiederholungen und daraus erschließbaren Spielregeln und Rollen. Ein Vorteil dieser Beobachtungsebene ist, dass man keine Schuldigen finden muss, wenn das Spiel negative Auswirkungen auf Einzelne oder alle hat. Man sieht stattdessen in ein Spiel involvierte und manchmal von ihm dominierte Akteure. Man kann diesen dann anbieten, sich das Spiel mit Hilfe von Therapeuten, Beraterinnen oder Supervisorinnen einmal selbst anzusehen, um aus den dabei möglich gewordenen Perspektiven Schlüsse zu ziehen. Leitende Fragen sind: Wie schließen einzelne Sprechakte aneinander an? Welchem Muster folgt das? Welche Rollen entstehen daraus oder welche sind schon durch den Kontext eines Gespräches

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oder die Struktur eines Systems vorgegeben? Das kann und muss man auch soziologisch betrachten: Bestimmte Kontexte oder gesellschaftliche Funktionsbereiche geben Rollen und Sprachregeln vor in Form von Sprachspielen der Wirtschaft, des Journalismus, der Politik und eben auch von Therapie und Beratung.

Entwertungsspiel: Der junge Mitarbeiter eines Teams mit Schwerpunkt in der Betreuung durch Gewalt und Missbrauch traumatisierter Jugendlicher berichtet im Coaching über seine Position im Team: Er habe dort eine Außenseiterposition, man agiere gegen ihn, unterlaufe seine therapeutischen Arbeiten und mache in seiner Abwesenheit von ihm getroffene Entscheidungen wieder rückgängig. Die Mehrheit des Teams vertrete die Haltung, die Jugendlichen sollten im Fall familiärer Traumata nach Möglichkeit den Kontakt mit den Tätern abbrechen und die Einbeziehung der »Täter« in die Gespräche sei ein Fehler. Er vertrete die Position, gegebenenfalls auch die Täter einzubeziehen. Über diese inhaltlichen Differenzen findet keine fachliche Auseinandersetzung statt. Die supervisorische Beleuchtung der Teamkommunikation und deren Sprachspiele ergibt: Das Gespräch über die inhaltlichen Differenzen wird vermieden und stattdessen werden gegenseitige offene oder verdeckte negative Be- oder Entwertungen ausgetauscht. Das gilt auch für den Kollegen: Wenn ihm die Position der »anderen« begegnet, reagiert auch er entweder mit Schweigen oder mit einer offenen oder verdeckten Abwertung dessen. Aus der Meta-Klartext-Klarheit-Perspektive zeigt sich: Zum Sprachspiel des Teams gehört sich wiederholendes, gegenseitiges Ignorieren oder Entwerten. Dazu werden mit dem Kollegen dann musterunterbrechende Alternativen entwickelt: Er könne fachliche Fragen an die Kollegen zu deren Positionen stellen, für deren Standpunkt auch einmal eine explizite Anerkennung zum Ausdruck bringen, und er könne einmal davon ausgehen, dass beide Perspektiven etwas Wichtiges vermitteln und eine Kooperation finden können. Zuneigung trifft Abgrenzung: Ein Paar berichtet, im Alltag (Beruf, Haushalt, Kinderbetreuung) ganz gut zu funktionieren und zu kooperieren. Wenn es aber um die Partnerschaft gehe, litten sie aneinander, und diesbezügliche Gespräche würden immer lange dauern und frustrierend enden. In der Therapie lässt sich beobachten und herausarbeiten: Beide wollen an der Partnerschaft festhalten und mögen einander. Andererseits fühlen sich beide vom anderen oft unverstanden, gegängelt, infrage gestellt, manchmal sogar entwertet, und versuchen das dann zurückzuweisen. So versuchen beide einerseits die Beziehung zu bewahren und zu verbessern und andererseits darin ihre Abgrenzung und Autonomie zu erhalten. Im Sprachspiel sieht das dann so aus: Immer wenn einer sich dem anderen auf der verbalen Ebene positiv zuwendet (lobend, Fragen stellend, Zuneigung bekundend), reagiert der andere mit einem »aber« und einem Hinweis auf Probleme. Das lässt sich dann im Sinne der Komplexitätsreduktion so beschreiben: Sich wiederholend wird Zuwendung mit einer Abgrenzung oder Forderung beantwortet. Beide nehmen abwechselnd beide Rollen ein.

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Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

Der Therapeut hatte in der Therapie mit einzelnen Sprachinterventionen zuerst einzelne Sprech- und Hörakte erkundet und das dann in die Richtung zu verändern versucht, dass Zuwendung einmal mit rezipierender oder aktiver Zuwendung beantwortet wird. Seine diesbezüglichen Bemühungen waren nicht erfolgreich. Die Alternative besteht nun darin, dem Paar dieses Spiel »Zuneigung trifft Abgrenzung« aufzuzeigen und zu empfehlen, einmal selbst im Alltag zu beobachten, ob und wann es auftritt oder gespielt wird. Das lässt sich als Gemeinschaftsleistung positiv bewerten, insofern im Paar ja immer gleichzeitig Bindung und Autonomie als wichtige Elemente einer Partnerschaft im Rollenwechsel präsentiert werden. Diese Anerkennung des Spiels und die Einladung des Paares, einmal selbst auf die Zuschauertribüne zur Beobachtung des eigenen Spieles zu gehen, schafft eine bessere Voraussetzung, gegebenenfalls Veränderungen zu wagen und solche im Sinne eines Kontrakts miteinander zu vereinbaren, bei dem niemand der Verlierer ist.

ÜBUNG

Thema: Sprachspiel erkennen – Sprachspiel beschreiben Fallbeispiel: In einer Einrichtung zur Betreuung Arbeitsloser finden viele Gespräche am Telefon statt. Ein Kollege berichtet: Ein Klient von ihm rufe ihn immer wieder an und erzähle ausführlich von seinem Leiden. Der Berater höre zunächst empathisch und nachfragend zu und versuche dann, mit ihm Lösungsperspektiven zu entwickeln. Letzteres greife der Klient aber nicht auf. Das Ganze wiederholt sich, der Berater ist frustriert. Sein Blick in der Fallsupervision fällt zuerst nur auf den Klienten. Beschreibung der Übung: Stellen Sie sich vor, Sie wären die Supervisorin, und Ihr Blick gilt dem Sprachspiel, das beide spielen und somit gemeinsam aufrechterhalten. Ȥ Wer hat welche Rolle in diesem Spiel? Wie würden Sie diese und das ganze Spiel nennen? Ȥ Wie könnte aus Ihrer Sicht der Berater das Muster angemessen unterbrechen, ohne dabei die Klienten negativ zu bewerten und die Beziehung zu ihm zu gefährden? Ihre Lösung:

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Hier das Ergebnis dieser Supervision: Das Spiel könnte »Engagierter Leidensberichterstatter trifft engagierten Problemlöser« genannt werden. Der Kollege entschied sich für folgende Musterunterbrechung: Er werde den Klienten von sich aus anrufen und ihn in sein Büro vor Ort einladen. Dort werde er ihm im Sinne einer Metakommunikation sagen, welche Rollen sie beide aus seiner Sicht eingenommen haben. Dann wolle er mit ihm zusammen eine Bilanz der »Effekte« dieses Spiels ziehen: Wem hat es was gebracht und wem was nicht? Dann könne man gemeinsam oder jeder für sich entscheiden, welche Rolle wer wie in Zukunft bei weiteren Gesprächen spielen solle. Er berichtet später, dieses Gespräch habe stattgefunden mit einer zufriedenstellenden Lösung: Die Bearbeitung der psychischen Probleme des Klienten solle aus diesen Gesprächen »ausgelagert« werden in eine Psychotherapie, der Berater zentriere sich auf Themen seines Bereiches (Jobsuche); er selbst hatte dadurch mehr Distanz und Gelassenheit gegenüber dem Klienten.

Eine weitere praktische Übung dazu ist im Downloadbereich enthalten.

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Sich beim eigenen Sprachspiel beobachten lassen Anregung – Empfehlung: Zur Durchführung dieser Übung müssen Sie jemandem erlauben, ein Gespräch zwischen Ihnen und einer Ihnen wichtigen Person zu beobachten, um die unten angeführten Fragen zu beantworten. Denken Sie an eine Beziehung, von der Sie wissen, dass sich bestimmte markante Gesprächsabläufe wiederholen und darin alle Seiten immer wieder dieselbe Rolle einnehmen. Dann fragen Sie die an diesem Gespräch Beteiligten, ob sie mit folgendem Experiment einverstanden sind: Eines dieser Gespräche soll gezielt in Anwesenheit der eingeladenen Person geführt werden, der natürlich alle vertrauen müssen. Diese soll Ihnen dann folgende Fragen beantworten: Ȥ Wer hat aus der Außenperspektive in diesem Gespräch welche Rolle? Ȥ Welche Art von Sprechakten wiederholen sich (z. B. erklären, anklagen, rechtfertigen, nachfragen)? Ȥ Wenn das ein (Sprach-)Spiel wäre, wie würde diese Person es nennen? Möglicherweise hat allein diese Intervention bereits eine Wirkung auf die Gesprächsteilnehmenden. Sie können aber auch überlegen, wer gezielt was tun oder unterlassen könnte, um dieses Muster zu unterbrechen. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

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Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

2.1.2 Sätze folgen Sätzen, die Sätzen folgten: Wie die Logik von Anschlusskommunikation erkennen und für Veränderungen nutzen? Video 15: ANSCHLUSSKOMMUNIKATION – Das »Ja-Aber-Sprachspiel« – Entwicklung einer Alternative

Ausschnitt aus einem (fiktiven) Paargespräch: A: »Wir sollten miteinander reden – ich finde, dass wir uns voneinander entfernen.« B: »Wer sagt das?« A: »Merkst du das denn nicht?« B: »Was merken? Ich hatte einen anstrengenden Arbeitstag und jetzt bin ich hier!« A: »Nein, du bist innerlich nicht hier!« B: »Soweit ich sehe, bin ich hier, und du bist auch hier. Apropos: Kommt Michael heute zum Abendessen?«

Im Abschnitt zuvor ging es darum, von einzelnen Spielzügen auf die Regeln des ganzen Spiels zu kommen und ihm einen Namen zu geben. Nun geht es um eine weitere Metaperspektive, die auf sehr komplexitätsreduzierende Weise die jeweils nachfolgende Aussage nach einer vorausgegangenen mittels einer einzigen Kategorie einschätzt: Ob sie die vorausgegangene Äußerung im Kern eher bejaht oder verneint, ob sie eher Zustimmung oder Nichtzustimmung zum Ausdruck bringt (vgl. zu dieser Beobachtungskategorie Lieb, 2020, S. 178 f.). Da beide Seiten für Diskurse und deren Resultate wichtig sind, sollte man keine a priori positiv oder negativ werten. Das »Zustimmen/Nichtzustimmen« kann sich auf verschiedene Aspekte beziehen: zum Inhalt des Gesagten – dazu, dass das Gesagte eine vertretbare Position ist, auch wenn man diese inhaltlich nicht teilt –, zur darin enthaltenen Beziehungsdefinition (z. B. »Du fragst etwas – ich antworte darauf«). Wenn vermittelte oder erlebte Zustimmungen/Nichtzustimmungen ein anhaltendes Muster bilden, kann das die Gesprächsdynamik und das Gesprächsklima, die inneren Zustände der Teilnehmenden und das Resultat des Gespräches erheblich beeinflussen. Es gibt sicher viele Fälle, bei denen die Anwendung dieser Kategorie zur Erfassung eines Gesprächsablaufs ob ihrer maximalen Vereinfachung oder aufgrund der Schwierigkeit, einzelne Beiträge dichotom nur einer der beiden Seiten zuzuordnen, nicht dienlich ist. Ob eine Kommunikation aus dieser Perspektive eine Bejahung oder Verneinung ist, ist die Entscheidung eines Beobachters und keinesfalls objektiv: Ist die Antwort »Ich habe viel zu tun!« auf die Frage »Kannst du morgen Abend auf die Kinder aufpassen?« eine Bejahung, eine Verneinung, keins von beiden – oder hat da jemand einfach eine Frage nicht verstanden? Die Nutzung dieser Kategorie kann aber auch nützlich sein, wenn mit einer so ver-

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einfachten Brille sonst schwer erfassbare Dynamiken eines Gespräches einmal beschrieben, verstanden und vielleicht auch verändert werden. Dann ist gerade die Vereinfachung das Nützliche. Eine aus dieser Perspektive interessante Anschlusskommunikation sind Sätze, die an das zuvor Gesagte mit »Ja, aber …« anschließen und zunächst beides zum Ausdruck bringen, sich dann aber eher der Verneinung widmen. Für unseren Kontext sind vor allem solche Beiträge interessant, die Zustimmung oder Bejahung eher indirekt zum Ausdruck bringen, da solche daher nicht leicht identifizierbar sind und gerade deshalb Klima und Ergebnis eines Gespräches beeinflussen. Therapeuten und Beraterinnen neigen aus guten Gründen dazu, ihren Klienten gegenüber mehr Zustimmung und Bejahung als Nichtzustimmung und Verneinung zum Ausdruck zu bringen, weil das die Beziehung stärkt. Das muss aber nicht heißen, dass Verneinung und Nichtzustimmung nicht auch von besonderer therapeutischer Potenz sein können. Wichtig ist es, zwischen verstehen und zustimmen/nichtzustimmen zu unterscheiden, weil verstehen oft fälschlich als zustimmen bzw. nichtzustimmen als Nichtverstehen gedeutet wird. Nichtzustimmen kann auf einem fundierten Verstehen ruhen und zustimmen heißt nicht immer, dass man verstanden hat. In Kommunikationsabläufen lassen sich wiederholende symmetrische Varianten beobachten, wenn Zustimmung stets auf Zustimmung oder Verneinung auf Verneinung (meistens in Konfliktbeziehungen) folgt. Gute energiereiche Gespräche dürften von einem Wechsel beider gekennzeichnet sein.

Der folgende Gesprächsauszug zwischen einem Therapeuten und einem Klienten ist vom Autor frei erfunden, aber in seiner Art repräsentativ für so manchen Gesprächsverlauf. Der Leser sehe sich die jeweiligen Anschlusskommunikationen daraufhin an, ob er diese eher als Bejahung/Zustimmung oder als Verneinung/Nichtzustimmung zum vorher Gesagten deuten kann. Stellen Sie sich eine Patientin vor, die in der Therapie über ihren Ehemann klagt und einen Therapeuten, der sie zu mehr Eigenreflexion und Veränderungsbereitschaft führen will. Patientin: »Am Wochenende hat er in keinerlei Weise in Sachen Haushalt und Kinderbetreuung geholfen!« Therapeut: »Sie sind frustriert. Wie genau fühlt sich das an?« Patientin: »Ja, wie wohl?! Seit Jahren hängen Haushalt und Kindererziehung an mir!« Therapeut: »Ihr Mann ist jetzt nicht hier. Was glauben Sie, was wir beide hier tun können, damit es Ihnen besser geht?« Patientin: »Ich wäre ja schon froh, wenn er nur das Staubsaugen übernehmen würde. Ich habe ja keine allzu großen Ansprüche!«

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Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

Therapeut: »Sie haben nun schon öfter und nicht nur in Bezug auf Ihren Mann erzählt, dass Sie sehr darunter leiden, wenn Ansprüche von Ihnen nicht erfüllt werden – stimmen Sie dem zu?« Patientin: »Ich glaube nicht, dass meine Ansprüche zu hoch sind!« Die Interpretation des Autors dieses Dialoges geht dahin, dass primär gegenseitige Verneinungen signalisiert werden, ohne dass dies als solches offen markiert ist. Man könnte das so deuten: Der Therapeut stimmt der Sicht der Patientin nicht zu, dass mangelnde Mitarbeit des Mannes im Haushalt und in der Kindererziehung die kausale Ursache ihres fortbestehenden Leidens sei. Er bietet ihr stattdessen eine Reflexion über ihre eigenen Anteile daran an. Die Patientin verneint, dass sie etwas bei sich ändern könne oder müsse. Wenn diese Verneinungen nicht erkannt und gegebenenfalls deutlicher markiert werden, kann es zu einer sich wiederholenden indirekten VerneinungsVerneinungs-Kette kommen. Denkbar wären nun verschiedene neue Anschlusskommunikationen von Seiten des Therapeuten, darunter die folgenden: Variante 1 – Der Therapeut könnte seine Verneinung offenlegen: »Ihre Problemdefinition ist, dass Ihr Mann die Ursache Ihres Leidens ist und Veränderungen nur von seiner Seite kommen können. Dem stimme ich so nicht zu. Ich gehe von einem anderen therapeutischen Ansatz aus, demzufolge es hier um Ihre Möglichkeiten geht, etwas zu verändern. Wenn Sie wollen, kann ich das erläutern, und Sie können prüfen, ob Sie dem zustimmen.« Variante 2 – Therapeut zur Patientin: »Ich merke, dass ich Ihrer Art der Problembeschreibung ebenso wenig zustimme wie Sie vermutlich meiner. Sie sagen, das Problem sei Ihr Mann, ich versuche Ihnen die ganze Zeit zu vermitteln, Sie könnten oder müssten etwas bei sich selbst verändern. Wie haben Sie mich verstanden? Was glauben Sie: Gibt es einen Unterschied zwischen Ihrer Sicht auf das Problem und meiner?« Variante 3 – Der Therapeut könnte sich für eine – zumindest zeitweise – Bejahung der Sicht der Patientin entscheiden: »Ich bin jetzt einmal ganz parteiisch auf Ihrer Seite und sage: Sie sind wirklich in einer sehr misslichen Situation. Sie haben viel für Familie und Haushalt gemacht, viele Opfer gebracht, und aus dieser Sicht liegt es nun an Ihrem Mann, das anzuerkennen, bzw. als Familienvater oder Partner etwas zu tun, das Ihnen das Leben erleichtert!« Natürlich müsste der Therapeut mit dieser parteiischen Variante im Auge haben, wie er später wieder zu einer allparteilichen oder neutralen Position kommen könnte, was eine partielle und klar so deklarierte Parteilichkeit nicht ausschließt.

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Die Systeme und die Sprachspiele anderer



ÜBUNG

Thema: Bejahende und verneinende Kommunikationsanschlüsse Beschreibung der Übung: Formulieren Sie zu folgenden Aussagen jeweils eine direkt oder indirekt bejahende und eine verneinende Anschlusskommunikation. Das kann sich auf den Inhalt beziehen oder darauf, ob anerkannt wird, dass die andere Person eine akzeptable Äuße­rung gemacht hat: Beispiel: A zu B über ein gemeinsames Vorhaben: »Ich habe Angst, dass wir das nicht schaffen.« A zu B über einen gemeinsamen Bekannten: »Ich finde, bei Moritz weiß man nie, woran man ist.«

Bejahender Anschluss: »Was macht dich so ängstlich?« (Hier wird das Vorliegen von Angst beim anderen bestätigt.)

Verneinender Anschluss: »Angst ist hier kein guter Ratgeber.« (Hier wird sie als Problem abgelehnt.)

Bejahender Anschluss:

Verneinender Anschluss:

Kind zu Elternteil: »Mir ist langweilig!«

Bejahender Anschluss:

Verneinender Anschluss:

Polizist zu einem Autofahrer: »Sie sind 20 km/h zu schnell gefahren!«

Bejahender Anschluss:

Verneinender Anschluss:

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Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Meine Anschlusskommunikationen Anregung – Empfehlung: Beobachten Sie sich in einem Gespräch – das kann auch ein alltägliches banales sein – einmal selbst daraufhin, wie oft Sie »gefühlt« in der Kategorie der Bejahung und wie oft in der Verneinung antworten und ob Sie das jeweils eher offen markieren oder verdeckt tun. Wenn Sie dann noch Beobachtungskapazitäten freihaben, beobachten Sie auch, wie die andere Seite jeweils auf das eine oder das andere anschließt. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

2.1.3 Wie sich für verletzende und kränkende Sprechakte in einem System sensibilisieren und damit umgehen? Video 16: VERLETZENDE SPRECHAKTE

Abbildung 15: Verletzende und kränkende Sprechakte

Alex, 17 Jahre, kritisiert im Verwandtenkreis seinen Onkel dafür, dass er sich oft abfällig über Familienmitglieder äußert. Das ist eine Herausforderung, weil ihm das so noch niemand gesagt hat. Der Vater sagt zum so kritisierten Onkel in der Absicht, seinen

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Sohn aus der Schusslinie zu bringen: »Das hat Alex nicht so gemeint!« Was als Entlastung gedacht war, kommt bei Alex ganz anders an. Er fühlt sich nun degradiert und als nicht ganz zurechnungsfähig hingestellt. Der Vater hat es gut gemeint, der Sohn fühlt sich verletzt.

Die amerikanische Philosophin Judith Butler zeigt, dass und wie Sprache verletzen kann (Butler, 1997). Für uns geht es nicht um verbale Verletzungen, die bewusst intendiert und dann als solche leicht erkennbar sind: Beleidigungen, Diskriminierungen, Abwertungen und Formulierungen des sozialen Ausschlusses. Wenn dies in von uns betreuten Systemen offen auftritt, kann und muss man ebenso offen damit umgehen. Die Aufmerksamkeit soll hier auf jene Sprechakte gerichtet werden, die für andere kränkend oder verletzend sind, obwohl das nicht den Intentionen des Sprechers entspricht bzw. indirekt geschieht. Es gibt verschiedene Varianten nichtintendierter Kränkungen oder Verletzungen, wobei an dieser Stelle nicht auf die sonst wichtige Unterscheidung zwischen Kränkung und Verletzung eingegangen wird. Zur »Verletzung durch Nichtadressierung« gehört z. B., dass man jemandem etwas für ihn Wichtiges nicht persönlich, wohl aber jemand anderem sagt mit negativen Folgen für die insofern aus der Kommunikation ausgeschlossene Person. In der im Beispieltext demonstrierten Variante liegt die Kränkung in der »Subjektdekonstituierung«, bei der jemandem der Status eines verantwortungsvoll handelnden Subjektes abgesprochen wird. Manchmal enthalten Aussagen Prämissen über andere, die diese treffen und auf die sie gegebenenfalls emotional reagieren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Butler arbeitet das zu einem »starken Konzept von Verantwortlichkeit« aus, demzufolge wir allein deshalb verletzen oder kränken können, weil wir sprechen. Wir sollten also nicht nur die positiven, sondern auch negativen Folgen unseres Redens von vornherein als Möglichkeit akzeptieren und dafür gegebenenfalls auch die Verantwortung übernehmen. Wenn z. B. jemand einer Person etwas nicht sagt, weil sie annimmt, das könne diese treffen und sie könne nicht gut damit umgehen, kann diese Vorsicht einerseits hilfreich sein und andererseits entwertend, insofern man diese andere Person wie eine Schutzbedürftige behandelt, was diese gegebenenfalls gar nicht will. Im Umkehrschluss folgt aus dem »starken Konzept von Verantwortlichkeit«, dass aus der Tatsache, dass sich jemand verletzt oder gekränkt fühlt, noch nicht geschlossen werden kann, dass jemand das wollte oder im Sinne objektiver Kriterien tatsächlich »verletzt« oder »gekränkt« hat. Man kann das dann um ein »starkes Konzept der Eigenverantwortlichkeit für gekränktes oder verletztes Reagieren« ergänzen. Wenn verletzende Sprechakte oder verletztes Reagieren einfach zum Risiko relevanter Gespräche gehören, kann man das zum einen durch Achtsamkeit in der Sprache deutlich verringern und, wenn es doch stattgefunden hat, darüber kommunizieren und es »gemeinsam wiedergutmachen«.

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Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

Als pragmatische Regel für Therapeutinnen, Berater und Supervisoren gelten: Potenzielle Verletzungen oder Kränkungen sind nicht a priori zu verhindern. Man muss mit ihnen rechnen. Man kann aber sensibel dafür sein, wenn es verbale oder nonverbale Merkmale der Kränkung oder Verletzung gibt. Es lassen sich dann Hypothesen erstellen, worin die Verletzung oder Kränkung bestanden haben könnte, oder man kann, wenn es zum Kontext passt, nachfragen, ob sich jemand von etwas entsprechend getroffen fühlt und wenn ja wodurch.

Ein Mitarbeiter einer Erziehungsberatungsstelle berichtet von einem Fall: Die Eltern sind getrennt, die Atmosphäre zwischen ihnen ist vergiftet. Die zwölfjährige Tochter lebt bei der Mutter, am Wochenende gelegentlich beim Vater. Das auch kindertherapeutisch betreute Kind berichtet im Einzelgespräch von Gewalthandlungen des Vaters an ihr, was sie ihrer Mutter noch nicht erzählt habe. Der Berater teilt das der Mutter mit. Diese erwägt nun gerichtliche Schritte mit dem Ziel, dem Vater das gemeinsame Sorgerecht zu entziehen. Im Team werden Überlegungen angestellt, was dem Mädchen guttun könnte. Niemand kommt auf die Idee, den Vater einzubeziehen und dessen Sichtweise einzuholen. Alle zentrieren sich auf das Wohl des Kindes, niemand richtet sich dabei explizit gegen den Vater. Aber die Tatsache, dass er aus der Kommunikation ausgeschlossen wird, kann insofern als »Verletzung« angesehen werden, als hier jemand angeklagt, aber zur Anklage nicht gehört wird.

ÜBUNG

Thema: Sensibilisierung für potenziell verletzende Sprechakte Beschreibung der Übung: Das Ziel dieser Übung ist eine Sensibilisierung für potenziell verletzende Sprechakte. Dazu werden gut gemeinte Sprechakte zu oder über jemanden angeführt. Ihre Aufgabe besteht darin, Hypothesen zu entwickeln, inwiefern diese für jemanden kränkende/verletzende Sprechakte sein »könnten« und diese These in Spalte 3 einzutragen. Im Anschluss werden hypothetische Antworten des Autors angeführt.

Beispiel

Der Sprechakt

… wäre eine potenzielle Verletzung, wenn das für den so Angesprochenen folgende Botschaft enthielte:

Zu einer gekränkten Person: »Du nimmst das zu persönlich.«

»Du bist selbst das Problem, weil du zu empfindlich bist.« Damit hätte der so Angesprochene nun zwei Probleme: das, was ihn kränkte, und nun zusätzlich, dass sein Kränkungserleben für das eigentliche Problem gehalten wird.

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Die Systeme und die Sprachspiele anderer

Der Sprechakt

Übungsbeispiel 1

Zu einer Person mit Schuldgefühlen: »Darüber müssen Sie sich doch keine grauen Haare wachsen lassen!«

Übungsbeispiel 2

In einem Team hat eine Kollegin einen offensichtlichen, ihr peinlichen Fehler gemacht. Sie tut nun den anderen leid. Diese blicken, wohl um sie zu entlasten, von ihr weg und reden rasch über etwas anderes.

Übungsbeispiel 3

In einer Konferenz ist sichtbar, wie sehr das gerade erörterte Thema eine Kollegin emotional berührt. Eine andere sagt zu ihr: »Das ist für dich jetzt schwierig, du bist sehr angespannt. Vielleicht solltest du oder sollten wir eine Pause machen.«

… wäre eine potenzielle Verletzung, wenn das für den so Angesprochenen folgende Botschaft enthielte:

(Bilden Sie Hypothesen, inwiefern die Reak­ tion der anderen auf die Kollegin für diese kränkend sein kann.)

Hypothetische Antworten des Autors zu den Übungsbeispielen: Der Angesprochene könnte der Aussage folgende kränkend-verletzende Botschaft entnehmen: Übungsbeispiel 1: dass seine Bereitschaft, Verantwortung oder gar Schuld auf sich zu nehmen, als neurotische Selbstquälerei gedeutet wird. Übungsbeispiel 2: dass man sie für schonungsbedürftig hält und ihr nicht zutraut, mit Scham und dem Eingeständnis eines Fehlers vor sich und vor anderen gut umgehen zu können. Übungsbeispiel 3: dass ihre Emotionen ein Hinweis auf ein Problem oder Defizit von ihr seien und nun ihre Emotion und nicht das inhaltlich besprochene Thema das eigentliche Problem sei.

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Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

Eine weitere Übung zur Sensiblisierung für verletzende Sprechakte ist im Downloadbereich enthalten.

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Verletzende Sprechakte Anregung – Empfehlung: Beobachten Sie einmal a) sich selbst und b) andere daraufhin, ob es bei Ihnen selbst oder bei anderen in einem Gespräch Signale oder Hinweise gibt für darin generierte Verletzungen oder Kränkungen. Bilden Sie sich Hypothesen, wie Sie selbst oder andere die dafür vermutlich maßgeblichen Aussagen interpretiert haben könnten. Gegebenenfalls gehen Sie dann noch einen Schritt weiter und sprechen das an: Wenn Sie selbst gekränkt oder verletzt sind, wie haben Sie die dafür relevante Äußerung verstanden oder interpretiert? Fragen Sie nach, wie es gemeint war. Wenn andere gekränkt oder verletzt erscheinen: Fragen Sie nach, ob Ihre These zutrifft, die Person sei gekränkt oder verletzt, und wenn ja, welche Äußerung sie gegebenenfalls entsprechend interpretiert hat. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

2.2 Sich selbst als Mitspieler in Sprachspielen beobachten und das für Veränderungen nutzen Fallbeispiel aus einer Supervision: Ein Supervisand berichtet von den Klagen einer 29-jährigen Klientin über ihre Familie. Für diese müsse sie ein hohes Maß an Verantwortung tragen. Der Vater war früh verstorben, die Mutter danach mit vier Kindern allein. Die Mutter habe die Kinder vernachlässigt und sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. Sie selbst sehe sich bis heute gezwungen, für ihre diesbezüglich auch noch undankbaren Geschwister Sorge zu tragen. Es habe heftige Streitereien zwischen den Geschwistern gegeben bis hin zu Prügeleien. Der Therapeut führt die diversen aktuellen Symptome der Patientin vor diesem Hintergrund auf einen »Zustand der Überforderung durch zu viel Familienverantwortung« zurück und leitet daraus die Notwendigkeit ab, die Klientin müsse aus dieser Rolle aussteigen. Die Klientin wehrte sich gegen diesen Lösungsansatz. Sie appellierte an den Therapeuten: »Helfen Sie mir – aber nicht mit diesem Ansatz!« Mit Hilfe der Supervision beobachtete sich der Therapeut in diesem Sinne selbst dabei, wie und mit welchen Sprachfiguren

Sich selbst als Mitspieler in Sprachspielen beobachten und das für Veränderungen nutzen

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er der Klientin seine Ideen präsentiert hatte. Seine Erkenntnis dabei: Angesichts der offensichtlichen Ambivalenz der Patientin zwischen Selbst- und Familienfürsorge waren Beiträge von ihm einseitige Botschaften zur Förderung der Selbstfürsorge. Die Patientin vertrat demgegenüber stets die Notwendigkeit der Familienfürsorge. Die Lösung bestand dann darin, dass er sich gegenüber der Patientin zu seiner »Selbstfürsorge-Einseitigkeit« bekannte und zugestand, dass er die Bedeutung der Familienfürsorge verkannt habe. Er machte sich nun selbst zum Vertreter beider Seiten, um sie mit der Patientin zusammen gleichermaßen zu würdigen und durchzuspielen. Das entspannte ihn, die Klientin und die Beziehung zwischen beiden.

Wir sind immer in Sprachspiele verstrickt. Sobald ein Gespräch beginnt, startet ein Sprachspiel mit darin enthaltenen Sprecher- und Hörerrollen. Das gilt auch für therapeutische oder beraterische Sprachspiele mit den darin typischerweise verwendeten Sichtweisen und Begriffen. Therapeuten sind in ihrer Rolle klärungsund lösungsorientiert, öffnen neue Optionen, deuten Verhalten positiv und verwenden therapietypische Begriffe wie Ressource, Unbewusstes, Selbstwert, Vermeidungsverhalten, Schema, Ambivalenz, Konflikt, Respekt. In diesem Abschnitt geht es weniger um die – sonst primäre – Frage, wie nützlich oder brauchbar diese Konzepte und die dazugehörigen Sprachspiele jeweils sind, sondern darum, die dazugehörigen Sprachspiele mit ihren Rollen und Wiederholungen als solche zu erkennen. Als generelle Hypothese lässt sich sagen: Aus erkannten Sprachspielen lässt sich aussteigen, in nicht erkannten bleibt man gefangen. Wir befinden uns damit auf der Ebene der Meta-Klartext-Klarheit. Jetzt geht es nicht darum, klar und verständlich zu sprechen oder Gesprochenes mit Klartext zu erfassen und zu verändern. Es geht darum, die Eigenlogik aktuell stattfindender Sprachspiele zu »entdecken«, in denen wir selbst aktiv mitspielen.

? trifft ? – Fragezeichen trifft Fragezeichen: Ein 26-jähriger Patient (Sohn aus Kroatien eingewanderter Eltern, derzeit arbeitslos, allein lebend) kommt von sich aus zur Therapie und berichtet insoweit informativ über Aspekte seines Lebens, mit denen er unzufrieden ist (derzeitige Wohnsituation, unklare berufliche Perspektive, schwierige Mitmenschen). Auf weitergehende Fragen des Therapeuten danach, welche Ziele er für die Therapie oder welche Wünsche er an andere oder für sein zukünftiges Leben habe sowie Fragen nach einer differenzierteren Beschreibung seines inneren Erlebens antwortet er mit einem Schulterzucken und einem »Ich weiß nicht«. Diese Konstellation wird für den Therapeuten schwierig, da er offensichtlich den Auftrag erhält, sich um die Leiden des Patienten zu kümmern, dann aber keinerlei Hinweis bekommt, in welche Richtung er arbeiten könne. Schließlich »leidet« der Therapeut an dieser sprachlichen Interaktion bzw. diesem Sprachspiel. Das ändert sich, als er sich dieses aus einer Metaperspektive ansieht und feststellt, dass das therapeutische Gespräch einer »Symmetrie der Fragezeichen« folgt: Er weiß

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Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

nicht, was und wohin der Patient will, und stellt dazu Fragen. Der Klient sagt, er wisse das auch nicht und antwortet insofern ebenfalls mit einem »Fragezeichen«. In Kurzform: »? trifft?« Das hilft ihm, aus diesem Muster auszusteigen und seine eigenen »?« durch Aussagen (»!«) zu ersetzen. Er stellt weiter Fragen zum aktuellen und früheren Lebenskontext des Patienten (worüber dieser Auskunft gibt) und teilt dann transparent in Aussageform seine Hypothesen mit, die er sich daraus über den Patienten gebildet hat. Dieser ist mit dem Vorgehen explizit einverstanden, zumal es ihm überlassen bleibt, ob und wie er das seinerseits verbal oder nonverbal kommentiert. Das führte dazu, dass auch der Patient mit Aussagen (»!«) antwortete im Sinne von expliziten Bestätigungen oder Verwerfungen der ihm präsentierten Hypothesen. Ein Beispiel: Der Patient hatte erzählt, dass er als Kind und Jugendlicher oft genau das nicht bekommen habe, was er sich explizit gewünscht hatte. Der Hypothese des Therapeuten, dass er dabei gelernt habe, am besten nichts mehr zu wünschen – auch nichts mehr von sich selbst – stimmt er explizit zu, weshalb es ja folgerichtig war, dass er auch in der Therapie keine Wünsche oder Ziele formulierte. Der Patient teilte später mit, dass ihm diese Art der Gespräche gutgetan habe.

ÜBUNG

Thema: Erkennen eigener Sprachspiele mit sich daraus ergebenden Musterunterbrechungen Fallbeispiel aus einer Supervision: Ein männlicher Therapeut berichtet von einer 62-j­ährigen Klientin, die wegen somatoformen Störungen zur Therapie gekommen war. Er hat mit ihr viele Problemanalysen mit daraus abgeleiteten Anregungen und Veränderungsinterventionen erarbeitet, darunter auch Familiengespräche mit dem Ehemann und den beiden erwachsenen Söhnen. Das Ergebnis war aber stets dasselbe: Die Klientin fand das alles ganz gut, änderte wenig und klagte weiterhin über Probleme und Symptome. Der Therapeut ist schließlich frustriert. Auf Sprachspielebene zeigt sich, dass sich schon früh ein konstantes Muster gebildet hat: In jeder Stunde beginnt die Patientin mit einem Bericht über ihr Leid und jedes Mal greift der Therapeut das auf und entwickelt Ideen, was die Klientin dabei in Denken, Verhalten oder auf der sozial-interaktiven Ebene ändern könnte. Das Sprachspiel »Patientin berichtet von Leid – Therapeut bietet Lösungen an« – ein übliches und in der Regel nützliches Grundmuster therapeutisch-beraterischer Sprachspiele – hat in diesem Fall auch und gerade bei Wiederholung dessen aus Sicht des Therapeuten keine wesentliche Veränderung erbracht. Erkennt man dieses Muster aus der Metaperspektive, kann man sich zusammen mit dem Kollegen überlegen: Was könnte er tun, um das Muster zu unterbrechen? Beschreibung der Übung: 1. Formulieren Sie einige Sätze, mit denen Sie der Klientin in einer für sie verständlichen Weise das dargestellte sprachliche Interaktionsmuster beschreiben könnten. Achten

Sich selbst als Mitspieler in Sprachspielen beobachten und das für Veränderungen nutzen

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Sie darauf, dass Sie dabei keiner Seite offen oder verdeckt die Schuld dafür geben: Lassen Sie in Ihren Formulierungen entweder beide als jeweils aktive Mitspieler in ihren Rollen oder beide als »Opfer« des Spiels erscheinen.

2. Finden Sie eine oder zwei Möglichkeiten, wie der Therapeut – mit oder ohne diesbezügliche Transparenz der Patientin gegenüber – dieses Muster unterbrechen könnte: Was könnte er Neues tun oder sagen? Was könnte er unterlassen?

Hier der weitere Verlauf und das Resultat dieser Supervision: Für den Therapeuten war es bereits eine Erleichterung, dieses Sprachspiel von außen zu sehen. Dazu dann hypothetisch durchgespielte Musterveränderungen für ihn waren: Selbstoffenbarung: Er konnte der Patientin mitteilen, wie es ihm damit ging, dass er bei ihr nicht wie erwünscht Veränderungen erzielte und dabei die Verantwortung für seine Frustration ganz zu sich zu nehmen und nicht subtil der Patientin zuzuschieben. Dann konnte er nach den Kriterien ihrer »Evaluation« der bisherigen Therapie und ihrer diesbezüglichen Bilanz fragen. Neue Bilanz erstellen: Er konnte für sich sammeln und notieren, was aus seiner Sicht in der Therapie gut gelaufen und bei der Patientin an positiven Veränderungen eingetreten war – wozu ihm auch einiges einfiel. Er konnte das explizit als seine nun nicht mehr nur negative Bilanz der Therapie in das Gespräch einbringen und sich unabhängig davon machen, ob die Patientin das bestätigte oder nicht. Veränderung einer Leitunterscheidung: Die dritte und weitergehende Idee war, dass er der weiteren Interaktion mit der Patientin nicht mehr die Leitunterscheidung »Symptombezogene Veränderung – Nichtveränderung« zugrunde legte, sondern zu jedem von ihr eingebrachten Thema ausschließlich erkundende, neugierige Fragen stellte bei Verzicht auf jede Idee, etwas verändern zu müssen.

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Der Blick auf Kommunikationssysteme und Sprachspiele

Der Supervisand berichtete später von einem positiven Effekt dieser Supervision für diese und andere Therapien – in diesem Fall vor allem den, dass er die Reduktion von patientenseitigen Klagen nicht mehr zum primären Maßstab bei der Bewertung seiner therapeutischen Kompetenzen machte im Sinne einer größeren Unabhängigkeit des Therapeuten von Klientenbewertungen. Er berichtete auch, dass die Gesamtbilanz der Therapie seitens der Klientin selbst trotz ihrer sich wiederholenden Klagen deutlich positiver war als seine eigene.

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Sich selbst als Mitspieler in einem Sprachspiel beobachten Anregung – Empfehlung: In dieser selbstreflexiven Übung geht es darum, dass Sie ein oder mehrere Gespräche von sich selbst – neutral, positiv oder als schwierig erlebt – daraufhin beobachten, was sich dabei an Aussagevarianten wiederholt (z. B. Sprachzüge wie sich positionierende oder erklärende Aussagen, Verteidigungen, Fragen stellen – Antworten geben) und welche Rollen die Teilnehmenden an diesem Gespräch jeweils haben. Wenn Sie Ideen dazu haben, geben Sie diesem Gespräch einen »Sprachspielnamen« und lassen Sie Ihrer Kreativität dabei freien Lauf. Sie können dazu drei Beobachtervarianten wählen: 1. Sie beobachten Ihr eigenes Gespräch aus einer Metaperspektive und führen die Übung allein durch. 2. Sie bitten Ihren Gesprächspartner, das zusammen mit Ihnen aus einer gemeinsamen Metaperspektive heraus zu tun (was dann nicht gelingt, wenn man auf der Metaebene dasselbe Spiel wiederholt). 3. Sie bitten einen Außenstehenden, dem Sie und die anderen Beteiligten in dieser Hinsicht vertrauen, um eine zeitlich begrenzte Beobachtung des Gespräches und dann darum, das so beobachtete Gespräch hinsichtlich Musterwiederholungen und Rollen zu beschreiben und dem Spiel einen Namen zu geben. Lassen Sie sich überraschen, ob mit dieser Metaperspektive allein schon Ideen einhergehen, wer einmal was anders machen könnte. Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

3  Meta-Klartext-Klarheit: Macht und Sprache

Die Meta-Klartext-Klarheit-Perspektive haben wir nun mehrfach eingenommen. Wir nutzen sie abschließend noch einmal zur Reflexion von Machtstrukturen in Gesprächen.

Abbildung 16: Macht und Sprache

Die folgenden Fallvignetten bringen aus Sicht des Autors Machtpositionen zum Ausdruck. Man kann das dann so sehen, dass bereits vorgegebene Machtverhältnisse sich in Sprechakten darstellen, oder so, dass bestimmte Sprachzüge und dabei verwendete Begriffe soziale Machtpositionen generieren. (Wir werden diese Beispiele im Übungsteil dieses Abschnitts noch mal aufgreifen). Ein Therapeut sagt, dass die Körpersymptome des Patienten, der diese selbst auf eine noch nicht diagnostizierte organische Krankheit zurückführt, Hinweiszeichen auf psychischen Stress bzw. noch unverarbeitete innere Konflikte sind. Mutter und Vater meinen es gut mit ihrem 17-jährigen Sohn, wenn sie von ihm immer wieder wissen wollen, wie es ihm geht und ob ihn etwas belaste. Der Sohn weiß um das dahinterliegende Motiv der Fürsorge, dennoch werden genau diese Fragen für ihn zum (zusätzlichen) Problem. Eine junge Frau berichtet, sie sei mehrfach in Therapie gewesen. Zu ihrer Lebensgeschichte gehöre, dass ihr älterer Bruder ermordet worden sei. Was immer sie in den

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Meta-Klartext-Klarheit: Macht und Sprache

Therapien erzählt habe, alle hätten sich auf dieses Thema »gestürzt«. Ihr habe das nicht gutgetan. Der diesbezüglich erfahrene und erfolgreiche Therapeut erklärt seinem Patienten transparent, wie man dessen Probleme und Symptome psychologisch erklären und der Patient daher selbst etwas ändern könne. Der Patient ist zunächst froh, fühlt sich schließlich aber als Versager, weil er es nicht schafft, das im Therapieprozess umzusetzen.

Aus sozialkritisch-soziologischer Sicht sind Sprechakte Handlungen, in denen sich die Sprecher in sozialen Positionen präsentieren, damit die Beziehung zu anderen definieren und, so der Soziologe Bourdieu, »soziales Kapital« einfahren (siehe Lieb, 2020, Kapitel 3.2.13). Das hängt nicht notwendigerweise mit Machtintentionen zusammen, sondern spiegelt gesellschaftliche Verhältnisse unabhängig von persönlichen Motiven wider. Im Unterschied zur Machtausübung durch Besitz, Gewalt oder Unterdrückung bezeichnet Bourdieu die sprachliche Macht als eine »symbolische«. Macht in Gesprächen drückt sich zum einen in Rollen, Sitzpositionen, Kleidung oder Titeln aus und zum anderen in Wortwahl und Sprechweise. Sprache ist für uns primär ein Mittel der Verständigung jenseits von Machtverhältnissen. Die Perspektive auf Sprache als symbolischer Macht ist kein Gegensatz dazu, sondern eine wichtige Ergänzung. Auch in Therapie und Beratung gibt es gesellschaftlich vordefinierte Rollen mit Machtpositionen. Wenn dazu befugte oder verpflichtete Therapeuten Patienten Diagnosen »geben«, hat das eine andere Wirkung, als wenn das die dazu nicht offiziell befugten Patienten gegenüber Therapeuten tun. In der Therapie haben in aller Regel von Therapeuten in ihrer Expertenrolle präsentierte Problemerklärungen mit den darin enthaltenen Begriffen eine ganz andere Macht als das, was Patienten über sich oder Therapeuten sagen. Machtpositionen von Therapeutinnen und Beratern können in deren Innenleben durchaus mit einem Leiden an dieser ihnen zugeschriebenen Macht einhergehen. Insofern solche Machtkomponenten Auswirkungen auf die Beziehung, deren Erleben und auch auf das Ergebnis von Gesprächen haben, kann man die MetaKlartext-Klarheit-Perspektive auf Macht zweifach nutzen: (1) um sich für Machtverhältnisse und deren Auswirkung zu sensibilisieren und (2) um gegebenenfalls genau das in den verständigungsorientierten sprachlichen Dialog einzuspeisen. Es lässt sich dann z. B. darüber sprechen, wie es den Teilnehmenden im Hinblick auf Macht und Ohnmacht in der Beziehung geht – mit schlichten Fragen wie diesen: »Wie geht es Ihnen in Ihrer Rolle als Klient mit mir als Therapeut? Wie mit meiner Art, mit Ihnen zu sprechen, wie mit den Worten, die ich dabei verwende?« Um diese Chance zu nutzen, sollte man Machtpositionen und -verhalten nicht moralisch bewerten. Es gibt keine Gesellschaft ohne Machtstrukturen. Also gibt es auch keine Therapie, Beratung oder Supervision ohne Machtverhältnisse.

Meta-Klartext-Klarheit: Macht und Sprache

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Fallbeispiel symbolische Macht und Verständigung: In einem Seminar wird die Dozentin in ihrer Rolle und ihrer Kompetenz von allen Seminarteilnehmern anerkannt. Sie trägt ihre Ideen zum Konzept einer »radikal positiven Wertschätzung und Bewertung von Klientenverhaltensweisen« vor. Ein Teilnehmer, der in etlichen Verhaltensweisen von Patienten eher krankheitsbedingte Dysfunktionalitäten als Ressourcen sieht, hat Schwierigkeiten mit diesem Ansatz und bringt das durch kurze Statements oder kritische Fragen zum Ausdruck. Die Dozentin geht darauf ein und sagt, dass sie dem nicht zustimme und die Haltung des Teilnehmers gegenüber Patienten von einer diese nicht hinreichend würdigenden Position ausgehe. Daraufhin zieht sich dieser Teilnehmer innerlich zurück. Die Dozentin ist sensibel für diesen Vorgang und spricht ihn in der Pause an. Sie fragt, wie es ihm mit ihren Äußerungen gegangen sei und ob es Aspekte gebe, die er im kurzen Dialog vorher nicht hinreichend habe darstellen können. Daraus entwickelt sich ein konstruktiver Pausendialog und die Dozentin lädt den Teilnehmer ein, seine Inhalte noch einmal im Plenum vorzutragen – was dem Seminar insgesamt guttut. In diesem Fall war sich die Dozentin ihrer sozialen Macht bewusst und nutzte diese explizit zur Entwicklung eines wiederum verständigungsorientierten Dialoges.



ÜBUNG

Thema: Sensibilisierung für Sprache als symbolische Macht Beschreibung der Übung: In der folgenden Übung werden zwei der eingangs zitierten Fallvignetten aufgegriffen. In der linken Spalte wird die sprachliche Interaktion aufgeführt. Tragen Sie in die rechte Ihren Eindruck ein: (1) Wem könnten Sie welche Art von sozialer Macht zuschreiben? Wie drückt sie sich sprachlich aus? (2) Tragen Sie eine Frage ein, die ein Außenstehender, der das beobachtet, der »Ohnmachtsseite« oder jenen Personen, denen Sie hier Macht zuschreiben, stellen könnten, um die Machtverhältnisse selbst verständigungsorientiert »besprechbar« zu machen. Sprachliche Interaktion

Unterstellbare Machtpositionen

Ein Therapeut sagt, dass die Körpersymptome des Patienten, der diese selbst auf eine noch nicht diagnostizierte organische Krankheit zurückführt, Hinweiszeichen auf psychischen Stress bzw. auf noch unverarbeitete innere Konflikte sind.

Machtinterpretation:

Verständigungsorientiere Frage:

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Meta-Klartext-Klarheit: Macht und Sprache

Sprachliche Interaktion

Unterstellbare Machtpositionen

Mutter und Vater meinen es gut mit ihrem 17-jährigen Sohn, wenn sie von ihm immer wieder wissen wollen, wie es ihm geht und ob ihn etwas belaste. Der Sohn weiß um das dahinterliegende Motiv der Fürsorge, dennoch werden genau diese Fragen für ihn zum (zusätzlichen) Problem.

Machtinterpretation:

Verständigungsorientiere Frage:

SELBSTBEOBACHTUNG UND SELBSTREFLEXION

Thema: Selbst- und Fremdbeobachtung von Sprache als symbolische Macht Anregung – Empfehlung: Beobachten Sie ein Gespräch – privat, beruflich oder in den Medien – daraufhin, ob Sie darin Merkmale sprachlich-symbolischer Macht identifizieren können. Mögliche Beobachtungseinheiten könnten sein: Jemand spricht aus einer »gewichtigen« Rolle heraus und es ist offensichtlich, dass andere in anderen Rollen dem nicht oder nicht ohne Konsequenzen widersprechen können; es werden soziale Positionen markiert, die einen Unterschied markieren (»In meiner Rolle als … muss ich hier sagen …!«); es werden Konzepte oder Positionen in einem Sprachduktus vorgetragen, die einen Widerspruch schwierig bis riskant machen. Ob die Auswirkungen dessen für die Sprecher oder die Zuhörer neutral, positiv oder negativ sind, korreliert nicht mit der Frage, ob es dabei um sprachlich-symbolische Macht geht. Wenn Sie selbst Teilnehmerin des Gespräches sind oder sich vorstellen, Sie wären das (in welcher Rolle auch immer), wie könnten Sie diese Machtverhältnisse gegebenenfalls ansprechen? Was könnten oder würden Sie wem wie sagen? Ihre Ernte – Ihre Erkenntnis aus dieser Übung:

Literatur Bourdieu, P. (2005). Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller Universitäts-Verlagsbuchhandlung. Butler, J. (1997). Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gadamer, H.-G. (1960/1990). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 1. Tübingen: Mohr Siebeck. Hall, E. T., Hall, M. R. (1990). Understanding cultural differences. Yarmouth: Maine. Lieb, H. (2020). Werkzeug Sprache in Therapie, Beratung und Supervision. Göttingen: Vanden­hoeck & Ruprecht. Schulz von Thun, F. (1981). Miteinander reden. Störungen und Klärungen. Psychologie der zwischenmenschlichen Kommunikation. Reinbek: Rowohlt. White, M., Epston, D. (2013). Die Zähmung der Monster. Der narrative Ansatz in der Familientherapie (7. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer Verlag.

Übersicht zum Downloadbereich

Weitere Texte und Materialien zu diesem Buch sind im Downloadbereich der Verlags-­ Website enthalten: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/werkzeug_sprache_arbeitsbuch

Teil A: Weitere praktische und Selbstreflexionsübungen Zu jedem der in Teil II behandelten Themen werden im Buch Fallbeispiele, praktische und Übungen zur Selbstreflexion vorgestellt. Zu einigen Themen sind unter derselben Überschrift wie im Buch weitere Übungen im Downloadbereich präsentiert. In dem Fall ist das an entsprechender Stelle im Buch angegeben.

Teil B: Weitere Themenbereiche mit Beispieltext, Theorie, Fallbeispielen und praktischen und Selbstreflexionsübungen Es werden zu neun weiteren sprachrelevanten Themen in derselben Weise und Ausführlichkeit wie hier im Buch in Teil II jeweils Textbeispiele, Theorie, Fallbeispiele, und praktische sowie Selbstreflexionsübungen vorgestellt. Die dabei behandelten Themen sind: Die traditionelle Perspektive: hörende, fragende, sprechende Personen Zuhören, hinhören, nachfragen Ȥ Wie ausgesprochene und unausgesprochene Subjekt(de-)konstituierungen erkennen und das nutzen? Ȥ »Jetzt mach doch!« – Wie den Verbmodus Imperativ erkennen und damit umgehen? Ȥ »Der ist doch irre!« – Wie verdichtete Beschreibungen, Bewertungen und Erklärungen erkennen und sie dann verdünnen? Ȥ »Das hört sich jetzt vielleicht blöd an …« – Wie sich für Selbstkommentare und deren Auswirkung sensibilisieren? Ȥ »Na ja – na gut – nicht wahr?« – Wie hellhörig für Sprachfloskeln und deren Bedeutung werden? Ȥ Beredtes Schweigen – Wie relevantes Schweigen identifizieren und damit umgehen?

Übersicht zum Downloadbereich

Der Blick auf den Sprecher und das Sagen Ȥ Sprachliche Geburtshilfe – Wie Schwersagbares in Sprache bringen? Ȥ »Sagen Sie es doch mal so« – Beobachtete Sprachspiele anderer verändern Meta-Klartext-Klarheit Ȥ Wie in kondensierten Sätzen ganze Weltbilder erkennen und erforschen?

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Download des Zusatzmaterials unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/sprachwerkzeug-arbeitsbuch Code für Downloadmaterial: 2HdrdmFV Code für Videos: ViHL16