Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II: Das störungsspezifische Wissen 9783666462566, 9783525462560, 9783647462561

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Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II: Das störungsspezifische Wissen
 9783666462566, 9783525462560, 9783647462561

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Unseren Eltern Marianne und Otto (†) Schweitzer, Elisabeth (†) und Gunnar von Schlippe.

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Jochen Schweitzer Arist von Schlippe

Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II Das störungsspezifische Wissen

Mit 13 Abbildungen und 29 Tabellen

6., unveränderte Auflage

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-46256-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Bindung: H Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten: Grundsätzliche Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Krankheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Klassifikation und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.3 Krankheitsursachen, Risikofaktoren, Schutzfaktoren . . . . . 29 1.4 Therapiekonzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.5 Indikationen und Kontraindikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.6 Evidenzbasierung: Wie wirksam ist systemische Therapie? 36 1.7 Kernkompetenzen systemischer Therapie . . . . . . . . . . . . . . 39 1.8 Systemische Therapie als Grundlagenverfahren . . . . . . . . . 41 2 Systemische Psychotherapie mit Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Schizophrene und schizoaffektive Psychosen – Sinnvoll kommunizieren über Unverständliches . . . . . . . . 2.2 Depression – Vom Nichtkönnen und vom Nichtwollen . . 2.3 Angst und Panik – Die gerade richtige Dosis Beziehungsfreiraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwänge – Neue Rituale für alte Kontrollkämpfe . . . . . . . . . 2.5 Posttraumatische Belastungsstörungen – Sicherheit gemeinsam wieder herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Borderline-Syndrom und andere Persönlichkeitsstörungen – Wenn Gefühle und Bindungsstile (allzu) schnell wechseln . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Somatisierungsstörungen – Schmerz als Beziehungsinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Essstörungen: Anorexie, Bulimie und Adipositas – Wenn die Liebe nicht mehr durch den Magen geht . . . . . . 2.9 Süchte: Alkohol und illegale Drogen – Von Kontrollversuchen zur Sehn-Sucht . . . . . . . . . . . . . . . .

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43 43 68 88 107 119

137 154 166 191

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Inhalt

2.10 Sexuelle Störungen: Funktionsstörungen, Unlust, Identitätszweifel – Wege aus dem allzu Vertrauten . . . . . . . 212 2.11 Suizidale Krisen – Die Apokalypse als Vorletztes . . . . . . . . 225 3 Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie . . . . . . . . . . . . . 3.1 Kinderfreundliche Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Fütter-, Schlaf- und Schreistörungen (Regulationsstörungen) – Wie Babys ihre Eltern stimulieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Entwicklungsstörungen: Legasthenie, AspergerSyndrom – Einzigartige Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Einnässen und Einkoten – Die Dinge zum richtigen Zeitpunkt herauslassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Aufmerksamkeitsdefizit- oder hyperkinetische Störung – Wo die wilden Kerle wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Schulverweigerung und Mobbing – Wege und Umwege zur Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Dissozialität, Delinquenz, Gewalt – Regelverletzung als Gemeinschaftsleistung . . . . . . . . . . . . .

237 237

4 Systemische Familienmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Körperliche Krankheit und sozialer Kontext . . . . . . . . . . . . 4.2 Brustkrebs – Entlastung und Verständnis . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Nierentransplantation – Einen Körperteil schenken . . . . . 4.4 Unerfüllter Kinderwunsch – Wenn das Wunschkind nicht kommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen – Hängemattentag für die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Asthma im Kindesalter – Der »Luftiku(r)s« . . . . . . . . . . . . 4.7 Juveniler Diabetes – Die »Süßmuts«. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335 335 342 352

245 258 272 280 300 315

364 376 391 400

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

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An diesem Buch haben mitgearbeitet:

Volkmar Aderhold, Hamburg Hansruedi Ambühl, Bern Eia Asen, London Ulrike Brandenburg, Aachen Barbara Bräutigam, Stralsund Andrea Ebbecke-Nohlen, Heidelberg Lothar Eder, Mannheim Karin Egidi, Bochum Brigitte Gemeinhardt, Hamburg Michael Grabbe, Melle Kurt Hahn, Heidelberg Winfried Häuser, Saarbrücken Nadja Hirschenberger, Mannheim Heiko Kilian, Bruchsal Rudolf Klein, Merzig Friedebert Kröger, Schwäbisch-Hall Hans Lieb, Edenkoben Barbara Maier, Zürich

Claudia Mory, Leipzig Matthias Ochs, Ludwigshafen Cornelia Oestereich, Wunstorf Barbara Ollefs, Osnabrück Günter Reich, Göttingen Mechthild Reinhard, Siedelsbrunn Rüdiger Retzlaff, Heidelberg Wilhelm Rotthaus, Bergheim Andreas Schindler, Hamburg Maria Seidel-Wiesel, Frankfurt Ingo Spitczok von Brisinski, Viersen Ruthard Stachowske, Lüneburg Heike Stammer, Heidelberg Stephan Theiling, Osnabrück Consolata Thiel-Bonney, Heidelberg Andreas Wiefel, Berlin Tewes Wischmann, Heidelberg Bettina Wittmund, Nordhausen

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Vorwort

Gut zehn Jahre nach unserem »Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung« von 1996 erscheint jetzt der zweite Teil zum störungsspezifischen Wissen der systemischen Therapie. Er will die allgemeinen theoretischen und therapietechnischen Grundlagen der systemischen Therapie für die Therapie, Beratung und Begleitung zahlreicher einzelner psychischer und körperlicher Störungen nutzbar machen. Dafür haben wir etwas getan, was in der systemischen Therapie zumindest im deutschen Sprachraum bislang relativ wenig Tradition hat. Wir haben das klinisch relevante Praxiswissen der systemischen Therapie nach Störungsbildern veranschaulicht – nicht wie gewohnt nach Interventionsansätzen, Settings oder kritischen Lebenslagen. Ein solches Vorgehen ist dann sinnvoll, wenn man aufzeigen möchte, was genau die systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten leisten kann – im Gesundheitswesen und darüber hinaus überall dort, wo es um das Lösen von Problemen geht, denen Krankheitswert beigemessen wird. Im Gesundheitswesen, speziell in der Psychotherapie, der Psychiatrie, der Psychosomatik, der Medizinischen Psychologie und der Klinischen Psychologie, wird derzeit vorwiegend in Form von Störungsbildern gedacht. Dieses Denken gilt als Grundlage zur Weiterentwicklung von Forschung und Therapie. Die Störungsspezifität soll es erleichtern, klar nachvollziehbare Behandlungsleitlinien zu formulieren, den Glaubenskampf zwischen psychotherapeutischen Schulen zu überwinden und vielleicht sogar neurobiologische Nachweise der Wirksamkeit von Psychotherapie vorzulegen. Die systemische Therapie hat sich im deutschen Sprachraum nach 1980 unter dem Einfluss des konstruktivistischen Denkens weniger um die Beschreibung störungsspezifischer Ansätze gekümmert als zuvor in ihren Pionierjahren – und weniger, als das seither im angloamerikanischen und spanischen Sprachraum geschah. Das ergibt insofern Sinn, als systemische Therapie in ihrer Theorie

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Vorwort

wie in ihrer Praxis nicht in erster Linie an Störungsbildern orientiert ist. Ihre Stärke liegt vor allem darin, Gesundheitsstörungen als Teil schwieriger Lebenslagen und zwischenmenschlicher Beziehungen umfassend und schnell zu verstehen und sie durch die Gestaltung eines Kooperationskontextes mit gesundheitsförderlicheren Beziehungsmustern positiv zu beeinflussen. Eine Grundannahme systemischer Erkenntnistheorie ist, dass die Seele ihren Sitz nicht – oder zumindest nicht nur – im Körper oder im Gehirn hat, sondern auch zwischen den Menschen, in der Sprache und in der Art, wie sie Sprache verwenden und wie sie von der Sprache geformt werden. Diese Präferenz hat aber die Nebenwirkung, dass bislang nur wenig darüber nachzulesen ist, wie systemische Therapeuten eigentlich Menschen beraten und behandeln, die als Erwachsene mit Angst, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsreaktionen oder als Kinder mit Einnässen, unruhiger Überaktivität oder Lernproblemen zu ihnen kommen. Als Mitherausgeber einer der größten deutschsprachigen Psychotherapiezeitschriften »Psychotherapie im Dialog« haben wir oft bemerkt, dass in der systemischen Therapie – anders als zum Beispiel in der Verhaltenstherapie – die Namen bekannter Autoren nur selten mit einzelnen Störungsbildern assoziiert sind. Worüber aber nicht in bestimmten offiziellen Diskursen gesprochen und vor allem geschrieben wird, das existiert in den Zeiten der evidenzbasierten Leitlinienmedizin offiziell auch gar nicht. Dem steht gegenüber, dass viele systemisch ausgebildete Ärzte, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, Psychologen, Klinikseelsorger und Fachtherapeuten erfolgreich im Gesundheitswesen arbeiten – in Akutund Rehabilitationskliniken, in Psychiatrie und Psychosomatik, in Psychotherapiepraxen und Beratungsstellen. Mindestens 15 % der 11.000 approbierten Psychologischen Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichentherapeuten bezeichnen sich derzeit (2006) als systemische Therapeuten. Und außerhalb des kassenfinanzierten Systems arbeitet eine große Zahl systemischer Berater in Privatpraxen, Beratungsstellen und sozialen Diensten ebenfalls mit erkrankten Menschen. In vielen öffentlichen Beschreibungen taucht jedoch deren systemtherapeutische Orientierung nicht auf, sondern muss sich aus berufspolitischen Gründen noch unter tiefenpsychologischem oder verhaltenstherapeutischem Etikett darbieten – während systemische Therapie in

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Vorwort

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anderen Ländern wie den USA, Großbritannien, Skandinavien, der Schweiz und Österreich ein gleichberechtigt anerkanntes Richtlinienverfahren ist. Uns hat die Herausforderung gereizt, das vorhandene störungsspezifische Wissen der systemischen Therapie sichtbar zu machen. Dazu haben wir in diesem Buch zunächst einmal grundsätzliche Gedanken zur systemischen Therapie und der Behandlung von Krankheiten dargelegt. Anschließend haben wir das störungsspezifische Wissen der systemischen Therapie gesichtet und – wie schon im ersten Lehrbuch – anhand vieler Fallbeispiele von uns selbst, von Kollegen oder aus publizierten Falldarstellungen anschaulich gemacht. Dabei haben wir auch immer wieder Blicke in die Praxis und in die Publikationen anderer Therapieschulen geworfen, wo uns dies interessante Ergänzungen für die systemtherapeutische Arbeit versprach. Wir haben versucht, unverständlichen Expertenslang so weit wie möglich zu vermeiden, und hoffen, dass sich das Buch von Menschen unterschiedlichster Vorbildungen und in unterschiedlichen Arbeitsfeldern ähnlich gut lesen lässt. Die Störungsmetapher trägt ein Risiko in sich: Sie kann den, der sie verwendet, zu einer Fokussierung auf defizitäre Konstellationen einladen. Sie kann ihn zu einem vertrauten, aber doch problematischen Denken verführen, eine Störung als Defekt oder Defizit im Individuum zu lokalisieren. Sie kann dazu verleiten, eine solche Störung unabhängig von der Beschreibung eines Beobachters für eine Tatsache an sich zu halten. Wir gehen in unseren Kapiteln in der Beschreibung der jeweiligen Störungsbilder durchaus in dieses Denken hinein, versuchen aber – hoffentlich erfolgreich –, die Leserinnen und Leser im weiteren Verlauf auch wieder hinauszuführen. Unser israelischer Kollege und Freund Haim Omer hat uns nach der Lektüre des Kapitels über Angst und Panik eine Rückmeldung gegeben, die die Stimmungslage vieler Leser widerspiegeln dürfte: »Es war mir anfangs befremdlich, wie das Kapitel anfängt, mit allen diesen gewichtigen psychopathologischen Wörtern. Aber etwas sehr Interessantes wurde dadurch erreicht. Das Kapitel beginnt ja mit einer Verdinglichung von Angstproblemen, wie die Psychopathologie es üblicherweise tut. Nach und nach aber wird das Problem verflüssigt, wie Systemiker und Narrative Therapie es tun. Sogar die systemischen Erklärungen am Anfang sehen eher wie klassische psychopathologische Erklärungen aus (z. B. die systemische Erklärung für Agoraphobie als Stabilisator der Beziehung). Es ist, als ob im Laufe des Kapitels das Konzept der Angst denselben Prozess durchläuft wie in einer systemischen Therapie die Konstruktion der Angst des Klienten. Vielleicht sollte dieses

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Vorwort

Verfahren explizit gemacht werden? Das wäre vielleicht eine schöne Art, die Polarität des Kapitels (vielleicht des Buches) zu benutzen. Es ist, als ob man sagte: ›Sieh, sogar wir »Therapeuten-Wissenschaftler« haben keinen anderen Weg, als mit solchen konkreten Auffassungen zu beginnen! Aber das ist bloß der Anfang. Wir sind ja darauf aus, dieser Konkretisierung zu entwischen!‹ Die Konstruktion des Kapitels wird dann dialektisch. Mit so einem Buch würde ich als Leser gut spielen können. Aber wenn der Übergang nicht thematisiert wird, schlägt die Polarität des Kapitels (zwischen Wissenschaft und Narrativ) fehl.«

Wir haben versucht, das Risiko eines solchen Fehlschlagens zu minimieren, indem wir in der Regel in jedem Kapitel a) mit Störungsbildern beginnen und mit dieser Schreibweise betonen, dass es bei allen Beschreibungen von Symptomen, Diagnosen, Prognosen und Prävalenzen um Bilder von Störungen geht, nicht um Störungen an sich. b) mit Beziehungsmustern weitergehen, um darauf zu verweisen, dass sich um ein Phänomen, das als Störung beschrieben worden ist, Beziehungen konstellieren, die in spezifischer, selbstorganisierter Weise durch die Störung entstanden sind und sie gleichzeitig mit konstituieren. Auch hier wollen wir die Gefahr kausalistischer Kurzschlüsse durch die Überschrift minimieren. c) und schließlich mit Entstörungen, den therapeutischen Interventionen, enden und damit, wie wir meinen, angenehme Assoziationen an systemische Komplexitätsreduktion, an ähnliche Verben wie »entwirren«, »entfalten«, »entwickeln« entstehen lassen. Bei den im Buch enthaltenen zahlreichen Fallbeispielen steht die Spezifität der Patientenschicksale im Hintergrund. Wir haben dafür gesorgt, dass entweder die Zustimmung zur Veröffentlichung durch die Betroffenen vorliegt und/oder haben die Fallbeispiele so radikal anonymisiert, dass eine Identifizierung unmöglich ist. Wie im ersten Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung haben wir auch dieses Mal zwischen den unterschiedlichen Formen der männlichen und weiblichen Schreibweisen gewechselt, um das Thema weder durch umständliche Schreibweisen ständig zu einem Leserärgernis zu machen, noch durch eine durchgehende Form die andere zu unterdrücken. Wir haben dieses Buch aus einem Guss schreiben wollen und daher alle Kapitel zu zweit verfasst. Allerdings haben wir uns der Unterstüt-

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Vorwort

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zung vieler befreundeter Kolleginnen und Kollegen versichert, die uns eigene Textteile und Fallgeschichten zur Verfügung stellten und unsere Texte kritisierten und überarbeiteten. Ohne sie wäre das Buch nicht in dieser Breite zustande gekommen. Wir bedanken uns sehr für ihre Unterstützung. Herrn cand. oec. Mirko Zwack danken wir für die Erstellung des Registers. Dieses Buch erscheint fast zeitgleich mit einer Expertise und zwei Aufsätzen zur »Wirksamkeit der systemischen Therapie/Familientherapie« (von Sydow et al. 2006a, 2006b, 2006c). Diese Arbeiten zeigen detailliert, welche teilweise sehr guten empirischen Wirksamkeitsbelege die systemische Therapie/Familientherapie zu zahlreichen, insbesondere schweren Störungsbildern vorlegt. Unser Buch versteht sich als das therapie- und beratungspraktische Geschwister dazu. Wenn es damit gelingt, vielen Fachleuten und Studenten – und vielleicht auch zahlreichen Patienten und ihren Angehörigen – zu verdeutlichen, was man mit systemischer Therapie bei der zielgenauen Behandlung und Beratung erkrankter Menschen alles anfangen kann, werden wir zufrieden sein. Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

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Systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten: Grundsätzliche Überlegungen

In den Diskurs der unterschiedlichen psychotherapeutischen Ansätze über deren Krankheits- und Behandlungskonzepte bringt die systemische Psychotherapie einige pointierte Positionen ein, auf denen auch unser Buch aufbaut. Es wird sich mit verschiedenen klinischen Arbeitsfeldern befassen, deren gemeinsamer Nenner die Orientierung an der Behandlung von Krankheit ist. In unserer Kultur ist Krankheit ein hoch elaboriertes Konzept, das einen großen Phänomenbereich umspannt. Besonders interessant und häufig diskutiert ist dabei das Verständnis der als psychisch, psychiatrisch und psychosomatisch bezeichneten Erkrankungen. Das folgende Kapitel wird sich damit auseinandersetzen.

1.1 Krankheitsverständnis Ein besonderer Beitrag eines systemischen Verständnisses von Krankheit ist es, diese nicht als ein persönliches Merkmal anzusehen, das ein einzelner Mensch für sich allein hat (»Ich habe ein Magengeschwür«), mit dem er gar im Sinne einer dominierenden Eigenschaft identisch ist (»Ich bin ein Angstneurotiker«, »Ich bin ein Asthmatiker«) oder auf das er von anderen reduziert werden kann (»Die Fraktur in Zimmer 13«). Vielmehr wird eine Krankheit als Teil einer größeren, je nach Perspektive als störend oder auch gestört erlebten Interaktion angesehen, an der eine oder mehrere Personen so sehr leiden, dass ihnen Krankheitswert zugeschrieben wird.

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Systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten

Krankheit auf verschiedenen Systemebenen: Krank sein – sich krank fühlen – sich krank zeigen Solche krankheitsbezogenen Interaktionen können sich auf mehreren Systemebenen zugleich abspielen: – Auf der biologischen Ebene interagieren Gene, Hormone, Nervensignale, Bakterien oder andere Elemente in einer Weise miteinander, die von Laien oder Experten als »krankhaft« diagnostiziert werden kann. Diese Ebene wird auch oft als das »gelebte Leben« bezeichnet. – Auf der psychischen Ebene des »erlebten Lebens« nimmt ein Mensch zahlreiche Gefühle (»Mir ist übel«, »Mir tut es weh«), Gedanken (»Mein Herz schlägt eigenartig schnell«), Selbstgespräche (»Ich sollte nicht immer …«), erinnerte Träume, Problemtrancezustände (»Mir gelingt nie etwas«) und Lösungstrancezustände wahr (»Ich werde es schwungvoll anpacken«). Das Ergebnis dieser Interaktionen verschiedener, oft auch widersprüchlicher Gedanken und Gefühle kann das Selbsterleben sein, krank zu sein. – Auf der sozialen Ebene des »erzählten Lebens« wird aus der Fülle dieser biologischen und psychischen Prozesse nur derjenige Ausschnitt sichtbar, der in Kommunikationen einfließt. Dazu gehört alles, was dieser Mensch verbal in Gesprächen, Reden oder Briefen sowie nonverbal in Mienenspielen und Gesten ausdrückt – genauer gesagt: alles, was Laienbeobachter und medizinische Fachleute mit und ohne diagnostische Geräte dazu festzustellen vermögen. In der amerikanischen Medizinsoziologie gibt es drei unterschiedliche Übersetzungen des deutschen Begriffs Krankheit, die diese drei Systemebenen widerspiegeln: – »Disease« als die biomedizinisch objektivierbare Krankheit, – »Illness« als die erlebte und gefühlte Krankheit, – »Sickness« als die von anderen wahrgenommene und zugestandene Krankheit. In diesen drei Systemebenen interagieren also sehr unterschiedliche Elementtypen: körperliche Prozesse im biologischen, Gedanken und Gefühle im psychischen, Kommunikationen im sozialen System. In der Sprache von Niklas Luhmann (1984; siehe hierzu auch Eder 2006) ist jede dieser drei Systemebenen »operational geschlossen«: Sie können die

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Krankheitsverständnis

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in ihnen ablaufenden Vorgänge nur mit ihren eigenen Operationen ausführen und sich darin nicht von außen steuern lassen. Sie stellen füreinander »Umwelten« dar: In jeder Systemebene wird nur ein kleiner Teil der Prozesse in den beiden anderen Systemebenen als bedeutsam erkannt und verarbeitet. Veränderungen auf jeder dieser Systemebenen vermögen Veränderungen auf jeder anderen Systemebene sehr wohl anzuregen, aber nicht gezielt zu steuern. Betrachten wir alle drei Systemebenen gemeinsam, so nennen wir dies ein biopsychosoziales Krankheitsverständnis. Ob einer Störung auf einer dieser drei Systemebenen Krankheitswert zugeschrieben wird – ab welcher Intensität, welchem Grenzwert, welcher Symptomkombination, welcher Dauer –, ist oft nicht naturgegeben, sondern Ergebnis sozialer Aushandlung. Häufig kann auch die Frage, wem – welchem Mitglied eines Problemsystems – diese Störung als Krankheit zugeschrieben wird, erst in sozialer Aushandlung geklärt werden. Krankheiten sind somit auch – aber keinesfalls nur – als soziale Konstruktionen anzusehen, also als Ergebnisse gesellschaftlicher Entscheidungen darüber, was als krank angesehen werden soll und was nicht. Wie jede Psychotherapie spielt sich auch systemische Psychotherapie »nur« auf der Ebene der Kommunikation ab – der Kommunikation zwischen Patient und Therapeut oder bei Mehrpersonentherapien auch zwischen weiteren Menschen. Wie jede Psychotherapie geht sie davon aus, dass veränderte Kommunikation Veränderungen im psychischen und biologischen System zwar nicht unmittelbar umsteuern, aber doch in einer positiven Weise anzuregen vermag. Gedanken und Gefühle lassen sich wie Neurotransmitter und Hormone durch soziale Interventionen von außen nicht direkt, aber indirekt beeinflussen. Psychische Krankheiten können in dem Ausmaß erfolgreich als Kommunikationsprobleme behandelt werden, wie sie als Krankheiten zu existieren aufhören, wenn keine Kommunikation mehr über sie stattfindet. Wenn etwa ein Mensch eine krankheitswertige Störung (eine Phobie, eine Manie, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung) über längere Zeit hinweg nicht mehr zeigt und niemand, insbesondere der betroffene Mensch selbst, sie mehr bemerkt – dann wird ein wesentlicher therapeutischer Erfolg erreicht sein. Die Frage, ob er oder sie diese Krankheit noch »hat«, verliert dann schnell an Bedeutsamkeit.

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Systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten

Psychische Krankheiten als sprachliche Konstruktionen: Vorzüge und Nachteile des Krankheitsbegriffs Krankheit wird gerade im Bereich psychischer Phänomene als soziale Konstruktion erkennbar. Hier sind sich Menschen häufiger als etwa bei chirurgischen, orthopädischen oder neurologischen Krankheiten unsicher, ob der oder die Betroffene wirklich krank ist, ob er nur so tut oder ob er sich etwa von seiner Umwelt zu einem Verhalten veranlasst sieht, das als krank erscheint, aber vielleicht sogar eine besonders gute Form der Anpassung an einen verrückten Kontext darstellt. Letztere Auffassung wurde in der Frühzeit der systemischen Therapie zumindest für eine Zeit sehr radikal vertreten, nämlich dass alle Formen psychischer Erkrankungen als logische Anpassungen an ein abweichendes unlogisches Beziehungssystem anzusehen seien (Selvini Palazzoli et al. 1977). Die Verwendung des Begriffs der psychischen Krankheit stellt gegenüber seinen historischen Vorläufern im religiösen und moralischen Bereich, wie »Verhexung«, »Besessenheit«, »Strafe Gottes« oder »Verworfensein«, einen großen zivilisatorischen Fortschritt dar. Auch wenn man »Krankheit« als eine soziale Konstruktion ansieht, so erscheint sie uns doch als eine bewahrenswerte Form von Erfindung. Besonders gut erkennbar ist dieser Fortschritt in der Veränderung des gesellschaftlichen Status der Sucht nach der Übernahme des Krankheitskonzepts (Erbach u. Richelshagen 1989). Die Bezeichnung Krankheit bewahrt die Betroffenen vor exorzistischen Praktiken und Quälritualen, vor sozialer Abwertung und Ausgrenzung, vor Überforderung am Arbeitsplatz und in der Familie. Sie bietet im System moderner Gesundheitswesen zugleich eine Anspruchsgrundlage für die Finanzierung qualifizierter professioneller Hilfe. Freilich bergen Krankheitskonzepte auch erhebliche soziale Risiken in sich. Sie können kommunikativ sehr ausgeweitet und verhärtet werden durch die entdeckende Erfindung ständig neuer oder chronizitätsfördernder Krankheitskonzepte. Die Fixierung des Blicks auf das, was krank ist, kann im Sinne eines Tunnelblickes die Wahrnehmung durchaus vorhandener Ressourcen im Klientensystem blockieren. Ein großer Teil systemischer Therapiepraktiken besonders bei chronischen Erkrankungen widmet sich der Verflüssigung und Infragestellung solcher Krankheitskonzepte, vor allem dann, wenn diese eher als ein Teil des Problems denn

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Krankheitsverständnis

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als ein Teil der Lösung erscheinen. Umgekehrt kann jedoch die Einigung auf ein hartes Krankheitskonzept zuweilen gegen Schuldgefühle und Selbstüberlastung sichern, beispielsweise in Familien, deren Mitglieder sich mit psychosomatischen Hypothesen gegenseitig das Familienleben schwermachen. Indem wir Krankheit als Ergebnis sozialen Aushandelns bezeichnen, schließen wir uns einer bestimmten Denkrichtung an, die die Erzeugung vermeintlicher Wirklichkeiten durch sprachliche Prozesse in sozialen Zusammenhängen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Hier steht die systemische Therapie in der Tradition gesellschaftskritischer Überlegungen der Gemeindepsychologie und der frühen Verhaltenstherapie. Kernpunkte der damaligen Kritik (z. B. Keupp 1972; Keupp u. Zaumseil 1973; Szasz 1979) waren: – die Verwendung des Krankheitsbegriffs verführt dazu, Zusammenhänge zwischen seelischem Leid und gesellschaftlichen/sozialen Prozessen aus dem Blick zu verlieren; – pathologisierende Zuschreibungen setzen Prozesse selbsterfüllender Prophezeiungen in Gang; – soziale Phänomene werden auf organische oder seelische Vorgänge reduziert, die anschließend gemessen, beurteilt und kategorisiert werden. Dies ist eine Vermischung von Phänomenbereichen, entsprechend führt – eine fehlende Reflexion der Prämissen der Verwendung des Krankheitsbegriffs dazu, dass die soziologischen Vorgänge, die eine »identifizierte Person« im Sinne gesellschaftlich vorgegebener »dynamischer Rollenspiele« in eine Patientenkarriere hineinmanövrieren, systematisch ausgeblendet werden (Goffman 1972). Diese Debatte ist heute beinahe gänzlich verschwunden. Dies mag zum einen an der Einseitigkeit und Heftigkeit liegen, mit der antipsychiatrische Positionen in den 1960er bis 1980er Jahren verfochten worden waren: Alle menschlichen Probleme wurden der Gesellschaft zugeschrieben. Diese Position entzog sich weitgehend empirischer Überprüfung und emotionalisierte die Debatte. Die daraus hervorgehenden Handlungskonzepte waren vorwiegend Antikonzepte: Die Antipsychiatriebewegung war »durch eine fatale Ähnlichkeit mit dem, wogegen sie sich wendet, gekennzeichnet« (Szasz 1979, S. 65). Die Auflösung der Groß-

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Systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten

krankenhäuser allein löst noch keine seelischen Nöte und die Idealisierung des Wahnsinns als eine Form menschlicher Existenz, die wegen ihrer besonderen Authentizität geschätzt werden solle – wie etwa Laing es gefordert hatte –, bietet dem, der leidet, noch keine Möglichkeit, sein Leben auf neue Weise in die Hand zu nehmen. Andererseits wäre ohne diese Debatte der Strukturwandel der Psychiatrie in den Industrieländern ab 1960 kaum so vorangekommen. Die systemische Therapie hat zwar die Tradition einer gewissen Skepsis gegenüber der etikettierenden und festschreibenden Kraft von Diagnosen übernommen. Sie betrachtet diese aber im Sinne einer kooperativen und lösungsorientierten Therapiestrategie nicht mit einer Anti-, sondern einer Sowohl-als-auch-Haltung. Sie ergänzt die klassische Frage »Ist die Diagnose richtig oder falsch?« durch die Frage »Wem nutzt (schadet) die Diagnose wobei? Wozu passt sie?« Und je nach der Antwort auf diese Frage hilft sie Patienten, Angehörigen und Behandlern, für sich selbst jene Diagnosen zu präferieren, die ihnen die besten Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Krankheit und Beziehung: Grenzen störungsspezifischer Ursachenforschung Die frühe familientherapeutische Forschung war durch einen großen Optimismus geprägt, mit der Aufdeckung pathogener Beziehungsmuster glaubte man besonders in Familien den Schlüssel zu vielen psychischen und psychiatrischen Störungsbildern gefunden zu haben. Doch bereits 1972 konstatierte Olson das Scheitern der Versuche, die von Bateson et al. (1956) postulierten Zusammenhänge zwischen kommunikativen Doppelbindungsmustern und psychiatrischen Störungen empirisch zu belegen. Versuche, die von Minuchin et al. (1981) in Einzelfällen sehr überzeugend gezeigten Beispiele der Modulation psychosomatischer Symptomatiken in Abhängigkeit von der Familienkommunikation an größeren Stichproben aufzuzeigen, führten zu ähnlich ernüchternden Ergebnissen (z. B. für Depression: Reiter 1997; für asthmakranke Kinder: von Schlippe 1986). Heute kann man sagen, dass Versuche, spezifische Zuordnungen von sozialen Beziehungsmustern zu spezifischen Symptomen vorzunehmen, sich weitgehend als nicht sinnvoll herausgestellt haben. Zusammenhänge, die sich in familientherapeutischer Einzelfall-Rekonstruktion beein-

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Krankheitsverständnis

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druckend darstellen lassen, können in Studien mit größeren und unselektierten Stichproben praktisch nicht nachgewiesen werden. Nicht Homogenität, sondern Heterogenität bestimmt das Bild der Familiendynamiken bei den einzelnen Störungen: Familie macht nicht krank! Lineare Kausalbezüge zwischen kommunikativen Umgebungsbedingungen (z. B. Familieninteraktionen) und psychischen Störungen auf der Ebene von Störungsgruppen sollten nicht vorgenommen werden. Am Beispiel der Magersucht schreiben Selvini Palazzoli et al. zu dem hier thematisierten Wandel der Bilder in der systemischen Therapie: »Heute meinen wir nicht mehr, dass es darum geht, rigide Typologien des Familienspiels aufzuspüren. Ebenso wenig sind wir der Meinung, dass es etwas gibt wie den ›Persönlichkeitstypus‹ der ›Magersüchtigen‹ […] Schließlich sind wir auch nicht mehr der Meinung, dass es darum geht, ›die Familie der Magersüchtigen‹ zu erforschen […] es erscheint uns […] evident, dass die Suche […], die sich in jedem Einzelfall nachweisen ließe, ganz und gar unmöglich ist. Jeder Versuch, der Sache auf den Grund zu kommen, führt in eine zunehmende Komplexität […] Denn eine direkte Verbindung zwischen Symptom und Familie gibt es nicht« (1999, S. 104f.). Das Konzept der pathogenetischen Beziehungsmuster kann zudem als implizite Anklage an die Familie erlebt werden, »den Kranken krank gemacht zu haben« – eine schlechte Basis für eine gute Kooperation. Schließlich lassen sich bei allen komplexeren Störungen sowohl Risikoals auch salutogenetische Faktoren auf verschiedenen biopsychosozialen Ebenen empirisch nachweisen, die eine ausschließlich sozialsystemische (z. B. familiäre) Ursache der Krankheit als reduktionistisch erscheinen lassen. Deshalb wäre es naiv und unangemessen, bei der Betrachtung und Behandlung von Störungen lediglich einen (z. B. den familiären) Faktor zu berücksichtigen und die anderen auszublenden (Kriz 1999, S. 171ff.). Ob ein in ein bestimmtes Beziehungsmuster involviertes Systemmitglied ein bestimmtes Symptom entwickelt, lässt sich auch diskutieren vor dem Hintergrund verschiedener Aspekte, die als Risiko- und/ oder Schutzfaktoren gesehen werden können. Dazu gehören – die individuelle biologische (neuronale, immunologische, hormonale) Ausstattung; – psychische Aspekte (emotionale und soziale Intelligenz, Empfindsamkeit, Selbstwertgefühl);

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soziale Aspekte auf der Ebene des Mikrosystems (Geburtszeitpunkt, Stellung in der Geschwisterreihe, spätere Life-Events); Beziehungsmuster, die sich nicht nur in dem gerade untersuchten System (z. B. Familie) finden, sondern die durch Gegenerfahrungen beispielsweise in Schule, Peergruppe oder Arbeit kompensiert werden können, also auf der Ebene des sogenannten Mesosystems (Bronfenbrenner 1982), hierhin gehören auch Aspekte, die bei Schneewind et al. (z. B. 1983) als »Angebotsstruktur des ökologischen Kontextes« beschrieben werden, nämlich die Verfügbarkeit von Möglichkeiten wie Jugendzentren und Schwimmbädern in der Nachbarschaft. Und schließlich wäre es vermessen, gesellschaftliche (makrosystemische) Faktoren wie Status, Arbeitslosigkeit, Ausländerfreund- oder -feindlichkeit zu vernachlässigen.

Auf dem Hintergrund eines systemwissenschaftlichen Verständnisses ist zudem davon auszugehen, dass diese vielen Faktoren miteinander interagieren und dass diese Interaktionen auch phasenweise unterschiedlich verlaufen. In der einen Phase mögen sie systematisch und prognostizierbar sein, in der anderen nichtlinear und schlecht vorhersehbar verlaufen. Sprachregelungen: Kranke, Patienten, Klienten, Kunden, Kooperationspartner Im Gesundheitswesen, insbesondere in Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, stehen zur Bezeichnung leidender und die Gesundheitsdienste nutzender Menschen einige Begriffe zur Auswahl, die jeweils unterschiedliche Behandlungsphilosophien implizieren. – Kranke leiden an störenden oder gestörten Interaktionen in einem Umfang, der jene kritische Schwelle überschreitet, ab der die Betroffenen und/oder ihr Umfeld diesen einen Zustand von Anormalität zuschreiben. – Patienten (wörtlich: Leidende, Duldende, Ertragende) nehmen die von der Gesellschaft bereitgestellte Gesundheitsbehandlung in Anspruch. Sie können krank sein, müssen es aber nicht (z. B. sind auch gesunde Teilnehmer an Vorsorgeuntersuchungen Patienten). – Klienten (wörtlich »Schützlinge«) sind Menschen, die eine professionelle psychologische oder pädagogische Beratung oft außerhalb des

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Krankheitsverständnis





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Gesundheitswesens suchen, außerdem hat sich die Bezeichnung in vielen moderneren psychotherapeutischen Richtungen durchgesetzt. In Einrichtungen an der Grenze zwischen dem Gesundheitswesen und anderen Beratungsdiensten wird derselbe Mensch oft einmal als Patient bezeichnet (z. B. bei einem stationären Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik), ein andermal als Klient (z. B. bei einem Besuch des Sozialpsychiatrischen Dienstes). Kunde ist einerseits ein aus der Ökonomie stammender Begriff, der von Seiten der lösungsorientierten und systemischen Therapie dort angeboten wird, wo das Anrecht dieses Menschen auf den Erhalt guter Dienstleistungen und seine Rolle als Verhandlungspartner betont werden sollen. Kunden des Gesundheitswesens sind neben den Patienten gleichermaßen auch die Angehörigen, die Überweiser, die zahlenden Versicherungen – auch ihnen muss der professionelle Gesundheitsdienstleister »dienen«. Im Kunden steckt aber auch der germanische Wortstamm »kundig« – einer, der wahrscheinlich selbst für sich am besten weiß, was er will und wie er dorthin kommt. Kooperationspartner ist ein Begriff, mit dem Menschen auf eine ähnliche Weise bezeichnet werden können wie mit dem Begriff Kunden. Hier wird aber nicht das marktmäßige Austauschverhältnis betont, sondern das gleichberechtigte Zusammenwirken beim Festlegen der Spielregeln zwischen den beteiligten Akteuren.

Im Sprachverständnis systemischer Therapeuten werden die Begriffe Klientin, Kundin oder Kooperationspartnerin oft häufiger verwendet als die im Gesundheitswesen traditionsreicheren Begriffe Kranke und Patientin. Systemische Psychotherapie ist ein wichtiger Therapieansatz auch im Gesundheitswesen – von Nutzen für einen breiten Mainstream von Patientinnen. Wir haben uns daher in diesem Buch entschlossen, den weitverbreiteten Begriff Patient (mal in der männlichen, mal in der weiblichen Form) zu verwenden für die Bezeichnung all jener Menschen, die – sei dies aus der Eigen- oder der Fremdperspektive – krank sind oder sein könnten und daher professionelle Gesundheitsbehandlung in Anspruch nehmen. Wo es um Patienten gemeinsam mit Angehörigen, Überweisern oder Mitbehandlern und um deren Beteiligung an Behandlungsplanungen und -entscheidungen geht, sprechen wir von Kooperationspartnern.

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1.2 Klassifikation und Diagnostik Klassifikation: Eine Einschätzung der International Classification of Diseases 10 (ICD-10) Für das konkrete Vorgehen in der systemischen Therapie sind bislang psychopathologische Krankheitsklassifikationen und die darauf aufbauende Differenzialdiagnostik weniger bedeutsam als in manchen anderen Ansätzen. Ob sich das angesichts des derzeitigen Trends besonders in der Psychotherapieforschung zu störungsspezifischen statt schulenspezifischen Therapien ändern wird, ist derzeit noch schwer abzuschätzen. Die sozial-konstruktionistische Perspektive hat systemische Therapeuten für die soziale Pragmatik von Differentialdiagnosen sensibilisiert – für deren Bedeutung bei der Verständigung zwischen unterschiedlichen Fachleuten, in der Anrechenbarkeit von Behandlungsleistungen, in den subjektiven Krankheitstheorien von Patienten und Angehörigen. Der in der »International Classification of Diseases« der Weltgesundheitsorganisation WHO (die 10. Fassung wird mit »ICD-10« abgekürzt) eingeführte Begriff der Störung, der dort an die Stelle des Begriffs Krankheit tritt, stellt aus systemischer Sicht einen Fortschritt gegenüber der Kategorisierung nosologischer Einheiten dar. Es ist eine rein operationale Beschreibung von Verhaltensweisen, denen ab einer gewissen Dauer, Häufigkeit und Intensität Krankheitswert zugeschrieben wird. Die Grenzwerte dafür wurden nach langen Verhandlungen im Konsens von WHO-Expertengruppen festgelegt. Die Logik der ICD-10 impliziert eine Beziehungs- beziehungsweise Beschreibungskomponente: Jemand »stört« und jemand fühlt sich »gestört«. Die ICD ersetzt Entitäten wie Neurose und Psychose durch deskriptive, an Beobachtungskategorien orientierte Bezeichnungen. Die ICD-10 ist in zehn Hauptkapitel unterteilt: 1. Organische einschließlich symptomatischer psychischer Störungen – hierzu gehören besonders die Demenzen und andere Störungen des Gehirns. 2. Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen: Das sind die durch Alkohol, Opium, Cannabis und ähnliche Stoffe auslösbaren Suchtprobleme. 3. Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

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Klassifikation und Diagnostik

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4. Affektive Störungen: Dazu zählen die verschiedenen Formen der Depression und der Manie. 5. Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen: Zu diesem relativ heterogenen Kapitel gehören Ängste und Phobien, Zwänge, schwere Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen, die früher Konversionsstörungen genannten dissoziativen Störungen sowie somatoforme Störungen. 6. Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren: Hier sind Essstörungen, nichtorganische Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen zusammengefasst. 7. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen: Neben insgesamt neun Formen möglicher Persönlichkeitsstörungen (von der paranoiden bis zu der abhängigen Persönlichkeit), deren bekannteste die Borderline-Persönlichkeit darstellt, sind hier auch Störungen der Impulskontrolle (wie pathologisches Glücksspiel, Brandstiftung oder Stehlen), der Geschlechtsidentität (z. B. Transsexualismus) und der Sexualpräferenz (z. B. Pädophilie oder Exhibitionismus) aufgeführt. 8. Intelligenzminderung: Diese wird nach Schweregraden differenziert aufgeschlüsselt. 9. Entwicklungsstörungen: Dazu gehören Störungen des Sprechens und der Sprache, schulischer Fertigkeiten wie des Lesens oder Schreibens, aber auch tief greifende Störungen wie der Autismus. 10. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend: Neben den hyperkinetischen und den Ticstörungen gehört hierzu die große Gruppe der Störungen des Sozialverhaltens beziehungsweise der emotionalen Störungen.

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Jedes Hauptkapitel fasst mehrere einander verwandte Störungsbilder mitsamt deren Unterformen unter einem Dach zusammen. Die Möglichkeit zu einer sehr feinen Differenzierung wird durch eine vierstellige Kennziffer bereitgestellt. Damit lässt sich etwa im Kapitel F4 (neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen) in der Gruppe der phobischen Störungen (F40) eine Agoraphobie (F40.0) weiter unterteilen in eine Agoraphobie ohne (F40.00) und mit Panikstörung (F40.01). Die ICD-10 ist ein rein beschreibendes Kategoriensystem. Mit ihren Diagnosen sind keine Theorien über Ursache, Verlauf und Behandelbarkeit der jeweiligen Störung verbunden. Eine Diagnose ist nach der Logik der ICD-10 zu stellen, wenn aus einem Katalog möglicher Leitsymptome dieser Störung mehrere (selten alle) über einen hinreichend langen Zeitraum von einem oder mehreren Beobachter beobachtet wurden. Grundsätzlich ähnlich ist das amerikanische »Diagnostic and Statistical Manual« (DSM) der »American Psychiatric Association« aufgebaut. Es stellt allerdings mehr (insgesamt fünf) verschiedene diagnostische Achsen bereit – unter anderem auch eine Achse zur Beschreibung belastender Familien- und allgemeiner Lebenssituationen. Der operationale Störungsbegriff der ICD-10 und des DSM-IV bleibt wie seine Vorgänger vorwiegend individualistisch, lokalisiert die meisten Krankheiten im Individuum, entfaltet fast keine Sensibilität für Krankheit als Interaktionsprozess. Allerdings verzichtet er auf ontologische (»Was ist es wirklich?«) und auf ätiologische (»Woher kommt es?«) Festlegungen. Er dient lediglich der Verständigung der Fachleute darüber, ob sie jeweils über ähnliche Gruppen von Verhaltensweisen sprechen. Er scheint uns daher eine zwar nicht befriedigende, aber doch hinreichend akzeptable Grundlage, mit der die systemische Therapie bei unterschiedlichen Störungsbildern im Dialog mit anderen Therapierichtungen bleiben kann. Diagnostik: Von der Problemanalyse zur Lösungskonstruktion Diagnostik als eine Form der Komplexitätsreduktion erlaubt es, bestimmte beobachtete Muster Kategorien zuzuweisen, die mit bestimmten Handlungsoptionen verbunden sind. Diagnostik wird in der systemischen Therapie aber nicht als eine nüchterne Beschreibung eines Sachverhaltes angesehen, sondern als eine Beschreibung, die das Beschriebene mit erzeugen und verändern kann.

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Klassifikation und Diagnostik

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Innerhalb der systemischen Therapie gibt es sehr unterschiedliche Haltungen gegenüber Diagnosen. Die eine Position ist durch die engagierte Ablehnung der Verwendung »psychiatrischer Hasssprache« gekennzeichnet (Gergen et al. 1997). Aus ihrer Sicht richten Diagnosen durchgängig mehr Schaden als Nutzen an. Eine andere Position versucht, Diagnosen stärker als Felddiagnosen zu formulieren, also als spezifische Sackgassen, in denen sich Paare und Familien verfangen können. Begriffe wie »depressive Konstellation« (Reiter 1997) oder »schizoaffektive Muster« (Simon et al. 1989) erlauben es, bestimmte Interaktionen diagnostisch zu kategorisieren, ohne in das Dilemma zu geraten, entweder die Angehörigen für die Störung des Patienten verantwortlich zu machen oder in ihnen nur die unterstützenden Hilfstherapeuten für den eigentlich kranken Patienten zu sehen. Eine dritte Position sehen wir in den Vorschlägen einer »Überlebensdiagnostik« (Ludewig 2002, S. 83ff.), stärker salutogenetische denn pathogenetische Faktoren in den vom Patienten und seiner Familie erzählten Geschichten zu suchen. Für die Perspektive einer »systemisch-konstruktivistischen Diagnostik« ist die ausführliche Suche nach dem, »was sein könnte« (Schweitzer u. Ochs 2002), also nach möglichen Lösungsszenarien und bislang noch ungenutzten Ressourcen, mindestens ebenso wichtig wie die Beschreibung des Problems und die Erklärung seiner Entwicklungsgeschichte. Ein solches Vorgehen ist sicherlich weit nützlicher als die Inventarisierung von all dem, was nicht geht (Residualsyndrome, Strukturdefizite etc.). Eine zu ausführliche Problemanalyse kann therapeutisch schädlich werden, wenn sie zu einer sich selbsterfüllenden kollektiven Problemtrance beiträgt. Denn wenn die Beschreibung und Klärung von Problemzusammenhängen die Kommunikation zu einseitig beherrscht (wenn nur noch Krankheit Thema ist), dann werden Lösungsideen in der Vorstellungswelt der Beteiligten zu sehr an den Rand gedrängt. In der systemischen Therapie dienen diagnostische Fragen weniger der Erhebung von individualpsychologischen Zustandsbildern als vielmehr der Beschreibung von familiären Kommunikationsabläufen und den damit verbundenen Perspektiven und Erwartungshaltungen der Betroffenen. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: »Wer macht sich die meisten Sorgen um Sabine?« »Meine Frau!« »Was tut sie, wenn sie sich Sorgen macht?«

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»Zum Beispiel versucht sie, sie morgens zum Aufstehen zu bewegen, geht immer wieder in ihr Zimmer.« »Und was passiert, wenn das nicht klappt?« »Das klappt ja meistens nicht. Dann fängt sie an zu schreien!« »Wenn Sie, Frau X, dann schreien, was tut dann Ihr Mann?« »Er kritisiert mich und sagt, ich solle Sabine doch in Ruhe lassen!« »Was vermuten Sie, warum er das sagt?« »Wahrscheinlich findet er, dass ich zu überfürsorglich bin!« »Was ist Ihre Idee, wer das noch denkt?« »Nun, Sabine bestimmt!« »Gibt es jemanden, der Ihnen zustimmen würde?« »Vielleicht am ehesten meine Mutter!« »Was denkt sie über Sie und Sabine?« »Sie denkt, Sabine sollte sich mehr zusammenreißen und ich sollte sie mehr fordern.« »Sabine, was ist Ihre Vermutung, was die Großmutter über die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Mutter denkt?«

So entstehen im Gespräch Bilder über familiäre Dynamiken, durchaus unsystematisch, gesteuert von der Neugier und Intuition des Therapeuten, doch dafür lebendig und am aktuellen Prozess der Familie ausgerichtet. Gleichzeitig dient dieser diagnostische Prozess nicht nur der Gewinnung von Information, sondern auch ihrer Erzeugung: Durch die Antworten auf die Fragen erhalten die Familienmitglieder Informationen darüber, wie ihr Verhalten von den anderen gesehen wird und welche Motive ihnen aus der Perspektive der Erwartungs-Erwartungen der anderen (Luhmann 1984) zugeschrieben werden. So werden durch die Diagnostik neue Feedbackschleifen in die Familie eingeführt, Diagnostik und Intervention fließen ineinander. Das praktische Vorgehen einer systemischen Diagnostik mit ihren Frage- und Beobachtungstechniken, ihren symbolischen und räumlichen Beziehungsdarstellungen vom Genogramm bis zur Familienskulptur, aber auch mit ihren zahlreichen formalisierten Instrumenten wie Fragebögen und Ratingsystemen können wir hier nicht vertiefen. Es ist überblicksartig in von Sydow et al. 2006 (Kapitel 7: Diagnostik), ausführlicher in von Schlippe und Schweitzer (1996, Kapitel 6 bis 8) und sehr detailliert in Cierpka (2002a) dargestellt, zur Rolle der therapeutischen Beziehung in diesem Zusammenhang verweisen wir auf Loth und von Schlippe (2004).

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Krankheitsursachen, Risikofaktoren, Schutzfaktoren

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1.3 Krankheitsursachen, Risikofaktoren, Schutzfaktoren Die systemische Therapie geht nicht davon aus, dass aus einer oder mehreren, in der Vergangenheit liegenden Ursachen sich eine aktuelle Erkrankung linear erklären lässt (»Das kommt davon, dass ich früher immer …«). Sie interessiert sich sehr wohl für die lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Einzelnen, Paaren, Familien und die generationenübergreifenden Muster (vgl. Boszormenyi-Nagy u. Spark 1973), aber weniger für die Fakten als für die Erzählungen, die aus verschiedenen Perspektiven über diese früheren Ereignisse jeweils unterschiedlich tradiert werden. Neben den Erzählungen über ihre biografischen Erfahrungen und ihre aktuelle Lebenssituation tragen aber auch die Ideen, die Menschen sich über ihre Zukunft erzählen, mindestens genauso bedeutsam zur Erzeugung und Chronifizierung von Störungen bei. Belastende Lebensereignisse und -verhältnisse werden zwar nicht als Ursache, wohl aber als Risikofaktoren für Krankheitsentwicklungen angesehen. Wo diese bagatellisiert oder negiert werden – zum Beispiel wenn ein Familienmitglied bislang wenig Chancen hatte, seine Belastungen zum Thema zu machen – ist es insbesondere einer narrativ orientierten systemischen Therapie ein Anliegen, solchen bislang unterdrückten Themen ein Forum zu geben. Wo diese umgekehrt zu einer alles Leiden erklärenden Ursache mystifiziert werden, werden solche Sichtweisen infrage gestellt. Es wird dabei die Verantwortung in den Blick genommen, dass zwar die Vergangenheit nicht geändert werden kann, dass aber jeder Mensch – in einem gewissen Rahmen – die Möglichkeit hat zu entscheiden, auf welche Aspekte der Vergangenheit er sich wie bezieht. Eine schwere Kindheit kann unter dem Gesichtspunkt des Leidens gesehen werden oder unter dem Gesichtspunkt, dass der eigene Lebenswille so stark war, dass diese Leiden ausgehalten wurden und überstanden sind. »Wir haben nicht eine Vergangenheit, sondern hunderte« – und wir sind es, die entscheiden, auf welche Aspekte der Vergangenheit wir uns beziehen. Nicht zuletzt deshalb interessiert sich die systemische Therapie sehr stark für Schutzfaktoren – für Bewältigungskompetenzen, für materielle, soziale und psychische Ressourcen, für das Starkwerden gerade im Überwinden belastender Situationen (Resilienz, hierzu z. B. Walsh 1998). All dies bedeutet nicht, dass Lebenserzählungen einfach umzuerzäh-

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len wären, sind sie doch verbunden mit stabilisierten synaptischen Netzwerken im Gehirn, das heißt bestimmte Erzählungen sind »gebahnt« und leiten Menschen immer wieder scheinbar zwingend in die entsprechende Richtung (vgl. Hüther 2004, S. 78ff.). Doch stellt die systemische Therapie weniger die Frage nach der Verursachung als die nach der (Selbst-)Chronifizierung von Störungen. Lebende Systeme sind kontinuierlich Fluktuationen unterworfen. Im Verlauf dieser Fluktuationen erweisen sich bestimmte Phänomene als Attraktoren – als organisierende Prinzipien, um die herum sich bedeutsame Kommunikationen gruppieren. So ist es aus systemischer Sicht interessanter zu erfahren, wie es einem (Familien-)System gelingt, ein Problem durch kontinuierliche, aufeinander bezogene Aktivitäten immer wieder neu zu erzeugen, als nach der Ursache des Problems zu fragen. Ein Beispiel: »Sie sagen, es habe sich seit dem letzten Gespräch nichts verändert, das Problem sei immer noch da. Das interessiert mich: Wie haben Sie das geschafft? Wenn wir es gemeinsam schaffen wollten, das Problem aus irgendeinem Grund auf jeden Fall weiterhin zu behalten, was müssten wir tun, in welche Richtung sollte ich Sie beraten?« oder: »Wenn Sie wollten, dass Ihre Frau genau das tut, worüber Sie sich im Moment beklagen, was müssten Sie tun?« Wenn der Ehemann eine Aktivität xy nennt, kann anschließend die Frau gefragt werden: »Wenn Sie nun Ihrerseits wollten, dass Ihr Mann xy tut, wie könnten Sie das anstellen?« Bedeutsamer als die Frage nach der Ätiologie einer Erkrankung ist mithin die nach ihrer Chronifizierung, also die Frage nach den Randbedingungen dafür, dass eine Abweichung von der Gesundheitsnorm nicht wieder verschwindet, sondern sich als Problem stabilisiert. Chronifizierung wird als Ergebnis einer aktiven, wenngleich meist nicht bewussten Gemeinschaftsleistung angesehen, nicht als Ergebnis eines in der Person liegenden Defizits. Eine psychische Störung kann als eine spezifische Form selbstorganisierender Ordnung angesehen werden, die eine Person gemeinsam mit ihrem Bezugssystem durch Interaktion kontinuierlich aufrechterhält (Kriz 1999). Dann lohnt es sich zu fragen, wie genau eine Person es gemeinsam mit anderen schafft, eine Störung immer wieder neu hervorzubringen.

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Therapiekonzept

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1.4 Therapiekonzept Verknüpfung von Diagnostik und Therapie Diagnostik und Therapie sind aus systemischer Sicht nicht exakt voneinander zu trennen. So könnten als Reaktion auf die Aussage: »Frau Doktor, ich bin depressiv!« Anfangsfragen gestellt werden wie etwa: – »Woher wissen Sie das?« – »Wer sagt das?« – »Sind Sie jetzt und hier gerade auch depressiv? Sind Sie überall gleich depressiv, mit wem auch immer Sie gerade zusammen sind, oder gibt es da Unterschiede? – »Wenn Sie morgen früh aufwachen und durch ein Wunder wären Sie nicht mehr depressiv, wann würde Ihnen das zum ersten Mal auffallen? Welcher anderen Personen in Ihrer Umgebung würde es zuerst auffallen? Wie würde diese Person darauf reagieren?« Sie erzeugen zum einen diagnostische Information (etwa über das soziale Umfeld oder über die Selbsteinschätzung des Patienten), wirken aber gleichzeitig »verstörend« in dem Sinn, dass sie das Denken des Patienten in ungewohnte Richtungen lenken. Lebende Systeme werden konsequent als autonom, als nicht-instruierbar und als Experten ihres eigenen Lebens angesehen. In diesem Sinn wird auch ein Symptom oder eine Störung zunächst als eine Qualität angesehen, die für das entsprechende System eine Form des Überlebens darstellt. Es wird daher versucht, im therapeutischen Dialog wertschätzende Beschreibungen für Störungen und Symptome zu finden und Problemlösungspotentiale zu aktivieren. Es geht also nicht um das Herausfinden dessen, was wirklich geschehen ist, um einen Satz Wittgensteins (1996) zu zitieren: »Die Tatsachen gehören alle zur Aufgabe, nicht zur Lösung.« Die Logik der Lösung muss nicht zwangsläufig aus Elementen bestehen, die der Logik des Problems entstammen (vgl. de Shazer 1992). Therapieprinzipien Wenn menschliche Systeme konsequent als autonom, als nicht instruierbar, als Experten ihres eigenen Lebens gedacht werden, legt dies eine Therapiepraxis nahe, die sich von anderen Ansätzen teilweise deutlich

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unterscheidet (ausführlich: von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 116ff. und S. 205ff.; siehe auch Loth u. von Schlippe 2004). Patienten brauchen in erster Linie keine neuen Fertigkeiten zu trainieren, zu erlernen. Sie brauchen nicht primär externes Wissen (Störungswissen, Problemlösewissen) vermittelt zu bekommen. Vielmehr brauchen sie in erster Linie Hilfe dabei, Blockaden bei der Nutzung potenziell bereits vorhandener Lösungsressourcen zu überwinden, etwa durch die verstörende Infragestellung problemaufrechterhaltender Beziehungsmuster. Und sie benötigen Hilfe dabei, diese Lösungsressourcen wieder neu zu entdecken und zu nutzen, etwa durch die anregende Konstruktion von Lösungsszenarien. Da die Aufdeckung von Abgewehrtem und Verdrängtem kein typisches Ziel systemischer Therapie ist, können auch Widerstandsphänomene nur schwer auftauchen. Wo sie doch auftauchen, werden sie als berechtigte Reaktion auf ein unbefriedigendes Kooperationsangebot des Therapeuten gesehen – der/die etwas anderes anbietet, als der Patient sucht – und führen meist zu einem Neuverhandeln des Behandlungsauftrages. Die Therapie orientiert sich thematisch, in der Dauer und im Setting an den Wünschen der Kooperationspartner – außerhalb von Zwangskontexten meist an denen der Patienten und ihrer Angehörigen, zuweilen auch der Überweiser. Sie war erfolgreich und kann beendet werden, wenn die Patienten selbst den Eindruck haben, ihr Problem habe sich zufriedenstellend gelöst und wenn diese Sicht auch nach einigen kritischen Infragestellungen der Therapeuten beibehalten wird. Beendigungen des therapeutischen Kontaktes nach einer oder wenigen Sitzungen müssen daher kein Therapieabbruch sein, auch wenn der therapeutische Ehrgeiz des Psychotherapeuten gern weitergemacht hätte. Auch das Therapieziel wird zwischen den Kooperationspartnern festgelegt, mit einem dominierenden Einfluss der Patientin und gegebenenfalls ihrer Angehörigen. Es gibt keine schulenspezifische Festlegung guter Ergebniskriterien. Therapieziele können auf sehr unterschiedlichen Ergebnisdimensionen liegen: in der Änderung von Verhaltensmustern, in der Änderung von Ideen oder von Glaubensmustern auch ohne Verhaltensänderungen, in der Akzeptanz und nachfolgenden Beibehaltung bisheriger Verhaltens- und Einstellungsmuster. Solche Therapieplanung legt eine ausgeprägte Flexibilisierung von

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Indikationen und Kontraindikationen

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Therapiesettings nahe: zwischen einer Sitzung (»Single Session Therapy«) und der gemeinsamen Vereinbarung einer Vielzahl von Sitzungen, mit wöchentlichen bis mehrjährigen Abständen zwischen den Sitzungen, mit Teilnehmerkonstellationen von Einzel- über Paar- und Familientherapie bis hin zur Nachbarschafts- und Netzwerktherapie. In der Praxis liegt die Sitzungsfrequenz meist zwischen einer und zwanzig Sitzungen, die Abstände dazwischen meist zwischen einer und sechs Wochen. Systemische Therapie ist damit vorwiegend als lange Kurzzeittherapie gestaltet: wenige Sitzungen, die sich aber über längere Zeiträume verteilen können. Auch größere Netzwerktherapiesitzungen liegen im Bereich des Möglichen, doch nehmen auch systemische Therapeuten diese vergleichsweise selten wahr.

1.5 Indikationen und Kontraindikationen Indikationen Hier sind zwei Begriffe zu unterscheiden: die selektive und die adaptive Indikation (z. B. Brähler et al. 2001). Die selektive Indikation stellt die Frage, für welches Störungsbild oder welche Fragestellung welches Verfahren oder welche Methode angemessen ist, adaptive Indikationsentscheidungen sind im Prozessverlauf ständig zu stellen, um zu bestimmen, wie der nächste Schritt aussehen soll. In der systemischen Therapie stehen adaptive Indikationsentscheidungen gegenüber selektiven im Vordergrund; sie stellen sich kontinuierlich während und nach jedem Gespräch: »Wen lade ich zum zweiten Gespräch ein? Biete ich angesichts der geäußerten Suizidtendenzen das nächste Gespräch bereits in wenigen Tagen an? Soll ich es am Gesprächsende bei einem positiv konnotierenden Kommentar belassen oder bereits ein handlungsorientiertes Experiment empfehlen?« Die Indikation richtet sich stark an den störenden Interaktionen, weniger an den gestörten Menschen aus. Die ausgeprägte Flexibilisierung von Therapiezielen, -themen, -dauer und -settings führt zu einem Prinzip des maßgeschneiderten Intervenierens. Besonders flexibilisiert zeigt sich das systemische Therapievorgehen außerhalb explizit psychotherapeutischer Kontexte, zum Beispiel in Organmedizin, Sozialarbeit, Schul-

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oder Betriebsberatung, wo systemisches Vorgehen in Kombination mit anderen Maßnahmen breite Anwendung findet. Störungsspezifisches Wissen, wie wir es in diesem Buch im Überblick darstellen, wird in der systemischen Therapie für solche adaptiven Entscheidungen für maßgeschneiderte Interventionen genutzt – nicht oder nur selten für das Schnüren selektiv indizierter Therapiepakete für festdefinierte Störungen, deren jedes für einen bestimmten Störungsbereich indiziert und für andere kontraindiziert wäre. Es ist möglich, systemische Therapie in solchen Behandlungskontexten anhand von Manualen stärker zu standardisieren, wo dies aus institutionellen Gründen erforderlich ist. Solche Gründe können die Einarbeitung junger und unerfahrener Nachwuchskollegen sein, die Verständigung großer Behandlungsteams auf ein gemeinsames Vorgehen, die einfachere Budgetierung der Behandlungskosten, die klare Beschreibung der Intervention in kontrollierten Wirksamkeitsforschungsstudien und die Leitlinienerstellung in der evidenzbasierten Medizin. Beispiel solcher Manuale finden sich bei Szapocznik für die Strategische Kurzzeitfamilientherapie suchmittelabhängiger Jugendlicher, bei Jones und Asen 2002 für systemische Paartherapie bei depressiven Frauen, bei Schweitzer et al. 2005 für systemische Therapie bei verschiedenen akutpsychiatrischen Patientengruppen, bei Ollefs und von Schlippe 2006 für das Coaching von Eltern bei Erziehungsproblemen. Diese Manuale beschreiben relativ genau ein gutes Therapeutenverhalten. Sie legen aber nicht minutiös fest, wann genau und wie intensiv dieses Verhalten realisiert werden soll. Manualisierung erscheint uns von Nutzen für unerfahrene Therapeuten, für Forschungsdesigns und als gemeinsame Arbeitsbasis in Institutionen mit vielen unterschiedlich vorqualifizierten Mitarbeitern. Für erfahrene Psychotherapeuten in Einzelpraxis oder kleinen Teams erscheint uns sinnvoller, die jetzige Flexibilität der systemtherapeutischen Praxis durch gleichermaßen flexible Finanzierungsrichtlinien der gesetzlichen Krankenversicherung für systemische Therapie zu unterstützen und auch zu nutzen. Denn systemische Therapie weist, sofern sie nicht durch Finanzierungsrichtlinien in eine andere Richtung gelenkt wird, im Vergleich zu anderen Therapierichtungen eine niedrigere Sitzungszahl auf. Nur selten sind es mehr als 20 bis 25 Sitzungen, der Durchschnitt längerer Therapieverläufe dürfte zwischen fünf und zehn Sitzungen liegen, wobei auch kürzere Verläufe nicht selten sind.

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Indikationen und Kontraindikationen

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Kontraindikationen und Grenzen Aufgrund der ausgeprägten Flexibilisierung der möglichen Settings lassen sich für systemische Therapie kaum Kontraindikationen benennen, außer speziell für das Setting Mehrpersonentherapie, zum Beispiel Paarund Familientherapie (Wirsching u. Scheib 2002): – wenn am Ende des Erstgespräches kein tragfähiger Motivationskonsens in der Gruppe (Familie, Paar o. Ä.) über die weiteren Gespräche zustande kommt1; – wenn die Gefahr droht, dass offene Mitteilungen im Therapiegespräch hinterher mit Gewalt oder Repression beantwortet werden – zum Beispiel bei systemischer Therapie nach Situationen häuslicher Gewalt. Dies ist insbesondere im Fall von sexuellem Kindesmissbrauch gegeben, solange der Täter leugnet. Hier ist darauf zu achten, dass eine Familientherapie nicht im ungünstigsten Fall als Alibi für die Fortsetzung der Misshandlungen missbraucht wird (Trepper u. Barrett 1991; Fraenkel 2004). – wenn dem Therapeuten nötige Qualifikationen für die Führung von Mehrpersonentherapien fehlen. Dazu gehören die Fähigkeiten, eine zuweilen hohe interpersonelle Konfliktspannung auszuhalten, Gespräche auch in kritischen Situationen aktiv zu moderieren und schließlich sich weitgehend allparteilich gegenüber den beteiligten Personen, ihren Lösungsideen und ihren Veränderungsmotivationen zu zeigen. Die Grenzen systemischer Therapie dürften ähnliche sein wie in anderen Therapierichtungen auch. Sie liegen dort, wo ein soziales Netz fehlt, in dem die systemtherapeutischen Anregungen verarbeitet werden können (vereinsamte Einzelklienten). Sie zeigen sich, wo ein pathologisches Eigenleben des Körpers oder der Psyche so festgefahren ist, dass es sich durch kommunikative Angebote nicht hinreichend verstören lässt. Schließlich wird systemische Therapie dort weniger Veränderung bewirken können, wo ein pathologieorientiertes Krankheitskonzept für die 1 Allerdings kann dies auch gerade eine Familientherapie nahelegen, zum Beispiel bei Magersüchtigen, die dünn bleiben wollen, während die Eltern das Gegenteil wünschen. Hier sollte zumindest ein Kontrakt für eine weitere gemeinsame Sitzung angestrebt oder sollten Möglichkeiten flexibler Subsystemkonstellationen ausgelotet werden.

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Systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten

Klienten selbst oder für deren Bezugspersonen überlebenswichtig geworden ist – zum Beispiel wenn persistierende Krankheitssymptome Voraussetzung einer angestrebten Frührente oder eines preisgünstigen Zimmers im betreuten Wohnen geworden sind. Gute Gründe für Klienten, keine systemische Therapie zu suchen Systemische Therapie ist nicht kontraindiziert, aber meist wenig attraktiv für Patienten, die eine engmaschige und hochfrequente Beziehung zu einem Therapeuten suchen, der sich als Übertragungsfigur zur Verfügung stellt. Wer eine besonders dichte, intensive, dyadische Beziehung mit seiner Therapeutin durch eine hohe Sitzungsfrequenz herstellen und an dieser arbeiten möchte; wer über lange Phasen zunächst einmal in seiner Wahrnehmung von Schwere und Ausweglosigkeit seines Daseins akzeptiert werden möchte; wer seinen Körper, die Feinheiten seines inneren Erlebens, seine Biografie und besonders seine Kindheit intensiv reflektieren möchte; wer die realen aktuellen Bezugspersonen lieber am Rande des therapeutischen Interesses lassen möchte; wer Humor und sanfte Provokation für untherapeutisch hält – für solche Menschen stellt systemische Therapie mit ihrer zuweilen »unerträglichen Leichtigkeit« möglicherweise eine zu intensive Irritation dar.

1.6 Evidenzbasierung: Wie wirksam ist systemische Therapie? Die wissenschaftliche Beforschung der systemischen Therapie in Wirksamkeitsstudien hat zu einer beachtlichen Zahl von Outcomestudien geführt. Eine von uns mitinitiierte Forschergruppe (Kirsten von Sydow, Stefan Beher, Rüdiger Retzlaff und Jochen Schweitzer) hat eine sorgfältige Metaanalyse zum Stand empirischer Wirksamkeitsstudien zur systemischen Therapie/Familientherapie abgeschlossen.2 Zwei nach Erwachsenentherapie und Kinder- und Jugendlichentherapie getrennte Aufsätze finden sich in der Zeitschrift »Psychotherapeut« (von Sydow et al. 2 Die Wirksamkeitsstudie wurde im Auftrag der beiden systemischen Dachverbände »Systemische Gesellschaft« (SG) und »Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie« (DGSF) durchgeführt.

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Evidenzbasierung: Wie wirksam ist systemische Therapie?

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2006a, 2006b), die gesamte Expertise ist bei von Sydow et al. (2006c) nachzulesen. Dabei hat sie sich bewusst auf störungsspezifische Studien beschränkt, in denen Patienten nach dem Zufallsprinzip verschiedenen Behandlungsgruppen zugewiesen werden, sodass die Wirksamkeit der systemtherapeutischen Behandlung direkt mit der anderer Behandlungen verglichen werden kann (sogenannte randomisiert-kontrollierte Studien). Die Einschränkung auf solche RCT-Studien als »Goldstandard« der Psychotherapieforschung wird zwar derzeit vielerorts kritisiert, entspricht aber den derzeitigen (2006) Kriterien des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP) in der Bundesrepublik Deutschland. Seit dem ersten Antrag auf Anerkennung der systemischen Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren beim Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (Schiepek 1999) hat sich der Forschungsstand deutlich verbessert (in von Sydow et al. 2006c finden sich alle Literaturhinweise auf die entsprechenden Originalarbeiten und Metaanalysen). Während damals nur acht Studien zur systemischen Erwachsenentherapie und 19 Studien zur systemischen Kinder- und Jugendtherapie vorgelegt werden konnten (von denen nicht alle störungsspezifisch und mit randomisierten/parallelisierten Kontrollgruppen sind), sind es nun 33 Studien zur Erwachsenen- und 50 Studien zur Kinder- und Jugendlichentherapie. Dieses Wachstum liegt teils in neuen Studien zwischen 1998 und 2005, teils in den intensivierten Suchverfahren einer größeren Forschergruppe begründet, die von Kollegen aus dem englisch- und spanischsprachigen Raum viel Unterstützung erfuhr. Zur Erwachsenenpsychotherapie konnten wir 33 kontrollierte, randomisierte (oder parallelisierte) Wirksamkeitsstudien identifizieren. 27 davon waren erfolgreich und belegen, dass systemische Therapie/Familientherapie wirksamer ist als keine oder eine medizinische Standardbehandlung oder aber ebenso oder stärker wirksam ist als etablierte Behandlungsverfahren (z. B. Kognitive Verhaltenstherapie, Psychodynamische Therapie, Antidepressiva) bei Depressionen, Essstörungen, somatischen Krankheiten (in Kombination mit medizinischer Routinebehandlung), Substanzstörungen und schizophrenen Störungen (in Kombination mit Medikation und Psychoedukation). Zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie konnten wir 50 RCTStudien identifizieren, von denen 44 erfolgreich waren und belegen, dass

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systemische Therapie/Familientherapie wirksam ist bei Depressionen und Suizidalität, Essstörungen, psychischen und sozialen Faktoren bei somatischen Krankheiten, Störungen des Sozialverhaltens, hyperkinetischen Störungen und Substanzstörungen. Bei bestimmten Störungen ist systemische Therapie/Familientherapie sogar das international am häufigsten evaluierte und erfolgreichste Verfahren, nämlich bei Störungen des Sozialverhaltens und jugendlicher Delinquenz, Substanzstörungen, Essstörungen, psychischen Faktoren und Verhaltenseinflüssen bei Asthma im Kindes- und Jugendalter. Der spezielle Zusatznutzen systemischer Therapie für das Gesundheitssystem scheint nach diesen Studien in folgenden Aspekten zu liegen (von Sydow et al. 2006a, 2006b): – Ihre Wirksamkeit ist besonders gut dokumentiert bei der Behandlung von schweren Störungen wie Drogenabhängigkeit, Essstörungen, Jugenddelinquenz und psychotische Störungen. – Sie wirkt nicht nur beim Indexpatienten, sondern auch auf die anderen Familienangehörigen belastungsreduzierend. – Durch systemische Therapie werden kindliche, jugendliche und erwachsene Indexpatienten besser erreicht und in Therapien gehalten als in anderen Therapieansätzen. – Systemische Therapie weist im Vergleich zu anderen Therapierichtungen eine niedrigere Sitzungszahl auf – nur selten mehr als 20 bis 25 Sitzungen, häufig nur etwa fünf bis zehn Sitzungen. – Durch systemische Therapie/Familientherapie werden auch soziale und ethnische Randgruppen erreicht, die durch andere Therapieansätze kaum erreicht werden – insbesondere arme »Multiproblemfamilien« und Migrantenfamilien. – Aus den USA und immerhin einer deutschen Studie liegen Hinweise auf eine hohe Kosteneffektivität der systemischen Therapie/Familientherapie vor.

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Kernkompetenzen systemischer Therapie

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1.7 Kernkompetenzen systemischer Therapie Als spezifische Beiträge der systemischen Therapie zum Gesundheitswesen (die sie nach unserer Kenntnis des Feldes stärker pflegt als andere Therapieschulen) sehen wir die folgenden Kernkompetenzen (siehe auch von Schlippe 2001a, 2003). Freilich ist diese Auflistung als Trendbeschreibung zu verstehen. Auch unter den systemischen Therapeutinnen dürfte die interne Varianz ähnlich hoch sein wie bei anderen therapeutischen Richtungen: 1. Fokus auf Kommunikation: Die systemisch-konstruktivistische Therapie fokussiert besonders ausdrücklich auf Kommunikationen, psychische und körperliche Prozesse sind nur indirekt Ziel ihrer Interventionen. 2. Mehrpersonensettings – Settingwechsel: Die systemische Therapie hat sich historisch auf Mehrpersonensettings spezialisiert und außerordentlich viel Erfahrung mit der Auswahl und dem Wechseln zwischen verschiedenen Settings (Einzel-, Paar-, Familien-, Gruppenoder Netzwerktherapie) im Therapieverlauf gesammelt. 3. Kontext- und Auftragsklärung: Sie widmet der Erkundung und der Nutzung nicht nur des häuslichen, sondern auch des professionellen Umfelds eines Patienten (der Vorbehandler, Mitbehandler, Überweiser etc.) besonders viel Aufmerksamkeit. 4. Eine sehr wesentliche Bedeutung hat im systemischen Modell die Achtung vor der Autonomie des Systems, mit dem gearbeitet wird. So wird eher mit freibleibenden Angeboten operiert, die Wirklichkeit anders und neu zu sehen und möglichst genau darauf geachtet, dass das Rat suchende System nicht unter Druck gerät, eine Sichtweise – etwa die des Therapeuten – als die dominierende, richtige Sicht wahrzunehmen. 5. Wertschätzung: Sie bemüht sich stets darum, für alle Beteiligten einer therapeutischen Kooperation wertschätzende Beschreibungen zu finden, also auch hinter scheinbar destruktivem Verhalten nach dem potenziell konstruktiven Beitrag zu suchen. Lösungen haben nur dann Bestand, wenn alle gewinnen. 6. Veränderungsoptimismus und positive Akzeptanz der Nichtveränderung: Die systemisch-konstruktivistische Therapie zeichnet sich einerseits durch einen starken Veränderungsimpuls und den Glauben

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an Chancen zur Veränderung aus: in ihrer Betonung der Möglichkeit schneller und unerwarteter Veränderungen, im Angebot von meist nur wenigen Sitzungen und in längeren Abständen zwischen den Sitzungen sowie im Suchen nach übersehenen Ressourcen und bisher schon erfolgreichen Lösungsversuchen. Andererseits definiert sie Nichtveränderung gern als aktive sinnvolle Leistung um. Diese Kombination des Glaubens an Veränderung mit der positiven Konnotation der Nichtveränderung macht sie im Arbeiten mit chronifizierten Patienten besonders attraktiv. 7. Verflüssigung einengender Überzeugungen, Glaubenssätze, Krankheitstheorien: Systemische Therapie stellt – auf eine freundliche und wertschätzende Weise – Überzeugungen infrage, die von den Klienten als belastend und behindernd erlebt werden. Sie ist kein vergewissernder und bestätigender Ansatz und folgt der Maxime, Respekt gegenüber Menschen zu gewährleisten, jedoch jedweder Idee, jeder Überzeugung gegenüber respektlos zu sein. 8. Betonung dessen, was möglicherweise sein könnte, gegenüber dem, was wirklich ist: Unter dem Einfluss der Hypnotherapie, der lösungsorientierten und narrativen Ansätze interessiert sich die systemischkonstruktivistische Therapie besonders für noch nicht realisierte, aber auch mögliche Lebens- und Beziehungsentwürfe – manchmal mehr als für das, was ist und warum es so ist. 9. Fokus auf Kooperation: Systemische Therapeuten verstehen sich weniger als Kommunikationspartner, deren Nähe gesucht wird, auf die Bilder projiziert und abgearbeitet werden, die Vorbilder abgeben und Identifikation ermöglichen. Eher steht die freundliche und einfühlsame Moderatorenfunktion im Vordergrund, die »nur« eine kompetente Gesprächsführung bieten soll. Mit allen Beteiligten soll eine Kooperationsbeziehung entwickelt werden. Diese bezieht das Klientensystem, aber auch Außenstehende mit ein. Kernfrage ist: Wie können die Beteiligten ihre Möglichkeiten so zusammenbringen, dass ein gutes Ergebnis erzielt wird? Dieses Kompetenzprofil der systemischen Therapie hilft dabei, therapeutische Ressourcen durch den Einbezug wichtiger Dritter zu verbreitern, Veränderungshoffnung ohne Veränderungsdruck zu fördern, festgefahrene chronifizierende Problemideen infrage zu stellen und durch

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Systemische Therapie als Grundlagenverfahren

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die starke Orientierung auf Zukunft und Lösungsmöglichkeiten eine »Ich kann es schaffen«-Atmosphäre zu unterstützen. Hinzu kommt die relative Schlichtheit des Therapeutenselbstbildes: Therapeuten sind »nur« Prozessmoderatoren und insofern nicht dramatisch bedeutsam. Zusammengenommen ergeben diese Elemente eine schlanke, also relativ unaufwendige und im Verlauf nur selten therapiesüchtig machende, optimistische Therapieform.

1.8 Systemische Therapie als Grundlagenverfahren Systemische Therapie ist also ein sich theoretisch und methodisch von anderen Ansätzen sehr unterscheidendes, eigenständiges Psychotherapieverfahren. Unseres Erachtens ist es eines der basalsten Psychotherapieverfahren – mit seinem Blick auf Kommunikation, Kooperation und soziale Netzwerke stellt es eine geeignete Basisphilosophie und -praxis für ganze Versorgungsteams und Versorgungsregionen dar. Die Methodik bietet schulenübergreifend ein Instrumentarium an, sich die Einbettung von Symptomen in soziale Kontexte zu erschließen (z. B. von Schlippe u. Schweitzer 1996; Hargens 2004), die fächerübergreifende Kooperation verschiedener medizinischer oder psychosozialer Dienste zu organisieren (z. B. Kröger u. Hendrischke 2002; Hargens u. Eberling 2002) und in Krankenhäusern (Greve u. Keller 2002; Schweitzer et al. 2005, 2006), gemeindepsychiatrischen Diensten (Armbruster et al. 2001) und ganzen Versorgungsregionen (Aderhold et al. 2003) eine gemeinsame Arbeitsplattform zu bieten. Auf der Basis eines systemischen Therapiekonzeptes lassen sich die spezifischen Beiträge anderer Therapieschulen (siehe zum Überblick beispielsweise Senf u. Broda 2004; Kriz 2001) etwa zu Feinheiten der Therapeut-Patient-Beziehung (aus Tiefenpsychologie, Hypnotherapie, klientenzentrierter Therapie), zu speziellen Übungsverfahren (aus der Verhaltenstherapie) und zu spielerischen, leibnahen und musischen Vorgehensweisen (aus Psychodrama, Körpertherapie, Musiktherapie) relativ einfach integrieren – besonders dort, wo systemische Therapie allein nicht als Intervention ausreicht (siehe dazu beispielhaft das Konzept von Pinsof 1995 zur Integration von Familien-, Einzel- und biologischen Therapien).

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Systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten

Auf Basis dieser Überlegungen stellen wir in den folgenden Kapiteln zu verschiedenen Störungsbildern das jeweils aus systemtherapeutischer Praxis hierzu vorliegende handlungsrelevante Wissen vor. Erkenntnisse aus anderen Ansätzen integrieren wir, wo es sinnvoll erscheint. Wir tun dies in dem Verständnis, Störungsbilder nicht als ein Ding, eine vorfindliche Sache anzusehen, sondern als eine beschreibende Kategorie, welche die Kommunikation zwischen Fachleuten und mit Betroffenen erleichtern soll – und in dem Bemühen, das eigene Wissen als vorläufig anzusehen und immer wieder zu hinterfragen.

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Schizophrene und schizoaffektive Psychosen

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Systemische Psychotherapie mit Erwachsenen

2.1 Schizophrene und schizoaffektive Psychosen – Sinnvoll kommunizieren über Unverständliches3 iStörungsbilderi »Psychose« ist ein Sammelbegriff für Zustände besonders stark veränderten Erlebens und Verhaltens, die einem Außenstehenden nicht oder nur begrenzt nachvollziehbar erscheinen. In der Frühzeit psychiatrischer Theoriebildung um und nach 1900 (etwa bei den deutschsprachigen Pionieren Kraepelin und Bleuler; siehe dazu Schweitzer u. Schumacher 1995, S. 28–34) wurden diese zunächst unterschieden in exogene (körperlich begründbare) und endogene Psychosen (körperliche Ursache noch nicht bekannt). Zu den endogenen Psychosen zählte Kraepelin einerseits die affektiven Psychosen (»Zyklothymien«, wellenförmig zwischen depressiven und nichtdepressiven Episoden, zuweilen zwischen depressiven und manischen Episoden abwechselnd) und die schizophrenen Psychosen. Wenige Störungen sind in ihrem Erscheinungsbild so komplex und vielleicht daher in der Geschichte der psychiatrischen Theoriebildung so umstritten wie die schizophrenen Psychosen. Gemeinsam ist dieser Gruppe von Störungen eine tief greifende Irritation von Denken und Wahrnehmung sowie ein situationsunangemessen oder verflacht wirkender Affektausdruck. Es werden positive (also produktive) Symptome wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen von negativen Symptomen wie sozialem Rückzug, Energielosigkeit und Apathie unterschieden. Zu den positiven Symptomen gehören auch kognitive Symptome wie verwirrt erscheinendes Denken und Sprechen. Das Denken wirkt oft vage, verzerrt und verschwommen (schizophrene Denkstörungen), die sprachlichen Äußerungen sind gelegentlich unver3 Wir bedanken uns bei Dr. Volkmar Aderhold, Hamburg, für seine Mitwirkung an diesem Kapitel.

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ständlich, nebensächliche Aspekte von Ereignissen und Situationen können besonders hervorgehoben werden und an Stelle anderer situationsangemessener Elemente verwendet werden. Oft ist der Betreffende irritiert hinsichtlich seiner Identität, Individualität, Einzigartigkeit und Entscheidungsfreiheit, erlebt sich entfremdet und unvertraut mit sich selbst (Depersonalisation), was bis zu dem Wahn reichen kann, die eigenen innersten Gedanken und Gefühle seien anderen bekannt oder würden gar von diesen gesteuert. Die Vorstellung, von außen, also durch andere Personen oder übernatürliche Kräfte gesteuert zu werden, kann zu Äußerungen und Verhaltensweisen führen, die als bizarr und uneinfühlbar erlebt werden. Es kann dann schwierig sein, eigene Erfahrungen in Worte zu fassen (Symbolisationsstörungen) oder übertragene Redewendungen, etwa Sprichworte, nicht wörtlich zu verstehen (Konkretismus). Von Schizophrenie als seelischer Krankheit soll laut ICD erst nach einem Monat produktiv-schizophrener Symptomatik, nach DSM erst nach sechs Monaten Negativsymptomatik, darunter aber auch mindestens ein Monat mit akut-produktiver Symptomatik, gesprochen werden. Kein einziges Symptom ist für sich genommen für die Diagnosestellung hinreichend oder notwendig – das heißt, es gibt kein Symptom, das alle als schizophren diagnostizierten Patienten zwangsläufig gemeinsam aufweisen. Laut ICD muss mindestens eines der folgenden Symptome beobachtbar sein: – Gedankenlautwerden, -eingebung, -entzug oder -ausbreitung; – Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten bezogen auf Körperbewegungen, Gliederbewegungen, Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen; – Kommentierende oder dialogische Stimmen, die über die Patienten reden oder andere Stimmen, die aus bestimmten Körperteilen kommen; – Anhaltender, kulturell unangemessener, bizarrer Wahn. Mindestens zwei der folgenden Merkmale müssen beobachtbar sein: – Anhaltende Halluzinationen; – Neologismen (Wortneubildungen) und Störungen des Gedankenflusses;

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Schizophrene und schizoaffektive Psychosen – –

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Katatone Symptome, Mutismus (Sprachverweigerung), Stupor (Erstarrung); Negativsymptome wie Apathie, Sprachverarmung, verflachter Affekt (sofern nicht medikamentenbedingt).

Weitere Symptome schizophrener Prozesse, die in der ICD als Subtypen diagnostiziert werden, sind Verfolgungswahn (Paranoia), autistischer Rückzug, allgemeine Desorganisation, Hebephrenie (insbesondere im Jugendalter: gedankliche Verwirrtheit bei gleichzeitig heiter-»läppischer« Stimmung) bis hin zur Katatonie, der völligen Bewegungslosigkeit (Dilling et al. 2004). Wir konzentrieren uns im Folgenden vor allem auf die unter F20 als Gruppe der Schizophrenien definierten Störungen. Tabelle 1: Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen in der ICD-10 F20-29 F20 F20.0 F20.1 F20.2 F20.3 F20.4 F20.5 F20.6 F20.8 F20.9 F21 F22 F23 F24 F25

Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen Schizophrenie Paranoide Schizophrenie Hebephrene Schizophrenie Katatone Schizophrenie Undifferenzierte Schizophrenie Postschizophrene Depression Schizophrenes Residuum Schizophrenia simplex Sonstige Schizophrenie Schizophrenie, nicht näher bezeichnet Schizotypische Störung Wahnhafte Störung Akute vorübergehende psychotische Störungen Induzierte wahnhafte Störung Schizoaffektive Störung

Verlauf Die Störung kann langsam und schleichend oder akut mit schwer gestörtem Verhalten beginnen. Im Verlauf werden große Unterschiede beschrieben, keinesfalls wird eine chronische Entwicklung als unvermeidlich gesehen (wie es das Schreckensbild der Diagnose nahelegen könnte), zumindest bei angemessener Behandlung (Dilling et al. 2004). Es kommt

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sowohl vor, dass eine psychotische Episode im Lebensverlauf singulär bleibt, als auch, dass Patienten lernen, mit ihrer Symptomatik umzugehen, Vorläufer schnell zu erkennen und für eine situationsangemessene Unterstützung zu sorgen – und schließlich ist auch eine Heilung als Ergebnis eines therapeutischen Prozesses möglich. Doch es wird auch eine Vielzahl von Verläufen beschrieben, die chronisch und sich verschlechternd verlaufen sind (für Langzeitverläufe siehe z. B. Ciompi 1980; Ciompi u. Müller 1976; Harding et al. 1987). Vererbung und Umwelt Die Frage der Vererbbarkeit von Psychose ist seit langem ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung in der Fachwelt. In der Tat tritt die Störung familiär gehäuft auf und Zwillingsstudien legen zumindest zum Teil eine besondere genetische Disposition nahe, die sogenannte Vulnerabilität (Verwundbarkeit). Allerdings liegt der Mittelwert der Konkordanzraten aller seit 1963 veröffentlichten Studien nur bei 22,4 % (Joseph 2004, S. 68). Durch die ähnlichere Umwelt monozygoter Zwillinge (im Vergleich zu dizygoten) und ihre häufigen Identitätsdiffusionen liegt dieser Mittelwert jedoch höher als die tatsächliche Disposition. In zusammenfassenden Darstellungen wird häufig noch ein Wert von ungefähr 50 % angegeben, bei dem die älteren, methodisch schlechteren Studien mit eingerechnet werden. Die beste uns bekannte Studie zum Zusammenspiel von Vererbung und Umwelt bei schizophrenen Psychosen ist die prospektive finnische Adoptivfamilienuntersuchung von Tienari et al. (Tienari 1991; Tienari et al. 1987, 1993, 2004). Über zwei Jahrzehnte hinweg wurden 306 Kinder von Müttern mit einer Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis, die zur Adoption frei gegeben worden waren, mit Adoptivkindern ohne als schizophren diagnostizierte Mutter verglichen. Gleichzeitig wurden die Adoptionseltern sehr genau bezüglich psychischer Erkrankungen und die gesamte Familie auf Interaktions- und Beziehungsstörungen hin untersucht. Es zeigte sich, dass die Kinder der Gruppe mit schizophren diagnostizierten Müttern (»high genetic risk«) im Wesentlichen nur dann als psychotisch diagnostiziert wurden, wenn in den Adoptivfamilien die Kommunikation als »gestört« beziehungsweise »ernsthaft gestört« eingeschätzt wurde und ein oder beide Elternteile als schwerer psychisch erkrankt (schwere Persönlichkeitsstörung oder Psy-

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chose) diagnostiziert wurden. In gesunden Adoptionsfamilien erkrankten vier von 29 (= 13 %) Kindern der »high genetic risk«-Gruppe und drei von 45 (= 7 %) Kindern biologischer Mütter ohne Psychosediagnose. Dieser Unterschied war statistisch nicht signifikant. In Adoptionsfamilien, in denen ein oder beide Elternteile psychisch schwerer erkrankt waren, entwickelten 30 von 92 (= 33 %) der Kinder der »high genetic risk«-Gruppe und 21 von 105 (= 20 %) der Kinder der »low genetic risk«-Gruppe eine schizophrene Störung. Dieser Unterschied war signifikant. Die Interaktionsstörungen wurden mit der OPAS-Skala erfasst. Von besonderer Bedeutung waren dabei: Mangel an Empathie, abgebrochene Kommunikation, Eltern-Kind-Konflikte sowie Grenzüberschreitungen und Beziehungsverstrickungen. Die Befunde wurden als Beleg für die weitgehend notwendige Interaktion von Genetik und familiärer Umwelt zur Entwicklung einer Schizophrenie interpretiert. Gen-Umwelt-Interaktion wurde daher definiert als genetische Kontrolle der Sensibilität für Umweltfaktoren. Und diese Sensibilität existiert sowohl für dysfunktionale als auch für protektive Umweltfaktoren. Wynne, auf dessen Communication-Deviance-Konzept (Wynne u. Singer 1963) die Operationalisierung familiärer Kommunikationsstörungen in diesen Studien basierte, schlussfolgerte, dass bei genetisch bedingt vulnerablen Menschen günstige familiäre und soziale Kontextbedingungen offenbar guten Schutz bieten und darüber hinaus die besonderen Begabungen und Fähigkeiten dieser Menschen fördern und anregen können – ein recht überzeugender Beleg für Gen-Umweltinteraktion. Umgekehrt konnten Wahlberg et al. (1997) aus den Daten der Tienari-Studie zeigen, dass sich aus Kommunikationsabweichungen bei den Adoptiveltern im Wesentlichen nur dann Denkstörungen bei den adoptierten Kindern entwickeln, wenn diese durch ihre psychotisch erkrankte biologische Mutter ein hohes genetisches Risiko tragen. Diese entwickelten jedoch keine Denkstörungen bei kommunikativ ungestörten Adoptionseltern.

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Vorläufer systemischer Psychosekonzepte Seit den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Konzepte zum Zusammenhang von familiären und sozialen Kontextbedingungen bei schizophrenen Psychosen entwickelt, auf die hier nur kurz hingewiesen werden soll: etwa das Konzept der »schizophrenogenen Mutter« (FrommReichmann 1948), Sullivans »interpersonal theory of psychiatry« (1962), das Konzept der ehelichen Strukturverschiebung (»marital skew«) bei den Eltern schizophrener Kinder (Lidz et al. 1957, 1958), die »Doppelbindungstheorie« (Bateson et al. 1956), das »Konzept der kommunikativen Abweichung von Eltern Schizophrener« (Wynne u. Singer 1963) oder das Konzept der »Expressed emotions« (Vaughn u. Leff 1976; Miklowitz et al. 1984). Viele der älteren Theorien sind heute kritisch zu sehen. Aus heutiger Sicht enthalten die Konzepte der Familientherapie der 1960er bis hinein in die 1980er Jahre Implikationen, die traditionelle Konzepte von Macht und Geschlechterrollen stabilisieren können und als implizite, verdeckte Kausalzuschreibung an die Familie als Verursacherin von seelischer Krankheit gesehen werden können. Damit kam es zu impliziten und expliziten Verletzungen von Familienmitgliedern. Sie sahen sich in die Sündenbockrolle gestellt oder als die »eigentlich Kranken« etikettiert. Diese Entwicklung mündete schließlich dahin, dass ab den 1980er Jahren besonders in den USA Eltern und Elterngruppen sich in einer »National Alliance for the Mentally Ill« zusammenschlossen, die offen gegen Familientherapie polemisierte. In Deutschland forderte der Sozialpsychiater Klaus Dörner den »Freispruch der Familie« (Dörner et al. 2001). 1988 fragte der bekannte amerikanische Familienforscher und Therapeut Lyman Wynne in einem Artikel skeptisch: »Family therapists and families: Can they really work together?«

iBeziehungsmusteri Viele Kernsymptome schizophrener Psychosen stellen Kommunikationsformen dar, die von anderen Menschen nicht als sinnvolle Beiträge entschlüsselt werden können, die relativ zum sozialen Bezugsrahmen als »ver-rückt« erscheinen. Für das Verständnis psychotischer Kommunikationsprozesse, in die schizophrene Patienten mit ihren Familien, ihren

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Behandlungsinstitutionen und ihrem sonstigen sozialen Netzwerk eingebunden sein können, wurden auf Basis der älteren amerikanischen Beiträge in der Mailänder Arbeitsgruppe um Selvini Palazzoli (1977) und der Heidelberger Arbeitsgruppe um Stierlin (z. B. Stierlin 1984; Stierlin et al. 1986; Simon et al. 1989; Retzer 1994, 2002; Schweitzer u. Schumacher 1995) Beiträge entwickelt, die hier näher beschrieben werden sollen. Weiche Wirklichkeitskonstruktionen – der Stoff, aus dem schizophrene Kommunikationsmuster gemacht sind? Ver-rückte Kommunikationsformen Einzelner gedeihen besonders gut in bestimmten kommunikativen Umfeldern, in denen eine Tendenz zur Bildung »weicher Wirklichkeitskonstruktionen« vorherrscht (Simon et al. 1989). In solchen legen sich die Kommunikationsteilnehmer möglichst wenig in dem fest, was sie ausdrücken wollen und was nicht. Ihre Beschreibungen bleiben vage, unbestimmt, uneindeutig. Vieles kann sein und kann auch nicht sein. Was wirklich ist, steht nicht hart und festgemeißelt fest, sondern bleibt schwammig. Solche weichen Wirklichkeitskonstruktionen werden durch eine Reihe unterschiedlicher Mechanismen, meist im Zusammenspiel mehrerer Teilnehmer erzeugt. Der Psychiater Lyman Wynne und die Rorschachspezialistin Margret Singer haben schon in der Frühzeit familientherapeutischer Forschung (1963) eine Liste kleiner Kommunikationsabweichungen inventarisiert, die dazu beitragen – etwa abrupte Themenwechsel, assoziative Wortketten, oder dass der nachfolgende Redner sich nicht auf den Vorredner bezieht. Dies lässt kohärente Sinnstrukturen nur schwer entstehen. Durch das synchrone, das heißt zeitlich nur minimal versetzte, nahezu gleichzeitig erfolgende Ausdrücken zweier vollkommen entgegengesetzter Impulse (»Ich liebe dich!« – »Komm mir nicht zu nahe!«) und durch das enorm schnelle Oszillieren zwischen diesen widersprüchlichen Tendenzen werden Unterschiede und Gegensätze zwischen Bedeutungsinhalten kaum noch erlebbar und verschwimmen ineinander. Kommunikationsteilnehmer können die Position, die Meinung, den geäußerten Wunsch, die geäußerte Kritik eines anderen Menschen heftig infrage stellen, im gleichen Moment aber die Innigkeit und vielleicht Interessengleichheit in der Beziehung besonders betonen. Als eine Variante dessen hat Ronald Laing (1974) die Mystifikation beschrieben: Einer

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redet dem anderen beständig ein, wie er eigentlich sei oder was er gerade wolle, auch und gerade wenn dieser dies gar nicht so sieht (»Du bist doch eigentlich …!« – »Du wolltest gerade doch eigentlich …!«). Bateson et al. (1956) beschrieben diesen Prozess als »Double-Bind«, als Beispiel einer kommunikativen Zwickmühle, in der ein Mensch zwei gegensätzliche Verhaltensaufforderungen erhält. Egal, für welche er sich entscheidet, ihm wird hinterher signalisiert, dass er die falsche gewählt habe (»Nie bringst du mir einen Blumenstrauß mit!« – und später dann: »Was soll ich damit, du hast es ja nicht freiwillig gemacht!«). Zu weichen Wirklichkeitskonstruktionen passen schnell wechselnde Beziehungskoalitionen – wenn Bündnisse schnell wechseln, die Teilnehmer sich mal mit dem einen gegen den anderen und dann mit dem anderen gegen den einen verbünden. Zugleich geht damit ein intensiver Austausch negativer Emotionen einher: »High expressed emotions« (Vaughn u. Leff 1976; Miklowitz 1984), man spricht auch von Overinvolvement, sind kritische, entwertende und zugleich sehr emotionale Kommentare und Bewertungen, die Kommunikationsteilnehmer im Rahmen einer sehr engen Beziehung übereinander abgeben (»Musst du denn immer das Hemd aus der Hose hängen lassen? – Weißt du nicht, wie sehr mich dieser Anblick belastet, sodass ich nachts kaum schlafen kann?«). Musterunterschiede bei schizophrenen, schizoaffektiven und manischdepressiven Psychosen Am Heidelberger Universitätsinstitut für Familientherapie lief zwischen 1984 und 1990 ein Projekt zur systemischen Familientherapie bei schizophrenen, schizoaffektiven und manisch-depressiven Psychosen. Hier wurden Familien behandelt, in denen eine der genannten Diagnosen für ein Mitglied gestellt worden war. Das Heidelberger Konzept baute auf Vorarbeiten am »Mental Research Institute« in Palo Alto (Bateson et al. 1956) und in Mailand auf (Selvini Palazzoli et al. 1977) und ergänzte diese vor allem durch erkenntnistheoretische Überlegungen. Über 100 ambulant familientherapeutisch behandelte Familien, von denen 60 sowohl katamnestisch als auch in einem Familienexperiment systematisch untersucht wurden, wurden während der Therapie daraufhin beobachtet, wie sie sich in Bezug auf die Konzepte »Wirklichkeitskonstruktion«, »logische Muster«, »zeitliche Muster« und »Koalitionen« ähnelten und unterschieden.

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Harte oder weiche Wirklichkeitskonstruktionen: Als »hart« werden im kommunikativen Konsens entwickelte Wirklichkeitsbeschreibungen mit hoher Verbindlichkeit, Unveränderbarkeit und Berechenbarkeit definiert. Umgekehrt sind »weiche« Wirklichkeitsbeschreibungen solche, die sich jederzeit schnell ändern können, wenig voraussagund berechenbar, wenig verbindlich sind. Ebene der logischen Muster: Die logische Organisation familiärer Wirklichkeitskonstruktionen lässt sich nach »Entweder-oder«- versus »Sowohl-als-auch«-Mustern differenzieren. »Entweder-oder«-Weltbilder sind in rigide Gegensatzpaare wie schwarz oder weiß, gut oder böse, normal oder verrückt geordnet. Zwischen- und Grautöne, Ambivalenzen, Abstufungen, Ambiguitäten existieren nicht. Familiäre »Sowohl-als-auch«-Weltkonstruktionen ermöglichen eher das Erleben von Vielfalt, Übergängen, Vieldeutigkeiten und Zwischentönen, wobei im Extremfall innerhalb solcher familiendynamischer Kommunikationsmuster nichts mehr unterscheid- und definierbar ist. Ebene der zeitlichen Muster: Antagonistische Tendenzen in Konflikten lassen sich temporär auf prinzipiell zwei verschiedene Weisen organisieren: synchron (gleichzeitig beobachtbar) oder diachron (nacheinander beobachtbar). In extremer Ausformung kann es zur synchronen (Antagonismen verschwimmen ineinander) oder zur diachronen Dissoziation kommen (Antagonismen entkoppeln sich völlig voneinander). Ebene der Beziehungsmuster und Koalitionen: Als außenstehender Beobachter kann man in Familien die Bildung von Subsystemen und Koalitionen, deren Definitionen, Abgrenzungen, Beständigkeit/Wechselhaftigkeit, Verdecktheit/Offenheit beschreiben.

Ergebnis dieser Studie war eine Konstruktion von Typen, nach der sich Familien mit (jungen) schizophrenen, schizoaffektiven und manischdepressiven Patienten unterscheiden ließen: Danach zeigt sich die familiäre Kommunikation rund um (junge) als schizophren diagnostizierte Patienten gehäuft geprägt von weichen, unklaren bis konfusen Wirklichkeitskonstruktionen. Es werden sehr gegensätzliche Positionen bezogen, Übereinstimmung ist selten, Konflikte werden aber eher verdeckt ausgetragen. Widersprüchliche Sichtweisen folgen in zeitlich enger Abfolge (synchron), was die Kommunikation

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kurzfristig belebt, auf die Dauer jedoch zu Erschöpfung führt. Wie die Teilnehmer zueinander stehen, bleibt eher unklar, die Koalitionen wechseln häufig. In Familien von Patienten mit manisch-depressiven Patienten sieht dies (idealtypisch) ganz anders aus. Hier werden eher sehr klare, eindeutige Positionen von den Kommunikationsteilnehmern bezogen – zum Beispiel dass das manische Verhalten des Patienten von den »normalen« Mitgliedern eindeutig verurteilt oder sein depressives Verhalten mit der klaren Aufforderung, »sich wieder zusammenzureißen«, beantwortet wird. Widersprüchliche Sichtweisen werden erst in längerfristigerer Betrachtung (diachron) sichtbar – etwa indem der ehemals Depressive nach vielen Monaten depressiven Verhaltens nun plötzlich »manisch abhebt« und die zuvor so verständnisvollen Angehörigen nun zu verärgerten Kontrolleuren werden. Beziehungskoalitionen bleiben hier viel längerfristiger stabil – insbesondere schließen sich die Angehörigen oft verlässlicher zusammen, um den Patienten entweder zu aktivieren und aufzumuntern (in der depressiven Phase) oder ihn zu kontrollieren (in der manischen Phase). Die Kommunikation rund um schizoaffektiv psychotische Patienten erscheint in dieser Typologie als eine Zwischenform zwischen diesen beiden Extremen: lebhafter als bei depressiven Patienten, klarer als bei schizophrenen Patienten. Eine Nebenwirkung davon ist, dass die Konfliktspannung – und damit auch die Risiken etwa für die Trennung zwischen Partnern oder für einen Suizid des Patienten – in schizoaffektiven Kommunikationen oft höher sind als in den manisch-depressiven Kommunikationen und in den kurzfristig aufregenden, aber langfristig erschöpfenden schizophrenen Kommunikationen. Kommunikation, Bindung, Grenzen, Konfliktvermeidung Die scheinbar schwer verständlichen Kommunikationsmuster in Familien mit sich psychotisch verhaltenden Mitgliedern ergeben Sinn vor dem Hintergrund bindungstheoretischer Erwägungen (von Sydow 2002). Unter den frühen Familientherapeuten hat Bowen (1960) darauf hingewiesen, dass sich in manchen Familien(teilen) über mehrere Generationen hinweg sehr enge Bindungen entwickeln (»It takes three generations to make a schizophrenic«), deren Teilnehmer sich aber ihrer inneren Stabilität, ihrer Abgrenzungsfähigkeiten nicht gewiss sind. Ähn-

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Tabelle 2: Idealtypische Beschreibungen der Familien mit einem als schizophren, schizoaffektiv oder manisch-depressiv diagnostizierten Mitglied (aus Simon et al. 1989, S. 200) Familien- schizophren typ

schizoaffektiv

manischdepressiv

hart und weich nebeneinander; Kommunikationsabweichungen neben klarer Kommunikation

hart; sehr klare und unveränderliche Werte; Kommunikation um Eindeutigkeit bemüht

Muster 1. Wirklichkeits- extrem weich; konstruktionen: starke Kommuni»hart oder weich« kationsabweichungen; konfusionierend 2. Logische Muster: »Entwederoder« vs. »Sowohl-alsauch«

Jeder Einzelne folgt dem Entweder-oder-Muster; kein Konsens – verdeckte Konflikte über die Wirklichkeit

Jeder Einzelne folgt dem Entweder-oder-Muster; es gibt Bereiche des Konsens und des offenen und verdeckten Konflikts über die Wirklichkeit

Jeder Einzelne folgt dem Entweder-oder-Muster; es gibt keinen offenen Konflikt über Wirklichkeit

3. Zeitliche Muster: »synchron« vs. »diachron«

kontradiktorische Sichtweisen synchron nebeneinander (synchrone Dissoziation)

kontradiktorische Sichtweisen synchron neben- und diachron nacheinander (synchrone und diachrone Dissoziation)

kontradiktorische Sichtweisen diachron nacheinander (diachrone Dissoziation)

4. Beziehungsmuster und Koalitionen: »klar vs. unklar«

keine klaren Beziehungsdefinitionen; unklare, ständig wechselnde Koalitionen

klare und unklare Beziehungsdefinitionen und Koalitionen nebeneinander, teilweise schnell wechselnd

klare und feste Beziehungsdefinitionen; wechselnde Koalitionsmuster nur über längere Zeitläufe

lich beschreibt es Mentzos (2000) als das zentrale schizophrene Dilemma, eine abgegrenzte Identität bewahren zu wollen, wenn man mit einem anderen in Beziehung tritt, gleichzeitig aber die Stabilität der Beziehung nur unter Preisgabe eigenständiger Identität wahren zu können. So entsteht das Bild von der Familie als einer Gruppe, in der der Einzelne sich nur schwer zu erkennen gibt, in der Konflikte als schwer erträglich an-

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gesehen werden und die als »Konglomerat emotionaler Einheit« wirkt (Bowen zit. nach Simon et al. 1999, S. 333). Wer Angst hat, verlassen zu werden, und wer nur schwer Nein sagen kann, wer deshalb konfliktreiche Themen vermeidet, für den erscheint einerseits eine noch verstärktere Bindung an die anderen, andererseits eine weiche, unklare Kommunikationsweise attraktiv. Mit dieser kann er in der physischen Beziehung bleiben und sich zugleich ein Stück weit entfernen und so sicher sein, sich nicht in der Kommunikationsgemeinschaft zu verlieren. Scheflen (1981) hat anhand von Videosequenzen von Mütter-Sohn-Paaren mit und ohne schizophrenes Mitglied sehr gut beschreiben können, dass Erstere gehäuft enger zusammensaßen, sich dabei aber weniger ansahen: Viele schizophrene Patienten zeigen gegenüber ihren Familien räumlich größere Nähe, senden dabei aber zugleich Distanz schaffende Signale aus. Dies fördert eine scheinbare Konfliktlosigkeit. Schizophrenes Konfliktmanagement lebt vor allem von drei Mechanismen (Retzer 2004): 1. Vermeidung, Gegensätze eindeutig als solche zu markieren. 2. Vermeidung von Übereinstimmung darüber, ob Gegensätze tatsächlich Gegensätze sind. 3. Ein schnelles Schwingen zwischen gegensätzlichen Positionen, sodass diese verschwimmen. Pathologisierung, Exkommunikation Dabei entsteht aber schon bald ein Risiko: Wird die Kommunikation zu abweichend und wird in einem sich aufschaukelnden Prozess der allzu abweichend Kommunizierende allmählich pathologisiert, dann droht irgendwann seine Ausstoßung aus der gleichberechtigten Kommunikation, seine »Exkommunikation«. Dem, was er sagt, wird kein verstehbarer Sinn mehr zugesprochen, er (oder sie) wird nicht mehr als Kommunikationspartner ernst genommen. Wenn dies häufiger geschieht, ist das eine Eintrittskarte zu einer schizophrenen Karriere. Dabei führen zwei unterschiedliche Abweichungen zu unterschiedlichen sozialen Reaktionen: – Bei der sogenannten Plussymptomatik, in der bestimmte bizarre Verhaltensweisen entwickelt und gezeigt werden, wie Wahnvorstellungen, Halluzinationen, selbst- und fremdaggressivem Verhalten, zeigt der Patient zu viel von Verhaltensweisen, die von ihm nicht erwartet wer-

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den. Diese laden zu einengenden Maßnahmen sozialer Kontrolle ein. – Bei Minussymptomatik (also dem Fehlen von Verhaltensweisen, das heißt bei Apathie, Antriebslosigkeit, sozialem Rückzug etc.) zeigt er oder sie kein oder zu wenig von dem Verhalten, das von ihm eigentlich erwartet wird. Dies lädt die Umgebung zu aktivierenden oder kompensierenden Trainings- und Rehabilitationsmaßnahmen ein. Chronifizierung Eine neue Prozessqualität beginnt, wenn das betreffende Mitglied sich in der Ghettosituation des psychisch Kranken so einrichtet, dass diese zunehmend zu seiner Lebensgrundlage wird (»Hauptberuf: psychisch behindert«). Daran müssen neben einem Patienten und seinen Angehörigen auch das weitere Umfeld mitwirken, insbesondere Fachleute und sozialrechtliche Bestimmungen. Der Prozess ist von uns in einer Liste ironisch ausformulierter »Tipps zur Chronifizierung speziell psychiatrischer Probleme« (von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 113) genauer beschrieben.

iEntstörungeni Wir stellen hier in erster Linie ausführlich das in Heidelberg zwischen 1985 und 1990 entwickelte Modell systemisch-konstruktivistischer Psychosetherapie vor. Dies ergänzen wir durch Hinweise auf andere Ansätze, die das soziale Umfeld ebenfalls einbeziehen, es aber mit einer anderen Philosophie und Vorgehensweise verbinden. Die Wiedereinführung des Exkommunizierten Ein wesentliches Merkmal der familientherapeutischen Behandlung ist die Entpathologisierung der menschlichen Erfahrung der Psychose durch die Hervorhebung ihrer zwischenmenschlichen Bestandteile. Dies wird durch die Wiedereinführung des aus der Kommunikation ausgeschlossenen Mitglieds in die Kommunikation möglich, durch Anschluss der Worte und Verhaltensweisen des schizophren diagnostizierten Menschen an seine soziale Umwelt (Retzer 2004). Folgende Vorgehensweisen haben sich hierbei bewährt:

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Sprechen mit dem schizophrenen Patienten: Bei diesem Vorgehen geht es darum, mit dem »verrückten« Mitglied überhaupt, am besten mit ihm zuerst und am meisten, normal und vernünftig zu sprechen. Dies überrascht meist zunächst die Angehörigen, die dem aber nach einiger Zeit oft mit zunehmender Entspannung zuhören. Die Entkopplung von (Un-)Verständlichkeit und (mangelnder) Absicht: Hierbei stellt die Therapeutin gegenüber dem als schizophren diagnostizierten Mitglied fest, dass dieses sicher gute und verständliche Gründe habe, sich aktuell unverständlich zu äußern und zu verhalten, auch wenn diese von der sozialen Umwelt (auch von ihr) derzeit noch nicht verstanden werden. Da der Anschluss an die soziale Umwelt nicht über Verständlichkeit herzustellen ist, wird sie bei diesem Vorgehen mittels Intentionalität erzeugt: Die Absicht kann verstanden und wertgeschätzt werden, auch wenn der Inhalt nicht verstehbar scheint. Metakommunikation zwischen gleichwertigen Kommunikationspartnern: Metakommunikation ist der Austausch darüber, wie man miteinander reden will. Oft wird nach einiger Zeit des Dialogs mit dem schizophrenen Mitglied angemerkt, dass man jetzt schon geraume Zeit recht vernünftig miteinander rede, ob dies oft vorkomme, wann nicht, wie man es schaffen könne, andernorts auch verstehbar oder unverstehbar zu kommunizieren. Der Therapeut sieht dabei auch »verrücktes Reden« als eine Kompetenz an, die nicht jedem gleichermaßen leichtfällt und der Übung und der einladenden Kontexte bedarf.

Infragestellung des Krankheitskonzeptes In der Sicht systemischer Familientherapie (und der damit verbundenen Erkenntnistheorie, die wir in Kapitel 1 skizziert haben) werden Psychosen als Phänomene angesehen, von denen man weder sagen kann, dass sie als Entitäten existieren, noch dass sie als solche nicht existieren. Sie können (zumindest auch) als soziale Konstruktionen angesehen werden. Dann interessiert es eher zu erfragen, welche Konsequenzen sich aus den verschiedenen möglichen Konstruktionen ergeben. Was verändert es, eine Psychose als Krankheitsentität anzusehen oder dies nicht zu tun? Es interessieren die pragmatischen Konsequenzen der Diagnosestellung. Krankheitskonzepte und Diagnosen haben Folgen für den Um-

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gang mit dem diagnostizierten Menschen seitens der Umwelt und dieses Menschen mit sich selbst. Eine wichtige Strategie ist es dabei, psychotisches Verhalten als Handlung zu betrachten, zu der sich Menschen entscheiden können, wenn sich dies im sozialen Kontext als sinnvoll erweisen sollte. Eine solche Betrachtungsweise bedeutet, dass jeder Einzelne in der Familie lernen kann, Verantwortung zu übernehmen und damit einen gewissen Druck von Schuldgefühlen auszuhalten, der entsteht, wenn eine eigenständige Position gegenüber den anderen Mitgliedern eingenommen wird (vgl. Ruf 2005). Sie impliziert auch, dass es die Möglichkeit geben könnte, sich von der Psychose zu verabschieden, wenn sich die Kontextbedingungen geändert haben (Simon 1990). Empirisch konnte gezeigt werden (Retzer 1994), dass eine Aufweichung rigider biomedizinischer Krankheitsvorstellungen vor allem bei kürzer erkrankten Patienten (durchschnittlich fünfjährige Erkrankungsdauer) mit einer Verringerung der Rückfallrate einherging. Bei Menschen mit langjährigen Krankheitskarrieren hingegen ist die Infragestellung des Krankheitskonzeptes als Ganzes eher ängstigend, vor allem wenn die Lebensgrundlage auf einem verbrieften Behindertenstatus beruht. Hier geht es um ein möglichst behinderungsarmes Leben im Schutz einer nicht mehr infrage gestellten Dauerdiagnose (Schweitzer u. Schumacher 1995, S. 298ff.). Retzer (1994, 2004) nennt folgende systemische Strategien zur Aufweichung und Auflösung rigider Krankheitskonzepte bezüglich schizophrener und schizoaffektiver Psychosen: – Transformation von zugeschriebenen Eigenschaften und den damit verbundenen Bewertungen in Verhalten: »Was genau tut oder sagt der Patient, wenn er von anderen als zum Beispiel ›paranoid‹ bezeichnet wird? Was müsste er tun (und wie lange), dass er nicht mehr als ›paranoid‹ angesehen werden würde?« – Zeitliche, räumliche und interaktionelle Kontextualisierung dieses Verhaltens: »Was tut er wann, wo und wem gegenüber? Und wie reagieren die anderen Menschen darauf?« – Verknüpfung des symptomatisch-schizophrenen Verhaltens mit den Verhaltensweisen anderer zu Feedbackschleifen: »Wenn zum Beispiel die Angehörigen die Patientin zu beruhigen versuchen – zeigt sie sich danach tatsächlich ruhiger oder eher noch beunruhigter?« – Exploration der Reaktionen des sozialen Kontextes auf symptomatisch-

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schizophrenes Verhalten: »Wenn sie sich psychotisch verhält, was tut dann die Mutter? Und wenn sie sich durch die Mutter nicht beruhigen lässt, was tut dann der Vater? Und wie reagiert die Mutter darauf?« Exploration der Erzeugung problematischen und symptomatisch-schizophrenen Verhaltens: »Was müsste die Patientin tun, damit die Angehörigen denken, jetzt beginne eine erneute psychotische Krise?«

Behutsame Konfliktbearbeitung Die in der schizophrenen Kommunikation geförderte Konfliktvermeidung gilt es zunächst zu akzeptieren, als sinnvoll anzuerkennen und einen respektvollen, zugleich aber Weiterentwicklung ermöglichenden Umgang mit ihr zu erarbeiten. Dies spiegelt sich in der systemischen Therapie von schizophrenen Patienten und ihren Angehörigen in mehreren typischen Interventionen wieder (Fallbeispiele bei Schweitzer u. Schumacher 1995; Schweitzer 2002; Retzer 2004; Ruf 2005). – Bewusstes Verschieben von Konfliktlösungen: Man kann Patient und Angehörigen empfehlen, in der nächsten Zeit (»bis auf Weiteres, vorläufig …«) und in bestimmten Beziehungssituationen (»in dieser konkreten Lebenssituation, bis Bedingungen sich verändern …«) das Klären und Lösen von Konflikten bewusst noch etwas hinauszuschieben – gerade angesichts der möglichen Konsequenzen und Risiken. – Symptomverschreibungen zur Konfliktprävention: Der Therapeut/ die Therapeutin kann empfehlen, symptomatisches Verhalten zuweilen bewusst gerade dann zu zeigen, wenn ein bestimmter Konflikt sich ankündigt. Diese Konfliktsichtbarmachungsstrategie kann dazu führen, dass Symptome, die bisher Konflikte auslösen konnten, diese nun auflösen können. – Die Diachronisierung einer synchronen Zeitorganisation: Konflikte werden in der Zeit wieder sichtbar, wenn die konfligierenden Tendenzen nicht alle gleichzeitig (synchron), sondern nacheinander (diachron) ausgedrückt und ausgelebt werden (vgl. die diesbezüglichen Aussagen im Kapitel über Angststörungen in diesem Buch). Hier hat sich die Empfehlung von Ritualen, also einer Reihe von Handlungen in symbolisch bedeutungsvoller zeitlicher Abfolge, bewährt. Eine klassische Form ist die Empfehlung an den Patienten, sich an geraden Wochentagen noch unklarer als sonst zu äußern und sich an den un-

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geraden Tagen eventuell zu erlauben, gelegentlich verstanden zu werden (Selvini Palazzoli et al. 1979). – Das therapeutische Splitting: Diese Strategie kann dabei hilfreich sein, rigide diachrone Dissoziationen und harte »Entweder-oder«Muster aufzulösen. Jeder der beiden Therapeuten vertritt eindeutig und einseitig eine Seite des Konfliktes, ohne dass beide sich schließlich einigen – wodurch eine Uneindeutigkeit der Bewertung in der Kultur des Therapeutensystems eingeführt wird. Der Konflikt bleibt somit in der Schwebe und ermöglicht ein bewertendes »Sowohl-alsauch« (beide haben recht) sowie ein »Weder-noch« (keiner hat recht). Rückfallprophylaxe Wenn durchgesprochen ist, wie man einen psychotischen Zustand allein oder gemeinsam wieder erzeugen könnte, wenn man dies wollte, führt meist zu vielen therapeutisch nützlichen »Unterlassungsideen«. Eine solche Rückfallprophylaxe kann in verschiedener Form geschehen (vgl. hierzu von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 215; Retzer 2004): – Die Vorwegnahme des Vermeidbaren: Die Familienmitglieder werden befragt, wer genau was tun müsste, was passieren müsste, damit das symptomatisch-schizophrene Verhalten wieder auftritt. – Die Beschreibung, Erklärung und Bewertung von Unterschieden zwischen Rückfällen: Vor allem bei Menschen, bei denen chronische Psychosen diagnostiziert worden sind, werden Unterschiede zwischen Rückfällen seitens des Menschen selbst und seiner sozialen Umwelt ausgeblendet. Die Markierung von Unterschieden lässt deutlich werden, inwieweit der letzte vermeintliche Rückfall schon gänzlich anders als der vorige war – eigentlich eher ein Vorfall denn ein Rückfall. – Die Exploration negativer Konsequenzen ausbleibender Rückfälle: Es können negative Konsequenzen der Aufgabe schizophrenen Verhaltens im Verlust sozialer Begünstigungen (Rente, Wohnplatz oder Betreuung) und in der Einengung unsanktionierter Verhaltensspielräume bestehen. Psychotisches Verhalten kann beibehalten werden, wenn es sich als zu nützlich erweist, um sich davon zu verabschieden – zumindest so lange, bis alternative Handlungsoptionen und Lösungsstrategien entwickelt werden, um sich etwa von aufdringlich-gutwil-

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ligen Familienmitgliedern, die einen verstehen wollen, abzugrenzen, oder die finanzielle Zukunft alternativ zur psychoseassoziierten Frühberentung sicherzustellen. Beratung in chronifizierten Situationen Hier geht es zunächst um die Gewinnung einer (konstrukt-)neutralen Haltung gegenüber Chronifizierungsphänomenen wie Frühberentung, dauerhaftem Sozialhilfebezug, Einzug in dauerhaft betreute Wohnverhältnisse. Die Wertschätzung solcher Arrangements als derzeit bestmögliche Lösung ist Voraussetzung für eine kooperative Haltung, die den Klienten nicht mit unangebrachtem Veränderungsdruck überschüttet (Schweitzer 2001; Armbruster et al. 2002). Auf dieser Basis können sich dann verschiedene Vorgehensweisen empfehlen: – Chronifizierungsstrategien verdeutlichen: Herausarbeiten, was und wie alle Beteiligten (Patient, Angehörige, Nachbarn, professionelle Betreuer) bislang und künftig zur Chronifizierung beitragen (können). – Gute Gründe würdigen: Die kontextabhängigen guten Gründe für die Herstellung von Chronifizierung würdigen – die meist für alle Beteiligten viel mit Stressreduktion nach anstrengenden Zeiten, mit Einsicht in die Grenzen des Möglichen, mit Bereitschaft, sich gegenseitig zu schonen, zu tun haben. – Auswege erkunden: Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Chronifizierungsprozess explorieren, diskutieren und gedanklich durchspielen: Wo könnte der Klient, wenn er dies wollte, ein wenig selbstbestimmter leben als bisher; wo könnten Versorgungsangebote unnötig geworden sein; auf wessen Hilfe könnte er inzwischen eventuell gar nicht mehr angewiesen sein? – Ambivalenz zuspitzen: Die Ambivalenz zwischen dem Pro und dem Kontra des Chronifizierungsprozesses wird soweit zugespitzt, dass neue Entscheidungen möglich werden können. Das Durchdenken dieser Ausstiegsmöglichkeiten erzeugt oft Angst. Deshalb muss im Geiste jederzeit die Bremse gezogen werden können, die Möglichkeit zum Belassen des Status quo lobend anerkannt werden, ja wie bei der Rückfallprophylaxe ein psychiatrischer Rückfall als gegebenenfalls sinnvolle Bremsaktion wertschätzend ins Auge gefasst werden. – Therapeutische Krisen induzieren: Bei Langzeitpatienten kommt es zu potenziell produktiven Krisen, wenn sich neue Anforderungen erge-

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ben – entweder an mehr Selbstständigkeit (z. B. beim Tod eines Elternteils, der sein krankes Kind lange versorgt hat) oder an eine stärker institutionalisierte Betreuung. Möchte man darauf nicht warten, kann man manchmal eine »therapeutisch induzierte Krise« (Ciompi 1977) im Leben des Patienten auslösen – in einer Rehabilitationseinrichtung etwa dadurch, dass auf normale Pflichten und Anforderungen (z. B. an Hygiene, Tagesrhythmus, Hausdienste etc.) ungeachtet aller Psychose insistiert wird und es somit dort beginnt, unbehaglicher zu werden. »Mitgehen« statt Konversation: Langzeitpatienten reden oft wenig und auch ihre soziale Umwelt bietet oft wenig interessante (neue) Informationen über sie an. Hier wird häufig Handeln wichtiger als Reden. Das Prinzip ist hierbei, bewusst chronifizierte, absonderliche Verhaltensweisen seitens der Helfersysteme übertrieben zu unterstützen und zu fördern (»Mitgehen«, »Mitagieren«), sodass der Patient von sich aus den Impuls verspürt, mit dem absonderlichen Verhalten aufzuhören, weil er selbst genug davon hat.

Psychoedukative, familienorientierte Behandlungsansätze Die wesentlichen Elemente der Psychoedukation bei Schizophrenie sind (Hornung 2002; Marley 2004): – Die Verbreitung von genauer und aktueller Information über die Entstehung, die Diagnose, den Verlauf und die Behandlung schizophrener Störungen, über spezifische familiäre Bewältigungsstrategien wie das selbstbewusste Abgrenzen der Angehörigen von allzu belastenden Anforderungen durch den Patienten sowie die Steigerung der Compliance durch Information über Medikation und Nebenwirkungen. – Die Ansprüche an den Patienten auf ein realistisches Maß rücken – was kann man von ihm hinsichtlich Haushaltsführung, persönlicher Hygiene, Medikamenteneinnahme oder gar Erwerbsarbeit erwarten? – Eine optimale Medikation anstreben, indem Wirkungen und Nebenwirkungen einzelner Medikamente besprochen und im Spannungsfeld von ärztlich vorgeschlagener und vom Patienten akzeptierter Medikation diese beiden Sichtweisen möglichst in Übereinstimmung gebracht werden.

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– Früherkennung drohender Rezidive durch rechtzeitiges Bemerken von Frühwarnsymptomen und die Erstellung eines persönlichen Krisenplanes. Psychoedukative Therapie ist zwar auch familienorientiert, jedoch nicht systemisch ausgerichtet. Sie sieht sich als Ergänzung zur antipsychotischen Langzeitmedikation. Die Medikation wird sowohl als Voraussetzung einer erfolgreichen Teilnahme als auch als wichtiger Inhalt der Psychoedukation angesehen. Psychoedukative Programme sind in der Regel halbstandardisiert, werden meist mit vier bis sechs Patientinnen und möglichst zwei Therapeutinnen über 10 bis 15 Sitzungen durchgeführt. Der Einbezug von Angehörigen geschieht hier bifokal, das heißt in getrennten Gruppen für Patienten einerseits, für Angehörige andererseits. Der Miteinbezug von Angehörigen in solche Programme soll das Rezidivrisiko um weitere 20 % reduzieren (Pitschel-Waltz et al. 2001). Das Prinzip einer edukativen, bewältigungsorientierten Behandlung von Familien ist in vielen Leitlinien repräsentiert. So nennt zum Beispiel die »Behandlungsleitlinie Schizophrenie« der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) als Familieninterventionen: »Verhaltensanalyse – Kommunikationstraining – Problemlösestrategien – Verhaltensstrategien bei spezifischen Problemen«. Die »Leitlinie Paar- und Familientherapie« (in Abstimmung mit der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften) benennt hingegen sowohl edukative Familienbehandlung als auch systemische Familientherapie als empirisch gut belegte Verfahren (Wirsching u. Scheib 2004, S. 5). Zwischen beiden Ansätzen gab es um 1990 herum eine intensiv geführte Auseinandersetzung (Simon u. Weber 1988; Hahlweg et al. 1989; Weber u. Retzer 1991; Retzer 1991; Bäuml u. Pitschel-Waltz 2003), die kritischen Aspekte greifen wir hier einmal kurz auf (vgl. Herzog u. Schweitzer 1993): Der Weg der psychoedukativen Familienbehandlung scheint in vieler Hinsicht »Lösung und Problem« zugleich zu sein (Hunter et al. 1988). Das Krankheitskonzept geht von einer lebenslangen kognitiven und emotionalen Behinderung aus, die sich als Störanfälligkeit gegenüber reizintensiven sozialen Kontexten zeigt. Mit FrühsymptomMonitoring, Neuroleptika und Stressmanagement könne man sie zwar einigermaßen unter Kontrolle halten, man müsse vor ihr allerdings stän-

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dig auf der Hut sein. Die Entlastung für die Angehörigen wird dabei aus systemischer Sicht um einen hohen Preis erkauft, nämlich einer Verfestigung der Rolle des Kranken und einer Dämonisierung des Krankheitsgeschehens, das im Kranken autonom, ohne sein Zutun abläuft. Die Angehörigen können nur lernen, sich mit dem Patienten zu arrangieren, ihn angemessen zu behandeln, mit ihm anders umzugehen, das Stressniveau in der Familie zu senken. So wird Harmonie in der Familie auf Kosten einer Chronifizierung erreicht, die zwar weniger negativ verläuft, doch geht auch eine Chance verloren: Jeder Betroffene, sei es der Kranke, seien es die Gesunden, könnte sich als Beteiligter an einem bestimmten Familienmuster sehen und alle könnten ihre Möglichkeiten gemeinsam steigern, kreative Muster zu entwickeln, in denen Krankheit kein Thema mehr ist (oder zumindest weniger). Ein besonders wichtiger Effekt psychoedukativer Programme scheint tatsächlich zu sein, dass sie die Erwartungen der Familienangehörigen an den Patienten senken. Für manche Familien stellt dieses Krankheitskonzept etwas Tröstliches dar (»Nun wissen wir, woran wir sind, und können uns dementsprechend einrichten«), für andere Familien etwas Deprimierendes (»Jetzt wissen wir, dass wir bis ans Ende unseres Lebens einen Behinderten in der Familie haben, der wahrscheinlich immer mehr Arbeit machen wird«). In den letzten Jahren haben sich eine Reihe anderer Ansätze entwickelt, die die Gefahren einer verkürzten familientherapeutischen Sicht (wie anfangs skizziert) und die eines rein edukativen Ansatzes vermeiden. Sie verbinden eine systemische Perspektive mit einem gemeindeorientierten Vorgehen, das heißt sie akzentuieren den Netzwerkgedanken stärker als die bislang erwähnten Ansätze. Sie werden im Folgenden dargestellt. Multifamilientherapie bei Psychosen Die Multifamiliengruppentherapie (MFGT) wurde schon um 1960 in den USA entwickelt (Laqueur et al. 1964). In neuen sozialpolitischen Kontexten gewann sie wieder neuen Schwung, besonders durch die Veröffentlichungen von McFarlane (1983, 2002) und erlebt derzeit auch in Europa eine Renaissance (Asen u. Schuff 2006). Unsere Beschreibung orientiert sich an Marley (2004). In MFG-Therapien arbeiten vier bis sieben Familien mit zwei Therapeuten für einen bestimmten Zeitraum zusammen. Sie sind verbunden durch ein gemeinsames Problem (hier ein als schizophren diagnostiziertes Mitglied), empfehlenswerterweise

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auch durch eine ähnliche Familienphase (z. B. mit adoleszenten oder jungerwachsenen Kindern), aber ansonsten möglichst heterogen nach sozialer Schicht, ethnischer Abstammung oder Familienstil. Die MFGT verfolgt drei Hauptziele: Rückfallvermeidung, die Verbesserung des psychosozialen Zustandes der Familienmitglieder und den Ausbau des sozialen Netzwerkes der Familie. Rückfallvermeidung wird angestrebt, indem die Familie zum Weg aus der Isolation, Selbststigmatisierung und Selbstüberlastung eingeladen wird und indem eine weniger kritisch-involvierte Kommunikation (also weniger »expressed emotions«) angestrebt wird. Der psychosoziale Zustand der Mitglieder soll sich durch die Ermunterung zu mehr Unabhängigkeit voneinander bessern. Schließlich soll sich aus den Gruppen idealerweise ein einigermaßen nachhaltiger, familienübergreifender und solidarischer Bekanntenkreis entwickeln, auf den auch in Krisenzeiten zurückgegriffen werden kann. MFGT wird in offenen oder geschlossenen Gruppen angeboten, über kurze oder lange Zeit. McFarlane favorisiert bei Familien mit schizophren diagnostizierten Mitgliedern langfristige und geschlossene Gruppen als das effektivste, aber nicht immer verwirklichbare Modell. Den Ablauf einer MFGT kann man in vier Hauptphasen verlaufend beschreiben: 1. Die Gruppe zusammenbringen: Zunächst lernt eine der Therapeutinnen jede interessierte Familien und deren einzelne Mitglieder kennen – ihr Krankheitsverständnis, ihre Ziele, die Stärken und Schwächen sowie die voraussichtliche Belastbarkeit jedes Mitglieds in der Gruppe. Sie erklärt ihnen die Ziele der Gruppe und wie sie ablaufen wird. 2. Den Gruppenzusammenhalt fördern: Alle Gruppenmitglieder stellen sich und ihre Situation/ihr Anliegen vor. Erfahrene Gruppenmitglieder helfen den neu Hinzugekommenen, sich zu orientieren. Die Therapeuten fördern mit verschiedenen Settings und Techniken die Konversation zwischen den Familien (Fragen der Mitglieder einer Familie umformulieren und an andere Familien oder deren Mitglieder umleiten, Kleingruppenunterhaltungen zwischen je zwei einzelnen Familien). Immer wieder wird die Expertise der Familien betont: Sie kennen sich damit aus, wie man das Leben mit Schizophrenie täglich bewältigt. 3. Loslösung und Problemlösen: Wenn Zusammenhalt und Vertrauen

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gewachsen sind, dann können die unterschiedlichen Mitglieder einander gegenseitig befragen, auf Dinge hinweisen, Annahmen und Praktiken infrage stellen. Strategien zur Lösung typischer Alltagsprobleme werden ausgetauscht. Dabei wird den Familien(mitgliedern) oft auch deutlich, wie sozialer Rückzug und Isolation, Überinvolvierung und interne Kritik Problemlösungen oft erschweren. 4. Ein Netzwerk sozialer Unterstützung aufbauen: Die Gruppe war dann erfolgreich, wenn aus ihr auch außerhalb der Gruppensitzungen und über sie hinaus Alltagsbeziehungen entstehen. In der Gruppe mitzuerleben, wie andere Familien von ähnlichen Emotionen erschüttert werden und ähnliche Kämpfe ausfechten, kann eine gewisse Öffnung zu neuen Bekanntschaften über diese ursprüngliche Multifamiliengruppe hinaus fördern. In der MFGT steht gelegentlich eine einzelne Familie zeitweilig im Vordergrund – sie sitzt im Inneren eines größeren Kreises und diskutiert eine typische Situation, die Diskussion wird von einer der Therapeutinnen moderiert, oder sie versucht ein für sie typisches Problem zu lösen. Die anderen Familien sitzen im Außenkreis, hören zu und fungieren als griechischer Chor für diese Familie: Sie geben Kommentare zum Gehörten, unterbreiten Vorschläge und erzählen von eigenen Erlebnissen. Die Therapeuten müssen sorgfältig beachten, ob und wann eine einzelne Familie diese Situation produktiv nutzen kann – die intensive Fokussierung kann für manche Familien allzu überwältigend sein. Immer wieder wird eine Familie gebeten, die Leitung einer bestimmten Sitzung zu übernehmen. Die Führungsrolle kann und soll rotieren. Auch hier braucht es bei den Therapeutinnen ein gutes Gespür, wann dies welcher Familie zuzutrauen ist. Die besondere Stärke der MFGT liegt in der Überwindung der Isolation der Familien mit einem als schizophren diagnostizierten Mitglied und im Nutzen der Expertenschaft aller beteiligten Familien für die kräftezehrenden Alltagsprobleme im Umgang mit Krisenbewältigung und chronischer Dauerbelastung, Klinikaufnahmen und Rückkehr aus der Klinik, Medikamenteneinnahme und -nichteinnahme, enttäuschten Hoffnungen und wiedergewonnenem Vertrauen.

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Need-Adapted Treatment und dialogische systemische Therapie: Der Ansatz von Seikkula et al. In Finnland wurde seit 1975 in der Behandlung schizophrener Ersterkrankungen das Konzept einer »Bedürfnisorientierten Behandlung« entwickelt (zur Übersicht Aderhold et al. 2003; Alanen et al. 2003), in der seit circa 1984 systemische Therapieansätze eine bedeutsame Rolle spielen (Lehtinen 2003). Sie sind in das öffentliche Versorgungssystem gut integriert. Bedürfnisorientiert bedeutet, dass keine Standardinterventionsprogramme verfolgt werden. Vielmehr werden – in enger Abstimmung mit dem Patienten und dessen Umfeld – aus der Vielzahl verfügbarer sozialpsychiatrischer, psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Interventionen die vor dem Hintergrund der besonderen Fallgeschichte am besten passenden ausgewählt. Besonders konsequent scheint dies in Südwestlappland umgesetzt worden zu sein, wo durch Jaako Seikkula das von Tom Andersen und dem russischen Sprachphilosophen Bakhtin inspirierte Konzept des »offenen Dialogs« in das Konzept eingebracht wurde (Seikkula et al. 2003). Seikkula et al. (1994, 2003) beschreiben folgende Praxis: 1. Psychoseteam – ortsunabhängig: Bei psychotischen Ersterkrankungen reist ein Psychoseteam, bestehend aus einem ambulanten und einem stationären Psychiatriemitarbeiter, in Absprache mit den Betroffenen innerhalb von 24 Stunden an den Manifestationsort des psychotischen Geschehens (Wohnung, Arbeitsstätte, Schule o. Ä.). 2. Therapieversammlung als zentrale Veranstaltung: Dort wird eine Versammlung abgehalten mit allen, die sich betroffen fühlen und mithelfen wollen. Diese folgt dem Prinzip des offenen Dialogs: Alles kann erzählt werden, nichts wird interpretiert, ein gemeinsames Verständnis der Situation wird angestrebt, aus dem sich dann die weitere Behandlungsplanung ergibt. 3. Langsam und kollaborativ entscheiden: Erst dann wird entschieden, ob eine Behandlung stationär oder ambulant beginnen soll, ob Neuroleptika eingesetzt werden sollen etc. Es wird ein Wert darin gesehen, solche Entscheidungen nicht zu übereilen, damit nicht allzu frühzeitig Behandlungskarrieren eröffnet werden, aus denen die Rückkehr schwer wird. 4. Behandlungskontinuität: Das anfängliche Psychoseteam bleibt für die nächsten drei Jahre für diesen Patienten zuständig – ihm wird

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Behandlungskontinuität garantiert. Die Behandlungsversammlungen als zentraler Ort des Fallverständnisses und der Therapieplanung finden in diesem Zeitraum bedarfsweise immer wieder statt. Die von Seikkula bislang in naturalistischen Studien aufgezeigten Behandlungsergebnisse sind in der Fünf-Jahres-Katamnese (Seikkula et al. 2006) von zwei aufeinanderfolgenden Behandlungskohorten von n = 33 und n = 42 Patienten beeindruckend (die erste war mehr am Mailänder Ansatz, die zweite mehr am Prinzip des offenen Dialogs orientiert): Bei beiden ergab sich eine ungewöhnlich niedrige Rate von Krankenhaustagen, Frühberentungen und anderen Behinderungsmaßen, im Verbund mit einer sehr niedrigen Dosis verwendeter Psychopharmaka. 70 % dieser ersterkrankten psychotischen Patienten wurden sogar über den gesamten Untersuchungszeitraum von fünf Jahren ohne Neuroleptika behandelt. 48 % der Patienten nahmen neben der systemischen Intervention zusätzlich eine Individualtherapie in Anspruch (meist Patienten, die schon relativ abgelöst aus ihrer Ursprungsfamilie waren). Diese Erfahrungen finden jetzt auch in den USA und in Deutschland viel Interesse (Keller 2002; Gottwalz u. Aderhold 2002). Sie sind hier aber organisatorisch viel schwerer umzusetzen als in Finnland, wo durch eine einheitliche Krankenversorgungsfinanzierung Kooperation, Kontinuität und therapeutische Flexibilität mehr gefördert werden als in Ländern mit einem stärker fragmentierten Behandlungssystem. Volkmar Aderhold, einer der deutschen Vertreter dieses Ansatzes, betont, was man aus den finnischen Erfahrungen lernen könne: »Das Timing der Interventionen im Verlauf der Schizophrenie ist außerordentlich wichtig: psychosoziale (auch systemische) Ansätze sind initial wirksamer als später. Bedürfnisorientierte Behandlung erlaubt eine sinnvolle, vom Patient und seinem Netzwerk wesentlich mitgesteuerte Ergänzung verschiedener Behandlungsformen« (pers. Mitteilung 2005). Nach Aderholds Ansicht sind mit der Kontextualisierung und der Behandlungskontinuität die wesentlichen Wirkfaktoren psychosozialer Psychosebehandlung bekannt. Die Herausforderung sei, diese nun auch in Versorgungssystemen zu realisieren, die institutionell weniger aus einem Guss als das finnische sind.

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2.2 Depression – Vom Nichtkönnen und vom Nichtwollen4 iStörungsbilderi Das Erleben von Phasen depressiver Verstimmtheit, der Melancholie oder Niedergeschlagenheit ist ein weitverbreitetes Phänomen (Wolfersdorff u. Rupprecht 2001). Diese Formen subklinischer Depression werden von Phänomenen abgegrenzt, die als klinische (majore) Depressionen diagnostiziert werden. Sie werden als eine primäre Störung der Affektivität, das heißt der Gestimmtheit eines Menschen verstanden (in der ICD-10: F3, zusammen mit den manischen und bipolaren Störungen), die anhand einer typischen Symptomatik mit einer gewissen Zeitstabilität und über ein typisches Verlaufsmuster diagnostizier- und beschreibbar ist (Wolfersdorf u. Rupprecht 2001). In depressiven Phasen ist die Neigung groß, die eigene Kraft und Stärke zu unterschätzen und klein zu reden, jeden Fehler aufzubauschen und hochzuspielen und innere Katastrophenszenarien zu entwerfen (Beck et al. 1999). Über der Traurigkeit, der Hemmung, der Willenlosigkeit und sogar über den suizidalen Tendenzen liegt »das unerträgliche Gewicht einer Hypersozialisation, die zur Frustration und zum Versagen verurteilt« (Linares u. Campo 2003, S. 39). Zudem können melancholische Stimmungen sich Tabelle 3: Depression in der ICD-10 F30–39 F32.0 F32.1 F32.2 F32.3 F33.0 F33.1 F33.2 F33.3

Affektive Störungen leichte depressive Episode mittelgradige depressive Episode schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen

4 Wir bedanken uns bei Dr. Eia Asen, London, und Dipl.-Psych. Andrea EbbeckeNohlen, Heidelberg, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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verselbstständigen und eine autonome Funktionalität entwickeln mit einer extrem bedrohlichen Qualität, einem Gefühl des absoluten Vernichtetseins, der totalen Isolation: »›Der Depressive ist tot, weiß aber, dass er tot ist.‹ Den Satz habe ich mir zu eigen gemacht […] Ich war verloren« (Jens 2001, S. 519f.). In der ICD-10 werden depressive Episode (F32) und rezidivierende depressive Störungen (F33) unterschieden (Dilling et al. 2004, Dilling u. Freyberger 2005). Bei den depressiven Episoden (leicht, mittelgradig oder schwer) leidet die betroffene Person in einem für sie ungewöhnTabelle 4: Symptome einer depressiven Episode nach ICD-10 (Wolfersdorf u. Rupprecht 2001, S. 391)

Hauptsymptome (2 bis 3 Symptome gefordert, Dauer je 2 Wochen) – gedrückte Stimmung – Interessenverlust, Freudlosigkeit – Antriebsminderung Andere Symptome (2 bis 4 Symptome gefordert) – verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit – vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen – Schuldgefühle, Gefühle von Wertlosigkeit – negative und pessimistische Zukunftsperspektive – Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung und Suizidhandlung – Schlafstörungen – verminderter Appetit Somatisches Syndrom – Interessenverlust, Anhedonie – mangelnde Reaktivität auf freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse – frühmorgendliches Erwachen (>2 Std. vor üblicher Zeit) – Morgentief von Stimmung und Antrieb, beobachtbare psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit – deutlicher Appetitverlust – Gewichtsverlust (mehr als 5 % des Körpergewichts) im letzten Monat – deutlicher Libidoverlust

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lichen Ausmaß unter einer gedrückten Stimmung mit Selbstvorwürfen und unangemessenen Schuldgefühlen sowie einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit, sich zu freuen, ist beeinträchtigt (Anhedonie), Interesse und Konzentration lassen bei gleichzeitigen Schlafstörungen nach. Man spricht von einer depressiven Episode, wenn diese Zustände mindestens zwei Wochen andauern, in der Anamnese keine manischen oder hypomanischen Symptome auftauchen und die Zustände nicht auf eine organische Störung oder Substanzmissbrauch zurückzuführen ist. Als schwerste Form gilt die schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F32.3 oder, wenn sich diese Zustände wiederholen, F33.3), in der depressiv-nihilistische Wahnideen und Halluzinationen vorkommen oder ein depressiver Stupor (völlige Antriebsarmut) so ausgeprägt ist, dass Lebensgefahr durch Suizid oder mangelnde Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme besteht. Depressionsrisiken Depression gilt als die häufigste psychische Störung, sie wird derzeit weltweit zu den fünf häufigsten Krankheiten gerechnet, mit steigender Tendenz (Wolfersdorf u. Rupprecht 2001). Die Wahrscheinlichkeit, im Verlauf des eigenen Lebens mindestens eine depressive Episode zu durchleben (sogenannte Lebenszeitprävalenzen) liegen bei 15 % (für Frauen bei 20 bis 25 %, für Männer von 7 bis 12%); die Wahrscheinlichkeit für eine anhaltende depressive Störung (chronische Depression, Dysthymia) liegt bei 2 bis 4 % (Wolfersdorf u. Rupprecht 2001). Depression wird als rezidivierende Störung verstanden, die bei 15 bis 30 % der Patienten chronisch verläuft und die Betroffenen stark einschränkt. Etwa 20 bis 25 % aller primär depressiv Kranken werden wegen der Schwere der Erkrankung zuerst stationär behandelt. Die Suizidrate bezogen auf die Lebenszeit bei allen depressiven Störungen liegt bei 4 bis 5 %. Eine große Bedeutung hat die Komorbidität, so liegen die Raten für Depression bei chronischer körperlicher Erkrankung (insbesondere bei Krebs) meist bei 30 bis 40 % (Staab u. Ludwig 1993). Depression und Partnerschaft Depressionen im Erwachsenenalter sind oft eng mit Partnerschaftsprozessen verbunden (Brown u. Harris 1978). Die Abfolge von Rückzug – gehemmter Kommunikation – Anwachsen der Spannungen –

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Streit – Rückzug kann sich selbst aufschaukeln. Schlecht funktionierende Partnerschaften zeigen eine höhere Häufigkeit, Stärke und Rückfallwahrscheinlichkeit depressiver Episoden (z. B. Beach u. Nelson 1990; Perlmutter 1995; Fiedler et al. 1998). Wenn Ehepartner die Qualität ihrer Ehe sehr unterschiedlich einschätzen, Konflikte vermeiden und zugleich uneindeutig miteinander interagieren, ist die klinische Rückfallwahrscheinlichkeit des depressiv diagnostizierten Partners höher (Backenstrass et al. 2001). Aus Sicht der empirischen Depressionsforscher Beach und Fincham (1998) ist eine Paartherapie bei Depression dann besonders erfolgsversprechend ist, wenn: – die Eheprobleme zeitlich vor der Depression auftraten; – der Patient weiblich ist (!); – (dysfunktionale) individuelle Kognitionen und paarbeziehungsunabhängige individuelle Probleme nicht im Vordergrund stehen. Gender-Ungleichheit Frauen werden häufiger als depressiv diagnostiziert als Männer (Jones u. Zalewski 1994). Es wird vermutet, dass dazu dreierlei beiträgt: Frauen machen mehr deprimierendere Erfahrungen von Einflusslosigkeit, sie drücken allgemeinen Distress anders (»depressiver«) aus als Männer, schließlich diagnostizieren Fachleute Depression bei Frauen eher als bei Männern. Die Depression verheirateter Frauen steigt an, wenn die ehelichen Entscheidungskompetenzen sowie die Verteilung von Haushaltsaufgaben ungleich verteilt erlebt werden (Whisman u. Jacobson 1989). Die eheliche Unzufriedenheit geht zeitlich der Depression voraus, nicht umgekehrt (Beach u. Nelson 1990; Rounsaville et al. 1979). Männer hingegen scheinen eher auf Arbeitsstress oder Entlassungen stärker depressiv zu reagieren als Frauen. Aber sie gehen mit depressiven Emotionen auch anders um als Frauen (Falicov 2003) – mit gegenüber Frauen erhöhtem Alkohol- und Drogenkonsum, antisozialen Handlungen und Suiziden (Männer suizidieren sich acht- bis zehnmal häufiger als Frauen vergleichbarer Altersgruppen). Depression und Migration Arbeitsmigranten, die aus Entwicklungsländern in Industrieländer kommen, drücken ängstliche und depressive Empfindungen gehäuft als körperliche Beschwerden aus, also in Form einer Somatisierungsstörung

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– wie in ihren Herkunftskulturen Körper und Seele einheitlicher erlebt werden. Körperliche Beschwerden sind weniger stigmatisiert als seelische und die Wege des Hilfesuchens (Arzt, Krankenhaus usw.) sind klarer vorgezeichnet (Eberding u. von Schlippe 2001). »Transnationale« Familien werden häufiger, in denen über lange Zeit berufstätige junge Erwachsene Familienmitglieder im Einwanderungsland, deren Partner und meist die Großeltern im Herkunftsland leben und die Kinder je nach wirtschaftlichen, zeitlichen und schulischen Möglichkeiten manche Jahre hier und manche Jahre dort verbringen. Sie verweisen auf neuartige Depressions-Beziehung-Dynamiken (Falicov 2003, S. 381ff.). So erleben viele lateinamerikanische Frauen in den USA mehr persönliche Freiheit, lateinamerikanische Männer hingegen einen Verlust sichergeglaubter Macho-Privilegien – was die Depressionsmuster umzukehren vermag. Die häufigen (frühen) Trennungserlebnisse der Kinder und die korrespondierenden Schuldgefühle der Eltern können, müssen aber nicht kompensiert werden durch die kulturelle Billigung des Umfeldes, dass Arbeitsmigration nötig und daher gut sei. Das Depressionsrisiko von Migranteneltern steigt sehr an, wenn ihre Kinder im Einwanderungsland zunehmend ihrer Kontrolle entgleiten. Halten jetzt die Eltern allzu rigide an traditionellen Werten fest, steigt das Suizidrisiko besonders bei ihren jugendlichen Töchtern. Eine flexible, aber langsame Akkulturation – weder ein schnelles Verlassen der alten Werte noch ein rigides Festhalten an ihnen – scheint der beste Schutz gegen solche depressionsbezogenen Risiken zu sein (Suarez-Orozco u. SuarezOrozco 2001). Depression und familiäre Unterstützung Unterstützung, Verbundenheit und Anerkennung seitens der familiären Umwelt machen depressive Phänomene statistisch unwahrscheinlicher (Hops et al. 1990; McFarlane et al. 1994), fördern deren schnellere Überwindung und treffende Vorhersagen zum Depressionsverlauf (z. B. McCullough et al. 1994; Kocsis et al. 1997). Umgekehrt hat eine erfolgreiche medikamentöse Depressionsbehandlung allein oft noch keine guten Nebenwirkungen auf familiäre Beziehungsprobleme in diesem Bereich (Krantz u. Moos 1987; Keitner u. Miller 1990).

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Depression und Kritik Forschungen aus dem »Expressed-emotions«-Ansatz betonen, dass die Folgen einer Depression von Patienten, die mit einem Partner zusammenleben, in Verbindung stehen mit dem Ausmaß an Kritik, das der Partner gegenüber dem Patienten äußert (Vaughn u. Leff 1976; Hooley et al. 1986). Butzlaff und Hooley (1998) schließen aus diesen Studien, dass das Ausmaß von »expressed emotions« zwischen den Paaren den weiteren (Neun-Monats-)Verlauf einer Depression noch besser vorhersagt als den einer Schizophrenie. Leff et al. fanden heraus, dass die von ihnen demonstrierte Überlegenheit systemischer Paartherapie gegenüber antidepressiver Medikation (Leff et al. 2000, 2003) sich nicht so sehr einer weniger kritischen Haltung des Partners als vielmehr einem Sich-weniger-Aussetzen der Patientin gegenüber dieser kritischen Haltung verdankt. Depression und Bindung Die Gestaltung frühkindlicher Bindungsmuster (im Sinne Bowlbys) scheint ein guter Prädiktor für Depression zu sein (Sexson et al. 2001). Kessler et al. (1997) konnten in einer groß angelegten Zwillingsstudie für depressive und Angsterkrankungen nachweisen, dass der »Umweltfaktor« Trennung von den Eltern/Verlust eines Elternteils unabhängig von genetischer Veranlagung zu einer erhöhten Vulnerabilität im Erwachsenenalter beiträgt. Wenn Kinder ihre Eltern depressiv erleben Wenn klinisch depressive erwachsene Patienten Kinder haben, dann kann es systemtherapeutisch sehr lohnend sein, diese bei der Verarbeitung der elterlichen Depressionen zu unterstützen. Für Kinder kann dann die Störung der Eltern auch zu einer Herausforderung für persönliches Wachstum werden und dazu beitragen, den Zusammenhalt der Familie zu stärken. Zwei Aspekte haben sich hierbei als entscheidend herausgestellt: – Kindern zu helfen, die Affekte auszudrücken, die sie im Umgang mit dem depressiven Verhalten der Eltern selbst erleben (Focht-Birkerts u. Beardslee 2000); – Kindern zu helfen, die elterliche Erkrankung zu verstehen (Beardslee et al. 1992).

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Wenn depressives Erleben Jugendlicher übersehen wird Bei Jugendlichen stellen Phasen depressiver Verstimmtheit einerseits normale Phänomene dar, die in dieser Lebensspanne gehäuft auftreten (Elmen u. Offer 1993). Die Prävalenzrate von Depression bei Jugendlichen liegt bei 4 bis 8 % (Birmaher et al. 1996). Andererseits besteht genau deshalb die Gefahr, dass klinische Depressionen dort verkannt werden (Lewinsohn et al. 1993). Es gibt empirische Hinweise dafür, dass solche verkannten Depressionen im Jugendalter bis weit ins Erwachsenenalter hinein Spuren vor allem im Beziehungsbereich hinterlassen können. Wenn Jugendliche etwa Trennung/Scheidung der Eltern erfahren, so stellt es eine wichtige Herausforderung für Eltern dar, Anzeichen von Depressionen bei ihren jugendlichen Kindern nicht zu bagatellisieren und zu übersehen. Trotz ihrer manchmal augenscheinlichen Stabilität können Jugendliche sehr verletzlich gegenüber familiären Umbrüchen und anfällig für Depression sein. Kulturspezifik der Manifestation depressiven Verhaltens und Erlebens Seligman (1990), ein führender amerikanischer Forscher über die »gelernte Hilflosigkeit«, sieht die »gegenwärtige Epidemie der Depression in den USA« in Zusammenhang mit der kulturellen Ideologie von Individualismus und Selbstgenügsamkeit (siehe auch Ruf 2005). Die unvermeidlichen Verluste und Fehlschläge im Leben werden allein auf das Individuum und sein Versagen attribuiert, nicht auf größere Einheiten wie etwa Gott, die Nation oder die Familie. Diese Kultur setzt das Sich-gutFühlen und positive Emotionen als Norm ein und toleriert negative Emotionen nur wenig. Depression wird demgegenüber derzeit als neurobiologisch begründete, pharmakologisch gut behandelbare Krankheit proklamiert, zu der sich zu bekennen salonfähig geworden ist. In dieser Kultur wird ein Suizid als das traurige Ende einer Depression angesehen. In einer andersartigen Kultur (Falicov 2003 führt ein Fallbeispiel aus Japan auf) kann der Suizid eher als ein mutiger Schritt betrachtet werden, seinem Kollektiv eine Schande und sekundär sich selbst später eine Depression zu ersparen.

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Individuelle Muster depressiven Denkens und Erlebens Die individuellen Dynamiken, die der Depression unterliegen, sind ausführlich untersucht worden. Linares und Campo (2003) nennen die »dringende Notwendigkeit, zu sein und zu tun, was andere bedeutsame Personen erwarten« als zentrale Basis für die Identität des Depressiven (S. 39). In der Tiefenpsychologie wird die zentrale Rolle von Verlust-, Verunsicherungs- oder Enttäuschungserlebnissen – und der Formen, in denen diese verarbeitet werden – in der Kindheit später depressiv erkrankter Menschen besonders betont: Auf der Suche nach Sicherheit entwickelt sich einerseits eine überstarke Abhängigkeit von anderen Menschen, zugleich aber ein (im Erleben nicht zugelassenes) Aufbegehren gegen diese Abhängigkeit. In der Spannung zwischen diesen beiden Polen entwickelt sich die depressive Symptomatik (Schauenburg 2000). Bekannt wurde die Beschreibung der dysfunktionalen kognitiven Schemata von Beck et al. (1999). Sie fanden die »kognitive Triade«, eine negative Sicht der Welt, der eigenen Person und der Zukunft, vor dem Hintergrund der Tendenz zu einseitigen, eindimensionalen, absolutistischen, globalen und invarianten Beschreibungen. Diese Schemata entstehen durch ungeprüfte Ableitungen aus frühen Sozialisationserfahrungen (klassisch ist hier das Modell der »gelernten Hilflosigkeit« zu nennen; Seligman 1992), Traumatisierungen oder chronischen Belastungen, sie sind stark automatisiert. Dahinter stehen hohe Ansprüche an sich und die Welt und idealisierte Grundüberzeugungen, die diese irrationalen, unangemessenen Kognitionen unterstützen. Systemisch-hypnotherapeutische Konzepte beschreiben die depressive Dynamik ganz ähnlich (Schmidt 2001). Sie sehen sie als Ausdruck einer dissoziierten Aktivität der Person, ihrer unwillkürlichen, selbsthypnotischen Imaginationen und Selbstsuggestionen. Sie macht sich sozusagen selbst depressiv. Dabei verweist Schmidt darauf, dass die Depression erst aus der Spannung zwischen einer inneren Seite, die sich nach schöneren Lebensmöglichkeiten sehnt, und einer düsteren Seite, die immer wieder die Übermacht gewinnt, erklärbar wird. Die Erfahrung des immer wieder verlorenen inneren Kampfes verstärkt die Hoffnungslosigkeit und Selbstabwertung im Sinne eines Teufelskreises. Doch kann die Entdeckung, dass es diese zwar unterdrückte, aber doch lebensorientierte innere Seite gibt, eine erste Umorientierung auf eigene Ressourcen hin ermöglichen.

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Schiepek und Schaub (1991) haben in einem Simulationsmodell mit iterativen Differentialgleichungen Zusammenhänge beim depressiven Störungsgeschehen im Zeitverlauf abbilden können. Parameter wie »Anforderung«, »Erfüllung«, »Versagensangst« und »Bewältigung« dämpfen beziehungsweise verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Damit konnten sie beispielsweise zeigen, dass im Zeitverlauf der Parameter »Versagensangst« sprunghaft abfällt, wenn langsam und kontinuierlich der Parameter »Bewältigung« erhöht wird.

iBeziehungsmusteri »Es kann nicht verwundern, dass der Ehepartner einer depressiven Frau die Aufmerksamkeit zahlreicher Autoren auf sich gezogen hat […] und einen privilegierten Platz in der Galerie der illustren Figuren in der systemischen Familientherapie einnimmt, gemeinsam mit der Mutter des Schizophrenen, dem Vater des anorektischen Mädchens und der Ehefrau des Alkoholikers. Aber ein Blick auf die Beziehung sollte vereinfachende Etikettierungen vermeiden und es wäre ebenso ungerecht, von Depressionen erzeugenden Ehemännern zu sprechen, wie man es in entsprechender Weise bei den schizophrenogenen Müttern gemacht hat« (Linares u. Campo 2003, S. 31). Welche Rolle können depressive Verhaltensweisen in engen sozialen Beziehungen, zum Beispiel in Partnerschaften spielen? Jones und Asen (2002) und andere Autoren weisen auf folgende Möglichkeiten hin: Aufforderung zum Engagement: Depressive Signale können als Botschaft an den Partner/die Partnerin wirken, er/sie solle sich stärker engagieren. Linares und Campo (2003) beschreiben dies so: »das emotionale Klima, das die Depression umgibt, ist […] kühl und beherrscht […] es ist unvorstellbar, zu sagen: ›Beachte mich, denn ich fühle mich einsam.‹« So mag die Symptomatik helfen, Wünsche und Bedürfnisse deutlich werden zu lassen, die anders nicht ausgesprochen werden können. Bindung an Vergangenes: Depressives Verhalten kann metaphorisch bestimmte Familienereignisse symbolisieren – in ihm kann die Erinnerung an ein verstorbenes Familienmitglied wachgehalten oder mit ihm die

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anhaltende Verbindung zu dem Verstorbenen ausgedrückt werden. So berichtet der Tübinger Rhetoriker Walter Jens in einem Interview über die von ihm selbst durchlebte Depression sehr eindringlich von dieser Verbindung zu seiner in einer schweren Depression gestorbenen Mutter: »Mir schwebte damals immer ein Vers vor: ›Du gehst der Mutter dunklen Weg. Du gehst der Mutter dunklen Weg.‹ Sie rief und lockte mich: ›Komm mein Junge‹[…] Jetzt forderte sie ein, was sie mir einmal gab: ›Geh meinen Weg!‹« (2001, S. 520). Loyalität: Dies kann auch als Loyalität verstanden werden. Mehrgenerational zeigt sich in Therapien oft, dass Menschen, deren Eltern ein schweres (ggf. depressives) Schicksal hatten und die ihren Eltern gegenüber sehr loyal sein wollen, sich (unbewusst) oft nicht trauen, es sich besser gehen zu lassen, als es ihren Eltern ging. Manche allerdings nehmen umgekehrt die Position des ewig Hilfreichen ein, der anderen (depressiven) Menschen zu helfen versucht. Schmidbauer (1997) hat dies als »Helfer-Syndrom« beschrieben. Partner binden: Depressives Verhalten kann systemerhaltend wirken – es kann Partner oder Kinder zumindest eine Zeitlang daran hindern, das Haus zu verlassen. Die Symptomatik, durch die der andere sich als schwach definiert, hat so gleichzeitig verdeckt einen anderen Charakter: Der Starke wird durch die Depression gezwungen, dem Schwachen beizustehen – und so vertauschen sich die Positionen. Der empirisch (bei depressiven Frauen) nachgewiesene Zusammenhang von Ehequalität und Depressivität kann sich in einer Kommunikationsabfolge äußern, die Reiter (1993, 1997) folgendermaßen als rückbezügliches Muster beschrieben hat: Depressiver Partner: »Ich bin so depressiv, weil unsere Ehe so schlecht ist.« Nichtdepressiver Partner: »Unsere Ehe ist so schlecht, weil du so depressiv bist.«

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Die beiden letzten Beschreibungen verweisen auf das, was in der systemischen Optik in den Blick gerät, nämlich die Frage, was die Depression für das Gleichgewicht in der Partnerschaft bedeutet. Linares und Campo (2003) nehmen an, dass in einer ursprünglich auf Symmetrie (Gleichheit) aufgebauten Partnerschaft diese Symmetrie verloren ging. Die Depression stellt die Symmetrie wieder her, doch wegen der vielfältigen Schwankungen, denen sie unterworfen ist, ist diese instabil. Perfektionsdruck – Konfliktfreiheit und Zusammenhalt als oberste Werte: Kollektive, im sozialen System gemeinsam geteilte, Druck erzeugende Ideen vom Typ: »Man kann und muss immer alles richtig machen«, können depressive Symptomatiken fördern, sofern diese Ansprüche die Beteiligten überfordern und sie an diesen scheitern. Dies gilt speziell für den Versuch, in zwischenmenschlichen Beziehungen dadurch alles richtig zu machen, dass Konfliktfreiheit und Zusammenhalt als oberste Werte hochgehalten werden (z. B. Simon 1995). Daraus resultieren oft starke familiäre Loyalitätsverpflichtungen, welche die Ausbalancierung eigener und anderer Bedürfnisse mit diesen Loyalitätsanforderungen (die »bezogene Individuation« im Stierlin’schen Sinne) erschweren können. Therapeutisch lohnt es, solche Loyalitätsleistungen zu würdigen, gleichzeitig aber eine optimale Balance zwischen diesen und den eigenen Bedürfnissen zu unterstützen (Schmidt 2001). Das Ausdrücken und Verfolgen eigener Bedürfnisse, die nicht im Einklang stehen mit der vorherrschenden Familienideologie (»Es gibt keine Konflikte und alles ist unauffällig und normal«), kann massive Schuldgefühle evozieren. Ohnehin erscheint das gesamte Familiensystem von Menschen, bei denen eine Depression diagnostiziert wurde, als sehr schuldgefühlanfällig. Deshalb ist gerade bei der Familientherapie darauf zu achten, dass nicht schon das Setting der Familiensitzung als Anklage erlebt wird – nach dem Motto »die Familie ist schuld an der Depression«. Die Beziehungsaufbauphase mit Familien sollte daher auf deren Kompetenzen und Ressourcen fokussieren (Schmidt 2001). Hilfreiche Helfer, hilflose Geholfene: Depressiv kommunizierende Mitglieder laden ihren Gegenpart dazu ein, sich selbst aktiv zu zeigen, den anderen aufzumuntern (»Kopf hoch«), vermehrt Verantwortung zu übernehmen, ohne dass dies danach von Erfolg gekrönt ist. Umgekehrt

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kann ein zuvor Überverantwortlicher, indem er in eine depressive Position hinüberwechselt, dem zuvor Hilflosen nun Gelegenheit geben, seinerseits Initiative zu ergreifen.

iEntstörungeni »Wenn wir uns als systemisch orientierte TherapeutInnen darum bemühen, depressives Verhalten als Lösungsversuch zu verstehen, dann kann unser Hauptinteresse vernünftigerweise nicht dahin gehen, alle die Dinge zu explorieren, zu denen der Patient nicht mehr fähig ist. Es würde auch wenig Sinn machen, die Entwicklungsgeschichte dieser Einschränkungen in ihrer Gänze nachzuzeichnen und zu Beginn des therapeutischen Kontaktes eine ausführliche Anamnese zu erheben […] Statt die Krankengeschichte zu erfragen, steht […] die Beschreibung des Kontextes im Vordergrund, in dem das depressive Verhalten gezeigt wird. Gemeinsam mit den PatientInnen werden Hypothesen entwickelt über die beziehungsgestaltenden Wirkungen der Symptomatik und ressourcenorientiert erforscht, welche Lösungsversuche in den geschilderten Problemen bereits enthalten sind […] [wir] suchen […] nach den ›guten Gründen‹ für das beanstandete Verhalten und fragen unsere Patienten zum Beispiel direkt danach, was sich seit Bestehen der depressiven Symptomatik in ihrem Leben geändert hat und wofür die Depression in diesem Zusammenhang ein Lösungsversuch sein könnte. Einfach ist die Beantwortung solcher Fragen nicht und manchmal bedarf es mehrerer Versuche der Therapeutin, um auf diese Fragen Antworten zu erhalten […] Im Kontext meiner therapeutischen Tätigkeit haben PatientInnen bereits viele sinnstiftende Elemente für ihr depressives Verhalten gefunden: – sich eine Ruhepause nehmen, – die Verantwortung an andere abgeben, – die anderen wichtig machen, indem man sie zu Rettern und Helfern erklärt, – die anderen mit dem depressiven Verhalten einladen, die Anforderungen an einen selbst zu reduzieren, – die anderen dafür gewinnen, nicht nachlassende Zuwendung zu zeigen, – sich Aufmunterung und Trost abholen.

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Man könnte manchmal sogar von einem tatsächlichen Liebestest sprechen, der prüft: ›Wer hat mich wirklich lieb?‹ und ›Wer hält mich – so schrecklich, wie ich bin – aus?‹« (Ebbecke-Nohlen 2001, S. 164ff.). In der therapeutischen Arbeit mit depressiven Patienten/Klienten ist eine Fülle systemischer Handwerkszeuge einsetzbar. Sie sollen im Folgenden als Möglichkeiten nebeneinander gestellt werden. Beziehungsgestaltung und »Pacing« Es ist gut, sich in Tempo, Energieniveau und Stimmung an den/die Patienten ankoppeln. Ein allzu euphorischer Therapeut könnte seinen Patienten entmutigen (»Wieder einer, der so schön viel Schwung hat und ich hab so wenig«). Entsprechend ist eine wertschätzende Grundhaltung als Basis der Beziehung empfehlenswert, auf der nicht versucht wird, dem Klienten seine Depression wegnehmen zu wollen. Das heißt auch, das Miterleben und Mitschwingen im depressiven Sumpf ein stückweit auszuhalten – wenigstens einmal zu Beginn. Der Kreislauf aus Selbstabwertung und Energielosigkeit kann am ehesten irritiert werden, wenn er selbst als vermutlich sinnvoll bewertet wird und nicht versucht wird, ihn unmittelbar zu durchbrechen (Ruf 2005). So kann die Depression als Rückzug geframed werden: »Wann haben Sie sich zum Rückzug entschlossen? Wofür ist der Rückzug gut? Wie lange könnte es noch sinnvoll sein, im Rückzug zu bleiben?« Externalisierung Die Externalisierung von Depression, die Behandlung der Depression als Wesen mit einer eigenen Existenz (White u. Epston 1990; Weber et al. 1988; Retzer et al. 1989; Schmidt 2001), etwa als »Besucher«, kann sich als sehr hilfreich für die Familienmitglieder erweisen: »Ich habe eine Depression!« »Und, haben Sie sie dabei oder sitzt sie zu Hause und wartet auf Sie?« »Nein, ich habe sie natürlich dabei, sie gehört zu mir!« »Wenn Sie sich vorstellen, sie säße im Moment im Raum, wo würde sie sitzen?« »Schwer vorzustellen, aber vielleicht da.« (zeigt auf einen Sessel) »Was sagt sie, wenn sie dort so sitzt?« »Vielleicht: Es hat doch alles keinen Zweck.« »Und – glauben Sie ihr?« »Ja, stimmt doch auch!« »Stellen Sie sich einmal vor, die Depression – ist sie überhaupt ein Mann oder eine Frau?«

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»Weiblich.« »Ah, ja, also sie, sie würde auf die lange verdiente Urlaubsreise gehen, sich zum Beispiel für drei Wochen am Mittelmeer in der Sonne erholen: Was würde sich für Sie dann ändern?« »Ich glaube, erst mal nichts!« »Sie haben recht, ich habe falsch gefragt: Was wäre morgen früh anders, woran würden Sie merken, dass die gewohnte Beraterin nicht mehr da ist?« »Vielleicht würde ich ein bisschen fröhlicher aufstehen!« (Schmidt 2001).

Eine andere Möglichkeit wäre es, die Depression zum Beispiel als Warnlampe oder Leibwächter wertzuschätzen, der dafür sorgt, dass etwas sichergestellt wird, zum Beispiel »dass ich mich nicht ständig überfordere«, »dass ich nicht zu übermütig werde«, »dass meine Eltern mit so einem leichtsinnigen Luftikus nichts mehr zu tun haben wollen« usw. In einem Fall wurde die schwere Last, die der Patient mit sich herumschleppte, durch sechs schwarze Briketts symbolisiert, die er für einige Wochen in einem Rucksack mit sich herumtrug. Jedes Mal, wenn er den Rucksack abstellte, ging es ihm besser. In einem Familiengespräch forderte die Frau ihren Mann auf, die Briketts, die seine Depression symbolisierten, für einige Zeit an sie zu übergeben, damit sie spüren könne, wie das so sei. Daraufhin wollten die beiden Kinder auch für eine Zeit ausprobieren, die Briketts zu tragen. Der Patient erlebte sich durch dieses Engagement sehr berührt und von seiner Familie getragen. Die ursprüngliche Idee des Therapeuten, die Briketts symbolisch zum Abschluss der Therapie zu verbrennen, wurde vehement abgelehnt, vielmehr sollten sie als Erinnerung an viele leidvolle Jahre einen besonderen Platz in der Küche bekommen (Schmidt 2001).

Innere Familienkonferenz Im depressiven Prozess gehen verschiedene intrapsychische Persönlichkeitsanteile oft feindselig und sich gegenseitig ausschließend miteinander um. Hier bietet sich das systemtherapeutische Konzept der »inneren Familienkonferenz« (Schmidt 2001; Schindler 2005) oder der Arbeit mit der »inneren Familie« (Schwartz 1997) an: Hierbei wird mit dem Klienten darauf geschaut, wie die verschiedenen inneren Teile miteinander im Streit liegen. Im gruppentherapeutischen Kontext können diese Persönlichkeitsteile personifiziert und dramatisch ausgespielt werden, in der Einzeltherapie bietet es sich an, dies über Symbole im Raum darzustellen (z. B. durch Kissen, auf die sich der Klient nacheinander setzt). Schmidt (2001, S. 425f.) beschreibt die hypnotherapeutischen Möglichkeiten dieses Vorgehens (Darstellung gekürzt): Th.: »Es scheint so zu sein, als ob da mehrere Seelen oder Seiten miteinander in Ihnen im Clinch liegen.« Kl.: »Ja, manchmal zerreißt es mich fast. Das kostet so viel Kraft!«

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Th.: »Das glaube ich Ihnen. Wir alle reden ja oft so, als ob wir immer einheitlich in unserem Erleben wären. Genau genommen müsste man aber sagen, eine Seite fühlt sich so fertig und eine andere Seite kämpft dagegen an. Wenn Sie einmal vergleichen, wenn Sie sagen, das ist die eine Seite und das eine andere, aber beides bin nicht ich als ganzer Mensch, welche unterschiedlichen Auswirkungen erleben Sie dabei?« Kl.: »Wenn ich sage: ›Ich bin depressiv‹ und dann: ›Ich sollte es nicht sein‹ empfinde ich sehr viel Druck. Aber wenn es nur eine Seite ist, empfinde ich viel weniger Druck. Und wenn es eine depressive Seite gibt, könnte es auch eine andere Seite geben. Ich habe das Gefühl, es tut sich ein Fenster auf und ich habe mehr ›Raum‹ …« Th.: »Verstehe ich Sie richtig, dass Ihr Organismus Ihnen durch andere Gefühle und Körperreaktionen zurückmeldet, dass ihm das Zweite mehr gut tut?« Kl.: »Ja, es ist erleichternder, wenn ich mir vorstelle, dass es nur eine Seite ist.«

Abbildung 1* * Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Johann Mayr.

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Später lässt sich dann die depressive Seite übersetzen und wertschätzen, denn sie birgt Informationen über wertvolle und berechtigte Bedürfnisse, die bislang nur auf diese Weise, künftig aber vielleicht auch darüber hinaus noch auf andere Weise ausgedrückt werden können. Die Depression kann dann als Supervisor jeweils wichtige Rückmeldung darüber geben, ob es gelingt, die berechtigten Bedürfnisse auszudrücken. Verschlimmerungsfragen statt Lösungsfragen Bei resignierten Klienten sind Fragen nach Ausnahmen vom Problem oder gar die Wunderfrage oft wenig anschlussfähig. Dagegen kann eine Frage wie: »Was müssten Sie tun oder zu sich selbst sagen, damit es noch schlimmer wird?« ergiebig sein. Die Antworten auf die Verschlimmerungsfragen lassen sich für Hausaufgaben nutzen. Selbstbestrafende Glaubenssätze (»Ich habe alles falsch gemacht«; »Aus mir wird nie etwas werden«) eignen sich, um in Gruppentherapien als Sprechchor oder zwischen Einzeltherapiesitzungen als geistige Gymnastik so lange repetiert zu werden, bis dem Klienten reaktiv neue Sätze in den Sinn kommen, die entweder von mehr Trotz und Ärger gegen diese Selbstbestrafung, durch Kleinkontextualisieren des Problems oder aber durch neue Lösungsideen gekennzeichnet sind (zu Sprechchören und Verschlimmerungsfragen siehe auch von Schlippe u. Schweitzer 1996). Folgende Sprechchorübung war Teil einer Familientherapie, die von der Schulverweigerung der Tochter ausging und im Kapitel 3.6 ausführlich beschrieben wird. Eine Mutter, deprimiert von der inzwischen ein Jahr dauernden Weigerung ihrer siebenjährigen Tochter, das erste Schuljahr zu besuchen, hat diesen Sachverhalt inzwischen in eine Selbstanklage verwandelt. Als die Tochter nach einem Jahr den Schulbesuch wieder aufnimmt, verbleibt die Mutter in dieser selbstanklangenden Haltung. Wir erkunden, welche Sätze sie zu sich selbst innerlich sagt, wenn sie sich so richtig selbst fertig macht. Ihr wichtigster Satz dabei: »Ich habe alles falsch gemacht«. Dieser Satz wird nun in der Familientherapie der Mutter wiederholt vorgesungen – von einem Quartett bestehend aus der Tochter, dem zehnjährigen Sohn, dem Ehemann und dem Therapeuten. Nachdem die Mutter ihn sich ungefähr sechsmal angehört hat, regen sich Trotz und Zweifel in ihrer Mimik. Sie schränkt ein: »Ich habe nicht alles falschgemacht«. Darauf singt der Hauptchor aus Therapeut, Vater und Sohn weiter: »Ich habe alles falsch gemacht«; die Siebenjährige hingegen intoniert mit glockenheller Stimme: »Aber nicht alles«. Dieser Glockenklang bringt die düstere Überzeugung jetzt ziemlich ins Wanken. Schmunzeln und Erleichterung kommen auf; im nachfolgenden Gespräch beginnt die Mutter ihre bislang einheitlich düster-selbstbeschuldigende Sichtweise allmählich zu verändern.

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Ein systemisches Therapiemanual Jones und Asen (2002) entwickelten im Rahmen der Londoner Depressions- Interventionsstudie ein Manual systemischer Paartherapie für stark depressive Patienten und deren Partner, zugeschnitten auf 20 Sitzungen binnen neun Monaten. Das Manual ist stark vom Mailänder Ansatz und der strukturell-strategischen Therapie geprägt. Es ist nur wenig depressionsspezifisch. Es besteht aus zehn Hauptpunkten, die vertraute systemische Techniken sind: Hypothetisieren; Joining und Engagement; Zirkuläres Interviewen; Enactment, also unmittelbares In-Szene-Setzen kritischer Aspekte und Themen; Auf Stärken fokussieren; Problemlösen; Herausfordern; Visuelle Techniken, besonders Genogrammarbeit; Positives Umdeuten; Hausaufgaben zwischen den Sitzungen. Besonders betont werden die Beachtung von Gender-Fragen, das Angebot von Einzelsitzungen innerhalb der Paartherapie und der Umgang mit Trennung oder Trennungsimpulsen des Paares. Neben dem Einsatz dieser allgemeinen systemischen Methoden werden eine Reihe depressionsspezifischer Akzente gesetzt: 1. Die Diagnose Depression und die Bedeutung, die dieser von depressivem Mitglied und Partner gegeben wird (Ursachentheorie, Erleben von Schwere und Hoffnungslosigkeit), muss anfangs vom Therapeuten sehr respektiert und darf nicht vorzeitig infrage gestellt werden. 2. Bei einem individuumzentrierten Verständnis der Depression wird der Partner eingangs als Informant, dann langsam als Co-Therapeut, erst allmählich in seinen eigenen Belangen als Partner angesprochen. 3. Wenn genügend Informationen gesammelt sind und Vertrauen aufgebaut ist, kann Depression irgendwann als eine lebenspraktisch nützliche Bezeichnung für Beziehungsprozesse umgedeutet werden, die anders zu nennen konfliktreicher oder schmerzhafter wäre. 4. Allmählich kommen Fragen früherer Hilflosigkeitserfahrungen in den Blick, zum Beispiel von Missbrauch oder Ausbeutung, und wie Depression ein Weg war, mit diesen bestmöglich umzugehen. An dieser Stelle kann es Thema werden, welche Lehren für die Zukunft man aus ohnmächtigen Vergangenheitserfahrungen ziehen will. 5. Hat sich zwischen den Partnern eine Veränderung des Depressions-

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musters entwickelt, können bei Bedarf andere wichtige Bezugspersonen der Indexpatientin zu einzelnen Sitzungen nur mit der Patientin eingeladen werden – zum Beispiel die Mutter, der Vater, ein Kind, eine wichtige Berufskollegin etc. 6. Rückfallprophylaxe, das heißt das hypothetische Durchspielen, wie die Patienten sich künftig in depressive »Ehrenrunden« einladen lassen könnten, wie sie diese gestalten und wie die Partner sie dabei in die eine oder andere Richtung unterstützen, ist in der Schlussphase bedeutsam. Eine Fallgeschichte von Eia Asen sei hier kurz zusammengefasst (ausführlich Verneals u. Asen 1998): Die 32-jährige Sarah hat seit dem 14. Lebensjahr eine lange Geschichte psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlungen hinter sich. Nun kommt sie zur Paartherapie, nach wiederkehrenden depressiven Episoden, die sie wochenlang im Bett verbringt. Sie erzählt, ihre Eltern seien immer sehr kritisch ihr gegenüber gewesen, daher habe sie ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Kritisch spricht sie über ihren Sohn Ed, jetzt acht Jahre alt, aus ihrer ersten Ehe. Er sei »unkontrollierbar« und trage jetzt zu ihrer Depression bei. Mit ihr kommt ihr Partner Bill, Vater ihrer gemeinsamen 15 Monate alten Tochter. Bill setzt sich im Therapieraum so weit wie möglich von Sarah weg. Er spricht kritisch über sie, ist dabei, Sarah zu verlassen, weil sie immer so am Boden sei. Seine Haltung zur Depression: »Das hat nichts mit mir zu tun. Sie war depressiv schon lange bevor sie mich kennenlernte.« Daher zweifelt er auch, ob es überhaupt für ihn sinnvoll sei, hierher mitzukommen. Der Therapeut dankt zunächst Bill fürs Mitkommen. Es sei immer nützlich, wenn Familienmitglieder zum Helfen mitkommen. Man wisse, dass, wenn einer depressiv sei, dies den Partner und die Kinder beeinflusst, und dass deren Reaktionen wiederum die Depression beeinflussen. Bill möge doch erzählen, wie Sarahs Depression sich zeigt und wie jeder davon mitbetroffen ist. Bill hebt zu einem langen und kritischen Monolog an. Der Therapeut unterbricht kaum, fragt aber gelegentlich: »Wenn sie das tut – was machen Sie dann? Und wie reagiert sie darauf?« Gelegentlich bittet er Sarah, Bills Ausführungen zu kommentieren, lässt es aber nicht zu einer direkten Diskussion ihrer Meinungsverschiedenheiten kommen. Die ersten zwei Sitzungen agiert Bill wie ein reiner Informant, der objektive Informationen herüberzubringen meint. Sarah bleibt anfangs in einer reinen Klientenrolle, über deren mentalen Status ein Experte referiert. Doch allmählich, zu Kommentaren eingeladen, stellt sie zunehmend den Wahrheitsgehalt dieser Bemerkungen infrage. In der dritten Sitzung wird Bill gefragt, ob es irgendetwas gäbe, das er möglicherweise tun könne, um Sarahs Depression zu verschlimmern oder zu verbessern. Das gelingt ihm nach etwas Nachdenken. Er berichtet Beispiele, wie die Depression in den vergangenen Wochen fluktuierte und wie das mit seinen Reaktionen zu tun haben könnte. Er identifiziert Wege, wie er sie aufmuntern kann – woraufhin Sarah zunächst sagt: »Das machst du ja fast nie!« und wenig später »Das finde ich deprimierend«. Bill fühlt sich zunächst vor den Kopf gestoßen, aber allmählich geraten beide in eine Diskussion von Beziehungsfragen hinein, zum Beispiel über typische Samstagsabenddiskussionen zum Thema »Ausgehen oder Zuhausebleiben«.

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Nun ermutigt der Therapeut ein Enactment, das heißt die Inszenierung eines Streits über den kommenden Samstagabend direkt in dieser Sitzung. Als beider Stimmen laut werden, fühlt Bill sich unbehaglich und sagt Sarah, sie argumentiere jetzt nur so lebhaft wegen ihrer Depression. Der Therapeut fragt Sarah: »Sind sie gerade jetzt depressiv oder ärgerlich?« Und er fragt Bill: »Woher wissen Sie denn, wenn sie sich aufregt, ob sie dann ärgerlich oder depressiv ist?« Dies leitet eine interessante Unterhaltung darüber ein, wie jeder von ihnen ihre »Depression« als Entschuldigung dafür nützt, alles beim Alten zu belassen. Am Ende dieser Sitzung empfiehlt der Therapeut eine Hausaufgabe. In der kommenden Woche solle jeder von ihnen ein getrenntes Tagebuch über Zeiten und Vorfälle führen, in denen Sarah depressiv ist, und solche, in denen sie ärgerlich ist. Beide kommen zurück und berichten, wie dieser Selbstbeobachtungsprozess ihnen verdeutlicht habe, wie oft sie ärgerlich war, aber dies hinter der Formulierung »Ich bin heute depressiv« versteckte. Sarah findet dies befreiend; Bill aber bevorzugt es, »wenn meine Frau friedfertiger ist«. Nun wird das Thema des Streitens offen diskutiert. In kurzen Rollenspielen wird in der Sitzung quasi unter therapeutischer Aufsicht gestritten. Zu Hause sollen in kontrollierten Streitszenen von nicht mehr als fünf Minuten Dauer damit weitere Erfahrungen gesammelt werden. Dies lässt bei beiden Erinnerungen an ihre Herkunftsfamilien aufkommen. Bill erinnert sich, dass seine Eltern sich immer vor den Kindern stritten und dass er sich eine Partnerin wünschte, mit der es friedlich zugeht. Allmählich sieht er, dass Sarahs Depression der Preis sein könnte, den beide für dieses friedliche Leben zahlen. Wie kann Sarah Bill stoppen, sie kontinuierlich zu kritisieren? Anfänglich macht sie eine Bandaufnahme und eine Strichliste aller kritischen Kommentare, die er während eines Tages über sie macht. Diese überreicht sie ihm am Tagesende. Mit therapeutischer Unterstützung handeln sie aus, wie er die Zahl dieser Kommentare vermindern könne und wie sie ihm dabei helfen könne, nicht so kritisch zu sein. Nach zehn Wochen sinkt Sarahs regelmäßige Selbsteinschätzung im Beck-Depressions-Inventar. Nun wechselt sie den Fokus. Ihre Depression habe auch mit dem achtjährigen Ed zu tun. Es falle ihr so schwer, sich ihm nahe zufühlen. Eine Sitzung nur mit Mutter und Ed widmet sich daraufhin deren Beziehung. In weiteren Paarsitzungen sprechen Sarah und Bill über ihre ursprünglichen Erwartungen, mit denen sie in ihre Beziehung gegangen sind. Zu einer Sitzung bringt Sarah ihre Mutter mit; beide diskutieren Probleme aus der Vergangenheit und wie diese sie als junge Muter heute beeinflussen. Achtundzwanzig Wochen nach Therapiebeginn möchte das Paar »Therapieferien« machen, möchte aber eine Rückkehrmöglichkeit gewährleistet bekommen. Sie kommen nach zwei weiteren Monaten zurück. Die Dinge liefen gut, Sarah war nicht mehr depressiv, aber beide wollten über die Vermeidung eines doppelten Rückfalles nachdenken – in Sarahs Depression und in ihrer Beziehung. Die Therapieforschungsergebnisse zeigen, dass Sarah am Ende der Therapie wie in der Zwei-Jahres-Katamnese nicht mehr depressiv war.

Diese Therapie fand im Rahmen der Londoner Depressions-Interventionsstudie statt. Sie umfasste 14 Sitzungen über 28 Wochen sowie ein Nachgespräch zwei Monate später. Zwölf dieser Gespräche waren Paargespräche. Je eines fand statt mit dem Paar und beiden Kindern, eines mit der Patientin nur mit ihrem älteren Sohn, eines mit der Patientin

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und ihrer Mutter. Das Konzept ist gekennzeichnet durch eine konsequente Verbindung von systemisch-zirkulären Interviewformen und einer neutralen Haltung gegenüber Personen, Problemen und Lösungsideen einerseits, mit handlungsorientierten Elementen (Enactments) in den Sitzungen, sowie lösungsorientierten Fragen (z. B. nach Ausnahmen von der Depression). Besondere Beachtung fand die Londoner Depressions-Interventionsstudie (Leff et al. 2000) nicht nur wegen solcher Fallgeschichten, sondern wegen ihrer teilweise unerwarteten Ergebnisse. Diese verglich in einer randomisierten Studie systemische Paartherapie mit individueller kognitiver Verhaltenstherapie und trizyklisch-antidepressiver Medikation. Hier zeigt systemische Paartherapie die niedrigste Abbruchquote (die kognitive Verhaltenstherapie beendete die Beteiligung an der Studie, nachdem acht von elf Patienten abgebrochen hatten) und die besten Ergebnisse im Beck-Depressions-Inventar. In der »Hamilton-DepressionScale« ergaben sich zu Behandlungsende und in der Ein-Jahres-Katamnese lediglich vergleichbare Ergebnisse. Auf der Kostenseite zeigten sich für die systemische Paartherapie zwar deutlich höhere unmittelbare Behandlungskosten, dafür aber weit niedrigere Folgebehandlungskosten. In den Gesamtkosten entsprach sie damit denen der Pharmakotherapie, bei jedoch deutlich besseren Behandlungsergebnissen. In mehreren anderen Studien mit depressiven Erwachsenen (Friedman 1975; Keitner 2004) wie auch mit Jugendlichen (Brent et al. 1997; Diamond et al. 2002) zeigten sich die Effekte verschiedener Spielarten systemischer Paar- und Familientherapie den Vergleichsbedingungen »antidepressive Medikation« (trizyklische Antidepressiva) und »kognitiv-behaviorale Einzeltherapie« im Regelfall gleichwertig, eine Kombination dieser Treatments war einer Einzelbehandlung im Regelfall überlegen.

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2.3 Angst und Panik – Die gerade richtige Dosis Beziehungsfreiraum5 iStörungsbilderi In der ICD-10 sind unter F4 die neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen aufgelistet. Die Ziffer F40 beschreibt dabei die phobischen Störungen (also Agoraphobie mit und ohne Panikstörung, soziale Phobien, spezifische, isolierte Phobien und andere), die Ziffer F41 ist für »andere Angststörungen« vorgesehen (Panikstörung, generalisierte Angststörung, Mischformen von Angst und depressiven Störungen u. a.). Der Unterschied zwischen F40 und F41 liegt darin, dass die Ängste in der ersten Gruppe sich auf eindeutig definierte, im Allgemeinen ungefährliche, aber vom Patienten als bedrohlich eingeschätzte Situationen oder Objekte beziehen, wie zum Beispiel enge, abgeschlossene Räume, Tabelle 5: Angststörungen in der ICD-10 F40 F40.0 F40.00 F40.01 F40.1 F40.2 F40.8 F40.9 F41 F41.0 F41.1 F41.2 F41.3 F41.8 F41.9

phobische Störung Agoraphobie Agoraphobie ohne Panikstörung Agoraphobie mit Panikstörung soziale Phobien Spezifische (isolierte) Phobien (Akrophobie, Einfache Phobie, Klaustrophobie, Tierphobien) sonstige phobische Störungen phobische Störung, nicht näher bezeichnet andere Angststörungen Panikstörung (episodisch wiederkehrende schwere Angst, Panikattacke, Panikzustand) generalisierte Angststörung (Angstreaktion, Angstzustand) Angst und depressive Störung, gemischt andere gemischte Angststörungen sonstige spezifische Angststörungen nicht näher bezeichnete Angststörung

5 Wir bedanken uns bei Dipl.-Psych. Lothar Eder, Mannheim, Dipl.-Psych. Claudia Mory, Leipzig, Dr. Winfried Häuser, Saarbrücken, und Dr. Bettina Wittmund, Nordhausen, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder Höhen. Diese werden als gefährlich bewertet und somit vermieden oder voller Angst ertragen. Die Tatsache, dass andere die Situation nicht bedrohlich empfinden, mildert das Erleben nicht. In der zweiten Gruppe sind Ängste und Sorgen, die sich nicht auf eine bestimmte Situation eingrenzen lassen, kennzeichnend. Bei der Panikstörung finden sich wiederkehrende schwere Angstattacken, die oft unvorhersehbar sind und plötzlich wie aus heiterem Himmel auftreten. Bei der generalisierten Angststörung befindet sich der Patient in einem lang anhaltenden erhöhten Anspannungszustand, der sich auf keine spezifische Situation begrenzen lässt, oft mit erhöhter Erwartungsangst verbunden ist oder als »Angst vor der Angst« beschrieben wird. Beiden Kategorien gemeinsam sind die angstdominierten GeTabelle 6: Epidemiologie und Prävalenz (Margraf u. Strian o. J.) Soziodemografische Angaben zu den wichtigsten primären Angsterkrankungen StörungsLebenszeitArt der Angsterkran- prävalenz Praktische beginn2 Geschlechtsverhältnis kung (% der Be- Relevanz1 (Alter in Jahren) völkerung) alle Angst15.0 erkrankungen Paniksyndrom 2.2 +++ 26 w>m (ohne Agoraphobie) Agoraphobie (mit und 5.0 +++ 27 w>m ohne Panikanfälle) Sozialphobie 2.0 ++ 17 w=m Spezifische Phobie 8.5 + 7 w>m Generalisiertes 4.0 ++ 23 w>m Angstsyndrom Zwangssyndrom 2.5 + 26 w=m Posttraumatische Be? + ? lastungsstörung 1 + = relativ geringes therapiesuchendes Verhalten, ++ = starkes therapiesuchendes Verhalten, +++ = sehr starkes therapiesuchendes Verhalten (Die einzelnen Angsterkrankungen unterschieden sich deutlich im Hinblick auf therapiesuchendes Verhalten und Inanspruchnahme professioneller Hilfe.) 2 Durchschnittswerte, teilweise erhebliche Streubreite bei den verschiedenen Angsterkrankungen

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danken der Patienten. Sie ranken sich um die Themen, Kontrolle verlieren, die Furcht, zu sterben oder an einer tödlichen Krankheit zu leiden, ohnmächtig zu werden, wahnsinnig zu werden und/oder sich zu blamieren (ausführlich hierzu Butollo u. Maragkos 2005). Angststörungen treten häufig in Kombinationen auf, zum Beispiel mit Depression, bipolarer Störung oder Substanzmissbrauch. Es kommt aber auch oft vor, dass ein Patient unter einer Sozialphobie und einer Panikstörung mit Agoraphobie leidet. Hier ist eine sorgfältige Diagnosestellung wichtig, weil beispielsweise die soziale Phobie oft zwischen anderen Symptomen untergeht (Ambühl et al. 2001, S. 46). Caspar und Linde (2000, S. 5) berichten über folgende Komorbiditätsraten bei der Panikstörung: – Agoraphobie: Panikattacken erleiden 10 bis 67 % der Patienten. – Zwangsstörungen: 14 bis 15 % der Patienten mit Panikstörungen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Zwangserkrankung. – Spezifische und soziale Phobie: 15 % der Personen mit Panikstörung weisen über die Lebensspanne hinweg eine spezifische Phobie auf, 11 % eine soziale Phobie. – Generalisierte Angststörung: Diese entwickeln 24 % der Personen mit Panikstörungen. – Somatisierungsstörung: Vor allem zu den sogenannten »Herzneurosen« ist die differenzialdiagnostische Abgrenzung schwierig. Eine Reihe von Panikpatienten hat leichte, aber feststellbare kardiologische Probleme, denen natürlich mit der häufigen Aussage »Sie haben nichts« nicht begegnet werden kann (Wittmund 2005).

iBeziehungsmusteri Über die Konstellationen der Herkunftsfamilien phobisch gestörter Patienten liegen zahlreiche Studien vor. Elterliche Angststörungen sind ein Risikofaktor (Joraschky u. Petrowski 2003). Das Erleben geringen familiären Zusammenhalts und chronischer Konflikte zwischen den Eltern fördert Ängstlichkeit bei Kindern. Kinder, deren Eltern die Qualität ihrer Ehe als schlecht beschreiben, entwickeln häufiger Angst- und Panikstörungen. Bei sozialen Phobien berichten Joraschky und Petrowski (2003) von starren Werten und Überzeugungen in der Familie, die im prak-

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tischen Handeln nicht eingehalten, bei Übertretungen jedoch sanktioniert werden und betonen die Bedeutung der Scham in diesem Zusammenhang. Zum Zusammenhang zwischen der Angstdynamik und Familienmustern beschreibt Essen (1998) eine Häufung folgender Ereignisse in der Familiengeschichte: – Frühe oder dramatische Verlust im eigenen Leben oder in der Herkunftsfamilie: zum Beispiel Heimatverlust, früher Tod naher Familienangehöriger oder Ereignisse, die mit Gewalt verbunden sind. – Familiensituationen, die frühes Erwachsenwerden nötig machten – was häufig mit einer inneren oder äußeren Überforderung verbunden ist. – Starke Loyalität zu beiden Elternteilen, die als tiefe Verbundenheit und gleichzeitig als widersprüchliche Anforderungen erlebt werden. Angststörungen können mehr oder weniger stark auch in die aktuellen sozialen Beziehungssysteme des Patienten einbezogen sein. Isolierte Phobien sind erfahrungsgemäß zu behandeln, ohne eine Funktionalität in der Familie zu thematisieren. Anders ist es mit Agoraphobien, Panikstörungen und generalisierten Angststörungen (Eher et al. 1997; Häuser u. Eher 2000). Panikattacken können als Endprodukt einer symmetrischen Eskalation zwischen Wut auf den Partner und Angst vor den Konsequenzen dieser Wut und dem damit einhergehenden Konflikt gesehen werden. Deren eskalierende Dynamik wird durch das Auftreten der Panikattacke gestoppt, die nicht mehr gleichzeitig integrierbaren Gefühle von Aggression und Angst werden dissoziiert. Die vorher noch so bedrohliche Wut wird abgespalten, die Beziehung wird beschönigt und der Partner idealisiert. Beim Vergleich der Gefühle von Angst/Panik und Wut/Ärger lassen sich Parallelen feststellen: Beide Gefühlsgruppen lösen ähnliche körperliche Begleiterscheinungen beziehungsweise Reaktionen aus. Eine Fehlinterpretation der Wut als Angst kann beziehungsdynamisch zur Vermeidung von Auseinandersetzung und Konflikten beitragen. Veränderungstendenzen (z. B. bezüglich der Rollenaufteilung), die häufig mit einer Angst vor dem Verlust des Partners einhergehen, werden somit unterbunden. Die Äußerung »Ich habe Angst« kann paardynamisch einerseits zum Herstellen von mehr Nähe (Partner als Begleitung, mehr verbrachte Zeit zu Hause) beitragen und so dem Si-

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cherheitsbedürfnis des Patienten und Partners dienen. Andererseits kann sie zu mehr Distanz führen, wenn die Partner aufgrund der Angstsymptomatik auf gemeinsame Aktivitäten verzichten. Angstsymptomatik kann daher im Rahmen von Paarbeziehungen als Vehikel zur NäheDistanz-Regelung betrachtet werden. So verwundert es nicht, dass sich die meisten Agoraphobien innerhalb langfristiger Partnerschaften entwickeln und dass hier oft eine beziehungsregulierende Funktion deutlich wird (Butollo u. Maragkos 2005). Die Symptome können für das Gefühl stehen, in einer Partnerschaft gefangen zu sein, die sie wenig mitbestimmen und die sie nicht als ihr eigenes Beziehungsleben erleben. Agoraphobie und Panik können anzeigen, dass vor kurzem ein kritischer Wechsel der Lebensbezüge erfolgt ist und dass dieser noch nicht angemessen verarbeitet wurde oder auch, dass ein Wechsel ansteht, zum Beispiel ein Konflikt in einer langjährigen Partnerschaft, die Babyphase der vorher berufstätigen Frau, die wieder in den Beruf einsteigen sollte. Die Probleme haben oft einen starken Lebensphasenbezug. Vielfach sind Frauen betroffen. Holm (1982) beschreibt, wie eine ursprünglich zu beobachtende Vitalität und Lebenslust mit dem Eintreten der Angststörung wie »eingefroren« zu sein scheint zugunsten einer starren und korrekten, nach außen hin wohlangepassten Fassade: »I am struck how much passion these women usually possess« (S. 410). Die Ehe wird oft als gut beschrieben, jedoch ohne Begeisterung, mit einer gewissen Unzufriedenheit über die allzu korrekte Situation.

iEntstörungeni Auftragskonstellation und Zugang Der Auftrag der Patienten, die sich in Behandlung begeben, lautet häufig: »Helfen Sie mir, dass meine Angst weggeht«. Viele Angstpatienten bewältigen den Alltag oft nicht mehr, da sie sich aufgrund der Erkrankung in basalen Lebensbereichen (Haus verlassen, Einkaufen gehen, Fortbewegung, soziale Kontakte) stark eingeschränkt erleben. Daher steht dieser primäre Auftrag erst einmal im Vordergrund, die Wertschätzung der »Eintrittskarte« (Wittmund 2005) kann durchaus bedeuten, mit einem symptomorientierten Vorgehen zu beginnen.

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Obwohl einigen Patienten wenige Informationen über Angsterkrankungen oder die konkrete Arbeit an der Angstsymptomatik ausreichen, um mit der Erkrankung zurechtzukommen und die Alltagsroutinen wieder zu etablieren, besteht bei einer nicht unerheblichen Anzahl von Patienten ein hohes Wiedererkrankungsrisiko. Bei diesen Patienten geht es nicht nur um die Bewältigung der Angst. Die Fragen der Patienten »Warum gerade ich?« und »Warum gerade jetzt?« verlangen nach Sichtweisen, die über die situationsspezifische Angstbewältigung hinausgehen. Oft steht eine chronische Überlastung im Hintergrund, für die der Patient erst nach Abklingen der akuten Symptomatik sensibilisiert ist. Oder systemisch gesprochen: Es geht auch darum, herauszufinden, womit sich der Patient beschäftigen würde, wenn die Erkrankung nicht mehr da wäre – also welchen Sinn die Erkrankung im System des Patienten ergibt oder wofür sie gerade eine gute Lösung ist. In einem therapeutischen Prozess geht es langfristig somit um zwei Schwerpunkte: a) Patienten brauchen ein hilfreiches Erklärungsmodell für die – für sie überaus beängstigenden – körperlichen Sensationen und Begleiterscheinungen der Angst. Verhaltenstherapeutische Kollegen haben hier zahlreiche Erklärungsmodelle beschrieben, die zu Beginn eines therapeutischen Prozesses eingesetzt werden können, zum Beispiel Teufelskreise der Angst, Zusammenhänge zwischen Denken – Fühlen – Handeln oder die Aufklärung über Angst als »Energiebereitstellungsreaktion« (siehe hierzu z. B. Wilms et al. 2004b). b) Patienten benötigen ebenso Unterstützung beim Erarbeiten von Lösungen zu dahinterstehenden Problemen und bei sogenannten Belastungsthemen. Bei Menschen mit Angsterkrankungen ranken sich diese häufig um drei Themenbereiche: 1. Ausgewogenheit von Anspannung und Entspannung: Hierbei geht es vorwiegend um die Frage: »Was könnte ich statt der Beschäftigung mit meiner Angsterkrankung tun?« Viele Patienten erleiden Angstattacken in eigentlich entspannten Situationen (abends auf dem Sofa, im Urlaub etc.). Erst die Frage, womit sie sich in dieser Zeit gedanklich beschäftigen, entlarvt Sorgenprofis. Arbeit und Leistung nehmen einen hohen Stellenwert ein; Genuss, Urlaub und Entspannung kommen häufig zu kurz. Das soziale Netzwerk der Patienten ist manchmal recht klein; Freunde und Bekannte bringen kaum oder wenig Ver-

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ständnis für die Erkrankung auf; Familienmitglieder fühlen sich durch die Funktion als ständiger Begleiter oder Motivator zu Aktivitäten häufig überfordert. 2. Konflikte und Kommunikation: Angstpatienten beschäftigen sich häufig mit negativen Befürchtungen, was andere über sie denken könnten – ihrem Defizitchor. Befürchtungen, hohe perfektionistische Ansprüche an sich selbst sowie Unsicherheiten beim Formulieren negativer Gefühle (wie Wut und Ärger) können zu Vermeidungsverhalten und zum Anstauen von Konflikten im privaten und beruflichen Umfeld beitragen. 3. Aktuelle oder zurückliegende lebensgeschichtliche Veränderungen: Bei einem Blick auf die Erweiterung des Kontextes können Angsterkrankungen als eine Form von »Reformstau« bezeichnet werden. Bei der Einbeziehung aktueller oder zurückliegender Lebensabschnittsaufgaben stehen immer wieder nicht vollzogene Rollenwechsel im Mittelpunkt: Ablösung vom Elternhaus, Beginn eigener Berufstätigkeit, Sorge und Pflege eines Elternteils, Ablösung der eigenen Kinder. Normen, Familienregeln und Aufträge aus der Herkunftsfamilie sind wenig veränderbar, auf Veränderungsansätze und Regelverletzungen folgen meist Schuld- und Schamgefühle (Wilms et al. 2004a). Organisationsmuster der Problembeschreibung Bei Angststörungen fällt auf, dass in den Erzählungen der Klienten die Zeit eine besondere Rolle spielt. Gerade sozialphobische Patienten sind »Meister der Antizipation« (Eder 2003, 2004): Zukunftsorientierung, die Frage, was kommen wird, ist die Kernfrage. Sie sind überzeugt, dass das Befürchtete eintreten wird oder dass andere in der von ihnen angenommenen Weise über sie urteilen. Dabei fällt auf, dass in diesen Beschreibungen die Zeit sozusagen verdichtet und angehalten wird. Die Beschreibung besteht oft, wie Eder schreibt (S. 18), nicht mehr aus einzelnen Schritten, sondern erinnert an einen Film, der an einer Stelle angehalten wird. Dabei werden gleichzeitig verschiedene Prozessebenen miteinander verknüpft, die eine hohe negative Bedeutung haben: das peinliche Verhalten, unerwünschte vegetative Reaktionen, die prüfenden Blicke der anderen, die Gedanken der anderen. Der detaillierte Fortgang der Sze-

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nerie fehlt, sie wirkt wie eingefroren und mündet in die Frage, wie der Situation unbedingt auszuweichen sei. So ergibt sich ein Szenario, das von defizitären und selbstpathologisierenden Beschreibungen und einer »Bestätigungslogik des ›Nichts-Neues-Syndroms‹« (Simon u. RechSimon 1999, S. 219) gekennzeichnet ist: eine sich selbst verewigende Form der Erzählung. Wenn man eine Erzählung auf einer Dimension synchron versus diachron betrachtet, je nachdem, ob eine Struktur über die Abfolge von aufeinanderfolgenden Ereignissen beschrieben wird oder durch das Nebeneinander von Elementen und ihre Verknüpfung, dann neigen angstgestörte Patienten dazu, zeitliche Abfolgen zu verdichten und sie synchron zu beschreiben. Therapeutisch kann es demzufolge ein möglicher Zugang sein, über Fragen ein diachrones Muster einzuführen, die verdichtete Situation zu verflüssigen und in die Folge eines Nacheinander zu überführen, die Handlungsmöglichkeiten für den Klienten enthält. Eine sehr gut dabei einzusetzende Frage ist: »Und dann?« Sie zerlegt die verdichtete Struktur und führt ein Danach ein. »Und dann, was werden Sie dann tun?« führt die Ebene des Handelns und von Handlungsoptionen (wieder) ein. Genau dieser Aspekt wird in der Problemerzählung zu wenig berücksichtigt. Denn Klienten erleben sich nicht als die eigentlich Handelnden, sondern eher als Opfer der Situation. Diese erstarrten kognitiven Ordnungsmuster gilt es, kritisch zu hinterfragen und den Klienten ein Feld von neuen Möglichkeiten zu eröffnen. Für die therapeutische Strategie kann dies mit der paradoxen Aufforderung einhergehen, Klienten anzuregen, Problemsituationen zu erzeugen oder aufzusuchen, bevor das Problem gelöst ist, also mit dem Problem in die Situation zu gehen und aktiv die Erfahrung eines Danach zu machen. Als günstig erweist sich weiter, im Interview mit den Klienten wiederholt in die Problemerzählung hinein- und wieder herauszugehen. Dies fügt der ursprünglichen Struktur der Problemerzählung eine neue Variante hinzu, zudem ist damit in Verbindung mit der Einführung eines diachronen Musters in gewisser Weise eine Art von »systemischer Desensibilisierung« (Eder 2003) verbunden. Schritt für Schritt wird die Katastrophe in der Vorstellung durchgespielt und durch die Frage nach dem Danach entängstigt.

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Multimodales Vorgehen Im Regelfall empfiehlt es sich, verschiedene Vorgehensweisen zu kombinieren. Wie bereits ausgeführt, spricht nichts gegen den Einsatz bewährter Praktiken anderer Schulen (z. B. Ambühl et al. 2001) wie das Erarbeiten angstauslösender kognitiver Glaubensmuster, systematische Desensibilisierung oder Reizexposition/Konfrontation, wenn dies mit den Nutzerwünschen der Patienten kompatibel ist (Häuser 1994; Wittmund 2005). Es werden die Wünsche nach bzw. die Ablehnung von Angststandardprogrammen6 exploriert, die Beweggründe für Wunsch oder Ablehnung erkundet und Hypothesen darüber entwickelt, welche Folgen eine erfolgreiche Behandlung für die Beziehungen des Patienten haben würde. Die bekannte Wunderfrage kann hier dazu genutzt werden, um ein Leben ohne Angst im Detail auszumalen. Dabei kann herausgearbeitet werden, dass die Symptomatik möglicherweise eine verbindende Qualität hat und eine Lösung möglicherweise ein Stück Loslösung und Angreifbarkeit bedeutet: – Angenommen, eine Wunderbehandlung würde Ihrer Frau helfen, die Angst loszuwerden. Wer würde das als Erster merken und wann? Was wäre der erste Moment, wo Sie denken würden, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, die Angst wäre noch da? Wenn sie zum Beispiel abends allein mit ihren Freundinnen weggehen würde, was würden Sie dann tun? – Angenommen, das in der bekannten »Angstklinik« XY angebotene Programm hilft Ihnen/hilft Ihnen nicht, was werden Sie dann anderes denken/tun? – Was wäre das gewichtigste Argument dafür, die Ängste zu behalten? Wer in der Familie wäre am ehesten zumindest ein wenig auf dieser Seite? – Wenn Ihre Frau sich entscheiden würde, aktiv gegen die Angst anzugehen, was ist Ihre Vermutung: Gäbe es dann eher mehr oder eher weniger Auseinandersetzungen in Ihrer Ehe? Und wie wäre das für Sie?

6 10 bis 25 % der Patienten lehnen die Exposition in vivo ab (Caspar u. Linde 2000).

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Einbeziehung des Partners und anderer Familienmitglieder Die soeben beschriebenen Fragen und der Abschnitt über Beziehungsmuster weisen bereits darauf, dass die Einbeziehung des Partners in Person oder zumindest über zirkuläres Fragen bedeutsam ist. Die Frage einer Paartherapie kann und sollte abgeklärt werden. In vielen Fällen kann dies eine bedeutsame Intervention sein, auch wenn von den Partnern vielleicht zunächst keine unmittelbare Notwendigkeit gesehen wird. Doch gerade die Fragen nach den Folgen eines wachsenden Bewegungsspielraums für die Partnerin sollten gut ausgeführt werden. Wie zum Beispiel Holm (1982) berichtet, sind eine ganze Reihe von Therapieabbrüchen bei Angstsymptomatiken damit zu erklären, dass in dem Maß in dem die Partnerin sich zu einer symptomfreien, unabhängig(er)en, aktiven und lebenslustigen Frau entwickelt, die partnerschaftsstabilisierende Funktion der Angst verloren geht. Hier ist es wichtig, das Fundament der Paarbeziehung mit beiden Partnern zu prüfen und gegebenenfalls bei einer Stabilisierung oder Distanzierung zu helfen. In der Regel gelingt es gut, andere Familienmitglieder in die Behandlung mit einzubeziehen, da sich diese aufgrund ihrer Unterstützer-/Begleiterfunktion häufig selbst überlastet fühlen und Veränderungsbereitschaft signalisieren (zur Sichtweise der Partner siehe auch Wilms et al. 2004b). Familie Z. – »Mama, was machst du ohne mich?«7 Frau Z. ist Patientin einer verhaltenstherapeutisch-systemischen Gruppe zur Bewältigung von Angsterkrankungen. Sie bemerkt an ihrer Tochter Verhaltensweisen, die sie von sich kennt, und ist in Sorge, dass sie Anzeichen für eine beginnende Angsterkrankung bei ihrer Tochter sein könnten. Frau Z. ist seit mehreren Jahren arbeitslos, der Ehemann ist im Baugewerbe tätig und aufgrund von Aufträgen in anderen Städten häufig nicht zu Hause. Die 16-jährige Tochter Jana ist das einzige Kind und steht kurz vor dem Realschulabschluss. Diagnostisch betrachtet leidet Frau Z. an einer Agoraphobie ohne Panikstörung (F40.0). Ihr Vermeidungsverhalten ist stark ausgeprägt, wobei sie angstauslösende Situationen gut in Begleitung anderer Familienmitglieder – vorwiegend ihrer Tochter – aufsuchen kann. Sie vermeidet öffentliche Verkehrsmittel und weitere Entfernungen von der Wohnung. Im Zeitraum von knapp zwei Jahren finden insgesamt 13 Familiengespräche im Rahmen der Verhaltenstherapeutischen Ambulanz der Universität Leipzig statt. Hinsichtlich des Auftrages sind sich die Familienmitglieder einig: Die Familie macht sich Sorgen, dass das Verhalten der Tochter der Beginn einer Angsterkrankung sein könnte. Tochter Jana solle es wieder besser gehen. Dieses Ziel sei dann erreicht, wenn sie ohne die

7 Auszug aus der Abschlussarbeit von Claudia Mory (»Die Etablierung systemischer Strukturen in einer verhaltenstherapeutischen Ambulanz«) am Institut für Familientherapie Weinheim 2005.

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Mutter etwas unternehme, sich wieder mehr mit ihren Freunden treffe, häufiger lache und lebenslustiger sei. Im Prozess der zunächst folgenden acht Familiengespräche gibt es zwei Schwerpunkte: Gemeinsam mit der Familie werden verschiedene Hypothesen und Erklärungsmodelle zu Janas Verhaltensweisen sowie ein veränderter Blick in die FamilienGeschichten entwickelt. Dort wird deutlich, dass Jana sich aktuell in einer Vermittlerposition zwischen Vater und Mutter oder auch zwischen den Großeltern mütterlicherseits und den Eltern befindet. Die Mutter ist ihren Eltern, vor allem ihrer Mutter gegenüber noch verbunden, was zu Konflikten zwischen Herrn und Frau Z. führt, in denen Jana vermittelt. Einerseits erhält Jana von den Eltern die Erlaubnis, sich aus der Position der »Lauscherin und Vermittlerin« zurückzuziehen, wenn es ihr zu viel wird. Andererseits wird die frühe Schwangerschaft von Frau Z. und die anschließende schwierige Zeit der jungen Familie bearbeitet: Frau Z. wohnte die ersten drei Lebensjahre von Jana noch im Haus ihrer Eltern, da Herr Z. aufgrund seiner Armeezeit häufig abwesend war und finanziell kein gemeinsamer Lebensraum möglich war. Die Unzufriedenheit beider Elternteile und die Konflikte mit den Eltern von Frau Z. landen häufig als »Schuldzuweisung« (»Wir haben das alles für dich auf uns genommen«) bei der Tochter. Es gelingt, die Großeltern als starke Unterstützung in dieser Zeit zu sehen, ebenso wird die schwierige Situation des Vaters aufgrund beruflicher Verpflichtungen und Abwesenheit gewürdigt. Den zweiten Schwerpunkt bildet eine sehr alltagsorientierte Arbeit – auch mit der Symptomatik der Tochter – und die Vermittlung konkreter Bewältigungsstrategien. Darüber hinaus bearbeiten wir die geschilderten Gefahrkognitionen (»Ich könnte sterben. Ich könnte einen Herzinfarkt bekommen.«) im Rahmen einer Genogrammarbeit, da sich herausstellt, dass in beiden Familien Kinder vor den Eltern an Herzinfarkten verstorben sind. Die Tochter wird angeregt, ein Testament zu schreiben, um ihre materielle und immaterielle Hinterlassenschaft zu regeln. In der nächsten Sitzung berichtet Jana, dass sie sich eine Woche Gedanken gemacht habe und dann beschlossen habe, kein Testament zu schreiben: »Ich bin noch viel zu jung zum Sterben und brauche mich daher nicht damit auseinanderzusetzen!« Insgesamt wird spielerisch mit dem Thema »Jana leidet auch an einer Angsterkrankung« umgegangen. Immer wieder wird danach gefragt, was anders wäre, wenn dies keine Erkrankung, sondern normale »Wachstumsschmerzen« seien. An diesen Stellen entstehen zwei weitere Hypothesen: Zum einen könnte die Angstsymptomatik der »Klebstoff« zwischen den Eltern sein. Was würde mit der Partnerschaft passieren – besonders mit der Mutter –, wenn Jana sich auf den Weg in ihr eigenes Leben machen würde? So gesehen ginge es um eine Ablösungsthematik der Tochter und es wäre anzuschauen, welche Regeln hier aufgrund der Familiengeschichte existieren. Die zweite Hypothese geht in die Richtung, dass Frauen in diesem Familiensystem dann liebenswert sind, wenn sie schwach, ängstlich und hilflos sind. Dann wären die Parallelen zwischen Mutter und Tochter bezüglich der Angstsymptomatik eine Form der weiblichen Identifikation. Mittels systemischer Techniken, zu denen unter anderem das regelmäßige Reflektieren, Genogrammarbeit, Mehrgenerationenperspektive, Skulpturarbeit sowie ein Rückgaberitual zählten, gelingt es, bestehende Familienmuster/-spiele zu irritieren. Familie Z. kommt im Lauf des Projektes sichtbar mehr miteinander in Kontakt (Paar-Ebene und Vater-Tochter-Ebene). Jana beginnt, mehr mit Freunden zu unternehmen und kann sich ein Stück vom Elternhaus lösen, ohne deren Schutz und Sicherheit zu verlieren. Zu Beginn der Gespräche schätzt sie sich zu 20 % gesund und zu 80 % krank ein; nach acht

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Sitzungen beschreibt sie sich als zu 90 % gesund und 10 % krank. Mit allgemeiner Zufriedenheit beschließen alle Beteiligten ein Ende der Gespräche. Nach nur zwei Monaten meldet sich die Familie mit der Bitte um erneute Gespräche, da es der Tochter wieder erheblich schlechter gehe. In fünf Gesprächen, die je nach Bedarf der Familie vereinbart werden, wird die Familie ein weiteres Jahr begleitet. Im Mittelpunkt steht die Bearbeitung der Frauenbilder in dieser Familie (Idealbilder, Realbilder, Ausnahmen und Alternativen), es geht unter anderem um das Recht der Mutter auf Abgrenzung, um Janas Vorstellungen über Zukunft, Partnerschaft und Kinder und um Ablösungsmodelle aus der Herkunftsfamilie. Ablösung erfolgte hier durch frühe Mutterschaft oder durch Ablehnung/Entwertung der Mutter. Die gemeinsame Angstsymptomatik zwischen Mutter und Tochter wird mit Hilfe dieser Sichtweise zu einem kommunikativen Bindemittel zwischen den Frauen und kann als Versicherung gegenseitiger Loyalität gesehen werden. In der Abschlusssitzung thematisiert Familie Z. den bevorstehenden Auszug der Tochter und entwickelt Lösungsmodelle, bei denen die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt werden. Trotz bestehender Angebote für Paargespräche bzw. für die Teilnahme an der Angstbewältigungsgruppe für Frau Z. nutzt die Familie keine der weiteren Angebote in der psychiatrischen Ambulanz.

Angst kontextualisieren Die zentrale Strategie systemischer Arbeit bei Angst- und Panikstörungen besteht darin, die Angst sprachlich zu kontextualisieren. Fragen nach Ausnahmen, Fragen zur Skalierung der erlebten Angst in unterschiedlichen Situationen können helfen, dass Klienten sich selbstwirksam erleben (Beispiel aus Eder 2003, S. 19): LE: Auf einer Skala von 1 bis 100, wenn 1 der niedrigste Punkt und bei 100 die Lösung ist, wo würden Sie sich da einschätzen? HM: So bei 30. LE: Und von wo sind Sie gestartet? HM: Na ja, bei 0. LE: Wie sind Sie denn von 0 nach 30 gekommen? HM: Ich hab’ alle Verantwortung abgegeben und gesagt, jetzt machst du, was du kannst. LE: Wie kommt es, dass Sie nicht tiefer sind als 30 im Moment? HM: Ich glaube, das liegt daran, dass ich langsam die Akzeptanz im neuen Umfeld merke. LE: Wie macht die sich bemerkbar? HM: Na ja, die Leute (gemeint sind Kollegen) reden mit mir, sie kommen und fragen, zu bestimmten Bereichen, wo sie denken, ich kenn mich vielleicht besser aus. LE: Wie kommen die anderen auf diese Idee? HM: Ich habe seit drei Jahren Erfahrung in diesem Bereich. LE: Gibt es noch etwas, was zu den 30 beigetragen hat? HM: Ja, dass ich langsam mein Arbeitsumfeld wieder richtig einschätzen kann. Das gibt eine gewisse Selbstsicherheit.

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Skalierungsfragen können kontinuierlich im Therapieverlauf eingesetzt werden, als Aufhänger für Fragen nach Handlungsbeiträgen, Erklärungen und Bewertungen. Klienten können die Aufgabe mitnehmen, mithilfe der Skala Vorhersagen und Einschätzungen zu treffen. Wer sich auf einer Skala einschätzt, hat eine Idee darüber, wo er hin möchte und wer oder was dazu beiträgt, dass er dem Ziel näher kommt. Erklärungsmodelle Außerdem kann es wichtig sein, eine Vorstellung davon zu bekommen, wie die Störungstheorien der Betroffenen selbst aussehen und welche Wünsche nach Unterstützung sie daraus ableiten. Wie immer, wenn zunächst körperliche Beschwerden und Störungen ohne diagnostizierbare organische Ursachen im Vordergrund stehen (vgl. Kapitel 2.7), lohnt es, die Weichheit oder Härte der jeweiligen Wirklichkeitsbeschreibungen rund um das Angstgeschehen respektvoll zu explorieren, also zu fragen, wer die Symptomatik als biologisch verursacht ansieht, wer anders darüber denkt, wie die Hypothesen und Argumente der Seiten aussehen und wie sich die Vertreter der einen und der anderen Fraktion verstehen. Wittmund (2005) weist darauf hin, dass der Aspekt der Veränderungsangst vielfach unterschätzt wird. Patienten fühlen sich erheblich entlastet, wenn sie verstehen, dass eine Angstsymptomatik vielfach biografische Übergänge begleitet, denen niemand aus dem Weg gehen kann, die aber für jeden eine Aufgabe darstellen (berufliche Neuorientierung nach Erziehungszeit, Auszug der Kinder, Entscheidung für berufliche oder private Umorientierung etc.). Hier kann ein guter Anknüpfungspunkt gefunden werden, nicht-störungsbezogen zu arbeiten, der auch dem zunächst somatisch orientierten Patienten meist gut vermittelbar ist. Die Gesprächsführung sieht zu Beginn bei biomedizinischen Erklärungen entsprechend anders aus als bei psychosomatischen. Im ersten Fall bieten sich zur Kontextualisierung von Angststörungen folgende Frageformen an (Häuser 1994): – Eher weiche, psychosomatische Wirklichkeitskonstruktionen ermöglichen es mithilfe bekannter Redewendungen, den Zusammenhang zwischen körperlichen Veränderungen und Angst plausibel zu machen: »Das Herz schlägt bis zum Halse«, »Die Angst schnürt die Kehle zu« oder »sich vor Angst in die Hosen machen«.

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– Wann ist die Angst zum ersten Mal in Ihrem Leben aufgetaucht? Wer hat sie als Erstes bemerkt? Wie wurde sie bezeichnet? Wenn derjenige schon damals von einer »Angststörung« geredet hätte, wäre das heute besser oder schwieriger? – Wie haben andere darauf reagiert? Wie haben sich die Beziehungen verändert? Was wäre möglicherweise passiert, wenn die Angst nicht in Ihr Leben getreten wäre? Hätte es eher mehr oder eher weniger Streit gegeben, mehr oder weniger Auseinandersetzungen/Nähe/Sexualität/Kontakt/Gemeinsamkeiten usw.? – Wie gingen Eltern/Geschwister mit eigenen Gefühlen von Angst um? Hier können Traumatisierungen zur Sprache kommen, insbesondere massiver Stress im Kindesalter, der zu neurobiologischen Veränderungen führen kann, die das Risiko späterer Angst- oder Panikstörungen erhöhen. Bei harten (einseitig biomedizinischen) Wirklichkeitskonstruktionen können Fragen nützlich sein wie: – Welche Bereiche Ihres Lebens werden durch die ungeklärte Angst beeinträchtigt, welche nicht? Wie erklären Sie es sich, dass Sie es nach wie vor schaffen, Lebensbereiche unbeeinträchtigt zu halten? – Gesetzt den Fall, es würde bewiesen, dass es sich tatsächlich um eine organische Verursachung handelt, an der nichts weiter zu machen ist – was würde das für Sie bedeuten? Und wenn Sie sich dann entscheiden würden, trotzdem der Angst einen Lebensbereich abzutrotzen, welcher könnte das sein? Angenommen, Sie haben das dann geschafft, was würden Ihr Mann/Ihre Mutter/andere bedeutsame Personen aus Ihrem Leben sagen, welche besonderen Qualitäten von Ihnen dabei hilfreich gewesen sind? – Was würde Ihr Hausarzt/Ihr Ehemann sagen, wenn wir im Krankenhaus feststellen, dass Ihr Herz gesund ist und Ihre Beschwerden durch Angst hervorgerufen werden? Wie würden sie sich Ihnen gegenüber anders verhalten? Wäre das hilfreich für Sie? – Wann ist es das letzte Mal gewesen, dass Sie trotz der ungeklärten körperlichen Beschwerden Auto gefahren sind? Wie haben Sie das gemacht, woran haben Sie da gedacht? – Einmal angenommen, Sie würden nach dem Aufenthalt hier eine weitere Klinik aufsuchen und dort würde genau das Gegenteil heraus-

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kommen von dem, was wir hier besprochen haben. Wie würden Sie damit umgehen, würde es Sie eher motivieren, eine Psychotherapie zu beginnen oder würde das für Sie eher das Gegenteil bedeuten? Unterschiedsfragen können positiv sensibilisieren für Ereignisse, die von der bisherigen Erwartungshaltung abweichen (Häuser 1994): – Was würde geschehen, wenn Sie zu Hause in Anwesenheit Ihrer Angehörigen oder allein so tun würden, als ob Sie eine Panikattacke hätten? Probieren Sie es einmal aus: Tun Sie mindestens einmal so, als ob sie eine Panikattacke hätten und schauen Sie, ob Ihr Partner den Unterschied zwischen einer echten und gespielten Attacke merkt. – Was wäre der Unterschied, wenn Ihre Angst vor dem Autofahren (auf einer Skala zwischen 0 und 100) 40 (statt wie bisher 90) beträgt? Und wenn Sie nur so täten, als ob es 40 wären, wer würde das merken, wer wäre über Sie erstaunt? Die Bedeutung, die den körperlichen Vorgängen gegeben wird, kann ebenfalls im Gespräch thematisiert werden. Körperliche Sensationen wie Herzklopfen und Ähnliches werden als Krankheitsanzeichen gewertet. Wichtig ist es hier, Umdeutungen einzuführen, zum Beispiel: »Es ist keine Angst, das Herz klopft, das ist ein Zeichen, dass ich lebendig bin – zwar etwas heftig, doch wenn es nicht klopfen würde, gäbe es mich nicht mehr!« Die Problemtrance auflösen Wer an einer phobischen Störung leidet, ist meist Spezialist für Problemtrancen (Eder 2003): Im Vorfeld und in der kritischen Situation selbst werden innere Szenarien aufgebaut, die die Katastrophe vorwegnehmen, diese in allen Einzelheiten ausmalen und die negativen Aspekte einseitig fokussieren. Diese Aspekte wurden bereits im Zusammenhang mit dem starken synchronen Zeitbezug beschrieben. Hier kann eine Dekonstruktion der Wirklichkeitslandschaften angeboten werden: »Wie ist das, wie ist das genau, was passiert dann, was kann passieren, was bedeutet das, was machen Sie dann?« Therapeutische Metastrategie bedeutet hier in alle Winkel schauen, alle Konsequenzen abfragen! Entlastend und befreiend kann es hier auch sein, von den (Irr-)Wegen anderer Patienten mit diagnostizierten Angst- oder Panikstörungen zu erzählen.

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So kann man die Geschichte eines Patienten erzählen, der einem aufgeschnappten Gesprächsfetzen im Krankenhaus oder beim Arzt bestimmte Vorsichtswarnungen entnommen hatte: »Vorsicht bei sportlichen Bewegungen, die dem Herz schaden könnten« (oder: »Wenn Sie sich zu sehr entspannen, kann sich ein Thrombus lösen und direkt bis ins Herz gehen«, »Schlafprobleme sind oft erstes Anzeichen einer Depression«). Losgelöst aus dem ursprünglichen (meist akutmedizinischen) Kontext hatten diese Bemerkungen medizinisch keine Relevanz mehr, behielten aber für den Patienten eine enorme verhaltenslenkende Wirkung. »Was würden Sie diesem Patienten aus Ihrer Sicht raten?«

Übertreibung, Humor, Provokation können für die Auflösung von Problemtrancezuständen sehr hilfreich sein. Daran orientierte Fragetechniken verfolgen das Ziel, den Patienten darin zu unterstützen, das mit der Angst einhergehende dramatisierende Denken ad absurdum zu führen. Diese Instrumente wurden schon in den 1930er Jahren von Viktor Frankl in der Behandlung von Phobien verwendet. Frankl hat etwa Patienten mit Angst vor Suizidgedanken dazu angehalten, sich zu sagen (nach Kriz 2001): – »Gut, jetzt gehe ich auf die Straße, um verrückt zu werden. Prima, jetzt ist eine günstige Gelegenheit, jetzt werde ich mich unter ein Auto werfen, hab’s ja schon lange nicht mehr getan.« – »Gestern wollte ich mich zehnmal unter ein Auto werfen, heute werde ich es zwanzigmal tun. Das Blut soll nur so spritzen.« – »Jetzt wird in die Straßenbahn gegangen. Dort werde ich denen einmal zeigen, wie ich kollabieren kann.« In diesem Zusammenhang lassen sich systemische Übertreibungs- und Verschlimmerungsfragen gut einsetzen (vgl. Häuser 1994): – Woran müssen Sie denken, auf welche körperliche Empfindung achten, um sicher zu sein, eine Panikattacke zu bekommen? – Wie haben Sie es heute Morgen geschafft, die Todesanzeigen in der Zeitung zu lesen und keine Herzattacke zu bekommen? – Wie sind Sie gestern dem plötzlichen Herztod entronnen? – Wie oft sind Sie heute in der Straßenbahn gestorben? Wie? Nur fünf Mal? – Wie haben Sie es geschafft, gesund hierher zu kommen? Übertreibungs- und Verschlimmerungsfragen oder provokative Interventionen sollten natürlich nur dann zur Anwendung kommen, wenn die therapeutische Beziehung von ihrer Tragfähigkeit her dies erlaubt.

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Externalisierung Mit der Technik der Externalisierung (White u. Epston 1990) wird die Phobie, die Angst als Wesen betrachtet und ihr ein Name gegeben. Dies können bei weicheren Wirklichkeitskonstruktionen metaphorische Ausdrücke sein, die die Klienten selbst für ihre Störung finden können, wie etwa »Flattermann«, »Frosch« oder »Angstmonster«. Bei härteren Wirklichkeitskonstruktionen bieten sich Ausdrücke wie »Anfälle«, »Attacken«, »Beschwerden« an. Dann lässt sich fragen: – Wie viel Prozent Ihres Lebens haben Sie dem Flattermann eingeräumt, wie viel Prozent haben Sie für sich behalten? Zu welchen Gedanken oder Ansichten über sich selbst verleitet die Angst Sie? Sind Sie eigentlich mit diesen Gedanken einverstanden? – Wollen Sie eigentlich die Einladungen des Angstmonsters annehmen? Haben Sie ihm schon einmal mitgeteilt, dass Sie es nicht wollen? Wie haben Sie das getan? Was würden Sie jemandem empfehlen, der es noch nie geschafft hat, die Einladung auszuschlagen, wie sollte er es anstellen? Gibt es eigentlich zumindest gelegentlich auch gute Gründe dafür, die Einladung anzunehmen – und wie könnte man den Unterschied erkennen? Wäre jemand, der überhaupt keine Ängste hat, eigentlich ein sympathischer Gesprächspartner oder würde ihm auch etwas fehlen? – Was haben Sie gedacht/getan, als Sie sich das letzte Mal vom Frosch nicht daran hindern ließen, am Leben teilzunehmen? Welche Qualität von sich selbst haben Sie dadurch besonders kennen gelernt? Wer von Ihrer Familie kann diese Qualität besonders schätzen? – Welchen Einfluss haben diese rätselhaften Anfälle bisher auf das Leben Ihrer Angehörigen gehabt? Wie werden Ihre Angehörigen reagieren, wenn die rätselhaften Anfälle weiter bei Ihnen zu Besuch kommen? Gerade bei unmittelbarer Konfrontation mit angstauslösenden Situationen kann die Externalisierung der Angst eine hilfreiche Strategie sein: »Wenn Sie sich die Angst als Person vorstellen würden, wo sitzt diese Person jetzt gerade? Oh, auf Ihrem Schoß. Kein Wunder, dass Sie gerade keine Luft bekommen. Vielleicht bieten Sie ihr den Platz neben sich an!«

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Angst und Panik – Die gerade richtige Dosis Beziehungsfreiraum

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Eine Patientin übernahm in Situationen, die sie allein nicht mehr aufgesucht hatte, diese Technik. Bevor sie ins Auto einstieg, machte sie der Angst die Beifahrertür auf und schnallte sie auf dem Beifahrersitz an. Während der Fahrt unterhielt sie sich dann mit dieser Beifahrerin. Hilfreich war für sie ebenfalls die Vorstellung »Ich bin ja nicht allein unterwegs«. Die Angst verlor so langsam ihren Schrecken und wurde als Gesprächspartnerin umgedeutet.

Gerade Kinder reagieren erfahrungsgemäß sehr gut auf diese Methode. Ein sehr schönes Beispiel der Arbeit mit einem sozialphobischen Jungen findet sich bei Tootell (2002)8. Hier wurde die »Verlegenheit« externalisiert und der Klient wurde darin unterstützt, gegen sie zu kämpfen, gleichzeitig wurde das »Selbstvertrauen« als positive Qualität externalisiert und die Momente, in denen der Junge es schaffte, sich mit dem Selbstvertrauen »zusammenzutun«, besonders gewürdigt. In dieser Therapie wurden auch Briefe wie der folgende eingesetzt (S. 10f.): »Lieber Dylan, was du mir heute erzählt hast, klingt so, als ob du beginnst, das Blatt der ›Verlegenheit‹ zu wenden. Zum Beispiel hast du dich durch sie nicht davon abbringen lassen, in der Schule zu tanzen. Du sagtest, es hat dir geholfen zu wissen, dass jeder es tun musste. Ich frage mich, ob du denkst, dass die ›Verlegenheit‹, nur dich betrifft, oder denkst du, das betrifft viele Kinder in deinem Alter? Warum machen wir uns so viel Sorgen, wie wir aussehen? Warum sind Leute so verletzlich, wenn sie in ›Verlegenheit‹ sind? Was nährt die ›Verlegenheit‹ und gibt ihr soviel Einfluss auf Leute? Dylan, deine nächste Konfrontation mit ›Verlegenheit‹ kommt nächste Woche beim Schwimmen. Du sagtest, dass dir die Schulbadehosen dabei helfen und dass dein Selbstvertrauen beträchtlich steigen wird, wenn du über die nächste Woche kommst. Deine Mutter sagte, sie denkt, dass dein Selbstvertrauen im Aufwärtstrend ist und du die Persönlichkeit, die du bist, wertschätzt und respektierst. Wir stimmten auch darin überein, dass niemand perfekt ist und dass die Leute, die (sagen wir mal in ihrer körperlichen Erscheinung) perfekt sein wollen, einzig und allein sich selbst betrügen. Du erzähltest mir auch, dass andere Jungen jetzt mit dir Freunde werden wollen, wie z. B. Mike, der am letzten Wochenende zu dir kam, und Jason Armstrong. Dylan, was glaubst du, mögen Mike und Jason an dir und was denkst du, warum sie mit dir zusammen sein wollen? […] Herzliche Grüße, Andrew«

8 Download möglich unter: http://www.if-weinheim.de/download/Systhema_pdfs /Sys_2002/1_2002/Sys_1_2002_Tootell.pdf

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Systemische Therapie mit der inneren Familie Gerade bei Angststörungen lässt sich auch das Gespräch der inneren Teile gut in den Therapieraum hineinbringen und in Szene setzen (Schwartz 1997; Schmidt 2004; Schindler 2005): Verschiedene Teile oder Stimmen, angeordnet um einen Kern, das Selbst, werden an die Tafel gemalt und die Klientinnen werden gebeten, ihnen Namen zu geben. Das Selbst hat dabei eine wichtige Funktion als Instanz, die die einzelnen Teile anspricht, mit ihnen in Verbindung steht und sie integriert. Später können die Klientinnen in Bezug auf die Teile und das Selbst auf verschiedenen Stühlen interviewt werden. Das Ziel besteht darin, auch die Teile, die für die Angst sorgen, als Berater anzuerkennen, ohne damit auch automatisch ihrem Rat zu folgen. Das Bild des Häuptlings in der Ältestenrunde der Indianer kann hilfreich sein. Er fällt seine Entscheidung, nachdem er sorgfältig alle Argumente angehört und erwogen hat: Jeder innere Teil braucht Respekt und bekommt ihn so. Eine sehr schöne Art, mit inneren Teilen bei Angst- und Panikerkrankungen zu arbeiten, stellt Essen vor (1998, S. 305ff.). Gute Gründe für die Angst: Reframing Schließlich lassen sich, wie bereits angedeutet, auch die kreativen und bewahrenswerten Aspekte der Angst betonen. Welche guten Gründe sprechen dafür, die Angst oder das phobische Verhalten beizubehalten? Manchmal kann sich daraus ein passendes Reframing entwickeln: dass etwa die Angst eine gute Unterstützung dafür bietet, etwas nicht zu tun, was schon immer keinen Spaß gemacht hat. Ängste können Bundesgenossen werden in der partnerschaftlichen Auseinandersetzung, etwa wenn es um allzu große Expansionswünsche geht, oder darum, das Wilde oder Triebhafte einzudämmen, allzu große Wünsche nach Unabhängigkeit zu zügeln. Dann ist die Angst ein Helfer für die Ökologie der Beziehung – und wenn das anerkannt ist, kann ein Gespräch darüber beginnen, ob ein ähnliches Ergebnis vielleicht auch für einen geringeren Preis zu erzielen ist. Es empfiehlt sich, insbesondere bei Angst im Kontext von Paarbeziehungen, Freiheits- und Bindungswünsche sowie deren Verwirklichungschancen und -hindernisse behutsam zu erkunden. Wenn eine gute Beschreibung für die ökologische Funktion der Angst gefunden wurde, kann sich dies mit der Empfehlung einer Symptomverschreibung verbinden (ausführlich hierzu Nardone 1997): Die Angst

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sollte auf keinen Fall zu schnell abgebaut werden, unbedingt zumindest vorerst weiter gezeigt werden, ja, wenn der Patient ein Abflauen bemerke, solle er dennoch zumindest vorerst an seinem angstvollen Verhalten nichts verändern.

2.4 Zwänge – Neue Rituale für alte Kontrollkämpfe9 iStörungsbilderi Von einer Zwangsstörung (F42) wird gesprochen, wenn entweder vorwiegend wiederkehrende und anhaltende Zwangsgedanken/-impulse beklagt werden (F42.0) oder Zwangshandlungen und -rituale ausgeführt werden (F42.1) bzw. beides (F42.2) auftritt. Die Symptomatik muss über einen längerdauernden Zeitraum (mind. zwei Wochen) hinweg auftreten. Mit einer geschätzten Prävalenz von 2 % zählen Zwangsstörungen zu den häufig auftretenden Störungen (Ecker 2002). Tabelle 7: Zwangsstörungen in der ICD-10 F42 F42.0 F42.1 F42.2 F42.8 F42.9

Zwangsstörungen vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang vorwiegend Zwangshandlungen [Zwangsrituale] Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt sonstige Zwangsstörungen Zwangsstörung, nicht näher bezeichnet

Zwänge sind Gedanken und Ideen, meist in Form von Befürchtungen eines bevorstehenden Unheils, das andere oder die eigene Person treffen könnte, bildhafte Vorstellungen schrecklicher Dinge (z. B. Bilder von Enthauptungen) oder Handlungsimpulse mit sexuellen, blasphemischen oder aggressiven Inhalten (z. B. jemandem vor die U-Bahn zu stoßen), die sich in quälender Weise immer wieder aufdrängen. Zwangshandlungen sind definiert als stereotype, sich ständig wiederholende Hand9 Wir danken Frau Dr. Barbara Meier, Zürich, und Dr. Hansruedi Ambühl, Bern, für ihre Mitwirkung beim Verfassen dieses Kapitels.

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lungen zur Abwendung objektiv ungefährlicher, subjektiv jedoch als bedrohlich eingeschätzter Ereignisse. Zwangsrituale stellen dann einen symbolischen Versuch dar, diese Gefahr abzuwenden und zu neutralisieren (Hoffmann 2005). Zwangsstörungen werden in der Regel ich-dyston erlebt, das heißt, die Person ist sich bewusst, dass ihre Gedanken, ihr Erleben und ihre Handlungen übertrieben und unsinnig sind. Widerstand wird meist versucht, doch erlahmt er nach einiger Zeit (z. B. Bader u. Hänny 2005). Zwangsrituale sind offene oder verdeckte Handlungen. Häufigste Zwangshandlungen sind Wasch- und Säuberungszwänge, Kontrollzwänge, Ordnungszwänge, Wiederholungszwänge (Wiederholen von Worten, Zahlen, Gebeten), Sammeln und Horten. Die Ausführung einer Zwangshandlung wird nicht als angenehm erlebt, bewirkt aber eine Reduktion von Angst. Wenn die Zwangshandlung unterbrochen oder unterbunden wird, sieht sich die Person erheblicher Spannung ausgesetzt, die als unerträglich erlebt wird. Der Leidensdruck ist daher bei Zwangsstörungen oft sehr hoch – und eine Anerkennung für die geleistete schwere Arbeit, mit dem Symptom zu leben, wird oft dankbar quittiert. Doch wird lerntheoretisch gesprochen eine Zwangshandlung ständig durch die Reduktion von Spannung negativ verstärkt. Die Vermeidung von Angst bringt eine Person somit bedauerlicherweise immer wieder um die Erfahrung, diese durchgestanden zu haben, mit ihr erfolgreich gekämpft zu haben und dadurch stärker geworden zu sein.

iBeziehungsmusteri Nicht nur aus systemischer Perspektive wird vielfach betont, dass intrapsychische und interpersonelle Aspekte der Störung meist eng miteinander verknüpft sind. Wichtigste intrapsychische Funktionalitäten der Zwänge sind der Schutz vor negativer Befindlichkeit wie zum Beispiel Angst, Wut, Trauer, Hilflosigkeit sowie die Pseudokompensation von Entwicklungsdefiziten in den Bereichen Selbstwertgefühl, soziale Kompetenz, Toleranz für intensive Emotionen und interaktionelle Erlebnisfähigkeit. Die interpersonelle Funktionalität der Zwänge liegt vor allem in der Regulierung der Beziehung zu nahen Bezugspersonen. Mit ihrem unterschwellig aggressiven Interaktionsstil können Distanz und indirekt

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die Respektierung der persönlichen Integrität erreicht sowie gefühlsbetontere, spontanere und engere Beziehungen zu anderen vermieden werden (Hand 2002; Ambühl u. Meier 2003a, 2003b). »Eine Zwangsstörung führt zwangsläufig auch zu einer Kommunikationsstörung. Kommunikationsstörungen können aber auch Zwangsverhalten und Zwangsstörungen mit verursachen und aufrechterhalten« (Hand 2002, S. 83). Zwangsstörungen sind solch massive Eingriffe in den familiären Alltag, dass man sich ihnen nur schwer entziehen kann. Allerdings wählen die Betroffenen nicht selten auch den Weg in die Isolation, um mögliche spannungssteigernde Kontakte zu reduzieren. Innerhalb der Familie sind oft eine oder mehrere bedeutsame andere Personen explizit mehr oder weniger stark in die Zwangssymptomatik einbezogen. Die Störung des Einzelnen wird so zu einem Problem oder zur Störung für das ganze System. In besonderem Maß gilt dies, wenn der Patient ein Kind oder Jugendlicher ist. Aus Sorge um ihr Kind lassen sich viele Eltern in die Zwangsrituale einbeziehen. Omer (2003) berichtet über Beeinträchtigungen in verschiedenen Familien mit zwangsgestörten Kindern: – zwanghaftes Waschen (in einer Familie wusch sich das Kind mehrere Stunden am Tag und unter der strikten Bedingung, dass es sich stets zuerst in der Familie duschte, auch wenn die Eltern und Geschwister zum Teil stundenlang warten mussten); – Mahlzeitrituale (es wurde besonderes Geschirr und Besteck verlangt, eine besondere Weise, das Essen auszugeben und manchmal auch die absolute Forderung, die erste Portion aus dem Topf zu bekommen, auch wenn die Eltern und Geschwister bis zum Abschluss des Handwaschrituals sehr lang abwarten mussten); – die Forderung, dass die Wäsche gesondert von der Wäsche der anderen Mitglieder der Familie gewaschen würde (in einem Fall musste die Mutter die Maschine einmal ganz leer durchspülen lassen, bevor dann danach die Wäsche des Betroffenen eingelegt werden konnte); – die Nachprüfung aller Sicherheitsvorkehrungen (z. T. in langen Ritualen, die die Eltern unter Beaufsichtigung ausführen mussten, wobei alle Türe und Fenster des Hauses fünf- oder zehnmal geprüft wurden); – obsessives Sammeln (z. B. waren die Eltern verantwortlich für das Aufnehmen ganzer Serien von Soap-Operas, wenn die Kinder nicht zu Hause waren);

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– die Forderung, dass alles zu Hause genau so geregelt sein müsse, wie das Kind es wolle, dass sein Zimmer unter keiner Bedingung je betreten werden dürfe (manchmal wurden auch andere Wohnbereiche diesem Verbot hinzugefügt, z. B. dass die Küche keineswegs betreten werden durfte, wenn es sich darin befand); – dass die Eltern im Umgang mit den Geschwistern die strikteste Symmetrie bewahrten (die Betroffenen führten diesbezüglich exakt Buch, was sich bis in die entfernteste Vergangenheit ausdehnte). In vielen Bezugssystemen hat der Zwang so den Charakter eines ungebetenen Gastes gewonnen, der sich eingenistet hat (Ambühl 2004), oder eines Monsters, das alle kontrolliert. Mehr oder weniger offene Kontrollkämpfe werden geführt, aber nicht ausgetragen, vielmehr enden sie regelmäßig in der Kapitulation vor dem Zwang: Der Zwang ist stärker – und der mit ihm verbündete Symptomträger somit in der paradoxen Situation, einerseits einen starken Bundesgenossen zu haben, der ihm eine besondere Position im sozialen Feld gewährleistet. Andererseits zahlt der Betroffene für die kurzfristigen Siege in interaktionellen Auseinandersetzungen langfristig mit dem Gefühl, nicht gemocht und gemieden zu werden, zudem ist er dem Zwang mindestens genauso quälend unterworfen. Hand spricht von einem »maladaptiven und repetitiven ›prophylaktischen Machtspiel‹« (2002, S. 84), das nicht nur die Beziehungen aller Beziehungspartner belastet, sondern das auch die therapeutische Kooperation erschwert, ist doch im Symptom eine enorme Konfliktspannung und Ärger gebunden, die sich im Verlauf erfolgreicher Therapie zeitweilig entladen können. Zwangsrituale eines Familienmitgliedes bringen Angehörige fast »zwangsläufig« in eine Forced-choice-Situation: Entweder passen sie sich mehr oder weniger ausgeprägt den Zwangsritualen an oder sie grenzen sich aktiv und sogar bekämpfend und feindselig dagegen ab (van Noppen et al. 1997). Die speziell entwickelte »Family Accommodation Scale for Obsessive Compulsive Disorder« (Calvocoressi et al. 1999) dient der Erfassung des Zusammenhangs zwischen familiären Reaktionen auf zwanghaftes Verhalten eines Mitglieds. Häufiger ist die Anpassung: Drei Viertel aller Eltern lassen sich in Zwangsrituale ihres Kindes involvieren, ein Viertel reagiert darauf eher abweisend und feindselig (Allsopp u. Verduyn 1998). Das forcierte Konfrontieren seitens Angehö-

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riger mit den zwanghaft vermiedenen Stimuli oder die Aufforderung, doch endlich dieses bizarre Verhalten sein zu lassen, führen eher zur Aufrechterhaltung der Symptomatik. Bei erwachsenen Zwangspatienten ist oft der Partner eng in die Störung mit einbezogen (Hafner 1982; ein anschauliches Fallbeispiel aus einer Paartherapie findet sich bei Ebbecke-Nohlen 2003). Paare stellen häufig den Bezug auf ein Drittes her, das die Partnerschaft mit Sinn erfüllt, dies können Kinder sein, die Familie oder gemeinsame Projekte. So kann auch die Zwangsstörung als ein Ersatz für dieses Dritte zum organisierenden Prinzip der Paarbeziehung werden (Lenz et al. 2000). Zwangsstörungen sind Störungen, die sich durch eine große Intensität und Dichte auszeichnen, in der über sie kommuniziert wird. Die Dynamik, die sich um sie herum entwickelt, ist vielleicht vergleichbar mit der Rolle der Flasche des Alkoholikers in der Paarbeziehung: Viel Zeit und Aufmerksamkeit wird darauf verwandt, die Symptome zu kontrollieren. Zahlreiche Veränderungsversuche, oft jahrelange Therapie, sind zu festem Bestandteil des partnerschaftlichen Lebens geworden, liefern Gesprächsstoff – für das Paar und den Freundeskreis, fördern die Fantasie, dass ohne die Störung das Leben paradiesisch wäre, bis es schließlich beinahe schwerfällt, sich vorzustellen, wie ein Leben ohne Symptomatik aussähe. Familiendynamiken Überlegungen zu bestimmten Familiendynamiken bilden eine der Hypothesen zur Entstehung von Zwangsstörungen. Hintergründe oder gar Ursachen für Störungen ausschließlich in der Familie zu suchen, hat in der Vergangenheit zu Konsequenzen geführt, die aus heutiger Sicht unangemessen erscheinen (etwa die »Husbandektomie«, das Herausschneiden des Ehemanns aus der gestörten Paarbeziehung als Folge der bereits erwähnten Befunde bei Paaren mit einer zwangsgestörten Partnerin). Von daher sollten die folgenden Beobachtungen nicht im Sinne einfacher kausaler Muster verstanden werden, sondern als mögliche Beiträge zu individuellen Erklärungsmodellen. Der Kinderarzt Guidano (1987) berichtet von Eltern, die oft in extremer Weise Reife und Verantwortlichkeit von ihren Kindern fordern, im Kind den Erwachsenen sehen, einseitig moralische Werte und ethische Prinzipien hochhalten. »Kranke« Gefühle wie Ärger oder sexuelle Empfindungen, die mit diesen Werten

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und Prinzipien für inkompatibel gehalten werden, sollen nach der Familiennorm am besten erst gar nicht gefühlt werden. Da Gefühle jedoch (ihrer Natur nach) unvermeidbar und unausweichlich sind, versucht das Kind diese paradoxe Anforderung durch Zwangsverhalten zu bewältigen. Perfektionismus, Reinlichkeit, Intellektualismus anstatt emotionaler Wärme und soziale Isolierung sind weitere Familienstile, die oft mit Zwangsstörungen in Zusammenhang gesehen werden (z. B. Adams 1972; Fine 1973; Guidano 1987; Welfare 1993). Gelegentlich, aber nicht mehr als bei anderen Störungsbildern, wird ein sich zwanghaft verhaltendes Kind im Dreieck zwischen einem abwesenden, im Abseits stehenden Vater und einer das Kind überkontrollierenden Mutter gesehen (Friedmann u. Silvers 1977; Dalton 1983). Offenbar spielen Kontextbedingungen für die Entstehung von Zwangsstörungen eine Rolle, jedoch nicht im Sinne linearer Verursachung. Mit den Augen der Selbstorganisationstheorie gesehen, kann ein Verhalten, das mehr oder weniger zufällig gezeigt wird, durch bestimmte Umstände signifikanter Bestandteil eines kommunikativen Musters werden, ohne dass hier etwa die Umgebung die Krankheit – oder auch die Gesundung – verursacht hat. Hierzu ein Beispiel aus eigener Praxis: Ein junger Mann kam wegen zwanghafter Verhaltensweisen in die Therapie, die allerdings noch nicht den Charakter einer Zwangsstörung erreicht hatten: Abend für Abend sah er sich gezwungen, alle Tuben im Badezimmer zu kontrollieren und sie in einer bestimmten Weise zur Wand zu drehen. Im Verlauf der Therapie entschied er sich, aus dem Elternhaus in die Selbstständigkeit auszuziehen. Im selben Moment hörten die zwanghaften Impulse auf – ohne dass er sie sich je vollständig erklären konnte. Die Geschichte geht weiter: Als eine Klientin mit ähnlichen für sie unerklärlichen Empfindungen, die sich vor allem auf dem Arbeitsplatz zeigten, von dieser Geschichte hörte, entschied sie sich, um eine Versetzung an einen anderen Dienstplatz nachzusuchen. Auch hier hörten die Zwangsimpulse unmittelbar auf.

iEntstörungeni Es sollte an dieser Stelle klar gesagt werden, dass bei schweren Zwangsstörungen systemische Therapie allein keine Wunder wirkt. Zwar liegen eine Reihe von Berichten über gelungene Kurzzeittherapien vor (Nardone 1997, 2003; Koch 1999), doch führt aufgrund der sich selbst verstärkenden Eigendynamik der Zwänge selten ein Weg an einer störungsspezifischen Intervention vorbei. Die störungsspezifische Behandlung

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der Zwangssymptomatik ist einer von drei Pfeilern, auf die sich grundsätzlich jede Therapie einer Zwangsstörung stützen sollte (Ambühl u. Meier 2003a, 2003b). Die Bearbeitung der dem Zwang zugrunde liegenden Probleme und die Bearbeitung interaktioneller Funktionalitäten der Zwänge ergänzen die störungsspezifische Behandlung: Aus der Störungsperspektive entwickeln sich die Interventionsmethoden, die die Bewältigung der Zwänge und den Aufbau anderer Formen der Emotionsregulierung zum Ziel haben. Die Problemperspektive weist auf klärungs- und bewältigungsorientierte Interventionen von möglicherweise dem Zwang zugrunde liegenden Konflikten, Traumata und Entwicklungsdefiziten hin. Die systemische Perspektive bestimmt den therapeutischen Ansatzpunkt in Beziehungsmustern und Familiendynamiken, denen eine positiv aufrechterhaltende Funktion für den Zwang zukommt. Massive Zwangsregelkreise, die sich im Verlauf von Jahren chronifiziert haben, sind nach dem derzeitigen Stand des Wissens am besten durch eine gut fundierte Expositionstherapie angehbar (ExpositionsReaktions-Management, Hand 2002; Ambühl u. Meier 2003a; Hoffmann u. Hofmann 2004). Parallel dazu kommt jedoch der Erarbeitung eines umfassenderen therapeutischen Kontraktes, meist unter Einbeziehung des engeren (mitbetroffenen) sozialen Netzwerkes des Klienten, eine besondere Bedeutung zu. Hier wird eine Kombination von systemischem Vorgehen mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen vielfach empfohlen, ja sie werden auch von verhaltenstherapeutischen Autoren gleichwertig neben die Expositionstherapie gestellt (u. a. Hand 2002). Es ist Aufgabe einer sorgfältigen Indikationsstellung und Auftragsklärung, zu bestimmen, welche Aspekte der Störung an welchen therapeutischen Ansatzpunkten, mit welchen Interventionsmethoden und in welcher Reihenfolge individuell behandelt werden. Hierzu zwei Beispiele, die verdeutlichen, wie sich verschiedene therapeutische Perspektiven sinnvoll und notwendig ergänzen. Eine Kollegin berichtet, dass eine Klientin mit dem Wunsch zu ihr kam, sie wolle sich und ihr Symptom besser verstehen. Diese Klientin war wegen einer massiven Zwangssymptomatik drei Monate in einer Klinik behandelt worden. Der Zwang war ihr, wie sie sagte, »abtrainiert« worden, doch sie war damit nicht zufrieden, wenngleich sie symptomfrei war. Nach drei Sitzungen erzählt sie der Therapeutin folgende Geschichte: Die Klientin war als Jugendliche über Jahre von ihrem Stiefvater vergewaltigt worden. Die Mutter wusste dies, verlangte jedoch, dass sie sich mit dem Mann nach wie vor gut stelle, weil

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sie befürchtete, bei einem Eklat von ihm verlassen zu werden. Jedes Mal, wenn die Klientin zu Hause war und der Mutter zuliebe auch den Mann per Handschlag begrüßt hatte, fühlte sie sich besudelt und ekelte sich vor sich selbst. Dies war die innere Situation, in der es zu den Zwangshandlungen kam, ein Weg, der ihr nun verbaut war. Ambühl und Heiniger Haldimann (2005) berichten vom Fall eines Klienten mit massivem Waschzwang. Nach einer sorgfältigen Vorbereitungsphase von 15 Sitzungen innerhalb von vier Monaten (mit Beobachtungs- und Protokollaufgaben, Familiengesprächen und sorgfältiger Vorbereitung der Intervention) kam es zu einer intensiven Expositionsphase, in der der Klient unter therapeutischer Anleitung bisher vermiedene Gegenstände berührte. Am Kulminationspunkt dieser Exposition brach all das hervor, was den Klienten in seinem Herzen schmerzte. Aus tiefster Seele stieß er laute Schreie aus, die nach längerer Zeit in ein Weinen und Klagen übergingen über all die Erniedrigungen, die er von ehemaligen Schulkameraden erlitten hatte. Nach Abklingen der zwanghaften Handlungen brauchte es noch eine ganze Reihe von Sitzungen, während derer sich die Familie mit den heftigen, aggressiv gefärbten Gefühlen auseinander setzte, die vorher unter dem Mantel der Zwangsstörung verborgen blieben, daneben nahm der Patient auch an gruppentherapeutischen Sitzungen zum Thema soziale Kompetenz teil. Insgesamt umfasste die Therapie 69 Sitzungen, verteilt über zwei Jahre (51 Einzel-, zehn Familien- und sieben Gruppensitzungen). So ist die Behandlung von Zwangsstörungen vielleicht auch ein gutes Beispiel dafür, dass die starre Orientierung an Therapieschulen beinahe zwangsläufig (um einmal ein Wortspiel zu verwenden) verlassen werden muss – zugunsten einer flexiblen Gestaltung therapeutischer Kontrakte unter Einbeziehung einer Vielzahl von therapeutischen Interventionsstrategien.

Abschließend sollen einige systemisch-therapeutische Interventionen, die sich speziell für die Arbeit mit unter Zwängen leidenden Klienten als hilfreich erwiesen haben, skizziert werden. Beziehungsaufbau und Reframing Der Aufbau einer tragfähigen und akzeptierenden Beziehung ist gerade bei Zwangsstörungen besonders wichtig. Vor allem sollte nicht der Fehler gemacht werden, den Patienten von der Sinnlosigkeit seiner Handlungen zu überzeugen – wie beschrieben, sehen die Patienten dies ja ohnehin ähnlich. Es kann versucht werden, der Störung mit ihrer eigenen Logik zu begegnen, also die merkwürdigen Vorstellungen aktiv aufzunehmen, ernsthaft die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass an ihnen etwas dran sein könnte und nach Kontexten zu suchen, in denen sie eine sinnvolle und bedeutsame Funktion erfüllen könnten (Nardone 1997, S. 85). Daran kann sich die Umdeutung anschließen, dass es zumindest zur Zeit noch nicht als passend angesehen werden könne, die zwanghaften Rituale einfach wegzutherapieren. Stattdessen könnte vorgeschlagen werden, dass – zumindest bis zur nächsten Sitzung – die Rituale weiter ausgeführt werden, ohne Versuche, sie zu kontrollieren. Diese Neu-

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definition der Rituale als etwas möglicherweise Wichtigem geht oft mit einer leichten Spannungsreduktion und einer Verminderung des Symptomdrucks einher: Aus einer unbezwingbaren Symptomatik wird etwas, das man – zumindest vorläufig – nicht unterdrücken sollte. Auf der Basis einer tragfähigen Beziehung und einer geglückten Umdefinition des Symptoms kann dazu übergegangen werden, mit Ritualen zu arbeiten. Rituale Da die Zwangsstörung meist selbst Rituale beinhaltet, bietet es sich manchmal an, diese ebenfalls mit Ritualen anzugehen. Therapeutische Rituale stellen ohnehin ein wichtiges Instrument systemischer Therapie dar (Imber-Black et al. 1998). Einige dieser Möglichkeiten sind bei Nardone (1997) oder bei Koch (1999) beschrieben, sie sind natürlich als Interventionen im Rahmen einer durch viele andere Aspekte gekennzeichneten Therapie zu sehen, ein Ritual allein löst die Störung nicht auf. Es sollte dabei auch beachtet werden, dass ein Ritual der Struktur »Mehr desselben« nicht für alle Patienten passt, denn manche Patienten versuchen, auf ähnliche Weise mit dem Zwang umzugehen, ohne ihn frontal zu bekämpfen. – Eine Strategie besteht darin, das Zwangssymptom sozusagen gegen sich selbst einzusetzen. Wann immer es auftaucht, solle es um eine deutlich höhere Zahl von Malen wiederholt werden als sonst: »Wiederholen Sie ihr Ritual zehn Mal, genau zehn Mal, nicht mehr und nicht weniger! Gehen Sie fünfmal zurück, wenn Sie die Straße überqueren wollen, nicht wie sonst nur zwei- bis dreimal! Also: Immer wenn Sie das Gefühl haben, diese Dinge, die Sie nicht lassen können, tun zu müssen, sträuben Sie sich nicht, sondern wiederholen Sie das Ritual bewusst exakt zehn Mal.« Nardone schlägt vor, diese Aufgabe eindringlich und suggestiv zu geben, um eine besondere Aufmerksamkeitshaltung zu erzeugen: »Ich gebe Ihnen jetzt eine Aufgabe, die vielleicht ein bisschen sonderbar erscheint, ich werde Sie Ihnen aber bei unserer nächsten Sitzung erklären!« (1997, S. 88) – die Gratwanderung, dass Klienten sich durch ein solches Vorgehen gedemütigt fühlen könnten, sollte unseres Erachtens sehr sensibel gehandhabt werden. In einem weiteren Schritt, bei Abklingen der Symptomatik, kann im Sinne einer paradoxen Logik ein Rückfall vorausgesagt und die Zahl der Wiederholungen noch gesteigert werden.

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– Ein anderes Ritual bezieht sich auf zwanghafte Gedanken: »Setzen Sie sich jeden Tag für zehn Minuten (nicht mehr und nicht weniger) hin, stellen Sie sich eine Uhr, denken Sie intensiv an Ihre Ängste, gehen Sie nach zehn Minuten ins Badezimmer, waschen sich das Gesicht und gehen Ihrer Alltagstätigkeit wieder nach!« Mit diesem Ritual setzen sich Patienten den angstbesetzten Inhalten aus und können sich so daran gewöhnen (siehe auch Salkovskis u. Kirk 1996). – Das folgende Ritual zielt auf eine Veränderung der Wirkung des symptomatischen Verhaltens auf die Umgebung und verhilft, Ideen für eine Musterveränderung zu gewinnen: »Weisen Sie in den nächsten zehn Tagen (nicht mehr und nicht weniger) jede Hilfe in Bezug auf ihr Problem zurück, beobachten Sie, was dies auslöst und notieren Sie dies in Ihrem Tagebuch!« Arbeit mit der Musterunterbrechung Die Methode der Musterunterbrechung, auch Unterlassungsintervention, steuert explizit eine Phase von Instabilität und Fluktuation im System an. Es soll Kreativität freigesetzt werden, die zur Entwicklung von etwas Neuem erforderlich ist. Vor der Ungewissheit dieser Phase schrecken oft Klienten, aber auch Therapeuten zurück. Daher kann sie bei Zwangspatienten oft erst nach einer Phase der Entwicklung einer stabilen Beziehung eingeleitet werden. Sie wird meist mit der Ankündigung von Irritation und Veränderungen vorgestellt, die keiner, auch die Therapeuten nicht, voraussehen könne. Erst, wenn der Leidensdruck so groß ist, dass alle Beteiligten, vor allem der Patient, einverstanden sind, kann die Intervention umgesetzt werden. Sie besteht darin, dass die Aufgabe gegeben wird, bestimmte Handlungen zu unterlassen, die bislang tragend für das bisherige Kommunikationsmuster waren – also zum Beispiel nicht mehr über Zwangsgedanken zu sprechen. Lenz et al. (2000) berichten von einem Paar, bei dem der Mann unter der Zwangsvorstellung litt, seine Partnerin zu töten. Täglich und nächtlich quälten ihn diese Gedanken und Fantasien, seit fünf Jahren besuchte er eine Therapie, beide sprachen ständig darüber, der gesamte Tagesablauf war auf die Gedanken eingerichtet, alle spitzen Gegenstände aus dem Haushalt entfernt, bei gemeinsamen Wegen ging die Frau stets auf der der Straße abgewandten Seite, sodass ihr Mann sie nicht unter ein Auto stoßen konnte. Die Symptomatik war fester Bestandteil des Lebens geworden, sehr viel Zeit, Energie und Aufmerksamkeit wurden auf Gespräche darüber verwendet. In einer (gekürzten) Schlussintervention wurde Folgendes vorgeschlagen: »Wir sind bereit, Sie darin zu unterstützen, dass sich Ihr Wunsch, ohne die Zwangsvorstellungen zu leben, erfüllen

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Zwänge – Neue Rituale für alte Kontrollkämpfe

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wird. Wir möchten Sie aber warnen: Wir können die Zwangsvorstellungen nicht aus Ihrem Leben und Ihrer Beziehung entfernen, ohne dass sich Ihr Leben insgesamt ändern wird. Sie müssen mit großen Veränderungen […] rechnen. Keiner, auch wir nicht, kann […] voraussagen, wie diese Veränderungen aussehen werden. Es ist sogar möglich, dass Sie sich nach erfolgreicher Therapie trennen […] Wollen Sie dennoch diese Therapie? Überlegen Sie es sich gut!« (Beide antworten spontan mit einem entschlossenen Ja.) »Gut, wir geben Ihnen dann eine Verhaltensaufgabe bis zum nächsten Gespräch in vier Wochen. Es wird sehr, sehr schwer für Sie sein, sich daran zu halten und der Erfolg der Therapie wird von Ihrer […] Mitarbeit abhängen. Dazu brauchen Sie eine hohe Motivation, ohne die es nicht gehen wird. Wir sind noch nicht überzeugt, dass Sie die notwendige Motivation mitbringen, aber das wird sich zeigen. Die Aufgabe wird Ihr Leben umkrempeln und deshalb wird sie so schwer zu erfüllen sein.« Bis zur nächsten Sitzung in vier Wochen wird dann verschrieben, dass beide in ihren Gesprächen und Handlungen alles unterlassen, was im weitesten Sinne mit der Symptomatik zu tun hat: keine Diskussion mehr, keine Absprachen. Der Mann solle sich verhalten, als ob es das Problem nicht gäbe, egal was in ihm vorgehe. Das Paar wird verabschiedet mit der Aufforderung, sich in den nächsten Tagen zu entscheiden, ob sie sich daran halten wollten oder nicht. Am nächsten Tag riefen sie an, um mitzuteilen, dass sie sich entschieden hätten, die Aufgabe umzusetzen. Im anschließenden Therapieverlauf spielte nach relativ kurzer Zeit die Symptomatik keine Rolle mehr, es ergaben sich jedoch erhebliche Turbulenzen in der Beziehung der beiden Partner, die bisher festen Rollen drehten sich um, der Prozess mündete in einen Zustand, der als normale Beziehungskrise beschrieben werden konnte. Diese endete schließlich mit einer einvernehmlichen Trennung.

Gewaltfreier Widerstand – ein Modell zur Wiederherstellung der elterlichen Präsenz bei zwangsgestörten Kindern Anfangs war von Fällen berichtet worden, bei denen kindliche Zwangsstörungen die ganze Familie in den Bann ziehen konnten. Hier schlägt Omer (2003) ein Beratungsmodell vor, das sich nur an die Eltern wendet. Grundlage ist die Unterstützung der Eltern in einer doppelten Strategie, indem sich die Eltern explizit gegen die Zwangsstörung wenden, jedoch gleichzeitig dem Kind viele positive Beziehungssignale senden. Auf diese Weise soll erreicht werden, dass eine Falle vermieden wird, in der die Eltern sich sehen, sich nämlich entweder dem Zwang gegenüber komplementär zu verhalten, also aufzugeben, oder symmetrisch immer mehr zu eskalieren – und am Schluss doch als Verlierer dazustehen. Eine große Rolle in diesem Zusammenhang spielen elterliche Schuldgefühle, sie führen zu einem Verlust an »elterlicher Präsenz« (Omer u. von Schlippe 2002, 2004): Das Kind wirft den Eltern vor, von ihnen diskriminiert und schlecht behandelt worden zu sein: Sie hätten die anderen Kinder vorgezogen, sich nur um ihre Karriere gekümmert und seien dem Kind daher Entschädigung und Wiedergutmachung schuldig. Die

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Abrechnung mit den Eltern geht weit zurück, manchmal bis zu der Zeit der Geburt oder sogar darüber hinaus. Die Forderung nach einem totalen Ausgleich der vermeintlichen Schäden führt dazu, dass die Wirklichkeit dem Kind stets mangelhaft und enttäuschend vorkommt. Ironischerweise führt jeglicher Versuch der Eltern, das Kind zu überreden oder zu entschädigen, nur zu einer eskalierenden Verwicklung. Je mehr die Eltern sich anstrengen, dem Kind entgegenzukommen, desto stärker wird die Überzeugung des Kindes, dass seine Klagen der Wahrheit entsprechen. Ein Kind war sogar der Meinung, dass, wenn die Eltern sich so sehr anstrengten, ihm gegenüber ihre Versäumnisse zu büßen, ihre wirkliche Schuld noch größer sei, als es ursprünglich gemeint hatte. Der Verlust der elterlichen Präsenz zeigt sich in solchen Fällen dann darin, dass die Eltern aus schlechtem Gewissen heraus nachgeben und überzeugt sind, dass ihr Kind es nicht ertragen könnte, wenn sie sich weigerten, bei seinen Ritualen mitzumachen. Sie fürchten, dass eine Weigerung zu einem Ausbruch extremer Angst oder sogar einem Suizidversuch führen könnte.10 In einem ausführlichen Beratungsprozess werden die Eltern in die Methode des gewaltlosen Widerstandes eingeführt. Dieser beinhaltet als eine zentrale Methode das Sit-in. Die Eltern setzen sich in das Zimmer des Kindes und bekunden ihren Entschluss, sich nicht mehr von den Zwangsstörungen beeinträchtigen zu lassen. Es ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, deutlich zu machen, dass es nicht im Interesse der Eltern liegt, das Kind zu besiegen, dass sie aber als Eltern sich verpflichtet sähen, sich dem Zwang nicht mehr zu unterwerfen. Meist ist es hier wichtig, den zu erwartenden emotionalen Sturm, mit dem das Kind erreichen will, dass die Eltern von ihrem Vorhaben ablassen (lautes Schreien, Tobsuchtsanfälle o. Ä.), mit den Eltern gut vorher durchzusprechen. Sie dürfen sich nicht in die Eskalation hineinziehen lassen (also sich im Falle eines kindlichen Angriffs nur verteidigen, nicht aber ihrerseits aggressiv werden). Im Allgemeinen sollte ein Sit-in durch soziale Unterstützung (Familienmitglieder, andere Verwandte, Paten, Freunde) abgesichert werden, die helfen, dass jegliche Eskalation seitens der Eltern unterbleibt. Diese Phase ist die wichtigste im Therapieprozess, sie kann 10 Diese Befürchtung bewahrheitete sich in der jahrelangen Praxis der Autoren nicht.

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sehr intensiv sein und Rufbereitschaft von Hilfstherapeuten (Studenten) erfordern, dauert aber in der Regel nur kurz (zwei bis drei Wochen). Parallel dazu werden dem Kind Versöhnungsangebote (Gesten der Wertschätzung) im Sinne einer liebevollen Beziehungsdefinition gemacht – gerade hier ist es wichtig, diese nicht als Bestechungsversuch zu werten oder als solchen werten zu lassen. Wie Omer (2003) berichtet, führen all diese Maßnahmen nicht unbedingt zu einer Reduktion des zwanghaften Verhaltens, wohl aber zu einer deutlichen Verbesserung des familiären Klimas. Auch für den Verhaltenstherapeuten Hand (2002) ist in vielen Fällen von Zwangsstörungen, vor allem im Kindes- und Jugendalter oder in Familien mit erwachsenem Kind, die Gesamtfamilie als Patient zu sehen. Die Einbeziehung des symptomatischen Kindes in eine oft dramatisch schlechte elterliche Beziehung kann durch eine Beratung, die auf eine Differenzierung von elterlichen und ehelichen Funktionen abzielt, abgemildert werden. Er verweist daneben auf die Bedeutung der Einbeziehung der Geschwisterrivalität in die Hypothesenbildung und in eine familienorientierte Behandlung. Geschwister halten die Familienbeziehungen oft für zerstört, sind sehr frustriert über die Familiensituation und bräuchten eigentlich selbst »Geschwister-Unterstützungsgruppen«. Er schlägt auch vor, bei ersten konstruktiven Anzeichen angenehme familiäre Interaktionen wieder aufzunehmen, die durch das Auftreten von Zwangssymptomatiken beendet worden waren.

2.5 Posttraumatische Belastungsstörungen – Sicherheit gemeinsam wieder herstellen11 Über die posttraumatische Belastungsstörung ist in den letzten zehn Jahren ausgesprochen viel, interdisziplinär und schulenübergreifend publiziert worden (vgl. z. B. van der Veer 1992; Fischer u. Riedesser 1998; van der Kolk et al. 2000; Maercker 2003; Oestereich 2005). In diesem Rahmen soll neben einer knappen Vorstellung des Störungsbildes vor 11 Wir bedanken uns bei Frau Dr. Barbara Bräutigam, Stralsund, und Frau Dr. Cornelia Oestereich, Wunstorf, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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allem auf einen systemisch geprägten und ressourcenorientierten therapeutischen Zugang zu Menschen, die unter den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, eingegangen werden. Insbesondere werden wir uns auf die therapeutische Behandlung von Menschen konzentrieren, die schwerer Gewalterfahrung ausgesetzt waren. Dabei muss angemerkt werden, dass natürlich auch Menschen nach weniger dramatischen Ereignissen eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln können. »Die Arbeit mit Menschen, die traumatisiert worden sind, konfrontiert Therapeuten ebenso wie Patienten mit intensiven emotionalen Erfahrungen […] Solche Erfahrungen haben das Potenzial, Therapeuten früher oder später zu überwältigen. Die wiederholte Konfrontation mit ihrer eigenen Verletzlichkeit wird zu intensiv, das Offenbarwerden der unbegrenzten menschlichen Möglichkeiten für Grausamkeiten zu unerträglich und die Reinszenierung des Traumas innerhalb der therapeutischen Beziehung zu bedrohlich« (Turner et al. 2000, S. 388). Nur wenige Problemstellungen, mit denen man als Therapeutin oder Therapeut konfrontiert ist, laden so stark dazu ein, in eine Problemtrance zu geraten, wie die Arbeit mit schwer traumatisierten Menschen. Ein ressourcen- und lösungsorientierter Blick kann neben der notwendigen Würdigung des zugefügten Schmerzes schnell verloren gehen, wenn man sich in dem Schrecklichen der geschilderten Erlebnisse und Geschichten verliert – denn diese Geschichten werden ja nicht nur erzählt, sondern von den Betroffenen vor allem atmosphärisch vermittelt und verkörpert. Menschen, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, erleben Emotionen oftmals nur in Form körperlich unangenehmer Zustände, die sie kaum verbalisieren können, da die Speicherung traumatischer Erfahrungen primär in Form von sensorischen Fragmenten erfolgt; die Erinnerungen an das traumatische Ereignis führen unter anderem zu starkem Stresserleben mit primär vegetativen Begleiterscheinungen, wie zum Beispiel Erhöhung der Herzfrequenz und des Blutdrucks (vgl. van der Kolk 2000; Hüther 2001). Umso wichtiger ist es, sich von der Schwere der Ereignisse nicht zu sehr gefangen nehmen zu lassen und sich innerlich bewusst zu bleiben, dass Menschen im Allgemeinen über ein breites Potenzial an Fähigkeiten zur Überwindung von Traumata verfügen, sonst hätte die Menschheit wohl nicht überlebt: »Der Mensch ist von seiner im Verlauf der Evoluti-

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on ausgebildeten Psychobiologie her ein ›Traumaüberwinder‹ […] Böses kann innerlich ›zurückgelassen‹ und Gutes kann in den Vordergrund gestellt werden« (Petzold et al. 2001, S. 340f.; vgl. auch Oestereich 2005). Und genau darum geht es in der Therapie: mit den Klienten gemeinsam daran zu arbeiten, dass das Trauma nicht das ganze Leben überschattet, sondern dass es als ein Bestandteil der persönlichen Erfahrungen einen inneren Ort bekommt, ohne das Leben zu vergiften. Dies vorausgeschickt, möchten wir nun einen Blick auf die Arbeit mit denjenigen Menschen werfen, die nach meist schwerwiegenden äußeren Ereignissen eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt und erlebt haben, wie sich früher bestehende Einschätzungen über sich selbst und über die Welt schlagartig und dauerhaft verändert haben. Unter nicht allzu schlechten äußeren und inneren Bedingungen entwickeln Menschen im Verlauf ihrer Sozialisation ein Bewusstsein der eigenen Integrität, der Kohärenz der Geschichte des eigenen Lebens und der Verbundenheit mit anderen Menschen im Kontext einer verstehbaren, bedeutungsvollen und kontrollierbaren Welt, dies wird als Kohärenzgefühl (Antonovsky 1997) bezeichnet und stellt eine wesentliche Randbedingung für psychische Gesundheit dar. Ein schwer traumatisierter Mensch verliert demgegenüber die internale Repräsentation einer »sicheren Basis« (Woodcock 2000) und kann – sich selbst als verletzt und künftig verletzbar und damit – als beschädigt und wertlos wahrnehmen und dementsprechend auch – die Welt als feindlich und unkontrollierbar ansehen.

iStörungsbilderi Die posttraumatische Belastungsstörung ist eines der wenigen in der ICD-10 und im DSM-IV beschriebenen Störungsbilder, das ätiologische Kriterien mit einbezieht. Das heißt, das traumatische Ereignis wird als Ursache für die auftretenden Symptome angesehen; dennoch bleibt als entscheidendes Element, das ein äußeren Geschehnis zu einem traumatischen werden lässt, die individuelle Bewertung derjenigen, die ein solches Ereignis trifft (vgl. Fischer u. Riedesser 1998). Zum einen muss zwischen einmaligen und chronischen Traumatisierungen, zum anderen

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zwischen den sogenannten »man-made desasters« und den nicht menschlich bedingten traumatisierenden Ereignissen wie zum Beispiel Naturkatastrophen unterschieden werden. Was jeweils überhaupt als Trauma oder Traumatisierung bezeichnet oder anerkannt wird, ist stark vom gesellschaftspolitischen Kontext abhängig, dieser wiederum ist eng mit den jeweiligen psychiatrischen Diagnosegepflogenheiten verbunden (z. B. Farrell 1998). Nach dem Ersten Weltkrieg etwa galten die sogenannten »Kriegszitterer« (heimgekommene Soldaten mit klinisch relevanter Traumatisierung) als moralische Invaliden, konstitutionell Minderwertige, Feiglinge, Simulanten, ähnlich war es auch noch im Zweiten Weltkrieg (zu einem historischen Überblick S. Sachsse et al. 1997). Der psychiatrisch-psychotherapeutische Umgang mit den Opfern des Holocausts (Stoffels 1991) brachte die Bedeutung von Extremtraumatisierung in die Aufmerksamkeit der Fachwelt und es wurden erste Therapiekonzepte entwickelt (z. B. Grubrich-Simitis 1979; Danieli 1994). Die Aufarbeitung des Vietnamkrieges in den USA (Shay 1997) zeigte zunehmend die Bedeutung von Kampftraumata für die betroffenen Soldaten12. Oestereich (2005, S. 48f.) sieht sogar hier den Hintergrund für die Einführung der Diagnose in die Inventare, denn erst ziemlich spät, 1980, erfolgte die Aufnahme in das DSM-II, erst in den 1990er Jahren in die ICD. Zudem führte eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die seelischen Auswirkungen von Misshandlung, sexuellem Missbrauch und anderen Gewaltakten dazu, die klinischen Bilder, die in ihren Facetten schon seit langem bekannt sind, mit der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung zu belegen (PTBS, im englischen Sprachraum als PTSD – »post traumatic stress disorder« – bezeichnet). Nachdem sich vor allem in Deutschland bis etwa Mitte der 1990er Jahre nur wenige Psychotherapeuten mit dieser Diagnose auskannten, gibt es seitdem beinahe einen Traumaboom. Die PTBS avanciert(e) in einigen Kontexten zur Modediagnose, es droht eine Banalisierung und Bagatellisierung dessen, was ein seelisches Trauma eigentlich ist und eine Inflation von erlebnisreaktiven Störungen, die alle als traumatogen bezeichnet werden (Stoffels 2004).

12 Erschreckend ist allein eine Zahl: Nach dem Vietnamkrieg sind doppelt so viele Veteranen durch Suizid umgekommen wie durch die Kampfhandlungen selbst (Shay 1997).

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Einen umfassenden Überblick über das Störungsbild gibt Langkafel (2000, S. 3). Tabelle 8: Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung F43.1 posttraumatische Belastungsstörung a. Die Betroffenen sind einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde. b. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (sogenannte Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen. c. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Verbindung stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis. d. Entweder 1. oder 2. 1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern. 2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit mindestens zwei der folgenden Merkmale: – Ein- und Durchschlafstörungen – Reizbarkeit oder Wutausbrüche – Konzentrationsschwierigkeiten – Erhöhte Schreckhaftigkeit e. Die Kriterien b, c und d treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende der Belastungsperiode auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden.)

Eine besondere Bedeutung haben die in der Tabelle erwähnten Flashbacks: Neutrale Reize, denen man im Alltag begegnet, können urplötzlich die Erinnerung aktivieren und die Betroffenen mit schwer kontrollierbaren Affektreaktionen konfrontieren. Das Quietschen von Autoreifen wie bei der eigenen Verhaftung, der Geruch von Alkohol und Zigaretten bei Mitfahrern in der U-Bahn vergleichbar dem Geruch der Vergewaltiger, der Anblick bärtiger Männer, die an die massakrierenden Männer einer paramilitärischen Gruppe erinnern, der erste Schnee, der

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die Bilder an die Flucht durch die Berge hochkommen lässt, sind Beispiele möglicher Auslösesituationen, doch auch plötzlich auftretende körperliche und vegetative Reaktionen sind denkbar. Unterleibsschmerzen, ja sogar Anzeichen freudiger Erregung – Herzklopfen, stärkeres Atmen – können den Betroffenen unvermutet in die traumatische Situation hineinkatapultieren. Wenn Menschen diese möglichen Situationen konsequent zu vermeiden versuchen, führt dies zu völligem Rückzug und zur emotionalen Erstarrung (Abdallah-Steinkopff 2001, S. 329f.). Erstarrung ist auch das Bild, mit dem man als Therapeut konfrontiert ist, wenn Menschen vor allem ihre Trauer einfrieren und damit auch jegliche emotionale Bewegung, Bewegtheit und intime Begegnungen oder Beziehungen vermeiden – als Schutz vor unerträglichen Gefühlen. Diese Erstarrung und Selbstanästhesierung (»emotional numbing«) geht häufig mit sozialer Isolation und einem Gefühl innerer Leere einher. Besonders schwer betroffen sind oftmals Personen, die sequenzielle Traumatisierungen (vgl. Keilson 1979) durchlebt haben, also mehrfache, aufeinanderfolgende schreckliche Erfahrungen, wie beispielsweise manchmal Kinder von Flüchtlingen (Korritko 2002; Bräutigam 2000) oder über Jahre hinweg massiv sexuell missbrauchte, körperlich misshandelte oder schwer deprivierte Kinder. Die Aufrechterhaltung eines Kohärenzgefühls, wie sie Antonovsky (1997) als Konstituente psychischer Gesundheit beschreibt, vollzieht sich aus systemisch-selbstorganisationstheoretischer Sicht in der kontinuierlichen Reproduktion einer kohärenten Lebenserzählung, die »immer wieder neu erfunden und neu erzählt« wird (Oestereich 2005, S. 50). Es ist leicht nachvollziehbar, dass eine traumatische Erfahrung diesen Prozess nachhaltig stört und als ausschließlichen »Plot […] [der] traumadeterminierten Lebenserzählung« (S. 63) die Erfahrung nahe legt, Opfer geworden zu sein. Nach diesen Ausführungen ist leicht einsehbar, dass auch bei diesem Störungsbild ein behutsamer Aufbau der therapeutischen Beziehung und die Vermeidung jeglichen therapeutisch induzierten Stresses (vgl. Reddemann 2001) vordringliche Aufgabe zu Beginn der Therapie ist. Die klassischen Anforderungen an eine verantwortungsbewusste psychotherapeutische Arbeit, insbesondere was den Aufbau einer wertschätzenden und stabilen therapeutischen Beziehung betrifft (Langkafel 2000), sind selbstverständlich auch bei einem systemischen Vorgehen zu bedenken, denn – das soll an dieser Stelle klar gesagt werden – es gibt

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keine spezifisch systemischen Methoden zur Arbeit mit traumatisierten Menschen. Vielmehr lassen sich viele der in diesem Kontext entwickelten Methoden unter einer systemischen Perspektive gut in Kombination einsetzen. Gerade in der Traumaarbeit hat sich eine rigide Schulenorientierung schnell als unbrauchbar erwiesen, wie Gespräche mit Praktikern aus entsprechenden Einrichtungen zeigen. Eine systemische Sichtweise hat auch bei der Behandlung der PTBS den Vorteil, standardmäßig den Kontext mit einzubeziehen und flexibel mit dem Setting umzugehen: Traumatisierende Erfahrungen geschehen immer in systemischen Zusammenhängen, sind fast immer auf Mehrpersonenkonstellationen bezogen, wenn nicht sogar, wie im Fall politischer Verfolgung, vielfach auch gesellschaftliche Systemebenen beachtet werden müssen. Dies gilt sowohl für die Anamnese als auch für die persönliche Integration der traumatischen Erlebnisse und die Wiederintegration in die soziale Welt. Außerdem erlaubt eine systemische Vorgehensweise per se einen flexiblen Umgang mit dem Setting: So können Dolmetscher und andere Kulturvermittler, die in diesem Kontext häufig benötigt werden, direkt und als Personen in den therapeutischen Prozess mit einbezogen werden (vgl. z. B. Oestereich 1998, 2005). Wie sinnvoll es ist, für Menschen, die unter unterschiedlichsten Umständen dramatische Erfahrungen machen mussten, die Kategorie einer Erkrankung zu wählen, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Eine Gefahr besteht darin, die sozialen und politischen Dimensionen der Umstände zu verschleiern, insbesondere bei politischer Verfolgung (vgl. z. B. Baro 1989; Becker 1997). Eine systemtherapeutische Perspektive darf nicht bei einem Störungsbild (oder gar einer Erkrankung) stehen bleiben. Wie Shay (1997) beschreibt, verführt das Denken in Kategorien gerade bei dieser Klientel zu einer unangemessenen Distanzierung: »[…] unser Bildungssystem [bringt] Berater, Psychiater, Psychologen und Therapeuten hervor, deren ganzes Erleben sich darauf beschränkt, gebildet zu bemerken: ›Das ist ein Kubist! … Das ist ein El Greco!‹, die aber niemals das sehen, worauf sie ihren Blick richten. ›Hören Sie einfach zu‹, sagen die Veteranen, wenn sie Experten für geistige Gesundheit mitteilen wollen, was diese wissen müssen, um mit ihnen arbeiten zu können« (S. 35). Ein traumatisches Erlebnis sollte zudem nicht nur individuell und intrapsychisch im internalen Raum des Selbst des Individuums kon-

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zeptualisiert werden. Die Frage, welcher Art die Geschichten (Narrative) sind, die in den sozialen Bezugssystemen des Betroffenen erzählt werden, haben entscheidenden Einfluss darauf, wie ein traumatisches Erlebnis verarbeitet und vor allem, wie es gestaltet wird. »Es müssen gleichzeitig die sozialen, politischen und kulturellen Realitäten der Erfahrungen berücksichtigt werden, und zwar durch Einbeziehung von Faktoren wie zum Beispiel die subjektive Bedeutung von Gewalt und Trauma, die Art und Weise, wie Stress im Zusammenhang mit Gewalt erlebt und berichtet wird, sowie die Art und das Ausmaß der sozialen Unterstützung für das Individuum« (Bittenbinder 2000, S. 38). Drei kurze Beispiele sollen dies verdeutlichen (aus von Schlippe et al. 2003): Eine vergewaltigte muslimische Frau aus dem Kosovo wirkt stark depressiv, sie sagt, dass sie es vorziehe, Suizid zu begehen, ehe sie ihrer Familie zumutet, eine geschändete Frau in ihren Reihen zu haben. Eine andere, ebenfalls vergewaltigte bosnische Frau leidet unter starken Schlafstörungen, schläft manchmal nur eine Stunde in der Nacht; im Gespräch wird deutlich, dass sie befürchtet, in den immer wiederkehrenden Albträumen nachts zu sprechen, sodass ihr Mann und die Familie davon erfahren könnten, was ihr widerfahren ist. Ein algerisches Paar (beide Ende 50) kommt wegen Schlafstörungen und Ängsten der Frau zur Paarberatung, weil diese Symptome die Partnerschaft zunehmend belasteten. Die Frau berichtet, dass diese Symptome aufträten, seit sie einen Vortrag über sexuellen Missbrauch gehört hatte. Der Therapeut erinnert sich, dass in den Jahren der Befreiungskriege viele algerische Frauen durch französische Soldaten vergewaltigt wurden. Die Frage danach löst eine heftige Reaktion aus: Ja, sie sei 14-mal vergewaltigt worden – und in Algerien sei das zwar schrecklich, aber auch »nicht so schlimm« gewesen, da sie wusste, dass sie sich unter einer großen Zahl von Frauen befand, die Ähnliches durchgemacht hatten. Erst hier in Deutschland fühle sie sich allein, die Einzige zu sein, die solch ein Schicksal erlitten habe. Dies war ihr durch den Vortrag und durch die Reaktion der Zuhörerinnen deutlich vor Augen geführt worden.

Wer ist bei diesen Geschichten eigentlich als krank, wer als gesund zu bezeichnen und was bedeuten diese Kategorien in solchen systemischen Zusammenhängen noch? Gerade das letzte Beispiel zeigt: Eine Lösung kann dann zum Problem werden, wenn sie in einem Kontext geschieht, in dem sie keine Lösung mehr ist. Die Diagnose PTBS individualisiert dieses komplexe Geschehen – und auch wenn sie wichtig ist, um beispielsweise den Anspruch auf medizinische oder psychotherapeutische Behandlung zu gewährleisten, so soll dieser Vorgang doch an dieser Stelle zumindest einmal problematisiert werden. Möglicherweise bieten die im Abschnitt über das Konzept der Familienresilienz dargestellten Be-

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handlungskonzepte (»multi-family groups«) hier einen Zugang, der die systemischen Aspekte angemessener rekonstruiert.

iBeziehungsmusteri Opfergeschichten und Problemhypnose Die amerikanische Hypnotherapeutin Ritterman (1987) beschreibt, wie im Prozess der Traumatisierung bei der betroffenen Person und ihrem Umfeld ein tranceähnlicher Zustand erzeugt wird, der das Bewusstsein für die eigene Person, den eigenen Wert und die eigenen Handlungsmöglichkeiten reduziert und unter einen lähmenden Zauber legt (»immobilizing spell«). Therapie verfolgt hier das Ziel, die destruktive Trance, in die die Person und mit ihr oft gemeinsam die Familie gefallen ist, aufzulösen und zu helfen, die Würde des Betroffenen wiederherzustellen. Natürlich ist es wichtig, die Realität erlebter Grausamkeiten anzuerkennen und zu bestätigen, dass diese ihre Spuren hinterlassen hat. Ebenso wichtig ist es jedoch auch, nicht dabei stehen zu bleiben, weil dies eine Problemhypnose unterstützt – und gerade bei heftigen Gewalttaten ist die Einladung stark, in eine solche hineinzugehen. Aus systemischer Sicht wird es als weniger wichtig angesehen, zu fragen, was das Problem ist, als vielmehr, wer es wie definiert und welche sozialen Prozesse zu etwas führen, was dann als Problem benannt wird. Probleme spiegeln sich nicht nur in sozialen Beziehungen wieder, sondern soziale Beziehungen werden durch Problembeschreibungen auch gestaltet. Im Kontext der Arbeit mit traumatisierten Menschen wird häufig die Vergangenheit als Schicksal, die extreme Traumatisierung als Erklärung, als nicht mehr veränderbarer Einfluss auf das weitere Leben angesehen, ein Vorgang, den Levold (1994) als »Betonierung der Opferrolle« beschreibt. Andererseits sind aber auch chronisch neurobiologische Veränderungen bei diesen Opfern nachweisbar, die auf nachhaltige und dauerhafte organische Veränderungen – beispielsweise die Verkleinerung des Hippocampus – verweisen (vgl. Hüther 2001, 2004; van der Kolk et al. 1996; van der Kolk 2000). Zudem kann eine zeitweise Anerkennung der Opferidentität des Klienten durch den Therapeuten auch ein Weg zu einem wieder beginnenden Vertrauensaufbau in eine potenziell mitfühlende Umwelt darstellen.

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Was wären alternative Beschreibungen? Die Geschichte »Ich bin Opfer!« bedeutet einen bestimmten inneren Suchprozess, der darin besteht, dass immer wieder auf das Trauma zurückgegriffen wird. Allein das Wiedererinnern und das Erzählen des traumatischen Erlebnisses sind nicht heilsam. Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, die Suche nach einer alternativen Erzählung, ein Reframing des Traumas, sei lediglich durch eine wiederholte Aufforderung zur Wahrnehmungsveränderung zu erreichen. Im Gegenteil, es kann außerordentlich langwierig und schwer sein, bis ein innerer Bezugspunkt gefunden ist, von dem aus der Betreffende sich auf seine Kraft als Überlebender beziehen kann, statt auf die erlebten Torturen. Nicht zuletzt braucht es Zeit und – um dies immer wieder zu betonen – eine stabile therapeutische Beziehung, um die Scham zu überwinden, eine Emotion, die oft sehr hartnäckig verhindert, dass Menschen sich mit erlittenen Demütigungen auseinander setzen. Am Beispiel der stationären Behandlung eines 14-jährigen kurdischen Mädchens sollen hier kurz verschiedene Facetten der therapeutischen Beziehung beleuchtet werden. Maria kam jeweils mit sehr viel Haltung in die Stunden. Bei all ihrer Fragilität strahlte sie ein unerschütterliches Selbstvertrauen aus. Der erste Riss in dieser Haltung tauchte auf, als ihr und ihrer Familie mitgeteilt wurde, dass Marias Essstörung auf psychischen Ursachen beruhe. Dies zog die Einschätzung und Empfehlung nach sich, Marias Aufenthalt zu verlängern. In der Stunde danach kam Maria sehr blass, hohläugig, wie von physischen Schmerzen ausgehöhlt in die Therapie und begann in gekrümmter Haltung verzweifelt zu weinen. Dieses Weinen verursachte bei der Therapeutin ein Gefühl großer Hilflosigkeit und löste in der Gegenübertragung somatische Beschwerden von Magenschmerzen und Engegefühl im Hals aus. Die Patientin konnte schließlich formulieren, wie sehr sie mit dem Essen kämpfe. Sie sei innerlich so voll und es passe »einfach nichts mehr hinein«, weder Angst, Sorgen noch Nahrung. Die Angst, in die Türkei abgeschoben zu werden, sei sehr groß, denn dann »geht alles wieder von vorne los«: Ihre besondere Sorge galt dem durch eine Abholung gefährdeten Vater. Die therapeutische Aufgabe lag zunächst in der Anerkennung des psychischen Schmerzes, im Zeigen von Mitgefühl und Respekt vor den bereits ertragenen Demütigungen durch die türkische Polizei und die deutschen Ausländerbehörden. Die sehr viel schwierigere Aufgabe bestand allerdings darin, als Therapeutin bei den Gefühlen von Überwältigung, Ohnmacht, Hilflosigkeit handlungsfähig zu bleiben. Die weiteren Stunden konzentrierten sich primär auf die Suche nach unbeschwerteren Erinnerungen und auf die Etablierung eines sicheren Ortes in der Fantasie; Maria wählte für sich eine weite Landschaft, in der sie alles überblicken konnte. Weiterhin spielten die Auseinandersetzung mit Marias Schuldgefühlen in der therapeutischen Beziehung eine wichtige Rolle – so berichtete sie, dass es, insbesondere wenn es ihr tagsüber eigentlich gut gegangen sei, sie mit den Mitpatienten viel gelacht habe, in ihr eine Stimme gebe, die sie abends vor dem Einschlafen angesichts der familiären Sorgen eindringlich zur Rechenschaft ziehe. In der Gegenübertragung fühlte sich die Therapeutin Maria gegenüber oftmals schuldig als Repräsentantin

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eines unfreundlichen Gastgeberlandes und als unzulängliche Therapeutin, die den Schmerz nicht auflösen konnte. Nachdem Maria ihre Schuldgefühle in der Therapie einige Male verbalisiert hatte, gelang es ihr deutlich besser, sich auch unbeschwerte Momente mit den Mitpatienten zuzugestehen (aus Bräutigam 2002, S. 16).

Die Familie als Quelle von Unterstützung: Family Resilience Eine große Anzahl von Menschen antwortet auf Katastrophen, Krisen und Unglücksereignisse mit minimalen oder keinen Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsreaktion – manche treten sogar gestärkt und kraftvoller als zuvor aus solchen Ereignissen hervor. Offenbar ist die Widerstandsfähigkeit einer Person (»Resilienz«) und vor allem die Qualität von Unterstützung, die eine Person in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld erfährt (»family resilience«), hier entscheidend (Walsh 1998, 2002). Gleichzeitig sind Familien auch immer gemeinsam betroffen, was der Begriff der Unterstützung nicht erfassen kann – besser passt es vielleicht, vom Immunsystem der Familie zu sprechen (Ochs u. Orban 2002). Auch unter schwierigen Entwicklungsbedingungen kann so eine einigermaßen ungestörte Entwicklung ablaufen, ja die Stressresistenz im späteren Lebensalter kann durch das Überstehen belastender Erfahrungen sogar gesteigert werden (Bender u. Lösel 2000). Das ermöglicht es, den Blick von Defiziten und Pathologien auf die Qualitäten und Potentiale der Familie zu richten. Solche Potentiale lassen sich in allen Familien finden (auch in sogenannten Multiproblemfamilien oder traumatisierten Familien). Schlüsselprozesse, die Familienresilienz begünstigen und anregen, sind nach Walsh (1998): 1. Familiäre Glaubenssysteme – im Leiden einen Sinn finden – positive Ausblicke – Transzendenz und Spiritualität 2. Organisationsmuster – Flexibilität – Verbundenheit – soziale und wirtschaftliche Ressourcen 3. Kommunikationsprozesse – Klarheit – offener Gefühlsausdruck – gemeinschaftliche Problemlösung

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Der Family-Resilience-Ansatz versucht nicht primär, Traumatisierte psychiatrisch zu behandeln. Vielmehr konzentriert er sich auf das tiefe Bedürfnis von Menschen nach Verbundenheit zu ihrer Gemeinschaft und ihren kulturellen Wurzeln. So wurden etwa für traumatisierte bosnische und albanische Flüchtlinge, die vor dem serbischen Genozid im Kosovo geflüchtet waren, »multi-family groups« eingerichtet (Weine 1999; Rolland u. Weine 2000; Walsh 2002). Diese Gruppen bieten ein anteilnehmendes Setting an, in dem Familien ermutigt werden, ihre Leidens- und Überlebensgeschichten miteinander zu teilen. Gleichzeitig werden familiäre Ressourcen herausgestellt und gestärkt – wie zum Beispiel familiärer Mut, familiäres Durchhaltevermögen, familiäres Vertrauen, kraftvolle verwandtschaftliche Netzwerke und das Interesse an den Menschen, die sie lieben. So werden die Familien ermutigt, es als ihre Bestimmung zu erleben, die Tragödien zu bewältigen und ein neues Leben zu gestalten. In dem Projekt konnte deutlich werden, in welchem Maß gerade die kosovarischen Familien sich durch hohe Kohäsion und adaptive Rollenflexibilität auszeichnen: Jeder, ob lebend oder tot, in der Heimat oder im Ausland, gehört zur Familie und zum familiären Heimatland, jeder zählt und mit jedem wird gerechnet. So wird die Fähigkeit, die sozialen Rollen abwesender (z. B. ermordeter, verschleppter, geflüchteter) Familienmitglieder einzunehmen – trotz unermesslicher Trauer um diese – zu einem immensen Schatz dieser Familien (Becker et al. 2000). Oft ist es in der systemischen Therapie mit traumatisierten Menschen notwendig, die systemische Neutralität aufzugeben und Stellung zu beziehen, um eine Vertrauensbasis zu schaffen (Bittenbinder 2000). Andererseits kann, neben allem Respekt für die Verwurzelung etwa von Flüchtlingen und Migranten in ihre Kultur und Gemeinschaft, auch eine gewisse Respektlosigkeit (Cecchin et al. 1993) dieser Verwurzelung gegenüber hilfreich sein; nämlich dann, wenn sie im Lauf der Zeit einer Veränderung und Weiterentwicklung im Wege steht. Denn die Verwurzelung in Kultur und Gemeinschaft bietet nicht nur Sinngebung, Halt und Schutz, vielmehr kann es hilfreich sein, bestimmte überkommene Standards der eigenen Kultur zu hinterfragen (vgl. die Beispiele vergewaltigter bosnischer Frauen). Hier können systemische Fragetechniken helfen, für ein respektvolles und achtsames Aufweichen dieser Standards zu sorgen (Bittenbinder 2000).

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Die Zeit bleibt stehen Auf einen weiteren familientherapeutischen Aspekt in der Arbeit mit Familien, die traumatische Verluste durch politische Verfolgung erlitten, weist Kohen (1998) hin. Die Autorin hat während der Militärdiktatur in Argentinien selbst unter lebensbedrohlichen Umständen therapeutisch gearbeitet. Für Familien von während des »schmutzigen Krieges« verschwundenen Mitgliedern fehlen oft Rituale, die Abschied und den Ausdruck von Gefühlen erlauben: Es gibt kein Grab, keinen Todestag – nichts. Die Zeit bleibt stehen, es entstehen Vielleicht-Konstruktionen, in denen die Familie mit der ständigen Erwartung lebt, der Verschwundene komme wieder. Starre Rituale entwickeln sich, das Zimmer wird zum Beispiel peinlichst genau so gehalten, wie es war, in manchen Familien wird sogar der Tisch regelmäßig für die Verschwundenen gedeckt. Die Aufgabe von systemischer Therapie liegt hier darin, Abschieds- und Übergangsrituale mit den Familien gemeinsam zu erarbeiten, die wieder einen emotionalen Umgang miteinander ermöglichen – und gleichzeitig für den nur schwer erträglichen Schmerz einen ritualisierten und sichernden Rahmen bieten. Familiengewalt infolge von Traumatisierung Ein weiteres Thema in Familien (und auch eines, über das nur schwer zu sprechen ist) können Gewalthandlungen sein, die vor dem Hintergrund von emotionaler Belastung, engen Wohnverhältnissen und Flashbacks vorkommen können. Nicht selten setzt sich die Gewalt wie in einer Kette von oben nach unten fort. Ein Kurde, der während eines langen Gefängnisaufenthaltes schwer gefoltert wurde, misshandelt seine Frau in Situationen, in denen er »nicht mehr weiß, was er tut«. Die Ehefrau, die sich von der Situation im Wohnheim, dem Zusammenleben auf engstem Raum total überfordert fühlt und stundenlang weint, will die Versorgung des neunmonatigen Kindes nicht mehr übernehmen, weil sie befürchtet, dass sie dem Kind etwas antun könnte. Aus Angst um das Kind bringt der Mann seine Frau zur Therapie. Zuerst wird die Sicherheit des Kindes durch das Einbeziehen von Freunden garantiert. Nach einigen Einzelstunden mit der Frau, in denen es unter anderem um Trauerarbeit geht, und zwei Paarsitzungen übernimmt der Mann die Verantwortung für die Misshandlungen und entschuldigt sich bei seiner Frau in einem Ritual. In weiteren Stunden werden mit dem Paar und beiden einzeln neue Kommunikationsformen und ein Plan für die Zukunft entwickelt. Der Gesamtprozess umfasste etwa zehn Monate (leicht gekürzt aus Bittenbinder 1992, S. 12).

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In solchen Fällen erscheint es zentral, dass der Therapeut neben dem Mitgefühl für seinen Klienten nicht die Augen vor dem aggressiven Potenzial verschließt, das gewalttraumatisierte Menschen oft in erhöhtem Maß besitzen. Es ist für die therapeutische Arbeit oft ausgesprochen schwierig, wenn die Opfer wie in dem oben beschriebenen Fall zum Täter werden. Es geht nicht nur um eine Bearbeitung der erlebten Leiden, sondern um einen verantwortungsvollen Umgang mit nur schwer zu kontrollierenden Affekten. Dabei sei erwähnt, dass ein Großteil der sexuellen Straftäter selbst sexuell missbraucht wurde und chronisch missbrauchte oder schwer misshandelte Kinder ein erhöhtes Risiko haben, ihre Erfahrungen weiterzugeben (vgl. Fischer u. Riedesser 1998, S. 267). Dies ist allerdings keine zwangsläufige Dynamik: Mehrere longitudinale Studien weisen mittlerweile daraufhin, dass Kinder sexuellen Missbrauch auch symptomfrei überstehen können und nicht ihrerseits zu Tätern werden (vgl. Krischer et al. 2005).

iEntstörungeni Trotzdem Ja zum Leben sagen Die Therapie schwerer und chronischer Traumatisierungen ist sicher keine Angelegenheit, die sich im Rahmen von Kurzzeittherapie erledigen lässt. Manchmal braucht es viel Zeit, bis ein neuer Bezugspunkt gefunden wird und das Überleben selbst als der eigentliche Sieg über die traumatischen Ereignisse wahrgenommen werden kann und es so möglich wird, aus defizitären Narrativen auszusteigen. Die Kunst der Therapie besteht darin, einen Weg zu finden, die Grausamkeiten in die eigenen Lebenserzählungen zu integrieren, ohne sie zu verharmlosen, durch die damit verbundenen Gefühle hindurchzugehen, sie sich wieder zu eigen zu machen und schließlich »trotzdem Ja zum Leben zu sagen« – um das bekannte Zitat Victor Frankls zu benutzen, mit dem dieser den Bericht über seine eigene KZ-Haft abschloss. Gleichzeitig sind therapeutische Möglichkeiten keine Allheilmittel, ein Stück Enttäuschungsarbeit ist oft unvermeidlich. Korritko (2002, S. 179) erwähnt eine Inschrift am Gabriel-Haus im Kosovo, einem Therapiezentrum für traumatisierte Kinder, ein Brecht-Zitat: »Der Regen kehrt nicht zurück nach oben. Wenn die Wunde verheilt ist, schmerzt die Narbe«.

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Besonders sorgfältig ist darauf zu achten, Retraumatisierungen im Therapieverlauf zu vermeiden. Klassische Vorstellungen von kathartischen Prozessen können hier mehr Schaden anrichten als zu Heilung führen (Shay 1997; Reddemann 2001). Eine erfolgreiche Therapie muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass das Trauma vollends durchgearbeitet wird. Nach dem Aufbau eines tragfähigen therapeutischen Arbeitsbündnisses besteht die Therapie in der Regel nicht in erster Linie aus der Traumakonfrontation, sondern primär in stabilisierenden Maßnahmen, der Etablierung eines sicheren Ortes und darin, in größerem Maß als in der systemischen Therapie sonst üblich zu prüfen, inwieweit zunächst ein alltagsbewältigendes Vorgehen (Tagesstrukturierung, Absicherung der Lebensexistenz) und Hilfen beim Aufbau und bei der Nutzung sozialer Kontakte erforderlich sind (vgl. Reddemann 2001). Nach einer solchen Phase der Stabilisierung kann eine Auseinandersetzung mit dem Trauma gesucht werden. Diese stellt unter Umständen auch starke Anforderungen an die Therapeutinnen und Therapeuten, denn es geht dabei oft um intensive Trauerprozesse, um »Begleitung durch das Herzensleid«, wie Bittenbinder schreibt (1992). In beiden Phasen ist es sinnvoll, eine große Vielfalt von therapeutischen Angeboten zu nutzen und zu kombinieren, beispielsweise psychoedukatives Vorgehen (Vermittlung von sachlicher Information über die Normalität auch extremer Bewältigungsformen solcher Erfahrungen), EMDR-Therapie (Augenbewegungen)13, Kunsttherapie (Bittenbinder 1992), Psychodrama (Dhawan 1992), Soziogramm, Rekonstruktion der Lebensgeschichte, psychopharmakologische Behandlung. Die Arbeit mit Genogrammen In der Familientherapie hat man im Zusammenhang mit Traumatisierungen oft mit Tabuisierungen zu tun, die, wenn sie sich über mehrere Generationen hinziehen und den Charakter von Familiengeheimnissen bekommen, oft sehr belastend sind, denn sie schaffen ein Klima von etwas Unheimlichem, das nur spürbar, aber nicht greifbar, nicht benennbar ist. Grenzen, Loyalitätsbindung und Machtbalancen in den Familien werden subtil beeinflusst (de Graaf 1998; Abrams 1999; Reich 13 Auf dieses Verfahren soll hier nicht näher eingegangen werden. Ausführlich ist es etwa bei Hofmann (1999) beschrieben.

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2002). Die Eltern wollen die Kinder schützen, die Ehepartner wollen sich gegenseitig schützen. Es wird viel Energie aufgebracht, um zu vergessen. Wie immer bei dem Thema Gewalt schützt Heimlichkeit auch hier den Täter (Levold et al. 1993). Die Tabuisierung arbeitet im Sinne der Täter, denn das tabuisierte Thema wirkt umso stärker in der Familie weiter. Hier braucht es besonderes Fingerspitzengefühl, um mit den Betroffenen gemeinsam sorgfältig zu prüfen, ob etwas deshalb nicht erzählt wird, weil es die Kinder nichts angeht, oder ob es aus Scham verheimlicht wird und so im Tabubereich bleibt. Insbesondere gilt dies für erlebte sexuelle Demütigungen. Dem Ehepartner etwa von einer erlebten Vergewaltigung zu erzählen, kann ein Akt der Befreiung sein – doch auch dies sollte nicht absolut gesehen werden. Es kann einen ähnlichen Effekt haben, bewusst die Entscheidung zu fällen, dieses Geheimnis nur mit der Therapeutin zu teilen. McGoldrick und Gerson (1990) halten die Auswirkungen von nicht verarbeiteten Verlusten, Tragödien und Traumen auf intergenerationale und aktuelle Familienprozesse für sehr viel massiver als andere familiäre Veränderungen und Ereignisse. Die intergenerationalen Auswirkungen von Traumata, insbesondere des Holocausts (z. B. Bar-On 1997; Stoffels 1991), aber auch von Inzesttraumata (Sheinberg u. Fraenkel 2001) sind gut dokumentiert. Deshalb ist die Achtsamkeit für intergenerationale Loyalitäten gerade in der systemischen Traumatherapie von großer Bedeutung. In der Arbeit mit Genogrammen können Muster der Selbstähnlichkeit über Generationen hinweg erkundet werden – Tragödien, traumatische Erfahrungen und Krisen, die ähnlich geartet sind. Diese zu explorieren, anzuerkennen und zu bearbeiten, hat oft eine hilfreiche Auswirkung auf den aktuellen Therapieprozess (Heinl 1994). In dieser Arbeit können auch die in der traumatischen Erfahrung verdichteten Zeitperspektiven (siehe hierzu das Kapitel über Angststörungen) wieder entzerrt und diachronisiert werden: Fragen danach, wie Großeltern und Vorfahren schwere Erfahrungen verarbeitet haben, welche Vorschläge sie heute machen würden, wenn sie noch lebten, können ähnlich hilfreich sein wie die danach, was man den eigenen Kindern oder Enkelkindern später erzählen will, wie man mit den Ereignissen umgegangen ist und welche – vielleicht sogar ganz neuen – Kräfte aus der Bearbeitung der eigenen schweren Erfahrung erwachsen sind.

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Therapeutisches Splitting Eine besondere Rolle spielt der Umgang mit Überlebensschuld in starken Loyalitätsbeziehungen: Das Bewusstsein, die eigene gute Lebenssituation, vielleicht sogar das eigene Überleben, dem Opfer einer oder mehrerer anderer Personen zu verdanken, mit dem/denen man verbunden ist – sei es über familiäre Bindung, sei es über die Zugehörigkeit zum gleichen Volk –, kann eine bedeutsame Rolle für das eigene Befinden und den Beratungsverlauf spielen. Dies wurde erstmals bei Überlebenden aus den Konzentrationslagern des Dritten Reiches berichtet (z. B. Stoffels 1991): Die eigene Depression, das eigene Unglück ist dann so etwas wie eine systemische Funktion, die die Verbindung zu den Toten oder den Leidenden zu Hause herstellt. Ein therapeutisches oder beratendes Vorgehen, das diese systemische Funktion ignoriert, indem etwa einfach nur eine Steigerung der Lebensqualität angesteuert wird, kann kontraproduktiv sein, denn das Gefühl des Verrats würde sich nur noch verstärken. Es geht darum, die Bindung zu respektieren und aus diesem Respekt heraus einen neuen Bedeutungsrahmen anzubieten (der oft ebenfalls mit Ritualen oder Ritualelementen verbunden sein kann). Überlebensschuld ist ein Thema, das einen betroffenen Menschen zutiefst berührt und bewegt. Von daher ist keine einfache Lösung angezeigt, vielmehr gilt es, die Ambivalenz, die in diesem Thema liegt, anzuerkennen und wertzuschätzen. Dies kann gelingen, wenn die Möglichkeit, verschiedene Perspektiven in der systemischen Therapie einzuführen, genutzt wird. In einer Supervisionsgruppe berichtet die Therapeutin von einer schwer traumatisierten Klientin aus dem Irak, deren Vater und Bruder getötet wurden, ein anderer Bruder ist nach Folter querschnittsgelähmt. Sie leidet unter massiven Depressionen, Suizidfantasien, Antriebsarmut und Selbstvorwürfen. Sie lebt in Deutschland zusammen mit ihrer Schwester, die sich sehr um sie sorgt. Die Therapeutin ist sehr involviert, versucht einerseits, die Klientin zu motivieren und aus ihrer Selbstquälerei zu befreien, andererseits den Einfluss der Schwester zurückzudrängen. Eine genauere Analyse zeigt, dass die beiden Schwestern ein – vor dem Hintergrund der Überlebensschuld – sehr sinnvolles Muster entwickelt haben, das durch eine Besserung des Zustands der Klientin stark bedroht wäre. Denn die Depression der Klientin ist zum einen der Tribut an die zurückgelassene Familie, zum anderen ist es auch Sinn und Lebensaufgabe für die Schwester. Nach längerer kontroverser Diskussion wird ein Kommentar entwickelt, der im Sinne eines therapeutischen Splittings14 verschiedene ambivalente Positionen in der Gruppe

14 Als Splitting wird ein Vorgehen bezeichnet, bei dem entweder eine Therapeutin die Ambivalenz für sich selbst formuliert (»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen

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widerspiegelt. Die Therapeutin nimmt ihn sehr erleichtert mit: »Wie Sie wissen, habe ich mit meiner Gruppe über unsere gemeinsame Arbeit gesprochen und wie versprochen möchte ich Ihnen jetzt erzählen, welche Gedanken uns bewegt haben. Wir haben Ihre Geschichte mit großer Betroffenheit gehört, wir haben Sie als zwei Menschen erlebt, die in tiefer Liebe an ihre Familie gebunden sind und wir sind beeindruckt, wie Sie Ihre Treue zu Ihrer Familie leben. Ihr Problem hat uns sehr bewegt und wir sind uns nicht sicher, ob wir Ihnen wirklich daraus heraushelfen können. Wir konnten uns in der Gruppe auch nicht einig werden. Die eine Hälfte der Gruppe meinte Folgendes: Wir können gut verstehen, dass Frau Z. das Gefühl hat, beinahe nicht mehr weiterleben zu dürfen. Wie kann es einem hier gut gehen, wenn man selbst in Sicherheit ist und der Familie geht es schlecht, ja, ganz nahestehende Personen sind sogar tot? Wir glauben, dass im Moment, vielleicht auch noch für eine längere Zeit die Selbstvorwürfe der Weg sind, den Sie, Frau Z., gefunden haben, um ihre Liebe und Ihre Treue zu Ihrer Familie zu zeigen und lebendig zu halten. Und Sie, Frau Y. (Schwester), zeigen Ihre Liebe und Ihre Treue durch ihre Fürsorge. Die andere Hälfte der Gruppe fragte sich, wie es wohl dem Vater und dem verstorbenen Bruder ginge, wenn sie wüssten, wie sehr sich Frau Z. quält. Ob sie das verstehen würden? Oder ob sie sich eher wünschen würden, dass ihre beiden Schwestern leben und dass sie ihre Liebe zu ihnen vielleicht dadurch zeigen, dass sie ein Leben führen, in dem auch Platz für Freude ist. Jeder kleine Funken Freude, so meinten diese Personen aus der Gruppe, wäre so etwas wie ein kleiner später Sieg ihres Vaters und ihrer Brüder über die Menschen, die ihnen so viel Gewalt angetan hätten. Und als wir über diese Gedanken gesprochen haben, kam uns in den Sinn, dass Sie beide, Frau Z. und Frau Y., vielleicht ähnlich fühlen und denken. Frau Z. lebt eher die Seite, dass die Treue zur Familie in der Traurigkeit liegt, Frau Y. eher die Seite, auch immer wieder einen Funken Freude zu finden. Und als wir meinten, das verstanden zu haben, dachten wir daran, dass es wohl keinen richtigen Weg gibt, vielleicht sogar im Moment keine Lösung. Doch haben wir verstanden, in welchem Maß Sie beide versuchen, einen guten Weg zu finden, zum einen hier in Deutschland zu leben und zum anderen Ihren Lieben verbunden zu sein. Wir möchten Ihnen unseren Respekt dafür sagen, wie Sie mit dieser Situation umgehen.« Die Therapeutin verlas den Kommentar in der folgenden Sitzung. Die beiden Schwestern nahmen ihn sehr bewegt auf. Für sich selbst erlebte die Therapeutin eine große Befreiung von dem Druck, immer wieder auf Veränderung drängen zu müssen. Für die Schwestern wurde im weiteren Verlauf der »Funke Freude« ein Schlüsselwort: Es ging nicht darum, ein glückliches Leben zu führen, wie hätte das gehen sollen, aber es war möglich, zumindest ab und zu, in einem Kinobesuch oder einem Treffen mit Freunden, den Mördern ihrer Lieben einen Funken Freude entgegenzusetzen (aus von Schlippe et al. 2003, S. 164ff.).

zurzeit wirklich empfehlen kann, etwas zu ändern oder ob ich Ihnen nicht doch vorschlagen möchte, zumindest im Moment noch nichts zu ändern!«) oder diese auf verschiedene Schultern verteilt wird (»Ein Teil des Teams meint dies, der andere Teil das …«) (von Schlippe u. Schweitzer 1996, S.181ff.).

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Borderline-Syndrom und andere Persönlichkeitsstörungen

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2.6 Borderline-Syndrom und andere Persönlichkeitsstörungen – Wenn Gefühle und Bindungsstile (allzu) schnell wechseln15 Der Begriff Persönlichkeitsstörung erscheint systemischen Therapeutinnen und Therapeuten oft selbst als das Problem, welches zu lösen diese Diagnose eher erschwert als erleichtert (Lieb 1998). Hinter dem Konzept einer kontextunabhängig festgeronnenen Persönlichkeit und deren übergreifender Störung kann verborgen bleiben, dass die Diagnose auch Ausdruck einer bestimmten (vermutlich sehr schwierigen) Qualität von Beziehung ist: Eine Person bezeichnet eine andere als Borderliner. Wird dieser Prozess vergessen, zum Beispiel wenn die Diagnose sich in der Krankenakte und in Arztbriefen verselbstständigt, löst sie sich aus der Beziehung und wird zur allmählich chronifizierenden Eigenschaft der diagnostizierten Person. Zuweilen kennt der oder die Betroffene diese Diagnose selbst nicht und würde, wenn er sie kennen würde, heftig widersprechen. Zuweilen trägt er oder sie diese Diagnose auffällig vor sich her (»Ich bin ein Borderliner!«) in der Gewissheit, damit besondere Beachtung und Zuwendung zu finden. In der Fachwelt haben sich bestimmte narrative Traditionen aufgebaut, die neue Therapiebooms begründen: Es werden immer mehr schwer gestörte Patienten, die Zahl der Borderline-Patienten nimmt ständig zu. Abgesehen davon, dass solche Aussagen schwer zu validieren sind (gibt es tatsächlich mehr Betroffene oder werden nur mehr so bezeichnet?), wird mit solchen Aussagen auch Status innerhalb der Kollegenschaft demonstriert: Wer viel mit schwer gestörten Patienten arbeitet, gilt als erfahrener, aber auch zu Recht als belasteter als andere. Lieb (1998) spricht von der »sanften Abwertung«, die in der »Pathologisierung im Mantel des Verstehens« liegt. »Ein anthropologisches Konzept […], das nur aus einer Außenperspektive auf Personen anwendbar ist und bei Selbstanwendung in der Innenperspektive zu Widersprüchen führt, muss stutzig machen. Eine Personenbeschreibung, die, von Personen auf sich selbst angewandt, paradox wird, taugt nicht 15 Wir danken Dipl.-Psych. Andrea Ebbecke-Nohlen, Heidelberg, Dipl.-Psych. Heiko Kilian, Bruchsal, und Dr. Hans Lieb, Edenkoben, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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für den psychotherapeutischen Dialog. Der Therapeut muss sie dann vor seinem Patienten geheim halten, womit nun aber die Beziehung gestört ist« (Lieb 1998, S. 43). Entsprechend sollte bei dieser Diagnose noch stärker als bei anderen der Beobachter mit konzeptualisiert werden: Wer nennt die Person Borderline-Patient, was sagt das über die therapeutische Beziehung aus? Gibt es jemanden, der dem widersprechen würde, welche anderen Beschreibungen lassen sich finden und was würden sie bedeuten? Typische Borderline-Symptome wie etwa starke Aggression, gepaart mit massiver Angst und dissoziativen Anteilen oder abspaltenden Abwehrmechanismen können verständlich werden und als angemessene, kreative Reaktion/Lösung erscheinen, wenn man sich zur »gestörten« Person etwa ein missbrauchendes Gegenüber denkt. So werden die Herkunftsfamilien von mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostizierten Personen (zumindest Jugendlichen) vielfach als vernachlässigend und emotional missbrauchend oder als chaotisch-instabil, mit antisozialen Verhaltensweisen und Misshandlungen bis hin zu sexuellem Missbrauch beschrieben (vgl. den Abschnitt Beziehungsmuster). Daher ist bei dieser Diagnose in besonderer Weise eine Gratwanderung angesagt. Einerseits erlaubt die darin implizierte Dauerhaftigkeit der Probleme eine gewisse therapeutische Geduld: Die mit der Diagnose bezeichneten Verhaltensweisen und emotionale Zustände sind nicht mit wenigen eleganten Interventionen leicht zu verwandeln. Andererseits gilt es, sich nicht von der Schwere der Krankheit hypnotisieren und lähmen zu lassen, sondern immer wieder darauf zu achten, wie die Handlungen der Person und die Beschreibungen und Handlungen der sie umgebenden sozialen – auch fachlichen – Umwelt sich auf möglichst entwicklungsfördernde Weise miteinander verbinden können.

iStörungsbilderi Die ICD-10 unterscheidet eine Vielzahl von Persönlichkeitsstörungen, die in Tabelle 9 aufgelistet sind. Kennzeichen sind schwere Störungen der »charakterlichen Konstitution und des Verhaltens«, meist schon in frühem Lebensalter erworbene »tief verwurzelte« und anhaltende Verhaltensmuster, die sich »in starren Reaktionen auf unterschiedliche per-

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Tabelle 9: Persönlichkeitsstörungen F60 F60.0 F60.1 F60.2 F60.3 F60.30 F60.31 F60.4 F60.5 F60.6 F60.7 F60.8 F60.9

Persönlichkeitsstörungen paranoide Persönlichkeitsstörung schizoide Persönlichkeitsstörung dissoziale Persönlichkeitsstörung emotional instabile Persönlichkeitsstörung impulsiver Typ Borderline Typ histrionische Persönlichkeitsstörung anankastische Persönlichkeitsstörung ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung abhängige Persönlichkeitsstörung sonstige, näher bezeichnete Persönlichkeitsstörungen nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörungen

sönliche und soziale Lebenslagen« zeigen (Dilling et al. 2004). Es lassen sich deutliche Abweichungen der inneren Erfahrungs- und Verhaltensmuster der Betroffenen von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben beobachten, insbesondere Impulsivität, emotionale Instabilität, dissoziales Verhalten, Selbstschädigung und andauerndes Verlangen nach Aufregung und Anerkennung durch andere (Dammann u. Janssen 2001). Die Differenzialdiagnostik der Persönlichkeitsstörungen wird ausgiebig unter anderem bei Kernberg 1988a, Kernberg et al. 2000, Leichsenring 2000 und Fiedler 1994, 2000 erörtert. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BLS). In der ICD-10 wird vom Vorliegen dieser Störung gesprochen werden, wenn – unter Ausschluss von Psychosen, Sucht und hirnorganischen Störungen – neben den allgemeinen Kennzeichen aller Persönlichkeitsstörungen (ausgeprägte Abweichung, persönlicher Leidensdruck, langandauernde Beeinträchtigung in den Bereichen Kognition, Affektivität, Impulskontrolle und zwischenmenschliche Beziehungen) drei der folgenden Kriterien für eine impulsive Persönlichkeitsstörung (F60.30) vorliegen: – eine deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtung der Konsequenzen zu handeln; – eine deutliche Tendenz zu Streitereien oder Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden werden;

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– Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt, mit Unfähigkeit zur Kontrolle; – Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden; – unbeständige, unberechenbare Stimmung. Darüber hinaus müssen noch zwei der folgenden Kriterien erfüllt sein, die die Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31) von anderen impulsiven Persönlichkeitsstörungen unterscheiden: – Störung und Unsicherheit des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen (inkl. sexueller); – Neigung, sich in intensive, aber instabile Beziehungen einzulassen; – übertriebene Bemühungen, Verlassenwerden zu vermeiden; – wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung; – anhaltende Gefühle von Leere. Andere Autoren zählen noch eine Fülle von weiteren Symptomen auf. Kennzeichen sind Instabilität und die Neigung der Betroffenen, signifikante Andere als nur gut oder nur schlecht/böse wahrzunehmen, Größenvorstellungen und Allmachtsfantasien mit sich herumzutragen, sich in magischen und paranoiden Vorstellungen zu verlieren oder ganz generell dramatische, extreme Lebensgeschichten mitzuverfassen (z. B. Kernberg 1988b; Eckert et al. 1987). Immer wieder wird auf die hohe Komorbidität verwiesen, nach der die BLS-Patienten oft mehrere diagnostizierte psychische Beeinträchtigungen aufweisen (meist Substanzmissbrauch, affektive Störungen, Essstörungen). Fyer et al. (1988) etwa berichten von 91 % mehrfach diagnostizierten BLS-Patienten. Psychodynamisch erklärt wird BLS im Wesentlichen durch den Rückgriff auf einen frühen Abwehrmechanismus, nämlich die Spaltung: Der BLS-Patient ist nicht in der Lage, bedeutsame Andere in ihren »guten« und »schlechten« Anteilen integriert wahrzunehmen, sodass er sie nur entweder als gut oder als schlecht wahrnehmen kann, ein Bild des ständigen Oszillierens zwischen Idealisierung und Entwertung. Die ungemein komplexe Diskussion kann an dieser Stelle nicht vertieft werden16 16 In psychodynamischer Sprache nur kurz so viel: Eine Ich-Organisation ist vorhanden, doch sie ist »primitiv«. Selbst- und Objektrepräsentanzen guter und

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(ausführlich dazu z. B. Kernberg 1988a, 1988b; Kernberg et al. 2000; Rohde-Dachser 1995, 2000; Zeeck 2001).

iBeziehungsmusteri Menschen mit der Diagnose BLS werden oft so beschrieben, dass sie sich als tief entfremdet von ihrer Familie wahrnehmen und empfinden. Die kompetenzorientierte und respektvolle Exploration von familiären Beziehungsmustern der Loslösung und Entfremdung kann deshalb eine heilende Intervention darstellen (Cierpka 1998; Cierpka u. Reich 2000). Allerdings ist es wichtig, Eskalationsdynamiken abzufangen, denn es kann schnell ein aufgeheiztes und heftiges Klima in den Gesprächen entstehen, wenn zugelassen wird, dass sich Patient und Familie gegenseitig massiv beschuldigen und anklagen. Die Familien selbst lassen sich mit Hilfe verschiedener familiendiagnostischer Inventare und methodologischer Zugänge als verschiedene Familientypen mit verschiedenen Charakteristika beschreiben. Die entsprechenden Publikationen lesen sich wie eine Auflistung beinahe aller schrecklichen Dinge, die in Familien geschehen können. Zeeck (2001, S. 341f.) führt in Anlehnung an die Literatur auf: – Verluste früher Bezugspersonen durch Tod oder lange Trennung; – Feindseligkeit und chronische Konflikte zwischen den Eltern; – vermehrte Häufigkeit von Alkoholmissbrauch in den Familien; – sexueller und körperlicher Missbrauch, körperliche Gewalt; – höhere Inzidenz affektiver Erkrankungen in der Familie; – gehäuft borderlinetypisches Verhalten mit impulsiven und chaotischen Beziehungen in den Familien; – inkonstantes und unberechenbares Verhalten der primären Bezugspersonen.

schlechter Art sind nicht integriert. Dies hat damit zu tun, dass zwar der Schritt der Selbst- und Objektdifferenzierung in der frühen Entwicklung vollzogen wurde (anders als in der psychotischen Verschmelzung, wo dieser Prozess fehlt), dass aber der Schritt nicht erfolgte, in dem das Objekt (eine andere Person, vor allem die Mutter) sowohl als nährend (gut) als auch als versagend (schlecht) erfahren wird.

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Daneben wird von oszillierenden Bindungsmustern gesprochen, die zwischen dem Extrem der Übernähe (verbunden mit Ängsten der Vereinnahmung und Dominanz) und dem Beziehungsabbruch (verbunden mit Ängsten vor Verlassenheit und Desintegration) schwanken. Cierpka und Reich (2000) beschreiben zwei Familientypen bei Menschen mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung (neben einem dritten Mischtyp): – die vernachlässigende, emotional missbrauchende Familie, die Züge emotionaler Mangelversorgung zeigt, welche mit Verlusterlebnissen, Trennungen und mit manipulativer Parentifizierung einhergeht, und – die chaotisch-instabile Familie mit ständigen Krisen, Chaos in den Beziehungen, ehelichen Kämpfen, Alkohol, Sucht, suizidalen oder antisozialen Verhaltensweisen, sexuellem Missbrauch, körperlicher Misshandlung und anderen impulsiven Mustern. Es ist auffallend, wie breit gefächert das Spektrum dieser stark negativ gefärbten Beschreibungen von Familiendynamiken ist. Richtet man den Blick ausschließlich auf die Defizite und Pathologien – wozu nicht nur die Diagnose, sondern vielleicht auch die Familien selbst einladen – gerät man schnell in eine Sackgasse. Denn diese sich im »ständigen Beziehungschaos« befindenden Familien verfügen auch über besondere Stärken und Qualitäten und zeichnen sich etwa durch eine »überdurchschnittliche Entschlussfreudigkeit« aus (Kilian 2001). So wird nachvollziehbar, wie schwer es ist, die BLS als eine »besondere Form der Organisation von Ambivalenz« im Sinne von Lösungsversuchen zu verstehen, für die es »gute Gründe« gibt (Ebbecke-Nohlen 2000). Ebbecke-Nohlen nennt in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe von Handlungs- und Stimmungstendenzen sowie Fähigkeiten und Ressourcen, die Borderline-diagnostizierte Personen häufig zeigen (2004): – vielfältige Möglichkeiten für die Regulierung von Nähe und Distanz; – nach dem Motto leben: »Das Konstante ist der Wandel«; – entgegengesetzte Bedürfnisse ausleben; – auf der kognitiven Ebene die Fähigkeit haben, schnell zwischen Optionen zu alternieren; – auf der emotionalen Ebene die Fähigkeit haben, schnell zwischen Wertschätzung und Abwertung zu wechseln;

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– für innere Spannungen einen Ausdruck finden; – sich abgrenzen, Grenzen öffnen und Grenzen überschreiten; – testen: »Wer hält mich aus, so wechselnd, wie ich bin?« Therapeutische Beziehungsmuster Zur Wahrung der therapeutischen Beweglichkeit kann es hier bedeutsam sein, die spezifischen Beziehungsmuster zu reflektieren, zu denen man als Therapeutin eingeladen wird. Zu ihnen eine selbstreferenzielle, also selbstbeobachtende Position zu gewinnen, kann ein wichtiger Schritt zu Wahrung der eigenen Handlungsfähigkeit und zur Entwicklung alternativer Möglichkeiten sein. a) Einladung zum Mitagieren: Bei keiner anderen Diagnosegruppe »wird das Mithandeln der Umgebung so direkt, unmittelbar und teilweise unverblümt herausgefordert« (Kilian 2001, S. 169). Therapeuten sehen sich zum quasi-polizeilichen Eingreifen genötigt, zum Beschützen, seltener gar zum Mitmachen, was sich in der Supervision als Zeichen erweisen dürfte, in die Dynamik verwickelt zu sein. Meist sind es unerfreuliche Dynamiken, heftige Konfliktspannungen mit engagiert gesuchten Parteilichkeiten bis hin zu zerstörerischen Interaktionen, in die man sich unvermittelt einbezogen sieht. b) Einladung zur Spaltung: Vom Mitagieren ist der Weg in die Spaltung kurz. Die Spaltung als wesentlicher Mechanismus des BLS kann in dem helfenden System heftige Dynamiken auslösen: Wenn es dem Klienten schwerfällt, verschiedene Zustände (»gut«, »böse«) in sich selbst und auch in anderen gleichzeitig wahrzunehmen, dann kann dies dazu führen, dass diese Spaltung auf Teams oder sogar auf Supervisionsgruppen übergreift, in denen sich Kollegen gegenseitig auf das Heftigste bekämpfen. Wenn es dazu kommt, ist es hilfreich, sich zu fragen, wie viel von der heftigen Auseinandersetzung vielleicht in den Patienten und sein System hineingehört und nicht in das Team. c) Einladung zur Langzeittherapie oder zum Abbruch: Das problematische Bindungsverhalten kann sich auch klinisch in der Gestaltung der therapeutischen Beziehung zeigen, entweder im Verlangen nach einer sehr langfristig angelegten Therapiedauer oder aber umgekehrt – und manch-

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mal plötzlich – zum Therapieabbruch als Ergebnis einer spaltenden Eskalation. Die Patienten testen in der therapeutischen Beziehung immer wieder deren Tragfähigkeit durch Abwertung und provokative Fragen und prüfen so, ob sie anders als in früheren Beziehungserfahrungen »ausgehalten« werden (Ruf 2005). Daher ist der Abbruch oft über lange Strecken ein präsentes Thema. d) Einladung zur Kontextausblendung: Die für einen therapeutischen Prozess notwendige innere Haltung von ruhiger Konzentration und Gelassenheit wird oft auf eine harte Probe gestellt: Kaum glaubt der Therapeut, einen Sachverhalt verstanden zu haben, passiert etwas. Stimmungen und Verhalten wechseln so häufig und schnell, dass kaum Zeit ist, den roten Faden in der Hand zu behalten (vgl. Fallbeispiel). Dies kann übrigens ein Hindernis sein, wenn es darum geht, Familiensitzungen zu arrangieren: Aus den unterschiedlichsten Gründen kommen einfach keine zustande.

iEntstörungeni Streeck (2000, S. 101) weist darauf hin, dass die Komplexität des Störungsbildes in besonderem Maß geeignet ist, die Diskussion zwischen psychotherapeutischen Schulen zu fördern, da ein einziger therapeutischer Zugang oft nicht ausreicht: »PatientInnen, die ambulant behandelt werden, müssen in suizidalen Krisen stationär behandelt werden und bei schwer gestörten PatientInnen […] muss eine Behandlung so gut wie immer unter stationären Bedingungen eingeleitet werden; bei vielen PatientInnen ergänzen sich Behandlungsansätze, die auf Verstehen solch wiederholender Verhaltensmuster ausgerichtet sind, mit Ansätzen, die vorrangig eine Veränderung des aktuellen Verhaltens anstreben und mit Ansätzen, die die Funktion des Verhaltens im sozialen Kontext in den Mittelpunkt der therapeutischen Aufmerksamkeit stellen, und alle bedürfen in manchen Fällen sowohl der Unterstützung durch Psychopharmaka wie ergänzender sozialtherapeutischer Aktivitäten«. Streeck-Fischer (2000) fordert, bei Jugendlichen neben der psychotherapeutischen Behandlung immer auch mögliche Defizite in der senso-

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motorischen Entwicklung zu beachten, die durch Gespräche allein nicht aufgeholt werden können. Streeck (2000) empfiehlt, bei der Frage des therapeutischen Vorgehens gut abzuklären, wie stark sich die Beeinträchtigungen des Patienten im Alltag manifestieren, in welchem Ausmaß sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen (können) und wie hoch die Suizidgefahr eingeschätzt werden muss. In jedem Fall ist aus seiner Sicht ein hoher therapeutischer Aufwand, meist eine stationäre Anfangsbehandlung, erforderlich. Die Kunst liegt darin, sich diese Gedanken zu vergegenwärtigen und sich gleichzeitig nicht in eine Problemtrance ziehen zu lassen. Eine gute therapeutische Richtlinie für alle zunächst verschreckenden, herausfordernden Symptomatiken ist die Frage: Wie würde man mit dem/der Betreffenden arbeiten, wenn es die Diagnose nicht gäbe, wenn man sie nicht wüsste? Lieb (1998) schreibt in diesem Zusammenhang, dass man »nur« etwas weglassen muss, und zwar die Stigmatisierung. Das bedeutet nicht, dass es dann leicht sein wird, mit dem Betreffenden und eventuell dessen Familie zu arbeiten. Doch stellt dies eine konstruktive Grundbedingung für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit dar. Es geht darum, immer wieder sensibel zu sein für die Beziehungsgestaltung, im »Rapport« zu bleiben (hierzu Fürstenau 1992; Egidi u. Boxbücher 1996). Der Grundsatz lautet: »Support, Empathy, Truth« (Kreisman u. Straus 1992). Auftragsklärung Ebbecke-Nohlen (2001) verweist darauf, wie wichtig gerade bei diesem Störungsbild die Auftragsklärung ist. Sie schafft gleich zu Beginn der Therapie einen Rahmen für konsensuelle und dissensuelle Bereiche, die beide für den weiteren therapeutischen Prozess von großer Bedeutung sind. Konsens ist in der Regel dann gegeben, wenn die Vorstellungen von Therapeutin und Klientin ähnlich sind, was zum Beispiel Form oder Inhalt der Therapie angeht. Konsens unterstützt den therapeutischen Prozess und hat unter anderem zur Folge, dass Nähe entsteht. Wichtig für den Therapieverlauf sind allerdings auch die Bereiche, in denen zunächst keine Einigkeit zwischen Therapeutin und Klientin erreicht werden kann, in denen zum Beispiel die Therapeutin Aufträge, die die Klientin erteilt, nicht oder nur modifiziert annimmt. In diesen Fällen können wir von intendierten Erwartungsenttäuschungen sprechen. Wenn es

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in solchen Situationen gelingt, gegenseitige Erwartungen neu auszuhandeln, sind nicht nur für die therapeutische Beziehung wichtige Schritte umgesetzt worden, sondern in der Regel auch erste Lösungsschritte aus den symptomatischen Zusammenhängen heraus erfolgt. Die Skepsis »ist nicht mehr Hindernis, sondern wird zur Ressource« (S. 169), denn die Ambivalenzdynamik wird explizit erlaubt und geschätzt. Systemische Interventionen In systemischer Therapie wird anders als zum Beispiel in tiefenpsychologischen Ansätzen nicht so sehr darauf abgezielt, eine primäre, persönliche und emotionale Bindung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten herzustellen (Egidi u. Boxbücher 1996). Die aus den Einzeltherapien berichteten starken Ambivalenzen, die der Klient in dieser therapeutischen Beziehung erlebt und ausagiert, spielen in der systemischen Familientherapie weniger eine Rolle, weil die Ambivalenz selbst sozusagen »der Patient« ist, wenn man mit der Familie arbeitet. Vordringliches Ziel ist dann, zu versuchen, eine sichere Basis dadurch aufzubauen, dass: – das Bindungs-/Nichtbindungsverhalten der Familienmitglieder positiv konnotiert wird; – Verluste und Missbrauchserfahrungen exploriert werden und versucht wird, diese in eine kohärente, für alle Familienmitglieder akzeptierbare Narration einzubinden; – die gedanklichen und emotionalen Hintergründe der Familienmitglieder bezüglich impulsiver Durchbrüche durch zirkuläres Fragen deutlich werden. Diese können dann – im Gegensatz zum destruktiven Verhalten – positiv konnotiert werden, etwa wenn ein destruktives Verhalten als Selbstrettungsversuch in einer ausweglos erscheinenden Situation beschreibbar wird. Gegenüber der dialektisch behavioralen (Linehan 1994; Bohus u. Bathruff 2001) oder der interpersonalen Therapie (Klerman et al. 1984; Schramm 2000) werden im systemischen Ansatz die Symptome weniger als maladaptives Defizit und mehr als kreative Lösung betrachtet. Es geht nicht um Defizite, die ausgeglichen werden müssen, nicht um fehlende, noch zu entwickelnde Fertigkeiten. Entsprechend wird in der systemischen Therapie der Klient als sein eigener Experte angesehen, wird

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mehr erörtert und weniger trainiert. Da, wie Zeeck (2001) schreibt, die Hoffnung der Familienmitglieder sehr stark in die Richtung geht, im Therapeuten jeweils einen Bündnispartner gewinnen zu können, kann eine anfängliche Einführung in die Bedeutung und den Sinn einer neutralen Position und Funktion des Therapeuten helfen, Enttäuschungen und den nachfolgenden Entwertungen vorzubeugen. Da das Schwanken zwischen Idealisierung und Entwertung ohnehin einen Teil der Dynamik ausmacht, kann es sinnvoll sein, genau diese Entwicklung vorherzusagen und als Teil eines zu erwartenden Therapieprozesses zu definieren. Dies ist nicht zuletzt dafür wichtig, um die eigene Handlungsfähigkeit als Therapeuten zu wahren. Denn der Umgang mit Gegenübertragungsgefühlen von Wut, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst, das Schwanken zwischen heroischem Überengagement und Inkompetenzgefühlen gehört zu den zu erwartenden Herausforderungen im therapeutischen Prozess (Zeeck 2001, S. 350). Der Verlust der therapeutischen Position kann dazu führen, dass man sich »heillos in die Inszenierung des Patienten verstrickt« (Rohde-Dachser 2001). Es versteht sich in diesem Zusammenhang von selbst, dass – auch angesichts häufig eingesetzter Suiziddrohungen – die Einbindung in eine tragende Supervisionsgruppe hier eine besondere Bedeutung hat. Kilian (2001) verweist darauf, dass anders als bei »gefühlsbetonten« Störungsbildern (Depressivität) ein klassisches systemisches Vorgehen mit langsamen, behutsamen zirkulären Fragen weniger indiziert ist als ein zügiges Intervenieren, das sich auf das beobachtbare Verhalten und das aktuelle Interaktionsgeschehen konzentriert. Ausgangspunkt ist die Schilderung der aktuellen Lage, in die man sich mit spezifischen Interventionen einschalten kann (S. 173ff.): – Positive Konnotation, womöglich auch positive Bewertung des symptomatischen Verhaltens, besonders beim Einstieg (»Sie vermögen offensichtlich auch auf fremde Menschen ganz schnell zuzugehen«); – Humor, gelegentlich sanfte Ironie, Übertreibung und Zuspitzung der Schilderungen, mit der nötigen Sensibilität ins Gespräch eingestreut, die den Patienten zum Lachen bringen kann (»Soll ich jetzt vor Ihnen heftig das Zittern bekommen oder nur ein klein wenig Furcht?«); – später dann vermehrt das Ansprechen aktuell beobachtbarer Verhaltensmuster (»Ich sehe, dass Sie bei jeder Erwähnung des Vaters vor An-

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spannung ganz rot anlaufen. Da kann ich mir gut vorstellen, wie es zu Hause oft abgeht«); – nicht zu früh schließlich eine umdeutende Kontextualisierung der Symptomatik (»Würde es für Ihre sehr skeptischen Eltern nicht die allergrößte Provokation darstellen, wenn Sie einen beruflich und privat erfolgreichen Weg einschlagen würden?«); – schließlich die Entwicklung weniger schmerzhafter, lästiger oder aufwendiger Verhaltenalternativen (»Angenommen, Sie würden sich regelmäßig ohrfeigen anstatt sich unregelmäßig zu ritzen – würden Sie sich dann auch hinreichend spüren?«). Einen mit diesen Interventionsstrategien gut zu vereinbarenden, wenn auch unterschiedlichen Zugang beschreibt Ebbecke-Nohlen (2000, 2001). Die Borderline-Störung ist ihrem Verständnis nach durch ein Entweder-oder-Muster, ein Schwarz-Weiß-Bild der Organisation psychischer Ambivalenz gekennzeichnet: Der Indexpatient, aber auch seine diversen sozialen Systeme wechseln in zeitlich kurzer Abfolge zwischen Zuneigung und Abneigung, Bindung und Autonomie, Nähe und Distanz. Extreme Einschätzungen wie »wunderbar« oder »miserabel« überwiegen gegenüber Grautönen (»durchschnittlich«, »einigermaßen«). Da dies auf Dauer anstrengend und nur schwer durchzuhalten ist, ermöglicht erst ein schneller Wechsel zwischen diesen Extrempositionen eine soziale und psychische Balance. Es gilt, der Gefahr aus dem Wege zu gehen, sich auf eine der beiden Seiten zu stellen, sondern stattdessen eine Haltung der Sympathie für beide Seiten des Ambivalenzkonfliktes und für das Oszillieren zwischen beiden zu pflegen. Th.: »Wofür ist Ihre Symptomatik gut oder anders gefragt, wofür ist es gut, so wie Sie jetzt leben?« Kl.: »So wie ich jetzt lebe, das ist für nichts gut. Ich habe keinen Beruf, ich verdiene kein Geld, ich habe keine Familie, noch nicht einmal einen Freund, und ich liege immer noch meiner Mutter auf der Tasche. Außerdem geht es mir so dreckig, dass ich mich wegschmeißen könnte.« Th.: »Ja, das habe ich schon verstanden, dass es Ihnen alles andere als gut geht, aber meine Frage zielte auf etwas anderes. In der Regel macht es für irgendetwas Sinn, so wie Menschen sich verhalten oder so wie sie sich entscheiden im Leben. Ein bestimmtes Verhalten ist meistens auch ein Lösungsversuch für eine zugrunde liegende Situation. Und das ist meine Frage. Wofür macht die Symptomatik Sinn, was hat sich in Ihrem Leben mit der Symptomatik verändert?« Kl.: »Es kommt mir fast dumm vor, das auszusprechen, aber ich bin tiefgründiger und vielschichtiger geworden. Mein Leben wäre einfacher, wenn es nicht so wäre, aber ich

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kann mich gut in andere Menschen und Situationen hineinversetzen, sogar mehr als mir gut tut.« Th.: Verstehe ich das richtig, dass Sie sagen, dass Sie gute Antennen für andere Menschen entwickelt haben, aber dass Sie nicht ausreichend darauf achten, sich auch abzugrenzen?« Kl.: »Ja, genau …« Th.: »Wenn ich Sie danach frage, wofür Ihre Symptomatik gut ist, wofür sie Sinn macht, suche ich nie nur einen einzelnen Zusammenhang, sondern ich suche eine Handvoll guter Gründe. Wofür ist die Symptomatik noch wichtig?« Kl.: »Das Wichtigste ist vielleicht, dass ich immer etwas Besonderes sein wollte. Ich wollte auf keinen Fall ein Durchschnittsmensch sein … Und ich wollte meine Mutter immer im Auge haben und mir sicher sein, dass es ihr gut geht … Durch meine Krankheit kann ich ja immer bei ihr sein und mich vergewissern, dass alles in Ordnung ist …« Th.: »Jetzt bin ich aber wirklich beeindruckt, wie viele gute Gründe Ihnen noch eingefallen sind und vielleicht gibt es ja noch mehr. Ich möchte Ihnen sagen, warum mir dieser Punkt so wichtig ist. Aus meiner Sicht liegt der Schlüssel zur Lösung genau an dieser Stelle. Wenn Sie herausfinden können, welche positiven Aspekte mit Ihrer Symptomatik verbunden sind, dann können Sie auch überlegen, ob es nicht andere Wege gibt und andere Möglichkeiten als zum Beispiel Symptome zu entwickeln …« Kl.: »Vielleicht bin ich doch kein so hoffnungsloser Fall.« (Ebbecke-Nohlen 2000, S. 39f.)

Die Vielseitigkeit der gegensätzlichen Bedürfnisse kann anerkannt und wertgeschätzt werden (z. B. nach »sich spüren« und nach »sich nicht verletzbar fühlen«; nach »ihm eine runterhauen« und »ihn knuddeln«, nach »sofort abhauen« und nach »endlich heimisch werden«). So betrachtet liegt eine Perspektive zur Lösung darin, ein Entweder-oder-Muster in ein Sowohl-als-auch-Muster zu verwandeln (vgl. Simon 1995). Die Kompetenz zu schnellen Perspektivwechseln des Klienten könnte genutzt werden, um eingeschliffene Muster zu verändern. Dies heißt, dass es nicht länger eine Entscheidung für oder gegen etwas getroffen werden muss, sondern dass es denkbar ist, dass beides umgesetzt werden kann. Ein Sowohl-als-auch setzt allerdings voraus, dass die beiden möglichen Alternativen potenziell gleichwertig und positiv konnotierbar sind. Eine Lösung kann darin liegen, zwei Dinge, die nicht gleichzeitig umgesetzt werden können, hintereinander zu verwirklichen. Dabei ist es möglich, bei der jeweils gewählten Option länger verweilen und aus dem schnellen Oszillieren ein konstruktives und produktives Wechselspiel mit der Zeit zu machen. Dies setzt wiederum voraus, dass eine Entscheidung über die Rangfolge getroffen wird und Zeit und Geduld sich selbst gegenüber aufgebracht wird. Ambivalenzen müssen nicht immer aufgehoben werden – sie dürfen es aber! Es ist schon viel gewonnen, wenn sie ihren belastenden Charakter verlieren. In der systemischen Borderline-

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Therapie geht es folglich nicht darum, Eindeutigkeit zu erzeugen, sondern die Vielseitigkeit der eigenen Bedürfnisse und der Beziehungsgestaltung zu erkennen und besser mit ihnen zu leben (Ebbecke-Nohlen 2000, S. 44). Hierzu ein Fallbeispiel: Eine 23-jährige biologisch-technische Assistentin stellte sich vor. Sie fragte sich zunehmend, warum sie im intimen Zusammensein mit dem Partner immer solche »Abstürze« erlebe. Im Übrigen habe auch die Rate ihrer Selbstverletzungen durch Schnitte in die Oberschenkel von einmal monatlich auf dreimal pro Woche zugenommen. Dass sie wegen ständiger Kopfschmerzen und starker Schlafstörungen in ansteigender Dosierung Schmerz- und Schlafmittel benötige, sei demgegenüber eigentlich nicht mehr so wichtig. Im Verlauf einer insgesamt zweieinhalbjährigen Behandlung, zunächst im tagesklinischen Setting mit wöchentlichen Sitzungen, anschließend im ambulanten Setting mit Terminen im vier- bis achtwöchigen Abstand konnten verschiedene Abschnitte unterschieden werden. Zunächst imponierte sie durch ironisch-witzige Selbstabwertungen – der Therapeut nahm einen Teil ihrer Einladung zum verbalen Mitagieren an, in dem er selbst auch eher humorvoll, jedoch nicht abwertend, sondern positiv konnotierend reagierte. Der Einladung zur Kontextausblendung musste er zähneknirschend viele Wochen Folge leisten: Es wimmelte von Konflikten mit Partner und Mutter, die jeweils zu Selbstverletzungen führten, doch wollte sie von diesbezüglichen situativen Zusammenhängen nichts wissen. Hier war es notwendig, immer wieder entsprechende Beobachtungen einzubringen und sich gleichzeitig bezüglich der Bewertung neutral zu zeigen: »Schon in drei aufeinanderfolgenden Sitzungen haben Sie mir berichtet, wie Sie am Tag nach einer Enttäuschung durch ihren Freund sich abends massiv selbst verletzten […] Meine Kollegin, die Sie ja auch kennengelernt hat, sieht da immer wieder Zusammenhänge, Sie selbst weisen das weit von sich, ich selbst bin da hin und her gerissen, wem von Ihnen beiden ich folgen soll.« Ganz allmählich begann sie, sich mit derartigen Angeboten auseinanderzusetzen: »Glauben Sie wirklich, das könnte irgendwie zusammenhängen?« Je mehr sie sich jedoch mit solchen Fragen auseinandersetzte, desto mehr stieg die Selbstverletzungsrate auf bis zu zweimal täglich, bevor sich allmählich eine Besserung einstellte. Für den Therapeuten wurde hier deutlich, wie sinnhaft häufig scheinbar sinnlose Verhaltensweisen, wie hier die Einladung zur Kontextausblendung, auch sein können. Je deutlicher mögliche Zusammenhänge zum Beispiel zwischen Enttäuschungen/Konflikten und in der Folge erhöhter Anspannung und Selbstverletzungsneigung beschrieben werden konnten, desto eher war es auch möglich, nun entsprechende Situationen vorherzusagen und mit zukunftsgeleiteten Fragen auch Alternativen einzuführen: »Wenn er Sie am kommenden Wochenende voraussichtlich wieder enttäuschen wird, weil er etwas anderes vor hat, als Sie zu besuchen, werden Sie sich dann am Sonntagabend eher ritzen oder vielleicht ihm ein telefonisches Donnerwetter geben oder sich eher mit Ihrer besten Freundin ablenken?« Es blieb eine gewisse Ambivalenz bezüglich kontextueller Zusammenhänge bestehen, wie dies bei Menschen mit sogenannter Borderlinestörung häufig der Fall ist. Deshalb wurde, und das auch nur nach langer Vorbereitung, ein einziges Familiengespräch durchgeführt, in dem sich rasch eine Familienkultur extremer Selbstaufgabe und Hilfsbereitschaft als offenbar bedeutsam herausstellte. Angesprochen auf die von allen beschriebene übergroße Hilfsbereitschaft der Patientin wurde gefragt, wem sie diesbe-

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züglich am ähnlichsten sei – der Vater sei, so die Antwort, genauso veranlagt. Auf die Frage, ob es auch hinsichtlich der Selbstverletzung Ähnlichkeiten zu Familienmitgliedern gäbe, kam die überraschende Antwort, dass die Mutter sich regelmäßig aus unerklärlichen Gründen mit dem Bügeleisen verletze. In der Folge wurden die als extrem auffällig und pathologisch gesehenen Verhaltensweisen der Patientin offensichtlich als Bestandteil auch der Familienkultur gesehen, was zu einer deutlichen Entspannung der innerfamiliären Beziehungen führte. In der systemischen Einzeltherapie »verstörten« wir immer wieder ihre Denk-, Beziehungs- und Verhaltensmuster, indem wir beispielsweise die weiter bestehenden Selbstabwertungen mit sanftem Humor positiv konnotierten: »Heute sind Sie aber wieder besonders fantasievoll darin, sich selbst fertigzumachen!« oder auch paradox und in ironischer Übertreibung fragten, ob nach soundsoviel Wochen ohne Selbstverletzung nicht bald mal ein Rückfall fällig sei, weil diese ja stets ohne äußere Anlässe gewissermaßen »vom Himmel« fielen. Im weiteren Verlauf hatte die Patientin mehrere kurze Beziehungen, wechselte die Arbeitsstelle, verkrachte und versöhnte sich mit besten Freundinnen, reagierte jedoch auf all diese Spannungen und Konflikte mit einer stark nachlassenden Selbstverletzungsneigung, bis sie schließlich wochenlang symptomfrei war. Von Bedeutung waren hierbei, so ihre eigene Aussage, vor allem die systemische Therapie, ein Versuch einer medikamentös-antidepressiven Behandlung mit SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) wurde nach wenigen Wochen aufgrund ausbleibender Erfolge abgebrochen. Der Schlafmittelverbrauch pendelte sich bei einer Tablette Zolpidem ein, Schmerzmittel konsumierte sie nicht mehr. Es kam zu keiner stationären Krisenintervention, es wurden auch keine weiteren medizinischen oder therapeutischen Instanzen in Anspruch genommen. In der ambulanten Weiterbehandlungsphase war sie schließlich zehn Monate lang bezüglich Selbstverletzungen symptomfrei und erlebte erstmals eine mehrmonatige, stabile und liebevolle Beziehung, in der sie auch sexuell glücklich war (Therapeut: Heiko Kilian).

Eine systemisch-integrative Langzeitbehandlung In der amerikanischen Literatur zur Familientherapie bei BorderlineStörungen (Everett et al. 1989; Glick et al. 1995; Glick u. Loraas 2001; Gunderson et al. 1997) wird besonders die Belastung der Familienmitglieder durch den Borderline-Patienten betont – und die Entlastung dieser Familienmitglieder als vielleicht wichtigste Aufgabe und eine der besonderen Stärken der Familientherapie gesehen. Nach einer Umfrage von Doherty und Simmons (1996) unter einer großen Stichprobe amerikanischer Familientherapeuten schätzten sich zwar mehr als 70 % als kompetent genug ein, um Persönlichkeitsstörungen zu behandeln, aber nur 5 % taten es faktisch. Von den verschiedenen Persönlichkeitsstörungen scheinen besonders diejenigen mit dramatischen Verhaltensweisen (Borderline, narzisstisch, histrionisch, antisozial) das Interesse der Familientherapeuten auf sich zu ziehen, im Gegensatz zu den eher ängstlich getönten (abhängigen, vermeidenden, zwanghaften, passiv-aggres-

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siven) und den eher exzentrischen (paranoiden, schizoiden und schizotypischen) Verhaltensweisen. Das ist nicht verwunderlich: Die dramatischen Verhaltensweisen fallen viel mehr auf und ziehen in einer Mischung aus (anfangs) Faszination und (später überwiegend) Frustration zunächst die anderen Familienmitglieder und später auch die Familientherapeuten in ihren Bann. In seiner umfangreichen Literaturübersicht »Family Treatment of Personality Disorders« betont Marley (2004, S. 3ff.), dass er Borderline für eine multidimensional (genetische Ursachen, Folge von Traumatisierungen etc.) zu verstehende Störung hält, in der systemische Familientherapie kombiniert werden kann und muss – zum Beispiel mit einer psychodynamischen Reflexion und zum Teil der Deutung von Übertragungsprozessen zwischen Patientin und Therapeutin, mit kognitiver Verhaltenstherapie zur Korrektur selbstdestruktiver Gedanken und mit Medikamenten zur Abdämpfung und dann Bewältigung akut-agitierter Erlebenszustände. Marley hält bei Persönlichkeitsstörungen eine langfristige Therapie für erforderlich und beschreibt eine Kasuistik von fünf Jahren Therapiedauer, die auf der Basis zirkulären Fragens und der Dekonstruktionen selbstunterdrückender Lebenserzählungen zahlreiche Therapieelemente anderer Schulen integriert (Marley 2004, S. 221ff.): Ein Klient mit dem Pseudonym Peter, Gymnasiallehrer von Beruf, kommt in Therapie nach Trennung von seiner Frau, mit der er acht Jahre verheiratet war und mit der er zwei kleine Kinder hat. Seit dem Umzug der Familien in die Nähe seiner Schwiegereltern reagierte er »verrückt«, mit übermäßigem Trinken, mit Vorwürfen gegen seine Frau und mit Angst vor einer für ihn neuen Schule. Anfangs erscheint er »nur« depressiv, bald aber werden selbst- und fremddestruktive Tendenzen deutlich, die zur Diagnose Borderline beitragen. Ein Genogramminterview verdeutlicht eine Familiengeschichte, die durch traumatisierende Beziehungsabbrüche, wechselseitige Demütigungen und ein chaotisches Hin und Her von Gefühlen gekennzeichnet ist. Peters Mutter starb plötzlich, als er 13 Jahre alt war, an einer kombinierten Alkohol- und Drogenüberdosis. Er war es, der die tote Mutter als Erster fand. Den Vater beschreibt er als entfernt und kritisch. Starke Konflikte zwischen den Eltern bewegen den Vater, kaum zu Hause zu sein und Peter ganz seiner Mutter zu überlassen. Der Vater zeigte sich enttäuscht von Peter, nannte ihn ein »Muttersöhnchen«, machte sich öfters über ihn lustig. Er versucht den Vater für sich zu gewinnen, das misslingt aber. Peter akzeptiert die Sicht des Vaters, dass er selbst ein Versager sei, bleibt aber ärgerlich über dies unfaire Urteil. Schließlich stirbt nach einer Wiederverheiratung auch der Vater, als Peter 19 Jahre alt ist. Außerdem erleidet er durch einen örtlichen Geschäftsmann, den er »wie seinen zweiten Vater« erlebte und ansah, einen einmaligen sexuellen Missbrauch, der ihn in seiner sexuellen Identität stark verunsichert (»Bin ich ein Homosexueller?«).

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Die ersten neun Monate der Behandlung konzentrieren sich auf die Bewältigung der Trennung von seiner Frau Susan. Diese überschüttet er vor und nach der Trennung mit verärgerten Zuschreibungen, die der Therapeut als Projektionen alten Ärgers besonders über seinen Vater umzudeuten versucht. Der Therapeut versucht, einen Psychiater hinzuziehen. Peter idealisiert den Psychiater zunächst, beschuldigt ihn dann beim Ausbleiben schneller Erfolge der Unfähigkeit, wechselt den Arzt und schafft es, binnen kurzer Zeit von vier verschiedenen Psychiatern zwölf verschiedene Anxiolytika und Antidepressiva verschrieben zu bekommen. Nach neun Monaten lernt er eine Frau (Marie) kennen, mit der die Probleme kaum ausbleiben können. Der Therapeut lernt diese Frau in gemeinsamen Paargesprächen kennen. Sein Eindruck: »kalt, distanziert, auf ihre eigenen Bedürfnisse bezogen, könnte selbst narzisstische Persönlichkeitsstörungs-Züge haben«. Als Peter sie vergeblich zu zwingen sucht, ihn zu trösten und zu retten, zieht sie sich immer mehr zurück, er reagiert mit Drogen- und Alkoholüberdosen über mehrere Monate. Es kommt zu Polizeikontakten und Hospitalisierungen, schließlich wird er zeitlich befristet für ein Jahr krankgeschrieben. Hier gelingt nun eine intensive therapeutische Arbeit, in der mit einer Kombination von systemischem Fragen und CBT(Kognitive Verhaltenstherapie)-Interventionen Peter Reize erkennen kann, die bei ihm immer wieder ausagierendes Verhalten auslösen: Geldsorgen nach impulsivem Geldausgeben; Entwertungserlebnisse durch Autoritätsfiguren (z. B. Schulrektoren); der Sorgerechtskonflikt um seine beiden Kinder; und das Gefühl, von Marie nicht genug geliebt zu werden. Nachdem diese Erkenntnisse tiefe Nachdenklichkeit und Veränderungsbereitschaft auslösen, erweist sich eine Kombination aus Kompetenztrainings (Entspannungstraining, Selbstsicherheitstraining), kognitiven Interventionen und Trauerarbeit (über die kindgerechte Unterstützung, die er früher nie bekam und jetzt nicht mehr von anderen erwarten kann) als von ihm gut nutzbar. Durch dekonstruktives systemisches Fragen vermag er allmählich die Wahrnehmung von sich selbst als »nicht liebenswürdig« infrage zu stellen und durch den Blick auf seine gelingenden Beziehungen, besonders als Lehrer zu seinen Schülern, eine neue und positivere Geschichte über sich selbst zu erzählen. Die neu gewonnene Stabilität überlebt auch die nicht mehr vermeidbare Trennung von Marie. Schließlich reintegriert er sich beruflich erfolgreich an seiner Schule. Mit weniger Misstrauen gegenüber staatlichen Organen als früher strebt er jetzt ein gemeinsames Sorgerecht an und erreicht sogar, dass die gemeinsamen Kinder zu ihm ziehen, wenn die älteste Tochter in die Grundschule kommt. Die Behandlung verlief insgesamt über fünf Jahre, mit gelegentlichen Nachkontakten.

Marley betont, dass diese von ihm als »integrative systemische Therapie« bezeichnete Arbeitsweise einerseits eine komplexe sei, die gute klinische Fähigkeiten erfordere und keine Kurztherapie sei. Aber er zitiert Literaturberichte, nach denen eine Borderline-Therapie »im schnellsten Falle ein Jahr, im Normalfall zwei oder mehr Jahre« erfordere. Auch eine dynamische Kurztherapie benötige zwölf bis 40 Sitzungen, bei »behandlungsresistenten« Gruppen bis zu 80 Sitzungen. Abschließend gibt Marley einige nützliche Hinweise zu kritischen Situationen im Behandlungsverlauf: 1. Gemeinsame Familiensitzungen sollten nicht angeboten werden,

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wenn die Indexpatientin akut psychotisch ist und wenn die Familienbeziehungen so toxisch oder anklagend sind (z. B. wenn umfangreicher früherer sexueller, körperlicher oder emotionaler Missbrauch immer noch nicht anerkannt wurde), dass nur mit weiteren Traumatisierungen zu rechnen sei. 2. Familiensitzungen erleichtern es dem Therapeuten, von mancherlei Übertragungsreaktionen verschont zu bleiben (weil diese innerhalb der Familie vor seinen Augen ablaufen) sowie sich von negativ-aggressiven Fremdbildern des Klienten über seine Familienmitglieder weniger einbinden zu lassen. 3. Wenn eine akute Krise (Suiziddrohung) eine Zwangsmaßnahme erforderlich macht, sollte dies als Unterbrechung, nicht als ein Teil der Therapie deklariert werden. Falls der Klient danach in die Therapie zurückkehrt, wird als erstes ein Verständnis der Krisensituation als Beziehungsangebot des Klienten dem Therapeuten gegenüber zu entwickeln versucht.

2.7 Somatisierungsstörungen – Schmerz als Beziehungsinformation17 iStörungsbilderi Der Begriff Somatisierung wird für Beschwerdebilder verwendet, deren Symptombild verschiedenen körperlichen Erkrankungen ähnlich erscheint, aber nicht durch einen Organbefund erklärt werden kann. Bei langer Beschwerdedauer wird von einer Somatisierungsstörung gesprochen. Die ICD-10 unterscheidet dabei verschiedene Aspekte (siehe Tabelle 10). Der Begriff Somatisierungsstörungen wurde 1980 als möglichst ätiologiefreie und nichtdiskriminierende Symptombeschreibung in das DSM-II und 1991 in die ICD-10 eingeführt. Zu seinen diagnostischen Vorgängern gehören unter anderem die »funktionellen Beschwerden«, 17 Wir bedanken uns bei Dipl.-Psych. Lothar Eder, Mannheim, und bei Prof. Dr. Friedebert Kröger, Schwäbisch Hall, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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Tabelle 10: Somatisierungsstörungen in der ICD-10 F45.0

F45.1

F45.2

F45.3

F45.4

F45.8

F45.9

Somatisierungsstörung Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die wenigstens zwei Jahre bestehen. undifferenzierte Somatisierungsstörung: Anzahl der Symptome oder Dauer der Störung reichen nicht für eine vollständige Somatisierungsstörung aus. hypochondrische Störung: Beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer schweren körperlichen Krankheit zu leiden (ohne dass ein körperlicher Befund vorliegt). somatoforme autonome Funktionsstörung: Klagen über nur einen speziellen Funktionsbereich, der vegetativ innerviert ist, z. B. das kardiovaskuläre (»Herzneurose«), das respiratorische (»psychogene Hyperventilation«) oder das gastrointestinale System (»Magenneurose«). anhaltende somatoforme Schmerzstörung: an den meisten Tagen besteht ein schwerer, quälender, mindestens 6 Monate andauernder Schmerz. sonstige somatoforme Störungen: Störungen der Wahrnehmung, der Körperfunktion und des Krankheitsverhaltens klassifiziert werden, die nicht durch das vegetative Nervensystem vermittelt werden (Dysmenorrhoe, Dysphagie, Zähneknirschen) somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet

die hysterischen beziehungsweise die Konversionsstörungen, aber auch die von Richter und Beckmann (2004) beschriebene Herzneurose, die heutzutage als »somatoforme autonome Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems« (F45.30) diagnostiziert werden würde und differenzialdiagnostisch nicht immer leicht gegen eine Panikstörung abzugrenzen ist. Das Charakteristikum der somatoformen Störungen ist »die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome mit Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht bzw. nicht ausreichend körperlich begründbar sind« (Leitlinie Somatoforme Störungen, AWMF online, Nr. 051/2001). Anamnestisch finden sich häufig Zeichen einer frühen oder auch gegenwärtig vorhandenen de-

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pressiven Störung, Angst- oder Persönlichkeitsstörung (Komorbidität), doch oft lassen sich auch neben den körperlichen Beschwerden keine psychischen Auffälligkeiten feststellen (AWMF-Leitlinie Somatoforme Störungen 2001). Während je nach Strenge der definierten Einschlusskriterien vollständige Somatisierungsstörungen eher selten sind (Lebenszeitprävalenz 0,4 bis 0,7 %), wird die Prävalenz der signifikanten Überschreitung eines Beeinträchtigungsschwellenwerts in der erwachsenen Stadtbevölkerung auf 11,7 % angesetzt, in Allgemeinarztpraxen liegt die Punktprävalenz somatoformer Störungen bei 20 bis 40 % (alle Angaben s. Gündel et al. 2001). Damit ist dies eine wichtige und große Patientengruppe, die allerdings viel häufiger in der Körpermedizin auftaucht als bei Psychotherapeuten. Gesundheitsökonomisch bedeutsam ist, dass Patienten mit Somatisierungsstörungen medizinische Untersuchungen übermäßig oft (und oft ergebnislos) in Anspruch nehmen, ärztliche Diagnosen anzweifeln und oft ihre Behandler wechseln. Im Umgang mit dem eigenen Körper ist ein Schonverhalten und eine unangemessene Aufmerksamkeitsfokussierung auf die körperlichen Beschwerden charakteristisch, sozial oft ein Rückzug von anderen. Aus Sicht des Patienten können die »großen« körperlichen Beschwerden nur durch eine »große« ärztliche Maßnahme behoben werden, also gegebenenfalls durch invasives diagnostisches oder therapeutisches Vorgehen, Operationen oder starke Medikamente.

iBeziehungsmusteri Die Diskussion um das Verhältnis von Seele und Körper ist uralt. Wir wollen und können an dieser Stelle nicht über den Sinn einer Konstruktion dieser beiden Bereiche als getrennte Entitäten diskutieren. Es handelt sich um im populären wie im wissenschaftlichen Sprachgebrauch eingeführte Konzepte. Sie beschreiben als sprachliche Weisen der Grenzziehung Erfahrungsbereiche, die deutlich erkennbar für viele Menschen sinnhaft erlebt werden: »Dem Körper kann in der Erfahrung und Erzeugung von Wirklichkeit die Rolle der Mitautorenschaft zugeschrieben werden« (Eder 2006). Wie sieht die Konstruktion von Körper und Seele, diesen »Partnern auf Lebenszeit« (Eder 2006) aus, welche Beziehungs-

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muster haben sich im Bereich der Familie (Kommunikation) und innerhalb der Person (Bewusstsein) entwickelt, also was für eine Beziehung hat sie zu sich selbst? Familienmuster Nach Scheib und Speck (2002, S. 361) belegen viele Studien einen Zusammenhang zwischen Erfahrungen in den Herkunftsfamilien und der Entwicklung somatoformer Störungen. Allerdings ist bislang noch keine Theorie in der Lage, alle Bedingungen in einem Gesamtkonzept zu erklären, zumal oft auch widersprüchliche Befunde nebeneinanderstehen. – Befunde einzelner Studien lassen vermuten, dass die familiäre Kohäsion niedriger eingeschätzt wird als in anderen Familien, dass häufiger von emotionaler Vernachlässigung und fehlendem Geborgenheitsgefühl gesprochen wird (Scheib u. Speck 2002). Häufig finden sich aber auch im Gegenteil eine besonders hohe Familienkohäsion und eine übermäßige Involvierung bezogen auf wechselseitige Fürsorge (etwa bei Minuchin et al. 1981). – Immer wieder wird beschrieben, dass die Familien weniger in der Lage sind, sich flexibel an Veränderungen anzupassen, vielmehr scheinen die Rollen recht festgeschrieben zu sein, sodass Krankheit bei kritischen Punkten des Familienlebenszyklus dafür sorgen kann, dass sich die Dinge nicht zu schnell verändern – weil Fürsorge und Rücksicht gefragt sind und eingefordert werden (Minuchin et al. 1981). – Die Patienten sind oft mit ebenfalls somatisierenden Familienmitgliedern aufgewachsen. Die Eltern zeigten fürsorgliches Verhalten bei Krankheit des Kindes und forderndes Verhalten, wenn es gesund ist. Die Ermunterung zu kontinuierlicher Körperinspektion und Krankheitszeicheninterpretation, Aufmerksamkeit gegenüber körperlicher, Ignorieren emotionaler Befindlichkeit, Auftreten lebensbedrohlicher Krankheiten in der Familie, all dies scheint in diesen Familien häufig vorzukommen. So lernen Kinder, Bedürfnisse und Probleme vorwiegend körperlich zu empfinden und auszudrücken. – Sexueller Missbrauch und körperliche Misshandlung als besonders bedrohliche Körpererlebnisse stehen empirisch in Zusammenhang mit schwerem somatisierendem Verhalten, insbesondere mit somatoformen Schmerzstörungen. Die Störung kann dann als Versuch ver-

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standen werden, eine mangelnde Fähigkeit zu kompensieren, die eigenen Emotionen zu modulieren, auch wenn die Bedeutung von Missbrauch nicht überschätzt werden sollte: Missbrauch ist eher eine mögliche Indikatorvariable für eine stark belastete Kindheit, die durch frühe Bindungsstörungen gekennzeichnet ist, in der es daneben anhaltende familiäre, teils handgreifliche Auseinandersetzungen und emotionale Vernachlässigungen gibt. All diese Kindheitsbelastungsfaktoren erhöhen insgesamt die Stressvulnerabilität (siehe hierzu auch den Abschnitt über PTB). Die Frage, welche Ursachenattribution die Familienmitglieder vornehmen, ist jedenfalls für die Familie oder das Paar hochbedeutsam (Wälte u. Kröger 2002). Hier können zwei entgegengesetzte Beziehungsmuster Somatisierungsstörungen in unterschiedlicher Weise begünstigen: Wenn die Familienmitglieder von einer noch unentdeckten körperlichen Grunderkrankung ausgehen oder die Beschwerden als legitime Stressreaktionen akzeptieren, dann ist eine gemeinsame sorgenvolle Konzentration rund um die Beschwerden wahrscheinlich, gegebenenfalls eine kollektive Aufmerksamkeitsfokussierung, wie sie schon von Richter (1972) mit der Metapher der Sanatoriumsfamilie beschrieben wurde. Wird hingegen das leidende Mitglied als Simulant angesehen, wird sein vermeintlicher Krankheitsgewinn einer kollektiven Kritik unterzogen, werden seine Klagen nicht ertragen. Kommt vielleicht noch ein Wettbewerb zwischen mehreren Familienmitgliedern auf, wer von ihnen kränker sei, so sind ärgerliche, wütende Rückzugsreaktionen, längerfristig auch eine verstärkte Flucht in Körperbeschwerden hinein wahrscheinlicher. In der klinischen Praxis lässt sich oft beobachten, dass Familien mit schwer somatisierenden Angehörigen wenig oder keine Sprache für emotionale Erfahrungen entwickelt haben, »schlechte Gefühle« daher eher als körperliche Missempfindungen ausdrücken (McDaniel et al. 1997, S. 170). Wenn zwei Partner gemeinsam »somatisieren«, schenkt ihnen dies eine gemeinsame Sprache für alles Unbehagliche. Andere somatisierende Erwachsene heiraten fürsorgliche Partner, die selbst keine Symptome zeigen, aber auch bevorzugt über physische Erlebnisse sprechen. Wie McDaniel et al. (1997, S. 194f.) betonen, bringt der somatisierende Patient häufig die Ängste der ganzen Familie vor dem Sterben, unbestimmte Lebensängste oder ein Unbehagen gegenüber jeder Art

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von Ungewissheit zum Ausdruck. Damit sind auch Therapeutinnen und Therapeuten mit existenziellen Themen konfrontiert und die Frage, wie sie diesen gegenüberstehen, kann bedeutsam sein (Häuser u. Klein 2002).

iEntstörungeni Gestaltung der Behandlungsbeziehung Die Somatisierungsstörung wird auch als »blinder Fleck« der Medizin bezeichnet, da viele Mediziner die indirekte Kommunikation über das somatisierende Verhalten nicht verstehen und auf die Forderungen der Patienten nach Intensivierung der organmedizinischen Suchstrategien nach einiger Zeit ärgerlich zu reagieren beginnen. So kann sich eine somatisch fixierte Arzt-Patienten-Interaktion ergeben, die sich zwischen Ärzten und Patienten in Form eines Kreislaufs aufschaukeln kann, wie ihn McDaniel et al. (1997, S. 175 bzw. 2005, S. 333) beschreiben (siehe Abbildung 2).

Der Arzt zieht sich zurück oder überweist den Patienten an einen Spezialisten. Patient beginnt, von Arzt zu Arzt zu wechseln.

Patient fühlt sich missverstanden und fordert weitere Diagnostik, der Arzt wird ärgerlich.

Arzt fragt nach psychosozialem »Stress«. Patient verneint und wird ärgerlich.

Kurzfristige Erleichterung

Der Patient verspürt Symptome und bittet um Hilfe.

Der Arzt konzentriert sich auf die körperlichen Beschwerden, veranlasst diagnostische Untersuchungen, verschreibt Medikamente.

Der Patient berichtet von wenig/keiner Besserung, in den Untersuchungen keine pathologischen Befunde, Arzt erleichtert, Patient verwirrt.

Abbildung 2: Somatisch fixierte Arzt-Patienten-Interaktion

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Ankoppeln an die Weltsicht der Patienten Gerade die Anfangsphase der Behandlung kann auf Seiten der Therapeutin viel Geduld erfordern. Man kann leicht in einen Machtkampf verwickelt werden, ob die Symptome des Patienten nun organischer Natur sind oder nicht. Die therapeutische Herausforderung liegt darin, langsam und allmählich eine neue Sprache einzuführen, in der neben Körperempfindungen auch Affekte ihren Platz bekommen. Wie Ruf (2005, S. 230f.) schreibt, kann es sinnvoll sein, dass die Therapeutin sich als »Anwältin der Schonung« versteht und damit die körperlichen Symptome als zunächst sinnhafte Konstruktion anerkennt. Dies kann es dem Patienten erleichtern, die andere Seite zu besetzen. Psychoedukative Elemente Neurobiologische Erklärungsmodelle können außerordentlich hilfreich für die Akzeptanz einer auch emotionalen Sprache sein. Für die große Gruppe der chronischen somatoformen Schmerzstörungen bietet die neurobiologische Forschung ein plausibles Erklärungsmodell an (zur Übersicht Seemann 2005). Die »Gate-Control«-Theorie von Melzack und Wall (zit. nach Seemann 2005) besagt, vereinfacht gesprochen, dass im Rückenmark eine Art Tormechanismus existiert, der das Hereinlassen peripherer Schmerzimpulse auf Nervenbahnen des Rückenmarks reguliert. Ist das Tor offen, können die Schmerzimpulse ungehindert passieren. Bei verschlossenem Tor wird deren Weiterleitung zum Gehirn gehindert. Dieser Tormechanismus wird unter anderem auch psychologisch reguliert. Angst und depressive Stimmungslagen öffnen das Tor, was zu einem intensivierten Schmerzerleben führt. Lange anhaltende Schmerzreize erhöhen langfristig die Übertragungsstärke der Synapsen, die Nervenzellen reagieren überempfindlich auf Reize und feuern spontan weiter, auch wenn die ursprüngliche Schmerzquelle nicht mehr existiert. Es entwickelt sich ein Schmerzgedächtnis, die Schmerzwahrnehmung koppelt sich beim chronifizierten Schmerzzustand von aktuellen externen Reizen ab. Der chronische Schmerz wird im Gegensatz zum akuten Schmerz zunehmend von der Schmerzerinnerung angeregt und aufrechterhalten. Ein solches Erklärungsmodell kann Patienten und Angehörigen dabei helfen zu entscheiden, welche Verhaltensweisen bei akutem Schmerz sinnvoller sind (z. B. Schonung) und welche bei chronischem Schmerz (z. B. Aktivierung trotz Schmerzen).

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Kooperative Arbeitsformen Aus einer systemischen Perspektive heraus ist die Frage bedeutsam, wie die Beziehung zwischen der Erkrankung und der Wirklichkeitskonstruktion der Familie oder des Paares sowie der in einem Problemsystem interagierenden Personen wie Psychotherapeuten, Ärzten und Heilhilfspersonal aussieht. Dabei wird als eine entscheidende Frage angesehen, wie die Körperbeschwerden von den anderen Mitgliedern des jeweiligen Kontextes gesehen werden (Perlmutter 1995, S. 164). Die Therapie somatoformer Störungen erfordert die Überwindung der Körper-SeeleSpaltung in der Patientenversorgung. Damit tut sich eine systemische Familienmedizin leichter als viele andere psychotherapeutische Schulen (McDaniel et al. 1997, 2005; Altmeyer u. Kröger 2003; Kröger u. Hendrischke 2002, von Schlippe u. Theiling 2005; siehe auch Kapitel 4). Oberstes Prinzip ist die Verbindung aller Personen, die eine bedeutsame Perspektive auf das Geschehen haben (Watson u. McDaniel 2000): – Biopsychosoziale Integration: Psychotherapeuten sollten sich intensiv mit dem Körpergeschehen der Patienten beschäftigen, so wie umgekehrt Somatiker mit ihrem psychischen und sozialen System; – Integration der Perspektiven (das im Englischen hier benutzte Wort »collaboration« ist in unserem Sprachraum zu negativ besetzt): Interesse für und Ankoppeln an die Sichtweisen von Patienten, Angehörigen und somatischen Ärzten – insbesondere inwiefern diese sich von der Sichtweise des Psychotherapeuten unterscheiden –, Entwickeln eines gemeinsamen Rahmens, in dem akzeptiert wird, dass jeder mit seiner Sichtweise einen wichtigen Beitrag zur Gesamtbehandlung leistet; – Von »Entweder-oder«- zu »Sowohl-als-auch«-Haltungen: Jedes Symptom ist als sowohl körperlich als auch psychisch (und sozial) zu verstehen. Faktisch erfordert dies von Psychotherapeuten viel Wissen über Körpermedizin, über Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen, über ärztliche und pflegerische Behandlungstraditionen – sowie viel Respekt und wenig psychotherapeutisches Missionarstum gegenüber den diskrepanten Krankheits- und Behandlungstheorien der anderen beteiligten Parteien. Organisatorisch ist es günstig, wenn die Psychotherapeuten wenigstens teilweise direkt im Krankenhaus oder in der Arztpraxis auch

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räumlich präsent sind und als Teil eines zusammenarbeitenden Behandlungsteams erlebt werden. Zweites Prinzip ist ein langsameres, behutsameres Vorgehen und eine längerfristigere Verfügbarkeit für die Patienten als bei anderen Störungen. Die Empfehlungen mehrerer Autoren (z. B. Watson u. McDaniel 2000; Hess 2002; Scheib u. Speck 2002; Wachter 2003) lassen sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen: 1. Akzeptiere die erlebte Realität des Problems und die subjektiven Theorien des Patienten: Erkenne an, dass der Patient diese Beschwerden wirklich hat und sie nicht einfach abstellen kann. 2. Frage aktiv und häufig nach den körperlichen Beschwerden – gegebenenfalls um deren Verlauf auf Flipcharts einzutragen. 3. Beteilige die Familienmitglieder: Frage sie, was sie als Ursache der Beschwerden und als sinnvolle Behandlungswege ansehen. Insbesondere bei starken Diskrepanzen der Ursachenattributionen in der Familie (zwischen »schwer krank« und »Simulant«) kann es bedeutsam sein, mit der Familie im Gespräch zu bleiben und gerade die Diskrepanz als Notwendigkeit für den Dialog herauszustellen. Optimal ist es, eine von allen Seiten akzeptierte Diagnose zu entwickeln (McDaniel et al. 2005). 4. Sehr lohnend ist ein medizinisch akzentuiertes Genogramm, in dem nach dem allgemeinen Gesundheitszustand, schweren Krankheiten und Verletzungen aller Mitglieder sowie nach Todesursachen gefragt wird. Hatte schon jemand in der Familie Beschwerden, die den jetzigen ähnelten? Wie wird über Krankheiten in dieser Familie gesprochen, wie werden sie behandelt? In welcher Weise werden Gesundheitsdienstleister in Anspruch genommen? Sehr viel später, wenn Vertrauen aufgebaut ist, kann anhand des Genogramms auch nach schwierigen Themen gefragt werden: nach Missbrauch oder Vernachlässigung in der Kindheit, nach nicht verarbeiteter Trauer, nach Sucht- oder Suiziderfahrungen etc. 5. Arbeite eng mit überweisenden Medizinern und Pflegekräften zusammen: Führe das Erstgespräch gemeinsam mit der Überweiserin, am besten in deren Klinik oder Praxis, oder mache zumindest telefonisch eine Fallbesprechung. Bitte die Mediziner, bei weiter bestehenden Zweifeln an einer psychologischen Mitbehandlung des Patienten gegenüber die Überweisung weiterhin offensiv zu vertreten

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oder rufe eine interdisziplinäre Fallkonferenz zusammen (Häuser u. Herzog 2002). Überweise auch aus einer psychologisch orientierten Behandlung kurzfristig an den Haus- oder Facharzt zur Abklärung, wenn die Patienten über neue oder veränderte Beschwerden klagen. Bleibe mit dem Arzt in Kontakt (z. B. durch E-Mail, die als Kopie auch an die Patienten gehen), von dem die Patienten gekommen sind oder schicke sie am Therapieende wieder zu ihm. Fördere Neugier: Überlege mit der Patientin Möglichkeiten, statt sie (nur) zu informieren oder aufzuklären. Wenn viel Frustration über die Krankheit oder das Medizinsystem angestaut ist: Höre erst einmal, eventuell für längere Zeit, empathisch und nichtdefensiv ihre Klagen an. Verzichte zu Behandlungsbeginn auf eine emotionale Sprache, auf Umdeutungen und tiefer gehendes Erkunden der Gefühle des Patienten. Die Verwendung einer medizinischen Sprache und entsprechender Interventionen kann sogar ein Zeichen guten »Joinings« sein. Verbinde (erst langsam und allmählich) das Somatische mit dem Psychischen: Entschlüssele mit Patient und Angehörigen, was die Symptome dem Patienten signalisieren könnten. Ermutige sie, ein Symptomtagebuch zu führen, das Tag für Tag links die Beschwerden und rechts die Lebensumstände auflistet. Verwende dabei Metaphern, die zugleich körperlich wie seelisch sind (Griffith u. Griffith 1994), wie etwa »Stress«, »Irritation«, »Druck«, »Verletzung«, »Kratzer«, »Ausheilen«, »Erschöpfung/Energie«, »Spannung/Entspannung«, »Gleichgewicht/Ungleichgewicht«. Nutze auch physikalische Interventionen, nicht nur psychologische: Schlaf, Diät, Bewegung, Entspannung, warme Bäder etc. Beteilige die Angehörigen bei deren Durchführung. Konsultiere die Ärzte, wenn unerwartete Beschwerdeveränderungen auftreten. Ertrage diagnostische Ungewissheit mit dem Patienten zusammen; rechne damit, dass die somatischen Diagnosen sich überraschend ändern können; rechne mit langsamen Behandlungsfortschritten; interessiere dich für verbessertes Funktionieren im Alltag, auch wenn die Symptome ungebessert bleiben. Rechne insbesondere in der Mitte der Behandlung mit Rückschlägen und mit Ermüdungserscheinungen in der Therapie. Versuche Rückschläge zu antizipieren und vorauszusagen – besonders, wenn bei

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einem Familienmitglied oder Freund des Patienten eine neue Diagnose gestellt wird, wenn ein ihm wichtiger Mensch stirbt, wenn starke Belastungen neu eintreten. Es kann helfen, ein »Rezept zum Krankwerden« zu erstellen, auf dem festgehalten wird, was die Patientin und jedes Familienmitglied tun müsste, um eine Rückkehr oder Verschlimmerung der Symptome zu erreichen. Hilfreich kann in dieser Phase auch die Vorstellung des Patienten und gegebenfalls seiner Familie in einer interdisziplinären Schmerzkonferenz sein (Seemann 2005). 11. Beende die Behandlung allmählich und schrittweise. Biete Kontakt mit dir auch dann an, wenn keine Symptome mehr da sind; bleibe über eventuell länger werdende Sitzungsabstände noch lange erreichbar, aber äußere deine Erwartung, dass die künftigen Sitzungen eher den Charakter einer Konsultation haben werden und nicht einer Fortsetzung der Therapie. Systemische Interventionen Bei der Behandlung von Somatisierungsstörungen lassen sich viele systemtherapeutische Methoden gut einsetzen. Stärker als im lösungsorientierten Vorgehen gewohnt, kann es angezeigt sein, bei diesen Patienten eine Klärungsperspektive einzunehmen und mit ihnen gemeinsam auf Entdeckungsreise zu gehen: »Warum reagiert mein Körper so, was will er mir eigentlich sagen?« Man hat es sozusagen mit einer »Paartherapie« zu tun: Wie stehen Psyche und Soma miteinander in Beziehung, wie könnte man sie symbolisch miteinander ins Gespräch bringen? »Wie kann ich meinen Körper wieder beginnen zu ›lesen‹, was muss ich tun/ lassen, damit meine Beschwerden weniger bzw. mehr werden?« (Eder 2006). Dabei kann wie bereits erwähnt ein Schmerz- oder Befindlichkeitstagebuch hilfreich sein, in das die Patienten ihre körperlichen Beschwerden sowie wesentliche Alltagsereignisse und emotionale Reaktionen eintragen und so allmählich beides zu verknüpfen beginnen. Die Frage nach Ausnahmen (»Wann waren die Beschwerden letzte Woche etwas schwächer? Was war da anders?«) kann ebenso wie die Frage nach bereits gelegentlich erfolgreichen Lösungen (»Was hat bei der Symptomlinderung schon gelegentlich einmal geholfen?«) dabei helfen, im Einheitsgrau der Beschwerden Inseln kleiner Veränderungsmöglichkeiten zu identifizieren. Zirkuläre Fragen können die gemein-

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same oder unterschiedliche Betroffenheit durch die Beschwerden gut verdeutlichen: »Neben dem Patienten selbst – wer ist von der Krankheit derzeit am stärksten belastet?« »Wem berichtet er/sie am ehesten von den Beschwerden? Wie reagiert die-/derjenige darauf?« »Wer ist eher zuversichtlich und wer eher entmutigt über die Behandlungschancen?« Schließlich eignen sich Körperbeschwerden besonders gut zur Externalisierung – der Schmerz als Herausforderer der Familie kann zu gemeinsamem Handeln zusammenschmieden: Wozu lädt er die Familie ein? Wann hat wer zum letzten Mal einer Einladung des Schmerzes erfolgreich widerstanden und was wurde dadurch möglich? Auch das Reflektierende Team kann bei der Behandlung von somatoformen Störungen gut genutzt werden (Hargens u. von Schlippe 1998). Dies sei anhand einer kurzen Vignette aus Griffith et al. 1992 verdeutlicht (Übersetzg.: die Verf.): Therapeut Eins: »Ich frage mich, wenn sie den Töchtern so viel über ihre Schmerzen erzählt, ob dies einfach ein natürlicher Ausdruck ist oder ob sie ihnen damit auch sagt, dass sie sich um sie kümmern und ihr nahe bleiben mögen.« Therapeut Zwei: »Ich glaube, sie hat starke Schmerzen und ist davon überzeugt, dass es irgendeine körperliche Erkrankung ist; daher versucht sie alles, um diese Krankheit herauszufinden.« Therapeut Drei: »Ich überlege, ob sie engere Beziehungen mit ihrer Familie haben könnte, wenn sie weniger über den Schmerz spräche. Dann hätte sie immer noch keine Klarheit über die zugrunde liegende Erkrankung, aber wenigstens hätte sie bessere Beziehungen zu ihren Familienmitgliedern.« Therapeut Vier: »Das ist eine gute Idee. Erst dachte ich, sie stößt durch ihre Klagen ihre Familie von sich weg, aber jetzt fange ich an, das anders zu sehen. Wie könnte sie einiges von ihrem Leiden mitteilen, sodass die Familie mit ihr eng verbunden bleiben kann?«

Ein Fallbeispiel soll diesen Abschnitt beschließen: Die Patientin kommt wegen einer akuten Herzphobie in die Therapie. Die Symptome haben sich nach zwölf Gesprächen innerhalb eines Jahres merklich gebessert. Im Drehen und Wenden der Betrachtung sind die Herzschmerzen für sie nun zu einem Aufforderungssignal geworden. Sie zeigen ihr, dass sie sich zu wenig abgegrenzt hat: nicht nur von Forderungen ihrer Umwelt, sondern in der Hauptsache von den Forderungen an sich selbst. Ihr Leben sieht sie jetzt als einen weithin gelungenen Versuch, durch Leistung aufzufallen, sich zu bewähren und sich selbst Stabilität zu geben. Ihr Herz weist nun in eine andere Richtung. Es stellt ihr gewissermaßen den anderen Pol zur Seite: das Fürsich-Sorgen, das Dürfen statt des Müssens, das Zulassen ihrer Bedürfnisse statt des Beiseiteschiebens und das Recht, nicht alle Anforderungen zu erfüllen. In vielen Schritten hat die Patientin dies ausprobiert und ihre positiven Erfahrungen gemacht. Nun sitzt sie mir in einem weiteren Gespräch gegenüber und spricht über ihre Schwierigkeiten, diese Einsichten und Handlungsschritte vollständig zu integrieren. Manchmal habe sie Angst, dass ihr das wieder verloren gehen könnte. Es fehle ihr da an Selbstbewusstsein oder Selbstvertrauen oder wie immer man das nenne. Da sollten wir noch etwas machen. Was denn ihr Wunsch sei für die Sitzung, frage ich sie. Es sei ja noch

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immer etwas dabei herausgekommen, meint die Patientin. Scherzhaft wende ich ein, Selbstbewusstsein gebe es nicht in der Apotheke zu kaufen. Sie lacht. Das wisse sie, doch möglicherweise könnten wir da noch etwas tun, etwas ergänzen, so ein, zwei Stunden noch ein Stück dazutun. Frau M. ist 40 Jahre alt und Architektin. Architekturmetaphern bieten sich von daher an. Sie denke wohl an so eine Art Anbau, merke ich an. Ja genau, erwidert Frau M. und muss schon wieder lachen. Ja, das sei so ihr Denken gewesen, man baut halt noch so einen Seelengebäudeteil an, eine Extrakammer mit dem Selbstbewusstsein, und dann sei die Sache perfekt. Ich spreche mit Frau M. über die Unterschiede von Gebäude- und Seelenarchitekturen. Ob das Beispiel mit der Regenrinne wirklich treffend ist, weiß ich nicht, aber es erfüllt seinen Zweck. Sie solle sich eine kaputte Regenrinne vorstellen. Man könne sie vom Dachansatz herunternehmen und ein wenig an ihr herumdengeln. Wenn sie aber schon völlig verrostet und verrottet sei, könne man nicht mehr viel an ihr machen. Dann ist es besser, eine neue anzubringen. Seelen aber seien keine Regenrinnen. Und auch keine Häuser. Irgendwie organisierten Seelen sich selbst, sie sorgen auf geheimnisvolle Weise, zwar angestoßen von außen, aber doch durch eigene Kraft für ihren eigenen Umbau. Und sie, Frau M., selbst sei ja das beste Beispiel dafür. Sei es ihr und ihrer Seele nicht hervorragend gelungen, den Teil in ihrem Inneren, der für Dürfen, für Wollen, für die Selbstfürsorge steht, zu entwickeln? Frau M. ist nachdenklich. Eine Weile sagt sie nichts, schaut vor sich hin und macht Bewegungen mit ihrem Kopf. Und dann bricht es fast aus ihr heraus. Dann sei sie ja jahrelang auf dem falschen Dampfer gewesen. Immer habe sie gedacht, sie habe in ihrer Kindheit einen Schaden an ihrer Seele bekommen und mit dem müsse sie halt jetzt durchs Leben gehen. Und der Therapeut, bei dem sie sieben Jahre lang gewesen sei (im Übrigen eine für sie sehr unterstützende Therapie), habe ihr dies auch wiederholt gesagt. Auflösen werde dieser Schaden sich nie. Richtig wütend sei sie darüber jetzt, da ihr klar werde, dass ihre Seele ja keine Regenrinne, kein Werkstück sei. Verarscht komme sie sich vor. Da ich Kollegenschelte nicht sehr schätze, hole ich die Kuh vom Eis und sage Frau M., es gebe eben unterschiedliche Formen der Betrachtung und ich selbst sei auch immer wieder erstaunt über diese Regenrinnensichtweise der Seele. Zudem sei ich sicher, da sie dies mehrfach beschrieben habe, dass die frühere Therapie zur damaligen Zeit sehr hilfreich gewesen sei. Sie bestätigt dies. Dann sieht sie mich an und sagt: »Dann brauche ich jetzt ja keine Angst mehr zu haben, dass das wiederkommt! Dann kann ich jetzt ja sicher sein. Das ist ein tolles Gefühl!« (Therapeut: Lothar Eder).

2.8 Essstörungen: Anorexie, Bulimie und Adipositas – Wenn die Liebe nicht mehr durch den Magen geht18 Unter den Essstörungen (F50) sind in der ICD-10 die Anorexie (F50.0/50.1) und die Bulimie (F50.2/50.3) besonders wichtig. Hohe Bedeutsamkeit hat auch die Adipositas, die aber als solche nicht als Essstörung, sondern als reine Gewichtsdefinition verstanden wird und deren 18 Wir bedanken uns bei PD Dr. Günter Reich, Göttingen, für seine Mitwirkung an diesem Kapitel.

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Essstörungen: Anorexie, Bulimie und Adipositas

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Tabelle 11: Essstörungen in der ICD-10 F50 F50.0 F50.1 F50.2 F50.3 F50.4 F50.5 F50.8 F50.9

Essstörungen Anorexia nervosa atypische Anorexia nervosa Bulimia nervosa atypische Bulimia nervosa Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen Erbrechen bei psychischen Störungen sonstige Essstörungen nicht näher bezeichnete Essstörung

Krankheitsvarianten unter den endokrinen, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten geführt werden (E65 bis E68). Die Verbreitung der Essstörungen ist sehr kulturabhängig. In Kulturen mit Lebensmittelmangel tauchen sie (fast) nicht auf; Lebensmittelüberschuss und die obsessive Beschäftigung mit Essen sind ihre materielle Grundvoraussetzung. Essen, Fasten und Essstörungen sind intensiv mit der Regulierung sozialer Beziehungen verbunden (Reich 2003a, S. 1ff.). Beispiele sind: – Fasten als politisches Druckmittel (z. B. bei Ghandi) – Essen als wesentliches Medium von Entspannung, Regression, Lust – Essen als Instrument von Macht und der Kontrolle: Wer sagt, wann es genug ist und was wem schmeckt oder zu schmecken hat? – Essen als Ausdruck von Werten und Idealen: Wie werden Bescheidenheit, Selbstdisziplin und Gier bewertet? – Essen als Ausdruck von Liebe, Sympathie oder Abneigung und als Loyalitätsfrage: »Welchen Kuchen magst du lieber, den von deiner Mutter oder den von mir?« Um den Verzicht, die Selbstdisziplin, die ersehnte Schlankheit und Attraktivität kann zwischen Menschen heftig rivalisiert werden, wissenschaftliche Erkenntnisse, Halbwahrheiten und Mythen verbinden sich in der innerfamiliären Kommunikation zu schwer zu entwirrenden »Kommunikationsknäueln« (Pudel 2001). Essstörungen können durch Konflikte auf allen angesprochenen Ebenen gefördert werden. Systemische Familientherapeuten haben sich zwischen 1975 und 1990 besonders intensiv mit der Anorexie beschäftigt (Minuchin et al. 1981; Petzold 1979; Weber u. Stierlin 1988), später auch mit der Bulimie

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(Gröne 1995; Schmidt 1989). Die Adipositas ist von ihnen bislang in größerem Umfang erst in den USA »entdeckt« worden, im deutschen Sprachraum von von Hippel und Pape (2001). Eine Übersicht über vergleichende Familiendynamik-Forschungen bei Anorexie und Bulimie und ein Familienmodell zur Entwicklung von Essstörungen haben Günter Reich und Kollegen vorgelegt (Reich u. Cierpka 2001; Reich u. Buss 2002; Reich 2003a, 2003b, 2005a).

2.8.1

Anorexie

iStörungsbilderi Anorexie (griech. an-orexis: kein Hunger, ohne Appetit) bezeichnet einen durch verschiedene Hungerstrategien selbst herbeigeführten Zustand der Unterernährung. In der ICD-10 wird unter Ziffer F50 bei einem Körpergewicht von 15 % und mehr unter dem Erwartungsgewicht von Anorexie gesprochen. Die Gewichtsreduktion wird durch Fasten, selbstinduziertes Erbrechen, Abführen, übertriebene körperliche Aktivität oder den Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika herbeigeführt. Oft sind eine übertriebene Angst vor einem dicken Körper oder schlaffen Körperformen und eine häufige und intensive Beschäftigung mit dem eigenen Gewicht zu beobachten. Bei Frauen liegt eine endokrine Störung mit Amenorrhoe (ausbleibende Monatsblutung) für mindestens drei aufeinanderfolgende Zyklen vor. Subtypen sind eine nur durch Fasten induzierte restriktive (oder asketische) Form der Anorexie und eine bulimische Form, die durch kompensatorische Maßnahmen nach Essanfällen, wie selbstinduziertes Erbrechen oder den Gebrauch von Abführmitteln, charakterisiert ist. Besonders betont und hervorgehoben werden soll die Verleugnung: Diese kann sich sowohl auf den Befund des Untergewichtes selbst als auch auf die damit verbundene Gefährdung beziehen. Symptome körperlicher Schwäche werden oft nicht wahrgenommen, im Gegenteil erleben sich viele Magersüchtige als aktiv und voller Energie. Trotz des Untergewichts ist eine starke Angst, dick zu werden, zu beobachten.

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Verläufe Die Anorexie gehört noch immer zu den folgenreichsten und gefährlichsten Erkrankungen adoleszenter Mädchen und junger Frauen: Während drei Viertel der Patientinnen gesunden oder sich langfristig bessern, bestimmen chronische Verläufe mit somatischen Komplikationen und Todesfällen den Verlauf des verbleibenden Viertels. So ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Magersuchtserkrankung zu sterben (an Suizid oder an der Mangelernährung) um das sechs- bis 13fache gegenüber der Normalbevölkerung erhöht (Herzog 2002), es bleibt ein Krankheitsbild von hoher Mortalität und offener Prognose (Herzog 2004). Die Auftretensraten der Anorexie sind in den letzten Jahren nicht gestiegen, anders als kulturkritische Überlegungen dies vielleicht hätten erwarten lassen. Man findet eine Inzidenz von 19 neu erkrankten Frauen beziehungsweise zwei Männern pro 100.000 Einwohner und Jahr, bei Mädchen zwischen 13 und 19 Jahren liegt die Rate bei 51 Neuerkrankungen (Herzog 2004).

iBeziehungsmusteri Wenngleich zweifelsfrei eine einheitliche »Verursachung« von Magersucht nicht aufzeigbar ist (Herzog 2002, S. 378) und auch aufrechterhaltende Faktoren nur zu einem Teil empirisch abgesichert sind, somit die Familie des magersüchtigen Mädchens weder schuld an der Magersucht noch damit schon dysfunktional ist, so gibt es doch sehr differenzierte Untersuchungen zur familiären Weitergabe von Essgewohnheiten und von Einstellungen zu Aussehen, Gewicht oder Körper, darunter auch wenige prospektive Studien (vgl. Reich 2005a, 2005b; Reich u. Buss 2002). Je mehr dieser Einflüsse zusammenkommen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, eine Essstörung zu entwickeln. Und umgekehrt: Je mehr Möglichkeiten bestehen, mit der Familie Antworten auf die Frage zu entwickeln, wie existenzielle Themen wie Autonomie, Ablösung von den Eltern und die Entwicklung einer sicheren Geschlechtsidentität auch ohne Hungern bewältigt werden können, wie also diese Problembeschreibungen in Lösungspotentiale umgekehrt werden können, desto besser ist die Prognose. Die Erkrankung setzt, sobald sie lebensbedrohlich wird, alle Famili-

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enmitglieder unter hohe emotionale Anspannung, vor allem die Eltern. Diese hohe Anspannung kann manche kritische Muster in der Familie überdeutlich und symptomverstärkend zum Vorschein bringen. Wenn beispielsweise einmal ein Muster etabliert ist, in dem die Weigerung zu essen für das Mädchen mit Autonomie assoziiert ist, für die Eltern aber ein bedrohliches Alarmsignal darstellt, dann kann der Teufelskreis so aussehen, dass die Eltern versuchen, durch Drohungen, Versprechungen und Predigen das Mädchen zum Essen zu bewegen. Je weniger dieses isst, desto mehr verstärken die Eltern ihr Verhalten im Sinne einer Lösung erster Ordnung. Da die Sorge um das Leben des Kindes damit assoziiert ist, fällt es sehr schwer, das Muster zu verändern. Vielmehr finden sich oft bei den Eltern sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, wie mit dem problematischen Essverhalten umgegangen werden sollte, sodass sie sich unter hohem Stress oft noch gegenseitig boykottieren. Dieses Muster sollte nicht ursächlich interpretiert werden! Frühe Beschreibungen familiärer Dynamik bei Magersucht stammen von der Gruppe um Minuchin von der Philadelphia Child Guidance Clinic. Minuchin et al. (1981) fassen ihre Beobachtungen unter fünf Gesichtspunkten zusammen. Keines der Muster genügt für sich genommen, um Symptome verstärken oder gar hervorrufen zu können; die Gesamtheit der Muster fördert aber Somatisierung. Basis für die Erkrankung bleibt die spezifische Prädisposition des »verletzlichen Kindes«. Die Muster sind voneinander nicht unabhängig, sondern überschneiden sich. 1. Verstrickung: In einer verstrickten Familie mit einem extrem hohen Maß an Nähe und Intensität der Interaktionen wirken sich Veränderungen des Einzelnen oder zwischen zweien sofort auf das ganze System aus: Gespräche zwischen zwei Personen werden zum Beispiel schnell durch Dritte unterbrochen. Die interpersonalen Grenzen sind unklar und leicht zu überschreiten, es gibt nur offene Türen. So können die Subsysteme (Eltern untereinander, Geschwister untereinander) wie auch das Individuum als klar abgrenzbare persönliche Einheit zuweilen im Familiensystem verloren gehen. Eindrücklich beschreiben von Schlippe und Matthaei (1986) eine Familie, deren Mitglieder auf die Aufforderung, an der Tafel einmal den Lebensraum der Familie zu skizzieren, alle Familienmitglieder ihre Namen übereinander schrieben. Zum Schluss zog die jüngste Tochter noch eine Linie um die Familie herum, sodass

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Abbildung 3: Verstrickung

der große Raum der Tafel – symbolisch der Bewegungsspielraum der einzelnen Familienmitglieder – nur zu etwa 5 % genutzt wurde (Abbildung 3). 2. Überfürsorglichkeit: Die einzelnen Familienmitglieder zeigen ein übermäßiges Interesse aneinander, mischen sich in die Angelegenheiten der anderen (nicht nur der Patientin) ein. Fürsorge und Schutz für alle von allen werden ständig auf den Plan gerufen. Minuchin (mündliche Mitteilung) beschrieb dies einmal metaphorisch mit dem Satz: »Einer niest und ein großes Flattern von Taschentüchern beginnt.« Diese Haltung beschränkt Autonomie und Kompetenzentfaltung bei den Kindern sowie Aktivitäten außerhalb der Familie. 3. Starrheit: Wenn eine Familie ihre bisherigen Regeln nicht in einer situationsadäquaten Weise abändern kann, erlebt sie sich entwicklungsbedingten oder von außen herangetragenen Veränderungen eher ausgeliefert. Diese werden mit Lösungsversuchen erster Ordnung beantwortet, wo ein qualitativer Sprung der Regeländerung (eine sogenannte Lösung zweiter Ordnung) erforderlich wäre. 4. Konfliktvermeidung: Minuchin erklärt durch die bisher beschriebenen Muster, dass diese Familien in der Regel eine sehr niedrige Konfliktschwelle haben, das heißt ständig die Gefahr heftiger Zusammenstöße besteht. Gewöhnlich werden harte Realitätskonstruktionen, etwa strenge religiöse oder moralische Ansichten, gebildet, die Konflikte vorübergehend vermeiden helfen. So bleiben sie ungelöst virulent und beanspruchen viel Konfliktvermeidungsenergie. Eine Variante von Konflikt-

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vermeidung kann auch darin bestehen, dass Meinungsverschiedenheiten zwar geäußert, allerdings nicht gelöst werden, indem Sachverhalte zerredet werden, Mitglieder einander ständig unterbrechen, ihre Positionen wechseln oder vom Thema ablenken. 5. Umleitung des Konflikts: Zum bisher Beschriebenen muss hinzukommen, dass das Hungern des Kindes als Beziehungsregulator meist in einen elterlichen/ehelichen Konflikt einbezogen wird. Drei Weisen dieser Konfliktumleitung werden beschrieben: – Triangulation: Das hungernde Kind kann sich nicht äußern, ohne gegen einen Elternteil für den anderen Stellung zu beziehen. – Koalition: Das hungernde Kind geht eine feste Koalition mit einem Elternteil gegen den anderen Partner ein. – Konfliktumleitung: Beide Eltern sind scheinbar geeint in der Sorge um das kranke Kind oder der Kritik an ihm. Ein Beispiel für eine feste Form der Koalition (von Schlippe u. Matthaei 1986): In einer Familie mit drei Töchtern, die älteste ist magersüchtig, stellt die mittlere Tochter eine Familienskulptur. Sie positioniert Vater und Patientin liegend auf dem Boden, die Mutter auf einem Stuhl in etwa zwei Metern Abstand, sich und die Schwester auf die andere Seite von Vater und Patientin, ebenfalls auf Stühlen. Der Mutter wird in diesem Bild ihre Einsamkeit bewusst und sie beginnt zu weinen. Thp.: »Was brauchen Sie jetzt?« Mu: »Vielleicht dass mich jemand auf den Schoß nimmt!« Thp.: »Wer könnte das sein?« Mu: »Ich weiß nicht, ich glaub’ mein Mann!« Thp.: »Fragen Sie ihn doch mal!« Mu: »Ich trau mich nicht!« Thp. zum Vater: »Was sagen Sie dazu?« Va: »Oh, ich fühle mich in dieser Position sehr wohl. Ich habe meine Frau dort, die Kinder da und meine Tochter ist mir gegenüber. Mein Herz ist da, wo sie jetzt liegt!« Thp.: »Aber Ihre Frau sagt, dass sie sich verlassen fühlt und möchte, dass Sie sie auf den Schoß nehmen, das verstehe ich jetzt nicht!« Va: »Ich habe mir das gerade gar nicht zugezogen. Sie weiß doch, dass da viel Nähe ist zwischen uns.«

All diese Muster, so betont Minuchin, kommen in allen »normalen« Familien vor. Während sie jedoch auch auf andere Formen der Auseinandersetzung und Verhandlung zurückgreifen können, inszenieren Familien mit psychosomatisch kranken Kindern immer und immer wieder

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die kritischen Sequenzen. Entsprechend ist die Therapie darauf ausgerichtet, diese Merkmale herauszufordern (»challenging«). Das anorektische Verhalten wird als eine Herausforderung an die Eltern, als ein »Akt von Ungehorsam, nicht von Krankheit« seitens der Tochter, als Akt von Machtausübung und Manipulation definiert, eine Form des Reframings, die Eltern und Töchtern zu Veränderungen des Musters provozieren soll.19 Als geeignetes Startritual hierzu sehen sie die »Family Lunch Session« (Rosman et al. 1975): Die Therapeutin lädt um die Mittagszeit alle Familienmitglieder ein, ihre Lunch-Pakete in das Therapiebüro mitzubringen. In der ersten Stunde wird – das Essen bleibt noch in der Tasche – Kontakt geknüpft und ressourcenorientiert nach den Kompetenzen in der Familie Ausschau gehalten. In der zweiten Stunde, dem eigentlichen Lunch, werden an den sich jetzt entfaltenden Essdramen die darin gebundenen Beziehungsdramen in der Familie deutlich, mit sehr direktiven Vorgehensweisen werden erste Lösungsstrategien angestrebt. Diese Überfokussierung soll aber nur kurz andauern, dann wird angestrebt, den Fokus vom Essen auf andere Themen zu verschieben. Andere Beschreibungsversuche anorektischer Beziehungsdynamiken zeichnen ähnliche Bilder. Selvini Palazzoli und Viaro (1988) gehen in ihrer Modellierung der »anorektischen Familie« von der Metapher des Familienspiels aus – eines Spieles, in dem den Beteiligten relativ finstere Motive unterstellt werden.20 Das Spiel, von Selvini Palazzoli und Viaro auch – ähnlich wie bei den »psychotischen Familienspielen« – »Imbroglio« (betrügerische Verwicklung) genannt, basiert auf enttäuschter Loyalitätsbindung und darauf aufbauend von Täuschung mit dem Ziel, eine unangemessene Form der privilegierten Beziehung über die Generationsgrenzen hinweg aufrechtzuerhalten – wobei diese Verbindung nicht 19 Aus anderer Perspektive würde man eher umgekehrt dasselbe Verhalten als einen Akt verdeckter Loyalität zu redefinieren versuchen. Die Minuchin’sche Therapierichtung erweist sich hier als sehr kämpferischer Akt. Ich (J. Schweitzer) hatte im Sommer 1980 Gelegenheit, einige solche Sitzungen in Philadelphia zu beobachten. Manche, insbesondere wenn von Therapeuten nordeuropäischer Herkunft und nicht von den eleganten Lateinamerikanern durchgeführt, erschienen mir im negativen Fall wie Dressurakte. 20 Für heutige, lösungsorientierte systemische Therapeuten wie auch für die betroffenen Familien sind die damaligen Musterbeschreibungen in dieser Schärfe kaum noch anschlussfähig. Sie können jedoch in weniger anklagender Form für die Hypothesenbildung hilfreich sein.

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auf Zuneigung beruht, sondern auf dem Kampf des einen Ehepartners gegen den anderen. Der Weg vom Spiel der Eltern bis zu den Symptomen der Tochter verläuft in sechs Schritten. Den ersten Schritt stellt ein andauernder elterlicher Konflikt dar, der nie ausgetragen wird, sondern in kontinuierlichen Schleifen abläuft, in denen der eine den anderen provoziert, der andere mit Rückzug und/ oder gelegentlichen Explosionen reagiert, in jedem Fall aber dafür sorgt, dass es keine weiteren Interaktionsmöglichkeiten mehr gibt. Beide beschreiben einander als Opfer des anderen. Im zweiten Schritt wird das später anorektische Mädchen früh in diesen Konflikt einbezogen, sei es als Vertraute der Mutter oder des Vaters. Die große Nähe und Vertrautheit (inklusive des Erhalts vertraulicher Informationen) erzeugt das Bewusstsein einer besonderen Position für das Mädchen, verbunden mit einer besonderen Loyalitätsbindung. Im Schritt drei wird von dem Mädchen eine dramatische Wendung erlebt: Der Elternteil, dem sie sich so verbunden fühlte, rückt weiter weg, sie beginnt, den anderen, meist den Vater, in einem neuen Licht zu sehen, erlebt seine Einsamkeit und Verlassenheit und beginnt die Idee zu entwickeln, was für eine gute Frau sie ihm sein könnt –, ein Bild, das er kontinuierlich unterstützt. So entwickeln beide die Vorstellung, Opfer der überstarken Mutter zu sein. Im vierten Schritt bekommt nun das Essen eine besondere Position in der Auseinandersetzung. Im starken Bedürfnis, sich von der Mutter zu unterscheiden oder sie herauszufordern, bekommen Schlankheit, Anderssein, Bessersein als die Mutter einen besonderen Wert. Wann und wie immer die Nahrungsverweigerung beginnt, schnell entwickelt sie sich zu einer Form des schweigenden Protests gegen die Mutter, als Weg, sich von ihr abzugrenzen und sie zurückzuweisen, freilich ohne dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen. Eine Spirale hat begonnen, in der das elterliche Spiel sich fortsetzt und die Einbeziehung der Tochter festgeschrieben wird: »Die Mutter steckt ihre Nase in die Essgewohnheiten der Tochter, grenzüberschreitend wie gewohnt. Vaters klägliche Versuche, seine Frau zu stoppen, versagen wie üblich. Das Mädchen wird ärgerlicher und ärgerlicher und ihr Drang zu rebellieren lässt sie weniger und weniger essen« (S. 132, Übersetzg.: die Verf.). Wenn dann im fünften Schritt das Mädchen die Erfahrung macht, dass der Vater nicht auf ihrer Seite steht, sondern gar eine Kehrtwendung

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gegen sie macht, fühlt sie sich auch von ihm verraten, verzweifelt reduziert sie die Nahrungsaufnahme auf ein absolutes Minimum. So zeigt sie ihrer Mutter und ihrem zaghaften Vater, zu welcher Stärke sie fähig ist. Im sechsten Schritt ist die Familie festgefahren im Machtkampf um das Essen. Essen steht im Mittelpunkt von allen Auseinandersetzungen, die Patientin hat die Erfahrung gemacht, welche enorme Macht sie durch die Verweigerung gewonnen hat, ja, sie mag sich sogar scheinbar mit der Mutter gut verstehen und so die hinter der Symptomatik stehende Feindseligkeit verbergen. Diese Familien stecken in drei Problemen fest: im Führungsproblem, im Bündnisproblem und im Schuldproblem. Die Magersucht stellt einen Versuch dar, durch Schuldinduktion, durch eine Eskalation des Opferseins indirekte Macht zu gewinnen. Explizit an einer Mehrgenerationenperspektive der Familiendynamik von Familien mit einer anorektischen Patientin ausgerichtet ist das Modell von Sperling, Massing und Reich (Massing et al. 1999; in neuerer Form bei Reich 2003a, 2005b). Hier wird vor allem der Einfluss einer asketischen Ideologiebildung in der Familie betont, die durch die Großeltern, häufig die Großmütter mütterlicherseits, vertreten wird. Die späteren Patientinnen identifizieren sich mit Werten wie »Verzicht«, »Durchhalten«, »bis an die Grenze gehen«. Der Familienzusammenhalt ist oft über drei Generationen sehr eng, die interpersonellen und die Generationengrenzen sind durchlässig. Eine Ablösung zumindest eines Elternteils von der Ursprungsfamilie hat nicht stattgefunden. Deren Einfluss ist oft größer als des Ehepartners oder der Ehepartnerin. Trennungen sind Angst besetzt, werden oft mit Unglück oder Untergehen gleichgesetzt und von daher vermieden. Beim Durchsetzen eigener Interessen treten oft Schuldgefühle auf. Demgegenüber werden Opfertum und Selbstaufopferung betont. Auslösend für die Anorexie sind dementsprechend Situationen, in denen sich die Patientinnen innerlich und/oder äußerlich von den Familien und ihren Wertvorstellungen entfernen oder die Versuchung oder die Möglichkeit besteht, dies zu tun. Weber und Stierlin (1989) stellten ihre Erfahrungen mit 62 Familien mit magersüchtiger Tochter vor. Sie gingen von der Beobachtung der Bindungs- und Loslösungsprozesse in den Familien aus und zeichneten das typische Bild eines leistungsorientierten, ehrgeizigen und sehr loyal

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gebundenen Kindes in einer Familie, in der »Geben besser als Nehmen« ist, in der Gerechtigkeitssinn und der Verzicht auf individuelle Bedürfnisbefriedigung großgeschrieben werden. In den Elternbeziehungen geht »Stabilität vor Qualität« und »Solidität vor Leidenschaft«. »Jederzeit offene Türen« sind ein Wert der Familie (in einer Familie waren alle Türen bis auf die Toilettentür ausgehängt worden) – aus Außenperspektive zeigt sich hier eher ein Symbol geringer Abgrenzung. Ein so hohes und anstrengendes Familienideal steht in starker Gefahr, (zwangsläufig) irgendwann einmal verletzt zu werden, was dann mit großer Enttäuschung und dem heftigen und schmerzhaften Gefühl einhergeht, verraten worden zu sein. Das Kind gewinnt irgendwann den Eindruck, seine tätigkeitsorientierten Investitionen für die anderen würden nicht hinreichend wertgeschätzt. Bei Mehrkindfamilien kann das durch die Wahrnehmung ausgelöst werden, ein Geschwisterkind werde von den Eltern innerlich bevorzugt; bei Einzelkindern kann dies auch im Rahmen üblicher Ablösungskonflikte von zuvor schon immer besonders fürsorglichen Eltern geschehen. Die Entdeckung des Hungerns als Verhaltensoption, mit der sich die meisten weiblichen Teenager irgendwann kurzzeitig beschäftigen, kann sich vor dem Hintergrund einer solchen emotionsgeladenen Dynamik zu einem Drama aufschaukeln, wenn zudem durch ängstliche Fürsorge und Gesundheitsfokussierung die Möglichkeit gegeben ist, in einen bevorzugten Aufmerksamkeitsfokus zu gelangen. Erlebte sie sich zuvor noch zurückgesetzt oder gar verraten, so tritt die Patientin nun als Opfer der Magersucht in den Mittelpunkt. Allerdings wird es nun schwer, aus dieser Position wieder herauszugehen: Sie kann sich trotz aller jetzigen Zuwendung nicht sicher sein, ob diese Position erhalten bleibt, wenn sie wieder isst. Von einer Bilderbuchfamilie sprechen Cierpka und Reich (2001), in der das Thema Essen durchgängig einen hohen Stellenwert hat, um das sich viele Gespräche und Konflikte ranken. Es geht dabei nicht nur um Erfahrungen mit dem Essen selbst, sondern um die sozialen Normen und Werte, die sozusagen begleitend während des Essens vermittelt werden und zwar von frühester Kindheit an. So entwickeln sich innere Arbeitsmodelle und Schemata, in denen Beziehung, Bindung, Loyalität und Versorgen und Versorgtwerden eng aneinandergekoppelt sind. Die Autoren beschreiben ähnliche Familienmuster wie Minuchin, allerdings noch weiter differenziert:

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Norm- und Leistungsorientierung; Zusammenhalt; Überbehütung; Harmoniegebot und Konfliktvermeidung; Verstrickung und Grenzstörung; Aufopferung und Schuldproblematik; nach außen hin intakte Ehe der Eltern mit subtilen oder offenen Entwertungen; – das Hungern als Antwort auf eine Konfliktsituation und als Lösungsversuch. Bei chronifizierten anorektischen Entwicklungen fallen die Patientinnen häufig aus außerfamiliären sozialen Kontakten heraus (sofern es ihnen gelang, derartige Kontakte aufzubauen), müssen wegen häufiger Arbeitsunfähigkeit ihre Arbeit aufgeben und werden früh berentet, sind so weiterhin oder zunehmend auf ihre Angehörigen angewiesen und oft mit diesen fortgesetzt in Machtkämpfe um das Essen verstrickt. Engel et al. (1992) berichten in ihrer Studie über den Langzeitverlauf bei stationär behandelten Anorektikerinnen, dass die große Mehrzahl der verstorbenen Patientinnen weiterhin mit ihren Ursprungsfamilien zusammenlebte und es nicht schaffte, eine eigenen Partnerbeziehung aufzubauen.

iEntstörungeni Systemische Therapie sollte bei komplexen und lebensbedrohlichen Verläufen in einen sorgfältig fundierten Gesamtbehandlungsplan eingebunden sein – insbesondere wenn die Symptome in der Ausgangssituation dramatisch sind, wenn eine Koordination von vor-, mit- und nachbehandelnden Ärzten und Psychotherapeuten erforderlich ist und sich der Heilungsprozess der Magersucht über mehrere Jahre erstreckt (das ist meist der Fall – im Durchschnitt über sechs Jahre) und in chronische Verlaufsformen übergehen kann (Herzog 2004, S. 6). In der Ausgangssituation erleben die Behandler einerseits die Todesnähe magersüchtiger Patientinnen, die Mitleid erregt und Hilfe herausfordert. Andererseits begegnet ihnen eine Patientin mit mangelndem Krankheitsgefühl und einer starken Leugnung, bisweilen Verneinung

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grundlegender Bedürfnisse. So können in therapeutischen Teams Polarisierungen entstehen, die gut reflektiert werden sollten. Eine gute Koordination der Helfer, die sich auch bei auftretenden Spaltungsdynamiken in einem gemeinsam getragenen Konzept einig sind, ist wichtige Voraussetzung für einen guten Verlauf (Herzog 2004). Zu empfehlen ist eine gute Initialdiagnostik, in der neben der medizinisch notwendigen Untersuchungen des aktuellen Zustands der Überweisungskontext erhoben wird, die aktuelle Motivation, Krankheitsgeschichte und Historie bisheriger Therapien und die aktuelle Lebenssituation erfragt wird. Hauptziel jeder stationärer Behandlung, die meist am Beginn der Therapie steht, ist es, den Teufelskreis der anorektischen Symptomatik zu durchbrechen und sogleich eine kurzfristige Modifikation des Essverhaltens zu erreichen (Cierpka u. Reich 2001). Ohne Gewichtssteigerung, im Angesicht ständiger Lebensbedrohung, ist kaum der Raum für eine systemische Bearbeitung familiärer und persönlicher Entwicklungsthemen gegeben. In der Therapie der Magersucht entwickeln sich beständig zwei unterschiedlich definierte Kontexte, ein Kontroll- und ein Therapiekontext. Während Ersterer strenge Aufsicht erfordert und angesichts der Verleugnungstendenz der Patientinnen auf Misstrauen basiert, erfordert der andere Freiwilligkeit und Vertrauen. Werden beide Kontexte gemischt, kommt es zu häufigen Verwirrungen. In der stationären Therapie wird dies meist durch die Aufteilung der Therapie in Phasen geregelt. Die erste Phase ist dabei immer eine Gewichtssteigerungsphase. Es empfiehlt sich, die Gewichtskontrolle nicht direkt in die Psychotherapie einzubinden, sondern zum Beispiel an eine andere Instanz zu delegieren. In der ambulanten Arbeit kann vereinbart werden, dass die Patientin sich regelmäßiger Gewichtskontrolle beim Hausarzt unterzieht und dieser die Entscheidung fällt, ab wann eine Klinikeinweisung unumgänglich ist. In der stationären Arbeit ist ein Teil der Mitarbeiter für die Kontrolle, ein anderer für das therapeutische Angebot zuständig. Eine Integration verhaltenstherapeutisch ausgerichteter Methoden von Gewichtsaufbau und -kontrolle kann hier gut mit einem systemischen Angebot kombiniert werden. Generell kann das Dilemma zwischen Kontrolle und Therapie mit Patientin und Familie besprochen werden und es kann nach geeigneten Wegen gesucht werden, die beiden Kontexte klar markiert zu halten.

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Abbildung 4*

Diese Trennung von Kontrolle und (Psycho-)Therapie ist aber nicht unumstritten. Günter Reich etwa weist darauf hin, dass in der klinischen Praxis Ärzte häufig die Kontrollfunktion an Psychotherapeuten weiter* Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Bulls Press, Frankfurt a. M.

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reichen (»Ich kenne mich mit Magersucht auch nicht so aus, Sie sehen doch diese Patientinnen dauernd«) und dass die von der Patientin angebotene Spaltung in einen vernünftigen, kooperativen Teil (Anpassung) und einen opponierenden Teil (Autonomie) durch diese Trennung auch unangemessen zementiert werden kann. Ludewig (2004) beschreibt in diesem Zusammenhang ein interessantes stationäres Behandlungskonzept: »Plan schlägt Geist«. Das Dilemma zwischen Kontrolle und Therapie wird dadurch angegangen, dass der Plan, der eine kontinuierliche, abgestufte Gewichtszunahme vorschreibt, in einem Vertrag festgelegt wird und nachdem er von allen Beteiligten unterschrieben ist, sozusagen die höchste Instanz darstellt, der alle, auch der Therapeut unterworfen sind, was die vielfältigen Einladungen zur symmetrischen Eskalation im therapeutischen System balanciert. Der Plan schreibt eine kontinuierliche Gewichtszunahme in sechs Phasen vor, das Erreichen der jeweils nächsten Phase wird mit der Gewährung von zunehmender Autonomie belohnt, das Unterschreiten mit Einschränkungen bestraft. Es ist dabei der Plan, der straft und belohnt, nicht die Therapeutin oder das Pflegepersonal. So schützt die Nüchternheit und Rigidität des Plans das Mädchen, ihre Eltern und das Personal vor den Folgen endlosen Verhandelns um Kalorien und körperliche Aktivitäten. Die Anorexie wird als eigenes Wesen externalisiert, sie mischt sich beständig in das Leben der Betroffenen ein und stört. Sie war einmal, wie Aladins Wunderlampe, eine Hilfe, von dem Mädchen in der Zeit der Not gerufen, doch nun geht sie nicht mehr in die Lampe zurück und nur eine Figur, die noch mächtiger ist, kann den Geist wieder in die Flasche bringen. So kämpfen auf einer virtuellen Ebene Anorexie und Plan gegeneinander, während die aktuellen Beziehungen frei sind von Eskalationen (die Therapeutin kann sich über die Belohnungen mit dem Mädchen freuen und über die Sanktionen betroffen sein, da sie sie nicht selbst verhängt). Die Therapie widmet sich dann der Frage, wie die Jugendliche ihre weitere Entwicklung gestalten möchte, ohne sich zu schaden. Therapeutin und Mitarbeiter verstehen sich als Alliierte des Mädchens und seiner Familie im Kampf gegen die Übermacht der Magersucht: »Wir sind der Magersucht gegenüber alle ohnmächtig. Der Einzige, der wirksam gegen sie kämpfen kann, ist der Plan«. Dabei wird das Problem zu einem eigenständigen Etwas verdinglicht oder personalisiert, das sich in das Leben der Betroffenen einmischt und stört (Ludewig 2004, S. 27f.):

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»Fth (zu V) Würden Sie auch sagen, dass Mutter und Tochter eng miteinander verbunden sind? V Ja, eindeutig! M Aber in letzter Zeit weniger, da schimpft sie nur mit mir. Fth (zu A) Aha! So hat die Magersucht mehrere Aufgaben zu erfüllen, zum einen dir zu ermöglichen, dich ein bisschen von der Mutter abzulösen, zum Zweiten deine Liebesprobleme zu klären und dir auch noch zu helfen, dich selber zu spüren, das Gefühl zu haben, dass du du bist. Die ist ganz wichtig, deine Magersucht, nicht? Der müsste man danken. A (lächelt amüsiert) Fth Du kennst ja diese Geschichte mit dem Geist aus der Lampe, (zu den Eltern) Sie auch, nicht? Sehen Sie, ich gehe davon aus, dass jede Frau mit einer kleinen Aladins Lampe auf die Welt kommt, für den Notfall, wenn die Dinge hart werden. Aber manche dieser mächtigen Geister sind ziemlich störrisch und wenn man sie gerufen hat, dann wollen sie nicht mehr zurück in die kleine kalte Lampe. Die fangen dann an, die Macht zu übernehmen. Erst über das Mädchen, dann über die Eltern, die Verwandten und Freunde, schließlich auch noch über die Ärzte und Therapeuten. So stellen wir uns das hier vor. Der Geist kann zuweilen arg nützlich sein, er kann aber ziemlich schwierig werden, wenn er nicht zurücktreten will. Da kann man nur mit vereinten Kräften an einem Strang ziehen und gemeinsam den Geist in die Lampe zurückbefördern. […] Fth (zu A) Du magst dich nicht gern entscheiden, nicht? A (nickt) Fth Wenn du aber gewinnen willst, musst du Entscheidungen treffen, welche auch immer. Das ist nämlich eine andere Wirkung der Magersucht. Immer dann, wenn du entscheiden willst, sagt sie, eh, eh (= Nein). Sehen Sie, dafür haben wir hier einen Plan. Der Plan trifft Entscheidungen stur nach Programm und guckt weder links noch rechts, lässt sich durch nichts irritieren oder manipulieren. Und das ist die einzige Chance, die der Plan gegen die Magersucht hat. Denn gegen eine so mächtige Magersucht kommt nur einer an, der noch kaltschnäuziger ist … Der Plan beinhaltet nämlich Entscheidungen und Entscheidungen beinhalten Verantwortung … Und das musst du auch, selbst dann wenn du dich irrst. Wenn du das Risiko vermeiden willst, eine falsche Entscheidung zu treffen, bleibt alles wie gehabt, es gibt keine Entwicklung mehr.«

Weitere systemtherapeutische Methoden im engeren Sinne beschreiben Weber und Stierlin in Anlehnung an das Mailänder Konzept von Boscolo und Cecchin (»Mailand II«; siehe von Schlippe u. Schweitzer 1996), mit dem Fokus auf Bindungsfragen. Inhaltlich drehen sich die Fragen um folgende Bereiche: – Wem zuliebe hungert die Tochter, wo nimmt sie die Kraft dazu her, wie wirkt sich ihr Fasten auf den Familienzusammenhalt aus, wie lange wird sie diese Entbehrungen auf sich zu nehmen bereit sein? – Welche Abweichungen von der Gleichheitsideologie sind erlaubt? Wem in der Familie sind Normalität und Nichtauffallen am wichtigsten?

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– Welche – vielleicht auch nur kleinen – Unterschiede bestehen unter den Familienmitgliedern und über welche darf gesprochen werden? Wie viel Egoismus ist legitim? Wenn einer der Eltern sich demnächst wieder mehr gönnen würde – wie würde der andere darauf reagieren? – Was könnten die Eltern tun, um die Tochter zu noch mehr Hungerstreik zu motivieren? (die Verwendung des Wortes »Hungerstreik« stellt in diesem Zusammenhang natürlich ein Reframing im Sinne eines Schlüsselwortes dar – hierzu von Schlippe und Schweitzer 1996, S. 98). – Wie viel Einflussmöglichkeiten schreiben alle der Tochter auf ihr Essverhalten zu? Was würde passieren, wenn die Eltern sich entscheiden würden, der Tochter die Verantwortung für ihr eigenes Essen in ihre Hände zurückzugeben? Ernst Petzold führte in den 1970er Jahren in der Inneren Medizin in Heidelberg eine sogenannte Familienkonfrontationstherapie ein – meist einmalige, im stationären Aufenthalt sorgfältig vorbereitete und oft dramatische Familiengespräche, mit denen ein Bewusstsein der Familienmitglieder über die Dramatik der Situation und damit eine gute Mitarbeitsbereitschaft erreicht werden sollte (Petzold 1979). In der stationären Therapie wurde daneben zum Beispiel über Genogrammgruppen ein stations-familienorientierter Ansatz implementiert (Kröger et al. 1984). Nach dem Göttinger Modell (Cierpka u. Reich 2001) erfolgt die Familientherapie bei Anorexie in drei Phasen: In der Stabilisierungsphase geht es darum, einen Zugang zum Familiensystem zu finden, einen weiteren Gewichtsverlust zu stoppen und eine Gewichtszunahme einzuleiten. Hierzu sind manchmal begleitende Einzelgespräche erforderlich, um zu einer zunehmenden Kontrolle über das Essverhalten zu verhelfen. In der Konfliktbearbeitungsphase werden insbesondere die mehrgenerationalen Verstrickungen und die bisher tabuierten Entwicklungen in der Familie durchgearbeitet. Nicht selten werden in dieser Phase Paargespräche mit den Eltern zur Klärung von deren Beziehung notwendig. In Familien anorektischer Patientinnen muss oft eher die Ablösung der Patientinnen gefördert werden. In der Reifungsphase geht es darum, die Veränderungen im Essverhalten und in den familiären Beziehungen zu festigen, die Autonomie der Patientinnen, aber auch der Familien zu fördern.

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Essstörungen: Anorexie, Bulimie und Adipositas

2.8.2

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Bulimie

iStörungsbilderi Bei der Bulimie bleibt das Gewicht normal, das Essverhalten aber ist ungewöhnlich: Heißhungeranfälle, bei denen in meist weniger als zwei Stunden große Mengen von Lebensmitteln verzehrt werden, wechseln sich mit Sichübergeben oder dem Gebrauch von Abführmitteln ab, wodurch diese Essmengen wieder »entsorgt« werden – unter großen Belastungen des Stoffwechsels, Kreislaufs und der Speiseröhre. Zur Diagnose der Bulimie gehört das Gefühl, während des Essanfalls subjektiv oft keine Kontrolle mehr über das Essverhalten zu haben. Wenigstens zwei Fressattacken pro Woche über mindestens drei Monate und ein beständiges Beschäftigtsein mit der eigenen Körperfigur gehören ebenfalls dazu. Bulimisches Verhalten besteht in oft jahrelangen, meist heimlichen Episoden von abwechselndem Heißhunger und Erbrechen – mit manchmal bis zu zehn Ess-Brech-Anfällen am Tag. Ein großer Teil der Zeit und Energie wird auf die Lebensmittelbeschaffung, Essen und das anschließende Erbrechen verwendet. Dieses Essverhalten geht mit Scham- und Schuldgefühlen einher: »Ich schäme mich, weil ich esse« löst aus: »Ich esse, weil ich mich schäme.« Um angesichts der Scham heimlich essen zu können, ziehen sich die Betroffenen oft aus Beziehungen zurück und sind allein. Um mit dem Alleinsein fertig zu werden, greifen sie wiederum zu oft anfallsartigem Essen. So entstehen sich selbst aufrechterhaltende Kreisläufe.

iBeziehungsmusteri Da bulimische Patientinnen im Gegensatz zu anorektischen Patientinnen im Regelfall kein Gewicht verlieren, ist Bulimie keine zwangsläufig sichtbare Störung. Sie kann verheimlicht werden und wird dies auch mehrheitlich, zumindest zu Beginn. Systemische Bulimie-Therapie ist daher häufig Einzeltherapie. Wird das Geheimnis »gelüftet«, dann nicht unbedingt als Erstes gegenüber den Eltern, sondern oft eher gegenüber einer Freundin oder einem Freund. In einer systemischen Mehrperso-

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nentherapie sitzen daher nicht zwangsläufig Eltern und Kinder, sondern oft das bulimische Mitglied mit wechselnden Konstellationen anderer, oft gleichaltriger Menschen. Schließlich ist bulimisches Verhalten gesundheitsschädigend, aber weniger lebensbedrohlich als anorektisches. Es entfällt der enorme Eingreifdruck, den anorektische Patientinnen mit 30 Kilogramm Lebendgewicht auslösen. Atmosphärische Beschreibungen von Familien, in denen sich ein Mitglied bulimisch verhält, erscheinen oft weniger angepasst – die Verzichtsideologie macht einer etwas lustvolleren Norm und Lebensweise Platz, wobei aber an der Lust irgendein Haken ist, der das unkomplizierte Genießen nur im Kombipack mit Selbstquälungen erlaubt. Klinische Beobachtungen zur Beziehungsdynamik der Bulimie, besonders zu deren »schwarzen Seiten«, fasst Reich (2005a) zusammen, er verweist dabei auf Humphrey 1991, Schmidt 1989, Cierpka und Reich 2001 sowie Reich 2003a, 2003b: Es finden sich häufig offene und heftig ausgetragene Familienkonflikte, die allerdings oft nicht zu einer Lösung führen, sondern sich wiederholen und nicht selten auch Beziehungsabbrüche in Teilen der Familie auslösen. Zu dieser schwarzen Seite gehören auch Neigungen zu Impulshandlungen mit Aggressionen, Substanzmissbrauch, Kauf- und anderen impulsiven Entscheidungen. Familiär gehäuft können sich Substanzmissbrauch, Depressionsneigungen, Essstörungen und Übergewicht bei Eltern und Großeltern zeigen. Manchmal lässt sich eine erotisch eingefärbte Vater-Tochter-Beziehung beobachten, in der die spätere Patientin in Konkurrenz zu der Mutter steht. Gleichzeitig sind viele Familien mit bulimischen Töchtern sehr außen- und leistungsorientiert. Sie legen Wert auf gutes äußeres Erscheinungsbild sowie finanziellen oder leistungsmäßigen Erfolg. Oft erscheinen sie als abhängig von äußerer Bestätigung und befinden sich im ständigen Vergleich und in Konkurrenz zu anderen. Dieser Gegensatz fördert es, dass wesentliche Aspekte des familiären Lebens als makelbehaftet erlebt und vertuscht werden, sich eine doppelte Wirklichkeit mit Familiengeheimnissen herausbildet. Bedürfnisse nach emotionaler Resonanz, Akzeptanz, Trost, Versorgung und Spannungsregulierung bleiben oft unerfüllt und werden nicht selten sogar herabsetzend beantwortet. Zur Regulierung von Affekten können nun Substanzen (Alkohol, Tranquilizer, Schmerzmittel) ebenso wie Essen eingesetzt werden, die aber bei langzeitigem Missbrauch dem Bedürfnis

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nach einem guten äußeren Erscheinungsbild und Schlankheit zuwiderlaufen. In diesen heftigen, schwer lösbaren Widersprüchen kann der schnelle Wechsel von Essen und Erbrechen als Impulshandlung (man begeht sie und versucht gleich darauf wieder, sie ungeschehen zu machen) ein Bewältigungsversuch sein. Die Patientin setzt damit das familiäre Muster fort, unangenehme Spannungen durch Handlungen und durch Substanzmissbrauch zu beseitigen und Makelbehaftetes zu verbergen, befriedigt dabei ihre Bedürfnisse nach Zuwendung und Trost scheinbar autonom und vermeidet diesbezügliche Konflikte mit Eltern und Geschwistern. Im Licht dieser Beobachtungen leuchtet es ein, wenn bulimische Symptome oft ausgelöst werden in Situationen, in denen die Patientinnen sich unter Bewährungsdruck und dabei unzulänglich fühlen. Das ist in der sogenannten Verselbstständigungsphase der Fall, weshalb das Erstmanifestationsalter im Durchschnitt höher liegt als bei der Anorexie.

iEntstörungeni Viele Fallbeschreibungen und Interventionen entstammen einem Therapieprojekt, das unter der Leitung von Freyberger Ende der 1980er Jahre in der Abteilung Psychosomatik der Medizinischen Hochschule Hannover stattfand. Hier wurde ambulante systemische Therapie empirisch mit stationär eingeleiteter tiefenpsychologischer Therapie empirisch verglichen (Jäger et al. 1996). Aus dem großen systemischen Team entwickelte sich später das Niedersächsische Institut für Systemische Therapie und Beratung. Grönes Buch »Wie lasse ich meine Bulimie verhungern« (1995) stellt diese Erfahrungen zusammen; einige ihrer Beratungsschritte seien hier kurz aufgeführt: 1. Bulimie: Feindin oder Freundin? – Was sind neben den schrecklichen auch die positiven Aspekte des bulimischen Verhaltens für die eigene Lebenspraxis, welche »Weisheit« steckt in ihr? 2. Positive Zielformulierung – Was muss ich mir bieten, damit die Bulimie geht? Möglichst schon im ersten Gespräch sollte eine positive Vision der Lebenszeit gezeichnet werden, das an die Stelle der Essund Brechattacken treten soll 3. Die Suche nach Ausnahmen – Alle Fähigkeiten und Ressourcen sind

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schon vorhanden. Fressanfallsfreie Zeiten werden sorgfältig auf mögliche Rezepte dafür durchsucht. Die Bulimie ist teuer – aber was ist der Preis der Aufgabe der Bulimie? Und unter welchen Umständen wäre man den zu zahlen bereit? Scheiterstrategien – die Befragung bulimiefördernder Bedingungen mittels Verschlimmerungsfragen. Sicher in die Unsicherheit – Was muss geschehen, um auf zahlreiche Kontrollstrategien angesichts des oft tiefsitzenden Beziehungsmisstrauens verzichten zu können? Loyale Töchter – Wie kann die Beziehung zur Mutter so gestaltet werden, dass weder das Leben der Mutter aggressiv abgewertet, noch eine Verbundenheit mit ihr im gemeinsamen Leiden gesucht werden muss? Symptomverschiebungen im Verlauf von Therapiefortschritten können als Symptom-Fortschritte, als Übergangsobjekte bei der Aufgabe der Bulimie anerkannt werden. Ähnlich kann die Umbewertung von Rückfällen in Vorfälle, als Zeichen einer neuen Entwicklung die große Angst reduzieren, dass »immer alles so bleiben wird«.

Da bulimische Patientinnen auch ihren Therapeuten gern gefallen möchten, ihnen Unangenehmes schamvoll verheimlichen möchten, da sie auch in therapeutischen Beziehungen of Abbrüche fürchten, ist es sinnvoll, periodisch Metagespräche über den Verlauf der Therapiegespräche und der therapeutischen Beziehung zu führen. Die Therapie endet nicht erst bei völliger Symptomfreiheit, sondern wenn die Frauen – aus dem Kampf gegen sich selbst (durch Hunger, Diäten etc.) aussteigen; – eigene Bedürfnisse, Interessen, Ziele formulieren und Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen übernehmen können. »Sobald sich die Frauen erlauben, ihren eigenen Weg zu gehen, ihren Hunger nach eigenem Leben und Lebendigkeit zu stillen, geht auch der Heißhunger. Die Bulimie geht, wenn sie (die Patientinnen) ein Leben erlauben, das nicht mehr zum Kotzen ist« (Gröne 2001, S. 184). Nach dem Göttinger Modell (Cierpka u. Reich 2001) erfolgt die Familientherapie bei der Bulimie ebenfalls in drei Phasen:

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– In der Stabilisierungsphase geht es darum, einen Zugang zum Familiensystem zu finden und das Essverhalten zu stabilisieren. Bei den oft älteren Bulimikerinnen beginnt die Behandlung nicht selten mit Einzelgesprächen, wobei die Familie dann, nach Bearbeitung der PseudoAutonomie, hinzugezogen wird. Hier geht es vor allem darum, einen festen Essrhythmus zu etablieren und der Patientin zu einer zunehmenden Kontrolle über das Essverhalten zu verhelfen. – In der Konfliktbearbeitungsphase werden die wesentlichen familiären Konflikte durchgearbeitet, insbesondere die mehrgenerationalen Verstrickungen und die bisher tabuisierten Themen. Nicht selten werden in dieser Phase Paargespräche mit den Eltern zur Klärung von deren Beziehung notwendig, In Familien bulimischer Patientinnen geht es häufig darum, die emotionale Resonanz unter den Familienmitgliedern und den Dialog so zu unterstützen, dass es nicht zu impulshaft ausgetragenen, aber zu keiner Lösung führenden Konflikten kommt. – In der Reifungsphase geht es darum, die Veränderungen im Essverhalten und in den familiären Beziehungen zu festigen, die Autonomie der Patientinnen, aber auch der Familien zu fördern.

2.8.3

Adipositas

iStörungsbilderi Adipositas bezeichnet eine reine Übergewichtigkeits-Klassifikation, bei der das Normalgewicht um mindestens 20 % überschritten wird. Übergewicht ist nicht immer mit einem gestörten Essverhalten verbunden. Genetische, soziale, ethnische und soziokulturelle Einflüsse spielen hier eine erhebliche Rolle (vgl. Krüger et al. 2001). Dennoch liegt bei einem Teil der Übergewichtigen ein gestörtes Essverhalten zugrunde. Freyberger (1976, zit. nach Hoffmann u. Hochapfel 1999) unterscheidet folgende Untergruppen: – »Rauschesser«, bei denen Fressattacken oft durch Unlustspannungen ausgelöst werden. Dieses »binge eating« tritt nicht periodisch auf und ist mit auslösenden Situationen verbunden. – »Daueresser«, deren Appetit fast ständig merklich erhöht ist.

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– »Nimmersatte«, bei denen Appetit- und Sättigungsempfinden fehlt. – »Nachtesser«, die am Tage ein restriktives Essverhalten zeigen, an Einund Durchschlafstörungen leiden, nächtliche Hungergefühle entwickeln und den Essvorgang nicht beenden können. Ungefähr 20 bis 30 % der übergewichtigen Patienten berichten über unkontrollierbare Heißhungeranfälle, die im DSM-IV als Binge Eating Disorder (BED) bezeichnet werden. Diese Störung ist durch Heißhungeranfälle gekennzeichnet, die als unkontrollierbar erlebt werden, denen aber, im Gegensatz zur Bulimie, keine gegensteuernden Maßnahmen folgen, obwohl auf diese Essattacken Gefühle von Scham, Schuld und Ekel folgen (vgl. Krüger et al. 2001).

iBeziehungsmusteri Das Übergewicht stellt sich besonders in der nordamerikanischen Kultur als medizinisch relevantes Problem dar. 19 bis 27 % der Amerikaner galten schon 1988 als übergewichtig, diese Zahl dürfte zugenommen haben. In manchen Fällen kann das (Über-)Gewicht zum familiendynamisch relevanten Thema werden (Doherty u. Harkaway 1990; McDaniel et al. 1997), wenn es – Loyalität zu anderen Familienmitgliedern signalisiert, die übergewichtig sind – und besondere Loyalität, wenn auch hier Gewichtsreduktionsversuche scheitern; – ein Bündnis mit einem übergewichtigen gegen den anderen, schlanken Elternteil darstellt; – das Erwachsenwerden hinauszögert, weil das gehänselte dicke Kind nur schwer Freunde findet und zum Trost immer in den Familienhafen zurückkehren muss; – das Übergewicht zweier Sexualpartner zumindest in der Fantasie vor außerehelichen Beziehungen schützt; – innerhalb einer Paarbeziehung dem schlankeren Partner als Grund für das Einstellen der sexuellen Beziehung dient; – als Zeichen von Willensschwäche angesehen wird, die verstärkte externe Kontrolle der anderen Mitglieder erforderlich macht; – die Autonomie des Übergewichtigen in der Abwehr eben solcher Kon-

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trollversuche demonstriert, insbesondere Kindern und Jugendlichen eine Pseudorebellion ermöglicht. Von Hippel und Pape (2001) beschreiben aus eigenen klinischen Beobachtungen in familienorientierten Behandlungsprogrammen folgende Muster: – Vermeiden adäquater Frustrationen: Den Kindern werden Mangelsituationen jeglicher Art in dem Bemühen erspart, sie vor schmerzlichen emotionalen oder nahrungsmäßigen Versorgungslücken zu bewahren, die ihre Eltern oder Großeltern erlitten haben. – Vermeiden von Konflikten: Essen wird dazu benutzt, aufkommenden Ärger oder Ängste zu dämpfen und die Aufmerksamkeit von Konflikten abzulenken. Das Verbot, Konflikte offen auszusprechen und auszutragen, verursacht in der familiären Interaktion einen konstant spürbaren Spannungszustand. – Lösung von Delegationskonflikten: Im Umgang mit Essen, Bewegung und Gewicht des Kindes werden unvereinbare Haltungen der Eltern oder engsten Bezugspersonen spannungsvoll ausgetragen; zum Beispiel werden von der dünnen Mutter die sehr großen Essensmengen des beleibten Vaters als Maßlosigkeit und insgesamt als Ausdruck eines charakterlichen Makels bewertet. Der übergewichtige Mann delegiert seinerseits Kontroll- und Grenzziehungsfunktionen an seine Frau, beweist ihr aber gleichzeitig, dass sie in Bezug auf sein Gewicht so machtlos ist wie er selbst. Das Kind wird aufgefordert, eine Entscheidung für ein Elternteil zu treffen. – Unklare Generationsgrenzen: In vielen Familien fürchten sich die Eltern, die Kinder mit Regeln zu konfrontieren und Auseinandersetzungen um Überschreitungen zu führen. Manchmal geben Eltern aus diesen Gründen die Autorität fast vollständig an die Kinder ab und geben ihnen keine Leitlinien und Strukturen vor. Leben mehrere Generationen eng zusammen, ist die Adipositas des Kindes oft das Thema, das Eltern und Großeltern, oft im Streit, miteinander verbindet. – Zentrierung auf die eigene Person – Autonomie: Die Selbstversorgung mit Naschwerk hilft scheinbar, von der Versorgung durch andere unabhängiger zu werden – insbesondere wenn sie mit der abenteuerlichen Überwindung von Hindernissen, mit Geheimnissen, Verstecken, Verwirrspielen und Ablenkungsmanövern verbunden sind.

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Systemische Psychotherapie mit Erwachsenen

iEntstörungeni Im Rahmen ihres FIRO (»Fundamental Interpersonal Orientations«)Familienmodells heben Doherty und Harkaway (1990) einige Arbeitsweisen für die familienorientierte Arbeit mit Übergewichtigen besonders hervor: – zunächst die eigene Haltung zu Übergewicht reflektieren – hier sind »Kreuzzugsmentalitäten« nutzlos; – den Erfolg nicht an der Waage messen; – dem Patienten die Entscheidung überlassen, selbst neutral im Blick auf Abnehmziele bleiben. Aus dieser neutralen Haltung heraus oft »bremsen« und immer wieder den (nützlichen) Beziehungskontext des Übergewichts in den Blick nehmen; – Fehlschläge akzeptieren – und dass Menschen auch andere Prioritäten setzen können als abnehmen; – familiäre Unterstützung zwar stärken, aber jegliches Überengagement meiden – Ehepartner unterstützen am besten still, indem sie sich zurückhalten; – Selbsthilfegruppen wie etwa »Overeaters Anonymous« nutzen. Das Konzept von Doherty und Harkaway klingt nach »engagierter Interesselosigkeit« und damit nach einem nützlichen Antidot gegen die oft moralisch argumentierenden Diätkampagnen. Das familienorientierte Programm »Pfundskinder« (von Hippel u. Pape 2001; ähnlich auch Lob-Corzilius et al. 2005) kombiniert familienund gruppentherapeutische Elemente mit Ernährungsberatung und einem Bewegungsangebot. Auch hier ist die Reflexion der eigenen Einstellung der Behandler zum Übergewicht zentral. Ziel ist eine gleichzeitige Veränderung der Muster in den Beziehungen, der Ernährung und der Bewegung, ohne Fixierung auf die – immer wieder erfolglose – reine Veränderung des Gewichtes, mit einer neutralen Position zur Gewichtsveränderung. Das Programm enthält drei verschiedene Interventionstypen. In insgesamt drei Familiengesprächen (zu Beginn, im Verlauf und am Ende des Programms) werden für jedes Familienmitglied die Folgen von Veränderung und Stagnation bezüglich des Essverhaltens, des Gewichts und der Bewegung transparent. Sechzehn Gruppensitzungen mit Sport,

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Süchte: Alkohol und illegale Drogen

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Gruppentherapie in einer Eltern- und einer Jugendlichengruppe und gemeinsame Beratung über Ernährung durch eine Ökotrophologin dienen dem Erproben praktischer Veränderungen des Bewegungs- und Ernährungsverhaltens. Vier Nachtreffen mit den Familien sollen zur Stabilisierung des Erreichten innerhalb der folgenden 18 Monate beitragen. Auf allen Ebenen sollten die um die Ernährung zentrierten Beziehungskonflikte verdeutlicht und alternative Lösungen gefunden werden.

2.9 Süchte: Alkohol und illegale Drogen – Von Kontrollversuchen zur Sehn-Sucht21 Die systemische Therapie des hohen Konsums, des Missbrauchs und der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen stellt sowohl von der praktischen, als auch von der wissenschaftlichen Seite her einen der Schwerpunkte bisheriger systemisch-familientherapeutischer Konzeptentwicklung dar. Die meist enge, wenn auch sehr ambivalente Bindung vieler (besonders junger) Suchtpatienten an ihre Eltern oder ihre Partner hat einen familientherapeutischen Ansatz nahegelegt und erleichtert. Suchttherapie gilt für viele Therapierichtungen als ein schwieriges Arbeitsfeld. Hier stellt systemische Therapie heute vielfach die Therapie der Wahl dar, systemische Familientherapie gehört insbesondere bei Suchtproblemen Jugendlicher und junger Erwachsener zu den mit am besten evaluierten Behandlungsmethoden (z. B. von Sydow et al. 2006b; Thomasius u. Küstner 2005; Szapocznik et al. 1988; Szapocznik u. Williams 2000).

iStörungsbilderi Der Bereich Sucht umfasst eine große Spanne unterschiedlicher Störungsbilder, deren gemeinsamer Nenner die Verbindung von körperlicher Abhängigkeit von Substanzen und psychischen Auffälligkeiten ist. 21 Wir bedanken uns bei Dr. Brigitte Gemeinhardt, Hamburg, Dr. Nadja Hirschenberger, Eußertal, Dr. Rudolf Klein, Merzig, Dr. Andreas Schindler, Hamburg, und Dr. Ruthard Stachowske, Lüneburg, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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Die Dynamiken und die Begleitumstände sind jedoch sehr unterschiedlich – etwa ob es sich um eine gesellschaftlich akzeptierte Droge wie den Alkohol handelt, mit deren Allgegenwart (von Werbung bis auf Familienfesten) sich praktisch jeder in unserer Kultur auseinandersetzen muss, oder ob es um eine tabuisierte Droge geht wie Heroin, deren Beschaffung und Gebrauch bereits kriminalisiert ist oder um eine in Subkulturen verbreitete und anerkannte Droge wie Cannabis. Manche Substanzen werden von Menschen in aller Heimlichkeit und für sich allein genommen (z. B. Medikamente), andere sind explizit kommunikativ auf andere Menschen bezogen (»Du hast mich so fertiggemacht, jetzt brauche ich einen Schnaps!«) und wieder andere stellen Gemeinsamkeit her, wie gemeinsame vorsätzliche Besäufnisse (»Kampftrinken«). Schnell wird jeder beim Lesen des letzten Satzes auch ein Bild davon haben, wie die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Art des Gebrauchs von Substanzen aussehen (mehr dazu in Ebbecke-Nohlen 1996). Manche Substanzen mit hohem Suchtpotenzial werden zudem als ärztlich verordnete Medikamente genommen, so zum Beispiel Diazepan/Valium®. Erst auf den zweiten Blick wird das enorme Abhängigkeitspotenzial dieser Substanzen deutlich. Und auf den dritten Blick folgt dann die Erkenntnis, dass häufig im Rahmen eines polytoxikomanen Konsums neben den illegalen Drogen wie Heroin und Kokain auch ergänzend solche legale Drogen konsumiert werden. Spätestens hier wird erkennbar, wie fließend die Grenzen zwischen legalen und illegalen Substanzen sind und wie fließend die Verhandlungen dieser Grenzen in einem Familiensystem sein können. Wie auch immer, es geht darum, all diese Möglichkeiten als Lösungsmittel wahrzunehmen, zu denen Menschen greifen und von denen sie sich zumindest anfangs erhoffen, mit Lebensproblemen besser fertig zu werden. Immer wieder wird dabei eine systemische Perspektive danach suchen, wie die Beziehungskontexte aussehen, in denen Suchtphänomene auftreten, wie sich ein soziales System mit seinen Kommunikationen und Beschreibungen um ein identifiziertes Thema herum organisiert und in welchem Maß diese Problembeschreibungen drohen, zu einem Teil von Chronifizierung zu werden. Denn: »Wer von ›Sucht‹ redet und schreibt, handelt als Beobachter« (Emlein 1998, S. 43) – dies schließt die eigenen professionellen und wissenschaftlichen Beschreibungstraditionen mit ein, denn in unterschiedlichen Code-Systemen wird Sucht unterschiedlich konstruiert und die

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Differenzen machen einen Großteil des gesellschaftlichen Spannungsfeldes aus, in dem sich Suchtphänomene abspielen (zwischen Prohibition, dem Abbrennen von Opiumfeldern in Afghanistan, fröhlichen Trinkrunden und »Legalize it«-Bewegungen). Dies vorausgeschickt, stellen wir in einem ersten Schritt nun die Differenzierungen der ICD-10 vor. Unter F10 bis F19 wird eine Vielzahl von Störungen unterschiedlichen Schweregrades und mit verschiedenen klinischen Erscheinungsbildern gefasst. Die Gemeinsamkeit dieser Störungen besteht im Gebrauch einer oder mehrerer psychotroper SubTabelle 12: Süchte in der ICD-10 F1 F10 F11 F12 F13 F14 F15 F16 F17 F18 F19

Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide Psychische und Verhaltensstörungen durch Sedativa oder Hypnotika Psychische und Verhaltensstörungen durch Kokain Psychische und Verhaltensstörungen durch andere Stimulanzien Psychische und Verhaltensstörungen durch Halluzinogene Psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak Psychische und Verhaltensstörungen durch flüchtige Lösungsmittel Psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen

Die folgenden vierten Stellen sind jeweils bei den Kategorien F10–F19 zu benutzen: .0 akute Intoxikation .1 schädlicher Gebrauch .2 Abhängigkeitssyndrom .3 Entzugssyndrom .4 Entzugssyndrom mit Delir .5 psychotische Störung (gemeint sind hier psychotische Phänomene, die nicht durch eine akute Intoxikation erklärt werden können und nicht Teil eines Entzugssyndroms sind) .6 Amnestisches Syndrom .7 Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung .8 sonstige psychische und Verhaltensstörungen .9 nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörung

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stanzen. Die verursachenden Substanzen werden dabei durch die dritte Stelle, die klinischen Erscheinungsbilder durch die vierte Stelle kodiert; nicht alle Kodierungen der vierten Stelle sind für alle Substanzen sinnvoll anzuwenden (siehe Tabelle 12). Gerade weil Sucht ein Thema ist, mit dem sich jeder Mensch wohl in jeder Kultur sehr persönlich auseinandersetzen muss, ist es wichtig, sich bewusst zu sein, in welchem Maß das Vornehmen einer Unterscheidung zwischen süchtig und nichtsüchtig ein Akt sozialer Konstruktion durch einen Beobachter ist. Und wie so oft ist genau dies Kristallisationspunkt heftiger Auseinandersetzungen: Was ist wann als Sucht zu bezeichnen? So können beispielsweise in einer Familien die Eltern und Großeltern exzessiv legale Substanzen wie Alkohol und Medikamente konsumieren, doch wird davon gesprochen, dass die Enkel ein großes Drogenproblem haben, obwohl sie im Grunde nichts anders tun, als das fortzusetzen, was sie in der Familie gelernt haben. In der engen Verbindung von biologischen, psychologischen und kommunikativ-sozialen Prozessen bilden sich so über die Zeit komplexe Muster aus, die als Selbstorganisationsprozess beschrieben werden können, der sich im Ineinandergreifen dieser Prozesse über Jahre hinweg stabilisiert. Luhmann folgend können wir »Leben, Bewusstsein, Kommunikation« als jeweils selbstorganisierte Systeme begreifen, die füreinander Umwelten darstellen, die strukturell eng gekoppelt sind, zwischen denen aber keine kausalen Bezüge hergestellt werden können (1984, vgl. auch Kapitel 1.1). Abhängigkeit ist somit auf verschiedenen Ebenen (Klein 2002a, 2002b) und auf jeder dieser Ebenen anders beschreibbar: – Ebene Leben: Das biologische System nimmt Substanzen auf, die auf seinen internen Zustand einwirken und ihn verändern. Jedes Suchtmittel wirkt dabei anders, doch chemische und neuronale Abläufe bringen es mit sich, dass es zum einen zu einer Toleranzsteigerung kommt: Der Organismus reduziert die Drogenwirkungen durch Gegenreaktionen, sodass sich der Betreffende allmählich steigende Dosen des Mittels zuführt, um die Toleranz zu kompensieren. Es entwickelt sich eine Dynamik der »Selbstmedikation der Nebenwirkungen der Selbstmedikation« (Schwertl 1998; Klein 2005b). Nach einer gewissen Zeit wird das Suchtmittel (z. B. Alkohol) als fester Bestandteil der Organismusfunktionen eingebaut mit der Folge einer

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physischen Abhängigkeit, die sich in Entzugserscheinungen bei Absetzen der Droge zeigt (Klein 2002a, S. 38f.). – Ebene Bewusstsein: Eine psychische (Alkohol-)Abhängigkeit entwickelt sich, indem affektlogisch verknüpfte Erlebens- und Selbsterzählungsstrukturen sich mit einer rigide erscheinenden Trinkchoreographie verbinden (S. 31). Je öfter diese Choreographie durchlaufen wird, desto weniger alternative Optionen stehen zur Verfügung, die Suchthandlung stabilisiert sich auf der psychischen Ebene selbst: Sie besteht, weil sie besteht und sie wird durch das Muster aufrechterhalten, durch das sie selbst gebildet wird. – Ebene Kommunikation: Wie bereits angesprochen, gibt es keine Sucht an sich. Süchtiges Verhalten ist gleichzeitig in ein Netzwerk aus Beschreibungen und Zuschreibungen eingebunden, die von Beobachtern vorgenommen werden. Übrigens: Auch das stille, heimliche Konsumieren von Medikamenten oder Alkohol erfordert eine Beobachtung (ggf. eine Selbstbeobachtung), aufgrund derer jemand sagt: »Das ist ein Problem!« Die enge soziale Verflechtung von Abhängigkeitsverhalten und Reaktionen der Umgebung ist vielfach mit dem Begriff »Ko-Abhängigkeit« belegt worden. Diese Umetikettierung entlastet den Patienten, er ist nicht allein »krank«, doch führt sie zu einer verstärkten Belastung ohnehin schon schwer angeschlagener Partner oder Eltern. Die Beschreibung, dass bei Suchtverhalten eines Mitglieds immer ein ganzes System betroffen ist und Unterstützung benötigt, kann hier einen besseren Zugang ermöglichen. So zeigt sich bei dem Thema Sucht noch einmal besonders deutlich die Verschränkung der verschiedenen Bereiche, in denen sich Leben vollzieht. Es wäre ein Fehler, diese ausschließlich auf die psychische oder kommunikative Ebene zu beschränken, das Ziel kann nur in der Sensibilisierung für die Komplexität liegen und in der Vorsicht vor dem zu schnellen Verstehen. »Süchtiges Trinken erscheint in dieser Betrachtung als eine höchst stabile Verkettung unterschiedlicher Lösungsoperationen in und zwischen den jeweiligen Systemebenen« (Klein 2005b, S. 72). Beziehungsmuster sollten daher als Versuche gelesen und verstanden werden, komplexe Zusammenhänge zu beschreiben.

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iBeziehungsmusteri Frühe familientherapeutische Ansätze gingen von einem entgleisenden Ablösungsprozess zwischen süchtigen Adoleszenten und ihren Eltern aus. Stierlin unterschied in seinem Buch »Eltern und Kinder« (1980) zwei Typen von jeweils extremen Bindungsmustern zwischen Verwöhnung/Bindung und Ausstoßung. Ein Teil wird von den Eltern regressiv verwöhnt und infantilisiert (»Bindungsmodus«), traut sich wenig zu, findet später keine ihn gleichermaßen verwöhnenden Gleichaltrigen, sucht im Drogenrausch die Unterdrückung seiner Liebeswünsche und die Abschwächung seiner aggressiven Impulse. Die andere, von den Eltern eher vernachlässigte Gruppe (»Ausstoßungsmodus«), sehnt sich nach elterlicher Zuwendung und sucht im Rauschzustand kompensatorisch die vorenthaltene Wärme und Geborgenheit. Strukturelle und strategische Ansätze haben die Position des Jugendlichen im Spannungsfeld der Eltern akzentuiert (Triangulierung): Ein mit dem süchtigen Kind verstrickter Elternteil unterstützt durch Geheimnisse, Schutzangebote und Finanzierung das Symptom des Kindes; der andere Elternteil kritisiert das abhängige Kind wie den Partner und zieht sich dann zurück (z. B. Stanton u. Todd 1982; Haley 1981; Madanes et al. 1981; Kaufmann u. Kaufmann 1983). Andererseits kann die gemeinsame Sorge um drogengefährdete Heranwachsende den Eltern neue Gesprächsinhalte anbieten, die von eigenen Beziehungsproblemen ablenken können. Aus einer systemischen Perspektive schauen wir auf diese Beschreibungen heutzutage mit einer gewissen Ambivalenz (z. B. Schmidt 1996; Thomasius et al. 2002; Schindler et al. 2005), da eine solche Sichtweise zwar den identifizierten Patienten entlastet, jedoch dafür die ganze Familie pathologisiert und das Denken defizitorientiert bleibt. Eine tendenziell misstrauische und wenig wertschätzende Haltung gegenüber Klientenfamilien kann durch diese gefördert werden. Wenngleich rund um Suchtphänomene oft relativ ähnliche Muster, Regeln und Glaubenshaltungen beobachtbar sind (Schmidt 1987; Stachowske 2002), so scheitert doch die Beschreibung der Suchtfamilie an der Variabilität, sowohl problemfördernder wie kompetenzerweiternder Bewältigungsmuster (Schmidt 1996). Schon 1983 betonte Steinglass, dass die Familien alles andere als homogen seien, ebenso wenig wie es »den Süchtigen« gibt, gibt es »die Suchtfamilie«. Suchtspezifische Familienstrukturen zu fin-

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den, wird heute als Irrweg gesehen (Schwertl 1998). Neuere systemische Ansätze richten ihren Blick daher vom innerfamiliären »Wer mit wem gegen wen?« stärker auf Glaubenssysteme, Selbstorganisationsprozesse und die Erhöhung von Wahlmöglichkeiten bei allen Beteiligten. Dabei geraten auch die Kommunikationsmuster und Beschreibungsgewohnheiten in der institutionellen Suchthilfe selbst als Teil möglicher Problemkreisläufe in den Fokus der Aufmerksamkeit (Richelshagen u. Erbach 1996). Alkoholismus als Teil eines Kontextes, der sich um die Logik symmetrischer Eskalation herum organisiert Bateson befasste sich in seiner Theorie des Alkoholismus mit der Logik der Eskalation, die von allen Beteiligten in einem System geteilt wird, das sich um ein Suchtphänomen herum organisiert. Er spricht dabei vom »Mythos der Macht«, der erst in zweiter Linie mit dem Suchtmittel zu tun hat. In erster Linie ist es eine bestimmte Form der Sicht auf die Welt, deren zentrales Kennzeichen die Idee der Kontrolle ist. Er nennt dies auch »Krankheit der Erkenntnistheorie«: Die Vorstellung, die Welt (einschließlich sich selbst) kontrollieren zu müssen und zu können, muss zwangsläufig scheitern. Die daraus entstehende Hilflosigkeit entwickelt dann mit einer eigenen Affektlogik (Ciompi 1982) das Bild eines Kampfes, der nur über die Ausschaltung oder völlige Unterwerfung des anderen zu lösen ist (vgl. Omer et al. 2006). Der Süchtige teilt im nüchternen Zustand mit seinen Angehörigen die Überzeugung, dass Selbstkontrolle einen hohen Wert darstellt (Welter-Enderlin 1992). Angehörige drängen den Trinker, stark zu sein und der Versuchung zum Trinken zu widerstehen. Der Trinker fühlt sich als »Kapitän seiner Seele« (Bateson 1981, S. 403) und geht davon aus, jederzeit beweisen zu können, dass er den Kampf gegen die Flasche oder den Joint gewinnen könne. Familienmitglieder, Arbeitgeber oder Kollegen fühlen sich dann eingeladen, den Trinker durch Kontrolle, Bitten, Appellieren und Drohen zu einer Änderung zu drängen, was vom Trinker als Angriff auf seine Autonomie empfunden wird, seinen Stolz anheizt und ihn in die nächste »Runde« treibt. Diese Runden verschärfen sich in einer Spirale von Frustration und Ärger zunehmend. Die Mitglieder des Systems beschreiben sich als völlig ausgeliefert: »Wenn sich nicht bald etwas ändert, werde ich mich trennen, er zwingt mich zum Äußersten!« Die von allen gleichermaßen

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geteilte Logik ist die, dass erst ein absoluter Sieg (und damit die absolute Niederlage des anderen) die Lösung ist. Es gibt nur ein Ergebnis: »Er oder ich!« So kommt es zu automatisierten Eskalationslogiken (Omer et al. 2006), durch die genau der süchtige Kreislauf erzeugt und aufrechterhalten wird, den der Trinker bekämpfen wollte. Ein symmetrisches und eskalierendes Muster etabliert sich, das immer wieder von Phasen der Reue unterbrochen wird, vor allem dann, wenn eine kritische Grenze der Eskalation überschritten wurde (etwa wenn eine Partnerin erkennbare Schritte in Richtung Trennung einleitet). Bateson interpretierte vor diesem Hintergrund den Ansatz der Anonymen Alkoholiker (AA) neu. Die Kapitulation vor dem Alkohol, die eine Voraussetzung für die Beteiligung bei den AA ist, stellt einen Ausstieg aus der Logik der Eskalation dar. Sich einer »höheren Macht« zu unterstellen (ein Teil des Rituals), bedeutet den Einstieg in ein komplementäres Muster. Alkoholismus als Ansichtssache? Mit dieser provozierenden Formulierung, die gleichwohl die physische Wirkung von Alkohol nicht leugnen will, haben Efran et al. (1989) mit Bezug auf die Theorie der Autopoiese auf die sehr diskrepanten Bedeutungsgebungen des Konsums potenziell suchterzeugender Stoffe hingewiesen. Die Vorstellung von Alkoholismus als Krankheit befreite exzessiv trinkende Menschen aus den Fängen moralischer Verurteilung als »sündig«, »gottlos« oder »schlecht«, denen sie allerdings auch mit dem Krankheitsetikett nie vollständig entkommen können – vielfach ist das Ringen um die angemessene Beziehungsdefinition ein Kennzeichen der Kommunikationsinhalte der Beziehungssysteme. Mit Bezug auf das Konzept der Strukturdeterminierung stellen die Autoren auch die Ideen von Selbstkontrolle und Kontrollverlust infrage. Da lebende Systeme unabhängig und unbeeinflussbar von der Umwelt sind (instruktive Interaktion ist nicht möglich), erscheint der Aspekt der Kontrolle auf dieser Ebene unpassend. Mehrgenerationale Muster und Drogenkonsum Unter einer Mehrgenerationen-Perspektive untersuchte Stachowske (2002) die tiefe kulturelle Verankerung von Drogenkonsum (seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts) in unserer Gesellschaft. Er beschreibt die Verbindung zwischen der Entwicklung der Generationen in Familien

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Abbildung 5*

und deren Beeinflussung durch Faktoren der Zeitgeschichte und kulturelle Einflüsse. Er sieht die Manifestierung einer Sucht- und Drogenerkrankung als Ausdruck eines nicht erkannten Suchtproblems in den Generationen davor an (bis zu fünf Generationen zurück) und stellt Bezüge zur Zeitgeschichte her, insbesondere zu den Kriegen des 20. Jahrhunderts mit ihren Traumatisierungen. Für ihn hängt der gegenwärtige gesellschaftliche Umgang mit Drogen als Teil der Kultur eng mit verdrängten Aspekten deutscher Geschichte, insbesondere des Nationalsozialismus zusammen: Überzufällig häufig verbinden sich Nachkommen aus Täter- und Opferfamilien aus jener Zeit durch Heirat miteinander – und deren Kinder werden drogenabhängig (Stachowske 2002, S. 149f.). Solche Muster ließen sich auch bei den drogenabhängigen Kindern aus anderen europäischen Kulturen erkennen, die durch Diktaturen geprägt * Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Bulls Press, Frankfurt a. M.

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waren, etwa aus der Stalinzeit, der Salazar- und Franco-Ära, ebenso wie aus der Zeit Titos oder der Zeit des polnischen autoritären Regimes (vgl. Stachowske 2002, S. 122ff.). Für ihn sollte die Perspektive der mehrgenerationalen Entwicklung von Drogenabhängigkeit in Behandlungskonzepte eingeführt werden. Isomorphe Strukturen in der Suchtkrankenhilfe Das isomorphe (strukturell ähnliche) Verhältnis verschiedener Ebenen klassischer Suchtbehandlung haben Richelshagen und Erbach (1996; siehe auch Erbach u. Richelshagen 1989; Richelshagen 1996) thematisiert. Sie beschreiben, wie die Definition von Alkoholismus als Krankheit eine Reihe von Folgeproblemen erzeugt, die sich in den Beziehungen zwischen Klienten und Helfern wiederspiegeln. Sie haben im weitesten Sinn mit Verantwortung und Kontrolle zu tun, die Ausführungen von Bateson lassen sich daher auch auf die professionellen Strukturen übertragen. Isomorph zu den Strukturen der Sucht ist etwa die Reproduktion repressiver Strukturen, in denen der Abhängige sowohl in seiner Familie, als auch in der meist von Erpressung, Gewalt und Korruption gekennzeichneten Beziehung zwischen ihm und dem Dealer gestanden hat. Ähnliche strukturelle Bedingungen lassen sich in mancher suchttherapeutischer Praxis finden, wenn Bevormundung und Machtausübung die fehlende Verantwortlichkeit des Klienten ersetzen sollen. Eine andere Isomorphie, die sich sowohl in Familien mit Suchtpatienten als auch im Helfersystem findet, besteht in der paradoxen Erwartung: »Verhalte dich autonom, aber so, wie ich es für richtig halte!« Die Idee, der Klient sei jederzeit rückfallgefährdet, bringt hier eine permanente Spannung zwischen der Notwendigkeit (?) der Kontrolle und dem Ziel der Autonomie mit sich (vgl. Herwig-Lempp 1994). Das Fazit der genannten Autoren besteht darin, sensibel zu sein für Interaktionsmuster, die vertraute, abhängigkeitsfördernde Grundannahmen bestätigen und verhärten können. Sie plädieren für die Entwicklung beweglicherer Strukturen, in denen Prävention einen besonderen Stellenwert hat.

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Süchtiges Trinken als chronifiziertes Schwellenritual: Eine systemische Entwicklungstheorie des Alkoholismus Bei Klein (2002a) wird süchtiges Trinken als ein noch nicht vollzogener, vorübergehend und oft langfristig steckengebliebener Übergangsprozess beschrieben. Wenn Menschen in den verschiedensten Gesellschaften vom Übergang aus einer stabilen Lebenssituation in eine andere stabile Lebenssituation hinübergehen, dann verlassen sie die alte Situation typischerweise durch ein Trennungsritual, durchleben eine Umwandlungs- und Schwellenphase und gelangen durch eine Wiederangliederungsphase in die neue stabile Lebenssituation. Die Umwandlungsphasen werden in traditionellen Gesellschaften oft durch bewusstseinsverändernde Praktiken wie Trommeln, Tanzen oder Substanzen wie Alkohol, Tabak oder Drogen unterstützt. Diese trennen den Menschen vom alten Zustand ab, symbolisieren das Sterben der alten Persönlichkeit und den Beginn des Seinswandels. In postmodernen Gesellschaften sind diese Übergänge schwerer: Der neue Zustand ist oft unklar, der haltgebende rituelle Ablauf fehlt meist, ein den Übergang fördernder Begleiter (z. B. ein Schamane) ebenso. Der Trinker, der erkennt, dass er an einem existenziell bedeutsamen Veränderungspunkt seines Lebens steht, hegt gleichzeitig aufgrund biografischer Belastungen Zweifel an der eigenen Kompetenz zur Lösung dieser existentiellen Herausforderung. So lindert und betäubt er diese Unsicherheit durch das Trinken. Zugleich vermag er im veränderten Bewusstseinszustand Blickwinkel einzunehmen und Affekte zu erleben, die ihm ansonsten (noch) versperrt erscheinen. Entwickeln sich nach einer gewissen, individuell höchst unterschiedlichen, Zeitspanne der Suche keine attraktiven Alternativen zur bisherigen Situation oder werden die eigenen Ressourcen für die fällige Veränderung dauerhaft als nicht ausreichend bewertet, wird Alkohol zunehmend als Beruhigungsmittel eingesetzt. Der Trinker kann weder in die ursprüngliche Situation zurück (sie passt nicht mehr), noch kann er einen Platz in der zukünftigen Struktur einnehmen. Er bleibt in der Schwellenphase stecken und süchtiges Trinken entwickelt sich. Seine Umwelt (Familie, Partner, Arbeitgeber und Kollegen) versucht, ihn durch kontrollierende Hilfsmaßnahmen in den alten Zustand zurückzubringen. Zwischen »verantwortungslosem« Trinker und kontrollierender Umwelt kann es zu symmetrischen Eskalationen kommen. Der Trinker wird einerseits isoliert, der Alkohol zu seinem einzigen ihm treuen Part-

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ner. Die anderen schließen sich zusammen, um den Trinker zu bekehren. Dieser versucht durch vermehrtes Trinken seine Autonomie zu wahren (»Von euch lasse ich mir doch nicht vorschreiben, wie viel ich zu trinken habe«), wird aber durch das Trinken und seine sozialen Folgen gleichzeitig zum Objekt vermehrter kontrollierender Fürsorge. Professionelle Helfer ergreifen in der Regel die vernünftige, nichtsüchtige Position der Angehörigen, dass das Trinken veränderungswürdig und vom Trinker zu beenden sei. Gelegentlich findet sich ein Familienmitglied oder Freund (in manchen Publikationen als »Ko-Alkoholiker« bezeichnet), der zwar verbal in die Ablehnung des süchtigen Trinkens einstimmt, im Handeln aber durch Getränkebeschaffung, Finanzierung des Getränkekaufs oder andere Maßnahmen das süchtige Trinken logistisch unterstützt, dafür von den anderen auch kritisiert wird. Das süchtige Trinken lädt also zu einer Beziehungsform ein, bei der gleichzeitig Bindung und Autonomie gelebt werden, auf der Basis einer strikten Spaltung zwischen Trinker, Ko-Abhängigem und Umwelt.

iEntstörungeni Auftragskonstellationen und Anliegenorientierung Bei einer Störung, die in unserer Kultur so stark mit symbolischen Bedeutungsüberschuss versehen ist wie Sucht, sehen sich Therapeutinnnen und Therapeuten immer einer besonderen Qualität von Auftragskonstellation (»Auftragskarussell«; von Schlippe u. Kriz 1996) ausgesetzt: Der Kostenträger möchte in der Regel die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit durch eine vollständige Abstinenz, die systemische Therapeutin möchte mit größtmöglicher Ergebnisoffenheit und Neutralität unterschiedliches Trinkverhalten (Abstinenz, kontrolliertes Trinken, süchtiges Trinken) beleuchten. Die Angehörigen erwarten eine Stabilisierung des Betroffenen, ohne dass sich innerhalb des Familiensystems zu viel verändert und der Arbeitgeber will schnelle Resultate sehen. All dies macht es schwer, mit dem Klienten selbst ein Ziel auszuhandeln, das vielleicht eine Entscheidung gegen Abstinenz und stattdessen für eine Reduktion beinhaltet (Klein 1994). Daher ist eine konsequente Anliegenorientierung hier besonders zu beachten, die von Seiten der Therapeutin erfordert, sehr klar neutral in Bezug auf die möglichen Entschei-

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dungen zu sein, zum Beispiel: »Ich stelle Ihnen jetzt ein paar Fragen. Sie müssen das Trinken für mich nicht ändern. Es geht mir nicht darum, dass Sie etwas ändern. Ich möchte nur einmal wissen, welches Risiko Sie eingehen, wenn Sie weiterhin so trinken« (Klein 2005b). Ein möglicher Therapieverlauf in einer systemisch-familientherapeutisch orientierten Drogenambulanz Die Gruppe um Thomasius und seine Kollegen von der Hamburg-Eppendorfer Suchtambulanz (Thomasius et al. 2002; Thomasius u. Küstner 2005) hält systemisch-familientherapeutisches Arbeiten in der Suchttherapie für besonders angebracht an, wenn das süchtige Verhalten mit Abgrenzungskonflikten einhergeht, beispielsweise wenn bei Jugendlichen oder bei ko-abhängigen Partnern die Familienmitglieder entweder durch Vernachlässigung oder durch übermäßige Fürsorge das Suchtverhalten ungewollt verstärken oder der Drogenkonsument in allzu durchlässigen Generationsgrenzen als Partnerersatz, Elternersatz oder ewiges Kind gebunden bleibt. Das Suchtverhalten kann dann mit Triangulierungsprozessen verbunden sein, die sich durch Koalitionsbildungen, Ausgrenzungen, Geheimnisse, gegenseitige Abwertungen bemerkbar machen. Die Autoren empfehlen ihrem systemisch-familientherapeutischen Ansatz entsprechend ein dreiphasiges Vorgehen in einer Drogenambulanz für junge Drogenabhängige bis 26 Jahre (Küstner et al. 2003; Schindler et al. 2005): – Phase I (Klärungsphase): Klärung der Anliegen aller beteiligten Familienmitglieder, Indikationsstellung, Definition eines Therapieauftrags, Erarbeitung konkreter Therapieziele; – Phase II (Veränderungsphase): Fokussierung auf Drogenabstinenz oder andere definierte Therapieziele, Analyse der bisherigen und Erprobung alternativer Beziehungsmuster unter Berücksichtigung von »Ausnahmen« und einer Orientierung an den Ressourcen der Familie, Überprüfung und Veränderung der Generationsgrenzen und der innerfamiliären Regeln, Rückfallprophylaxe – und nebenher Urinkontrollen; – Phase III (Neustrukturierung): Wenn die Haupttherapieziele erreicht sind, tritt die Stärkung der Autonomieentwicklung sowohl der Jugendlichen wie auch ihrer Eltern (evtl. »Empty-Nest-Situation«) in den Vordergrund. Neue Perspektiven in Schule oder Ausbildung wer-

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den jetzt wichtig, bei Bedarf therapeutische Angebote für Teilsysteme der Familie wie Elternberatung, Paartherapie für Eltern oder Einzeltherapie für den Jugendlichen. Dieser Ansatz sieht die Einbeziehung der Familie als essentiell für die Arbeit mit den Betroffenen an, es wird das Angebot an das Familiensystem gemacht, das Ziel der Autonomieentwicklung im therapeutischen Prozess zu moderieren. Gleichzeitig wird das therapeutische System durchaus auch als Kontrollsystem verstanden (etwa durch die Durchführung von Urinkontrollen). Systemische Therapie als Übergangsritual In einem ganz anderen Kontext (ambulante Therapie mit Alkoholikern) versucht Klein (2002a, 2005b), konsequent auch in der therapeutischen Situation das Thema Kontrolle zu dekonstruieren. Sein Modell einer systemisch-konstruktivistischen Therapie süchtigen Trinkens durchschreitet Phasen, die sich aus der logischen Figur des Tetralemmas (von Kibéd u. Sparrer 2000) ableiten. Jede dieser Phasen kann neue Optionen eröffnen, der Therapeut ist daher in Bezug auf alle Optionen strikt neutral. Im Tetralemma werden nacheinander eine Reihe von vier (»tetra«) Grundpositionen durchgespielt (»Das Eine«, »Das Andere«, »Beides«, »Keines von beiden«; diesen kann noch eine fünfte Position zugefügt werden: »Dies alles nicht!«). Das Modell erlaubt es, die unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben, die mit einer Veränderung süchtigen Trinkens verbunden sein können, in einer speziellen zeitlichen Abfolge zu erfassen und passende methodische Vorgehensweisen zuzuordnen. Beim Tetralemma handelt es sich um eine logische Form, bei der die Ausgangsposition ein Entweder (das süchtige Trinken wäre hier die Position »das Eine«) und ein Oder (eine erwartete Abstinenz, »das Andere«) ist. Beide Positionen scheinen sich gegenseitig auszuschließen, enthalten aber (noch) übersehene Entwicklungspotenziale. Durch das Abwägen beider Positionen innerhalb des therapeutischen Dialogs entsteht ein Hin- und Herpendeln zwischen den beiden sich scheinbar ausschließenden Polen. Diese Pendelbewegung lenkt den Blick auf bereits praktizierte alternative Umgangsformen mit dem Trinken. Die Analyse der Erfahrungen mit unterschiedlichen Trinkmustern kann zu der Position »Beides« führen, die eine vom Klienten selbst vorgenommene Zieldefi-

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nition zunehmender Selbststeuerungsfähigkeit darstellen kann. Dabei werden oft Themen deutlich, die das süchtige Trinken als Lösungsversuch begünstigt haben. Meist handelt es sich um biografisch bedeutsame Themen, die mit Hilfe von Alkohol lange ge- und vermieden wurden. Der Weg fokussiert danach auf gegenwärtige und zukünftige Entwicklungsaufgaben und Übergangsthemen, die durch das süchtige Trinken bislang verschoben oder dissoziiert worden waren. In der letzten Position, »Keines von beiden«, handelt es sich um die Phase der Therapiebeendigung. Klienten können nun erkennen, wie es zu dem ursprünglichen Dilemma kam, was die Themen und Zwickmühlen waren, die zum Trinken geführt haben. Klein sieht systemische Therapeuten im ambulanten Setting dabei als Begleiter des Klienten beim Übergang von einer (chronifizierten) Schwellenphase in eine noch zu erfindende neue Lebenssituation durch folgende Teilphasen: 1. »Entweder-oder«: Das Für und Wider des süchtigen und des nichtsüchtigen Trinkens wird sorgfältig abgewogen: Vielleicht hat es Ängste und Schweißausbrüche gedämpft, Selbstsicherheit und Aufgehobensein in einer Clique vermittelt und anderes. Andererseits hat es vielleicht gesundheitliche und finanzielle Probleme heraufbeschworen. Zugleich wird das Für und Wider eines abstinenten Verhaltens abgewogen: Was würde dann besser oder schlechter im Selbsterleben, in der Partnerschaft oder Familie, im Job, in der Peergruppe? 2. Der Weg zum »Sowohl-als-auch«: Zwischen den Polen des süchtigen Trinkens und der Abstinenz können weitere Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen des Trinkverhaltens erfragt werden. Bereits praktizierte Ausnahmen im Trinkverhalten können so fokussiert und für das weitere Vorgehen als Ressource genutzt werden. Jetzt werden Beobachtungsaufgaben und veränderungsanstoßende Experimente mit verschiedenen Trinkszenarien, unterstützt durch Externalisierungstechniken, angeregt. Wird in dieser Phase keine deutlich erhöhte Selbststeuerungsfähigkeit im Sinne einer Zielannäherung erreicht, sollte sowohl über eine Neudefinition des Therapieziels als auch über ein geändertes Therapiesetting nachgedacht und verhandelt werden (z. B. vorübergehende stationäre Therapie). 3. Der Weg zu »Beides«: Wenn jetzt sowohl Abstinenz als auch eine andere Form des nichtsüchtigen Trinkens potenziell möglich erschei-

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nen, werden zur Stabilisierung dieses Zustandes einerseits traumatisch erlebte alte Geschichten auf noch übersehene Ressourcen durchsucht und festgefrorene affektiv-kognitive Muster infrage gestellt. Jetzt kommen auch die Angehörigen stärker ins Spiel: Wie können sie auf neue Weise miteinander zurechtkommen? Hier geht es vor allem um langjährig eingeübte Misstrauensmuster: um Kontroll- und Versteckspiele, um Gut-Böse-Unterscheidungen. Hier helfen Verschlimmerungsfragen und So-tun-als-Ob-Verschreibungen (also: »Als ob noch süchtig getrunken und der Trinker misstrauisch kontrolliert würde«). 4. Der Weg zum »Weder-noch«: Die bislang nicht gelösten Lebensthemen rücken in den Mittelpunkt – die Ablösung aus dem Elternhaus, die Bewältigung von Todesfällen oder Trennungen, das Aushandeln von Generationsgrenzen. In dieser Zeit der Bilanz wird auch betrachtet, was noch verändert werden kann und was als unveränderbar akzeptiert werden muss – welche Lebenszeit bereits verstrichen ist und welche Entwicklungsschritte noch möglich sind, welche nicht mehr. Ein Wandern auf der Lebenslinie (Grabbe 2003) kann klären, wie viel Zeit wofür noch bleibt. Therapeutische Übergangsrituale (Wolin et al. 1993; van der Hart 1982), auch Skulpturen oder Familienaufstellungen (Weber 1993) können hier einen Platz haben. 5. Der Weg zu »Keins von beiden«: Jetzt steht die Gestaltung des Neuen an – oft nach einer Trennung, nicht mehr mit denselben Beziehungspartnern. Der Therapieabschluss markiert das Ende des therapeutischen Übergangsrituals, nicht aber der Entwicklungen. Auch eine Wiederaktivierung des süchtigen Verhaltensmusters als wählbare Möglichkeit wird in den Raum gestellt. Die Tür des Therapeuten bleibt für einen möglichen neuen Besuch in der Zukunft offen. Folgendes Fallbeispiel soll dieses Vorgehen illustrieren: Herr Müller (36, verheiratet, keine Kinder) nahm nach zwei stationären Entgiftungen und einer viermonatigen stationären Entwöhnungstherapie, die er wieder abgebrochen hatte, Kontakt auf. Nach dem Therapieabbruch hatte er mehrere Wochen abstinent gelebt, bis er schleichend wieder zu trinken begonnen hatte. Die Ehefrau war nach einer Trennungsphase kürzlich wieder zu ihm zurückgekehrt. Herr Müller ist selbstständiger Handwerker mit einem kleinen Betrieb. Zum Zeitpunkt des Erstkontaktes lebte Herr Müller abstinent.

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»Entweder-oder«: Im ersten Gespräch zeigte er sich depressiv mit suizidalen Tendenzen. Es ging neben den von ihm schnell angebotenen negativen Effekten des Trinkens um die Frage, inwiefern das Trinken für ihn auch nützlich gewesen sein könnte. Sehr schnell wurde deutlich, dass es in der Vergangenheit auch lebenserhaltende Aspekte hatte. Neben dem Thema Trinken ging es auch um die Frage, wofür es sich zu leben lohne. Zum Abschluss des ersten Gesprächs wurde ihm die Frage mitgegeben, welche Bedingungen er wünsche, um sich mit den angesprochenen Themen auseinandersetzen zu können. Er entschied sich für eine ambulante Therapie. Ihm wurde erklärt, dass eine Stabilisierung und eine erhöhte Selbststeuerung seines Trinkverhaltens, unabhängig davon, ob dies durch eine Abstinenz oder ein wie auch immer geartetes anderes Trinken von ihm erfolgreich praktiziert werde, die Voraussetzung für weitere therapeutische Schritte darstelle. Auch zum Zeitpunkt dieses Gesprächs lebte er abstinent und es wurde darauf fokussiert, wie ihm das gelinge. Er bot die Metapher an, es existierten in seinem Kopf zwei Truppen, die Trinkertruppe und die Nichttrinkertruppe. Diese stünden sich gegenüber und derzeit setzte sich die eine Truppe vermehrt durch. Er kenne aber auch Zeiten, in denen er trinke und dann nichts Positives mehr bei sich entdecke. Das Trinken helfe ihm lediglich, den Leistungsdruck von der Arbeit her zu reduzieren. Das Trinken habe ihn lange davor bewahrt, noch depressiver zu sein oder sich umzubringen. Diese innere »Bewegung« wurde durch angedeutete Plätze im Raum visualisiert. Er platzierte die nichtsüchtige Seite (seit seiner Abstinenz ging es ihm körperlich besser, allerdings warf dies Fragen in Bezug auf sein Leben auf ) seitlich links von sich und die süchtige Seite (immerhin schien ihn das Trinken vor Schlimmerem bewahrt, ihn aber auch körperlich viel gekostet zu haben) im gleichen Winkel rechts. Er nahm die Idee mit, täglich bereits morgens, aber auch im Lauf eines Tages, immer wieder darauf zu achten, ob er beide Seiten bei sich (»an Bord«) hatte. Außerdem, so schlug der Therapeut vor, bleibe die süchtige Seite ein Teil von ihm und könne für die Arbeit wichtige Hinweise liefern, falls er wieder zu trinken begänne. Sie weise dann auf Dinge hin, die zu wenig berücksichtigt worden seien. Der Weg zum »Sowohl-als-auch«: In weiteren Gesprächen wurde mit den Techniken der Externalisierung und Visualisierung zum Ausbau der Selbststeuerung differenziert weitergearbeitet. So schilderte er, auf Stresssituationen mit verstärktem Trinkbedürfnis reagiert zu haben, zum Beispiel wenn er auf der Baustelle eine Arbeit aufgrund irgendwelcher Einflüsse (Wetter, Material usw.) nicht so fertigstellen konnte wie gefordert. Er komme dann unter Druck, früher habe er dann sofort einen Cognac getrunken, was in der Regel Beginn von exzessivem Trinken war. Im Gespräch wurde eine typische Baustellen-Szene durchgespielt und die Frage aufgeworfen, mit welchen inneren Zuständen er konfrontiert werde. Er fand in sich einen »zehnjährigen Max«, der sehr nach Anerkennung strebe. Die habe er bis zu seinem 13. Lebensjahr nie bekommen. Er sei von seinem Vater, der ebenfalls süchtiger Trinker gewesen sei, oft abgewertet und geschlagen worden. Außerdem sei er ein schlechter Schüler gewesen. Mit 14 Jahren bekam er durch seine Ausbildung als Handwerker eine gewisse Anerkennung, wenn er als Jüngster der Familie für die anderen Familienmitglieder kostenlos gearbeitet habe. Er sei ständig auf der Jagd nach Anerkennung gewesen – und dies sei bis heute so geblieben. Dieser »innere Zehnjährige« werde heute sofort aktiviert, wenn er Aufträge von Kunden zu erfüllen versuche. Er setze sich unter Druck, indem er den Kunden einen Zeitrahmen und eine Kostenkalkulation präsentiere, denen er letztlich nicht gerecht werden könne. Er könne dann nicht mehr unterscheiden, ob er sich wie ein 36-Jähriger oder ein Zehnjähriger verhalte und fühle sich komplett ausgeliefert. Auf die Aufforderung visualisierte er einen zehnjährigen kleinen Jungen, den er »Stinkbeutel« nannte. Dieser hetze

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den 36-Jährigen über die Baustelle. Es sei ziemlich verrückt, aber der 36-Jährige lasse sich antreiben bis zur völligen Erschöpfung, statt sich umzudrehen und den Zehnährigen zurechtzuweisen. Der Alkohol verschaffe dem 36-Jährigen dann etwas Ruhe, doch nach kurzer Zeit brauche er weiteren Alkoholnachschub. Herr Müller gab zu verstehen, dass dieses Bild für ihn fast lustig sei. Wenn er sich auf der Flucht vor einem kleinen Stinkbeutel sehe, müsse er fast lachen. Eigentlich müsse er sich nur umdrehen. Das reiche schon aus. Der Weg zu »Beides«: Die nächsten Wochen verliefen problemlos bis zu einem Tag, an dem er auf der Baustelle wieder unter Druck geriet, sich eine Flasche Cognac besorgte und sie im Lauf des Tages austrank. Die Analyse ergab, er habe aufgrund seiner sehr positiven und erfolgreichen Phase die inneren Zügel locker gelassen und damit alten Mustern wieder mehr Raum zur Verfügung gestellt. Er hatte sich nicht imstande gefühlt, die Situation anders zu managen. Stattdessen habe er sich ausgeliefert und einflusslos gefühlt, obwohl ihm das Bild des zehnjährigen »Stinkbeutels« zur Verfügung gestanden habe. Allerdings hatte er noch keine Idee, womit dies zusammenhängen konnte. Der Therapeut entschloss sich zu einem Brief, den er dem Klienten ankündigte: »Sehr geehrter Herr Müller, hier, wie angekündigt, meine Ideen zu unserer letzten Sitzung: – Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl bis zum Lesen dieses Briefes Ihre mit Sicherheit vorhandene Kraft genutzt haben, sich vom Trinken zu distanzieren. – Weiterhin habe ich mich gefragt, ob Sie, sollten Sie getrunken haben, die Kraft aufbringen, es wieder zu beenden. Dass Sie das können, steht für mich außer Frage. Immerhin haben Sie es in den vergangenen langen Wochen mit großer Überzeugungskraft unter Beweis gestellt. – Dann fiel mir ein, dass es sicher wichtig ist, wenn Sie als der ›Erwachsene‹ sofort merken, dass der ›kleine Max‹, den Sie einmal den ›Stinkbeutel‹ genannt haben, das Regiment über den erwachsenen Max zu übernehmen versucht. Allerdings ist auch da die Lösung einfach: ›Ich bin der Erwachsene und du der Kleine. Und ich, der Erwachsene, weiß, was für mich gut ist und erkenne die Gefahr. Dann reagiere ich entsprechend. Der Kleine jedoch will etwas und übersieht dabei die Gefahr.‹ – Und ein letzter Gedanke: Es scheint eine harte Auseinandersetzung zwischen zwei inneren Seiten zu geben. Einerseits der Max, der noch eng mit dem ›Kleinen‹ verbunden ist, noch etwas verspielt und verträumt erscheint und manchmal sogar sein Leben aufs Spiel zu setzen bereit ist. Andererseits weiß der erwachsene Max ganz genau, dass er sich einem anderen Leben zuwenden und sich von Früherem, was immer das sein mag, unterscheiden möchte. Und obwohl der erwachsene Max dies alles sehr klar sieht, ist die Auseinandersetzung noch nicht beendet. Vielleicht gibt es vermeintlich negative Konsequenzen, die mit einer erwachsenen Lösung verknüpft sind, über die wir bisher noch nicht gesprochen haben. Ich bin sehr gespannt, wie Sie die innere Auseinandersetzung entscheiden werden. Ich habe großen Respekt davor, dass Sie sich dieser großen Veränderungsaufgabe stellen und freue mich auf das nächste Gespräch. Mit freundlichen Grüßen […]« Herr Müller berichtete in der Folgesitzung von einem erneuten Vorfall, bei dem er jedoch seinen Einfluss habe geltend machen können. Es sei kein exzessives Trinken gewesen. Er habe in der Folge den Entschluss gefasst, sich mit dem Trinken und den dazu gehörenden Themen noch intensiver zu beschäftigen. Wie in der letzten Passage im Brief bereits angedeutet, wurde mit dem Klienten die Frage aufgeworfen, worin verborgene negative Konsequenzen der Abstinenz oder worin übersehene positive Effekte des Trin-

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kens bestehen könnten. Er schilderte daraufhin, dass es vor allem Situationen der vermeintlichen Einflusslosigkeit seien, die bei ihm den Wunsch nach Trinken auslösten. Bei der Frage, ob es Situationen in seinem Leben gegeben habe, in denen er die Gefühle von Einflusslosigkeit und Ausgeliefertsein kennengelernt habe, schilderte er, er sei als Kind oft ausweglosen und schlimmen Situationen ausgesetzt gewesen. Mit Tränen in den Augen erzählte Herr Müller, sein Vater habe extrem getrunken, im betrunkenen Zustand alle fünf Kinder in ein Zimmer gesperrt und dann die Mutter verprügelt. Diese habe um Hilfe geschrieen. Er, Herr Müller, habe nichts dagegen tun können. Er sei damals etwa drei bis vier Jahre alt gewesen. Dafür habe er seinen Vater gehasst und er hasse ihn bis heute. Manchmal habe er sich bei dem Gedanken ertappt, seinen Vater umbringen zu wollen. Der Hass auf seinen Vater sei auch ein Grund für die Tatsache, dass er mit seiner Frau noch keine Kinder habe: Er traue sich nicht zu, ein guter Vater zu sein, wolle mit seinen Kindern keinesfalls so schlimm umgehen, wie dies sein Vater mit ihm gemacht habe. Mit seiner Mutter habe er sich immer sehr verbunden gefühlt, was ihn auch heute, vor allem seit einem Schlaganfall der Mutter vor drei Jahren, in besonderer Verantwortung halte. Sein Vater hingegen beschwere sich darüber, die Mutter habe durch Schlaganfall und Pflegebedürftigkeit ihm, dem Vater, das Leben vermiest. Die Mutter könne nicht mehr reden und nicht mehr signalisieren, ob sie noch etwas verstehe. Herr Müller habe seit diesem Ereignis deutlich mehr zu trinken begonnen. Oft habe er die Idee gehabt, mit seiner Mutter sterben zu wollen. Das Trinken helfe ihm einerseits, seinen Hass gegen den Vater zu lindern und andererseits, sein Mitleid mit der Mutter zu zügeln, sich aber auch mit ihr eng verbunden zu fühlen. In dieser und den folgenden Sitzungen wurde besprochen, was mit dem Vater wohl passiert sei, dass er sich zu einem Trinker entwickelt habe, der vordergründig gefühllos und brutal erscheine. Die Recherchen von Herrn Müller (er sprach zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ungestört mit seinem Vater) ergaben, dass der Vater durch Kriegserlebnisse traumatisiert worden sei. Bei einem Einsatz seien alle Kameraden umgekommen, außer ihm. Er selbst hatte schwere Verletzungen davon getragen und sei während seines gesamten Lebens dadurch beeinträchtigt gewesen. Seit diesem Gespräch entspannte sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Herr Müller konnte seinen Vater mit anderen Augen sehen und das Verletzliche und Sensible hinter dem Trinken des Vaters entdecken. Die Beziehung zur Mutter wurde ebenfalls Gegenstand der Gespräche. In dieser Passage wurde vor allem besprochen, wie die Mutter seine Loyalität mit ihr bis in den Tod bewerten würde. Er vermutete sehr bewegt, sie wünsche sich sicher, er lasse es sich gut gehen und bewerte die Loyalität mit ihrem Schicksal nicht höher als sein eigenes Leben. Es sei für die Mutter sicher ein schlimmer Gedanke, wenn er mit ihr sterben würde. Dies würde ihr nicht nur nicht helfen, sondern sie auch noch belasten. Wenn er etwas für die Mutter tun wolle, bestehe die Aufgabe darin, sich selbst weiter zu entwickeln. Das Schicksal der Mutter müsse bei ihr bleiben und er könne nicht Partner und Sohn und schon gar nicht der bessere Partner für die Mutter sein. Der Weg zum »Weder-noch«: Das Trinken pendelte sich auf einem sehr niedrigen Level ein. Er trank wochenlang gar keinen Alkohol. Manchmal trank er glasweise geringe Mengen Apfelwein und verzichtete grundlegend auf Getränke, die einen höheren Alkoholgehalt hatten, um dann erneut wochenlang nichts zu trinken. Das Trinken war für ihn ein Verhalten, das er beobachtete, es war für ihn in dieser Form kein Problem mehr. Er kaufte sich ein Motorrad (ein lange gehegter Traum) und errang dadurch auch innerhalb der Ehe eine gewisse Eigenständigkeit. Das Thema Partnerschaft wurde nun zunehmend wichtig. Die eheliche Situation wurde zeitweilig problematisch, da sich durch sein

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stabiles Trinkverhalten die Rollen in der Ehe änderten. Er erlebte seine Frau, die lange als Stütze sowohl psychisch als auch physisch fungiert hatte, zunehmend als bevormundend. Ihm war unklar, ob sie seine Veränderungen als Gewinn oder Verlust erlebte. Diese Irritationen legten sich relativ schnell. Die Einbeziehung der Ehefrau, mehrfach vorgeschlagen und als sinnvoll erachtet, erwies sich jedoch als schwierig, da Frau Müller in kurzer Zeit zweimal schwanger wurde und jeweils eine Fehlgeburt erlebte. Später als geplant konnte die Ehefrau dennoch in die Therapie einbezogen werden. Es zeigte sich sehr schnell, dass das Paar seine Grenzen innerhalb des Hauses von Anfang an nicht hatte wahren können. Der hohe Pflegebedarf der Mutter bedurfte der ständig wechselnden Anwesenheit eines der Geschwister, sodass sich das Paar immer wieder Störungen seiner Intimgrenze ausgesetzt sah. Dieses teilweise höchst übergriffige Verhalten konnte nicht genügend abgewehrt werden. Beide bemerkten erst nach einer durchgreifenden und stabilen Veränderung des Trinkens, welchen Preis sie für diese Art von Leben bezahlt hatten. Vorübergehend wurden Ideen geschmiedet, aus dem eigenen Haus auszuziehen, die Wohnung zu vermieten und wieder »neu anzufangen«. Allerdings gab es vor allem bei Herrn Müller mehr und mehr Zweifel, ob er sich ein weiteres gemeinsames Leben vorstellen konnte. Es kam zunehmend zu Konflikten in der Ehe. Im Lauf dieser Zeit lernte Herr Müller eine Frau kennen und ließ sich auf eine intime Beziehung ein. Als er die erste Nacht bei dieser Freundin verbrachte und mit Nachfragen seitens seiner Frau konfrontiert wurde, versuchte er sein Nichterscheinen mit einem angeblichen nächtlichen Besäufnis zu entschuldigen. Interessanterweise glaubte Frau Müller diese Version, blieb dennoch misstrauisch. In einem späteren Paargespräch stellte sich dann heraus, dass der Ehefrau der Gedanke tatsächlich lieber war, ihr Mann trinke wieder, statt eine andere Partnerin zu haben. Es schien, als ob die Ehebeziehung von Beginn an zu großen Belastungen ausgesetzt war: Die spezifischen Erfahrungen in den jeweiligen Herkunftsfamilien mit je einem trinkenden Elternteil, die Übernahme des elterlichen Hauses durch Herrn Müller, die häusliche Pflege der Mutter mit allen Grenzverletzungen, das jahrelange exzessive Trinken, die lange Phase, in der Herr Müller eine Vaterschaft für sich ausgeschlossen hatte, die Entscheidung für Kinder, die in zwei Fehlgeburten endete. Das Paar verfügte nach der Veränderung des süchtigen Trinkens über zu geringe Energiereserven, um sich mit den Fragen auseinandersetzen zu können, wie das individuelle Leben von Herrn und Frau Müller nun anders weitergehen und auf welche Art diese Unterschiede in einem gemeinsamen Leben für beide zufriedenstellend kombiniert werden könnten. Das Paar trennte sich. Die Therapie mit Herrn Müller steht kurz vor dem Abschluss. Er ist auf dem Weg zu »Keins von beiden« (Therapeut: Rudolf Klein).

Therapieziel Abstinenz? In den herrschenden Suchtbehandlungskonzepten wird Alkoholismus als lebenslange Krankheit angesehen, die letztlich nicht endgültig geheilt, sondern nur zum Stillstand gebracht werden kann durch konsequente »Trockenlegung«, also lebenslange Abstinenz. Als Gegenmodell wird das kontrollierte Trinken propagiert. Gunter Schmidt (1996) und Luc Isebaert (1999) propagieren die Idee, dass nicht das eine oder andere Modell nichtsüchtigen Trinkens erfolgversprechender sei, sondern dass es

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auf die Wahlmöglichkeit ankomme. Wenn Abstinenz das Ziel der Angehörigen oder professionellen Suchthelfer sein, nicht aber das des jeweiligen Klienten, dann sei ja ein Rückfall aus dieser Abstinenz einer der wenigen Wege des Klienten, seine Autonomie und Selbstbestimmung zu wahren. Die Mehrzahl der Suchtklienten hält sich selbst nicht für suchtkrank (dies tun meist die Angehörigen oder die Fachleute) und strebt keine Abstinenz an. Schmidt schlägt vor, mit den Klienten die bisherigen Lösungsversuche (Abstinenz, kontrolliertes Trinken, süchtiges Trinken) mit größtmöglicher Ergebnisoffenheit auf ihre bisherige Bewährung zu untersuchen und in den Fällen für Abstinenz zu werben, in denen zum Beispiel kontrolliertes Trinken sich bislang als problemstabilisierender Lösungsversuch erwies. Die teils ideologisch geführte Auseinandersetzung um kontrollierten Gebrauch von Substanzen oder völlige Abstinenz hat durch neurobiologische Forschungen mit dem Begriff des Suchtgedächtnisses noch eine Facette hinzugewonnen (Patterson 1992): Mit dem Begriff Entzug wird nur das Ausschleichen einer Substanz aus dem Körper bezeichnet – jedoch nicht die schwierigen, oft Wochen und Monate andauernden somatischen und neurobiologischen Regenerationsprozesse. Entsprechende Phänomene werden von Suchtkranken immer wieder beschrieben, sie können, wenn sie über die Sinne mit Suchtstoffen in Kontakt kommen, also durch Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen, Sehen oder bereits durch intensive Gespräche/Fernsehbilder über Drogen, ein Rückfallszenario erleben. Manchmal wird also durch eine bestimmte Reizkonstellation ein enormer Suchtdruck aufgebaut (ähnlich einem Flashback bei einem Trauma). Diese Dynamik zu verstehen, kann helfen, Rückfälle zu entmystifizieren und sie nicht mangelnder Motivation oder fehlender Mitarbeitsbereitschaft zuzuschreiben. Rückfälle oder Ehrenrunden Rückfälle sind in der Suchttherapie an der Tagesordnung. Sie werden unter einer Perspektive, die auf Abstinenz setzt, nicht selten als katastrophal erlebt, oft verurteilen sich die Betroffenen selbst am meisten für das erneute Trinken und trauen sich oft vor lauter Scham gar nicht mehr ihren Therapeuten unter die Augen. Damit ein Rückfall als Kooperationsangebot gesehen werden kann, braucht es eine ressourcenorientierte Sichtweise auf das Geschehen. Hier kann es hilfreich sein, Rückfälle als Information anzusehen, aus der gelernt werden kann:

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– Sind eventuell biologische Einflüsse zu wenig beachtet worden (z. B. Entzugssymptome)? – Zeigen sich hier Hinweise auf ungeklärte Loyalitäten (z. B. gegenüber der Herkunftsfamilie)? – Sind Ängste vor dem neuen und unbekannten Lebensabschnitt unterschätzt worden (z. B. neue persönliche Herausforderungen oder Zumutungen gegenüber den Familienmitgliedern)? Werden vielleicht gefährliche Auswirkungen auf ihre Beziehungen und das Wohlergehen der ihnen wichtigen Menschen im Falle einer Suchtbeendigung befürchtet? – Wird das Therapieziel als fremdbestimmt erlebt? So können Rückfälle als Ehrenrunden verstanden werden, die wichtige Rückmeldungen an den Therapeuten darstellen (Schmidt 1996), für die dieser sich sogar »bedanken« kann, indem er sie als Kooperationsangebot wertet, nicht als Zeichen von Widerstand.

2.10 Sexuelle Störungen: Funktionsstörungen, Unlust, Identitätszweifel – Wege aus dem allzu Vertrauten22 iStörungsbilderi Sexuelle Funktionsstörungen lassen sich definieren »als Oberbegriff für Beeinträchtigungen der sexuellen Appetenz sowie der physiologischen und psychischen Reaktion auf sexuelle Reize« (Weig 2001, S. 246; siehe auch Fliegel 2001). Tabelle 13 zeigt, was in der ICD-10 unter nichtorganischen sexuellen Funktionsstörungen verstanden wird. Seit den Anfängen der Sexualtherapie in den 1920er Jahren standen anfangs Probleme sexueller Funktionsstörungen im Vordergrund, bei denen etwas »nicht geht«, was »eigentlich gewollt wird«: eine Erektion des Penis, eine Öffnung der Vagina beim Koitus, ein sexuelles Höhepunktserleben eines oder beider Partner. Ein weiterer Schwerpunkt lag in der 22 Wir bedanken uns bei Dr. Ulrike Brandenburg, Aachen, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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Tabelle 13: Sexuelle Funktionsstörungen in der ICD-10 F52 F52.0 F52.1 F52.2 F52.3 F52.4 F52.5 F52.6 F52.7 F52.8 F52.9

sexuelle Funktionsstörungen Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle Befriedigung Versagen genitaler Reaktionen Orgasmusstörungen Ejaculatio praecox nicht-organischer Vaginismus nicht-organische Dyspareunie gesteigertes sexuelles Verlangen sonstige nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen nicht näher bezeichnete nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen

Beeinflussung unerwünschter sexueller Strebungen – wenn also Menschen das vermeintlich Falsche wollen –, zu denen noch bis in die 1960er Jahre hinein unter anderem Homosexualität (das sexuelle Begehren eines gleichgeschlechtlichen Menschen), Transsexualität (der Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören) und Transvestismus gehörten (der Wunsch, die für das andere Geschlecht typische Kleidung anzuziehen). Dies sind in der heutigen ICD-10 keine behandelbaren »Krankheiten« mehr. Wie schon Paul Watzlawick wiederholt kolportiert hat: »Nie wurden mit einem Federstrich so viele Menschen gesund wie an jenem Tag, als die American Psychiatric Association entschied, Homosexualität aus dem Katalog behandlungsbedürftiger Krankheiten zu streichen.« Um den Jahrtausendwechsel steht nach übereinstimmender Meinung vieler Sexualtherapeuten das (bedauerte und für pathologisch gehaltene) mangelnde oder fehlende Begehren im Vordergrund. Seltener, meist im Umfeld von Sexualstraftaten, wird ein gesteigertes sexuelles Verlangen diagnostiziert und zu behandeln versucht. Die Behandlung von Sexualstraftätern beziehen wir in diesem Buch nicht ein (siehe dazu Fliegel u. Schweitzer 2004; Rotthaus u. Gruber 2004; Fraenkel 2004).

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iBeziehungsmusteri Sexualität – ein »natürliches« Phänomen? Frau M., 35 Jahre: »Sie müssen mir helfen, ich bin verzweifelt, das passiert mir jetzt schon zum dritten Mal. Immer verliere ich ungefähr nach einem halben Jahr meine Lust.« Therapeutin: »Haben Sie Sehnsucht nach sexueller Lust? Eine Sehnsucht danach, wieder lustvoll mit Ihrem Partner Sexualität zu praktizieren?« Frau M.: »Hm, das weiß ich eigentlich gar nicht so genau. Das mit der Lust, das ist nicht mein größtes Problem. Mein größtes Problem ist, dass ich mich, weil ich diese Lust nicht habe, fühle, als würde irgendetwas mit mir nicht stimmen. Ich fühle mich wie, als wäre ich nicht okay. Ich merke, wie ich immer dann, wenn wir mal Sex haben, schon wieder anfange nachzudenken, wann ich denn das nächste Mal Lust haben müsste. Ich werde immer angespannter. Ich vermeide es schon regelrecht, von meinem Partner überhaupt berührt zu werden. Ich merke, wie ich mich zurückziehe, ja, und wie er sich auch zurückzieht. Oft ist die Stimmung richtig aggressiv zwischen uns. Ja, ich habe Angst um unsere Liebe.«

Nicht der Funktionsverlust, zum Beispiel der an sexueller Lust, ist es, unter dem die Patienten am meisten leiden, sondern die Bedeutung, die dieser für sie in Bezug auf Liebe und Beziehung hat: »Sexuelle Systeme zeichnen sich häufig aus durch eine Mischung von Verbot an Kommunikation und grandiosen Leistungsnormen in Bezug auf sexuelle Performance. Paare, die diese Mischung verinnerlichen, haben eine gute Chance, sexuelle Probleme zu entwickeln. Vielleicht sogar als letzte Rettung dagegen« (Brandenburg u. Kersting 2001, S. 269). In diesem Zitat wird deutlich, wie komplex – und manchmal auch wie kompliziert – menschliche Sexualität gestaltet ist. Natürlich kann man sie als ein »natürliches« Phänomen ansehen. Doch genauso natürlich kann man menschliche Sexualität als »nicht nur natürlich« ansehen. Denn sie ist auch ein Kulturphänomen, dazu braucht man nur einen Tag lang Radio zu hören, Fernsehen zu sehen und Zeitschriften durchzublättern. Sexualität ist ein Bereich, in dem sich natürliche Funktionen und kulturelle Überformung so stark durchdrungen haben, dass man überspitzt sagen könnte, menschliche Sexualität ausschließlich als natürlich anzusehen, sei »ziemlich unnatürlich«. Denn die Definition von Natürlichkeit könnte bereits einen Teil der Probleme ausmachen, die Menschen sich selbst mit Sexualität bereiten, da dies in Beschreibungen führt, die moralische Fallen aufbauen: – »Was hast du nur für unnatürliche Wünsche, geradezu widerlich!«

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– »Du machst es mir so schwer, meinem natürlichen Bedürfnis nachzukommen, meine Liebe zu dir auch körperlich auszudrücken!« – »Wenn du natürlich empfinden würdest, dann würde es zwischen uns klappen, du brauchst dich doch einfach nur hinzugeben!« Es ist sinnvoll, davon auszugehen, dass es zumindest in unserem Kulturkreis keine menschliche Sexualität gibt ohne (mindestens) ein Drehbuch im Kopf: »Sexualität ist Spiel« (Heer 2002). Diese Perspektive führt zu unmittelbaren Konsequenzen für die Therapie sexueller Störungen: Ein natürliches Phänomen soll einfach von selbst ablaufen, bei Störungen muss das den natürlichen Prozess störende Moment entfernt werden, damit die Natur wieder zu ihrem Recht kommt – die Suche nach Harmonisierung ist die zentrale Heuristik. Ein Kulturphänomen dagegen wartet darauf, gestaltet zu werden und lebt von der Spannung unterschiedlicher Formen von Gestaltung – die Leitidee therapeutischer Intervention besteht in der Suche nach kreativen Differenzen beider Partner, damit aber potenziell eher nach dem Konflikt (Schnarch 1995; Clement 2000, 2004). Ähnliche Blockierungen ergeben sich aus der engen Koppelung zwischen Sexualität und Liebe, die zu moralischen Anforderungen führt (»Wenn du mich wirklich lieben würdest …«). Sexualität und Beziehung haben selbstverständlich miteinander zu tun, aber sie sind auch nicht so eng miteinander verkoppelt, wie wir es uns gern vorstellen und manchmal gern hätten. Auch hier kann es hilfreich sein, die Differenzen in den sexuellen Vorlieben beider Partner unabhängig von der Verwirklichung durch den Liebespartner herauszuarbeiten und so zumindest in der Vorstellung den Spannungsbogen und die Unvorhersagbarkeit der beiden Partner füreinander zu erhöhen. Von systemischer Seite her wird daher die Ausrichtung von psychotherapeutischer Praxis zur Behandlung sexueller Störungen an einem normativen Funktionsparadigma kritisiert, wie es etwa von Masters und Johnson (1970) entwickelt wurde. Dieses Paradigma richtet sich an der Norm des Human Sexual Response Cycle aus, also des ungestörten, des »natürlichen« sexuellen Funktionierens. Clement (2000) stellt fest, dass praktisch sämtliche sexualtherapeutischen Ansätze implizit auf diesen Prämissen basieren, selbst wenn systemische Aspekte wie die Paardynamik Berücksichtigung finden (wie etwa in dem verbreiteten Therapiemanual von Arentewicz u. Schmidt 1993). Doch diese Prämissen, so Cle-

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ment, passen auf einen großen Bereich sexueller Klagen nicht. Bei unerfahrenen, gehemmten Klientenpaaren, wie es sie vielleicht auch in den 1970er Jahren noch gegeben hat, mag die aufklärerische Wirkung und die implizite Erlaubnis, sich dem natürlichen Geschehen hinzugeben, noch für viele »verklemmte« Paare wirksam gewesen sein. Heute sehen sich Sexualtherapeuten vielfach Klienten gegenüber, die mindestens so aufgeklärt und sexuell erfahren sind wie sie selbst, aber einfach »keine Lust mehr« aufeinander haben (zumindest einer der beiden). Gerade die häufig auftretenden Appetenzstörungen scheinen mit dem klassischen Zugang nur unzureichend erklärt werden zu können. Doch auch für andere Funktionsstörungen scheint ein Ansatz, der davon ausgeht, dass nicht die Störung der Natürlichkeit, sondern eher die Angst beider Sexualpartner vor Differenzierung und Unterschiedlichkeit grundlegend ist, für einen systemischen Ansatz interessant. Denn er ermöglicht es, verstärkt auf die kommunikative Seite der beklagten Störung einzugehen und das (verdeckte) Zusammenspiel beider Partner im Hervorbringen einer Symptomatik in den Mittelpunkt des therapeutischen Gesprächs zu heben. Für Schnarch (1995) liegt die Grundlage für eine befriedigende Sexualität in langfristigen Beziehungen im Prozess der psychischen Differenzierung der Partner. Er geht davon aus, dass Paare zu Beziehungsbeginn oft auf eher niedrigem Individuationsniveau in langfristige Beziehungen eintreten. Die emotionale Verschmelzung und die geringe Frustrationstoleranz gegenüber Ängsten vor Nähe, aber auch vor Distanz fördern dabei sexuelle Funktionsstörungen. Das heißt, man kann davon ausgehen, dass die beklagte Störung einen Sinn für die Paarbeziehung im Sinne einer Reduktion von Angst bedeutet: Sie haben ein Level gefunden, das für sie beide sicher ist: »Lieber ein bekanntes Unglück als ein unbekanntes Glück«. Beide schonen sich über ihre festgefahrenen Beschreibungen, erzeugen gleichzeitig aber auch eine Blindheit über die Differenz ihres sexuellen Begehrens. Folglich sind Anregung und Förderung von Angsttoleranz (im Gegensatz zur Angstreduktion, wie in vielen klassischen Sexualtherapien) und von psychischer Differenzierung der Partner zentrale Ziele systemischer Sexualtherapie. Es geht darum, die Aussage »Ich kann nicht«, die zu Hilfe einlädt, in ein »Ich will nicht« (vor allem: »Ich will nicht so, wie du willst, ich will etwas anderes!«) zu verwandeln, was zum Konflikt einlädt.

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iEntstörungeni Brandenburg und Kersting (2001) geben eine gute Einführung in eine systemische Sexualtherapie, die sie in vier Phasen untergliedern: 1. Systemische Problem- und Ressourcenanalyse mittels zirkulärem Fragen oder »Überkreuzfragen« Herr A., 52 Jahre, hat seit ungefähr drei Jahren Potenzprobleme, kommt zusammen mit seiner Frau, 49 Jahre. Therapeutin: »Frau A., was glauben Sie, ist der größte Kummer Ihres Mannes in Bezug auf Ihr aktuelles Problem?« Frau A.: »Ich glaube, dass er sich schämt, dass er sich nicht mehr fühlt wie ein richtiger Mann. Ich glaube, das mit dem Sex, dass wir nicht mehr so miteinander schlafen können wie früher, das fehlt ihm auch. Aber das ist nicht sein Hauptproblem. Das andere macht ihm mehr aus.« Therapeutin: »Danke, Frau A.« – und zu Herrn A. gewandt: »Herr A., was glauben Sie, ist der größte Kummer Ihrer Frau in Bezug auf Ihr aktuelles Problem?« Herr A., gequält und mit einem Hauch von Ärger: »Das ist doch völlig klar! Das hat sie doch im Grunde auch gerade selber gesagt. Ich kann ihr den Sex nicht mehr bieten, so wie früher. Und ja, das ist ihr Hauptproblem, der fehlt ihr.« Therapeutin: »Danke, Herr A.«, und weiter zu Herrn A. gewandt: »Ist da etwas dran an dem, was Ihre Frau glaubt, nämlich dass es Ihr größtes Problem ist, sich nicht mehr wie ein richtiger Mann zu fühlen?« Herr A., nickt: »Ja, da hat sie recht.« Therapeutin: »Danke, Herr A.« – sie wendet sich zu Frau A.: »Frau A., ist da etwas dran, dass Ihr Mann glaubt, dass Ihr größtes Problem der Sex sei, der Ihnen fehlt?« Frau A.: »Ja, da ist etwas dran. Es fällt mir nicht leicht, aber es ist ja auch wichtig, dass wir hier offen sprechen. Wir haben ja auch noch nie wirklich darüber gesprochen. Ja, mir fehlt unser Sex. Aber nicht nur das Miteinanderschlafen. Seit über einem Jahr zieht sich mein Mann ja völlig von mir zurück. Und das ist mein größtes Problem, nicht der Sex. Der fehlt mir auch. Aber dass du mich überhaupt nicht mehr anfasst, dass du dich vor mir zurückziehst, wo du nur kannst und dass wir darüber überhaupt nicht reden, dass wir uns immer mehr aus dem Weg gehen, das ist mein größter Kummer.« Therapeutin: »Danke, Ihnen beiden. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, über diese sehr intimen Dinge zu sprechen. Das haben wir alle nicht gelernt. Dass Sie es hier tun und wagen – sozusagen im Namen der Liebe – ist mutig und macht deutlich, wie wichtig Ihnen Ihre Beziehung ist. Es ist interessant, dass Sie deutlich gemacht haben, dass es nicht nur um einen Verlust an sexueller Potenz geht, sondern auch um das Gefühl von verlorener Männlichkeit, was Sie betrifft, Herr A., und um einen Verlust von Kontakt und Nähe, was Sie beide betrifft.«

Sexuelle Probleme lassen sich mittels zirkulären Fragens sehr gut kontextualisieren. Denn die Liebe (auch die sexuelle Liebe) speist sich zu einem großen Teil aus der Beschäftigung mit den Wirklichkeitskonstruktionen des geliebten Menschen. Das zirkuläre Fragen eröffnet die Möglichkeit, unverfänglicher über solche intimen Konstruktionen hin-

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sichtlich Sexualität zu sprechen – jeder spekuliert über die Mängelerlebnisse, Fantasien und Wünsche des anderen. Wenn solche riskanten Informationen übereinander ausgetauscht werden, stärkt dies das Vertrauen in der Paarbeziehung. Dieses Wagnis eingegangen zu sein, schafft eine Veränderung aus der Impotenz in die Potenz und macht die Kommunikation des Paarsystems potent. Beim zirkulären Fragen tritt oft hervor, dass der eine Partner sehr viel mehr über die Nöte des anderen Partners weiß, als dieser geglaubt hat. Dadurch entsteht häufig eine neue Nähe und Weichheit im Kontakt. Es wird oft bewusst, dass das Verhalten des Partners auch als Ausdruck gegenseitiger Rücksichtsnahme und gegenseitigen Schutzes bewertet werden kann – die Partner sprechen nicht über die wunden Punkte des anderen, um das Gemeinsame zu schützen (siehe hierzu auch Clement 2004). Äußerungen der Partner zu Ressourcen und Kompetenzen werden dabei vom Therapeuten fokussiert, der durch Nachfrage sicherstellt, dass diese vom Paar gehört und registriert werden. 2. Anamnese des aktuellen Sexualverhaltens Hier ist es wichtig, – konkret die Details des Sexualverhaltens und der sexuellen Funktionsstörung zu erfragen. In kaum einem Bereich werden so unpräzise Anamnesen erhoben wie im Bereich Sexualität, was häufig zu unpräzisen Diagnosen und therapeutischen Fehlindikationen führt. Zudem fungiert das offene und konkrete Sprechen des Therapeuten über das Thema Sexualität als Modell für das Paar. – nach Ausnahmen zu fragen, das heißt nach Situationen oder Phasen, in denen die Störung nicht auftrat, es keinen Grund zur Klage gab. Gerade bei Sexualstörungen in langfristigen Beziehungen lassen sich diese fast immer finden, was einen Schritt in die Lösungsanalyse darstellt und Hoffnung und Zuversicht anregen kann. Beispiele: Patientin mit einer Lust- bzw. Erregungsproblematik: »Was tun Sie konkret, um Erregung bei sich herzustellen? Was tut Ihr Partner? Stimulieren Sie sich manchmal im Bereich der Klitoris oder der Brustwarzen? Stimuliert Sie Ihr Partner manchmal an diesen Stellen, wenn ja, wie, mit dem Finger, mit dem Mund? Haben Sie Erfahrung mit Selbstbefriedi-

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gung? Wie verhält es sich dabei mit Ihrer Lust? Wenn Sie Erregung spüren, werden Sie dann feucht? Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit Orgasmus gemacht? Patient mit vorzeitigem Samenerguss: »Was schätzen Sie, wie lange dauert es ungefähr von Beginn der Erektion bis zum Samenerguss? Können Sie das Glied einführen? Ist es anders bei der Selbstbefriedigung?« 3. Exploration der Bedeutung bzw. der »guten Gründe« für die sexuelle Funktionsstörung Oft werden sexuelle Funktionsstörungen im Kontext des aktuellen sozialen Systems als auch der Beziehungsgeschichte der Partner gut als Lösungsversuch versteh- und deutbar. Mögliche Frage: »Wenn durch ein Wunder die Schwierigkeiten über Nacht verschwinden würden – wofür wäre das vielleicht auch ein wenig schade? Welche Herausforderung hätten Sie nicht mehr zu bestehen, welche vielleicht wichtige Auseinandersetzung zwischen Ihnen würde nicht geführt?« 4. Schlussintervention In der Schlussintervention wird zum einen dem Paar Respekt und Anerkennung über das, was sie in der Sitzung gewagt haben, vermittelt. Zum anderen werden die Ressourcen hervorgehoben, die im Gespräch erkennbar geworden sind. Meist ist die Intervention verbunden mit einer Empfehlung, sei es, derzeit noch nichts zu verändern oder eine Aufgabe auszuprobieren. Systemische Therapie sexueller Unlust Schnarch (1995) und Clement (z. B. 2004) haben Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen in Partnerschaften mit dem Thema Macht und Kontrolle in Zusammenhang gebracht: – Die Person mit der geringsten sexuellen Lust kontrolliert den Sex. Der Partner mit dem höheren sexuellen Verlangen übernimmt die sexuelle Initiative, während der Partner mit der geringeren Lust bestimmt, wann und ob Sex stattfindet. – Darüber hinaus kontrolliert der Partner mit der geringeren Lust das Selbstwertgefühl seines sexuellen Gegenübers mit der größeren Lust, da dieser seinen Selbstwert häufig mit der Erfüllung seines sexuellen Verlangens koppelt.

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– Der Partner mit der größeren Lust bringt denjenigen mit der geringen Lust ständig in eine Situation, in der er zwischen der Loyalität sich selbst gegenüber und der Loyalität der Partnerschaft gegenüber wählen muss. In Tabelle 14 wird ein Dialog beschrieben, wie er in einer solchen Partnerschaft zwischen den Partnern verdeckt ablaufen mag. Tabelle 14: Der verdeckte Dialog zwischen der progressiven (Lust zeigenden) und der regressiven (Lustlosigkeit zeigenden) Position (Clement 2001, S. 239) progressiv: regressiv: progressiv: regressiv:

progressiv: regressiv:

progressiv: regressiv:

Wolle das, was ich will. Ich will etwas anderes. Ich ertrage nicht, dass du etwas anderes willst als ich. Dann rette ich mich in die Lustlosigkeit. Damit akzeptiere ich deine Definition von Lust und zeige mich innerhalb dieser Definition als behindert. Ich danke dir, dass du meine Definition als gültig für uns beide akzeptierst und bin dir deshalb nicht böse. Es freut mich, dass du mich nicht für böse, sondern für behindert hältst. Du hast recht und ich habe meine Ruhe, weil du mein Nein akzeptierst. Ich kriege die Definitionsmacht … … und ich die Verhaltensmacht.

Da die Auseinandersetzung zwischen beiden Partnern nicht offen ausgetragen wird und sie beide ihre Unterschiedlichkeit in dieser Form eines Kompromisses gebannt haben, wird ein Gespräch in der Form von »Wie hättest du es denn gern?« meist auch keine neue erotische Spannung bringen. Das Paar mit Luststörungen hat sich in ein gemeinsames sexuelles Szenario hineinsozialisiert, in dem beide füreinander völlig vorhersehbar sind. Das Bekannte und Vertraute hat das Unbekannte so überwuchert, dass Langeweile eingekehrt ist. Clement (2000, 2001, 2004) sieht eine Lösung darin, die unterschiedlichen Dynamiken von Partnerbindung und von Sexualität akzentuieren. Die Partnerbindung bezieht ihre Kraft gerade aus der Vorhersagbarkeit, aus stabilen, zuverlässigen, eindeutigen und dauerhaften Verhaltensweisen, die das tragend erlebte Gefühl von emotionaler Heimat (Vertrauen und Zugehörigkeit) schaffen. Sie wird stärker, wenn sie lange dauert, als eindeutig und unkündbar erlebt wird und wenn sie durch geteilte Lebensgeschichte reich gewor-

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den ist. Die Eigenlogik von Sexualität und Erotik besteht dagegen gerade in der Unvorhersagbarkeit des anderen, in Überraschung und Uneindeutigkeit und in der Faszination am Fremden, am Anderen. Sexualität geht also nicht in der Paarbeziehung auf – und das kann Ausgangspunkt des therapeutischen Gesprächs sein: In Anwesenheit beider Partner die Bereiche zu erfragen, die beide aus der gemeinsamen Sexualität ausgeklammert haben, die aber durchaus, wenn jeder für sich gesehen wird, sein oder ihr erotisches Potenzial ausmachen. Jeder Mensch ist eine eigene sexuelle Persönlichkeit, die ihn wie ein Fingerabdruck von allen anderen Menschen unterscheidet. Fragen, die darauf verweisen, können etwa wie folgt gestellt werden: – »Interessiert es Sie, zu wissen, was Ihr Mann an Ihrer/an seiner Sexualität verändern möchte?« – »Das weiß ich schon!« – »Gesetzt den Fall, es könnte etwas sein, das Sie noch nicht wissen, was er Ihnen vielleicht bislang erfolgreich vorenthalten hat – würde es Sie interessieren, davon etwas zu erfahren?« – »Gesetzt den Fall, Ihre Frau würde sich in einen anderen Mann oder sogar in eine Frau verlieben, was wäre das wohl für einer – eher einer, der Ihnen ähnlich wäre oder wäre er ganz anders? Was würde sie mit ihm/ihr wohl ausprobieren mögen, was sie mit Ihnen noch nicht ausprobiert hat?« – »Angenommen, Ihre Frau hätte ein erotisches Geheimnis vor Ihnen, was würden Sie vermuten, was es wäre?« – »Angenommen, Sie hätten plötzlich sehr viel Lust, mit Ihrem Mann Sex zu haben und würden ihm etwas vorschlagen, was Sie noch nie gemacht haben. Welcher Vorschlag würde ihn denn am ehesten erschrecken?« – »Wenn ich Ihre Frau fragen würde, was ihr aufregendstes erotisches Erlebnis war – haben Sie eine Idee, was sie sagen würde? Und glauben Sie, dass sie es mit Ihnen gehabt hat oder mit jemand anderem – oder dass es ihr vielleicht sogar noch bevorsteht?« Sexuell lustlose Beziehungen lassen sich wirksam von zwei Orten her betrachten, was rigide Sichtweisen aufweichen hilft: vom Ort der Partnerschaft und vom Ort der Vielfalt anderer Möglichkeiten, Sexualität zu gestalten. – Sexualität vom Ort der Partnerbindung: Sexuelle Beziehung findet

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innerhalb des romantischen Konsenses eines liebenden Paares statt. Sie ist symmetrisch, gegenseitig und intim (diese Sichtweise ist häufig zentraler Teil des Problems bei sexueller Inappetenz.) – Sexualität jenseits des Ortes der Partnerbindung: Außenbeziehungen, Selbstbefriedigung, Hurerei, Pornographie, Gebrauch sexueller Utensilien, Sex zwischen mehreren Personen, anonymer Sex, das ganze Spektrum exhibitionistischer, sadomasochistischer, voyeuristischer Spielarten des Sex. Lustlosigkeit verliert sich oft, wenn Sexualität von beiden Orten aus angeschaut wird. Die Berührung mit dem Ort der Sexualität jenseits der Partnerbindung ist mit Risiko verbunden, kann kränken, bedrohen, Angst machen und Aversion erzeugen. Die Berührung mit diesem Ort kann aber auch Entwicklungsanstöße geben, wenn die Partnerschaft es sich leisten kann, sich solchen Verstörungen auszusetzen und diese Impulse produktiv zu integrieren (Clement 1998). Neutralität bezieht sich in der systemischen Sexualtherapie auf die Frage, ob Menschen ihr Leben mit oder ohne Sex führen wollen. Therapeuten sollten keine »Sexualisierer« sein. Neutralität sollte auch gewahrt bleiben gegenüber gegensätzlichen sexuellen Wünschen, etwa dem »braven, guten, anständigen Sex«, wie auch gegenüber Wünschen zum Beispiel nach pornographischen Sex. Therapeuten hilft es dabei, sich ihre eigenen Normalitätsideen über Sexualität (z. B. »zweimal pro Woche«, Missionarsstellung etc.) und Geschlechtsrollenklischees (Frauen sind gefühlsbetont, Männer sind triebgesteuert etc.) klarzumachen. Im Hinblick auf Neutralität kann es gut sein, zwei Ausgangskonstellationen zu unterscheiden (Clement 1996): – Die Abwehrkoalition: Sie ist durch eine sehr enge, aber sexuell eher inaktive Beziehung gekennzeichnet, beide Partner schützen einander durch Verzicht auf eigenes Begehren. Die Binnengrenzen sind eher schwach, die Außengrenzen eher stark ausgeprägt. Hier bedeutet Neutralität, nicht Partei für die sexuell offensive Seite zu übernehmen, sondern sowohl sexueller Inaktivität als auch Aktivität wertfrei gegenüberzustehen und die Vor- und Nachteile beider Verhaltensweisen zu explorieren. – Die sexuelle Kollusion: Hier übernimmt ein Partner den sexuell interessierten progressiven Part und der andere Partner den desinteres-

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Sexuelle Störungen: Funktionsstörungen, Unlust, Identitätszweifel

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sierten regressiven Part. Diese konfliktträchtigere Aufteilung der Sexualität sorgt für eher starke Binnengrenzen und potenziell eher schwächere Außengrenzen. Neutralität bedeutet hier, der Einladung zur Koalition mit einem der Partner zu widerstehen (indem z. B. die Erklärungen eines Partners übernommen werden: »Irgendetwas in der Beziehung stimmt nicht …«, »Es ist ein urologisches Problem« etc.). Übungen aus der systemischen Sexualtherapie Es ist etwas heikel, an dieser Stelle Übungen aufzulisten, so als könnten diese ohne eine tragfähige therapeutische Beziehung und ohne das Erarbeiten einer Grundlage für ihre Durchführung im therapeutischen Gespräch einfach so vergeben werden wie eine Viagra-Tablette. Das sollte im Folgenden zumindest mitbedacht werden. Wir gehen von einem Beispielfall aus, bei dem der Mann wesentlich mehr/andere sexuelle Interaktionen möchte, die Frau weniger bis überhaupt keine. Mit beiden ist im Vorweg die Motivation erarbeitet worden, etwas an ihrer Sexualität zu verändern, auch wenn es ihnen Angst macht. a) »Kleinster vorstellbarer Übergriff – und kleinste mögliche Hingabe« (Clement 2004) Beide werden – ihr Einverständnis vorausgesetzt – gebeten, sich bis zum nächsten Mal Folgendes auszudenken: – der Mann den kleinsten vorstellbaren Übergriff: Etwas, das er gern täte, eine Handlung, die er gern machen würde, von der er sicher ist, dass seine Frau sie nicht akzeptieren würde; – die Frau die kleinste mögliche Hingabe: eine sexuelle Handlung, die begrenzt und klein genug ist, dass sie sich darauf einlassen könnte. Beide sollen ihre Idee auf einen Zettel schreiben, den sie einander nicht zeigen. Sie bringen ihn zur kommenden Sitzung mit. Erst dort wird entschieden, ob der Zettel präsentiert wird oder nicht und ob die Übung anschließend als Übung bis zur nächsten Sitzung einmal probiert wird – oder nicht. b) »Ideales sexuelles Szenario« (Clement 2004) Indikation: Maximierung von erotischer Differenz der Partner

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»Stellen Sie sich vor, Sie dürften ganz egoistisch sein und müssten auf die Bedürfnisse Ihrer Partnerin keine Rücksicht nehmen. Welchen Ablauf einer für Ihre Bedürfnisse idealen sexuellen Begegnung würden Sie am liebsten in die Tat umsetzen? Schreiben Sie auf, mit wem Sie in welcher Situation was am liebsten tun würden. Es geht nicht um Ihre Gefühle, sondern um Ihre Handlungen. Wenn Sie es aufgeschrieben haben, verschließen Sie es in einem Umschlag und bringen es zur nächsten Sitzung mit. Zeigen Sie Ihrer Frau nicht, was Sie aufgeschrieben haben. Ob Sie den Umschlag in der nächsten Sitzung öffnen oder nicht, liegt in Ihrer Entscheidung.« Für die Partnerin: »Malen Sie sich aus, was Sie denken, was Ihr Mann unter solchen Bedingungen umsetzen würde.« c) Definition des Sexualverkehrs als eheliche Pflicht (Retzer u. Simon 1998) Wenn Sexualität allzu stark mit Bedeutung aufgeladen und überbewertet wird, passiert als Folge dieser Überbewertung oft nichts mehr im Bett. Dann kann es eine Lösung sein, den Sexualverkehr als eheliche Pflicht zu definieren, um ihm so seinen Symbolgehalt als Beziehungstest, als spontanes Bekenntnis zur Beziehung in Form sexueller Erregung zu nehmen: »Bis zur nächsten Sitzung schlafen Sie mindestens ein Mal miteinander. Tun Sie das aber auf keinen Fall spontan, sondern beschließen Sie drei Tage vorher, wann Sie miteinander schlafen werden. Wenn Sie beispielsweise Sonntag miteinander schlafen wollen, so müssen Sie sich bereits am Donnerstag darüber einigen. Verabreden Sie dabei nicht nur den Tag, sondern auch Uhrzeit, die anzuwendenden Techniken, wer oben liegt, wer unten liegt etc. Und vergessen Sie nicht: Sie brauchen keinerlei Spaß an dem Ganzen zu haben. Es geht um die Erfüllung ihrer ehelichen Pflicht.«

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Suizidale Krisen – Die Apokalypse als Vorletztes

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2.11 Suizidale Krisen – Die Apokalypse als Vorletztes23 iStörungsbilderi Suizid stellt, anders als die bisherigen zehn Kapitel der systemischen Therapie mit Erwachsenen, keine Störung in der ICD dar. Suizidale Handlungen können im Rahmen unterschiedlichster anderer Störungen auftreten (z. B. Schizophrenie, Depression, Belastungsreaktion). Suizidalität beziehungsweise der Suizid selbst können unter zwei Aspekten gesehen werden, dem des existenziellen Ausdrucks eines Menschen und dem der Kommunikation und Beziehungsdefinition. So ist eine Suizidhandlung zum einen als die jedem Menschen potenziell zur Verfügung stehende »letzte Freiheit« betrachtbar – gleichzeitig kann sie unter der Perspektive gesehen werden, dass diese Handlung eine starke, sehr heftige Form von Botschaft an einen oder mehrere signifikante andere Menschen gesehen werden kann. Je nach der Einschätzung, welcher Aspekt mehr im Vordergrund zu stehen scheint, lassen sich auch unterschiedliche Formen von Suizidalität und Suiziden differenzieren (Sonneck 2000; Dorrmann 1991). – Im Zusammenhang mit depressiven Störungsbildern mag der Ausdruckscharakter stärker im Blickpunkt sein. Hier gilt übrigens eine wichtige Vorsichtsregel: In tiefer Depression ist die Suizidalität meist geringer, weil der Antrieb fehlt. Daher ist bei erster Besserung (z. B. durch Medikamente) besondere Aufmerksamkeit geboten. – In diesem Zusammenhang ist auch der Bilanzsuizid zu nennen, bei dem eine Person für sich entscheidet, dass es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben lohnt. In der Therapie geht es hier eher um ein gemeinsames Bilanzieren und eine Suche nach Quellen von Sinn. Dorrmann (1991, S. 64) schlägt an dieser Stelle vor, dass der Klient sich mit jemandem verabredet, der so alt geworden ist, wie er/sie nie werden wolle, um sich von den Erfahrungen dieser Lebensphase erzählen zu lassen. Um Bilanzsuizide kann es sich auch handeln, wenn eine schwere und unheilbare Krankheit vorliegt, die nur noch eine qualvolle Leidenszeit verspricht. 23 Wir danken Frau Dipl.-Psych. Karin Egidi, Bochum, für ihre Mitwirkung beim Verfassen dieses Kapitels.

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– Eine ganz andere Dynamik liegt einer Suizidalität zugrunde, die ihre Wurzeln in starker Bezogenheit auf andere Menschen hat, sei es, dass man die Vorstellung damit verbindet, den anderen einen Denkzettel zu verpassen (»Das werden sie nicht so schnell vergessen!«) oder dass man sich ausmalt, wie es ist, wenn man gestorben ist (»Mal sehen, ob ihr mich vermisst …«) (Hömmen 1989). Gerade hier können sowohl die Kommunikation über eine vorhandene Suizidalität als auch bereits erfolgte Versuche die Familie unter starken Druck setzen, Richman spricht von der »family under threat« (1986), und das gesamte Familienleben überschatten. – Abgegrenzt werden müssen Formen von Suiziden, die in einer floriden psychotischen Phase vorgenommen werden, wenn eine Person sich aus der gemeinsam geteilten Beschreibung der Wirklichkeit zeitweise völlig verabschiedet hat. Solche Suizide sind für die Umwelt nicht nachvollziehbar, sie kommen oft wie aus heiterem Himmel, unangekündigt. Manchmal werden besonders bizarre Formen gewählt (Selbstverbrennung o. Ä.). – Aus einer Mehrgenerationenperspektive sollte auf eine mögliche Nachfolgedynamik geachtet werden: Der Suizidant folgt einem Familienmitglied in den Tod. Dieser Dynamik kann man im Genogramm oder in der direkten Frage nach früh verstorbenen Angehörigen auf die Spur kommen. Es kann dabei oft um den Umgang mit Überlebensschuld gehen: »Bitte schau freundlich auf mich, wenn ich noch ein bisschen bleibe!« (siehe z. B. Weber 1993; Vogtmeier 1990). In der Regel geht einem Suizidversuch eine Entwicklung voraus, ein »präsuizidales Syndrom« (Ringel 1969), das durch eine zunehmende Einengung der Wahrnehmung und der zwischenmenschlichen Beziehungen (bis zum Kontaktabbruch), durch eine gehemmte, gegen die eigene Person gerichtete Aggression und durch Suizidfantasien gekennzeichnet ist. Besonders Jugendliche und Kinder senden viele »Alarmzeichen« aus (Käsler-Heide 2003). Suizidale Personen erleben ein hohes Maß von unüberwindbarer Einsamkeit und eine Tunnelsicht auf die Wirklichkeit: »Für jemanden, dessen Finger von einer zuschlagenden Tür getroffen ist, gibt es nichts in der Welt außer Finger und Schmerz. Ebenso für den Suizidanten: der Schmerz macht die ganze Welt aus. Es kommt auf nichts anderes an als den Schmerz« (Omer u. Elizur 2003, S. 354).

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Die Isolierung kann in einer nicht reflektierten Gegenübertragung mit Aggression beantwortet werden (Rausch 1996, 2003). Es sollte als Alarmsignal gewertet werden, wenn beim Therapeuten oder im therapeutischen Team eine Stimmung von Gleichgültigkeit und von Ausschließungsprozessen entsteht, die bis zu Gefühlen geht wie: »Dann geh doch endlich!« Andererseits löst diese Thematik bei Therapeuten häufig starke Angstgefühle aus mit Auswirkungen wie: – Vermeidung, das Thema im Gespräch anzusprechen (»blinde Flecken«); – Wunsch, den Klienten abzuschieben (z. B. »Hauptsache, es ist nicht meine Verantwortung …«); – Verabredung eines Non-Suizidvertrages, der auf den Bedürfnissen des Therapeuten aufgebaut ist, nicht auf denen des Klienten. Sonneck listet in diesem Zusammenhang insgesamt acht häufige Fehler im Umgang mit suizidalen Patienten auf (2000, S. 180), die auch für ein systemisches Vorgehen ernst zu nehmen sind: – Trennungsängste übersehen (z. B. Urlaub, Stationswechsel, Entlassung); – Provokation persönlich nehmen (Agieren von Ablehnung); – Bagatellisierungstendenzen des Patienten mitmachen (Abwehr); – einseitige Betonung der Aggressionsproblematik; – übereilte und einseitige Suizid-Pakte; – mangelnde Exploration der jetzigen und eventuell früherer Umstände, die zu Suizidalität geführt haben; – zu rasche Suche nach positiven Veränderungsmöglichkeiten (Abwehr); – internalisierte Klassifikationen von Suizidversuchen anwenden.

iBeziehungsmusteri Bei den meisten Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen, spielt die Familie eine große Rolle (Lauterbach 1988). Die Bindungen werden oft als eng und symbiotisch beschrieben (Ruf 2005). Der erfolgreiche Suizid führt zum definitiven Verlassen des sozialen Systems durch eines seiner Mitglieder. Er wirft damit immer die Frage auf, wie wichtig dieser

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Mensch für diese Gruppe (Familie, Arbeitsstelle, Freundeskreis) ist – und wie verbunden er jener Gruppe (noch) sein will. Zudem stellt eine Selbsttötung eine besonders dramatische Todesform dar. Sie muss gegen beträchtlichen Widerstand realisiert werden, da sie ein gesellschaftliches Tabu berührt. So ist sie beispielsweise in der christlichen Tradition als Sünde aus dem Bereich zulässiger Lebensentscheidungen verbannt, Fachleute sind juristisch gehalten, alles zu ihrer Verhinderung Erforderliche zu unternehmen und werden bei Suizid ihrer Klienten stets auf strafrechtlich relevante Fehler in ihrem professionellen Handeln untersucht. Wenn der Suizid gelingt, hinterlässt er in den individuellen und kollektiven Gedächtnissen der Überlebenden oft besonders starke, emotional intensive Spuren, insbesondere Schuldgefühle und Selbstzweifel, aber auch Ärger. Die angedachte oder angekündigte Selbsttötung thematisiert die Frage: Will, kann, soll ich zu diesem sozialen System weiter gehören? Suizidaliätskommunikationen laden zu Neuverhandlungen darüber ein, wie ein Mensch wahrgenommen, geachtet oder geliebt werden möchte. Die Offenheit oder Heimlichkeit sowie der Ausgang dieser Kommunikation entscheiden oft darüber, ob zum erfolgreichen Suizid übergegangen wird: »Sage ich es den anderen oder nicht? Sagen die dann etwas, was mich vom Gehen abhält? Oder bestätigen die dann nur meine Resignation?«

iEntstörungeni Einschätzung der kommunikativen Bedeutung In jedem Fall sollte die kommunikative Perspektive abgefragt werden, zum Beispiel mit zirkulären Fragen: »Gesetzt den Fall, Ihr Mann würde es wieder machen, aber hoffen, gefunden zu werden: Von wem glauben Sie, möchte er gefunden werden, von wem auf keinen Fall?« – »Angenommen, der Versuch war eine Art Protest, was glauben Sie wogegen? Oder wenn es ein Hilferuf war, was wäre die ersehnte Hilfe?«– »Was denkst du, wie lange deine Eltern um dich/um deine Schwester trauern werden, wenn der Suizidversuch gelänge? Wer würde länger trauern?« Es kann in diesem Zusammenhang wichtig sein, die Größe der Belastung einzuschätzen und die Frage, wie sehr die Drohung mit dem Sui-

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zidversuch zur Waffe in der innerfamiliären Auseinandersetzung geworden ist. Hier kann die Präsenz der Eltern dramatisch verringert sein, weil sie aus Angst vor den möglichen Konsequenzen nicht mehr wagen, sich als Eltern zu zeigen. Dann kann es hilfreich sein, die Eltern zu beraten, wie sie sich in der Familie deeskalierend verhalten und so der allgegenwärtigen Bedrohung gewaltlosen Widerstand entgegensetzen können (Omer u. von Schlippe 2004). In jedem Fall sollte, gerade und besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Familie mit in die Intervention einbezogen werden. Dabei ist es besonders wichtig, die ständig im Raum stehende Schuldfrage zwar zu thematisieren, gleichzeitig jedoch den Beteiligten zu helfen, sich nicht in der Schuld zu verfangen. Manchmal kann dies gelingen, indem man die tiefe (und oft verzweifelte) Liebe in der Familie anspricht, die sich etwa in der Fantasie äußern kann, im Tod für immer mit den anderen verbunden zu sein – oder die sich hinter heftiger Wut versteckt, deren Botschaft gleichzeitig auch ist: Ihr seid mir unendlich wichtig. Empathie und Herausforderung Omer und Elizur präsentierten 2003 einen Ansatz der Akutintervention: Wie kann man mit dem »Menschen auf dem Dach« sprechen, der droht, hinunterzuspringen? Sie gehen davon aus, dass in jedem Suizidanten mehrere Stimmen präsent sind und dass, solange er noch lebt, es im »inneren Parlament« eine Mehrheit für das Leben gibt – und sei sie hauchdünn. Diese Stimmen könnten übertönt werden, wenn die Therapeutin sich zu engagiert und überredend auf die Seite des Lebens stellen würde. Stattdessen braucht es in der Krisenintervention eine zunächst einfühlsame Form des Joinings, die die tiefe Einsamkeit des Betroffenen annimmt und sie spiegelt: »Ich bin mir bewusst, dass du dich in einem Zustand befindest, den man den tiefsten Punkt menschlichen Leidens nennen kann. Der Schmerz, unter dem du leidest, ist riesig. Für dich handelt es sich um einen unerträglichen Zustand, in dem man einfach nicht weiter leben kann …« (S. 365). Die teilnehmende Haltung beinhaltet es, Respekt und Würdigung in einer angemessenen Weise auszudrücken: »[…] Ich muss gestehen, dass ich beginne, etwas von deiner Verzweiflung, deinem Elend und deiner Hilflosigkeit nachzuempfinden und selbst auch etwas pessimistisch werde, wenn ich daran denke« (S. 357). Erst wenn die Helferin sich ganz an die Erlebenswelt des Suizidanten angeschlossen

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hat, sich in dessen Verzweiflung eingefühlt hat und sie ein Stück weit miterlebt, hat sie sich das Recht verdient, auf die herausfordernde Seite zu wechseln: »Und doch … Vielleicht müssen wir nicht so pessimistisch bleiben […] Ich will auch diesen Gedanken meine Stimme leihen.« Nun kann im Sinne einer Externalisierung (White u. Epston 1990) der Tod personifiziert werden: »Eine der trügerischsten Listen des Todes ist, dass er dich so durch den Schmerz blendet, dass alles andere fast aufhört zu zählen. Der Tod benutzt deinen Schmerz, um alles, was gut und wichtig ist, wegzugaukeln. Deine Freunde, deine Eltern und deine kleine Schwester werden einfach dabei weggewischt. Ein endloser Abgrund tut sich zwischen dir und allen anderen auf« (White u. Epston 1990). So werden die Menschen, die im Leben des Betroffenen eine Bedeutung haben, wieder eingeführt und es kann versucht werden, ihn wieder mit diesen zu verknüpfen. Am Ende einer Reihe von hypnotherapeutisch beeinflussten Interventionen kann dann eine Konfrontation stehen: »Ich will mit dir über etwas sprechen, was du nicht gern hören willst. Ich will darüber sprechen, was mit den Menschen, denen du etwas bedeutest, passieren würde, falls du dich tötest: deine Eltern, deine Schwester, deine Freunde. Für sie wäre dein Tod der Anfang eines endlosen Schmerzes. Wir wissen viel über Eltern, die ihr Kind verloren haben. Sie können es nie überwinden. Und es ist noch viel schlimmer für Eltern, deren Kind sich umbrachte. Ihr Leben wird zu einem endlosen Schmerz, bis zum letzten Atemzug« (S. 358). Die Verbindung von Empathie und Herausforderung muss natürlich in jedem Fall auf die besonderen Bedingungen des Falles hin ausgerichtet werden, dieser Doppelschritt bietet jedoch eine gute Möglichkeit, einen Menschen, der in einer hoffnungslosen Falle steckt, zu erreichen. Die Autoren betonen, dass es sehr wichtig ist, neben der Einfühlung, die viele Therapeuten anbieten, auch eine klare, herausfordernde antisuizidale Botschaft zu vermitteln. Die Metapher des »inneren Parlaments« hat dabei etwas sehr Beruhigendes: Es ist nicht nötig, den Menschen in der Krise ganz und gar vom Leben zu überzeugen, es genügt vielmehr, wenn die inneren lebensbejahenden Stimmen so weit unterstützt werden, dass die Parlamentsentscheidung gegen den Suizid ausfällt (und sei es nur mit einfacher Mehrheit).

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Umgang mit dem Thema Offenes Sprechen über Suizidabsichten kann viel heilsamer und weniger riskant sein, als insbesondere viele Laien glauben. Das beginnt beim Aufgreifen kleiner Hinweiszeichen auf mögliche Suizidalität und geht bis zum Sprechen darüber, wie aus einer hypothetischen Zukunft nach einem erfolgreichen Suizid das Leben und der Suizid selbst wohl rückblickend bewertet würden. Beiläufiges Ansprechen Wenn Klienten kleine verbale Hinweise auf mögliche Suizidimpulse geben (»Manchmal habe ich gar keine Lust zu leben«; »Neulich war mir beim Autofahren fast egal, ob ich noch um die Kurve komme«, »Schade, dass ich morgens wieder aufwachte«) oder wenn Therapeuten ihnen in einer bedrohten Situation einen Suizidversuch zutrauen, stellt sich die Frage des Aufgreifens und Ansprechens (Boxbücher u. Egidi 2003; Dorrmann 1991). Es empfiehlt sich, solche Wahrnehmungen möglichst sogleich anzusprechen – allerdings nicht in einer dramatisierenden, sondern in einer beiläufigen, normalisierenden Weise: »Sagen Sie – haben Sie dann schon einmal die Idee gehabt, ich könnte jetzt ganz aus dem Leben scheiden und auch selbst etwas dazutun?« Sehr normativ denkenden Klienten kann man von anderen Fällen erzählen: »In solchen Situationen kommen ja immer wieder Menschen auf die Idee, sie möchten ihr Leben beenden. Sind Ihnen solche Gedanken auch vertraut?« Beratung und/oder soziale Kontrolle Wird die Selbsttötungsabsicht bejaht, kann man die Stärke und Präzision der bisherigen Suizidgedanken erkunden: »Wie oft haben Sie schon daran gedacht? Haben Sie schon mal überlegt, wie und wo Sie es tun würden? Wie weit sind Sie bei Ihren Überlegungen gekommen? Was hat Sie dann bislang doch davon abgehalten?« Oft kann auch die direkte Frage danach, für wie gefährdet sich eine Person selbst hält, mit erstaunlicher Sicherheit beantwortet werden. Die Intensität all dieser Antworten gibt einen ersten Hinweis darauf, – ob hier eher ein früher, der Beeinflussung durch andere zugänglicher, diese vielleicht sogar ersehnender Beziehungswunsch in der Suizidkommunikation deutlich wird oder eher die Neigung zu einem Bilanzsuizid nach langer Leidensgeschichte und ohne Resthoffnung;

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– und ob dementsprechend beratendes Sprechen zur Prävention hinreichend sein kann (evtl. mit ambulanten Sicherungsmaßnahmen) oder ob zusätzlich soziale Kontrollmaßnahmen (in der Familie oder per Einweisung in eine psychiatrische Klinik) erforderlich sind. Wichtig ist dabei, den Klienten nie unnötig in seinen gedanklichen Optionen einzuengen (»Sie müssen jetzt unbedingt …«, »Sie dürfen jetzt auf keinen Fall …«, »Machen Sie sich eigentlich klar, dass …«) und ihn dabei – ungewollt – in irgendeine Ecke zu drängen, in der er das Gefühl entwickelt, entweder die jetzt nötigen Schritte nicht mehr zu schaffen oder aber bestimmte Dinge falsch gemacht zu haben, die jetzt nicht mehr reversibel sind. Non-Suizid-Vertrag Wie bereits angesprochen, sollte ein Non-Suizid-Vertrag zwischen Therapeut und Klient nur einvernehmlich erfolgen und schwerpunktmäßig auf die Belange des Klienten ausgerichtet sein. So berichtete ein Patient von uns im Nachgespräch, dass es für ihn entscheidend gewesen sei, dass der Therapeut nicht darauf bestanden habe, als er dessen Vorschlag abgelehnt habe: »Wenn Sie es gefordert hätten, hätte ich alles unterschrieben, aber heimlich Tabletten gesammelt!« Dorrmann (2003) schlägt in diesem Zusammenhang vor, hier nur positiv konnotierte Begriffe zu verwenden wie zum Beispiel »Abmachung«, »ein Versprechen, das Sie sich selbst geben«, »eine Selbstverpflichtung«. Es ist wichtig, hier die größtmögliche Wahlfreiheit zu lassen, bis hin zu der Erstellung eines (schriftlichen) Vertrages als Experiment. Je mehr hier der Klient/die Klientin als Partner kooperativ angesprochen wird, umso besser kann dieses Thema gehandhabt werden – natürlich ist die Frage hier besonders kritisch, inwieweit die Fähigkeit zur Selbststeuerung noch besteht und gegebenenfalls die therapeutische Verantwortung ein kontrollierendes Einschreiten erfordert. Doch dies sollte dann nicht durch einen Vertrag mit der Illusion von Freiheit kaschiert werden. Apokalypse als Vorletztes Im Beratungsprozess haben wir mit der Metapher der Apokalypse als Vorletztes, die einer Predigt des evangelischen Pfarrers Jan Beinke aus Heidelberg entstammt, gute Erfahrungen gemacht: Apokalypsen gesche-

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hen, auch Suizide geschehen, aber nach ihnen geht immer irgendetwas weiter. Auf eine Selbsttötung folgen zum Beispiel Reaktionen der Überlebenden, folgt eine Beerdigung. Deshalb kann mit dem Klienten eine Reise in die Zeit nach einem erfolgreichen Suizid unternommen werden (nach Dorrmann 1991): »Gesetzt den Fall, Sie würden nun gehen und sich umbringen, wie würden Sie das tun? Wer würde Ihren Körper finden – wie würde es ihm/ihr da gehen? Was würde in Ihrem Abschiedsbrief stehen? Wenn Sie tot sind, wo möchten Sie beerdigt werden? Sollen Ihre Angehörigen Sie beerdigen oder jemand anderes? Was glauben Sie, wer würde zu Ihrer Beerdigung kommen? Welche Musik würde da gespielt werden? Wer würde auf keinen Fall weinen, wenn er die Nachricht erhielte und wer würde weinen? Wie wird Ihre Frau/Ihr Mann/Ihr Sohn usw. zehn Jahre nach Ihrem Tod leben? Werden sie noch an Sie denken und wenn ja, wie? Wie würde es diesen Menschen gehen, wenn sie selbst in einer Krise wären, würden Sie dann eher Ihrem Beispiel folgen oder nicht? Was werden Ihre Kinder ihren Freunden über ihren Vater erzählen?« Eine eher lösungsorientierte Variante der Arbeit mit Zeit stellt die Arbeit mit der Time-Line dar, die von Grabbe (2003) ausführlich für die Krisenintervention beschrieben wurde. Aus dem Himmel der eigenen Beerdigung zusehen Je mehr Suizidimpulse enttäuschte Beziehungswünsche ausdrücken, auf deren Erfüllung der Suizidant nicht mehr richtig zu hoffen vermag, laden wir, angelehnt an das bekannte Beispiel von Tom Sawyer, zu folgender Abfolge gedanklich durchgespielter Zukunftsszenarien ein: – Angenommen, der Klient könnte aus dem Himmel oder von einem sonstigen Ort die Szenen nach seinem Tode beobachten: Wären das Reaktionen, die er sich schon vor seinem Tode gewünscht hätte? Würde das Beobachten dieser Reaktionen ihn nachträglich in seinem Entschluss eher bestärken oder eher verunsichern? – Angenommen, er würde seinen Entschluss posthum eher bedauern, deshalb das Rad noch einmal herumdrehen und statt eines vollendeten Suizides nur einen Abschiedsbrief schreiben (»Liebe …: Ich habe mich umgebracht. Viele Grüße, Euer …«) und dann für drei Tage bei einem guten Freund untertauchen, der ihm von den Reaktionen der Hinterbliebenen berichten würde – was würde dabei herauskommen? Hätte das ähnlich gute Wirkungen?

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– Wenn ja, dann können sukzessiv weitere, weniger dramatische Lösungsversuche durchbuchstabiert werden, also etwa gleich einen Beschwerdebrief an die richtigen Adressaten zu schicken und, vielleicht unter Mithilfe eines hochrangigen Beistandes, denen »endlich einmal alles sagen«. Aufwachen nach einem (»nicht erfolgreichen«) Suizidversuch Wenn der Suizid bereits erprobt wurde und lediglich mehr oder minder knapp gescheitert ist, stellt sich die Situation noch dramatischer, aber damit in gewisser Weise auch als noch chancenreicher dar. Die Patienten landen dann meist in der Entgiftungsabteilung eines Allgemeinkrankenhauses, anschließend häufig für zumindest kurze Zeit auf einer psychiatrischen Station. Hier kann die Reaktion der Angehörigen, gegebenenfalls deren Coaching, lebensentscheidend sein. Unsere Erfahrungen aus der Jugendpsychiatrie zeigen: Je schneller und je mehr Angehörige danach auf die Station kommen, je betroffener sie sich zeigen, je mehr sie auch eigene Mitverantwortung zu übernehmen bereit sind, um so besser die Chancen des Jugendlichen, diesen als seinen letzten Suizidversuch hinter sich zu lassen. Es lohnt sich, Eltern, Geschwister, Freunde oder Lehrer im Blick auf diese Zielrichtungen zu beraten. Ruf (2005) schlägt vor, mit der Frage »Was wollten Sie mit dem Suizidversuch erreichen?« den Blick auf die Verantwortung und die Gründe des Patienten zu richten, denn die meisten wollen eher dem unerträglichen Schmerz entfliehen als den Zustand des Nichtseins zu erreichen (S. 111). Daran kann sich eine lösungsorientierte Suche nach anderen Möglichkeiten anschließen, das Ziel der Schmerzverringerung zu erreichen (siehe auch Kuhn 2002). Suizid-Nachsorge für die hinterbliebenen Familienmitglieder Wie können diese gestärkt werden, mit den »Hinterlassenschaften« des Suizids zurechtzukommen? Das hängt sehr davon ab: – welche Botschaften die Hinterbliebenen aus Art, Ort und Zeitpunkt der Selbsttötung für sich entschlüsseln: ob sie sich für den Tod des Mitgliedes mitverantwortlich (mitschuldig) fühlen oder nicht, ob sie sich ohne dieses Mitglied sehr oder kaum weiterlebensfähig erleben; – ob der Suizid die verschiedenen Hinterbliebenen eher vereint oder spaltet;

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– ob das, was er vor seinem Tod über sie sagte oder mutmaßlich dachte (die »seelische Erbschaft«), sie mit Selbstvertrauen oder Selbstzweifeln hinterlässt, ob seine materielle Erbschaft eher aus Reichtümern oder aus Schulden besteht. Dazu zwei Fallbeispiele: »Auch beim Selbstmord war er schneller« – der wütend-traurige Nachlass Eine Mutter von zwei Söhnen fühlte sich von ihrem älteren 14-jährigen Sohn überfordert, den sie als ähnlich diabolisch und belastend wahrnahm wie seinen (psychotischen und alkoholkranken) Vater, von dem die Frau sich ein Jahr vor Therapiebeginn getrennt hatte. Der Junge protestierte gegen diese Projektion mit allen Mitteln. Die beiden Brüder hatten ein gespaltenes Verhältnis zueinander, der »Gute« (Jüngere) nutzte die Präferenzen der Mutter für sich aus. In vier Gesprächen über ein halbes Jahr gelang es der Mutter, den älteren Jungen wieder als ein Wesen für sich, dessen Charme und Fähigkeiten wahrzunehmen; die Brüder schmiedeten erstmals wieder eine Geschwisterachse. Nach einem Jahr relativen Friedens (ohne Therapiegespräche) erhängte sich der geschiedene Ehemann und Vater auf dem Dachboden des ehemals gemeinsamen Hauses. Nun flackerten alle alten Bilder und Kämpfe zwischen Mutter und älterem Sohn sofort wieder auf (»ganz wie der Vater«), eine zweite Therapiephase begann. Entscheidende Schritte dieser Phase waren: – es für legitim zu erklären, dass die Mutter ganz andere emotionale Reaktionen (»So eine fiese Sauerei gegen mich!«) auf den Suizid zeigte als die – trauernden – Söhne; – mit Mutter und Söhnen getrennte Bewältigungsrituale zu planen, nur die beiden Jungen ohne Mutter, in Begleitung eines Onkels, zum Grab des Vaters auf den Friedhof zu senden; – die Impulse der Mutter, aus Rache und Erschöpfung jetzt auch gleich mit dem Auto gegen einen Baum zu rasen, ausführlich und ruhig zu erörtern und andere Wege zu suchen, wie sie ihre Überforderung vermindern könnte. Nach drei weiteren Gesprächen über nochmals vier Monate konnte die Therapie erfolgreich beendet werden (Therapeut: Jochen Schweitzer). »Ohne Vater kann hier nix mehr laufen« – der deprimiert-resignative Nachlass Ein jüngerer Bruder will seinem älteren, nierenkranken Bruder eine Niere spenden. Einen Tag vor der Transplantation stürzt der Vater der beiden sich vom Hochhausdach in den Tod. Die Transplantation wird verschoben, ein halbes Jahr später aber dennoch durchgeführt. Trotz medizinisch sehr erfolgreichen Verlaufes entwickeln sich aber zwei zunächst unverständliche Probleme. Zum einen kommen beide Söhne in ihrer beruflichen Entwicklung keinen Schritt mehr weiter, zum anderen entwickelt der Spender Selbstmordgedanken, die ihn für einige Wochen in die Psychiatrische Klinik führen. Familiengespräche mit beiden Söhnen und ihrer Mutter zeigen, dass der Vater die Familie früher sehr »im Griff hatte«, besonders die 15 Jahre jüngere, einfach strukturierte Mutter, und allen dreien die Überzeugung vermittelt hatte, ohne ihn könne in der Familie eigentlich nichts erfolgreich laufen – sie würden es ohne ihn nicht schaffen. Dies hatten alle drei als sie herunterziehende Überzeugung verinnerlicht, allenfalls der ältere Sohn rebellierte teilweise, aber halbherzig dagegen. An dieser Stelle wird eine Zeitlinie eingeführt, auf der die drei in eine graue, als perspektivlos fantasierte Zukunft schauen.

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Systemische Psychotherapie mit Erwachsenen

Gleichzeitig lassen Therapeut und Co-Therapeutin im Rahmen eines therapeutischen Sprechchors die Stimmen des Vaters (aus der Vergangenheit) erklingen: »Ohne mich schafft ihr gar nichts« oder »Das kann nur ich – ihr könnt das nicht« – bis sich Widerstand in Form alternativer Stimmen regt (»Schaff’ ich doch!«). Wir beenden diese Sitzung mit einer von uns und der Familie als passend empfundenen, in der Sache aber sehr provokativen Abschlussempfehlung: »Wir würden Sie gern in drei Wochen wieder einladen und möchten Ihnen empfehlen, bis dahin eine Pause zu machen, die wir ›Vater-Gedächtnis-Wochen‹ nennen wollen. Wir empfehlen Ihnen, in dieser Zeit wenig aus dem Haus zu gehen, ganz intensiv an den Vater zurückzudenken, alles hervorzuholen, was Sie an ihn erinnert – Fotos, Tonbandkassetten, Videos – und darüber nachzudenken: Was hat Vater gewollt, wie wir unser Leben gestalten sollen? In dieser Zeit sollten Sie einmal am Tag gemeinsam in Erinnerung an Ihren Vater das christliche Vaterunser sprechen. Sie sollten absichtlich noch keine neuen Pläne machen, sondern noch einmal intensiv trauern und sich an alles erinnern, was Sie mit Ihrem Vater verbinden.« Nach fünf Gesprächen und einem Kuraufenthalt des jüngeren Bruders gelingt es beiden jungen Männern, eine neue (bescheidenere, aber realistischere) berufliche Perspektive anzugehen. Die Mutter lässt sich erst jetzt richtig auf therapeutische Gespräche ein, die sie als Einzelgespräche mit der Co-Therapeutin führt (Therapeut: Jochen Schweitzer).

Abbildung 6*

* Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Oswald Huber.

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Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie

3.1 Kinderfreundliche Therapie24 Mit kleinen Kindern Beratungsgespräche und therapeutische Sitzungen zu gestalten, ist eine besondere Herausforderung. Dabei ist es unerheblich, ob die Kinder selbst als Patient präsentiert oder ob sie in familientherapeutische Gespräche wegen eines erwachsenen Patienten einbezogen werden. Die Schwierigkeit liegt darin, mit den Kindern auf eine Weise ins Gespräch zu kommen, dass sich eine Kooperationsbeziehung entwickelt (Grabbe 2001, 2005, 2006; Rotthaus 2001; Wilson 2003; Steiner u. Berg 2005). Der Therapeut muss auf gleicher Augenhöhe arbeiten – sich an ihre Sprache und ihre Ausdrucksformen ankoppeln und ihre altersabhängig unterschiedlichen Arten des In-Kontakt-Tretens und des Problemlösens berücksichtigen. Er muss seine Sprache auf das Entwicklungsniveau der Kinder abstimmen, kindliche Ausdrucksformen wie Spiel, Fantasie und Rollenspiele nutzen und beachten, dass Kinder erst ab einem Alter von etwa sechs bis sieben Jahren Kinder komplexere zirkuläre Fragen verstehen. Bereits in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden zahlreiche Techniken für die Arbeit mit Kindern in Familientherapien entwickelt (Ackermann, Minuchin, Satir etc.). Diese Erkenntnisse gingen jedoch in den Zeiten der stärker erkenntnistheoretisch ausgerichteten Formen von Familientherapie vorübergehend verloren. Die Kritik daran (Vossler 2000; Lenz 2000, 2001; Rotthaus 2001) wurde rasch aufgegriffen, das Kind in der systemischen Therapie wiederentdeckt. Eine sich systemisch verstehende Spieltherapie (Pleyer 2001) sowie dezidiert kinderfreundliche (Stern 2002) und mit Kindern kooperierende (Grabbe 2001, 2006; Wilson 2003; Steiner u. Berg 2005) Ansätze in der systemischen Familientherapie, die es natürlich schon immer gab, rückten nun wieder in den Mittelpunkt des Inte24 Wir bedanken uns bei Dr. Wilhelm Rotthaus, Bergheim, und Dipl.-Psych. Michael Grabbe, Melle, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie

resses. Retzlaff (2002, 2005, 2006) hat das Methodenspektrum kindzentrierter systemischer Familientherapie kompakt und anschaulich beschrieben. Kooperation mit Kindern und Jugendlichen Systemtherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen schließt auf jeden Fall gemeinsame Gespräche mit der Familie oder Personen aus anderen primären Lebenskontexten ein, wird diese aber oft durch Gespräche mit Subsystemen (z. B. die Indexklientin nur mit Geschwistern oder engen Freunden), Einzelgespräche oder Gruppenangebote mit Gleichaltrigen ergänzen. Für den Beziehungsaufbau sind folgende Aspekte nützlich25: 1. Den Raum nutzen So wie sich Erwachsene auf Kindergartenstühlchen fremd fühlen, so registrieren kleine Kinder in einer Sitzrunde mit Erwachsenenstühlen, dass dies nicht wirklich ihre Welt ist. Man sollte daher im selben Raum Erwachsenenecken (z. B. die klassische Sitzrunde) und Kinderecken (oft auf dem Fußboden) anbieten und während der Sitzung zwischen beiden je nach Thema in einem gewissen Rhythmus pendeln. Es lohnt, Kindern den Raum anfangs vorzustellen, ihn gemeinsam zu erkunden (besonders attraktiv: Videokamera und Mikrofon), manche Ecken auszuprobieren. Von Anfang an, also bei der Begrüßung, aber auch danach sollte die Therapeutin auf gleiche Augenhöhe gehen – bei kleineren Kindern also nach unten. 2. Kindspezifische Formen der Kontaktgestaltung Kinder lassen sich oft leichter durch Vermittler erreichen, etwa Handpuppen (sogenannte Intermediärobjekte), die statt des Erwachsenen mit dem Kind Kontakt aufnehmen. Mit ihnen kann ein ganzes Spektrum systemischer Möglichkeiten ausgestaltet werden: Mit der Handpuppe kann ein Reflektierendes Team abgehalten werden, jeder am Gespräch Beteiligte kann eine eigene bekommen. Tier- oder Spielfiguren können sym25 Zusammengestellt aus den Curricula »Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie« am Heidelberger Helm Stierlin Institut und am Institut für Familientherapie, Weinheim.

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Kinderfreundliche Therapie

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bolische Begleiter werden, können als Unterstützer oder Schutzengel fungieren (»Was meinst du, ist der beste Platz für ihn, vor dir, neben oder hinter dir?«) und als solche direkt oder zirkulär befragt werden. Auch andere Objekte (Glühbirne, Schlüssel, rotes Tuch, roter Faden, Murmeln usw.) können im Raum für Kinder und Erwachsene sichtbar bestimmte Themen symbolisieren und es leichter machen, dem Gespräch zu folgen. Solche Objekte können auch helfen, das »Tor zum vorsprachlichen Raum« zu öffnen (Heinl 1991). Zugleich können sie genutzt werden, um die im weiteren Verlauf des Kapitels mehrfach vorgestellte Technik der Externalisierung nach White und Epston (1990) zu verdeutlichen: Die Krankheit, die Störung, der Konflikt werden durch ein Objekt symbolisiert, das dann im Raum platziert (»Steht das Asthma eher neben dir oder neben der Mama?«) oder verändert werden kann (»Wo sollte es am besten stehen?«). Es kann auch einmal spielerisch aus dem Raum verwiesen werden (»Wenn es jetzt mal Urlaub hat und verreist ist, was ist dann anders zwischen euch? Wem würde es als Erstes auffallen? Was würde der dann machen oder sagen?«). Weiterhin lassen sich metaphorische Geschichten und Märchen nutzen, um einen besonderen Zugang besonders zum Kind zu finden oder eine kindgerechte Form eines Abschlusskommentars zu entwickeln (Ingredienzien für Aufbau und Struktur dieser Geschichten siehe Grabbe 2006). Die Time-Line-Arbeit (Grabbe 2003) bietet den Kindern Möglichkeiten, aktiv und sinnlich spürbar und anschaulich im Raum eine ressourcenorientierte, auf Lösungen in Vergangenheit und Zukunft fokussierte Perspektive mitzugestalten. 3. Grundregeln bekannt machen Kinder und Jugendliche wissen nicht »von selbst«, wie Psychotherapie funktioniert. Einige Grundregeln erleichtern die Orientierung: Jeder hat das Recht, sich zu beteiligen, zuzuhören, mitzureden – oder aber genauso: nichts zu sagen, sich die Ohren zuzustopfen, zum Fenster hinauszuschauen. Jeder wird von der Therapeutin von Zeit zu Zeit um seine Meinung gefragt werden. Jugendliche ab ungefähr 16 Jahren sind zu fragen, ob sie mit »du« oder »Sie« angeredet werden wollen, ob Eltern, Stiefeltern und Großeltern mit dem Vornamen oder einer Funktionsbezeichnung angesprochen werden (»Sagst du Mama oder Sabine?«).

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Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie

4. »Eins nach dem anderen« Es gibt Gesprächsabfolgen, die sich in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und ihren Familien besonders bewähren, wenn die Familie wegen eines oder mehrerer Kinder als »Problemträger« in Therapie kommt. Im Sinne eines guten Joinings (ein zentrales Moment der systemischen Therapie; vgl. von Schlippe u. Schweitzer 1996) geht es zunächst darum, einen unbelasteten, entspannten Kontakt zu jedem Familienmitglied herzustellen, eine Verbindung zu ihrem oder seinem Selbstwert herzustellen (Satir 1990). Wenn es angemessen erscheint, den Kontakt zum Kind zunächst intensiver zu gestalten, kann man sich zu Beginn eine Erlaubnis der Eltern einholen, das Gespräch nach der anfänglichen Vorstellung mit dem oder den Kindern zu beginnen. Fast nie wird hier mit dem Problem begonnen, sondern erst mit der Lebenssituation (»Gehst du schon in die Schule?«), dann mit den Interessen und Kompetenzen (»Was machst du am liebsten?«), dann mit der Motivation (»Bist du denn heute gern oder ungern gekommen?«), erst am Ende mit dem Problem. Hier kann eine direkte Frage gestellt werden: »Was haben denn die Eltern erzählt, was ihr heute hier machen wollt?«, doch gerade wenn das Kind unter Druck zu stehen scheint, hat sich eine Frage bewährt wie: »Was meinst du, wen wir am besten mal fragen sollten, was euch denn heute hierher geführt hat?« Diese Frage ermöglicht es dem Kind leicht, sich kooperativ zu zeigen, ohne gleich etwas Belastendes auszusprechen. 5. Wahlmöglichkeiten geben: Indirekte Kontaktangebote Zuweilen wird ein Kind oder Jugendlicher mitkommen, aber schweigend oder lautstark das Gespräch verweigern. Dies gilt es zu akzeptieren: »Wenn du nichts sagen willst, kannst du die ganze Sitzung über auch schweigen, das ist o. k.« Und dann sollte man dem Kind oder Jugendlichen die Möglichkeit geben, ein Gespräch mit den Eltern und gegebenenfalls Geschwistern mitzuverfolgen, das möglichst interessant und nicht die x-te Wiederholung altbekannter hässlicher Geschichten ist. Dazu kann beitragen, unerwartete, seltene positive Geschichten über das zuhörende Kind zu sammeln, die Eltern zirkulär über die zurückgehaltenen Kommentare des Kindes zu befragen (»Was, vermuten Sie, würde uns Lena darüber erzählen, was sie über den Streit der Eltern denkt?«) oder von anderen Kindern zu erzählen, die ihre Eltern irgendwann mit

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Kinderfreundliche Therapie

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unerwarteten Entwicklungen überrascht haben. Dies kann, muss aber nicht irgendwann zu »Einmischungen« des Kindes führen. 6. Den Stil des Kindes (der Familie) aufgreifen Oft wird die Therapeutin von selbst Teile des Sprachtempos und des Sprechtons ihrer Klienten – besonders der Kinder – aufgreifen, wird sich im Atemrhythmus oder in Stil und Tempo ihrer Körperbewegungen mit ihnen »vertakten«, wird mit ihnen »mitschwingen«. Unvermeidlich erlebt sie dann auch einen Teil der Stimmung, in der ihre Klienten sich befinden und kann diese (oft aber erst deutlich später) ansprechen, am besten in der Ich-Form (»Ich merke, dass ich ein bisschen traurig werde, wenn ich diese Geschichte höre. Geht das dir/Ihnen/euch denn auch so?«). Grundsätzlich sollte die Therapeutin kurze Sätze mit einfachen, anschaulichen, bei kleinen Kindern eher handlungsorientierten Begriffen verwenden; der dreifach geschwungene zirkuläre Relativsatz verbietet sich in der Regel. Das Gespräch wird erleichtert, wenn die Therapeutin die Schlüsselwörter ihrer jungen Klienten aufgreift – Wörter, die eine besondere Bedeutung zu haben scheinen, weil sie häufig genannt oder mit besonders viel Affekt gesprochen werden, als besonders ungewöhnlich herausragen oder metaphorisch die Lage gut zu charakterisieren scheinen. 7. Mit kürzeren Aufmerksamkeitsspannen rechnen In der Arbeit mit Kindern im Grundschulalter wird man oft nur in kurzen Sequenzen (10 bis 20 Minuten) konzentriert arbeiten können. Dann ist Zeit für einen Wechsel des Mediums (z. B. vom Gespräch zum Malen), der Raumecke (aus dem Sitzkreis in die Spielecke) oder der Gesprächspartner (»Jetzt schlage ich vor, du malst dieses Bild mal zu Ende und ich lass mir von den Eltern noch ein bisschen mehr erzählen. Du brauchst nicht zuzuhören, wenn du nicht willst.«). Auch die Abstände zwischen den Sitzungen sollten kürzer sein als in Familien mit Jugendlichen und/oder Erwachsenen, da die Erinnerung schneller verblasst. 8. Themen inszenieren In der Regel reden Kinder und Jugendliche weniger und tun mehr. Da kann es leichter sein, die strittigen Themen in der Familie öfter zu inszenieren als zu besprechen. Ein Jugendlicher kann gebeten werden, den

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Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie

»Nullbock« zu malen. Nächtliche Konflikte um die Frage »Wer schläft im Elternbett?« können auf einer großen Decke im Therapiezimmer bei einem Probeliegen verdeutlicht und durch Probehandeln versuchsweise gelöst werden (»Probier doch mal nacheinander aus, dich als Erstes zwischen die Eltern, dann außen links neben die Mutter und am Ende außen rechts neben den Vater zu legen«). Die Tür des Therapiezimmers kann symbolisch genutzt werden, um zu erkunden, wie weit sich ein schulängstliches Kind mit seinen Eltern, mit der Therapeutin oder allein hinaustraut und welche Unterstützung es denn bräuchte, um dort draußen ein bisschen länger zu bleiben. Typische kurze häusliche Streitszenen lassen sich im Therapieraum inszenieren, mit der Videokamera aufnehmen und können hinterher auf dem Bildschirm mit der Familie angeschaut werden (Wer kann wie am besten Wirbel erzeugen, wenn sie oder er dies will?). Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie Diese Beispiele verdeutlichen, was Rotthaus (2001) als Merkmale einer systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie beschreibt: Auf Basis systemischer Grundannahmen, eines systemischen Menschenbildes und entsprechender ätiologischer Konzepte erfordert systemische Kinderund Jugendlichentherapie zusätzliche entwicklungspsychologische Kenntnisse und damit verbunden andere Techniken und Medien der Therapie. Zudem braucht es Kenntnisse über das Spektrum dessen, wie Familien mit Kindern unterschiedlicher Entwicklungsstufen sich auf diese einstellen – insbesondere wie sie im Umgang mit erkrankten Kindern unterschiedlichen Alters ihre Belastungsfähigkeit sichern (Retzlaff et al. 2006). Solche Kenntnisse und Techniken werden inzwischen in speziellen Aufbau-Curricula systemischer Kinder- und Jugendlichentherapie vermittelt, nicht nur am Institut für Familientherapie Weinheim und am Heidelberger Helm Stierlin Institut, an denen die Verfasser tätig sind. Wie systemisch-familienorientiert mit Kindern und Jugendlichen in einer ambulanten kinderpsychiatrischen Arztpraxis gearbeitet werden kann, hat Bonney (2003) anschaulich beschrieben. Für die stationäre systemische Kinder- und Jugendtherapie liefern Schweitzer (1984), Rotthaus (1990), Durrant (1996) und das Themenheft 3 des Jahrgangs 2005 der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung zahlreiche Anregungen. Für eine systemische Erziehungs- und Familienberatung finden

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Kinderfreundliche Therapie

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sich solche unter anderem bei Hahn und Müller (1993) sowie bei Zander und Knorr (2003). Methodisch muss dabei das Rad nicht neu erfunden werden. Die strukturelle Familientherapie hat gerade im Kinder- und Jugendtherapiebereich viele handlungsorientierte Vorgehensweisen (»Enactments«) entwickelt (z. B. Minuchin et al. 1967; Combrinck-Graham 1989). Die Erickson’sche Hypnotherapie bietet unter dem Aspekt der Aufmerksamkeitsfokussierung für die systemische Therapie mit Kindern und Jugendlichen viele interessante Ideen, über die die Bücher von Mrochen et al. (2002), Holtz und Mrochen (2005) sowie Holtz et al. (2002) berichten. Im Überlappungsbereich von systemischer und Hypnotherapie stehen lösungsorientierte Ansätze, über die Vogt-Hillmann und Burr (1999, 2002) sowie Steiner und Berg (2005) einen guten Überblick geben. Auch aus dem Psychodrama und der Soziometrie mit Kindern (Pruckner 2006) eignen sich viele Vorgehensweisen auch in der systemischen Therapie, insbesondere die aus dem Psychodrama hervorgegangene Familienskulptur (Schweitzer u. Weber 1982; Kröger et al. 1984). Unterschiede zwischen systemischen und anderen zum Beispiel psychoanalytischen, verhaltenstherapeutischen und klientzentrierten kinderpsychotherapeutischen Ansätzen werden im Themenheft »Kindheit« der Zeitschrift Psychotherapie im Dialog anschaulich (Schweitzer u. Retzlaff 2006). Schließlich resultieren aus der Verknüpfung von Familientherapie und Freizeitpädagogik (z. B. Wanschura u. Katschnig 1986) viele gute Ideen. Systemisches Eltern-Coaching An dieser Stelle wollen wir kurz einen Ansatz erwähnen, der seit einigen Jahren zunehmend Verbreitung findet. Ähnlich wie das Kind in der systemischen Therapie »wiedergefunden« wurde, wurde auch erst in jüngerer Zeit das Augenmerk auf die Eltern als besonders unterstützungsbedürftiger Dyade gerichtet, rückte ihre besondere Hilflosigkeit in den Mittelpunkt (Pleyer 2003). Im systemischen Elterncoaching (Tsirigotis et al. 2006; von Schlippe 2006) wird mit den Eltern auf eine besondere Weise an den Störungen des Kindes gearbeitet, oft ohne dass das Kind einen direkten Kontakt mit der Therapeutin hat. Hier sind besonders die Konzepte von zwei Persönlichkeiten zu nennen: Maria Aarts und Haim Omer. Beide sind in sehr unterschiedlichen Kontexten tätig. Das von Haim Omer begründete und mit Arist von Schlippe in Deutschland be-

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Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie

kannt gemachte Konzept der elterlichen Präsenz überträgt Ideen zum gewaltfreien Widerstand von Mahatma Gandhi und Martin Luther King in den Erziehungsalltag. Es vermittelt Eltern eine Philosophie und einige Techniken, sich schädlichen, gefährlichen und übergriffigen Verhaltensweisen ihrer Kinder in den Weg zu stellen, ohne selbst übergriffig und kontrollsüchtig zu werden. Die größte Bandbreite an Erfahrungen liegt hier bislang zu der Arbeit mit gewalttätigen Kindern vor (Omer u. von Schlippe 2002, 2004; Omer et al. 2005; Ollefs u. von Schlippe 2006; Lemme u. Eberding 2006). Ermutigende Berichte gibt es jedoch auch von der Arbeit mit Kindern, die die Familie so sehr in ihre Zwangsstörung mit einbezogen haben, dass Eltern und Geschwister keinen Weg mehr sehen, wie sie sich daraus befreien können. Hier kann das Elterncoaching helfen, das Klima der Familie positiv zu beeinflussen, auch wenn darüber die Störung nicht direkt behandelbar ist (Omer 2003). Das von Maria Aarts begründete »Marte Meo«-Konzept hilft Eltern mittels videogestützter Entwicklungsberatung, bislang noch wenig genutzte kindliche und elterliche Interaktionskompetenzen zu erkennen und systematisch auszubauen (Aarts 2002a; Hawellek u. von Schlippe 2005). Der Einsatz dieses Beratungsansatzes empfiehlt sich besonders für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern mit Regulationsstörungen, sodass ihr Ansatz auch noch im folgenden Kapitel erwähnt werden wird. Störungen im Kindesalter In der ICD-10 werden unter der Überschrift »Verhaltensstörungen und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend« im Kapitel F9 insgesamt 31 Störungsbilder aufgeführt. Hinzu kommen im Kapitel F8 unter der Überschrift »Entwicklungsstörungen« 22 unterschiedliche Diagnosen. Einige dieser Diagnosen weisen schon im Titel deutlich auf Interaktionsprozesse in sozialen Systemen hin. So werden »auf den familiären Rahmen beschränkte Störungen des Sozialverhaltens« (F91.0) von solchen »bei fehlenden sozialen Bindungen« (F91.1) und »bei vorhandenen sozialen Bindungen« (F91.2) unterschieden, bei den »emotionalen Störungen des Kindesalters« (F93) solche »mit Trennungsangst« (F93.0) von solchen »mit Geschwisterrivalität« (F93.3). Wir werden im Folgenden nicht strikt der ICD-Systematik folgen, da es mehrere im therapeutischen Alltag relevante Störungsbilder gibt, wie zum Beispiel Schulverweigerung, die sich nicht einer einzigen ICD-10-

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Fütter-, Schlaf- und Schreistörungen (Regulationsstörungen)

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Kategorie zuordnen lassen. Wir haben einige Störungsbilder beispielhaft ausgewählt, die in der Praxis oft auftreten und zu denen der systemische Ansatz gute Lösungsansätze gezeigt hat. Viele der im Kapitel zur systemischen Therapie mit Erwachsenen bereits beschriebenen Störungen können erstmals (Erstmanifestation) schon im Kindes- oder Jugendalter auftreten. Wo dies der Fall ist (z. B. Depressionen im Kindesalter, Psychosen und süchtiges Verhalten im Jugendalter), haben wir die Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen dort bereits mitdiskutiert. Einige Störungsbilder aber zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur im Kindes- und Jugendalter auftreten oder dort beginnen. Wer hier entstörend wirksam sein will, sollte mit kindlichen und familiären Entwicklungsprozessen im Säuglings-, Kleinkind- und Schulalter und deren Varianten, mit Risiko- sowie protektiven Faktoren vertraut sein (z. B. von Schlippe et al. 2001a). Eine umfassende systemisch orientierte Darstellung von Entwicklungsproblemen des Kindesund Jugendalter und deren Entstörung, insbesondere auch in pädagogischen Kontexten, bieten Trapmann und Rotthaus (2003) für Kinder sowie Rotthaus und Trapmann (2004) für Jugendliche. Wer ein nach ICD-10 geordnetes Literaturverzeichnis zu störungsbezogener systemischer Therapie sucht, wird auf einer von Spitczok von Brisinski sorgfältig ausgearbeiteten Internetseite fündig (http://www.systemisch.net/Literaturliste/_Start.htm).

3.2 Fütter-, Schlaf- und Schreistörungen (Regulationsstörungen) – Wie Babys ihre Eltern stimulieren26 iStörungsbilderi Als Regulationsstörung wird bei Säuglingen eine alters- oder entwicklungsmäßig außergewöhnliche Schwierigkeit bezeichnet, ihr Verhalten in einem oder mehreren Interaktionskontexten wie Selbstberuhigung, 26 Wir bedanken uns bei Dr. Andreas Wiefel, Berlin, und Dr. Consolata Thiel-Bonney, Heidelberg, für ihre Mitarbeit an diesem Kapitel.

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Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie

Abbildung 7*

Schreien, Schlafen, Füttern oder Aufmerksamkeit angemessen zu steuern. Unseres Wissens ist nur die Fütterstörung unter F98.2 in der ICD10 erfasst. Da das Miterleben solcher Regulationsstörungen für Eltern (und zuweilen Geschwister und Nachbarn) immer anstrengend ist, * Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Cartoon-CaricatureContor, Pfaffenhofen a. d. Ilm (www.c5.net)

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Fütter-, Schlaf- und Schreistörungen (Regulationsstörungen)

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gehen sie oft mit Belastungen oder Störungen der frühen Eltern-KindBeziehungen einher (Fries 2000, 2001; von Hofacker et al. 2003). Diese werden ausgeprägter, je länger die Störung andauert, je mehr Regulationsbereiche betroffen sind und je gravierender psychosoziale Belastung und psychische Auffälligkeit der Mutter sind (von Hofacker et al. 1996). Durch die Medien an die Eltern herangetragenen Leistungsanforderungen auf der Basis stark idealisierter Eltern- und insbesondere Mutterbilder (Levold 2002) können zusätzlich zu übersteigerten Ansprüchen der jungen Eltern an sich selbst und damit gerade zu den Ängsten und Verunsicherungen führen, die sich in der Folge ungünstig auf das intuitive Elternverhalten, die Beziehung zum Kind und damit auf die Symptomatik auswirken können: Die »Gespenster im Kinderzimmer« tauchen auf (Fraiberg, zit. nach Borke et al. 2005). Schreistörungen Exzessives Schreien im ersten Lebenshalbjahr zeigt sich in anfallsartigen, unstillbaren Schrei- und Unruheepisoden in den ersten sechs Lebensmonaten (»Drei-Monats-Koliken«) ohne erkennbaren Grund bei einem ansonsten gesunden Säugling. Sie beginnen meist um die zweite Lebenswoche, nehmen bis zur ungefähr sechsten Lebenswoche an Intensität und Häufigkeit zu, gehen bis zum Ende des dritten Lebensmonats meist weitgehend zurück, selten dauern sie bis zum sechsten Monat. Die Schrei- und Unruheneigung geht zeitlich mit physiologischen Reifungsprozessen einher, die die Schlaf-Wach-Regulation eines jeden Säuglings beeinträchtigen. Ob die Schrei- und Unruhephasen als exzessiv erlebt werden, hängt zunächst von der subjektiven Belastungsempfindung der Eltern ab. Als objektivierendes Kriterium wird oft zusätzlich die DreierRegel herangezogen: Wenn der Säugling pro Tag mehr als drei Stunden schreit oder sehr unruhig ist und dies an durchschnittlich drei Tagen der Woche über mindestens drei Wochen, wird dies als exzessiv angesehen (von Hofacker et al. 2003). Schlafstörungen Im ersten Lebensjahr ist wiederholtes, kurzes nächtliches Aufwachen physiologisch. Die meisten Säuglinge erwerben allerdings bereits innerhalb der ersten Lebensmonate die Fähigkeit, ohne wesentliche elterliche Hilfe wieder einzuschlafen.

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Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie

Von Schlafstörungen wird gesprochen, wenn der Säugling jenseits des sechsten Lebensmonats ohne elterliche Hilfe regelmäßig nicht (wieder) einschlafen kann. Die mit dem exzessiven Schreien verknüpfte unreife Schlaf-Wach-Regulation in den ersten drei Lebensmonaten wird nicht als Schlafstörung im eigentlichen Sinne angesehen. Bei einer Einschlafstörung gelingt das Einschlafen nur mit Hilfe der Eltern und dauert mehr als 30 Minuten. Bei einer Durchschlafstörung kommt es durchschnittlich zu mehr als dreimaligem nächtlichem Aufwachen in mindestens vier Nächten der Woche, besonders wenn das Kind danach ohne elterliche Hilfen nicht allein wieder einschlafen kann. Fütterstörungen Vorübergehende Fütterprobleme sind im Säuglingsalter häufig. Als Fütterstörung werden sie erst dann bezeichnet (von Hofacker et al. 2003), wenn die Fütterinteraktion von den Eltern über einen längeren Zeitraum – mehr als einen Monat – als problematisch empfunden wird. Wenn die einzelne Fütterung durchschnittlich mehr als 45 Minuten dauert und der Abstand zwischen den Mahlzeiten weniger als zwei Stunden beträgt, kann dies jenseits des dritten Lebensmonats als Hinweis auf eine Fütterstörung angesehen werden. Fütterstörungen sind häufig, aber nicht zwangsläufig Ausdruck interaktioneller Probleme zwischen Eltern und Kind. Sie können auch nach belastenden oder schmerzvollen Erfahrungen im Mund-Nase-Rachen-Raum auftreten, zum Beispiel nach Entzündung der Speiseröhre, aversiven Fütterungserfahrungen, schwerem Erbrechen oder schmerzhaften Untersuchungen. Häufigkeit und Verlauf Die Prävalenz für Regulationsstörungen allgemein liegt bei 5 bis 15 %, für exzessives Schreien bei Kindern bis zum Alter von sechs Monaten je nach Definition bei 1,5 bis 11,9 % (Reijneveld et al. 2001) und für Fütterstörungen je nach Schweregrad bei 3 bis 25 %. Etwa 50 bis 70 % der Störungen bleiben über zwei bis drei Jahre bestehen (Wolke et al. 2002).

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Fütter-, Schlaf- und Schreistörungen (Regulationsstörungen)

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iBeziehungsmusteri Die Säuglingsforschung legt eine zirkuläre Sichtweise nahe, aus der das Baby nicht nur als passiver Empfänger elterlicher Zuwendung (bzw. im negativen Fall neurotischer Projektionen oder überlastender Delegationen) betrachtet wird, sondern als ein seine Beziehungen durchaus eigenständig gestaltendes Wesen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung des »kompetenten Säuglings« (Dornes 1993). Säuglinge können ihre Eltern oder andere Beziehungspersonen sehr aktiv steuern. Ihre eigene weitere Entwicklung (einschließlich der Anzahl sich ausbildender Axone und Dendriten in ihrem Nervensystem) hängt aber wesentlich davon ab, ob und wie diese Beziehungsangebote beantwortet werden. Neben seinen Bedürfnissen nach Ernährung, Pflege und Schutz benötigt der Säugling emotionale Geborgenheit, Anregung und Kommunikation, sucht danach Zusammenhänge in Alltagshandlungen zu erkennen, Selbstwirksamkeit zu erfahren und seine soziale und dingliche Umwelt zu erkunden. Hier benötigt der Säugling Interaktionspartner, die die kindlichen Prozesse der Verhaltensregulation und der Entwicklung begleiten, stimulieren und kompensatorisch unterstützen können und wollen. Eltern verfügen über solche »intuitiven Elternkompetenzen« (Papoušek 1996), die es ihnen ermöglichen, mit dem Baby in spontane, entwicklungsunterstützende Dialoge zu treten (Hawellek 2005). Sie koppeln sich unbewusst an die kommunikativen Bedürfnisse und Fähigkeiten von Babys und Kleinkindern an: in Mimik, Gesten und insbesondere in der Sprache, indem sie sich langsamer als gewohnt, in einer höheren Tonlage, mit einfachen Worten und Wiederholungen dem Kind zuwenden und Pausen für dessen Reaktionen lassen. Auf Seiten des Kindes sind Aussehen (Kindchenschema), Blickkontakt und soziales Lächeln unterstützende Faktoren. Auf Seiten der Eltern erweisen sich eigenes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl und die Fähigkeit zu uneingeschränkter emotionaler Zuwendung als Schlüsselfaktoren (Fries 2001, S. 80f.). Das Zusammenwirken des kindlichen Entwicklungsniveaus und der intuitiven elterlichen Kompetenzen zur vorsprachlichen regulierenden Abstimmung zwischen Eltern und Kind bildet aus dieser Perspektive ein komplexes – und im guten Falle faszinierendes – Selbstorganisationsmuster, wie berührende Filmaufnahmen gelingender Abstimmungsprozesse zeigen. Gleichzeitig ist dieses Muster durch vielfache Bedingungen

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störbar. Fries (2001) beschreibt charakteristische Risikokonstellationen junger Eltern-Säugling-Dyaden oder -Triaden: – soziale Isolation und fehlende emotionale Stützsysteme beim Übergang zur Elternschaft; – unrealistische Fremd- und Selbsterwartungen bezüglich der Entwicklung des Kindes; – organische und psychosoziale Belastungen in der Schwangerschaft; – beengte Wohnbedingungen; – konflikthafte Elternbeziehungen; – Vernachlässigung und Misshandlungen im Säuglings- und Kleinkindalter; – elterliche Belastungen und Störungen wie chronische Depression, Überforderung und eingeschränktes Selbstwertgefühl; – verminderte Zugangsmöglichkeiten zu medizinischen, psychosozialen und pädagogischen Unterstützungsangeboten; – deutlich erhöhtes Risiko eines Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenmissbrauchs; – jugendliche und vielfach alleinerziehende Mütter. Bestimmte Lebensumstände können so eine unsichere Eltern-Kind-Beziehung als eigenständigen Risikofaktor für die Entwicklung des Kindes in seiner Familie fördern. Zirkulär dazu versetzt exzessives Schreien des Kindes mit Unwohlsein und Quengeln die Eltern ebenfalls in Unruhe. Manche Säuglinge sind »von Natur aus« seltener richtig wach und zufrieden oder aber im Tiefschlaf, andere sind empfindlicher gegenüber Außenreizen, können ihre Biorhythmen und Verhaltenszustände schlechter regulieren (Papoušek 1984, 1985). Säuglinge mit einer solchen verzögerten Ausreifung der Verhaltensregulation stellen eine besondere Herausforderung für die Eltern dar. Gelingt es den Eltern häufig wiederkehrend nicht, das Baby erfolgreich zu beruhigen, werden ihre intuitiven Verhaltensbereitschaften blockiert (Papoušek 1996). Das elterliche Verhalten wird stereotyper, kindliche Signale werden häufiger ignoriert und der spielerische Austausch wird weniger oder fehlt gänzlich. Bei den Eltern stellen sich Gefühle der Ohnmacht, des Versagens, aber auch der Wut ein. Diese verstärken wiederum ihre Schuldgefühle. Ein scheinbar grundloses Schreien des Babys über Wochen und Monate bringt Eltern an den Rand ihrer Kräfte. Wut und Erschöpfung können ein explosives

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Gefühlsgemisch bilden, das dazu führen kann, dass »die Sicherungen der Eltern durchbrennen«: Schreien ist im Säuglings- und Kleinkindalter das häufigste Auslösesignal für Misshandlungen. Glücklicherweise sind die Eltern-Kindbeziehungen in dieser Phase aber auch sehr plastisch, das heißt, dass sowohl Teufelskreise als auch unter positiven Randbedingungen schnell »Engelskreise« entstehen können: Kleine Kinder vergeben schnell und reagieren dankbar auf angemessenes Elternverhalten (vgl. Papoušek 2001; Hofmann-Witschi u. Hofmann 2005).

iEntstörungeni Die vielen Befunde zur Säuglingsforschung, insbesondere aus Videoanalysen, sowie zur Bindungsforschung aus Experimenten mit der »fremden Situation« – in denen kleine Kinder in einem bestimmten Ablaufschema von ihren Eltern kurzfristig getrennt, dann mit ihnen wieder zusammengeführt und in ihren Trennungs- wie Wiedersehensreaktionen beobachtet werden (Brisch 2001) – haben Psychotherapeuten unterschiedlicher Schulrichtungen zu einer Elternberatung in einem bis dahin unüblichen Frühstadium angeregt – der frühen Kindheit einschließlich Pränatalzeit, Geburt, Säuglingszeit und frühen Kindheit. Alle arbeiten mit Eltern-Kind-Interaktionsbeobachtungen in verschiedenen Kontexten, die per Video aufgezeichnet und bestimmte Sequenzen daraus mit dem Elternpaar gemeinsam betrachtet werden (Video-Feedback). Die dyadischen oder triadischen Prozesse werden bindungstheoretisch analysiert (Suess 2001). Stern (z. B. 1998) spricht in diesem Zusammenhang von der »neuen Population«: Die Beziehung ist der Klient, nicht mehr eine Einzelperson. Videofeedback Die Vereinfachung und leichtere Zugänglichkeit der Videotechnologie haben zunehmend mehr Konzepte zum Videofeedback entstehen lassen, zum Beispiel die Münchener Schreibabysprechstunde (Papoušek 2001), die Leipziger Beratung für Eltern mit Babys und Kleinkindern (Fries 2001), die Baby- und Kleinkindsprechstunde der Berliner Charité (Wiefel u. Lehmkuhl 2006), die Heidelberger (Thiel-Bonney et al. 2005) oder die Osnabrücker Babysprechstunde (Borke et al. 2005).

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Ebenfalls sehr auf das Medium Video ausgerichtet ist das Marte MeoKonzept nach Maria Aarts (Aarts 2002a; Hawellek u. von Schlippe 2005). Es baut auf der Kraft natürlicher entwicklungsfördernder Interaktionen auf, die in jeder Mutter-Kind- oder Eltern-Kind-Interaktion zumindest in Ansätzen zu beobachten sind. Die Ausgangsbasis bilden direkte Beobachtungen des familiären Alltags durch Besuche im Heim der Familie. Die Videos werden anschließend sorgfältig ausgewertet. Den Eltern wird in einer Reviewsitzung ein Feedback gegeben, das auf den im Film erkennbar gewordenen Ressourcen aufbaut. Die Szenen werden danach ausgewählt, welche basalen fördernden Kommunikationsweisen bereits verwirklicht werden. Sirringhaus-Bünder et al. (2001, S. 108ff.) nennen sieben grundlegende Elemente kommunikativer Entwicklungsförderung in allen komplementären Beziehungen, in denen eine Person für eine andere verantwortlich ist27: 1. Lokalisiert der Erwachsene den Aufmerksamkeitsfokus des Kindes? Hier geht es um die Frage, ob die Mutter/der Vater den Aufmerksamkeitsfokus des Kindes beachtet und dabei wahrnimmt, welche Erfahrung das Kind gerade mit dem macht, worauf es aufmerksam wird. So lernt der Erwachsene die kindlichen Entwicklungs- und Unterstützungsbedürfnisse kennen. 2. Bestätigt der Erwachsene den Aufmerksamkeitsfokus des Kindes? Wenn verbal, paraverbal oder nonverbal dem Kind die Erfahrung vermittelt wird: »Ich teile dir mit, dass ich sehe, was für dich jetzt bedeutsam ist«, dann ist das ein Signal von Verständnis für das Kind, ein Baustein von Empathie. 3. Wartet der Erwachsene aktiv darauf, wie das Kind auf ihn reagiert? Ein aktives Warten des Erwachsenen signalisiert Interesse und ist eine Einladung zum Reagieren. Sie schützt das Kind vor Überstimulation und hilft ihm, kohärent zu reagieren. 4. Benennt der Erwachsene die ablaufenden Ereignisse, Erfahrungen und Gefühle, antizipiert er naheliegende Erfahrungen? Das aktive Benennen durch den Erwachsenen fasst Erfahrungen und Aktionen des Kindes, des Erwachsenen und weiterer beteiligter 27 Das heißt, das Modell beschränkt sich nicht allein auf die Arbeit mit Kindern, sondern lässt sich zum Beispiel auch auf geriatrischen Stationen bei dementen und anderen Personen einsetzen, die die Orientierung verloren haben.

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Personen in Worte und bezieht das Geschehen auf das, was jetzt ist, das, was war und das, was kommt. Auf diese Weise kann das Kind eine innere Landkarte auch im Sinne einer sozialen Erwartungsstruktur entwickeln – eine wichtige Vorbedingung für die Fähigkeit, sich im sozialen Raum orientieren zu können. 5. Bestärkt der Erwachsene erwünschtes Verhalten unmittelbar? Eine unmittelbare Antwort, die auf ein angemessenes kommunikatives Signal des Kindes gegeben wird, unterstützt dieses dabei, zur aktuellen sozialen Situation passende Reaktionen zu entwickeln. Es macht dabei die Erfahrung: »Das, was ich tue, wird beachtet; mir wird gesagt, was ich tun kann und das, was der Erwachsene für wichtig hält, wird bekräftigt.« Die Erwachsenen weisen auf passende Gelegenheiten hin, anstatt Verbote auszusprechen, bei denen dem Kind die entscheidende Information fehlt: das erwünschte Verhalten. 6. Setzt der Erwachsene das Kind in Beziehung zur Welt, indem er dem Kind Personen, Objekte und Phänomene vorstellt? Entwicklungsfördernde Dialoge fördern auch das Interesse an der Welt. Der Erwachsene führt aktiv und mit emotionaler Beteiligung Phänomene ein, an denen das Kind Interesse zeigt: »Schau mal, wie lustig der Hund mit dem Schwanz wedelt!« Eine besondere Bedeutung hat das Vorstellen von Personen (»Schau, da kommen Oma und Opa …«). Dies fördert soziale Achtsamkeit und bildet ein Modell für positives Sozialverhalten. 7. Sorgt der Erwachsene für angemessene Anfangs- und Endsignale der Situation? Um den Beginn und das Ende einer Situation erkennen zu können, braucht das Kind klare verbale oder nonverbale Signale, die beides kennzeichnen. Diese Signale machen soziale Kontexte unterscheidbar. Sie markieren die Übergänge zum Beispiel von der Arbeit zum Spiel oder vom Vorlesen zum Ins-Bett-Gehen. Derartige Markierungen geben dem Kind Orientierung und strukturieren seinen Alltag, besonders, wenn es sich diffus oder chaotisch verhält. Im Alter von sechs Wochen wurde Stefan von seinen Eltern in der Beratung (Osnabrücker Babysprechstunde) vorgestellt. Er schrie scheinbar grundlos und die Eltern wussten sich nicht mehr zu helfen. Die Mutter war sehr erschöpft, auch durch die häufige beruflich bedingte Abwesenheit des Vaters. Durch ihre Hilflosigkeit in ihren Beruhigungsversuchen war ihr Selbstwertgefühl erschüttert. In der Beobachtung der Interaktion zwischen Mutter und Kind und Vater und Kind fiel auf, dass der Junge häufig mit

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Blickabwendung reagierte und so Signale vermittelte, die seine Eltern nur schwer erkennen konnten. Diese neigten zu Überstimulation, um das mittlerweile ständig erwartete Schreien zu verhindern. Sie wechselten in kurzen Abständen die Lage des Kindes und das Spielzeug, das häufig viel zu groß war. Auf dem Video konnte man beispielsweise sehen, wie der Vater einen Teddy auf die linke Kopfseite des Kindes legte – nur Sekunden später legte die Mutter das Spielzeug auf seine rechte Seite (»DoubleParenting«). Das Verhalten des Kindes erlebten die Eltern als absichtsvoll gegen sie gerichtet und interpretierten es entsprechend negativ. Statt dies als Projektion zu werten, vermittelten die Therapeuten den Eltern, dass sie dies als Zeichen der Erschöpfung der Eltern verstünden. Sie schlugen als erste Sofortmaßnahme vor, dass beide einander häufiger abwechseln sollten, damit der jeweils andere etwas mehr Ruhe bekäme. Zugleich war dies eine Empfehlung, die das »Double-Parenting« reduzierte. Im Gespräch beschrieb die Mutter ihr Gefühl, nichts richtig zu machen. Was auch immer sie mit ihrem Sohn unternähme, um ihn zu beruhigen, nichts sei richtig. Dies war ein Gefühl, das sie auch aus anderen Lebenssituationen kannte. Auch hier wurden die Informationen nicht als Ursachen, sondern als ein Bestandteil des Teufelskreises verstanden, in denen Eltern und Kind hineingeraten waren. Blickabwendung des Kindes, Schrei- und Unruhezustände, lange Einschlafphasen usw. passten zu dem Gefühl der Mutter, alles falsch zu machen und dem Stress, in den die Eltern mit ihrem Kind geraten waren. Im Mittelpunkt der Beratung stand die Beobachtung von Interaktionssituationen mit Hilfe von Video. Durch eine sogenannten Still-face-Aufnahme, bei der die Mutter gebeten wurde, für einige Minuten das Kind zu beobachten und seine kommunikativen Signale zu entschlüsseln, konnte die Mutter im anschließenden Videofeedback entdecken, welche mimischen und vokalisierenden Fähigkeiten ihr Kind hat und einbringt, wenn es Gelegenheit dafür erhält – und wie durchaus positiv es auf die Angebote der Mutter reagieren konnte, wenn ihm die Zeit dafür gelassen wurde. Beiden Eltern wurde anhand von ausgewählten Videosequenzen rückgemeldet, wie sie ihr Kind erfolgreich beruhigen konnten und dass es nur darum ging, seine Fähigkeiten der Kontaktaufnahme und ihre intuitiven elterlichen Fähigkeiten »zur Passung« zu bringen.

Das Lausanner Trialogspiel und die direkte Intervention Auf der Basis jahrzehntelanger Beobachtung familialer Mikromuster entwickelten Fivaz-Depeursinge und Corboz-Warnery (2001) vom Lausanner Familienforschungszentrum bei Schrei- und Fütterstörungen eine sehr spezielle systemische Beratungspraxis mit einmaligen Konsultationen zur Unterstützung kinderärztlicher oder familientherapeutischer Behandlungen. Dabei kommt die Kinderärztin oder der Familientherapeut mit Eltern und Säugling in den Beratungsraum. Zunächst füttern die Eltern das Kind. Therapeut und Beraterin schauen lange genug zu, bis sich ein charakteristisches Beziehungsmuster entfaltet, welches das Problem verdeutlicht. Oft wird zusätzlich das Lausanner Trialogspiel in vier Schritten durchgeführt: 1. Mutter und Kind interagieren, Vater und Beraterin schauen zu. 2. Vater und Kind interagieren, Mutter schaut zu.

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3. Vater, Mutter und Kind interagieren, Beraterin schaut zu. 4. Am Ende des dritten Teils interagieren beide Eltern allein mit dem Kind, die Beraterin geht hinaus. Erst nach diesen teilstandardisierten Situationsexperimenten berichten Therapeut und Eltern der Beraterin ihr Anliegen und ihre Fragen. Auf diese wird am Ende der Sitzung eine umfangreiche Antwort gegeben, die einerseits die Bemühungen aller Beteiligten empathisch anerkennt, die problemerzeugenden Interaktionen klar benennt, diese aber positiv umdeutet. Daraus resultiert viel Material zum Weiterarbeiten für Kinderarzt oder Familientherapeut und Eltern. Nicht immer genügen Beobachtung und Feedback, damit Eltern mit ihrem Kind direkteren Kontakt aufnehmen können. Dann hilft eventuell die »direkte Intervention« (Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery 2001, S. 228ff.): Die Beraterin setzt sich neben Mutter oder Vater, hält ihn/sie, leicht wiegend, an den Schultern und betrachtet dabei beharrlich das Kind. Der Elternteil folgt schließlich der Blickrichtung der Beraterin, was nach einiger Zeit vom Kind erwidert wird und schließlich den Austausch beider intensiviert. Weitere systemische Instrumente: Zirkuläres Fragen, Fragen nach Ausnahmen vom Problem, Beobachtungsaufgaben Wiefel und Lehmkuhl (2006) beschreiben, wie systemisches Denken sich im einzelnen Gespräch über Schrei-, Fütter- und Schlafstörungen und in einem Beratungsablauf zeigen kann: – Zunächst erfolgt eine Auftragsklärung und Einschätzung der Beratungsbeziehung als »Klagenden«- oder »Kunden«-Beziehung. Die Klärung des Zuweisungskontextes, verbunden mit der Vereinbarung, zwischen allen beteiligten Helfern Transparenz herzustellen, ist eine weitere Grundvoraussetzung. – Mindestens einmal im Verlauf wird die ganze Familie eingeladen. Es wird immer in Anwesenheit der Kinder gesprochen. Die Erwachsenen werden explizit aufgefordert, ihre Beiträge danach auszurichten. Themen, die nur die Eltern betreffen (Paarkonflikte, Sexualität, starke Ambivalenzen) werden als solche benannt und ausgelagert, es wird aber ausdrücklich mitgeteilt, dass solche Themen existieren und mit

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therapeutischer Hilfe bewältigt werden. Insofern wird auch mit Säuglingen »alles besprochen«. Das Ehepaar S. berichtet, dass ihre fünf Monate alte Tochter Chloe den ganzen Tag über schreie. Auch in der Nacht müssten die jungen Eltern mehrmals aufstehen und die Tochter beruhigen, die häufig erst nach langem Herumtragen vor Erschöpfung kurzzeitig wieder einschlafe. Die kinderärztlichen Untersuchungen hätten keinen organischen Befund ergeben. Der Vater betreibe mit dem Großvater mütterlicherseits gemeinsam einen Wirtschaftsberatungsbetrieb und die Mutter sei bis kurz vor der Geburt als Betriebswirtin in der Computerbranche beschäftigt gewesen. Sie habe inzwischen das Gefühl, sie mache alles falsch und habe die Schuld an Chloes Problematik. Der Kinderarzt habe an die Spezialambulanz verwiesen. Mehrere Bekannte und Verwandte hätten ebenfalls zu einer Vorstellung geraten. Die Mutter möchte wissen, ob das Kind wirklich ganz gesund ist, wie der Kinderarzt sagt oder ob sie selbst Ursache der Probleme sei. Neben der Schreistörung zeigte sich eine zusätzliche Problematik in unterschiedlichen Temperamentsausprägungen bei Chloe und ihren Eltern (= dominierendes Thema). Diese waren als Manager vom Berufsleben hektische Betriebsamkeit gewöhnt und es fiel sowohl im allgemeinen Behandlungsrahmen als auch im beobachteten Interaktionskontext eine dazu komplementäre ruhige Grundhaltung der kleinen Patientin auf, die sich aber offensichtlich im häuslichen Rahmen nicht als solche manifestieren konnte. In die Therapiesitzungen wurden bewusst Leerlaufzeiten eingebaut und der thematische Schwerpunkt auf nicht-zielorientierte Reflexion gelegt. Bei Chloe zeigte sich in der Spielinteraktion ein sehr stark stimulierendes Verhalten beider Elternteile. Es fiel den Eltern schwer, dem langsameren Rhythmus des Kindes mit abwartender Haltung zu begegnen und sie missverstanden die durch Überlastung bedingte Abwehr des Kindes als Aufforderung, noch mehr gut gemeinte Angebote zu machen. Dies ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen in Familien, in denen ein starkes Leistungsdenken, oft gepaart mit hohen Umwelterwartungen und uneingestandener Selbstwertproblematik, als zentrales Thema vorgefunden wird. Darüber hinaus benötigte Chloe ergotherapeutische Behandlung, weil ihre Wahrnehmung für Sinnesreize, insbesondere taktiler Art, eingeschränkt war (Wiefel u. Lehmkuhl 2006, S. 63ff.).

Hypothesenbildung, zirkuläre Fragetechniken, Beobachtungsaufgaben, Verschlimmerungsfragen und Fragen nach Ausnahmen (vgl. Borke et al. 2005) bewähren sich in der Elternberatung von Säuglingen ebenso wie strukturelle Interventionen nach Art der Diensteinteilung (eine Nacht ist die Mutter für die Beruhigung des Kindes zuständig, eine Nacht der Vater). Die Frage »Wer schläft in welchem Bett?« wird nach dem »Sowohlals-auch« statt »Entweder-oder« beantwortet: Beispielsweise schläft das Kind im eigenen Bett, aber im Zimmer der Eltern. Häufig kommt als Standardintervention die Verschreibung eines »Elternabends« zur Anwendung. »Ambivalenzcoaching« (nicht beiden Neigungen zugleich nachzugehen, sondern nacheinander), »inneres Parlament« und weitere Hypno- und Imaginationstechniken sind einsetzbar. In manchen Situationen können Familienaufstellungen und Skulpturen hilfreich sein.

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Allgemeine Visualisierungstechniken (Zeitstrahl oder nicht-spezifische Analogskalen, wie im folgenden Beispiel beschrieben) sind Ergänzungen im individuellen Methodenkoffer. Bei Chloe wurde mit einer »nicht-spezifischen Analogskala« gearbeitet. Die Eltern sollten auf einer Skala von 0 bis 10 jeweils den Temperamentslevel der einzelnen Familienmitglieder einschätzen – zirkulär zunächst für den jeweils anderen Elternteil. Dies ließ interessante Rückschlüsse auf die gegenseitige Wahrnehmung auf der Paarebene zu. Der Vater schätzte die Mutter zunächst deutlich niedriger ein als sich selbst (Die Einschätzung des KV war: KM = 6, KV = 9). Im zweiten Schritt korrigierte er sich selbst von »9« nach »7« nach unten, sodass sich schließlich jeder selbst zwischen 6 und 7 einordnete. Es zeigte sich eine starke Verzerrung bezüglich der Tochter, die bei eher phlegmatischer Grundhaltung (aus Beobachterperspektive) von den Eltern als agil und quirlig erlebt und entsprechend behandelt wurde (»8 bis 9«, damit höher als sie selbst). Hier war das Videofeedback gut geeignet, die Wahrnehmung der Eltern zu überprüfen. Es wurde besprochen, dass der untere Teil der Skala (0 bis 5) offensichtlich gar nicht für eine Bewertung in Betracht gezogen wurde und sich die ganze Aktivität der Familie im oberen Bereich abspielt. Anhand der Ergebnisse wurden die Eltern zur Hypothesenbildung aufgefordert: Was ist wichtig in dieser Familie (»dominantes Thema«: Leistung)? Welche Funktion hat die Einschätzung als vitales Kind? Was würde passieren, wenn Chloe in der Realität anders wäre, als die Eltern sie einschätzen? Durch diese Fragetechnik wurden Ängste zur Persönlichkeitsentwicklung von Chloe, insbesondere ihrer fantasierten Leistungsfähigkeit deutlich. Durch Herstellen des entsprechenden Realitätsbezuges, hier zum zeitlichen Rahmen von Entwicklungsschritten, konnte ein Spannungsabbau im Eltern-Kind Verhältnis erreicht werden. Dazu gehörte die Ermunterung der Eltern, von Chloe nur zu erwarten, dass sie altersadäquate Spielzeuge erkennen und nur weniger komplexen Singspielen folgen kann. Es ließ sich beobachten, dass in entsprechend angeleiteten Sitzungen das Kind viel besser seine volle Aufmerksamkeit den elterlichen Angeboten widmen konnte. Mit Chloe und ihren Eltern wurden sechs Therapiesitzungen über sechs Monate gemacht. Wichtigste Schritte waren die Reduktion von Leistungserwartung und die Schaffung einer diesbezüglich realeren Wahrnehmung. Am Ende hatte die Schreisymptomatik vollständig aufgehört. Die Eltern fürchteten, dass es auch in Zukunft noch Probleme mit Grenzsetzungen geben könnte, haben aber seither keine weiteren therapeutischen Kontakte gesucht (Wiefel u. Lehmkuhl 2006, S. 63ff.).

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3.3 Entwicklungsstörungen: Legasthenie, Asperger-Syndrom – Einzigartige Kinder28 Unter Entwicklungsstörungen (F8) versteht die ICD-10 zwei sehr unterschiedliche Gruppen: die umschriebenen und die tiefgreifenden Störungen. Tabelle 15: Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache F80 F80.0 F80.1 F80.2 F80.3 F80.8 F80.9 F81 F81.0 F81.1 F81.2 F81.3 F81.8 F81.9 F82 F83

umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache Artikulationsstörung expressive Sprachstörung rezeptive Sprachstörung erworbene Aphasie mit Epilepsie sonstige Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten Lese- und Rechtschreibstörung isolierte Rechtschreibstörung Rechenstörung kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten sonstige Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen

Zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen (F81) rechnet die Klassifizierung solche der Sprache, des Lesens, der Rechtschreibung, des Rechnens und der Motorik sowie mehrere solcher Fähigkeitsbereiche. Hier werden also normale Muster des Fertigkeitserwerbs bereits in frü28 Wir bedanken uns bei Dipl.-Päd. Mechthild Reinhard, Siedelsbrunn, Dr. Ingo Spitczok von Brisinski, Viersen, und Dipl.-Psych. Rüdiger Retzlaff, Heidelberg, für ihre Mitarbeit an diesem Kapitel.

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hen Entwicklungsstadien nicht realisiert. Dies wird nicht einfach als Folge eines Mangels an Lerngelegenheit erklärt, auch nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung oder erworbenen Hirnschädigung oder -krankheit, sondern eher als Zusammenspiel vieler Faktoren. Als Beispiel dafür wollen wir in diesem Kapitel die Lese-Rechtschreibstörung auswählen. Als tief greifende Entwicklungsstörungen (F84) sieht die ICD-10 solche mit qualitativen Abweichungen in den sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern und mit einem eingeschränkten, stereotypen, sich wiederholenden Repertoire von Interessen und Aktivitäten. Hierzu gehören besonders Störungen aus dem autistischen Spektrum; wir wählen beispielhaft dafür das Asperger-Syndrom aus. Tabelle 16: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen F84 F84.0 F84.1 F84.2 F84.3 F84.4 F84.5 F84.8 F84.9

3.3.1

tiefgreifende Entwicklungsstörungen frühkindlicher Autismus atypischer Autismus Rett-Syndrom sonstige desintegrative Störung des Kindesalters überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien Asperger-Syndrom sonstige tief greifende Entwicklungsstörungen nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörungen

Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie)

iStörungsbilderi Das Hauptmerkmal ist nach der ICD-10 eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Eingeschränkt sein können das Leseverständnis, die Fähigkeit zum Wiedererkennen und Vorlesen einmal bereits gelesener Worte und schließlich Leistungen, für die Lesefähigkeit

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nötig ist. Bei umschriebenen Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig. Diese bleiben oft auch dann bestehen, wenn Fortschritte im Lesen gemacht werden. Zur Lese-Rechtschreibstörung (LRS) gehört eine hohe Anzahl von Fehlern bei ungeübten Diktaten sowie beim Abschreiben von Texten. Fehler beim mündlichen Buchstabieren und beim Schreiben von Buchstaben, Wörtern und Sätzen kommen hinzu. Meist fällt es dem Kind schwer, gesprochene Sprache gegliedert zu erfassen. Oft werden ähnlich aussehende oder klingende Buchstaben verwechselt, Rechtschreibregeln nicht beherrscht oder angemessen auf neue Sachverhalte übertragen. Zusammenhänge werden aus dem Gelesenen selten erkannt und manchmal ist es nicht möglich, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Worte oder Wortteile werden manchmal ausgelassen, ersetzt, verdreht oder hinzugefügt. Die Lesegeschwindigkeit ist meist unterdurchschnittlich. Es kommt häufig zu Startschwierigkeiten, langem Zögern oder Verlieren der Zeile beim Lesen und Vorlesen. Es kann massiver Leidensdruck entstehen, der sich durch chronische Misserfolge und negative Reaktionen der Umwelt verstärken kann (Trapmann u. Rotthaus 2003; Esser 2002; Schulte-Körne 2002). Häufigkeit und Verlauf Aus dem Vergleich internationaler Studien kann eine Häufigkeit der Lese-Rechtschreibstörung von ungefähr 4 bis 5 % aller Kinder angenommen werden. Allerdings nehmen die Symptombildungen in Deutschland darüber hinaus deutlich zu. In der Fachdiskussion werden Teilleistungsstörungen wie die Lese-Rechtschreibschwäche neben widrigen familiären Sozialisationsbedingungen als die bedeutsamsten Risikofaktoren für spätere psychiatrische Auffälligkeiten betrachtet. Mittelfristig – so die derzeitige Lehrmeinung – müsse ohne gezielte Interventionen von einem chronifizierenden Verlauf ausgegangen werden. Welche Einflussfaktoren musterunterbrechend und hilfreich wirken, ist allerdings weiterhin unklar und sehr umstritten. Diagnostik Nach ICD-10-Kriterien ist für die Diagnose ein Intelligenzquotient von über 70 notwendig; die gestörte Teilleistung sollte mindestens 1,5 bis 2 Standardabweichungen unter dem Wert der allgemeinen Intelligenz lie-

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gen. Neben der Anamneseerhebung wird daher ein mehrdimensionaler Intelligenztest durchgeführt und bei diesem vor allem auf die sprachfreien Subskalen geachtet. Die Lese- und Rechtschreibfertigkeiten werden durch einen gesonderten Test diagnostiziert. Diese können erst gegen Ende des zweiten Schuljahres zuverlässig normiert durchgeführt werden. Zeugnisse, Noten und Einschätzungen des Lehrers sollten einbezogen werden. Anamnestisch bedeutsam kann auch ein deutliches Absinken der Lernmotivation nach anfänglich guter Lerneinstellung sein. Medizinisch sind neurologische Erkrankungen und Beeinträchtigungen des Sehens und Hörens auszuschließen.

iBeziehungsmusteri Die besondere Situation eines Kindes mit umschriebenen Entwicklungsstörungen besteht darin, dass einzelne Leistungen vom übrigen höheren Niveau abweichen. So kann es zu einem verwirrenden Erscheinungsbild im Leistungsbereich kommen, um das herum sich problematische – der Leistungssteigerung dienende – Selbstorganisationsmuster entwickeln, die das Symptom oft eher verstärken (Reinhard 2001). Lehrer und Eltern mögen dazu tendieren, die Leistungseinbrüche anfangs als Zeichen mangelnder Motivation zu werten und mit Abwertungen, Strafen und gesteigerten Aufforderungen reagieren. Lehrer fühlen sich von den Kindern häufig nicht ernst genommen und von den Eltern unter Druck gesetzt. Förderangebote in den Schulen erweisen sich oft als wenig effektiv, da sich die betroffenen Kinder selten als Hauptauftraggeber für Veränderungswünsche zeigen und ebenso selten in eine Auftragsklärung mit der Leitfrage »Wer will was von wem unter welchen Bedingungen?« transparent und gleichrangig einbezogen werden (Reinhard 2001). Beispiel: Eine Lehrerin bittet einen rechtschreibschwachen Jungen im Förderunterricht sehr bestimmt, einen Satz zu überprüfen, denn es würde ein »E« fehlen. Darauf antwortet der Drittklässler (Reinhard 2002): »Woher wissen Sie denn, dass dort ein ›E‹ fehlt – ich habe es nämlich hinter dem ›D‹ versteckt!« Betz und Breuninger (1998) haben ein bekanntes Modell der Entwicklung von Lern- und Leistungsstörungen entworfen. Sie unterscheiden zwischen Umweltvariablen, Leistungsvariablen und Selbstwertvari-

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ablen des Kindes. Es können drei Teufelskreise entstehen, die sich selbst verstärken. So können Umweltvariablen – wie elterlicher Druck – zu Kompensationsverhalten auf Seiten des Kindes führen (z. B. Aufmerksamkeit erheischendes Verhalten in anderen Bereichen). Dies kann wiederum zur Verschärfung des elterlichen Drucks führen – ein erster Kreis. Leistungsmisserfolge können zu Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls und in der Folge zu Leistungsvermeidungen führen. Diese begünstigen wiederum weitere Misserfolge, der zweite Kreislauf ist etabliert. Schlechte Lernleistungen können zu erhöhten Leistungsanforderungen auf Seiten der Eltern führen. Die dabei auftretenden Überforderungen können in nachfolgend schlechte Lernleistungen münden, das ist der dritte der Teufelskreise, der sich, genau wie die anderen, unabhängig von den Ausgangsbedingungen selbst aufrechterhält und verstärkt (Green 1989).

iEntstörungeni Ausgangspunkt der therapeutischen Arbeit kann eine Haltung sein, die eine Teilleistungsstörung als andere Form von »Richtigkeit, in der Welt zu sein« interpretiert, wie Reinhard engagiert schreibt: »[…] dann müssten wir uns als sogenannte Experten und Interaktionspartner unter Umständen selbst infrage stellen und uns der anderen Logik ›ethnologisch‹ zu nähern versuchen« (2001, S. 407). Für sie sind diese Störungen sensible Auswirkungen eines kommunikativen Dilemmas in Lernprozessen. Während die meisten Förderversuche die Inhaltsebene betonen und die Lese-Rechtschreibstörung im Hauptfokus haben, reagieren die Betroffenen fast ausschließlich auf der Beziehungsebene. Sie erleben die Fehler- und Defizitorientiertheit der Förderangebote als mangelnde Wertschätzung oder Autonomieverlust: »Wenn du wolltest, könntest du in meinem Text das Richtige grün anstreichen. Doch du guckst nur auf die Fehler – du kannst mich nicht leiden oder versuchst mich klein zu machen!« Dieses oft eingefahrene Bewertungsmuster seitens der Betroffenen gilt es durch ressourcen- und lösungsorientierte Förderangebote explizit zu unterbrechen. So haben sich früher angewandte reine Trainingsprogramme zur Verbesserung der Lese- und Schreibfertigkeiten als oft nur kurzzeitig erfolg-

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reich erwiesen, während andere multiprofessionelle – eher systemisch orientierte – Angebote, welche die betroffenen Kinder gezielt als gleichberechtigte Kooperationspartner bei der Erforschung von Lösungsideen und Lernstrategien anerkennen und nutzen, nachhaltig günstigere Auswirkungen zeigen. Auch neuere Trainingsprogramme, die die Bedeutung der phonologischen Bewusstheit stärker akzentuierten und Hilfen für alphabetische Strategien und autographisches Wissen bieten, werden als nützlich beschrieben (Trapmann u. Rotthaus 2003, S. 159). Im Rahmen eines individuell gestalteten Therapie- und Förderangebotes können verschiedene Interventionsebenen unterschieden werden: – schulische wie außerschulische Förderung der Fertigkeiten und Fähigkeiten des Kindes: spezifische Rechtschreibprogramme, Lerntherapie; – schulische Sonderbehandlungen, die dem Kind einen Nachteilsausgleich ermöglichen: Befreiung von der Rechtschreibbenotung, Zeitzuschläge, mündliches Abfragen, Vorlesen von Aufgaben, Zulassung besonderer Hilfsmittel; – Familien- und kontextorientierte Maßnahmen: Elternberatung, Elterncoaching, Lehrergespräche. Bei einem systemischen Vorgehen werden diese Ebenen handlungsorientiert verknüpft, weshalb der Aufbau eines passgenauen Arbeitsbündnisses sowie eine klare Zielabstimmung zum zentralen Anliegen werden. Dafür ist die Überprüfung des Überweisungskontextes sowie der Kooperationsstrukturen notwendig, zum Beispiel: »Wer ist denn am meisten daran interessiert, dass sich etwas verändert? Was genau? Was wäre dadurch anders? Wer wäre bereit, etwas dafür zu tun? Wenn ja – was?« Ohne die transparente Klärung, welche anderen Helfer oder Berater mit welchen Ansätzen am Fördersystem beteiligt sind, können konkurrierende Förderprinzipien im Erleben der Betroffenen zu vermehrten Loyalitätskonflikten führen, wie etwa »häusliches Üben bei Oma, die nichts von Therapeuten hält« oder ein vom Beratungskonzept abweichender Förderunterricht in der Schule. Mangelnde Lerntherapiefortschritte, häufige Fehltermine, Zurückhaltung oder beeinträchtigte Motivation sowie eine Symptomverstärkung sind oft wichtige Anzeichen dafür. Daher ist aus dieser Sicht die Einbeziehung des Kontextes – besonders

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der Eltern – ein wichtiger Bestandteil der Lerntherapie (Spitczok von Brisinski 2004) und möglicher Entstörungsansätze. In einem so gestalteten Therapieprozess wird häufig deutlich, dass die LRS als ein kontextbezogener Lösungsversuch gedeutet werden kann, der allerdings oft einen hohen Preis entwickelt. Reinhard plädiert für eine Umdeutung der Symptomatik der Teilleistungsstörung in eine Teilleistungsfähigkeit im Herausfinden passgenauerer Lernbedingungen in einer sich ständig wandelnden pluralen Welt. Nach ihrer Meinung hinterfragen die Betroffenen mit ihrem Symptom besonders unseren Gebrauch von Sprache und prüfen, ob wir sie als echtes Beziehungsmittel oder als Kontrollsystem nutzen, ob wir uns hinter ihr verstecken oder sie als Mitteilung über uns nutzen und offene, nichttriviale, dialogische Fragen stellen: »Egal, wie ich es im Moment mache, ich mache es – glaube ich – im Moment verkehrt. Könntest du mir sagen, wie ich am besten mit dir umgehen kann, dass du mein Handeln tatsächlich als Unterstützung erlebst? Eine Seite von mir würde dir am liebsten knallhart sagen, dass das Wort so und nicht anders geschrieben wird. Aber da meldet sich sofort eine andere Stimme in mir, die meint: Woher weiß ich eigentlich, was richtig und falsch ist? Kennst du so was auch, dass es verschiedene Meinungen in dir gibt?« (Reinhard 2003, S. 305ff.). Neben dieser Akzentuierung kann es aus einer systemischen Perspektive ratsam sein, die Eltern-Kind-Beziehung durch den Einsatz professioneller Nachhilfe oder Lerntherapie zu entlasten. Dafür sollten alle Beteiligten – besonders die Betroffenen selbst – geworben werden. Entscheidet sich das Kind dafür, sollten sich die wertschätzende Zuwendung und der Stolz seiner Eltern oder anderer wichtiger Bezugspersonen als Unterstützungsbedingungen ebenfalls mitentwickeln. Die Zuwendung soll möglichst direkt, prozess- und anstrengungsorientiert gezeigt werden (vgl. Jansen u. Streit 1992). So empfehlen Pisarsky und Mickley (2005) und Mickley und Pisarsky (2006) den Eltern geeignete Lektüre (»Bibliotherapie«) und bieten begleitend in ihrer kinderpsychiatrischen Praxis Elterntreffen an, um die häusliche Umsetzung der Lernstrategien und Übungen zu erleichtern. Um sich in eine solche ressourcenorientierte Haltung einzuüben, wird eine gemeinsame Coachinggruppe für Eltern und Kinder beziehungsweise Jugendliche als sehr nützlich erlebt. Dort wird in einem ersten Schritt mit zirkulären, reflexiven, Verschlimmerungs- und Wunder-

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fragen auf eine Analyse der Stärken fokussiert, die dann ausgebaut und erweitert werden. Dabei kann die Externalisierung und Verdinglichung des Symptoms im Sinne einer Entstörung besondere Wirksamkeit entfalten: »Welchen Einfluss erlaubst du der Rechtschreibstörung auf dein Leben und auf dein Bild von dir selbst? Was würde sich ändern, wenn du das nicht mehr zulassen würdest?« oder »Wer kann wie dazu beitragen, dass der Rechtschreibfehlerteufel nicht mehr so viel Macht in deinem Leben eingeräumt bekommt?«

3.3.2

Asperger-Syndrom

iStörungsbilderi Bei diesem Syndrom, nach seinem Erstbeschreiber Asperger benannt, handelt es sich um eine autistische Störung mit folgenden Charakteristika: – Beeinträchtigung der sozialen Interaktion: bei nonverbalen Verhaltensweisen wie Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik; im Aufbau und der Pflege entwicklungsgemäßer Beziehungen zu Gleichaltrigen; bei der Fähigkeit, spontan Freude, Interessen oder Erfolge in Gegenseitigkeit mit anderen zu teilen. – eingeschränkte, sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten – zum Beispiel umfassende Beschäftigung mit einem oder mehreren Interessensgebieten; starres Festhalten an bestimmten Gewohnheiten oder Ritualen; merkwürdige, stereotype und repetitive Bewegungsmuster wie zum Beispiel Biegen oder schnelle Bewegungen von Händen oder Fingern oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers. – Bei dieser Form des Autismus liegt kein erheblicher allgemeiner Sprachrückstand – es werden zum Beispiel bis zum Alter von zwei Jahren einzelne Wörter, bis zum Alter von drei Jahren kommunikative Sätze benutzt – und auch keine geistige Behinderung vor (die IQWerte liegen definitionsgemäß über 70). Die motorische Entwicklung kann verzögert sein, das Bewegungsmuster unbeholfen wirken. Das Intelligenzprofil ist fast immer sehr gemischt,

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meist liegen testpsychologisch die verbalen Fähigkeiten oberhalb der nonverbalen. Oft liegt zusätzlich eine Aufmerksamkeitsstörung mit oder ohne Bewegungsunruhe vor, zum Teil mit aggressiven Durchbrüchen oder provozierendem Verhalten verbunden. Gehäuft treten auch Ängste und zwanghaftes Verhalten, ab der Pubertät zudem depressive Symptome und Selbsttötungsgedanken auf. Häufigkeit und Verlauf Die Einschätzungen der Prävalenz schwanken je nach Definition von 0,2 bis 1,1 % im Schulalter (Remschmidt 2005; Spitczok von Brisinski 2003a), etwa zehnmal häufiger als bei frühkindlichem Autismus. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Bisher gibt es keine systematischen, guten Verlaufsstudien. In der Regel erfolgt eine Ablösung vom Elternhaus später als bei anderen Heranwachsenden. Manche Menschen mit Asperger-Syndrom sind beruflich erfolgreich, manche gründen auch eine Familie, andere benötigen ihr Leben lang Unterstützung.

iBeziehungsmusteri In Familien von Personen mit Asperger-Syndrom treten autistische Züge sowie Aufmerksamkeitsstörungen mit oder ohne Hyperaktivität gehäuft auf. Kinder und Jugendliche mit dieser Diagnose verabreden sich gewöhnlich nicht aus eigenem Antrieb nachmittags mit Mitschülern, sie laden sie auch nicht ein. Oftmals sind sie anfangs in der Klasse durchaus beliebt, geraten jedoch im Lauf der Zeit vielfach in die Rolle des Sonderlings. Aufgrund der Beeinträchtigung der sozialen Interaktion besteht ein erhöhtes Risiko, zum Mobbing-Opfer zu werden, erhöhte BullyingRaten bei Asperger-Syndrom sind beschrieben (Spitczok von Brisinski 2005b). Eltern von Kindern mit diesem Syndrom sind in der Regel hervorragende Experten für ihr Kind. Aus langjährigen Alltagserfahrungen wissen sie sehr genau, was ihr Kind kann und wann es überfordert ist. Von Verwandten, Bekannten und Professionellen, die die Diagnose nicht kennen, bekommen sie dagegen oft Vorwürfe, sie würden ihr Kind falsch erziehen. Da die meisten betroffenen Kinder und Jugendlichen durchaus (und manche sogar sehr viel) reden und, zumindest zu Erwachsenen

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oder deutlich jüngeren Kindern, auch Kontakt aufnehmen, bleibt bei vielen die autistische Störung lange unerkannt. Selbst bei vielen Ärzten und Psychologen ist das Asperger-Syndrom wenig bekannt. Oftmals wird nur festgestellt, dass das Kind oder der Jugendliche irgendwie aus dem Rahmen fällt, werden die Betroffenen von Gleichaltrigen als »komisch« oder als Sonderlinge empfunden. Zu Hause sowie mit einzelnen Erwachsenen und jüngeren Kindern kommen sie dagegen meist relativ gut zurecht (Spitczok von Brisinski 2003b).

iEntstörungeni Die in der Literatur vorliegenden Beiträge zur Behandlung des AspergerSyndroms fokussieren bislang überwiegend auf das Training sozialer Fähigkeiten und auf Verhaltensmanagement; für die systemische Therapie ist der Autismus noch ein Pionierfeld. Die Einbeziehung der Eltern gilt als unverzichtbar (Attwood 2005; siehe auch Aarts 2002b). Autistische Menschen nutzen andere Gehirnbereiche, um sich in andere einzufühlen. Es scheint, dass sie dazu eher ihren logischen Verstand als die soziale Intelligenz nutzen. Versucht man ihre Besonderheiten positiv zu konnotieren, dann entsteht folgende Liste: Tabelle 17: Ressourcen und Reframing bei Menschen mit Asperger-Syndrom (Spitczok von Brisinski 2003b) – individuell, eigener Stil – enormes Langzeitgedächtnis für bestimmte Ereignisse und Fakten – fasziniert von manchen Themen und begierig, viele Informationen darüber zusammenzutragen – sehr fantasievoll – Fähigkeit, lange über Lieblingsthemen zu reden – reagiert positiv auf regelmäßige Abläufe – benutzt schon früh schwierige Wörter – nimmt Bemerkungen genau – enorme Fähigkeit, Schwächen anderer zu entdecken – folgt nicht jedem Modetrend

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Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie

Für nichtautistische Menschen ist das Lesen im Geist eines anderen eine angeborene Fähigkeit, die im sozialen Lernen noch verfeinert wird, für autistische Menschen hingegen eine Art mentaler Arithmetik. Sie erlernen soziale Fertigkeiten nicht intuitiv, sondern eher mittels bewusster (technischer) Regeln und Übungen. Ihnen sollten daher dazu konkrete Hilfestellungen mit Rollenspielen und Rückmeldung, eventuell mit Video, gegeben werden: wie man Blickkontakt hält, Kontakte knüpft, Gespräche oder ein Spiel beginnt, aufrecht erhält und beendet, wie man jemanden um einen Gefallen bittet, Gefühle bei anderen erkennt und selbst angemessen ausdrückt, Worte und Körpersprache deutet und in Einklang bringt. Allerdings übertragen Menschen mit autistischen Problemen einmal erlernte Vorgänge nur schwer von einer Situation auf eine andere. Sie müssen sich also immer wieder neu mit der Welt auseinandersetzen, ohne auf die Sicherheit von Gewohntem zurückgreifen zu können (Spitczok von Brisinski 2003b). Ein zwölfjähriger Junge, genannt Charlie, hielt sich nicht an die Anweisungen der Lehrer in der Schule. Er zeigte sowohl in der Schule als auch zu Hause aggressives Verhalten. Mehrere Male war er von der Schule und von zu Hause weggelaufen. Er wurde zur stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung aufgenommen. Trotz einer mehrere Wochen dauernden Behandlung unter der Arbeitsdiagnose »Störung des Sozialverhaltens« stellten sich keine positiven Veränderungen ein. Charlie schien es abzulehnen, den Instruktionen zu folgen und zeigte weiterhin aggressives Verhalten. Mehrere Male war er weggelaufen. Es fiel schwer, Charlie zu verstehen, Ressourcen bei ihm zu entdecken, Veränderungen seines Verhaltens anzuregen. Ein geringer Grad an emotionalem Ausdruck und seine Vorliebe dafür, allein zu sein, führten zu weiterer spezifischer Exploration im Blick auf eine autistische Störung. Überraschend fragten die Eltern in der folgenden Familientherapie-Sitzung, ob Charlie unter Autismus leide. Sie hatten im Fernsehen eine Sendung über Autismus gesehen und sahen zahlreiche Parallelen. Die Diagnose »Asperger-Syndrom« schien zu passen: Es ließen sich deutliche Schwierigkeiten in zahlreichen nonverbalen Verhaltensweisen wie Mimik oder Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen beobachten. Es gelang Charlie nicht, in der Gleichaltrigengruppe entwicklungsangemessen Beziehungen aufzunehmen. Er suchte spontan kaum danach, Vergnügen und Beschäftigungen mit anderen Menschen zu teilen, sich auf andere sozial und emotional zu beziehen und er wiederholte stereotyp relativ eingeschränkte Verhaltensmuster. Zwar war seine Sprache nicht allgemein verzögert, aber er gebrauchte sie auf eine sehr besondere Art. Sprachnuancen verstand er nicht. Motorisch zeigte sich Charlie ungeschickt und plump. Kognitiv, in seinen Selbsthilfefähigkeiten und beim Anpassen an neue Situationen war er unauffällig, abgesehen von seinen geringen Fähigkeiten zu sozialer Interaktion und Neugierde. Der lösungsorientierte systemische Ansatz und die Diagnose Asperger-Syndrom verbanden sich mit vielen neuen Interventionsideen. Erwartet wurden nun vor allem Änderungen im Verhalten und in den Erwartungen des therapeutischen Teams und der Familie, nicht jedoch im Verhalten von Charlie. Dies sollte zu einer verbesserten Anpassung

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zwischen der Umgebung und Charlies Bedürfnissen führen. Aufgrund Charlies Schwierigkeiten im Verständnis sprachlicher Nuancen und dem Sprachgebrauch wurde versucht, besonders klar und pragmatisch in den verbalen Instruktionen zu sein. Da Veränderungen des Tagesablaufes Charlie verwirrten, wurden spontane Änderungen des Tagesablaufes so gering wie möglich gehalten, alle notwendigen Veränderungen ihm mindestens eine Stunde zuvor angekündigt. Die Suche nach speziellen Interessen und Talenten wurde intensiviert. Es fanden sich erfreuliche Fähigkeiten: Charlie konnte sehr gut Kekse backen und liebte es, den Tisch zu decken. Die von der ICD-10 genährte Erwartung, dass die Symptome des Asperger-Syndroms über lange Zeiten fortbestehen werden, führte nicht zu therapeutischem Nihilismus, sondern zu Geduld. Es konnte der Erwartungsdruck vermindert werden. Dies schien paradox zu wirken. Am Anfang der Behandlung hatte es viele Bemühungen um Veränderungen gegeben und es schien sich nichts zu verändern. Nun war es umgekehrt. Charlies Fähigkeiten im Verständnis sozialer und verbaler Nuancen nahmen zu und er schien flexibler mit Situationen umgehen zu können. Sein Interesse an Gleichaltrigen wuchs. Bedeutsame soziale Konflikte nahmen ab und Charlie meisterte sie in einer angemesseneren Art und Weise. Die Anschlussfähigkeit von Familie und anderen Personen an Charlie und Charlies Anschlussfähigkeit an seine Umwelt hatten sich offenbar verbessert (Therapeut: Ingo Spitczok von Brisinski).

Betrachtet man die Beziehung zwischen Charlie und seinen wichtigen Mitmenschen als Koppelung mehrerer autopoietischer (operational geschlossener) Systeme, so regt diese Sichtweise regt dazu an, das Sosein und die Eigenheiten Charlies, auch wenn sie nicht gefallen, zunächst einmal als zu seiner Struktur passend, für sein Überleben nützlich anzusehen. Veränderungen werden dann überhaupt erst möglich, wenn sie zu Charlies Struktur passen. Dies erfordert von der Familie und dem therapeutischen System, diese Struktur kennen zu lernen, sie wertzuschätzen und ihre Interventionen darauf abzustimmen (Spitczok von Brisinski 1999). Menschen mit Asperger-Syndrom sind in erster Linie Individualisten und keine Teamarbeiter. Vogel (2001, S. 81) sieht »den sozialen Rückzug der Betroffenen im positiven Rahmen als Ausdruck der Leidenschaft zum In-sich-Sein. Es ist eine große Ressource, für sich sorgen zu können und der Überforderung vorzubeugen.« Der Einsatz computerunterstützter Unterrichts- und Fördermethoden hat sich bei autistischen Kindern und Jugendlichen bewährt. Eine wichtige Ergänzung sind Maßnahmen der Selbsthilfe wie spezifische Elterngruppen, Selbsthilfegruppen und Elternratgeber. Im Internet existieren gute Websites und Mailinglisten (z. B. unter http://www.kinderpsychiater.org) zum Asperger-Syndrom, die für Betroffene, Eltern, Pädagogen und Therapeuten sehr gewinnbringend sind. Die folgenden Leitsätze zur lösungsorientiert-syste-

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mischen Therapie beim Asperger-Syndrom wurden von Ingo Spitczok von Brisinski formuliert: Tabelle 18: Aspekte lösungsorientierter systemischer Therapie beim AspergerSyndrom – Jedes Kind ist anders. Interventionen sollen so individualisiert sein, dass sie die einzigartigen Profile der Bedürfnisse und Stärken eines Kindes und seiner Umgebung (Familie, Schule, Gruppe der Gleichaltrigen) ausreichend berücksichtigen. – Zunächst sollten das Kind und sein Umfeld nach eigenen Lösungsideen und -ansätzen befragt werden. – Es ist wichtig, dass die Eltern sowohl mit generellen Aspekten von Kindern mit Asperger-Syndrom als auch mit den individuellen Aspekten ihres Kindes vertraut sind. – Der Fokus sollte sich auf das emotionale Wohlfühlen sowohl des autistischen Kindes als auch der Eltern richten. – Symptome können verstanden werden als die gegenwärtigen Lösungen des Systems für ein oder mehrere Probleme: Beispiel 1: Weglaufen oder sozialer Rückzug können eine Lösung sein, um sozialen Stress zu kontrollieren. Menschen mit Asperger-Syndrom müssen in ihrer Peergruppe mit höherem sozialem Stress zurechtkommen als andere Personen. Vertrauen in deren Fähigkeiten zur Selbstkontrolle bedeutet, das Weglaufen oder den sozialen Rückzug nicht zu unterdrücken, sondern nach sozial mehr akzeptierten Wegen zur Kontrolle des sozialen Stresses suchen. Wenn einem Menschen mit Asperger-Syndrom mehr »soziale Pausen« erlaubt werden als Gleichaltrigen, kann er sich wohler fühlen und muss in für ihn unakzeptablen Situationen vielleicht weniger weglaufen. Beispiel 2: Kinder mit Asperger-Syndrom spielen oft lieber mit jüngeren Kindern als mit Gleichaltrigen. Das hat Vorteile. Soziale und motorische Anforderungen sind geringer als in Kontakten mit Kindern desselben Alters. Sie können mit den jüngeren Kindern erfolgreich konkurrieren, was gut für ihr Selbstbewusstsein ist. Sie bleiben im Training und brauchen weniger Rückzug. Kontakte mit Gleichaltrigen sollten nur in dem Ausmaß angeregt werden, wie die Mitglieder dieser Gleichaltrigen-Gruppe dazu fähig sind. Beispiel 3: Kinder mit Asperger-Syndrom zeigen oft herausforderndes Verhalten. Diese Verhaltensweisen sollten nicht als willkürlich oder bösartig angesehen werden, sondern als Fähigkeiten oder Schwächen des Kindes. Zum Beispiel ist es eine Stärke, Lücken im Regelsystem aufzuspüren und zu nutzen, nicht eine Bösartigkeit.

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– Aufmerksamkeit sollte sowohl auf leicht gemeisterte als auch auf potenziell schwierige Situationen gelegt werden. Selbstbeobachtung und Selbstbeurteilung sollten helfen, das Selbstvertrauen zu stärken und die Anzahl beherrschbarer Situationen auszuweiten. – Das Ausdrücken eigener und Erkennen/Benennen fremder Gefühle ist hier eine wichtige Qualität. Es hilft, die Verbindung zwischen frustrierenden oder ängstigenden Erfahrungen und negativen Gefühlen ebenso wie die zwischen erfreulichen Erfahrungen und positiven Gefühlen zu benennen und zu erleben. Beispiel 4: Aarts (2002b) berät die Eltern, in Spielsituationen jeweils sowohl die Gefühle eines autistischen Jungen zu benennen: »Jetzt freust du dich!« – »Oh, da bist du aber enttäuscht!« als auch die zum Beispiel seiner Schwester: »Schau mal, nun ist sie richtig traurig!« In ihrem Fallbeispiel lernen die Eltern gleichzeitig, sich ihrerseits klarer dem Sohn gegenüber zu präsentieren. So lernt der Junge schrittweise, welche emotionalen Ausdrucksformen ihm zur Verfügung stehen, wie er die Signale anderer Menschen deutlich entschlüsseln kann, wie er schließlich auch seine eigene Freude mit anderen teilen kann.29 – Es kann nach Wegen gesucht werden, identifizierte Schwächen durch kompensatorische Strategien zu umgehen – zum Beispiel kann bei motorischen, sensorisch-integrativen oder visuomotorischen Defiziten das Kind durch Psychomotorik, motopädische Therapie oder Ergotherapie gefördert werden. – Selbstunterstützung: Auch wenn Kinder mit Asperger-Syndrom sich häufig selbst als Einsiedler beschreiben, gibt es doch oft auch Wünsche nach mehr Aktivitäten im sozialen Leben. Deshalb sollte es Angebote (aber nicht Druck) geben, soziale Kontakte in aktivitätsorientierten Gruppen zu erleichtern, zum Beispiel in Hobbyclubs. Ein Austausch mit anderen Menschen mit Asperger-Syndrom ist auch im Internet möglich. – Eine Reihe von Problemen lässt sich nur sehr langsam ändern. Die Dinge sollten daher gelassen und geduldig und ohne allzu großen Erwartungsdruck angegangen werden.

29 Zugleich ist der Lehrfilm eine beeindruckende Demonstration der Arbeitsweise der Videointeraktionsanalyse nach Aarts.

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3.4 Einnässen und Einkoten – Die Dinge zum richtigen Zeitpunkt herauslassen3029 Das Erlernen der Kontrolle über die eigenen Ausscheidungen ist für alle Kinder ein mehrjähriger Prozess, manche brauchen weit mehr Jahre als ihre Altersgenossen. In der ICD-10 finden sich im Kapitel F98 unter anderem das Einnässen (Enuresis) und das Einkoten (Enkopresis). Tabelle 19: Nichtorganische Enuresis und Enkopresis F98.0 F98.00 F98.01 F98.02 F98.1 F98.10 F98.11 F98.12

nichtorganische Enuresis nur Enuresis Nocturna nur Enuresis Diurna Enuresis Nocturna et Diurna nichtorganische Enkopresis mangelhafte Entwicklung der Sphinkterkontrolle Absetzen normaler Faeces an unpassenden Stellen bei adäquater Sphinkterkontrolle Einkoten bei sehr flüssigen Faeces, zum Beispiel Überlaufeinkoten bei Retention

3.4.1 Enuresis iStörungsbilderi Enuresis (Einnässen) ist als Störungsbild in der ICD-10 charakterisiert durch unwillkürlichen Harnabgang am Tag und in der Nacht, der untypisch für das Entwicklungsalter und nicht Folge einer körperlichen Krankheit oder einer Anomalie der Harnwege ist. Enuresis kann von Geburt an bestehen oder nach einer Periode bereits erworbener Blasenkontrolle wieder auftreten. Die Diagnose wird erst gestellt, wenn das Kind fünf Jahre oder älter ist (je nach Definition) und mindestens ein Mal im Monat oder zwei Mal proWoche über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten einnässt. Bedeutsam sind zwei zeitliche Aspekte des Einnässens: 1. War das Kind jemals zuvor trocken? Man spricht von einer primären 30 Wir bedanken uns bei Dr. Ingo Spitczok von Brisinski, Viersen, für seine Mitarbeit an diesem Kapitel.

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Einnässen und Einkoten

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Enuresis, wenn das Kind in seinem bisherigen Leben noch nie länger als sechs Monate trocken war und von einer sekundären Enuresis, wenn es schon einmal länger trocken war und nun wieder einzunässen begonnen hat. Sekundäre Enuresis geht häufiger mit anderen psychischen Konflikten und Störungen einher, ein häufiger Risikofaktor ist eine drohende oder aktuelle Trennung der Eltern. 2. Nässt das Kind tagsüber ein oder nachts oder tagsüber und nachts? Nächtliches Einnässen (Enuresis Nocturna) kann eine durch die Umwelt modulierte, genetisch bedingte Reifungsstörung des Zentralnervensystems darstellen, die familiär oft gehäuft eintritt und nicht durch das Sauberkeitstraining der Eltern verursacht ist. Die Kinder bilden vermehrt Harn und schlafen tiefer als andere Kinder – das Bett ist nass und sie merken es nicht. Einnässen am Tage (Enuresis Diurna) hingegen weist häufiger auf begleitende Konflikte und Störungen hin. Einnässen kann, muss aber keinesfalls ein Begleitsymptom anderer, gravierender Störungen sein. Kinder nässen oft absichtlich ein, wenn sie vernachlässigt oder misshandelt werden oder in anderen emotionalen oder sozialen Konflikten stehen (Trapmann u. Rotthaus 2003; Wyschkon u. Esser 2002).

iBeziehungsmusteri In publizierten Fallbeispielen (z. B. Wyschkon u. Esser 2002) wird eine Familienatmosphäre von Fürsorglichkeit beschrieben, manchmal auch eine überinvolvierte Mutter und ein emotional zurückgezogener, wenig familiär engagierter, kaum anwesender Vater, doch lassen sich nirgends Spezifika der typischen Familie mit einem einnässenden Kind finden. Nicht selten haben ein Elternteil und Angehörige der erweiterten Familie selbst als Kind lange eingenässt. Oftmals wird von diesen Personen kein Therapiebedarf gesehen, weil sie selbst ja auch ohne Therapie trocken geworden sind. Zierep (2003) unterscheidet bei Entstehung und Bedeutung der sekundären Enuresis Nocturna zwei typische Familiensituationen. Danach kann die Enuresis zum einen die Überforderung eines parentifizier-

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ten Kindes signalisieren, das mit sich mit Aufgaben und Verantwortlichkeiten konfrontiert sieht, denen es nicht gewachsen ist (vgl. Fallbeispiel). Zum anderen kann es kindliche Trauer bei unabgeschlossenen Trennungsprozessen anzeigen. Bei nächtlichem Einnässen besteht außerdem oft Angst davor, dass die Mitschüler anlässlich einer mit Übernachtung verbundenen Klassenfahrt davon erfahren und das betroffene Kind hänseln. Einnässen tagsüber ist meist mit Uringeruch verbunden, was die Kinder leichter zum Außenseiter werden lässt.

iEntstörungeni Vielfach wird eine Kombination verschiedener Vorgehensweisen empfohlen, familientherapeutische Gespräche können diese begleiten, haben aber eine andere Qualität als klassische Familiengespräche. Vielfach werden hypnotherapeutische Methoden unter familiendynamischen Aspekten vorgeschlagen (Märtens 1994; Mrochen et al. 2002). Mrochen (2001) etwa schlägt vor, mit dem Kind innerhalb seiner Familie zu sprechen und so das Setting wie einen »Katalysator der psychochemischen Prozesse in der Familie« wirken zu lassen. Trapmann und Rotthaus (2003, S. 122) verweisen in dem Zusammenhang auf die überraschende Wirkung der paradoxen Frage, was jeder dafür tun könne, dass das Einnässen häufiger auftritt. Ähnlich überraschend kann die Frage an das Kind danach sein, was es aus dem Symptom oder dem Umgang damit gelernt habe: »Welche deiner Eigenschaften haben dir geholfen, bis heute damit fertig zu werden?« (Mrochen 2001, S. 101). An diese Fragen kann sich ein Reframing der Problematik anschließen. Im Sinne der Methode der Externalisierung kann unterstellt werden, dass die Blase so etwas wie ein Mitglied der Familie ist, das eigenständige Beziehungen unterhält: Die Blase holt die Mutter aus dem Bett – und vielleicht vom Vater weg – und nicht der Sohn oder die Tochter, es ist die Blase, die die Mutter wütend macht. Die erste Sitzung steht meistens unter der Fragestellung: »Wir müssen herausbekommen, womit das Auslaufen der Blase zusammenhängt. Manchmal findet man da die verrücktesten Zusammenhänge, weshalb wir das zuerst untersuchen müssen.« Dabei wird vor allem von dem Problem und seinen Zusammenhängen gesprochen und die Personen werden nur wie unwichtige Träger

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Einnässen und Einkoten

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von Funktionen oder Elemente in einem interessanten Rätsel behandelt. So werden persönliche Schuldzuweisungen vermieden (Märtens 1994). Die erste Aufgabe der Familie besteht darin, einen Kalender zu führen, in dem die wichtigsten Ereignisse wie trockene und nasse Nächte mit den begleitenden Maßnahmen der Eltern und sonstige wichtige Ereignisse im Leben der Eltern und der Kinder systematisch aufgeführt werden. Dieser Kalender wird nach etwa vier Wochen gemeinsam ausgewertet. Wenn sich herausstellt, dass es typische Muster des Einnässens und des Trockenbleibens gibt, werden diese durch Interventionen weiter ausgebaut oder blockiert. Lassen sich keine klaren Muster finden, kann eine paradoxe Diagnostik sinnvoll sein: Es wird vorgeschlagen, das Einnässen zu steigern (z. B. statt zweimal pro Woche drei Mal oder statt jede Nacht zweimal jede Nacht). Entscheidend dabei ist, dies nach bestimmten Regeln erfolgen zu lassen, zum Beispiel indem die Tage des Einnässens festgelegt werden. Die Aufgabe wird explizit als Experiment deklariert. Da mit der Durchführung eines Experiments die Möglichkeit des Scheiterns gegeben ist, wird so der Erfolgsdruck reduziert. Die Kinder sagen oft, dass sie das nicht machen können, da es ihrem Gefühl total widerspricht und sie doch gerade gekommen sind, um zu lernen, nicht mehr ins Bett zu machen. Um sie dennoch zu überzeugen hilft es, dass sie das nur für einen begrenzten Zeitraum machen sollen. Das Experiment sei wie ein notwendiger operativer Eingriff, der weh tut, ein Opfer von ihnen verlangt, aber unbedingt durchgeführt werden sollte, damit alle noch besser verstehen können, womit das Einnässen zusammenhängt. Das Ergebnis dieser Symptomverschreibung kann sein, dass das Bettnässen entweder kurzfristig deutlich reduziert wird oder auch längerfristig verschwindet. In solchen Fällen wird dieser Ausgang als unerklärliche Heilung betrachtet, die ein vorläufiges Aussetzen der weiteren Behandlung erforderlich macht, prophylaktisch können noch Termine ausgemacht werden. Meist lässt sich zumindest so ein Einstieg in die Kontrollierbarkeit des Wasserlassens finden. Märtens verwendet auch Tranceinduktionen, die alle Familienmitglieder einbeziehen, um Zusammenhänge des Symptoms mit anderen Begebenheiten zu suchen. Weitere Beispiele hypnotherapeutischer Ansätze finden sich bei Mrochen et al. (2002, S. 124ff.). Zierep (2003) berichtet in einer Falldarstellung zur Trauerbewältigung bei unabgeschlossenen Trennungsprozessen über die Therapie bei einem neunjährigen Mädchen,

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das seit vier Jahren nachts einnässte. Begleitend traten Alpträume auf, in denen das Mädchen befürchtete, von der Mutter getrennt zu werden. Die Eltern trennten sich, als sie drei Jahre alt war. Seitdem bestand kein direkter Kontakt mehr, der Vater schickte aber öfter Pakete mit Geschenken und Fotos an seine Tochter. Ein Jahr nach der Trennung lernte die Mutter ihren neuen Lebenspartner kennen und die Familie zog dreimal um. Die Trennung von der Großmutter fiel dem Mädchen besonders schwer. Im Rahmen der Familientherapie erfolgten Einzelkontakte mit dem Mädchen, Familiengespräche sowie Paargespräche. Ein wichtiges Therapieziel bestand darin, das Mädchen dazu zu befähigen, Trennungs- und Verlustängste offen der Mutter gegenüber anzusprechen. Der Stiefvater besprach ausführlich seine Überlegungen, sie zu adoptieren, mit ihr. So stabilisierte sich die Beziehung zwischen beiden, da nun die Frage ihrer Zugehörigkeit geklärt war. Sie durfte regelmäßig ihren leiblichen Vater besuchen. Das Einnässen ging deutlich zurück, die Beziehung zur Mutter verbesserte sich.

3.4.2

Enkopresis

iStörungsbilderi Einkoten (Enkopresis) ist in der ICD-10 charakterisiert als wiederholtes willkürliches oder unwillkürliches Absetzen von Kot normaler oder fast normaler Konsistenz an Stellen, die nicht dafür vorgesehen sind. Auch Einkoten wird Kindern über lange Zeiten (nicht ganz so lange Zeit wie beim Einnässen) »zugestanden«. Etwa 1,5 % der Achtjährigen koten ein. Die Remissionsrate beträgt ungefähr 28 % pro Jahr. Jungen sind etwa drei- bis viermal häufiger betroffen als Mädchen. Die Diagnose wird erst gestellt, – wenn das Kind vier Jahre alt ist oder älter, – wenn es den Kot unbeabsichtigt oder beabsichtigt, – mindestens einmal im Monat am falschen Ort absetzt und dies mindestens sechs Monate lang tut. Von einer Enkopresis spricht man, wenn das Einkoten durch eine körperliche Erkrankung nicht hinreichend erklärt, allenfalls durch sie ausgelöst wird. Einkoten tritt meist bei Tag, selten bei Nacht auf. In einigen Fällen geht die Enkopresis mit Verschmieren von Kot über den Körper oder die äußere Umgebung einher. Weniger häufig treten anale Manipulationen oder Masturbation auf. Die Folgen der Enkopresis sind in der Regel für die Betroffenen erheblich, häufig kommt es aufgrund der Geruchsbelästigung zu Hänseleien durch Gleichaltrige, die bis zur sozialen

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Einnässen und Einkoten

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Isolation führen können. Die Betroffenen können ihre verschmutzte Wäsche verstecken, zum Beispiel aus Schamgefühl oder um negative Konsequenzen zu vermeiden. Auch hier kann man (in der ICD-10 ist dies allerdings nicht vorgesehen) eine primäre Enkopresis (Kind war in der Vorgeschichte nie länger als sechs Monate sauber) von einer sekundären Enkopresis sinnvoll unterscheiden, bei der das Einkoten nach langer Unterbrechung wieder neu auftritt. Ähnlich wie beim Einnässen geht sekundäre Enkopresis häufiger mit anderen psychischen Störungen und Konflikten einher, unter anderem häufig mit einer Trennung der Eltern. 30 % aller Kinder mit Enkopresis haben zusätzlich eine Enuresis, 23 % weisen ADHS, 43 % eine verzögerte visuomotorische Integrationsfähigkeit auf.

iBeziehungsmusteri Gerade bei der sekundären Enkopresis werden vielfach emotionale Störungen verbunden mit Störungen der Eltern-Kind-Beziehungen und allgemeinen familiären Konfliktkonstellationen beschrieben. Überzufällig scheint auch zu sein, dass die Kinder nicht mehr in den Ursprungsfamilien leben, weil die Eltern geschieden oder getrennt sind (Warnke u. Wewetzer 2002).

iEntstörungeni Im Kontakt mit den Kindern ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass es sich um ein Symptom handelt, das sie oft tief beschämt und dass die vielen erfolglosen Anstrengungen sie demoralisiert haben (Trapman u. Rotthaus 2003). Daher können alle Versuche, entlastend zu wirken, hilfreich sein. So kann unideologisch eine Kombination der verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten genutzt werden, ein Toilettentraining kann mit dem belebenden Ansatz der Externalisierung nach White und Epston (1990) kombiniert werden: Das Einkoten wird personifiziert, als wäre es ein Tyrann oder ziemlich frecher Kerl, der sich breitgemacht hat. Das Kind kann einen Namen für diesen Typen aussuchen. White (1984) nennt als Beispiel den »hinterhältigen Dreckmacher« (im Original: Snea-

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ky Poo; ausführlich beschrieben in von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 170ff.). Toilettentraining Regelmäßig nach jeder Mahlzeit wird ein Toilettengang durchgeführt, auch wenn kein Drang besteht. Ort, Raum und Beleuchtung der Toilette sollten mit der Familie besprochen werden. Einige Kinder fürchten und vermeiden Toiletten, die nur schwach beleuchtet sind oder wo der Weg zur Toilette relativ dunkel ist. Es ist sinnvoll zu prüfen, ob sich jüngere Kinder sicher fühlen, während sie auf der Toilette sitzen und manchmal ist es notwendig, eine kleine Fußbank zu organisieren, um die Füße darauf zu setzen. Die Eltern können ihrem Kind erlauben, den Toilettenraum vorübergehend zu dekorieren – Bilder, die zur Fantasie des Kindes passen. Das stärker belastete Elternteil kann angeregt werden, dem Kind zu helfen, diese Dekorationen zu planen, zu organisieren und anzubringen. Nutzung des Gastro-Ileal-Reflexes Dieser Reflex tritt nach dem Essen oder Trinken auf und erzeugt den Drang zum Stuhlgang. Er ist am stärksten 20 bis 30 Minuten nach einer Mahlzeit, tritt am häufigsten in der ersten Stunde nach dem morgendlichen Aufstehen auf und wird unterstützt durch ein warmes Getränk. Die Nutzung dieses Reflexes erhöht die Chance, dass das Kind erfolgreich seinen Stuhlgang kontrolliert. Das weniger belastete Elternteil wird als »Zeitnehmer« engagiert: Einmal pro Tag genau 20 Minuten nach einer Mahlzeit (vorzugsweise Frühstück), nicht eine Sekunde später oder früher, begleitet er/sie das Kind zur Toilette. Das Kind soll dann eine festgesetzte Zeit auf der Toilette sitzen (abhängig vom Alter 30 Sekunden bis fünf Minuten, es soll nicht zur Tortur werden). Das Timing ist wichtig, um der Aufgabe Struktur zu geben. Der Zeitnehmer sollte darauf bestehen, dass das Kind nach der festgesetzten Zeit von der Toilette aufsteht, allerdings darf das Kind sofort zur Toilette zurückkehren, wenn es dies wünscht. Es ist wichtig, dass die Aufgabe keinen bestrafenden Charakter annimmt.

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Einnässen und Einkoten

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Unfall- und Notfallkarte Die Familienmitglieder werden gebeten, eine Karte von Haus und Garten auf einem großen Blatt Papier zu zeichnen, maßstabsgerecht und so genau wie möglich. Dann sollen fünf Plätze benannt werden, an denen »der hinterhältige Dreckmacher mit Vorliebe seine Tat begeht«. Nun werden die jeweils schnellsten Wege zur Toilette identifiziert, eingezeichnet und ausgemessen. Hindernisse, Umwege und Gefahren werden diskutiert und Alternativpläne werden erstellt, um mit ihnen umzugehen. Der schnellste Weg führt vielleicht durchs Fenster, dann sollte eine kleine Leiter bereit stehen. Warnung vor Veränderungen Haley (1973) berichtet von einem fünfjährigen Jungen, der niemals zuvor ein Toilettentraining erhalten hatte und mehrmals am Tag einkotete. Außer Diagnostik waren zuvor keine Interventionen durchgeführt worden. In der beschriebenen strategischen Familientherapie wurde kaum symptomorientiert vorgegangen. Zentrale Ansätze waren paradoxe Warnungen vor Fortschritten. Der Therapeut zeigte sich wohlwollend besorgt, was in der Familie passieren würde, wenn das Kind mit dem Einkoten aufhören würde. Nach insgesamt zwei Sitzungen, in denen nicht mit dem Kind, sondern im Wesentlichen mit dem Paar gearbeitet wurde, hörte das Einkoten auf. Die überinvolvierte Dyade zwischen Mutter und Kind war durch eine spontane Intervention des Vaters verändert worden: Er hatte sich mit dem Kind eines Abends zusammengesetzt und ihm vermittelt, dass, wenn es nicht den Stuhl in der Toilette absetzen würde, es so lange Rizinusöl bekommen würde, bis es klappt. Haley betont, dass der Ansatz des Warnens vor Veränderung bei sensitiven, überbesorgten Eltern der Mittelschicht effektiv ist, jedoch nicht bei Unterschichtfamilien. Lösungsorientierter Ansatz: Mehr von dem tun, was schon gut gewirkt hat Shapiro und Henderson (1992) publizierten eine Behandlung zweier Geschwister nach dem lösungsorientierten Ansatz, bei der lediglich der getrennt lebende Vater als einzig therapiemotiviertes Familienmitglied zur Behandlung kam. Das achtjährige Mädchen zeigte eine sekundäre Enkopresis, seitdem sich die Eltern getrennt hatten, der 13-jährige Bruder hatte eine primäre Enkopresis. Die Therapeuten

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arbeiteten mit dem am meisten motivierten Mitglied des Systems, dem getrennt lebenden Vater, während sie die Kinder nie zu Gesicht bekamen. Der Vater machte sich Vorwürfe, die Kinder vernachlässigt zu haben. Seine Antwort auf die Wunderfrage lautete, dass er nach einem Wunder mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen, mehr spielen und mehr kuscheln würde. Sein Sohn würde dies auch daran bemerken, dass der Vater mehr positive Dinge zu ihm sagen würde. Die Hausaufgabe am Ende der ersten Sitzung lautete, besonderes Augenmerk auf die Situationen zu legen, in denen das Einkoten nicht auftrat. Außerdem sollten einige von den Aspekten, die als Antwort auf die Wunderfrage vom Vater formuliert worden waren, verwirklicht werden. Bereits nach dieser ersten Sitzung kotete der Junge eine Woche lang nicht ein. Der Vater hatte viel mit ihm unternommen und half ihm bei den Hausaufgaben, war mehr involviert. Das sei für ihn schwer gewesen, da sein Sohn kein einfaches Kind sei. Dennoch habe er am Ende Spaß daran gehabt. Der Vater erhielt am Ende der zweiten Sitzung die Hausaufgabe, mehr von dem zu tun, was bereits als Hausaufgabe der ersten Sitzung formuliert worden war. Nach der zweiten Sitzung koteten Sohn und Tochter eine Woche lang nicht ein. Der Vater hatte noch mehr Dinge getan, die er für nötig hielt, ein involvierter und präsenter Vater zu sein. Zudem versuchte er, den Ärger auf seine Frau nicht auf die Kinder zu übertragen. Er hatte nicht mehr das Gefühl, seine Kinder zu vernachlässigen. Als Hausaufgabe am Ende der dritten Sitzung wurde formuliert, dass seine Frau und er sowie die Großeltern beiderseits darauf achten sollten, ob die Kinder in ihrem Beisein einkoten. Bis zur zehn Tage später stattfindenden vierten Sitzung und auch zum Zeitpunkt der telefonischen Befragung zwei Monate danach war bei beiden Kindern kein Einkoten mehr aufgetreten.

3.5 Aufmerksamkeitsdefizit- oder hyperkinetische Störung – Wo die wilden Kerle wohnen3130 iStörungsbilderi Die ICD-10 versteht unter hyperkinetischen Störungen (F90) Verhaltensweisen mit einem hohen Ausmaß von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Unruhe. Sie sind charakterisiert durch einen frühen Beginn, meist in den ersten fünf Lebensjahren, einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen. Hyperkinetische Kinder zeigen sich oft achtlos und impulsiv. Sie warten nicht ab, bis sie an der Reihe sind, stehen dauernd auf, rut31 Wir bedanken uns bei Dr. Ingo Spitczok von Brisinski, Viersen, und Dr. Wilhelm Rotthaus, Bergheim, für ihre Mitarbeit an diesem Kapitel.

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Aufmerksamkeitsdefizit- oder hyperkinetische Störung

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schen auf ihren Stühlen hin und her und sind ständig in irgendeiner Bewegung. Sie neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie Regeln verletzen, eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich. Ihre Beziehung zu Erwachsenen ist oft von sehr wenig Zurückhaltung bis hin zur Distanzlosigkeit geprägt. Bei anderen Kindern sind sie oft unbeliebt, können daher isoliert sein (Trapmann u. Rotthaus 2003). Es gibt aber auch Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (»A ohne H«) – die »Träumerchen« wirken gedankenverloren, hören nicht gut zu, bekommen vieles nicht mit und vergessen, was gerade gesagt wurde. Tabelle 20: Hyperkinetische Störungen F90 F90.0 F90.1 F90.8 F90.9

hyperkinetische Störungen einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens sonstige hyperkinetische Störungen nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störung.

Die Ausprägung ist in der Regel stark kontextabhängig. Die meisten Probleme treten in größeren Gruppen bei länger andauernden Leistungsanforderungen auf, wenn zum Beispiel Schüler in der Schulklasse zuhören oder selbstständig arbeiten müssen. Weniger Probleme treten in Zweierkontakten und in Aktivitäten auf, die die betroffene Person gut kann und interessant findet (z. B. Computerspiele). In neuen Situationen verhalten sich Betroffene häufig unauffällig. Werden die Aufgaben uninteressant, zu leicht oder zu schwer, steigt die Gefahr der Ablenkbarkeit. Es kann zuweilen vorkommen, dass ein Kind mit ADHS nur in der Schule als hyperaktiv auffällt, wenn in der Familie selbst ein sehr lebhafter bis hyperaktiver Lebensstils herrscht und das Kind in den relativ kurzen ambulanten Kontakten in einer ärztlichen/psychotherapeutischen Praxis unauffällig zu wirken vermag. Die Diagnose »ADHS« darf nur gestellt werden, wenn eine ausgeprägte Störung mit erheblichem Leidensdruck des Betroffenen und/ oder seines sozialen Umfelds vorliegt. Bei ADHS bestehen Auffälligkeiten in der Regel von Geburt an, allerdings zeigen sich die Symptome oft erst im späteren Kindes- und Jugendalter. Viele Defizite können durch Ressourcen auf anderen Gebieten kompensiert werden. Und da haben Kinder mit ADHS manches zu bieten, wie folgende Tabelle mög-

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licher Ressourcen und Reframings von Ingo Spitzcok von Brisinski zeigt: Tabelle 21: Ressourcen und Reframing bei ADHS – viel Power, high energy – energisch – engagiert – aktiv – lebhaft – leicht zu begeistern

– offen für neue Eindrücke – sensibel – spontan – zupackendes Schaffen – nicht nachtragend

Ursachenforschung Um die Frage der Verursachung von ADHS werden heftige Kontroversen ausgetragen, insbesondere da Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen sehr heterogen sind und einen sehr individuellen Entwicklungsverlauf nehmen (Linderkamp 1996). Generell wird heute von einem Zusammenspiel vieler genetischer und Umweltfaktoren ausgegangen. Die Fülle dieser möglichen Faktoren und ihrer Kombinationen ist kaum übersehbar. Brandau (2004) hat das Spektrum derzeit diskutierter Erklärungsversuche, Hypothesen und Modelle für ADHS zusammengetragen und kommt auf eine beeindruckende Liste: – neurobiologische Hypothesen (Stoffwechselhypothese, Frontallappenhypothese, Unteraktivierung und Belohnungsdefizit, Filtersystemhypothese) – evolutionstheoretische Hypothesen (Reaktionsverzögerung als Evolutionsfortschritt, Steinzeitjäger und Bauern, ADHS als Anpassungsstörung an die »Sitz- und Zuhör-Kultur«) – soziobiologische Hypothese eines »unterdrückten Spieltriebs« – interaktiv-systemische Hypothesen (pathologisierende soziale Teufelskreise, ADHS und Familieninteraktion, Interaktion zwischen kognitiven Stilen, Kommunikationsstilen und systemischen Prozessen) – pädagogische Konzepte (»der kleine Tyrann«, Erziehung ohne angemessene Grenzsetzungen) – konstruktivistisches Konzept: ADHS als soziale Erfindung Für sozialwissenschaftliche und konstruktionistische Erklärungen des ADHS-Booms sprechen Zahlen über die kulturell extrem unterschied-

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liche Verbreitung der Diagnose sowie der Verschreibung des Standardmedikaments Metylphenidat (Ritalin®). Die Häufigkeit der Diagnose ADHS stieg in den USA von 1990 von unter einer Million auf zehn Millionen Fälle pro Jahr. In Deutschland nahm die Verschreibung von Ritalin binnen fünf Jahren um das 40fache zu (von 0,7 Millionen Tabletten 1995 auf 31 Millionen Tabletten im Jahr 1999). 90 % aller Ritalin-Verschreibungen wurden 1998 in den USA gestellt (Zahlen nach Hüther u. Bonney 2002, S. 12f.). Diese dramatischen Unterschiede lassen sich sicher nicht auf ähnlich drastische neurobiologische Veränderungsprozesse zurückführen. Gleichwohl hat sich die Akzeptanz der Diagnose ADHS unter systemischen Autoren in den letzten Jahren gewandelt. In älteren Publikationen galt die Diagnose bestenfalls als für die Behandlung wenig relevant. Hyperaktivität wurde in erster Linie als Signal für eine Störung in der Umwelt des Kindes angesehen. Die Gefahr, dass durch die Diagnose der individuelle Zugang zum jeweiligen Kind und seiner Lebenssituation versperrt würde, wurde hervorgehoben (z. B. Voß 1993 als »Kontra-Diagnose-Anwalt«) und vor allem über die erfolgreiche Auflösung der Diagnose (z. B. Imber-Coppersmith 1982) berichtet. Demgegenüber zeichnet sich in aktuelleren systemischen Arbeiten – sicher auch unter dem Druck der »scientific community« – ein Ansatz ab, der die Vor- und Nachteile der Diagnosestellung kontextbezogen abwägt (z. B. Spitczok von Brisinski 1999; Brandau et al. 2003; Brandau 2004; Schmela 2004). Die Überlegung dieser Autoren ist: Die Akzeptanz der Diagnose ADHS muss nicht zwangsläufig in einen negativen Prozess von Etikettierung und selbsterfüllender Prophezeiung münden und auch nicht automatisch mit Medikation verbunden sein. Je nach Kontext kann diese Diagnose auch entschuldend (»Er macht es nicht absichtlich«), innerfamiliär konfliktlösend (»Wir akzeptieren das«) und damit stressreduzierend wirken. Gleichwohl sehen wir diese wie jede andere Diagnose als eine Beschreibung, zu der die Wittgenstein’sche Aussage passt, dass alles, was beschrieben werde, auch anders beschrieben werden könne. Wir treten aus konstruktivistischer Sicht mit einer neutralen Haltung an diese Diagnose heran und prüfen im Gespräch mit Kind und Eltern, wofür diese Diagnose nützen und wobei sie schaden kann.

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Häufigkeit und Verlauf Die Angaben für Häufigkeiten schwanken stark, je nach Genauigkeit der Definition. In einer repräsentativen Elternumfrage wurden die Kernsymptome bei 3 % bis 10 % aller Kinder von vier bis zehn Jahren als deutlich ausgeprägt eingeschätzt. Jungen sind siebenmal häufiger betroffen als Mädchen (Döpfner et al. 2000; Döpfner 2002; Trapmann u. Rotthaus 2003). Fast ein Drittel der Kinder mit ADHS zeigen als Erwachsene noch alle zur Störung passenden Verhaltensweisen, insgesamt 50 bis 80 % noch einige von diesen. Oftmals lässt das hyperaktive Verhalten im Jugendalter nach, nicht aber die Impulsivität und die Bewegungsunruhe.

iBeziehungsmusteri So wenig wie es einheitliche Ursachen für ADHS gibt, so wenig lassen sich einheitliche Beziehungsmuster beschreiben. Zudem sieht man in der Praxis meist ein bereits chronisch belastetes Familiensystem. Häufig hat die Familie schon eine lange Zeit mit hohem Stress hinter sich, das Kind war oft seit dem Säuglingsalter nicht »pflegeleicht« (Schätzungen reichen von 10 bis 29% der Kinder; Fries 2001), ungefähr 60 % der Kinder mit aggressiven Verhaltensweisen werden gleichzeitig mit der Diagnose einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung belegt (Ratzke 2002). Mütter hyperaktiver Kinder berichten über häufigere Verwendung von Bestrafung, mehr emotional negative und weniger positive Reaktionen, mehr gegenseitiges Unterbrechen und weniger Gelegenheit für andere Familienmitglieder, Einfluss zu nehmen (Saile 1997; Saile et al. 1999). Vielfältig interpretierbar sind auch die eindrucksvollen Ergebnisse der Studie von Christakis et al. (2004) an 2623 Kindern, die eine hohe Korrelation zwischen der Dauer des Fernsehkonsums der Kinder im Alter von ein bis drei Jahren und einer ADHS-Störung im Alter von sieben Jahren fanden. Ist der frühe Fernsehkonsum Ursache für das hyperkinetische Verhalten (der Neuropsychiater Spitzer würde das sicherlich bejahen) oder wurden bereits sehr unruhige Kinder vermehrt vor den Fernsehapparat gesetzt, weil die Eltern zeitweilig eine Entlastung brauchten? Charakteristisch sind konfligierende Ideen über die Ursache der Pro-

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bleme. In einer Befragung von Klasen und Goodman (2000) waren Eltern von Kindern mit ADHS ebenso wie Allgemeinärzte der Meinung, dass Hyperaktivität oft mit familiärem oder sozialem Stress verbunden ist, allerdings mit entgegengesetzter Ursachenzuschreibung: Während die Allgemeinärzte Familienprobleme und elterliche Schwierigkeiten im Umgang mit dem stürmischen Verhalten als Ursache des hyperaktiv-unachtsamen Verhaltens des Kindes ansahen, interpretierten die Eltern familiäre Probleme wie zum Beispiel zu wenig Schlaf, soziale Isolation, Partnerprobleme, Depression, Angst und Ärger eher als Folgen der kindlichen Hyperaktivität. Die befragten Eltern fanden, dass die Vorteile der Diagnose ADHS deren Nachteile klar überwogen – selbst die Eltern, die alternative Therapien befürworteten und Medikamente ablehnten. Die Diagnose ADHS gab den Eltern eine Erklärung für das schwierige Verhalten ihres Kindes: »Ich war so glücklich, dass es einen Namen gab, dass ich mir nicht alles nur eingebildet hatte, dass ich es nicht mit einem Monster zu tun hatte, dass es einen Grund für sein Benehmen gab. So viele Dinge, über die ich mir so viele Sorgen gemacht hatte, passten plötzlich zusammen …«, und führte zu Entlastung: »Es war, als hätte man mir ein Riesengewicht von den Schultern genommen« (Klasen u. Goodman 2000, S. 200). Praktisch alle systemisch orientierten Therapeuten mit publizierter ADHS-Erfahrung (Kilian 1989; Ludewig 1991; Kienle 1992; Saile 1997; Saile u. Forse 2002; Bonney 2003; Spitczok von Brisinski 2005a; Brandau et al. 2003; Schmela 2004; Trapmann u. Rotthaus 2003) beschreiben in ADHS-Konstellationen ähnliche Ausgangsbedingungen, die sich in der Interaktion zunehmend zu »Teufelskreisen« aufschaukeln, sich mit einiger therapeutischer Mühe jedoch auch wieder zu »Engelskreisen« verwandeln können. Schmela (2004) beschreibt in zwei Abbildungen, wie sich in einer Wellenbewegung zwischen einem unruhigen Kind und seiner verunsicherten Mutter eine Beziehungsstörung allmählich aufbaut. Im Folgenden beschreibt er, wie in einem Kreislauf die Deutungen und Interpretationen von Mutter und Tochter nun über die sich entwickelnden Gefühle und Handlungen entscheiden: »Wenn die Mutter glaubt, versagt zu haben und sich erziehungsunfähig und schuldig fühlt oder aber die Schuld bei Anna sieht und denkt, diese würde sie nur ärgern wollen, dann belasten solche subjektiven Erklärungen das Mutter-Tochter-Verhältnis. Würde die Mutter jedoch Annas Unruhe als be-

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Abbildung 8*

sondere Vitalität sehen und ihr Interesse als Aufgewecktheit und Forscherdrang, dann könnte sie eventuell ganz anders damit leben und würde ihrer Tochter vermutlich auch anders begegnen, was wahrscheinlich positive Auswirkungen auf Annas Verhalten hätte.«

iEntstörungeni

Ein erstes Reframing für die Eltern Man könnte sagen, diese Kinder stellen ihre Umwelt auf eine harte Probe. Das impliziert ein erstes Reframing, welches Eltern zu entlasten vermag: »Die kindliche Unruhe ist […] nicht das Ergebnis von Erziehungsversagen, im Gegenteil verlangt sie besondere Kompetenz, um mit ihr angemessen umzugehen« (Baerwolff 2003, S. 112). Ein Kind, das an seine Umwelt besondere Herausforderungen stellt, ist nicht »falsch«, sondern es benötigt eben besonders kreative Bezugspersonen. Manche Eltern haben hier von vornherein günstigere Voraussetzungen, bestimmte Verhaltensweisen eines Familienmitglieds auszuhalten und teilweise positiv zu beeinflussen.

* Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Bulls Press, Frankfurt a. M.

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Abbildung 9: Beziehungsstörung zwischen Mutter und Kind als Wellenbewegung (Schmela 2004, S. 35)

Manche Eltern sind Naturgenies – andere können in der Therapie dieses Naturgenie in sich entdecken Spontan oder aber mit Hilfe eines guten Elterncoachings (Tsirigotis et al. 2006) lassen sich die Voraussetzungen dafür schaffen, wie Eltern hyperaktives und unaufmerksames Verhalten leichter ertragen und ihrem Kind trotz aller Belastung gute Rahmenbedingungen setzen können: – Gemeinsam erziehende, gut kooperierende Eltern haben es leichter als offen oder verdeckt zerstrittene Eltern – denen kann eventuell Paarberatung helfen. – Alleinerziehenden Eltern hilft die erlebte Unterstützung durch Großeltern, durch gut kooperierende geschiedene Väter oder Mütter sowie durch neue Partner oder Freundinnen. Hier sollten Therapeuten und Elterncoaches bei Aufbau und Pflege guter Unterstützungsnetzwerke mithelfen.

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Abbildung 10: Beziehungsstörung zwischen Mutter und Kind als Kreis (Schmela 2004, S. 36)

– Ein hinreichender Vorrat an Familienzeit und elterlicher Präsenz macht es möglich, mit mehr Geduld eine oft erforderliche intensivere Anleitung und Beaufsichtigung zu gewährleisten – dabei kann Elterncoaching helfen. – Ein mit sich selbst hinreichend zufriedenes elterliches Selbstkonzept erleichtert es, mit mehr Ruhe und Gelassenheit Grenzen zu setzen und sich emotional weniger anstecken zu lassen und impulsiv aufzubrausen. Therapeutisch kann hierbei die Arbeit mit Sprechchören und Zeitlinien für die Linderung elterlicher Sorgen und Selbstvorwürfe hilfreich sein (Fallbeispiele dazu in Schweitzer 2006). – Eine pädagogisch realistische Einschätzung dessen, was das Kind schon alles wissen und verstehen kann, hilft Eltern zu entscheiden,

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wie viel Reizinput oder Reizabschottung dem Kind bezüglich TV, Video, PC, aber auch sozialer Kontakt gut tut; was es wann schon selbstständig entscheiden kann und wie viel Raum ihm für seinen Spiel- und Freiheitsdrang gegeben werden muss. Oft wird in ungünstigen Momenten zuviel Folgsamkeit und Disziplin erwartet und das Kind steigert erst seine Unruhe und dann seinen Widerstand. Metaphern für ein Reframing der Diagnose Für die soziale Wirkung der Diagnose wie auch eine eventuell nachfolgende Medikation ist entscheidend, in welchen sozialen Konstruktionsprozess beides eingebettet wird. Hilfreich sind Metaphern, die individuelle Unterschiede anerkennen, würdigen und benennen, ohne das eine zum Guten und das andere zum Schlechten zu erklären. Eine solche Metapher ist die evolutionsgeschichtlich verankerte Unterscheidung von Jägern und Bauern. Sie stellt ebenfalls ein Reframing dar: »Die Kernsymptome der ADHD beschreiben […] Umkehrungen der Vorteile einer früher bei aktuellen Bedrohungen oder beim Jagen wichtigen raschen impulsiven Antwortbereitschaft gegenüber heute vorteilhaften wohl bedachten reflexiven Problemlösungsfähigkeiten in einer komplexen, sich immer schneller verändernden Lebenswelt« (Moll u. Rothenberger 2001). Etwas flexibler als die Jäger-Metapher ist vielleicht noch die Nomaden-Metapher (Brandau et al. 2003): So wie Nomaden dem Zwang der Sesshaftigkeit widerstehen, widerstehen Kinder mit ADHS der »Sesselhaftigkeit«, also dem stundenlangen Sitzen und Zuhörenmüssen in Schulen oder dem Stuhlkreis in Kindergärten. Eine dritte Metapher ist die des Rennautos (Nemetschek 2000): schnell, rasant, mitunter aber auch gefährdend, gefährdet und schwer zu bremsen. Das Rennauto hat zwar sehr viele PS, aber leider nur »Bremsen wie bei einem kleinen, labbrigen Kinderfahrrad und der Vergaser stottert und sprotzt auch manchmal«. Nemetschek bietet eine Ausbildung der Eltern zu Automechanikern an, damit sie die vielen PS »auch satt und sicher runterbremsen können«. In weiteren Stunden verwandelt er dann den Therapieraum in eine Rennstrecke, wo das hyperaktive Kind sich auf dem Rennkurs zuerst auspowert, wobei es von seinen Eltern immer wieder durch Festhalten an den Beinen gebremst wird, sich dann auf der Hebebühe entspannt und im Leerlauf (dabei liegt es auf einer Matte) die Gänge hochschaltet. Dies wird mehrfach wiederholt und soll auch von Kind und Eltern täg-

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lich zu Hause in spielerischer Form für je 20 Minuten durchgeführt werden. Suche nach Ausnahmen und gemeinsame Zeiten Ein Bestandteil eines Teufelskreises ist eine bestimmte Organisation der Wahrnehmung: Das, was als die Regel gilt, wird anders wahrgenommen und gewichtet (»Schon wieder hast du …!«, »Nie …«), während Verhalten, das nicht dazu passt, ignoriert oder gar negativ konnotiert wird (»Das hat er jetzt nur gemacht, um etwas Süßes zu bekommen!«). Gezielt die Aufgabe zu geben, Ausnahmen zu benennen oder nach ihnen zu suchen, wenn keine erinnert werden, kann hier helfen. Im systemischen Elterncoaching (Tsirigotis et al. 2006) wird mehrfach davon berichtet, dass Eltern erst wahrnahmen, dass ihr Kind immer wieder auch solche Angebote machte, nachdem sie selbst Versöhnungsgesten ausführten (Omer u. von Schlippe 2004). Ähnlich wichtig ist es, für gemeinsame unbelastete Zeiten zu sorgen. Denn wenn die Beziehungen angespannt sind, werden die wenigen guten Momente oft auch noch unterbrochen (»Warum sollte ich ihm entgegenkommen, solange er sich so verhält?«). Aktiv Zeiten zu bestimmen, in denen man mit dem Kind etwas für beide Interessantes und Angenehmes tut und in denen das Kind das Interesse des Erwachsenen an sich selbst spüren kann, kann therapeutische Entwicklungsprozesse deutlich unterstützen (vgl. Trapmann u. Rotthaus 2003). Enttäuschungsarbeit Nach langen Verläufen mit vielen therapeutischen Fehlschlägen kann eine heilsame Enttäuschungsarbeit (Omer u. von Schlippe 2004) angesagt sein, die den Eltern helfen kann, sich mit den Beschränkungen der Situation und den Grenzen der therapeutischen Allmacht zu versöhnen, realistische Ziele anzustreben und auch die positiven Aspekte des beklagten Verhaltens im Auge zu behalten. Zuweilen kann diese Enttäuschungsarbeit zum Konsens mit den Eltern führen, das Kind nicht mehr verändern zu wollen, sondern »nur« zu lernen, wie alle damit gut genug leben können. Dann kann differenzierter überlegt werden, wann und wo welches Maß an Kontrolle notwendig und wann und wo welches Maß an Aktivität, Kreativität und Impulsivität möglich, angemessen oder gar erwünscht ist.

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Arbeitsschritte in einer stationären Familientherapie Kilian (1989) beschreibt in Fallbeispielen aus der Neuropädiatrie Schwarzach ein am Mailand-Heidelberger Modell orientiertes familientherapeutisches Vorgehen, das erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass ein dort behandeltes Kind sich auf die (tages-)klinischen Behandlungen mit viel Motopädagogik und sensorischer Integrationsförderung einlassen kann. Trotz niedriger Intelligenz und zahlreicher Defizite in visueller Wahrnehmung und Merkfähigkeit schafft es das Kind allmählich, seine Konzentrationsspanne von einer auf neunzig Minuten zu steigern. Eine von Kilians interessanten Kasuistiken sei hier in ihren familientherapeutischen Teilen zusammenfassend dargestellt: Der knapp siebenjährige Arne treibt durch seine ausgeprägte Konzentrationsunfähigkeit, motorische Unruhe und aggressives Verhalten seine Familie zur Verzweiflung. Im Kindergarten ist er »untragbar« geworden. Nach zwei Jahren weitgehend vergeblicher ambulanter Beschäftigungstherapie rennt Arne buchstäblich aus den Behandlungsstunden auf die Straße und kommt schließlich tagesklinisch zur Aufnahme in eine neuropädiatrische Klinik. Im ersten Elterngespräch werden extreme Spannungen in der Familie deutlich: Die Eltern beschimpfen sich gegenseitig, können keine gemeinsame Entscheidung über Einschulung oder Schulzurückstellung herbeiführen. Bald kommen die Großeltern ins Spiel. Auf ihre Initiative wird Arne entlassen und die Behandlung abgebrochen. Es folgt eine mehrwöchige Therapiepause, bis die Mutter eine neue Behandlung initiiert. Jetzt hat sich Wesentliches verändert: Arne wurde schlagartig ruhiger ab dem Tag, als die Eltern sich gemeinsam entschlossen, den Jungen von der Einschulung zurückzustellen. In der weiteren Behandlung wechseln hyperaktive und ruhige Therapiephasen häufig einander ab: Wenn die Meinungsverschiedenheiten zwischen den väterlichen Großeltern und Mutter zunehmen, wird auch Arne unruhiger. Wenn er in Leistungsvergleichen mit Altersgenossen seine Defizite deutlicher vor Augen bekommt, ebenfalls. Die stationäre Therapie fokussiert zugleich auf die multiplen Wahrnehmungsdefizite und auf die familiären Spannungen. In der ersten Familiensitzung geht es um die Schuldfrage. Der Vater wirft der Mutter vor, ihre Hektik und Impulsivität seien Schuld. Die Mutter hingegen führt Arnes Wahrnehmungsstörungen als Ursache auf. Die Schuldfrage wird zum Kampfinstrument. Die Eltern haben sich auseinandergelebt, wirken verbittert, sind nur noch der drei Kinder wegen zusammen. Der Vater fühlt sich angesichts der Impulsivität der Mutter verpflichtet, der ruhige Pol zu sein, schluckt oft seinen Ärger hinunter, leidet an Magenbeschwerden. Dann werden zwei wichtige Hintergrundinformationen deutlich. Die Mutter zeigt erst seit der Geburt von Arne so viel Hektik. Nachdem das erste Kind der Familie im Alter von zehn Wochen an plötzlichem Kindstod verstorben war, hatten alle Angst, dies könne sich bei Arne wiederholen. Nun wurde er zum ängstlich umsorgten »Kronprinzen«. Arne ist seither der Liebling der Großeltern, die finanziell wie mit häufigen Betreuungshilfeleistungen bei den drei, fünf und sieben Jahre alten Kindern unterstützen. Dabei aber drängen sie ihre Hilfe buchstäblich auf, mischen sich in viele Belange ein. Allmählich wird Arne als Druckmittel der Mutter gegenüber den Großeltern genutzt. Herrscht Friede, darf er die Großeltern besuchen, gibt es Streit, wird er ihnen vorenthalten.

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Kilian benennt nun zahlreiche »nützliche Nebenwirkungen« von Arnes Hyperaktivität. Dass Arne »so schwierig ist«, erleichtert es, Hilfe von den Großeltern ohne Gesichtsverlust anzunehmen. Die Hyperaktivität lenkt die Eltern von ihrer Beziehungsmisere ab. Umgekehrt vermittelt sie den Großeltern die moralische Rechtfertigung für ihre eingreifende Anteilnahme. Arne bewahrt sich selbst vor schmerzlichen Inkompetenzerfahrungen in verschiedenen Leistungsbereichen und bekommt viel Freiraum, in dem er die Erwachsenen gegeneinander ausspielen kann. Der Fokus auf Arne und seine Hyperaktivität bewahrt schließlich die jüngeren Geschwister, ebenfalls in den Generationenstreit hineingezogen zu werden. Nach vorbereitenden Gesprächen mit den Eltern findet ein Gespräch von Eltern und Großeltern statt. Danach kommt es zu einer Distanzierung dadurch, dass der Vater die Großeltern aus Behandlung und Familienleben zunehmend auslädt und diese selbst weitere Hilfestellungen verweigern. Diese Koalitionsveränderung verbessert die elterliche Zufriedenheit miteinander enorm – sie berichten, sich so gut zu verstehen wie schon Jahre zuvor nicht mehr. Parallel zu diesem Prozess wagt sich Arne in der Klinik an zahlreiche bislang vermiedene Anforderungen heran. Er reagiert jetzt eher traurig statt hyperaktiv, wenn er bestimmte Dinge nicht kann, äußert selbst eine realistische Skepsis gegenüber den schulischen Anforderungen, die vor ihm stehen. Ihm gelingt es, die Konzentration von einer auf neunzig Minuten zu steigern, sich allein an einem Tisch inmitten heftigen Getümmels zu beschäftigen. Drei Monate nach Behandlungsende ergibt ein erstes Nachgespräch, dass dieser Zustand geblieben ist. Die Einschulung führte zu einem erneuten, jetzt aber auf die Schule beschränkten Aufflackern der Hyperaktivität, während er sich zu Hause und mit seinen Spielkameraden ruhig und sozial gut eingegliedert zeigt (Kilian 1989, S. 92).

Arbeitsschritte einer ambulanten (kinderpsychiatrischen) Familientherapie Bonney (2002), ein systemtherapeutisch arbeitender Kinderneurologe und Kinderpsychiater, beschreibt eine Reihe von Therapiebausteinen zur systemischen Therapie bei ADHS-Konstellationen in einer ambulanten Praxis für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie. Sie verbinden allgemeine systemtherapeutische Prinzipien mit einer sorgfältig präzisierenden Einschränkung und Umdefinition der Diagnose sowie der Wiederentdeckung eines eher nonverbalen Erziehungsstils und darüber hinaus mit der Wiederentdeckung schon verloren geglaubter elterlicher Kompetenz: 1. Kontextanalyse zur Klärung von Glaubenssätzen über die Einflüsse von Stoffwechsel, Allergien, Ernährung und Vererbung (»Wie erklären Sie sich selbst die Ursachen dieses Verhaltens?«) und über seine angenommene Chronizität und Unveränderbarkeit (»Wie hoffnungsvoll sind Sie, dass das Problem bewältigt werden kann?«). Er empfiehlt, auf die bis heute bestehende wissenschaftliche Unsicherheit der körperbezogenen Theorien hinzuweisen und darauf, dass man sorgfältig differenzialdiagnostisch unterscheiden müsse.

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2. Differenzialdiagnostische Analyse: Was ADHS nicht ist. Mit den Eltern überlegt er, ob nicht auch eine andere Störung vorliegt, die medizinisch oder psychotherapeutisch bearbeitet werden kann. 3. Problemdefinition: Wichtig ist, sich auf Basis der Erfahrungen, die die Eltern mit ihrem Kind bisher gemacht haben, baldmöglichst auf eine gemeinsame Problemdefinition zu einigen. 4. Anamnese der Sprech- und Sprachentwicklung: In der Rückschau wird oft von einem frühen Spracherwerb berichtet, der die Eltern veranlasste, auf einen rein verbalen Erziehungsstil zu bauen und frühe Erfahrungen mit erfolgreicher nonverbaler, insbesondere taktiler Steuerung zu vergessen. 5. Ausnahmen vom ADHS-Verhalten erkunden: Sorgfältiges Fragen, wann diese Kinder sich ausnahmsweise konzentrieren oder ruhig sitzen konnten und was in diesen Situationen zu ihrer Motivierung beitrug, helfen eine hoffnungsvollere Atmosphäre zu entwickeln. 6. Reframing: Das von Bonney bevorzugte Etikettierungsangebot »Gefühlsmenschen haben keine Ohren und bewegen sich gern« öffnet mehr Kooperationsangebote als das »ungehorsame« Kind, das »nicht hören will«. 7. Veränderte Kommunikationsabfolge: Bonney empfiehlt, dass die Therapeutin schon in der ersten Sitzung das betroffene Kind mehrmals – vorsichtig dosiert, aber ohne Ankündigung – mit der Hand leicht berührt und damit eine spontane Blickreaktion (auf die Therapeutin sehen) mit fokussierter Aufmerksamkeit (auf die Therapeutin), Unterbrechung der motorischen Aktivität und zielgerichtetes Hören (Horchen) auf gesprochene Worte auslöst. Erst danach spricht sie das Kind an, was nun oft mit größerer Redebereitschaft reagiert. Wenn die Eltern diese veränderte Reaktion des Kindes wahrgenommen haben, wird dies Vorgehen den Eltern erklärt: »Erinnern Sie sich noch, wie Sie Ihr Kind im Kleinkindalter auf sich aufmerksam gemacht haben?« Dies sollen die Eltern in den nächsten zehn Tagen mehrfach täglich wiederholen. 8. Familiäre Konfliktkonstellationen besprechen: Erst jetzt, nach ersten guten Kompetenzerlebnissen, kann sinnvoll über den allgemeinen Erziehungsstil der Eltern, über eventuelle Erziehungsstildifferenzen zwischen zwei Elternteilen, über eventuelle Paarkonflikte gesprochen werden.

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9. Außerfamiliäre Konfliktkonstellationen: Nun können auch insbesondere die Lehrerin oder die Kindergartenerzieherin zu einem Gespräch miteingeladen werden, deren Klagen gehört und ihnen Informationen und Instruktionen (siehe Schritte 1 bis 7) gegeben werden, wenn sie diese haben möchten. Interaktionelle Familien-Gehirntherapie Basierend auf dem Konzept der neuronalen Plastizität, also der Beeinflussbarkeit auch der Gehirnmorphologie durch Übungsprozesse, hat Marcia Stern (2002) eine Familientherapieform für Kinder mit ADHS, aber auch mit Lernstörungen entwickelt, die wir als interaktionelle Familien-Gehirntherapie beschreiben können (Stern selbst nennt dies nicht so). Sie arbeitet in den Familiensitzungen eine gemeinsame Diagnose der »ganz individuellen Gehirne« der beteiligten Mitglieder des Problemsystems heraus und wie zum Beispiel das Gehirn des Jungen mit dem Gehirn der Mutter interagiert – um dann kindgerechte Interventionen zu erfinden (z. B. rote Papierampeln, die Stopp sagen), mit denen sich negativ aufschaukelnde Kreisläufe von Ungeduld, Überaktivität und gegenseitiger Kritik unterbrochen werden können. Zur Integration von systemischer Therapie, Hypnotherapie und Verhaltenstherapie bei ADHS Schmela (2004) beschreibt in seinem Buch »Vom Zappeln und vom Phillip« eine Integration von familien-, hypno- und verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen. Sein Ziel ist es, mit einem »symptomzentrierten Vorgehen« aus ausführlicher Psychodiagnostik, Medikation, Psychoedukation und Trainingsverfahren eine auf das Kind sehr passgenau zugeschnittene, kleinschrittige und sorgfältige Intervention anzubieten. Und mit dem »hypnosystemischen Vorgehen« versucht er auf das Nützliche in Familien zu blicken, was schon da ist, durch Umdeutungen den Auffälligkeiten einen neuen Sinn zu geben, mit kreativen Techniken an bislang noch ungenutzte Ressourcen des Kindes und seiner Familie anzuknüpfen und durch Auftrags- und Kontextklärung die Grundlagen einer guten Kooperation mit der Familie und anderen Helfern dort zu sichern, wo diese nicht schon gegeben sind. Schmelas Beobachtungsbogen »Stärken von Kindern und Jugendlichen« fragt nicht nur nach den von ADHS-Phänomenen unbeeinträchtigt gebliebenen Fähigkeiten.

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Unter der Überschrift »Schwächen – einmal anders betrachtet« lädt er Erzieher und Eltern auch dazu ein, selbst Umdeutungen für die beklagten Problemverhaltensweisen zu entwickeln: Kann man sie auch als Stärken betrachten? Enthalten sie einen Sinn? Können sie auch als Überlebensstrategien nützlich sein? Schmela vertritt die These, dass das in Deutschland derzeit wohl meistverbreitete (vorwiegend verhaltenstherapeutische) ADHS-Behandlungsprogramm THOP von Döpfner et al. (2002) neben seiner sehr trainingsorientierten Philosophie in vielen einzelnen Punkten systemische Arbeitsweisen enthält. Familiengruppen Um Familien mit unruhig-überaktiv-unaufmerksamen Mitgliedern in einem familienübergreifenden Lernprojekt aus der Isolation herauszuholen, haben Hennecke et al. (2000) in Berlin ein Familiengruppenprojekt »ADS – Unternehmen Lernende Familien« erprobt. Sieben Familien mit verschiedenen Familienkonstellationen nehmen über 18 Monate an sechs zweitägigen Seminaren und insgesamt sieben individuellen Familiengesprächen unter Moderation dreier Familientherapeuten und einer Heilpädagogin teil. Daneben treffen sich je zwei bis drei Familien ohne Therapeuten zwischen je zwei Seminaren. Dieses dichte Vorgehen in den unterschiedlichsten Kombinationen ermöglicht es, dass viele andere Menschen einschließlich der Therapeuten das Leid der einzelnen Familienmitglieder empathisch miterleben können. Zugleich können die Familien sich ihre Lösungsstrategien gegenseitig vorstellen und diskutieren, sodass sich familienübergreifende Patenschaften zum gegenseitigen Coaching entwickeln und zuweilen auch Frauen und Männer ihre unterschiedlichen Umgangsweisen mit Bewegung solidarisch erleben können. Medikation Bei ADHS spielt medikamentöse Behandlung in der Therapie im Gegensatz zu vielen anderen psychischen Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend eine in der Öffentlichkeit kontroverse, aber in nationalen und internationalen Behandlungsleitlinien prominente Rolle. Die Kontroversen werden auch unter systemisch orientierten Kinderpsychiatern ausgetragen, die auf mögliche schädliche Langzeitwirkungen hinweisen (Hüther u. Bonney 2002) oder auf wissenschaftlich gut belegte

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hohe Effektivität und Effizienz bei geringer Nebenwirkungsrate (Spitczok von Brisinski 2004a). Zu großer Medienbeachtung und Aufregung bei Betroffenen wie Fachleuten führte die Behauptung, dass die Einnahme von Methylphenidat im Kindesalter später zu einem Parkinson-Syndrom führen könnte (Hüther u. Bonney 2002). Die Gegenposition stellt dar, dass bisherige Ergebnisse zu Langzeitbehandlungen mit Stimulanzien keine negativen Langzeitfolgen erkennen ließen (Resch u. Rothenberger 2002). Auch nichtärztliche Therapeuten sollten sowohl die einschlägigen Behandlungsleitlinien und Konsensuspapiere kennen (siehe auch Bundesärztekammer 2005), als auch mit den Grundlagen medikamentöser Behandlung vertraut sein. Spitczok von Brisinski (2003c) plädiert dafür, die medikamentöse ADHS-Behandlung in die systemische Therapie zu integrieren. Er sieht das Medikament als ein Werkzeug des Kindes, das es verantwortungsvoll nutzen muss, um seine Probleme zu lösen. Selbstkontrolle und Eigenverantwortlichkeit des Kindes bleiben bei diesem Ansatz erhalten, es wird also nicht medikamentös eingestellt. Die Begründung für die Medikamentengabe soll mit der Familie zusammen entwickelt werden. Metaphern wie Brille (die Brille dient dem besseren Sehen, solange sie aufgesetzt bleibt) oder ABS (automatisches Bremssystem bei Autos als positiv besetztes Konzept, Medikation zur verbesserten Impulskontrolle) können dies unterstützen. Er demonstriert an folgendem Fallbeispiel, wie auch scheinbar besonders unkooperative Familienmitglieder über die Auseinandersetzung um die Medikamentenvergabe in den therapeutischen Prozess einbezogen werden könnten: Ein neunjähriger Junge wurde aufgrund aggressiven Verhaltens ambulant vorgestellt. Bereits im Kindergarten sei er sehr aggressiv gewesen und habe Spieltherapie erhalten. Diese habe jedoch nichts gebracht. Das aggressive Verhalten führte intrafamiliär vor allem zu Spannungen zwischen Sohn und Vater. Es folgte eine mehrmonatige stationäre kinderpsychiatrische Behandlung, der Behandlungserfolg hielt nur wenige Wochen an. Nach einem weiteren Jahr Familientherapie bei einer weiteren Kinder- und Jugendlichenpsychiaterin diagnostizierte ein Kinderarzt ein Hyperkinetisches Syndrom und begann eine Behandlung mit Methylphenidat nach einem standardisierten Dosierungsschema, das eine Medikation nur für die Schulzeit vorsah. Die Familie empfand eine deutliche Besserung im schulischen Bereich. Zu Hause wurde es jedoch schlimmer, teilweise trat der Vater seinen Sohn. Der Junge hängte sich aus dem Fenster und drohte mit Selbstmord. Bei der erstmaligen ambulanten Vorstellung lehnten die Eltern sowohl eine erneute stationäre Behandlung als auch Familientherapie ab, da beides nichts gebracht habe. Insbesondere der Vater empfand sich als hilflos gegenüber dem Verhalten seines

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Sohnes und drang auf Fremdunterbringung. Andererseits war er, beruflich selbst als Arzt tätig, Experte im Umgang mit Medikamenten und machte im Beruf mit diesen täglich hilfreiche Erfahrungen. Die gleiche positive Erfahrung machte er auch hinsichtlich der Probleme seines Sohnes in der Schule. Dieser Aspekt war daher geeignet, als Ausnahme von der bisherigen Misserfolgsgeschichte aufgegriffen zu werden. Das Medikament wurde nun auch nachmittags und an den Wochenenden gegeben, um das Nützliche aus der Schule auch zu Hause zu erreichen. Hierunter trat eine Besserung für den Nachmittagsbereich ein, abends traten aggressive Durchbrüche heftiger auf. Da die Familie bereit war, weitere Modifikationen der Therapie zu erproben und die bisherigen Schritte als überwiegend positiv empfunden wurden, erhielt der Junge zusätzlich ein Antidepressivum, dessen Wirksamkeit bei ADHS belegt ist. Hierunter trat eine deutliche Besserung der Symptomatik und Erhöhung der Zufriedenheit der Familie auf. Der Junge erledigte selbstständig und freiwillig seine Hausaufgaben. Die intrafamiliären Spannungen nahmen deutlich ab. Nach einigen Wochen setzte die Familie in Eigenregie das Methylphenidat ab. Dies konnte als Indiz dafür angesehen werden, dass die Familie sich wieder mehr Kompetenz für andere Lösungsstrategien zutraute. Monate später meldete sich die Familie erneut. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn hatte sich deutlich verbessert, von Fremdunterbringung war keine Rede mehr. Der Junge hatte beobachtet, dass sein Penis weniger steif wurde als der seines Bruders. Dies konnte eine Nebenwirkung des Antidepressivums sein. Vater und Sohn waren über möglicherweise durch das Antidepressivum bewirkte Potenzstörungen ins Gespräch gekommen waren. Der Vater war als Mann einerseits, als Arzt andererseits Experte für solche Fragen. Er konnte seinem Sohn seine Erfahrungen mitteilen und sich dabei als kompetent erleben. Im Gespräch von »Mann zu Mann« konnte auch der Junge seinen Vater nun als hilfreich erleben. Spannungen gab es nun eher zwischen dem Jungen und der Mutter. In der Schule war es seit dem Absetzen des Methylphenidats wieder schwieriger geworden. Die Eltern sahen die medikamentöse Behandlung weiterhin als hilfreich an, nicht jedoch eine Psychotherapie. Sie kamen von dem Muster ab, einmal Versuchtes zu verwerfen und äußerten Zuversicht hinsichtlich der Möglichkeit, die zusätzliche Medikation wieder aufzunehmen. Der Vater übernahm diesmal die Aufgabe, zusammen mit seiner Familie ein optimales Dosierungsschema zu erarbeiten. Man könnte die Dosierung durch den Vater statt durch den Behandler kritisch sehen, die Verknüpfung widersprüchlicher Rollen (Vater – Arzt) befürchten. Ressourcenorientiert gesehen erhielt aber der Vater durch die Aufgabe, die Dosierung zu optimieren, von Mutter und Sohn Anerkennung, zusätzliche Kompetenz sowie das Gefühl, etwas Wichtiges für das Wohl der Familie tun zu können. Er übernahm nun Verantwortung für seinen Sohn, was zuvor weniger deutlich war. Die Familie konnte damit nun verstärkt auf ihre Ressourcen zurückgreifen.

Zum Abschluss sei der Verlauf einer Familientherapie geschildert. Hier geht es um einen heute zwölfjährigen Jungen, bei dem die Diagnose ADHS unter Fachleuten unterschiedlich beantwortet wurde, wo aber unabhängig von der Diagnosestellung (»so oder so«) eine Lösung für eine belastende familiäre und schulische Situation gefunden werden musste, unter der auch der Junge selbst sehr litt. Diese Geschichte zeichnet sich durch eine hohe Problemlösungskompetenz der gesamten Fa-

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milie aus, die es trotz hohem Krisendruck leicht machte, in wenigen Sitzungen zu einer Erleichterung der Situation zu kommen. Interessant an dieser Geschichte ist auch, dass auch ohne Medikamente bereits eine erste Besserung der Situation eingeleitet wurde, die dann durch die Medikamenteneinnahme beschleunigt und intensiviert wurde. Eine fünfköpfige Familie mit drei Kindern (Mädchen 13, Junge 10, Junge 8 Jahre) meldet sich zum Erstgespräch. Der zehnjährige Stefan hatte zwei Jahre zuvor schon einmal Methylphenidat (Ritalin) bekommen, darauf zwar mit ruhigerem und konzentrierterem Verhalten reagiert, aber auch mit Appetitstörungen und Traurigkeit, worauf das Methylphenidat abgesetzt wurde. Die Eltern hatten mit Stefan schon viel versucht: Einzelverhaltenstherapie, Elterntraining, Spieltherapie – geholfen hatte bislang nur Ritalin. Nun war Stefan drei Wochen lang zur stationären Beobachtung in einer norddeutschen Kinderpsychiatrie gewesen. Dort war aber kein Verhalten aufgetreten, das die ADHS-Kriterien erfüllt hätte – er wirkte konzentriert, aufmerksam, gut integriert. Stattdessen sei im Familiengespräch eine anstrengende Sandwichposition Stefans zwischen seinen beiden Geschwistern deutlich geworden: der 13-jährigen Melanie, einer Überfliegerin, mit der er nicht konkurrieren könne, und dem achtjährigen Manuel, einem in seinem Lerntempo behinderten jüngeren Bruder. Die Klinik empfahl daher Familientherapie. Die Eltern nahmen diese Empfehlungen hin und kamen zum Therapeuten – freilich nicht ohne Ressentiment, denn es widersprach ihren täglichen und zuvor schon jahrelangen Erlebnissen, Stefan nicht als hyperaktiv anzusehen. Im ersten Gespräch lerne ich alle fünf Mitglieder dieser mir sofort sympathischen Familie kennen – bewusst erst einmal mit ihren Hobbys und Interessen, erst später mit ihren Problemen. Ich lerne fünf Menschen kennen, die es allesamt besonders gut und besonders richtig machen wollen, die vor allem sportlich und technisch viele Interessen teilen, die als Familie sehr viele genau präzisierte Rituale entwickelt haben, die in der erforderlichen Präzision durchzuführen von den Beteiligten aber auch mancherlei Opfer verlangt – und den Eltern als Zeremonienmeistern viel Stress bringen, den sie aber für einen unvermeidlichen Teil ihres Erziehungsauftrags halten. Im zweiten Gespräch erkunde ich nur mit den Eltern ihre lange Leidensgeschichte und gebe dabei besonders der Mutter viel Raum, ihre Erschöpfung und Resignation mitzuteilen. Da sie sich am Ende ihrer Kräfte sieht, spreche ich auch die Option einer Fremdplatzierung an – was von den Eltern erwogen, aber dann doch verworfen wird. Ich äußere im dritten Gespräch, dass ich ihnen nach den vielen erfolglosen Vorbehandlungen keine falschen Versprechungen machen will, das Verhalten des Jungen ändern zu können – dass wir aber in gemeinsamen Familiengesprächen (dieses Setting hatte es bislang noch nicht gegeben) versuchen könnten, mit allen Mitgliedern Wege zu suchen, wie sie mit Stefan, so wie er ist, bestmöglich zusammenleben könnten. Wir beschließen, dass die diagnostische Frage, ob er nun ADHS hat oder nicht, in diesem Fall relativ folgenlos sei und daher derzeit nicht weiter geklärt werden müsse – die alte Medikation kommt nicht mehr in Frage, Internat auch nicht. Die Eltern wollen mit der ganzen Familie nach Lösungen für ein »hinreichend erträgliches Familienleben« suchen. Im vierten, fünften und sechsten Gespräch inszenieren wir mit zahlreichen handlungsorientierten Spielen (Skulpturen, Theaterszenen) häusliche Konfliktsituationen, nehmen diese auf Video auf, schauen uns hinterher die Filmaufnahmen im Nachbarraum an und werten sie daraufhin aus, wie man heftige Streits vom Zaum brechen kann und wie man diese umgekehrt verhindern kann. Wir prüfen, ob und wie man den Bewe-

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gungsspielraum nicht nur für Stefan erweitern kann (alle Kinder sind begeisterte Trampolinspringer und Volleyballspieler). Mit einem Seil verkabeln wir die Familienmitglieder und prüfen, wo die Dichte der Verkabelung angenehm und wo sie verändert werden sollte. In der Folge prüfen wir, ob und wie der weniger genervte Vater trotz seiner umfangreichen Berufstätigkeit mehr mit Stefan tun und die stärker genervte Mutter (die derzeit nur wenige Stunden in der Woche arbeitet) aus der Zuständigkeit besonders für Stefans Hausaufgaben entlasten kann. Nach einer Zwischenkrise nach dem fünften Gespräch kommt es ab dem sechsten Gespräch zu einer Beruhigung der Situation. Nach dem sechsten Gespräch verabrede ich für Stefan und seine Mutter einen Vorstellungstermin bei einer mit mir kooperierenden Kinderpsychiaterin, die Stefan Atomoxetin (Strattera®), ein Medikament aus der Gruppe der Antidepressiva, verschreibt. Dieses Mittel akzeptiert und verträgt er gut. Zum siebten Gespräch kommen die Eltern, Stefan und Manuel entspannt und guter Dinge. Wir beschließen, die Therapie bis zu einem Nachschautermin einige Monate später zu unterbrechen oder zu beenden – je nachdem, was dann Spannendes passiert sei. Sieben Monate später ruft mich die Mutter zu einer kurzen Telefonkatamnese an. Tenor: »Wir schlagen uns durch – auf einem erheblich besseren Niveau«. Stefan sei sensibel und empfindsam geblieben. Die Eltern hätten sich entschlossen »oft Fünfe gerade sein zu lassen«. Um seinen Schulbesuch würden sie sich fast nicht mehr kümmern. Die Folge sei, dass er in seinen naturwissenschaftlich-technischen Lieblingsfächern besser geworden sei (»Eins bis Zwei«), in den ungeliebten Sprachen aber schlechter (»Vier bis Fünf«). In den Lieblingsfächern arbeite er gut mit, den ungeliebten Fächern verweigere er sich. Das Antidepressivum nehme er weiterhin ein, die Mutter führt eine etwas verbesserte Konzentration in den schulischen Lieblingsfächern darauf zurück – »denn Hausaufgaben macht er kaum, er muss da also doch einigermaßen aufpassen«. Insgesamt sei es wesentlich besser als vor einem Jahr. Der Effekt der Gespräche sei für sie folgender gewesen: »Wir haben gelernt, mehr gehen zu lassen«. Das Feedback an mich als Therapeuten lautete: »Sie waren der Erste, der nur zugehört und nicht gewertet und gesagt hat, dass wir alles ganz anders machen müssten« (Therapeut: Jochen Schweitzer).

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3.6 Schulverweigerung und Mobbing – Wege und Umwege zur Schule3231 iStörungsbilderi Bei Schulverweigerung handelt es sich nicht um ein einheitliches Störungsbild als klare ICD-10-Kategorie, auch wenn Schulangst als »spezifische Phobie« (F40.2) oder als »Störung mit Trennungsangst des Kindesalters« (F93.0) diagnostiziert werden kann. Kearney und Silverman (1996) definieren Schulverweigerung als ein Verhalten, bei dem es aus durch das Kind motivierten Gründen nicht möglich ist, die Schule zu besuchen oder den Schultag durchzuhalten. Diese Definition schließt Kinder und Jugendliche ein, die den Schulbesuch völlig eingestellt haben, die Schule nur mit Verspätung aufsuchen können oder die Schule mit körperlichen Beschwerden oder aus mangelnder Motivation nach kurzer Zeit wieder verlassen. Als unterschiedliche Phänomene werden Schulangst und Schulphobie auf der einen und Schulschwänzen auf der anderen Seite deutlich unterschieden (Trapmann u. Rotthaus 2003): – Bei der Schulangst stehen starke Ängste vor schulischen Leistungsanforderungen, vor Lehrern oder Mitschülern im Vordergrund. – Bei der Schulphobie handelt es sich in erster Linie um eine Angst vor der Trennung von den Eltern. – Schulschwänzen bezeichnet das, was auch umgangssprachlich darunter verstanden wird: »Null Bock auf Schule«. Während bei jüngeren Kindern überwiegend Trennungs- und Leistungsängste im Vordergrund stehen, treten mit zunehmendem Alter Nullbock-Phänomene immer häufiger auf. Schulverweigerung kann durch Mobbing beziehungsweise Bullying entstehen und begünstigt werden. Der Mobbing-Konstellation wollen wir als einem wichtigen Auslöser schulverweigernden Verhaltens in diesem Kapitel besondere Aufmerksamkeit widmen.

32 Wir bedanken uns bei Dr. Ingo Spitczok von Brisinski, Viersen, und Dipl.-Psych. Kurt Hahn, Heidelberg, für ihre Mitarbeit an diesem Kapitel.

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Häufigkeit und Verlauf Die Prävalenzangaben für Schulverweigerung liegen bei 5 % aller Schulkinder. Für Mobbing oder Bullying schätzt man, dass in weiterführenden Schulen im Schnitt einer von sieben Schülern manchmal und ungefähr 4 % der Schüler ein- oder mehrmals pro Woche schikaniert werden. In Grundschulen berichten circa 27 % der Schüler, überhaupt schikaniert zu werden und bei circa 8 % ist anzunehmen, dass dies ein- oder mehrmals pro Woche geschieht (Spitczok von Brisinski 2005b). Gelegentliches oder länger dauerndes Fernbleiben vom Unterricht wird in Deutschland immer mehr zu einem großen gesellschaftlichen Problem (12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung). Dunkelzifferschätzungen (verlässliche Statistiken existieren nicht) gehen von 300.000 bis 500.000 Kindern und (häufiger) Jugendlichen aus, die den regelmäßigen Schulbesuch verweigern. Hauptsächlich betroffen hiervon sind Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten und Familien mit Migrationshintergrund (PISA 2, 2004 sowie ESF-Programm des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 2006).

iBeziehungsmusteri Es lohnt sich, Schulprobleme jeder Art als Inter-System-Probleme zu verstehen, die es erfordern, das Verhältnis von Schüler, Mitschülern, Lehrer und Familie zu untersuchen (Käser 1998; Palmowski 1995). Gehäuft auftretende Schulprobleme veranlassen darüber hinaus zunehmend Schulen, Schulverwaltung und Politik, Schulentwicklungsmaßnahmen in Angriff zu nehmen (Miller 1990). Bei unterschiedlichen Formen von Schulverweigerung lassen sich sehr unterschiedliche Beziehungsmuster beobachten. Schulschwänzer müssen eher mit Sanktionen rechnen. Schulverweigerung mit einer ängstlichen oder depressiven Symptomatik wird hingegen häufig längere Zeit toleriert. Mobbing entsteht oft im Kontext geringer Präsenz der Eltern oder Lehrer (siehe Lemme u. Eberding 2006) und rückt so oft erst spät in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit.

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Zur Schulangst und Schulphobie Bei der Schulangst lassen sich häufig Auslöser in der Schulsituation (Angst vor Leistungsanforderungen und Klassenarbeiten sowie soziale Ängste vor Bloßstellung oder Demütigung durch Mitschüler und Lehrer) finden (Betz u. Breuninger 1998; Hennig u. Keller 1992). Bei der Schulphobie liegen die Auslöser vor allem in der Familiensituation. Familiär kann Schule eine Bedrohung der innerfamiliären Bindungsdichte darstellen, auf die manche Familien mit besonders starkem Bindungsmodus meist sehr verängstigt oder manchmal aggressiv oder beides zugleich reagieren können. Hier ist eine sehr behutsame »Entbindungsarbeit« mit der Familie angesagt, die zunächst familiengeschichtlich den Überlebenswert starker Bindung erkundet und respektiert, bevor sie ihn behutsam infrage stellt, wie folgendes Fallbeispiel von Kurt Hahn zeigt: Als eine wichtige aufrechterhaltende Bedingung für die Schulphobie der neunjährigen Tochter wurde in einer Familienberatung mit Vater, Mutter und Tochter das Verhalten der Mutter, einer ausgebildeten Kinderkrankenschwester, deutlich. Sie saß abends bis zu anderthalb Stunden am Bett ihrer Tochter, um ihr zu vermitteln, dass sie keine Angst vor der Schule am nächsten Tag haben müsse. In wenigen kindertherapeutischen Sitzungen gelang es, die vorhandenen Kompetenzen des Mädchens, sich zu ermutigen und zuversichtlich in die Schule zu gehen, zu aktivieren und deutlich zu stärken. Die Mutter und auch der Vater zeigten sich im parallelen Elterngespräch diesem Fortschritt gegenüber durchaus ambivalent. Es bedurfte noch einiger Sitzungen mit den Eltern, ihnen zu helfen, mit den Auswirkungen der zunehmenden Selbstständigkeit ihrer Tochter auf sie selbst und ihre Paarbeziehung zueinander besser zurechtkommen zu können.

Zum Fernbleiben vom Unterricht (Schulschwänzen) Individuelle Faktoren (z. B. Lernrückstände, pubertätstypisches Autonomiestreben, peergruppenbezogene Loyalitäts- und Nachahmungseffekte), familiäre Faktoren (z. B. Beziehungsprobleme in der Familie), soziale und materielle Faktoren (insbesondere benachteiligte Lebensverhältnisse) sowie Faktoren traditioneller uniformer Lernstrukturen und ungünstiger schulischer Rahmenbedingungen und Kommunikationsabläufe fördern, sich wechselseitig verstärkend, das »Endprodukt Schulschwänzen« (Praxisforschungsprojekt »Coole Schule«, 2005). Auch hier befinden sich die Kinder und (häufiger) Jugendlichen in einem Teufelskreis aus positiv verstärktem Vermeidungsverhalten, zunehmender Misserfolgsbesetzung der Schule und abnehmender Kontrolle und Aufsicht. So tun sie meist viel dafür, das Schwänzen vor den

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Abbildung 11*

Beziehungspersonen zu verheimlichen und zu verhindern, dass die Eltern Informationen über ihr Fehlverhalten bekommen (z. B. durch Abfangen von Briefen). Abnehmendes elterliches Monitoring ist einer der massivsten Prädiktoren für die Entwicklung devianten Verhaltens (Omer u. von Schlippe 2004). Die Sozialkontakte zur Schule gehen zurück, tragfähige Beziehungen verschwinden und so verstricken sich die Betreffenden mehr und mehr bis hin zur drohenden Verwahrlosung (Trapmann u. Rotthaus 2003; Rotthaus u. Trapmann 2004).

* Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Peter Thulke.

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Zum Mobbing Unter Mobbing wird die systematische, gerichtete, häufige und dauerhafte Ausübung negativer Handlungen auf einzelne Personen verstanden, einhergehend mit einem bestehenden oder sich entwickelnden Machtgefälle. Das mobbende Verhalten des Täters wird »Bullying« genannt. Im Lauf der Zeit kommt die gemobbte Person in eine zunehmend unterlegenere Position und kann sich immer schwerer wehren. Mobbing ist ein Symptom für gestörte Kommunikation. Die Opfer werden isoliert und isolieren sich oft auch selbst, die Täter bekommen keine Rückmeldung über die Auswirkungen ihrer Schikane und lernen, dass sie sich durchsetzen können. Nicht jeder Mobbing-Prozess gleicht dem anderen, jedoch gibt es einige typische Muster (Spitczok von Brisinski 2005b): – Am Anfang stehen meist einzelne Konflikte, Unverschämtheiten, Gemeinheiten. Häufen sich diese, erfolgt der Übergang zu Mobbing. – Bestimmte soziale Charakteristika der Opfer scheinen Mobbing zu fördern: wenig Selbstbewusstsein, eine allzu selbstkritische Haltung, ängstliches oder überangepasstes Verhalten. Mobbing-Opfer verhalten sich oft so, dass sie leicht zu Außenseitern werden. Sie haben nur wenige oder gar keine Freunde, reagieren eher mit Hilflosigkeit und Rückzug oder gehen andererseits mit allzu blindem Vertrauen auf Mitschüler zu. Auffälliges oder andersartiges Aussehen, Ungeschicklichkeit oder geringe Frustrationstoleranz können hinzukommen. Homosexuelle und bisexuelle Jugendliche haben ein erhöhtes Risiko, zum Opfer zu werden. Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minorität oder Übergewicht sind ebenfalls Risikofaktoren. – Der typische Mobber (»Bully«) versucht, über die Demonstration seiner Stärke eigene Schwächen zu überspielen. Gegenüber Gleichaltrigen und Erwachsenen verhält er sich eher aggressiv. Er tritt impulsiv auf, zeigt wenig soziale Fertigkeiten und wenig Mitgefühl. Meistens ist er durchschnittlich oder weniger beliebt, in der Regel aber beliebter als sein Opfer. – In der Mobbing-Situation gibt es ein Ungleichgewicht im Stärkeverhältnis zwischen Mobber und Opfer. Das Opfer nutzt zu wenig denkbare Verteidigungsmöglichkeiten, wehrt sich nicht ausreichend, sieht sich nicht in der Lage, die Situation zu beenden. Gruppen, von denen

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Mobbing ausgeht, haben meist dominante Mitglieder, die den Mobbing-Prozess wesentlich mitbestimmen und die Gruppe stimulieren. – Der Umgang mit Mobbing muss von den Lehrkräften eingeübt werden. Ungünstige Vorgehensweisen wie Wegsehen oder unüberlegtes Eingreifen haben manchmal zur Folge, dass die Opfer weiter oder noch stärker ausgegrenzt oder gar bestraft werden. Scham und Angst vor weiteren Repressalien veranlassen oft die Opfer zu schweigen, statt sich Hilfe zu holen. – Kommt es dann früher oder später doch heraus, ohne dass weitere Mobbing-Handlungen wirksam bekämpft werden, stellt sich irgendwann die Frage eines Klassen- oder Schulwechsel als Versuch eines Auswegs für das Opfer. Muss der Täter die Klasse oder Schule verlassen, kann es zuweilen passieren, dass er im außerschulischen Rahmen das Opfer weiter unter Druck setzt oder in seinem Auftrag in der Klasse verbliebene Mitschüler weitermachen. Bei Tätern wird oft ein familiäres Beziehungsmuster beobachtet, das durch Vernachlässigung (wenig Elternengagement, elterliche Wärme, Familienzusammenhalt) und Gewalterfahrungen (Prügeln, inkonsistente Bestrafung, Bullying/Viktimisierung durch Geschwister und Vater und deren Tolerierung durch die Mutter) geprägt ist.

iEntstörungeni Schulverweigerung spielt sich ab vor dem Hintergrund einer allgemeinen gesetzlich bestimmten Schulpflicht, um deren Durchsetzung täglich gekämpft wird: Ohne Schulpflicht gäbe es keine Schulverweigerung. Hier ist deshalb in therapeutischen Kontexten eine Lösungsneutralität hilfreich: Therapeuten müssen, anders als Rektoren, Eltern oder Jugendamtsmitarbeiter, auf der einen Seite ihrer therapeutischen Haltung auch das Fernbleiben von der Schule für eine grundsätzlich honorige und sinnvolle Verhaltensweise halten können – genauso wie das Hingehen. Andererseits dürfen sie nicht das Risiko einer langfristig negativen Entwicklung für das Kind oder den Jugendlichen außer Acht lassen und durch eine einseitig akzeptierende Grundhaltung zum Fernbleiben von der Schule einer Chronifizierung Vorschub leisten.

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Die grundsätzliche Problem-, Ideen- und Personenneutralität der Therapeutin in diesen Situationen ist auch eine Grundvoraussetzung, um die bereits erwähnten Inter-System-Probleme im Kontext Schule anzugehen. Dabei ist die Beziehungsachse zwischen Eltern und Lehrern als die wichtigste Achse anzusehen, um die herum sich eine Lösung organisieren kann. Ihre Kooperation kann zum Schlüssel für die Stärkung der Autorität der jeweils anderen Seite bilden – ihre Nicht-Kooperation kann diese durch gegenseitige Entfremdung schwächen (Omer u. von Schlippe 2004, S. 162ff.). Eine besonders schwierige Lage ergibt sich, wenn beide Parteien aufhören, miteinander zu reden oder gar gegeneinander arbeiten. Hier bieten sich Varianten des »Family and Larger Systems-Interviews« (Imber-Black 1992) oder der Familien-Helfer-Konferenz (Schweitzer 1987; von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 244) in einer für schulische Kontexte angemessenen Form an. Aponte (1976), damals ein Mitarbeiter von Minuchin in Philadelphia, hat als gutes Format für nicht-schulische Professionelle (z. B. Erziehungsberater oder kinderpsychiatrische Dienste) ein Familie-Schul-Interview beschrieben. Wenn die Schule ein Kind in die Klinik überweist und die Familie kein Problem mit dem Kind zu Hause sieht, wird nach dem Telefonat mit der Mutter, dem Beratungslehrer und eventuell dem Schulleiter ein gemeinsames Erstgespräch an der Schule gehalten. Anwesend sind das Kind, die Familie, der Klassenlehrer, der Beratungslehrer, der Schulleiter sowie ein bis zwei Therapeuten. Das Interview wird »als ein Weg, um Lösungen zu finden, nicht um nach Gründen für Schwierigkeiten zu suchen«, benutzt (Anregungen dazu Hahn 2000). Es soll eine praktische Erfahrung werden, in der alle bemerken, wie sie selbst zu positiver Veränderung beitragen können. Der Therapeut sollte allen – insbesondere auch den Lehrerinnen und Lehrern – das Gefühl vermitteln, hier als wichtiger Ratgeber gefragt zu sein und nicht als weiterer therapiebedürftiger Patient. Das erste Gespräch findet in der Schule statt – da, wo das Problem auftritt. Die Therapeutin versucht zunächst, das Kind als Person mit Interessen und Fähigkeiten kennenzulernen, erst danach die Probleme. Die Familie wird gefragt, wie es mit diesem und den anderen Kindern zu Hause laufe; die Lehrer werden zu ihrem Verhältnis mit diesem Schüler befragt. So werden bald Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der familiären und der schulischen Situation deutlich; Lehrer und Familie ler-

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nen die jeweils andere Situation direkt und nicht nur aus den Beschreibungen des Schülers kennen. Schon am Ende des ersten Gesprächs werden Verabredungen darüber getroffen, was zu Hause, was in der Schule versucht werden soll und wie Lehrer und Eltern sich unterstützen. Ein Follow-up-Gespräch findet ungefähr 14 Tage später statt, um (auch kleinste) Fortschritte zu bemerken und zu würdigen und weitere Veränderungsideen zu entwickeln. Die Zahl dieser Gespräche hängt von der Beratungsdynamik ab, wird aber meist drei bis fünf Gespräche nicht überschreiten. Rein innerfamiliäre Angelegenheiten werden in diesen Gesprächen in der Schule nicht zum Thema, sondern bleiben eventuellen zusätzlichen Familiengesprächen vorbehalten. Das Ermöglichen von Kooperationen ist ein wesentliches systemisches Werkzeug. Darüber hinaus erfordern die beschriebenen Formen von Schulverweigerung jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in der systemischen Therapie. Interventionen bei Schulangst und Schulphobie Eine frühzeitige, mehrdimensionale Vorgehensweise zur Stabilisierung des Schulbesuchs ist zu empfehlen (vgl. zusammenfassend dazu Jeck 2003). Bei der Schulphobie spiegeln kindliche Trennungsängste oft Ängste vor dem Verlust des im familiären Kontext funktionierenden, aber im schulischen Kontext bedrohten Selbstwertes dar. Selbstwertängste des Kindes und seiner Eltern können eng verflochten sein, daher sind auch die elterlichen Ängste oft ein Thema. Die Unabhängigkeit und Autonomie der Familienmitglieder unter Respektierung der gegenseitigen Abhängigkeitswünsche zu fördern, ist bei Schulphobie häufig ein Schlüssel zum Erfolg. Dies soll anhand eines ausführlichen Fallbeispiels geschildert werden (Schweitzer u. Ochs 2002). Auf Empfehlung einer Kinderärztin des Gesundheitsamtes wird ein siebenjähriges Mädchen angemeldet, sie verweigere seit mehreren Monaten den Besuch der ersten Grundschulklasse. Um den großen Druck auch seitens der Schule erst einmal herauszunehmen, sei sie zunächst krankgeschrieben worden, nun werde familientherapeutische Hilfe gesucht. Erstgespräch (knapp zwei Monate vor Ende des ersten Schuljahres): Bei Einschulung vor zehn Monaten sei die Mutter zunächst zwei Tage lang mit Maria in der Schule geblieben. Maria habe große Angst vor den vielen Kindern und den Pausen gehabt. Danach habe sie fünf Wochen lang den Unterricht stehend über sich ergehen lassen. Morgens vor Schulbeginn habe sie oft erbrochen. Seit Ostern sei sie gar nicht mehr hingegangen.

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Lehrerin und Schulärztin hätten erst einmal empfohlen, zu Hause zu bleiben. Als ein erneuter Beschulungsversuch nach den Pfingstferien scheiterte, kam die Idee zur Familientherapie auf. Familiengeschichte: Die Mutter, früher beruflich sehr aktiv, blieb seit Geburt des zwei Jahre älteren Bruders Sebastian vollständig zu Hause. Keines der Kinder wollte und musste den Kindergarten besuchen. Der Vater arbeitet in räumlicher Nähe, kann per Handy jederzeit herbeigerufen werden, auch in Marias Schule. Beide Eltern zeigen sich deprimiert, halten ihr Problem für »sehr tief« und sind voller Schuldgefühle. Offensichtlich hätten sie Maria zu stark behütet, vielleicht unbewusst nicht gehen lassen wollen, deshalb jetzt dieser Druck. Die Mutter hat aus diesem Grund jetzt eine tiefenpsychologische Einzeltherapie begonnen. All dies ist aber sehr ambivalent. Der Vater klingt zugleich stolz, wenn er seine unbegrenzte Verfügbarkeit berichtet. Die Mutter klingt zugleich ärgerlich darüber, dass die Schule überhaupt all diesen Druck macht. Im Schlusskommentar sprechen wir einige Dynamiken bewusst sehr klar an: dass wir Therapeuten uns über den teilweisen »Bewährungsauflage«-Charakter dieser Therapie bewusst sind; dass die Idee, sie hätten ein »sehr tiefes« Problem, vielleicht seiner Lösung entgegenstünde; dass für Maria die Vorteile des Zuhausebleibens derzeit dessen Nachteile offensichtlich überwiegen. Wir empfehlen einige sehr vorsichtige Variationen der Gestaltung der Vormittage, wenn Maria zu Hause ist. Zweites Gespräch: Die Eltern haben kleine Veränderungen vorgenommen, woraufhin Maria jetzt erstmals wieder (selten) auch außerhalb des Hauses auf den Spielplatz geht und Verwandtenbesuche wieder möglich geworden sind. Wir bearbeiten die weiterhin sehr großen Ängste der Eltern mit einem Sprechchor. Wir fragen, was die Eltern zu sich selbst sagen müssten, um sich als Eltern noch hilfloser und schuldbeladener zu fühlen. Ihre Antworten werden auf einem Zettel notiert in eine Rangreihe gebracht. Die »schlimmsten« Sätze werden von einem Sprechchor intoniert, der aus beiden Kindern, dem jeweils anderen Elternteil und dem Therapeuten besteht. Der schlimmste Satz der Mutter heißt: »Ich habe alles falsch gemacht«. Der Satz des Vaters lautet »Ich bin schuld am Unglück meiner Familie«. Nachdem der Chor diese Sätze dumpf und drohend intoniert, regt sich bei beiden allmählich Widerstand und kommen alternative Sätze ins Bewusstsein. Bei der Mutter etwa nach fünfmaliger Wiederholung von »Ich habe alles falsch gemacht«: »Aber nicht alles!« Dieser neue, alternative Satz wird zunächst von beiden Kindern, schließlich nur noch von Marias glockenheller Mädchenstimme vorgetragen, alternativ zu den Bassstimmen von Vater und Therapeut mit »Ich habe alles falsch gemacht«. Dass gerade Maria als primärer Schuldgefühlserreger dieses »Aber nicht alles!« wie ein fröhlicher Engel singt, lässt bei der Mutter Rührungstränen über die Wangen fließen. Beim Vater passiert wenig später Ähnliches. Am Gesprächsende empfehlen wir den Eltern, zu träumen (Was würden wir tun, wenn die Kinder selbstständiger würden?), sich dann aber mit einem lauten »Pfui« dafür auf die Finger zu hauen. Maria empfehlen wir, gelegentlich so zu tun, als ob sie Bauchschmerzen habe, wenn keine da wären. Die Eltern, die derzeit das Selbstständigwerden übten, bräuchten für dieses Training kleine Herausforderungen. Maria freut sich über die Aufgabe. Drittes Gespräch: Maria hat sich mit einem Nachbarkind angefreundet. Beide Eltern erleben sich selbstbewusster. Ab Schuljahresbeginn wenige Tage später soll ein neuer Schulanfang gewagt werden. Die Eltern haben einen Plan dafür entwickelt, der sie maximal fordert: Der Vater will jeden Morgen um elf Uhr in der Schule nachschauen, wie es seinem Liebling geht. Maria bekommt ein Handy mit. Die Mutter wird an Vormittagen maximal eine halbe Stunde aus dem Haus gehen und ansonsten erreichbar sein, wenn etwas ist. Im Schlusskommentar berichten wir, uns nicht sicher zu sein, ob die Eltern einen problemlosen regelmäßigen Schulbesuch von Maria jetzt schon verkraften wür-

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den. Maria solle daher in der ersten Zeit wenigstens einmal pro Woche einen Elternteil mit Weinen, Bauchschmerzen oder Ähnlichem in die Schule zitieren und zu Hause davon berichten, was in der Schule alles unangenehm sei – gerade auch dann, wenn es ihr dort gefalle. Bruder Sebastian solle sie interviewen, wie sie das gemacht habe und den Therapeuten das Interview vor der nächsten Sitzung zuschicken. Die Kinder reagieren interessiert, die Eltern verdutzt. Viertes Gespräch: Die Eltern berichten, dass Maria seit Schulbeginn ohne Fehltag zur Schule gegangen und kein einziges Mal vorzeitig nach Hause gekommen sei. Alle sind froh darüber. Die Eltern haben aber weitere Anliegen: die jederzeit möglichen Rückschläge zu vermeiden und zu wissen, wie denn Bauchschmerzen und Erbrechen psychosomatisch ausgelöst werden könnem. Die Therapeuten wollen die Eltern jetzt gern zu einem reinen Elterngespräch einladen. Dies geht aber nicht – Maria würde es nicht zulassen. Zur Klärung dieser Fragen machen wir zwei Familienskulpturen. Die erste vergleicht Ist-Zustand und Wunsch-Zustand. Dabei zeigen sich die Eltern uneinig, ob sie die Kinder lieber zwischen ihnen beiden (Mutter) oder neben ihnen beiden (Vater) stehen sehen würden. Zur Frage, ob und wie Maria mit Sebastian ohne die Eltern allein zu Hause bleiben könnten, geht ein Therapeut mit den Kindern aus dem Therapiezimmer hinaus auf eine »Reise nach Amerika« durch das Institutsgebäude. Bei der Rückkehr erklärt der Vater, dies sei gefühlsmäßig soeben »ein Riesenschritt« gewesen. Im Schlusskommentar wird das Bauchweh als ein Bindemittel für die Beziehung von Mutter und Maria gelobt, das zuweilen aggressiv-untröstbare Verhalten Marias als Freiheitszeichen eines eigenen inneren Bereichs, in dem sie nicht getröstet, umkümmert und besänftigt werden wolle. Ferner empfehlen wir dem Vater und Sebastian, zu Hause einen Thron mit Treppchen zu bauen. Den solle »Königin Maria« jeden Morgen mit gespielter Übelkeit vor der Schule kurz besteigen. Die Muter solle vor sie treten und zu ihr sagen: »Liebe Maria, wie viel Minuten Freizeit gibst du mir heute?«, Maria solle mit sparsamer Gestik »Eine Minute« antworten, die Mutter darauf wieder mit »Jawohl!«. Fünftes Gespräch: Der Schulbesuch hat sich gut stabilisiert, aber die Abhängigkeit der Eltern ist geblieben und auch für die Zukunft fest eingeplant. Bis die Eltern einen Abend gemeinsam weggehen würden und die Kinder (in der Obhut eines Babysitters) zu Hause lassen könnten, würden nach ihrer Schätzung weitere drei Jahre vergehen; bis zu einem gemeinsamen Wochenende andernorts weitere fünf Jahre. Wir teilen mit den Eltern unsere Überlegung, ob denn die Eltern mit etwas Leben ohne Kinder überhaupt etwas anfangen könnten? Dies ruft den Vater auf den Plan, der mit seiner Frau einmal einen hohen Berg besteigen möchte, sie aber nicht mit ihm, er wiederum nicht ohne sie. Die Therapeuten bemerken – und teilen dies auch mit – dass sie offensichtlich gerade die Eltern offensichtlich in eine Loslösung drängen, die die Familie aber gar nicht sucht. Sechstes Gespräch: Die Mutter kommt allein, damit zugleich elterliche Fragen besprochen werden kann, Maria und Sebastian aber familiär (vom Vater) versorgt sind. Alle seien mit jetziger Situation sehr zufrieden. Maria gehe fröhlich in die Schule, mache die Hausaufgaben selbstständig (es gebe Streit, wenn die Mutter helfen wolle). Sie habe jetzt viele Freundinnen, mit denen sie auch außerhalb des Hauses spiele. Wir erfahren jetzt Neues aus der Familiengeschichte, die den beeindruckenden Bindungsmodus verstehbarer macht. Die Mutter verlor ihre eigene Mutter mit vier Jahren durch Brustkrebs, mit 30 Jahren dann ihre »Ersatzmutter« durch Gehirntumor. Der Vater lebte zuvor zwölf Jahre in einer ersten Ehe, die mit dem Suizid seiner ersten Ehefrau endete. Dieser ersten Ehe entsprangen keine Kinder, wobei die Unfruchtbarkeit aufseiten des Mannes angenommen wurde, der dann bei der ersten Schwangerschaft seiner zweiten Frau völlig überrascht war. Der Selbstmord der ersten Frau ist ein Familiengeheimnis,

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von dem die Kinder nichts erfahren sollen. Am Ende empfehlen wir der Mutter, demnächst mit ihrem Mann ein eheliches Erntedankfest zu feiern: Die zweite Beziehung dauere jetzt schon so lang wie die erste, aber ohne Selbstmord und mit liebevoll aufgezogenen Kindern. Nach dem Erntedankfest sollten sie überlegen, ob sie jetzt »dasselbe oder ein etwas anderes Saatgut« für die nächsten zwölf Jahre aussäen wollten. Wir empfehlen, die Kinder über den Selbstmord der ersten Ehefrau aufzuklären. Eine Videokassette wird ihr für den Ehemann mitgegeben. Siebtes Gespräch: Das siebte und letzte Gespräch (knapp 16 Monate nach dem Erstgespräch) verläuft schwierig. Maria und Sebastian kommen zwar mit, verweigern aber jegliche Beteiligung. Maria geht jetzt seit mehr als einem Schuljahr ohne Fehltage zur Schule. Aber sie kontrolliert weiterhin, dass die Eltern nichts zu zweit ohne sie unternehmen. Als wir beiden Kindern eine Malrunde im Nachbarzimmer (mit einem Praktikanten) anbieten, geht Sebastian, Maria aber bleibt trotzig schweigend und zuhörend sitzen. Die Eltern haben beschlossen, diese Einschränkung hinzunehmen und darauf zu setzen, dass diese Zeit irgendwann einmal vorbeigehen werde. Sie meinen, man könne die Therapie nun beenden. Das Tabu aus dem sechsten Gespräch wird in dieser Situation nicht angesprochen. So beenden wir die Therapie früher und anders als wir eigentlich möchten. Im Schlusskommentar würdigen wir die gegenseitige Bereitschaft, sich den anderen zuliebe einzuschränken: Alle Familienmitglieder machen bereitwillig etwas, was sie eigentlich nicht wollen (Maria kommt trotz Langeweile zur Therapie mit, die Eltern bleiben trotz gelegentlicher Ausgehwünsche zu Hause) – des familiären Zusammenhalts zuliebe.

Charakteristisch an dieser Fallgeschichte sind: – der Versuch, Neutralität zu wahren nicht nur zwischen den Menschen (Allparteilichkeit), sondern auch im Blick auf die Lösungsideen – hier: Schulbesuch versus Zuhausebleiben, Ablösung versus Bindung; – das Setting (wenige Sitzungen über hinreichend lange Zeit verteilt) und einige für die systemische Arbeitsweise charakteristische familientherapeutische Interventionen (insbesondere positive Umdeutungen, Experimente, Sprechchor-Technik, Familienskulptur); – die Erfahrung, dass der Auftrag unserer Klienten sich manchmal früher ändert als der therapeutische Veränderungsehrgeiz. Hier endete er beim Schulbesuch und schloss die Emanzipation der Eltern als Paar von ihrer Tochter nicht ein. – Charakteristisch für diese Familie (und nicht sehr typisch) war auch, dass die Fachleute im Umfeld (besonders Lehrerin und Schulärztin) schon eine derart gute Kooperation mit der Familie begründet hatten, dass wir uns hier auf eine reine Familientherapie beschränken konnten, ohne die Beziehung Familie – Schule sowie die Beziehung der Familie zu anderen professionellen Helfern bearbeiten zu müssen.

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Interventionen bei Schulschwänzen Das Nichtwollen des Kindes oder des Jugendlichen ist eingebettet in vielfältige Rückmeldungen von den Eltern, den Peers, den Lehrern und aus der eigenen Psyche des Kindes oder des Jugendlichen. Diese Rückmeldungen können oft zum Bestandteil von Teufelskreisen werden, die das schulische Vermeidungsverhalten positiv verstärken. Nachhaltige Veränderungen sind insofern am besten durch die Kombination von Programmen zur individuellen Therapie und Förderung mit Maßnahmen zur Beeinflussung familiärer und schulischer Kommunikationsabläufe und Strukturen zu erwarten (ESF-Programm 2006; auf Länderebene z. B. Schule und Betrieb 2005 – Programm zur Integration von Hauptschülern). Chronischen Schulschwänzern ist die Schule so egal, dass sie noch nicht einmal Angst vor ihr haben. Hier ist also zunächst davon auszugehen, dass das Kind/der Jugendliche das unerwünschte Verhalten mit sehr positiven Erfahrungen verbindet, es mag in der speziellen Situation und unter den von ihm/ihr wahrgenommenen Umstände das subjektiv »Beste« für ihn/sie sein. Hier kann es ein möglicher Zugang sein, zu fragen, auf welche andere Weise er oder sie diese positive Erfahrung herstellen kann, vielleicht eine, die »nicht so viel kostet« (Rotthaus u. Trapmann 2004). In Fällen, in denen eine dissoziale Entwicklung droht, kann es für die Beraterin zu einer Frage werden, wie sie das Verhältnis von Kontrolle und Angebot balanciert (Schweitzer 1987). In der Arbeit mit den Jugendlichen kann es dann hilfreich sein, die Prinzipien der Arbeit im Kontext Unfreiwilligkeit zu beachten, wie sie von Conen (1999, siehe auch Conen 2002) formuliert wurden. Hierzu gehört zum einen, die Kraft der Verweigerung als Ressource wahrzunehmen, durch die der Betroffene seine Identität und Unabhängigkeit gegenüber den Forderungen der Umwelt wahrt. Zum anderen kann ein Kontraktangebot mit der Form: »Wie kann ich dir helfen, mich so schnell wie möglich wieder loszuwerden?« helfen, dass man sich nicht im Machtkampf um die Symptomatik verfängt. Doch nicht nur den Schulschwänzern selbst ist Schule egal – oft auch deren Eltern. Schulschwänzen kann in besonderem Maß auf Beziehungskonflikte zwischen den Systemen Schule und Familie hinweisen. Deshalb ist hier möglicherweise Konfliktvermittlung und »interkulturelle Übersetzungsarbeit« zwischen Familie und Schule, gegebenenfalls

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auch weiteren Systemen angesagt: Wie kann die »unerlässliche Allianz« (Omer u. von Schlippe 2004, S. 163ff.) zwischen Eltern und Lehrern wieder hergestellt werden, vor allem: Wie können sie gegenseitig dazu beitragen, dass ihre Autorität nicht durch jeweils die andere Partei durch Entwertung und Schuldzuweisung geschwächt wird? Weitere Hinweise zu diesem Thema finden sich bei Pinquart und Masche (1999), Oelsner und Lehmkuhl (2002) sowie im Praxisforschungsprojekt »Coole Schule« (2005). Interventionen bei Mobbing Bei schulverweigerndem Verhalten aufgrund von Mobbing oder Gewalt durch Mitschüler oder aufgrund von Schwierigkeiten mit Lehrern ist gemeinsam mit Eltern und Pädagogen sorgfältig zu klären, ob eine Stärkung individueller und familiärer Bewältigungskompetenzen zum erfolgreichen Bleiben oder aber ob ein Schul- oder Klassenwechsel angebracht ist. Neben Einzel- und Familientherapie ist zusätzlich eine intensive Arbeit in der Schule erforderlich (Spitczok von Brisinski 2005b): – Festlegung und Publikation schulweit geltender Regeln, durch deren Einhaltung Gelegenheiten und Belohnungen für Bullying reduziert werden; – Lehrertraining zum Erkennen und Stoppen von Bullying; – Informationen und Diskussionen zum Thema im Unterricht; – individuelle Gespräche mit Tätern, Opfern und beider Eltern. Sind Mobbing-Probleme erkannt, reicht es in der Regel nicht, den Täter zu ermahnen oder einfach das Opfer aus der Schule zu nehmen: In beiden Fällen ist das Risiko hoch, dass sich das Mobbing mit einem anderen Opfer oder einem anderen Täter fortsetzt. Mobbing und wie es künftig verhindert werden kann, sollte daher Thema der betreffenden Klasse, eventuell der ganzen Schule werden. Für die Arbeit von Lehrern oder Therapeuten mit Opfern und/oder Tätern lassen sich einige Anregungen formulieren: – Es ist wichtig, bei Opfer und Täter(n) nach individuellen Stärken zu suchen, sie zu nutzen und dafür echte Wertschätzung und Bestätigung zu geben. Werden die Täter nicht nur kritisiert, sondern werden ihre Stärken (außer Mobben) anerkannt, kann es gelingen, dass auf

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das Ausgrenzen verzichtet wird. Wer sich selbst von anderen wertgeschätzt fühlt, muss nicht andere erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen. Ähnlich wie bei anderen Formen von Gewalttätigkeit (siehe das folgende Kapitel) sollte auch bei Mobbing und Bullying davon ausgegangen werden, dass sowohl innerhalb des Täters als auch innerhalb der Klasse viele verschiedene Stimmen existieren. Mit dieser Opposition im inneren Parlament des Täters und mit der Opposition in der Klasse gegen Mobbing gilt es, sich zu verbinden. In der Regel lehnen nicht alle Schüler einer Klasse den Außenseiter aktiv ab, es gibt Schüler, die sich zurück- oder heraushalten möchten. Möglicherweise lehnen sie sogar eher ab, was in der Klasse vor sich geht, fühlen sich aber nicht dafür verantwortlich oder nicht stark genug, dagegen etwas zu unternehmen. Es kann versucht werden, diese Schülergruppe dafür zu gewinnen, Kontakte zum Opfer aufzunehmen und es eventuell sogar vor Angriffen zu schützen. Weitere Maßnahmen sind die Entwicklung von sozialen Kompetenzen bei den Schülern in den Bereichen Kommunikation und Konfliktlösung, gegebenenfalls auch durch Peer-Mediation (Faller et al. 1996). Wichtig ist, auch in der Arbeit mit dem Opfer allein seine Eigenverantwortlichkeit zu fördern. Das Kind kann lernen, dass es einen Teil der Abläufe in seinem Umfeld mitbestimmen kann und dass nicht alles als unabwendbares Schicksal über es hereinbricht (Steigerung des Selbstwirksamkeitserlebens). So kann es zum Beispiel seinerseits versuchen, Rückhalt bei Verbündeten in der Klasse zu finden. Die meisten Schüler haben ein Gerechtigkeitsgefühl, an das man appellieren kann: »Man sollte sein Gegenüber so behandeln, wie man selbst gern behandelt werden möchte«.

Die »Familien-Erziehungs-Schule« Am »Marlborough Family Service« in London wurde eine »Familien-Erziehungs-Schule« eingerichtet, die eine enge Kooperation Schüler-Lehrer-Eltern-Berater mit einem Multifamiliengruppentherapie-Ansatz verknüpft (Asen et al. 2001, S. 49ff.). In diese werden schwer oder nicht mehr beschulbare Kinder aus 15 Londoner Regelschulen überwiesen. Dort nehmen sie gemeinsam mit mindestens einem Elternteil über eini-

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ge Wochen an einem regelmäßigen tagesklinischen Programm in Multifamiliengruppen teil. Die Mitarbeiterinnen sind Lehrerinnen mit zusätzlicher familientherapeutischer Ausbildung. Die entsendenden Schulen verpflichten sich vorab zur späteren Wiederaufnahme; von Anfang an muss das Kind zumindest einige Minuten pro Woche regelmäßig in seiner Klasse verbringen. Die Lehrer definieren zu Beginn sehr spezifisch, was das Kind tun muss, um wieder ganz am Unterricht teilzunehmen; diese Ziele werden als Items formuliert und der Lehrer (für die Zeit in der Schule) beziehungsweise die pädagogisch-therapeutischen Mitarbeiter der Family Education School (für die Zeit dort) schätzen jeden Tag auf einer Vier-Punkte Skala ein, inwieweit dem Kind dieses Verhalten gelungen ist. Die Lehrkräfte der Heimatschule übernehmen also von Beginn an eine starke planerische und diagnostische Mitverantwortung für die Zielsetzung und deren Gelingen. Inzwischen besuchen Kind und ein Elternteil (ein zweiter Elternteil in dem Ausmaß, in dem er/sie an der häuslichen Erziehung auch beteiligt ist) das tagesklinische Programm von 9.30 bis 16.30 Uhr. Dort finden Unterrichtseinheiten und Therapie-/Beratungssitzungen abwechselnd statt – vorwiegend in der großen Runde mit sechs bis acht Familien mit ähnlichen Problemen. Die anderen Kinder/Jugendlichen und Eltern – die solche Probleme bestens kennen – werden zu solidarischen Beratern. Die Aufenthaltsdauer im Programm kann zwischen zwei Wochen und einem Vierteljahr variieren. Für leichtere Fälle (Prävention) sowie für die Reintegration der Kinder aus der Family Education School unterhält der Marlborough Family Service in jeder der 15 Schulen einen Stützpunkt, an dem mindestens einen Tag pro Woche ein ähnliches Programm läuft wie im Beratungszentrum.

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Dissozialität, Delinquenz, Gewalt

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3.7. Dissozialität, Delinquenz, Gewalt – Regelverletzung als Gemeinschaftsleistung3332 iStörungsbilderi Als Störungen des Sozialverhaltens bezeichnet die ICD-10 im Kapitel F91 wiederholte und anhaltende dissoziale, aggressive und aufsässige Verhaltensweisen, die alle altersentsprechenden sozialen Erwartungen verletzten – also über gewöhnlichen kindischen Unfug oder jugendliche Aufmüpfigkeit hinausgehen und länger als sechs Monate bestehen (Blanz 2002). Leitsymptome sind ein deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten oder Tyrannisieren, ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche, Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder Tieren, erhebliche Zerstörungstätigkeit gegenüber Eigentum, Feuerlegen, Stehlen, häufiges Lügen, Schulschwänzen und Weglaufen von zu Hause. Bei erheblicher Ausprägung genügt jede einzelne dieser Verhaltensgruppen für die Diagnosestellung, nicht jedoch einzelne dissoziale Handlungen. Diese können in unterschiedlichen Varianten diagnostiziert werden: Tabelle 22: Störung des Sozialverhaltens F91 F91.0 F91.1 F91.2 F91.3 F91.8 F91.9

Störung des Sozialverhaltens auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten sonstige Störungen des Sozialverhaltens nicht näher bezeichnete Störungen des Sozialverhaltens

Eine Untergruppe stellen sexuell delinquente Verhaltensweisen dar (in der ICD-10 ist dafür keine eigene Kodierungsmöglichkeit vorgesehen). Dies sind alle sexuellen Handlungen an einem anderen Menschen, 33 Wir bedanken uns bei Dr. Ingo Spitczok von Brisinski, Viersen, für seine Mitarbeit an diesem Kapitel.

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die gegen den Willen dieses Menschen vorgenommen wird. Dazu zählen sexuelle Handlungen mit Körperkontakt bis zur Vergewaltigung, das Zeigen oder Herstellen pornografischer Fotos und Filme sowie exhibitionistisches Verhalten wie öffentlich präsentierte Selbstbefriedigung. Wenn Jugendliche solche Handlungen mit, an oder vor Kindern begehen, stellt dies immer delinquentes Verhalten dar: Sie verletzten das Selbstbestimmungsrecht des Kindes und setzen es einem erheblichen Traumatisierungs- und Entwicklungsrisiko aus – auch, wenn Kinder behaupten, dass sie die an ihnen begangenen sexuellen Handlungen gewollt hätten.

iBeziehungsmusteri Dissoziales, delinquentes und gewaltförmiges Verhalten Jugendlicher ist, weil es oft viele Menschen einbezieht und sehr öffentlich abläuft, mehr als andere Störungsbilder nur als Teil eines Kreislaufprozesses zwischen vielen Akteuren auf verschiedenen intrapsychischen, familiären, institutionellen und gesellschaftlichen Systemebenen sinnvoll verstehbar (Cirillo u. DiBlasio 1992). Neben den Jugendlichen, ihrer Peergruppe und ihrer Familie wirken an diesem Kreislaufprozess auch professionelle Institutionen wie etwa Schule, Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie sowie politisch-gesellschaftliche Akteure wie etwa Medien, Verwaltungsplaner und sozialpolitische Gesetzgebung mit. Über 90 % der jugendlichen Wiederholungstäter haben bereits im mittleren Kindesalter Störungen des Sozialverhaltens gezeigt. »Gravierendes kriminelles Verhalten entsteht nicht aus dem Nichts, sondern entwickelt sich über einen längeren Zeitraum« (Rotthaus u. Trapmann 2004, S. 103). Die Familien dissozialer, delinquenter oder gewaltbereiter Jugendlicher kämpfen oft mit erheblicher Ressourcenknappheit (Rotthaus u. Trapmann 2004). Viele Eltern erziehen allein ohne Partner, oft mit wenig oder keiner Unterstützung durch Großeltern, Verwandte, Nachbarn, Freunde. Sie sind durch eigene Sorgen – zum Beispiel Armut, schlechte Wohnbedingungen, berufliche Schwierigkeiten, Partnerkonflikte, chronische Krankheiten, erlittene Traumata – so absorbiert, dass ihnen wenig Luft zum Erziehen bleibt. Meist haben sie zuwenig Geld, um diese Knappheit durch angemietete Fremdkompetenz auszugleichen.

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Dissozialität, Delinquenz, Gewalt

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Manche hingegen haben genug Geld, aber der Karriere zuliebe zuwenig Zeit. Dieser Ressourcenmangel verschärft sich durch schwierige Beziehungskonstellationen, die die Autorität der Eltern gegenüber ihren Kindern untergraben, dies können vielfältige Formen des Boykotts der elterlichen Autorität sein (entweder der Eltern untereinander oder in der erweiterten Familie). Wahler und Sansbury (1992) sehen in der Vereinsamung und Isolation der Eltern, vor allem der isolierten Mutter ohne jede Unterstützung, den wesentlichen Faktor, der dazu führt, dass das Monitoring des Kindes verloren geht. Dieses ist einer der wesentlichen Faktoren, der mit Delinquenz einhergeht: Schon wenn das Kind nur weiß, dass seine Eltern wissen, wo es ist, reduziert dies die Bereitschaft zu gewalttätigen und delinquenten Handlungen. Dies verweist auf die Bedeutung der elterlichen Präsenz (Omer u. von Schlippe 2004). Ressourcenmangel und Boykott bringen Eltern in eine Situation beständiger Überforderung und zunehmender Hilflosigkeit (Pleyer 2003). Schon seit der Pionierstudie über amerikanische Slumfamilien von Minuchin et al. (1967) haben wir ein sehr plausibles Modell dafür, wie sich in solchen Situationen über die Zeit in der Familie ein ausgeprägtes Schwanken zwischen starker Bindung (Symbiose, Verstrickung, übermäßige Kontrolle) einerseits und starker Ausstoßung (Desinteresse, Vernachlässigung, zu wenig Kontrolle) entwickelt. Minuchin et al. nannten dies den »Enmeshment-Disengagement-Cycle«. Im Deutschen lässt sich dies ohne große Bedeutungsveränderung unter Verwendung zweier von Stierlin geprägter Begriffe als Bindungs-Ausstoßungs-Zyklus übersetzen. Die Eltern greifen in der Phase starker Bindung ständig regulierend ein, überfordern sich damit und geben irgendwann erschöpft auf. Sie misshandeln oder vernachlässigen die Kinder, treiben entweder die Kinder damit aus dem Haus oder aber verschwinden selbst physisch oder psychisch von der Bildfläche. In diesem Augenblick tritt die öffentliche Jugendhilfe auf den Plan und diagnostiziert einen familiären Kompetenzmangel. In früheren Zeiten führte dies oft zum Entzug des elterlichen Sorgerechts und zur Unterbringung der Kinder in Erziehungsheimen. Aber oft, schon bald nach der Herausnahme der Kinder und nach einer Phase beidseitiger Erholung voneinander, wuchs bei Eltern wie Kindern die Sehnsucht nacheinander. Wurde dieser seitens des Jugendamtes oder seitens der Heimerziehung kein Raum gegeben, weil gute

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Abbildung 12: Der Bindungs-Ausstoßungs-Zyklus in Familien dissozialer Jugendlicher, angelehnt an Minuchin et al. 1967 (Schweitzer 1997, S. 218)

Heimerziehung als Rettung vor schädigenden Elterneinflüssen verstanden wurde, produzierten die Kinder im Heim oft so lange Krisen, bis sie disziplinarisch entlassen wurden, und zwar meist nach Hause. Rivalität zwischen Familie und Heim war endemisch, dissoziales Verhalten der Kinder deren Königsweg zurück nach Hause. Im Zeitalter zunehmender Elternarbeit sowie zeitlich befristeter stationärer Jugendhilfemaßnahmen wird diese Dynamik seltener, was möglicherweise auch die Wahrscheinlichkeit des oben beschriebenen Bindungs-Ausstoßungs-Zyklus verringert (Schweitzer 1987). Beziehungserfahrungen Frühe Ausstoßungserfahrungen sind traumatische Trennungserfahrungen. Kinder und Jugendliche reagieren darauf oft mit einem soliden Bindungsmisstrauen gegenüber späteren Angeboten stabiler, glücklicher

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Beziehungen. Bevor sie noch einmal so enttäuscht werden wie früher, überprüfen sie neue Beziehungsangebote von Eltern, Adoptiv- oder Pflegeeltern, Heimerziehern und Psychotherapeuten mit gründlichen Härtetests, denen diese oft nicht standhalten. Die 14-jährige Sabine war wegen Diebstählen, Alkohol- und Schulproblemen und dauerndem unerlaubten Weglaufen aus einem Mädchenheim für mehrere Monate in jugendpsychiatrischer Behandlung. Diese Behandlung läuft stationär, in der Familientherapie und in der Beratung des Heimes sowie des Klassenlehrers scheinbar mustergültig; am Ende werden eine Wiederaufnahme ins Heim und häufige Besuche bei Vater und Stiefmutter vereinbart. Aber einen Tag vor der Entlassung, für alle Beteiligten völlig überraschend, setzt sich Sabine aus der Klinik ab, just in den Rotlichtbezirk der Landeshauptstadt, woraufhin alle Vereinbarungen (zunächst einmal) in sich zusammenfallen.

Viele dissoziale Jugendliche erleben ihre Eltern zudem als Verlierer (»looser«), besonders oft die Söhne ihre Väter. Häufig pflastern sie später ihre eigene berufliche oder private Laufbahn mit Erlebnissen des Scheiterns und zeigen sich darin den Vätern loyal. Loyal zeigen sie sich oft auch darin, dass sie den Eltern gegenüber, die sie hinausgeworfen haben, selbst präventiv Abstand einhalten – dass sie oft sehr sensibel spüren, wie viel sie den Eltern zumuten können. Der 15-jährige Sebastian kam nach drei Jahren Heimerziehung wieder in seine Heimatstadt in eine sozialpädagogische Wohngruppe. Seine Mutter hatte inzwischen neu geheiratet und mit dem Stiefvater Zwillinge bekommen. Sebastians Zielvorstellung war, mittags nach der Schule zunächst zu Mutter zu gehen, bei ihr zu essen und sich mit ihr um die kleinen Halbgeschwister zu kümmern, um dann gegen 16 Uhr, wenn der Stiefvater nach Hause kam, für den Rest des Tages in die sozialpädagogische Wohngruppe zu gehen. Leider führte diese Idee zu heftigen Konflikten mit der Wohngruppe, da er dort als vollstationäres Mitglied gemeldet war, wozu bestimmungsgemäß die Teilnahme am dortigen Geschehen ab mittags 13.30 Uhr gehörte.

Institutionelle Beziehungsmuster In und zwischen Facheinrichtungen für Jugendliche wie Schulen, Kinderheimen, Jugendämtern und Jugendpsychiatrien ließen sich in Verlaufsstudien (Schweitzer 1987, 1989; siehe auch Collmann et al. 1993) einige Muster professioneller (Nicht-)Kooperation beobachten, die ergänzend zu den bereits angeführten familiären Prozessen die Dynamik dissozialer Karrieren ungewollt anheizen. Aufgrund aktiver »Spaltpilz«Aktionen des Jugendlichen, oft aber einfach aufgrund gegenseitiger institutioneller Unkenntnis und Rivalität sowie aufgrund gegensätzlicher Strategievorstellungen arbeiten die Institutionen im Kontakt mit dem Jugendlichen manchmal in entgegengesetzter Richtung. Häufiger ist,

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dass sie erschöpft den Fall an andere Einrichtungen weiter verweisen, aber dem Jugendlichen ihre Skepsis über deren Erfolgschancen mit auf den Weg geben. In der Heimerziehung oder der stationären Kinderpsychiatrie eignen sich hierfür insbesondere Anfang und Ende von Wochenendbeurlaubungen. Eltern beobachten an den Wochenendbesuchen oft aufmerksam den Zustand der Wäsche, der Fingernägel und des Verhaltens der Jugendlichen am Freitagabend und schimpfen über die Mitarbeiter. Umgekehrt diagnostizieren diese gewohnheitsmäßig am Montagmorgen, wie viel schlechter der psychische Zustand ihrer Schutzbefohlenen gegenüber Freitag geworden ist. Interventionseskalation Die Lautheit und Öffentlichkeit dissozialen Verhaltens erzwingt das rasche und intensive Eingreifen vieler Helfer. Wenn aber der Jugendliche oder seine Familie keine Hilfe will, lassen sich oft eskalierende Maßnahmen mit zunehmendem Zwangscharakter nach der Devise »Wir haben keinen Auftrag und wenig Chancen. Aber wir dürfen nicht nicht helfen« beobachten. So sagte bei einer Fallbesprechung über einen 16-Jährigen, der alle Behandlungsangebote ablehnte und »einfach in Ruhe gelassen werden« wollte, ein Jugendamtsleiter auf die Frage, ob man nicht vorübergehend dem Jugendlichen einmal nichts anbieten könnte: »Ich sehe auch, dass das alles nichts nützt. Aber bei einem 16-Jährigen können wir doch nicht einfach nichts tun. Ja, wenn der 18 wäre …« Macht spielt eine wichtige Rolle bei Interventionseskalationen und kann in stationären Settings sogar zu einem Teufelskreis mit hochfrequenten körperlichen Fixierungen führen: Der zwölfjährige Hans wurde wegen aggressiver Verhaltensstörung stationär kinderund jugendpsychiatrisch behandelt. Allmählich kam es auf der Station zu immer intensiveren aggressiven Übergriffen des Jungen mit der Folge, dass er immer häufiger fixiert werden musste. Das Personal fühlte sich immer häufiger von dem Jungen in die Fixierungssituation gedrängt, immer machtloser, immer mehr ausgeliefert. Der Junge schien dagegen zunehmend mächtiger zu werden, den Stationsalltag zu dominieren, obwohl er es war, der fixiert wurde. Personal und Patient waren mindestens in ebenbürtigem Ausmaß eingeschränkt in ihrer Autonomie.

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Der Mythos des Retters, der noch kommen wird In dissozialen Karrieren wird oft nach einem Retter gesucht, der noch nicht da ist, den man noch nicht kennt, der aber alles besser machen wird: ein besserer Vater, eine bessere Mutter, eine noch kompetentere Einrichtung, ein ganz neues Modellprojekt. Dieser Mythos vermag sowohl die definitive Übernahme langfristiger, belastender Verantwortung als auch die Trauer über irreversible traumatische Beziehungsentwicklungen zu vermeiden helfen. Er heizt aber die Spirale von Weglaufen und Weiterreichung an. Gesellschaftliche Dynamiken Einige gesellschaftliche Dynamiken, meist außerhalb des fachlichen Gesichtsfeldes von Psychotherapeuten und Pädagogen, tragen zu Dissozialität, Delinquenz und Brutalität bei (ausführlich hierzu am Beispiel Gewalt gegen Fremde; Schweitzer u. Herzog 1993). Auch zu diesen tragen konkrete Menschen mit konkreten Handlungen bei, aber die Verantwortung wird stark arbeitsteilig, relativ anonym und an weit entfernten Orten wahrgenommen. Solche gesellschaftlichen Prozesse erscheinen daher Klienten wie Fachleuten als vorgegeben und unbeeinflussbar und werden daher auch sowohl bei der Suche nach Schuldigen wie bei der Suche nach Lösungsansätzen nur selten in den Blick genommen. Verantwortung: Keiner will sie. Zur Schattenseite des von Systemtheoretikern wie Willke (1989) beschriebenen Prozesses zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung gehört, dass immer mehr Institutionen sich für immer kleinzelliger definierte Probleme zuständig erklären und für alle anderen nicht. Das führt besonders bei aggressiven Jugendlichen dazu, dass jede Instanz gern die Zuständigkeit an andere, angeblich zuständigere, abgeben möchte: die Schule an die Familie und die Familie an die Schule; die Polizei an die Sozialarbeit und die Sozialarbeit an die Polizei; die Jugendhilfe an die Jugendpsychiatrie und die Jugendpsychiatrie an die Jugendhilfe. Dieses Problem wurde mittlerweile durch zahlreiche Runde Tische zwischen Polizei und Sozialpädagogik oder zwischen Sozialpädagogik und Kinder- und Jugendpsychiatrie angegangen.

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»Geplante« Desintegration Die Bielefelder Forschergruppe um Heitmeyer (z. B. Heitmeyer u. Soeffner 2002) hat auf die Bedeutung von Desintegration, das heißt der Auflösung sicherer und verlässlicher Lebenswelten, für Jugendgewalt hingewiesen. An solcher Desintegration wird in allen neoliberal orientierten Sozial- und Arbeitsmarkpolitiken mit familienpolitisch relevanten Entscheidungen in einer Weise gearbeitet, dass man dies für geplant halten könnte. Beispiele: Wenn in Industriegesellschaften, wo Arbeitsplatz und Wohnung weit voneinander entfernt liegen, Ladenschlusszeiten und Maschinenlaufzeiten an Abenden und Wochenenden drastisch verlängert werden, beschränkt dies die Möglichkeit für in Verkauf und Produktion tätige Eltern, sich um ihre Kinder in den Zeiten zu kümmern, in denen diese zu Hause anzutreffen wären. Wenn tägliche Anfahrtswege zum Arbeitsplatz von drei Stunden als zumutbar angesehen werden, verkürzt dies den Zeitrahmen für elterliche Präsenz weiter. Wenn die Industriegesellschaft durch ihren Rationalisierungsprozess für schwach qualifizierte Jugendliche keine Jobs mehr bereithält, bleiben diese aus einem Arbeitsleben draußen, das im Regelfall neben Familie und Schule als Integrationsfaktor wirken kann. Gewalt in den Medien Ob Gewaltpräsentation in den Medien, wie sie in Deutschland seit Einführung der privaten Fernsehprogramme stark zugenommen hat, im Sinne eines Imitationslernens gewaltsames Verhalten fördert, gegen dieses immunisiert oder ihm gar im Sinne einer Katharsis beim Zuschauen entgegenwirkt, ist unter Wissenschaftlern strittig. Offenbar werden mediale Gewaltvorbilder eher dann übernommen, wenn dies in den Alltagskontext des Zuschauers passt, er also zum Beispiel in einer sozialen Umgebung lebt, in der Gewalthandeln akzeptiert und gängig ist. Aber unabhängig von der Nachahmungsfrage fördert die kontinuierliche Gewaltpräsentation eine Gewöhnung an das Phänomen Gewalt, die als Teil unseres »Way of Life« vertrauter wird und dann weniger Empörung auslöst.

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Das Fehlen kultivierter Gewaltrituale Viele Kulturen halten besonders für männliche Jugendliche eine Reihe legitimer Gewaltrituale bereit, in denen physische Gewalt gegeneinander zugelassen und sogar ermuntert wird. Aber diese Gewaltrituale sind verbunden mit klaren Grenzen, an welchen Orten, gegen welche Art von Gegner, wie lange und bis zu welchem Verletzungsgrad die Gewalt ausgeübt werden darf. Die Novelle »Ökotopia« (Carlebach 1978) erzählt von einem fiktiven Land, das Armee und allgemeinen Waffengebrauch abgeschafft hat, dafür aber jährliche rituelle Kampfspiele veranstaltet, in denen die jungen Männer zwischen 18 und 30 Jahren so lange miteinander kämpfen, bis einer zu bluten beginnt – dann hört der Kampf auf und der Blutende wird intensiv und liebevoll gepflegt. In Westafrika sind martialische Ringkämpfe zwischen jungen Männern mancherorts Teil geselliger Sonntagsveranstaltungen mit Tanz, Trommeln und Besucherehrungen. In Industriegesellschaften werden solche Rituale entmutigt und erschwert, die Jugendlichen erfinden sie aber dennoch immer wieder aufs Neue. Fußballhooligans prügeln sich rund um die Stadien, Skinheads jagen Punks und umgekehrt. Dies geschieht manchmal auch in ritualisierter Form. Da aber legitimierte Rituale fehlen, werden dabei wesentliche Spielregeln traditioneller Kampfrituale (z. B. »Keine Unbeteiligten!«, »Keine unerlaubten Waffen!«, »Aufhören, wenn der Gegner am Boden liegt!«) nicht eingehalten. Das Fehlen kultivierter Gewaltrituale fördert die Entstehung brutalerer und weniger begrenzter Gewaltrituale.

iEntstörungeni In der Auftrags- und Ressourcenklärung ist zunächst zu untersuchen, wer alles an dem Problem beteiligt ist, dabei welche Interessen verfolgt und was er/sie zur Lösung des Problems beitragen kann. Je nachdem werden verschiedene Akteure zu jeweils demjenigen kooperationsfördernden Setting gegenseitiger Beratung eingeladen, das die produktivste Problemanalyse und Erzeugung von Lösungsideen verspricht (Schweitzer 2001). Dabei sollte versucht werden, auch in sehr angespannten und aufgeheizten Situationen systemtherapeutische Grundhaltungen wie positive Konnotation, Respekt vor der Selbstorganisation anderer Sys-

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teme und systemische Selbstreflexion durchzuhalten. Abbildung 13 verdeutlicht eine mögliche Abfolge systemischer Diagnostik und Beratung bei Dissozialität, Delinquenz und Gewalt. Sie zeigt vor allem die Breite dazu verfügbarer Settings auf. Nach einer oft schon im Vorfeld erfolgten (telefonischen) Auftragsklärung mit einem Überweiser mit den Leitfragen – Wer ist am Erzeugen und am Erleiden des Problems beteiligt?, Wer hat wie viel Leidensdruck?, Wer kann und wer will zur Lösung des Problems beitragen? – zeigt sich häufig eine der beiden folgenden Konstellationen: a) Die Familie des dissozialen Jugendlichen leidet am Problem: Dies ist eine günstige Indikation für die klassische Familientherapie oder -beratung – egal, ob die Familie sich eher als Kunde versteht und am eigenen Verhalten etwas ändern will oder eher als ein Klagender, der an der Situation zwar leidet, aber zu Beginn noch keine eigenen Einflussmöglichkeiten sieht. In dieser Konstellation kann man zunächst mit der Familie allein auf die Suche nach Lösungsideen gehen und andere (Großeltern, Freunde und Nachbarn der Familie, Freunde des Jugendlichen, Lehrer und Rektoren, andere psychosoziale Fachleute) zu einem der folgenden Gespräche einladen, wenn man denkt, sie könnten zur Lösung der Probleme vielleicht beitragen. b) Andere leiden am Problem: Diese Konstellation ist bei psychotherapeutisch orientierten Fachkräften wesentlich unpopulärer. Die, die da sitzen (der Jugendliche und seine Familie), berichten, zumindest nicht das Problem zu haben, weswegen sie kommen sollten – die hingegen, die das Problem offensichtlich haben (die Nachbarn, die Schule, das Jugendamt), sind nicht da. Hier sollte man als Erstgespräch zu einem Runden Tisch aller vom Problem Betroffenen einladen. Je nach dessen Ergebnissen wird es sehr unterschiedlich weitergehen: vielleicht mit Familientherapie/-beratung, vielleicht mit einer Beratung der Lehrerin oder einer Versetzung des Schülers, vielleicht mit einer Beratung von Lehrerin und Eltern mit dem Ziel, besser an einem Strang zu ziehen. Im Sinne einer kundenorientierten Arbeitsweise (Schweitzer 1995) gilt es, von den real nutzbaren Aufträgen und Lösungsmotivationen auszugehen – und die kommen bei Dissozialität, Delinquenz und Gewalt anfangs meist häufiger von Schule und anderen Fachdiensten als vom Jugendlichen und seiner Familie.

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Abbildung 13: Settingwahl der systemischen Beratung bei Dissozialität, Delinquenz und Gewalt (Schweitzer 1997, S. 223)

Seitdem die dauerhafte Ersatzerziehung schwieriger Jugendlicher aus der Mode gekommen ist, wird die Suche nach ungewöhnlichen Ressourcen wichtiger: Kann die Mutter manches vielleicht doch besser als alle von ihr denken? Können geschiedene Väter, Großeltern, Geschwister, Verwandte, Nachbarn, Freunde an Erziehungsaufgaben beteiligt werden? Wo könnte die Jugendfeuerwehrgruppe oder der Fußballclub Teilfunktionen einer sozialpädagogisch geleiteten Gruppenarbeit übernehmen? Dies verlangt von systemischen Beratern, sich über die privaten und institutionellen Netzwerke ihrer Klienten kundig zu machen und manchmal diese in bislang ungewohnten Konstellationen zu gemeinsamen Gesprächen zusammenzuführen. Das können große Netzwerksitzungen unter Einschluss von Verwandten, Nachbarn, Mitschülern, Arbeitskollegen sein. Häufiger aber wird man überschaubarere Familien-HelferKonferenzen und speziell Familie-Schule-Konferenzen bevorzugen (vgl. Abschnitt 3.6). In der Jugendhilfe werden in Hilfeplangesprächen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) sowie in FallmanagementTeams von Jugendämtern, die mit Mitarbeitern aus bislang sehr unver-

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bunden arbeitenden traditionellen Jugendamts-Ressorts besetzt sind (Schweitzer et al. 1999), solche Ressourcen gesucht. Kennzeichen all dieser Formen ist, dass Fachleute und Betroffene gemeinsam konferieren, sich also gemeinsam als Teil des Problems und Teil einer möglichen Lösung definieren. Dabei verlangt es Vorbereitung und Fingerspitzengefühl, damit deklassierte und furchtsame Eltern im Dialog mit den Fachleuten ihre Befürchtungen und Wünsche offen artikulieren können. Solche zunächst in der Fallarbeit entwickelten neuen Kooperationsformen werden inzwischen auch auf der Ebene der Organisationsstrukturen erprobt. Eltern werden in die Lösung schulischer Probleme direkter einbezogen. Die Jugendhilfe kooperiert über die Schnittstelle Schulsozialarbeit direkter mit den Schulen. Stationäre und ambulante Jugendhilfeeinrichtungen fusionieren auf Gemeinde- oder Stadtteilebene zu Jugendhilfezentren, die sowohl ambulant wie stationär arbeiten. Diese Kooperationsformen sind teilweise unangenehm beschleunigt durch die Spartendenzen der öffentlichen Haushalte, manche durch bürokratische Regularien weniger fruchtbar als sie sein könnten – aber sie markieren dennoch einen Kooperationszuwachs, der vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen wäre. Einige nützliche Haltungen und Praktiken Einige Haltungen und Praktiken bewähren sich bei dissozialen, delinquenten und gewaltbereiten Jugendlichen in besonderer Weise: 1. Wertschätzende Anerkennung der Intentionen (nicht der Folgen) misstrauischer, destruktiver und chaotischer Verhaltensmuster: Jugendlichen in Psychotherapie wird zugestanden, dass es sinnvoll sein wird, die Therapeutin abzuchecken und zu testen, ihr zu misstrauen, sich auf ihre Angebote vorläufig nicht einzulassen. In Familientherapien wird daher stets danach gefragt, wer am skeptischsten bezüglich der Therapie war (häufig die Jugendlichen), was ihre schwärzesten Befürchtungen sind und was geschehen müsste, damit es in dieser Therapie noch schlimmer wird als zuvor ausgemalt. Eltern und Kindern, die sich nach einer Heimerziehungsphase wieder aneinander gewöhnen wollen, kann empfohlen werden, zunächst all ihr gegenseitiges Misstrauen hervorzuholen, einander skeptisch zu testen und vorzeitige Versöhnungseuphorie zu vermeiden. Erst wenn dieses Misstrauen, mit Verweis auf frühere Erfah-

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rungen positiv konnotiert, seinen berechtigten Platz in der Beziehung zuerkannt bekommen hat, wenn es als sinnvolle und jederzeit wiederbelebbare Defensivstrategie akzeptiert worden ist, werden die Beteiligten allmählich manchmal darauf verzichten können. 2. Einplanen, dass sich nichts einplanen lässt: Systemisch orientierte Jugendhilfe-Einrichtungen rechnen mit dem Bindungs-Ausstoßungs-Zyklus. Das bedeutet: Zeitweise werden sie mehr und zeitweise weniger benötigt, spiegelbildlich zu den familiären Prozessen. Sie richten sich darauf ein, bei vielen Jugendlichen vielleicht mehrmals, aber nicht unbedingt langfristig aktiv werden zu müssen. Sie verstehen sich als periodisch benötigte Zuarbeiter der Eltern, nicht als deren langfristiger Ersatz. Soweit sie sich auf diese Herausforderung einlassen, erfordert dies aber erhöhte institutionelle Flexibilität. 3. Sich selbst qualifiziert infrage stellen: Vielleicht wird im Prozess einer systemischen Diagnostik deutlich, dass im Kontext der Bemühungen aller anderen der eigene Einsatz eher kontraproduktiv wirkt, mehr zum Problem als zu einer Lösung beiträgt – zum Beispiel wenn viele das therapeutische Eingreifen skeptisch sehen, wenn es zum Entwerten bisheriger Helfer beitragen würde, wenn die ohnehin schon große Zahl gutmeinender Helfer sinnlos noch weiter vergrößert würde. Dann kann ein systemisch begründetes Nichtstun manchmal die Intervention der Wahl sein. Systemische Ansätze und medikamentöse Therapie Neben Neuroleptika kommen auch Methylphenidat-Präparate in Betracht, auch wenn zusätzlich keine hyperkinetische Störung vorliegt. Von zentraler Bedeutung ist, bestehende Kompetenzen des Patienten gemeinsam zu erkennen und zu benennen und die Intervention ausdrücklich auf weiteren Kompetenzzuwachs des Patienten auszurichten, statt Medikamente als Instrumente der Macht des Arztes, der Eltern oder der Erzieher zu interpretieren. Die Nützlichkeit für die Entfaltung von Eigenverantwortlichkeit des Kunden muss reflektiert und vermittelt werden. Ein 13-jähriger Junge befand sich wegen einer schweren Störung des Sozialverhaltens in stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung. Die Kombination von systemischer Psychotherapie und Verhaltenstherapie erbrachte zwar eine gewisse Bes-

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serung, trotzdem kam es wellenförmig mindestens einmal pro Woche zu derart starken aggressiven Durchbrüchen, dass sich das Stationsteam überfordert fühlte. Im Gespräch stellte sich heraus, dass sich das Selbstbild des Jungen durch diese Durchbrüche noch weiter verschlechtert hatte. Er fühlte sich als Versager, dass er sich nicht beherrschen konnte, immer wieder »auf Tempo 100« komme. Eine Entlassung oder eine Verlegung auf eine geschlossene Station hätte dieses negative Selbstbild noch weiter verstärkt. Die behandelnde Ärztin hatte die Idee, eine Medikation mit Thioridazin (Melleril®) zu beginnen. Wir griffen die Metapher des Patienten von Tempo 100 auf und erweiterten sie auf schnelle Limousinen, die eine elektronische Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit haben. Das Auto bleibt schnell, hat aber als Extra eine Begrenzung, die in der Öffentlichkeit nicht negativ besetzt ist. So ähnlich könnte nun vielleicht das Thioridazin hilfreich sein bei der Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit im aggressiven Durchbruch. Wichtig bleibt aber, dass der Junge Fahrer des Autos und seine Hilfe unentbehrlich ist bei der Abstimmung von Elektronik, Motor, Getriebe und Fahrwerk im Team. Nach jeder Veränderung der Abstimmung müssen Runden unter unterschiedlichen Bedingungen gefahren werden, um zu beurteilen, ob sich eine Verbesserung ergeben hat. Zwischendurch sind Boxenstops nötig, damit sich Fahrer und Betreuungsteam austauschen können. Möglicherweise kann die Abstimmung von Motor, Getriebe und Fahrwerk mittelfristig soweit verfeinert werden, dass eine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit nicht mehr nötig ist. Der Junge hatte zwar auch weiterhin mit seinem Zorn zu kämpfen, er verlor jedoch nicht mehr die Kontrolle, es kam nicht mehr zu den problematischen aggressiven Durchbrüchen (Therapeut: Ingo Spitczok von Brisinski).

Oftmals ist eine medikamentöse Behandlung der Störung des Sozialverhaltens nach einiger Zeit nicht mehr nötig. Ist allen Beteiligten eine ressourcenorientierte Sicht auf die zurückliegende Phase der medikamentösen Behandlung möglich, kann dies dazu beitragen, bei erneutem Auftreten von Problemen, die (noch) nicht ohne medikamentöse Unterstützung ausreichend gelöst werden können, rechtzeitig erneut die Ressourcen der Pharmakotherapie zu nutzen. Die Multisystemische Therapie Während die bislang beschriebene Arbeitsweise wahrscheinlich für viele systemtherapeutisch orientierte kinderpsychiatrische und kinderpsychotherapeutische Praktiker und Institutionen charakteristisch sein dürfte, ist ihr Setting sicher nicht ausreichend, um schwer delinquente Jugendliche und deren soziales Umfeld nachhaltig zu beeinflussen. Hier erscheint uns die von Henggeler et al. entwickelte multisystemische Therapie (MST) mit ihrer in Therapie und Supervision weitaus dichteren und mit aufsuchender Arbeit und 24-Stunden-Krisendienst weitaus gemeindenäheren Arbeitsweise ein interessantes Modell. Wir kennen diese Arbeitsweise nicht persönlich, beschreiben sie entlang der Darstellung

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der Autoren in Swenson und Henggeler (2005). Eine ausführlichere Darstellung in englischer Sprache findet sich in Henggeler et al. 1998. MST geht davon aus, dass ein Kind immer von den unterschiedlichsten Systemebenen (Familie, Gleichaltrige, Schule, Nachbarschaft) zugleich beeinflusst wird. Die nächstliegenden Systeme (für das kleine Kind die Familie, für die Jugendlichen oft gleichermaßen die Peergruppe) üben größeren Einfluss aus als die entfernteren. Therapeuten sollten sich daher nicht als wesentliche Bezugspersonen des Jugendlichen verstehen, sondern deren soziales Feld beeinflussen. Die MST folgt neun »Prinzipien« – einige davon sind Allgemeingut aller systemischen Therapeuten, andere zeigen eine starke Handlungs- und Entwicklungsorientierung, sie fordern vor allem ein starkes Commitment aller Beteiligten ein: 1. Diagnostik soll primär den Zusammenhang zwischen präsentiertem Problem und breiterem systemischem Kontext verstehbar machen. 2. In therapeutischen Kontakten soll das Positive hervorgehoben werden, bei den systemischen Stärken der Veränderungshebel angesetzt werden. 3. Die Interventionen in der Familie sollen verantwortungsvolle Verhaltensweisen fördern, unverantwortliche verringern. 4. Die Interventionen sind handlungsorientiert, beziehen sich auf aktuelle und gut definierte Probleme. 5. Interventionen konzentrieren sich auf wiederkehrende Handlungsmuster, die die präsentierten Probleme aufrechterhalten. 6. Die Interventionen sind auf den Reifegrad und die Bedürfnisse des Jugendlichen abgestimmt. 7. Die Interventionen verlangen den Familienmitgliedern täglichen oder wöchentlichen Einsatz ab. 8. Der Behandlungserfolg wird beständig aus mehreren Perspektiven beurteilt. Es obliegt den professionellen Helfern, Hindernisse auf dem Weg zum Erfolg zu überwinden. 9. Die Familie soll die Interventionen breit anwenden können. Veränderungen sollen von Dauer sein und die Betreuungspersonen dazu befähigen, die verschiedenen Bedürfnisse der Familienmitglieder in ihren multiplen Systemen zu befriedigen.

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Interessant ist nun, wie diese allgemeinen Prinzipien in den therapeutisch aufsuchenden Diensten umgesetzt werden. Das Wichtigste scheint uns das Prinzip aufsuchender Therapie zu sein (ähnlich wie das Konzept von Conen 1999, 2002). Jeder Therapeut betreut drei bis sechs Familien je nach Bedarf zwei bis 15 Stunden pro Woche. Je drei bis vier Therapeuten arbeiten in Teams zusammen, sind zwar nur für »ihre« Fälle zuständig, aber auch mit den Familien der anderen Teammitglieder vertraut. Therapeutische Sitzungen werden täglich, zumindest mehrere Male pro Woche abgehalten, mit dem therapeutischen Fortschritt immer weniger. Die Behandlung dauert im Allgemeinen vier bis sieben Monate. Sie wird da durchgeführt, wo die Probleme bestehen: zu Hause, in der Familie, in der Schule oder in der Gemeinde. Die Termine werden an die Zeitsituation der Familien, insbesondere deren Arbeitsituation angepasst. Sieben Tage in der Woche steht rund um die Uhr ein Krisenrufdienst zur Verfügung. Es handelt sich also um ein in kurzer Zeit sehr intensives und hochdosiertes Behandlungsprogramm. Der intensiven Therapie entspricht eine ebenso intensive Supervision: wöchentlich zwei bis vier Stunden Supervision für jeden Therapeuten, die aus Gesprächen, Videosupervision oder auch Begleitung zu den aufsuchenden Familiengesprächen bestehen kann. Sehr ausgefeilt sind die Formen der Manualisierung, des Trainings und der ständigen Qualitätssicherung. Die Behandlung ist in Richtlinien relativ genau beschrieben (Henggeler et al. 1998). Die Therapeuten absolvieren ein einwöchiges Orientierungstraining mit Rollenspielen und Gruppenübungen. Vierteljährig gibt es ein Auffrischungstraining, bei dem auch einzelne Behandlungsmethoden vertieft geübt werden. Die Eltern und anderen Betreuungspersonen beurteilen auf einem validierten Messinstrument regelmäßig, ob sich der Therapeut an die MSTBehandlungsprotokolle hält. In klinischen Studien wird zudem anhand von Videobändern die Einhaltung der neun Grundprinzipien überprüft. Mit dieser Art, ihre Behandlungsprogramme zu strukturieren, sind Henggeler et al. zwei im Bereich von Dissozialität bislang eher seltene Erfolge geglückt. Zunächst konnten sie in neun randomisierten Studien beeindruckende Behandlungserfolge nachweisen: 25 bis 70 % weniger Verhaftungen der Jugendlichen, weniger Drogenmissbrauch, häufigerer Schulbesuch, bessere familiäre Beziehungen. Es gelang ihnen, in 97 bis

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98 % der Fälle die begonnen Behandlungen auch zu Ende zu führen (außerordentlich hoch bei einer klassischen »drop-out«-Population) und Fremdunterbringungen um ungefähr 50 % zu verkürzen. Das Modell ist zwar sehr personalintensiv. Jeder Therapeut hat aber sein Gehalt »eingespielt«, wenn ihm die Vermeidung von nur drei Heimunterbringungen gelingt. Der zweite Erfolg liegt darin, dass dieses Programm gut exportierbar ist und bereits in 30 US-Bundesstaaten und acht anderen Ländern der Welt unter Aufsicht seiner Entwickler eingesetzt wird (Stand 2004). Systemisches Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand Vor allem für innerfamiliäre Gewalt, aber auch für alle kritischen Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen, die elterliche Präsenz erfordern, entwickelten Omer und von Schlippe (2002, 2004) eine bestimmte Form des Elterncoaching, die sich an dem Konzept des gewaltlosen Widerstands nach Gandhi und Luther King orientiert. In einer Phase mit einer sehr intensiven Betreuung vermitteln die Eltern dem Kind ihre Entschiedenheit, die bisherigen Verhaltensweisen nicht mehr so hinzunehmen wie bisher. Gleichzeitig bringen sie zum Ausdruck, dass sie nicht vorhaben, ihr Kind zu dominieren oder zu besiegen, sondern dass sie ein Interesse haben, mit ihm/ihr besser zu kooperieren als bisher. Die verschiedenen Interventionen sind in Tabelle 23 zusammengestellt. Am wichtigsten werden dabei die erste und die letzte Intervention in der Tabelle angesehen. Sie sollten jede andere Intervention rahmen und vielfach genügen bereits diese beiden Aspekte. Das Erarbeiten von Möglichkeiten der Deeskalation hilft, aus den Eskalationszirkeln auszusteigen, in denen sich Eltern und Kinder oft verfangen haben, entweder indem sich Feindseligkeit hochschaukelt oder indem elterliche Nachgiebigkeit ständige neue kindliche Forderungen erzeugt. Deeskalation bietet hier eine dritte Alternative: dem problematischen Verhalten des Kindes zu widerstehen und gleichzeitig immer wieder deutlich zu machen, dass das Ziel in der Verbesserung der Beziehung besteht. Eltern lernen, systematisch die Knöpfe zu beachten, die das Kind drückt, um sie »auf 180« zu bringen und dann anders als gewohnt zu reagieren, zum Beispiel mit Schweigen. Dies kann eine erste, sehr überraschende Idee sein, dass es darum gehen könnte, weniger zu tun als bisher. Dabei kann dies ein erster Schritt sein, dass die Eltern das Predigen einstellen, denn das »pa-

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Tabelle 23: Die wichtigsten Interventionen im Modell des Elterncoachings im gewaltlosen Widerstand (aus von Schlippe 2006, S. 250) Interventionen des gewaltlosen Widerstands: Vom Ausstieg aus dem Teufelskreis bis zu Versöhnungsgesten 1. Das Wichtigste: Aus dem Teufelskreis aussteigen a) Sich nicht hineinziehen lassen, den Provokationen widerstehen: Gewaltloser Widerstand ist eine Form des Protests, keine Schlacht. b) Das Prinzip der verzögerten Reaktion und des Schweigens: das Predigen beenden. c) Wenn es schiefgeht: Mitten in der Eskalation kann man nichts tun. Im Zweifelsfall geht der persönliche Schutz vor! 2. Die Ankündigung 3. Das Sit-in 4. Das Siegel der Geheimhaltung brechen: Unterstützer, Vermittler und die öffentliche Meinung einbeziehen 5. Die Telefonrunde a) Informationen sammeln b) Anrufen c) Mit verschiedenen Personen sprechen: Freunde des Kindes, Eltern der Freunde, Lokal-, Freizeitortbesitzer und deren Mitarbeiter. 6. Nachgehen und Aufsuchen 7. Der verlängerte Sitzstreik 8. Befehle verweigern 9. Unverzichtbarer Bestandteil: Gesten der Wertschätzung und der Liebe

rental nattering« (Patterson et al. 1984; zit. nach Omer u. von Schlippe 2004) wird von den Kindern und besonders Jugendlichen zum einen als hoch aversiv erlebt, zum anderen ist es für sie ein Signal der elterlichen Ineffizienz und macht sie in ihren Augen verächtlich. Alle Schritte der Eltern werden parallel begleitet durch Gesten der Wertschätzung. Es gehört zu den unglücklichsten Momenten der angesprochenen Teufelskreise, dass in der Familie die guten Momente aufhören, wenn die Beziehungen schlechter werden: »Warum soll ich mit ihm noch ins Kino gehen, wo er sich so benimmt?« Je weniger positive Interaktionen möglich sind, desto weniger Möglichkeiten gibt es für die Ent-

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faltung von Beziehung – eine negative Spirale. Versöhnungsmaßnahmen können hier helfen, die Atmosphäre wieder zu entgiften. Die Eltern werden ermutigt, in kleinen Gesten dem Kind Signale zu vermitteln, die unabhängig von seinem Verhalten sind. Kinder sind keine Gegner der Eltern, umso wichtiger sind die Gesten des Respekts, die etwas ganz anderes sind als Beschwichtigungsversuche im Sinne von: »Wenn du nicht mehr schlägst, bekommst du das und das von mir.« Es geht im Gegenteil eher darum, dass die Gesten klein sind und dass sie in keiner Weise an das Wohlverhalten des Kindes gekoppelt sind. Daher muss mit den Eltern auch die Möglichkeit vorweggenommen werden, dass das Kind die Gesten zurückweist, vielleicht weil es anfangs eine Falle der Eltern vermutet. Damit sollte gelassen umgegangen werden: »Du musst das Eis nicht essen, es steht für dich im Kühlschrank …«. Widerstand und Versöhnungsgesten gehen so Hand in Hand. Für eine ausführlichere Beschreibung verweisen wir auf Omer und von Schlippe (2002, 2004) sowie Ollefs und von Schlippe (2006). Therapie bei sexuell delinquenten Verhalten Ziel der Behandlung jugendlicher sexuell Delinquenter (Rotthaus u. Gruber 2004) ist, dass es zum einen keine weiteren Übergriffe mehr gibt und zum anderen die Jugendlichen in die Lage versetzt werden, ein möglichst selbstbestimmtes, aber psychosozial angepasstes Leben zu führen. Jugendliche, die ein spezifisches Programm erfolgreich durchlaufen, haben ein niedrigeres Rückfallrisiko für sexuelle wie auch andere Delikte. Im Mittelpunkt der Therapie steht die Arbeit mit dem Deliktszenario, in dem Realitätsverzerrungen, Tilgungen von missbrauchsbezogenen Erlebnisinhalten, das Bagatellisieren emotionaler Zustände sowie das Verleugnen eigener Handlungen aufgehoben werden sollen. Ziel ist es, Selbstkontrolle hinsichtlich der delinquenten Handlungen einzuführen und zu stärken sowie den Lernprozess der Jugendlichen hinsichtlich ihres Delikts und des Deliktvorlaufes voranzubringen. Eine solche Therapie muss sich einerseits mit dem konkreten Delikt und dessen Entstehung beim jugendlichen Straftäter beschäftigen und darüber hinaus seine allgemeine Entwicklung im Bereich seiner Sexualität, seiner persönlichen Identität und seiner sozialen Beziehungen und Rollen anregen.

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Systemische Familienmedizin

4.1 Körperliche Krankheit und sozialer Kontext Es gibt nur wenige Bereiche psychotherapeutischer Tätigkeit, in denen es so sehr darum geht, Wissen aus verschiedenen Bereichen zusammenzuführen, wie die Arbeit im Kontext körperlicher, vor allem chronischer und lebensbedrohender Krankheiten. Hier wird neben psychotherapeutischem auch somatisches und soziales Wissen, Kompetenz und Erfahrung verlangt (Dinger-Broda et al. 2002; Köllner u. Broda 2005; Cierpka et al. 2001; von Schlippe et al. 2002). Krankheit, besonders wenn sie lange andauert, kann zu einem signifikanten Bestandteil familiärer Interaktion (und nicht nur familiärer) werden. Krankheitsgeschehen wird auf vielen sozialen Ebenen durch sprachliche Beschreibungen, durch Geschichten umrahmt. Diese legen in den jeweiligen sozialen Systemen die Spielbreite dessen fest, was möglich und was unmöglich ist, wodurch die Betroffenen gestärkt oder geschwächt werden können. Die Beschreibungen können sich festfahren, sodass schließlich die Krankheit zum zentralen Inhalt der Kommunikation in der Familie wird (Steinglass 1988; von Schlippe 2001b). Zur Illustration der Fülle von psychologischen und systemischen Fragen, mit denen man in der Arbeit mit chronisch Kranken und ihren Familien konfrontiert sein kann, beginnen wir diesen Teil mit einem Fallbeispiel. Der Osnabrücker »Luftiku(r)s« (hierzu Theiling et al. 2001, siehe auch Kapitel 4.6) besteht in einem einwöchigen Angebot für asthmakranke Kinder und ihre Familien. Meist nehmen die betroffenen Kinder mit ihren Eltern teil, gelegentlich auch die Geschwister. Zu einem oder mehreren Familiengesprächen können auch andere Familienmitglieder mit eingeladen werden. In diesem Fall hatten die 13-jährige Patientin Anna und ihre alleinerziehende Mutter teilgenommen. Am Ende des Kurses war die Oma, die Mutter der Mutter, zum Abschlussgespräch eingeladen worden, weil dem Team im Verlauf der Kurswoche deutlich geworden war, dass es zwischen den Dreien offenbar teils sehr belastende Interaktionen gab. Im Gespräch zeigte sich schnell ein Muster, in dem jeweils die Tochter ihrer Mutter die Schuld dafür gab, selbst unglücklich zu sein: »Du hast alles falsch gemacht!« Dieses Muster setzte sich über die Generationen fort, jeweils zwei Mütter, die sich schuldig fühlten, zwei Töchter voller Ressentiments gegenüber ihren Müttern.

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Zwischen der asthmakranken Anna und ihrer Mutter hatte dieses Muster eine besondere Form angenommen. Die Mutter fühlte sich schuldig an der Krankheit der Tochter, weil Asthma eine psychosomatische Erkrankung sei. Man hätte ihr gesagt, dass ihre Tendenz, sich zu sehr an Anna zu klammern, die Krankheit verursacht hätte. Nicht nur die Nachbarin vertrat diese Meinung, auch eine psychologisch vorgebildete Freundin und nicht zuletzt ihre Psychotherapeutin. Die Mutter wagte es daher nicht, ihre Tochter zu fordern und Anna hatte dazu passend die Einstellung entwickelt, sich an nichts halten zu müssen, was ihr die Mutter vorschrieb, dies betraf auch das eigene Krankheitsmanagement: Sie ging sehr nachlässig mit den Inhalationen und Dosieraerosolen um, kam immer wieder in akute Luftnotsituationen, die der Mutter nur zu deutlich ihre Schuld vor Augen führten. Die Mutter wagte nicht, sie zu konfrontieren. Im Gespräch wurde die Schuld externalisiert, das heißt, über sie wurde wie über ein zusätzliches Familienmitglied gesprochen. Mr. Schuld hatte sich offenbar schon sehr lange in Mutter-Tochter-Beziehungen eingemischt. Er hatte die Beziehungen vergiftet, Oma und Mutter, Mutter und Tochter konnten sich nicht wohl miteinander fühlen, wenn er im Raum war, die Mütter erlebten sich dank seiner Einflüsterungen als Versagerinnen. Mr. Schuld hatte auch dafür gesorgt, dass die Möglichkeiten, wie ihre Beziehung auch sein könnte, zwar in ihnen schlummerten, sich aber nur selten zeigten. Doch es gab auch Beispiele für Ausnahmen, Momente, wo mal die Oma, mal die Mutter, mal Anna sich entschieden hatten, den Verlockungen von Mr. Schuld nicht zu folgen, sich gegenseitig negativ zu beschreiben und misstrauisch zu sein. In diesen Ausnahmesituationen, die die Frauen beschrieben, wurde deutlich, welche Chancen für eine andere Qualität von Mutter-Tochter-Beziehungen in der Familie lagen. Wir überlegten spielerisch, wie es wäre, wenn Mr. Schuld öfter einmal frei hätte. Wie wäre es, wenn er seinen lang verdienten Urlaub antreten würde? Mr. Schuld wurde symbolisch in Form eines Kissens vor die Tür geschickt, saß dort wartend auf einem Stuhl: Was ergibt sich, wenn er nicht mehr da ist? Wie wird dann anders über Asthma gesprochen? Schnell entspinnt sich ein heftiger Streit zwischen Mutter und Tochter, im Verlaufe dessen die Mutter klare Forderungen stellt, verbunden mit ebenso klaren Konsequenzen. Dies mündet in entsprechende Vereinbarungen, die die Familie mit nach Hause nimmt. Tage später ruft die Mutter an: »Meine Therapeutin hat mir aber noch einmal bestätigt, Asthma ist eine psychosomatische Krankheit, also bin ich doch Schuld an Annas Zustand!« Es war schwierig, diese absolute Wahrheit in das rückzuverwandeln, was sie war: eine Beschreibung und in diesem Fall überhaupt keine hilfreiche (Therapeut: Arist von Schlippe).

Wir finden hier viele Aspekte, die uns in der Auseinandersetzung mit dem Thema Krankheit im sozialen Kontext immer wieder begegnen. Deutlich wird: – wie wichtig die Rolle psychischer und familiendynamischer Faktoren bei körperlicher Erkrankung sein kann; – wie groß die Gefahr der undifferenzierten Übernahme eines popularisierten Verständnisses von Psychosomatik in die Alltagstheorien ist; – welche Rolle Emotionen und Emotionsregulierung auf individueller Ebene aber auch auf familiensystemischer spielen (hier im Beispiel Schuldgefühle und Wut) und

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wie wichtig es ist, darauf zu achten, wie Menschen in ihren verschiedensten sozialen Bezügen über Krankheit sprechen, welche Konstruktionen von Sinn und Bedeutung sie im Umfeld chronischer Krankheit vornehmen – bis hin zu Fragen sozialer Etikettierung durch externe Personen und schließlich welche Verantwortung den Fachleuten hier zukommt. Ihre Beschreibungen bilden nicht das Geschehen einfach ab, sondern die Beschreibungen verändern das Beschriebene (von Schlippe 2001b). Die Frage, mit welcher Begrifflichkeit, mit welchen Metaphern wir uns den Betroffenen nähern, kann entscheidend sein für ihre Erfahrung von Selbstwirksamkeit, ihr Selbstwertgefühl und ihr Bewusstsein eigener Kompetenzen.

Das familienmedizinische Arbeiten blickt auf eine lange Entwicklungsgeschichte zurück. Diese startet bei der frühen Psychosomatik und wurde in der Familien-Psychosomatik der 1970er und 1980er Jahre (z. B. Minuchin et al. 1981; Stierlin 1988) und deren Kritik in den 1980er Jahren fortgeführt (z. B. Wood et al. 2000). Später wurden auch Konzepte entwickelt, die die familiäre, psychische und biologische Systemebene körperlicher Krankheiten in einer systemischen Sprachweise miteinander in Bezug setzten. Stierlin (2000) hat vorgeschlagen, zwei Achsen der Ich-Körper-Beziehung (»Hass oder Liebe zum eigenen Körper« und »Abstumpfung oder Sensibilität gegenüber den eigenen Körperprozessen«) mit Prozessen im aktuell bedeutsamen Beziehungssystem und zu mehrgenerationalen Delegationsprozessen in Verbindung zu bringen und aus der Interaktion all dieser Prozesse die Fähigkeit zur Selbstregulation als einer entscheidenden Stellgröße körperlichen Wohlbefindens vorherzusagen. Systemische Familienmedizin (programmatisch Kröger u. Altmeyer 2000; Altmeyer u. Kröger 2003) sieht die Familie, das Gesundheitswesen sowie die sonstigen Lebenswelten der Patienten als wichtige kommunikative Umwelten körperlicher, insbesondere chronischer Krankheiten an: Kranksein bedeutet nicht nur, eine Krankheit zu haben und an ihr über einen nicht absehbaren Zeitraum hinweg zu leiden (= Leben), sondern vor allem: über Krankheit zu sprechen, mit sich selbst (= Bewusstsein) und mit anderen (= Kommunikation) (von Schlippe 2001b; Eder 2006). Was wir als körperliche Krankheit erleben und so bezeichnen,

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wird durch den Akt der Versprachlichung (auch) eine soziale Konstruktion. Wir reagieren nicht nur auf die Krankheit, sondern wir konstruieren in Sprache die Phänomene mit, mit denen wir es zu tun haben (z. B. Besserungen und Verschlechterungen, »Alles tut weh!«, Therapieresistenz). Das Muster der Interaktionen, das sich um Krankheit herum entwickelt, kann im Sinne dieser Überlegungen nicht »schuld« sein an der Krankheit (Simon 1995), aber es gestaltet ihren Verlauf ganz erheblich mit. Verhaltensweisen von Familienmitgliedern, die zusammengenommen die verschiedenen Aspekte eines Musters ausmachen, haben sich gemeinsam entwickelt, sie sind koevolviert. Es besteht mittlerweile Einigkeit darüber, dass die Überlegungen zur Verursachung von körperlichen Erkrankungen durch seelische – und noch mehr durch familiäre – Faktoren eine unangemessene Form der Beschreibung darstellen. Chronische Krankheiten sind nicht vorstellbar ohne die sie umgebenden sprachlichen Umwelten. Wenn wir als Fachleute einer Familie begegnen, dann sind Mr. Asthma oder Mrs. Diabetes schon lange Familienmitglied geworden. Im Falle einer ersten, akuten Diagnosestellung koppeln sich Bewusstseins- und Kommunikationsprozesse blitzschnell an die in der Gesellschaft vorfindlichen Traditionen der Beschreibungen der Krankheit an. In dem Moment der Diagnosestellung werden betroffene Menschen und ihre Familien in den Kontext dieser metaphorischen Beschreibungen gestellt. Solche Beschreibungen können das Lebensgefühl von einem auf den anderen Moment verändern. Mindestens fünf unterscheidbare kommunikative Umwelten sind für Krankheitsprozesse von Bedeutung: – Person-Ebene: das innere Selbstgespräch zwischen verschiedenen Teilen des psychischen Systems (»Das ist eine Strafe Gottes!«, »Da kann man nichts machen!«, »Ich schaffe es, es ist eine Herausforderung!«) – Familien-Ebene: die Kommunikation in der Familie, mit dem Patienten oder ohne ihn (»Du bist schuld, also brauche ich mich nicht um die Versorgung zu kümmern – geschieht dir ganz recht, wenn es mir schlecht geht!«, »Warum hast du diesen Mann nur geheiratet, dessen Mutter schon an Asthma verstarb!«) – Familie und soziale Netzwerke wie Bekanntenkreis und Nachbarschaft (»Nehmen Sie bloß keine Medikamente!«, »Das ist psychosomatisch, das liegt an der Erziehung!«) – Arzt-Patient-Beziehung (»Haben Sie verstanden?« – »Ja, ja!« – »Also:

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wenn Sie nicht regelmäßig dreimal am Tag …!« – »Sie können mir auch nicht helfen!« – »Schrecklich, diese non-complianten Patienten!«) – Kommunikationen in der Fachwelt (»Das ist eine psychosomatische Krankheit!«, »Das ist keine psychosomatische Krankheit!«, »Familienmedizin ist Blödsinn!«, »So muss man mit dieser Krankheit umgehen, Herr Kollege! Was Sie da machen, ist verkehrt!«) Ein familienmedizinisches Vorgehen braucht daher eine Multi-SystemOptik, mit der die verschiedenen Ebenen betrachtet werden können und die es erlaubt, den jeweils angemessenen Ansatzpunkt zu finden. Chronische Krankheit bringt für soziale Systeme besondere Herausforderungen in Koordination und Kooperation mit sich (McDaniel et al. 1997; Kröger et al. 1998; Schweitzer 2000; Hendrischke et al. 2001; von Schlippe u. Theiling 2005): – gleichwertige Berücksichtigung und Einbeziehung psychischer und somatischer Faktoren bei der Diagnostik und Behandlung des Patienten; – enge Kooperation mit Patientenfamilien und ihre routinemäßige Einbeziehung bei der Krankenversorgung; – patientenbezogene Kooperation von Experten aus dem medizinischen, dem psychosozialen und nichtmedizinischen Bereich durch Bildung von interdisziplinären Behandlungsteams. Um solche Kooperationsbeziehungen rund um körperliche Krankheiten zu entwickeln und zu pflegen, ist das Programm der »systemischen Familienmedizin« entwickelt worden (Kröger et al. 1998). Alternativbegriffe dazu sind »Familientherapie in der Medizin« (McDaniel et al. 1997) oder »Collaborative Family Health Care« (McDaniel et al. 2002). Systemische Familienmedizin sieht die Familie und die Professionellen als Kooperationspartner in »shared responsibility« (geteilter Verantwortlichkeit) – ein Kontrastbegriff zum Begriff der Compliance (Folgsamkeit, Einwilligung), in dem einseitig auf die Kooperationsbereitschaft der Patienten, nicht jedoch das Beziehungsgeschehen zwischen Behandler und Familie geachtet wird (Szczepanski 1999). Systemische Familienmedizin geht damit über die Familiengrenzen hinaus auf die Ebene der Kooperation der verschiedenen Disziplinen in der Versor-

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gung. Die Einbeziehung der Familienangehörigen beziehungsweise des primären sozialen Umfeldes erfordert von den Behandlern (McDaniel et al. 2001): – die Bereitschaft, Selbstwirksamkeit (»agency«) und Gemeinschaftsgefühl (»communion«) bei Patienten und Angehörigen zu unterstützen; – die Fähigkeit, mit Mehrpersonenkonstellation umzugehen und in diesen verhandeln zu können (z. B. Leitung einer Familienkonferenz bei chronischer oder maligner Erkrankung); – ein Umstrukturieren institutioneller Rahmenbedingungen für Zugang und Einbeziehung von Familienmitgliedern bei Diagnostik und Therapie im Krankenhaus (z. B. Teilnahme von Familienangehörigen bei der ärztlichen Visite oder bei patientenbezogenen Teambesprechungen auf der Krankenstation). Je nach Komplexität der Problemlagen sind unterschiedlich intensive Formen solcher Kooperation angezeigt (McDaniel et al. 2002): – Leichtere Fälle: Fachleute können ihre Arbeit gegenseitig weitgehend ignorieren, vertiefte Kooperation ist nicht erforderlich; – Standard: zumindest gelegentliche Absprachen, Vermittlung einer wertschätzenden Haltung zur jeweiligen Tätigkeit der anderen Berufsgruppe an die Patienten; – Schwierigere Konstellationen: Kooperation im eigentlichen Sinn – die Fachleute informieren einander ausführlich und kontinuierlich über die geplante Behandlung (ggf. in gemeinsamer Sitzung); – Komplizierte Konfliktlagen: Kollaboration bedeutet im Unterschied zu einfacher Kooperation die gemeinsame Erstellung integrierter Behandlungspläne, mit engmaschigen Abstimmungen und gemeinsamen Arbeitssitzungen der beteiligten Berufsgruppen und der Betroffenen selbst. McDaniel et al. (2002) berichten hier von interessanten Ansätzen, diese Kooperationen über E-Mail zu vereinfachen: Mit einem Klick sind alle Beteiligten schnell auf dem aktuellen Stand der Ereignisse. Ein solches familienmedizinisches Konzept ist bislang noch selten als beständiges Gesamtkonzept realisiert, wohl aber in zahlreichen, im universitären Kontext oft zeitlich befristeten Projekten. Wir sind selbst in eini-

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gen solchen Projekten aktiv gewesen34 und haben in unserem Umfeld engen Kontakt zu den anderen, im Folgenden beschriebenen Projekten gehabt. Wer sich mit systemischer Familienmedizin bei weiteren Störungsbildern und Gesundheitsproblemen vertraut machen möchte, der sei auf folgende Literatur hingewiesen. Bei McDaniel et al. (1997) finden sich zahlreiche Praxisanleitungen zu den Themen: Somatisierende Patienten, Rauchen und Übergewicht, Fehlgeburten und Schwangerschaftsabbrüche, Sterbebegleitung. Die systemische Arbeit mit trauernden Angehörigen nach dem Verlust eines geliebten Menschen ist sehr sensibel bei White (2005) beschrieben. Altmeyer und Kröger (2003) stellen die systemische Familienmedizin anhand unterschiedlicher Themenfelder dar (u. a. Schmerzkrankheit, Multiple Sklerose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, genetische Beratung). Wer sich als praktisch tätiger Arzt in einer kompakten und zugleich gut lesbaren Form das systemisch-familienberaterische Handwerkszeug aneignen möchte, dem seien Hegemann et al. 2000 oder Asen et al. 2004 empfohlen. Wir halten es angesichts verschiedener technologischer, demografischer und gesundheitsökonomischer Entwicklungen für möglich (aber keineswegs für sicher), dass das Feld der körperlichen Krankheiten künftig eines der intensivsten Arbeitsfelder systemischer Therapie und Beratung werden könnte. Die in der Medizin derzeit intensiv geführte Debatte über das »shared decision making« (Coulter 1997), also den Prozess der gemeinsamen Entscheidung von Behandler und Behandeltem vor allem bei lebensentscheidenden medizinischen Eingriffen, kann (wie z. B. Schneider et al. 2006 zeigen) durch die zirkulären Fragetechniken der systemischen Beratung erheblich qualifiziert werden. 33

34 Jochen Schweitzer war in der Transplantationsberatung und der Kopfschmerzberatung am Heidelberger Universitätsklinikum tätig (Kapitel 4.5), Arist von Schlippe im »Luftiku(r)s«-Projekt am Kinderhospital Osnabrück (Kapitel 4.6).

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4.2 Brustkrebs – Entlastung und Verständnis3534 iStörungsbilderi Als Brustkrebs (Mammakarzinom) wird eine Gruppe unterschiedlicher Erkrankungen bezeichnet, die auf einer unkontrollierten Teilung von Zellen des Brustgewebes basieren. Das Ergebnis einer ungehemmten Zellteilung ist ein Tumor, eine Geschwulst. Bösartige Tumore haben sich der Wachstumskontrolle des Organismus entzogen und die entarteten Zellen vermehren sich ungebremst, wachsen in umliegendes Gewebe ein und können in Blutbahnen und Lymphgefäße eindringen. Über diesen Weg können sie sich in anderen Körperregionen ansiedeln und eventuell vermehren: Daraus entstehen dann Tochtergeschwülste (Metastasen). Hat eine Metastasierung des Tumors stattgefunden, sind die Aussichten für eine Heilung gering. Durch moderne Therapieverfahren kann jedoch ein Fortschreiten der nun chronisch gewordenen Erkrankung häufig aufgehalten werden. Bei einer Ersterkrankung ohne Metastasierung gibt es mittlerweile gute Aussichten (bis zu 80 %) auf eine vollständige Heilung. Häufigkeit Das Mammakarzinom ist in den westlichen Industrienationen die häufigste Krebserkrankung der Frau mit weiter steigender Tendenz. Statistisch gesehen erkranken ein bis zwei von 1.000 Frauen in Deutschland jedes Jahr an Brustkrebs. Insgesamt wird bei etwa jeder zehnten Frau im Laufe ihres Lebens die Diagnose Brustkrebs gestellt, das heißt statistisch ausgedrückt, dass in Deutschland jährlich ca. 50.000 Frauen an Brustkrebs erkranken und über 20.000 daran sterben. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr. Auch Männer können betroffen sein, allerdings ist das sehr viel seltener. Verursachungstheorien Die genauen Ursachen für die Entstehung eines Mammakarzinoms sind noch nicht vollständig aufgeklärt. Die überwiegende Mehrheit der Brust35 Wir bedanken uns bei Dr. Heike Stammer, Heidelberg, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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Brustkrebs – Entlastung und Verständnis

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krebs-Patientinnen erkrankt spontan, also ohne dass ein sicherer Auslöser ausgemacht werden kann. Allerdings kennt die Wissenschaft mittlerweile verschiedene Risikofaktoren, welche die Krankheit begünstigen. So geht man davon aus, dass bei etwa 5 % der erkrankten Frauen eine genetische Ursache mitverantwortlich ist. Dafür spricht vor allem die familiäre Häufung. So liegt das Krebsrisiko von Menschen, bei denen eine Verwandte ersten Grades erkrankt ist, bei dem zwei- bis dreifachen Wert einer Vergleichsgruppe. Bestimmte Veränderungen (Mutationen) im Erbgut begünstigen nach neuen Erkenntnissen die Tumorentstehung. Allerdings wurde dieser Zusammenhang bisher nur für einige wenige Tumortypen bewiesen. Zu den wichtigsten bekannten Risikofaktoren gehört ein über lange Zeit bestehender hoher Östrogenspiegel im Blut, der auf das Brustgewebe proliferativ, das heißt stimulierend wirkt. Weitere Faktoren sind Kinderlosigkeit oder eine späte erste Schwangerschaft (nach dem 30. Lebensjahr) sowie das frühe Einsetzen der Regelblutung und eine späte Menopause. Brustkrebs kann ferner durch fettreiche Ernährung, Exposition durch ionisierende Strahlung, Tabak- und Alkoholgenuss sowie durch die langfristige Einnahme weiblicher Sexualhormone begünstigt werden. Die Rolle der Pille für das Krebsrisiko, besonders bei sehr früher (jünger als 18 Jahre) und langjähriger Einnahme, ist noch nicht geklärt. Je früher Brustkrebs erkannt wird, umso besser sind die Heilungschancen. Moderne Diagnoseverfahren eröffnen die Möglichkeiten zu einer individuellen Therapie je nach Krankheitssituation der betroffenen Patientin. Grundlage jeder Therapie ist die Operation, die chirurgische Entfernung des Tumors aus der Brust. In den meisten Fällen kann brusterhaltend operiert werden, was jedoch eine nachfolgende Strahlenbehandlung notwendig macht. Je nach Ausdehnung der Erkrankung kann eine medikamentöse Behandlung (Chemo- und/oder Hormonbehandlung) die Heilungschancen verbessern. Diese hat jedoch bekanntermaßen starke Nebenwirkungen, die viele Patientinnen bereits im Vorfeld sehr ängstigen. Der Haarausfall durch die Chemotherapie symbolisiert für viele Patientinnen am deutlichsten die Bedrohung ihrer weiblichen Identität. Viele belastende Nebenwirkungen (Blutarmut, Übelkeit und Erbrechen, Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Durchfall, schmerzhafte Schleimhautveränderungen) bleiben auf die Behandlungs-

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zeit begrenzt. Bei der Hormontherapie werden vor allem jüngere Frauen jedoch dauerhaft in die Wechseljahre versetzt, was den Verlust ihrer Fruchtbarkeit bewirkt, aber auch andere typische, sich gegenseitig verstärkende Wechseljahresbeschwerden (z. B. Gewichtszunahme, Libidoverlust, depressive Verstimmungen), die die Zusammenarbeitsbereitschaft beeinträchtigen können. Weitere ständig aktualisierte Informationen auch über andere Krebserkrankungen können über den Krebsinformationsdienst (KID) angefordert werden (www.krebsinformations dienst.de). Bisherige Studien, die die Fragestellung untersuchten, ob und wie psychologische Faktoren den Krankheitsverlauf beeinflussen (sehr kontrovers diskutiert sind unter anderem die Studien von Grossarth-Maticek, vgl. Stierlin u. Grossarth-Maticek 2000), haben inkonsistente Befunde ergeben. Wie Faller (2004) in seiner sorgfältigen Analyse zeigt, halten sich beim Mammakarzinom Studienergebnisse mit positivem und solche mit negativem oder fehlendem Zusammenhang zwischen emotionaler Belastung und Überlebenszeit die Waage. Eine Ursache dafür liegt darin, dass methodisch allgemein akzeptierte Untersuchungen bislang noch ausstehen.

iBeziehungsmusteri In den letzten Jahren hat sich die psychoonkologische Forschung zunehmend mit der Bedeutung der sozialen Unterstützung für die Krankheitsbewältigung beschäftigt (Haan et al. 2002). So konnte gezeigt werden, dass krebskranke Frauen mit einem umfangreichen sozialen Netzwerk signifikant niedrigere Depressionswerte aufweisen. Bei Männern spielte dieser Faktor keine Rolle. Soziale Unterstützung kann das Wohlbefinden durch die Erfahrung von Zuneigung und Wertschätzung fördern und erleichtert die Bewältigung der durch den Krebs und seine Therapie ausgelösten Belastungen (Leszcz 2004). Auch auf körperlicher Ebene kann soziale Unterstützung psychisches Leiden und Stressreaktionen verringern. Bei Frauen, die an metastasierendem Brustkrebs erkrankt waren und sinnvolle soziale Unterstützung erfuhren, fanden sich signifikant reduzierte Werte des Stresshormons Kortisol im Serum im Vergleich zu Frauen mit weniger Unterstützung (Turner-Cobb et al. 2000).

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Die Hinweise für einen klaren Zusammenhang zwischen sozialer Unterstützung und Krankheitsbewältigung sind durchgängig und sehr überzeugend (Leszcz 2004). Die Familie und besonders der Lebenspartner spielen eine Schlüsselrolle im sozialen Unterstützungssystem der Krebspatientin (Baider 1995). Dabei ist zu beachten, dass sowohl eine gute partnerschaftliche Anpassung als auch eine konflikthafte Verstrickung sich selbst verstärken und eine Eigendynamik entwickeln können (Keller et al. 1998; Stammer et al. 2003). Partner können in der Regel als die wichtigste Quelle emotionaler und praktischer Unterstützung angesehen werden. Es lassen sich fünf Kategorien familiärer Unterstützung im Kontext einer Krebserkrankung unterscheiden (Rait et al. 1989): – die Familie als Ort emotionaler Unterstützung; – die Familie als Mitträger von Behandlungsentscheidungen; – die Familie als Ort der Pflege und Betreuung der Krebspatientin; – die Familie als Träger finanzieller, beruflicher und sozialer Belastungen durch die Krebserkrankung; – die Familie als stabilisierender Faktor in einer Zeit der Labilität. Die Familienmitglieder sollten jedoch nicht nur in ihrer Funktion der Unterstützung der Patientin betrachtet werden. Vielmehr sind sie selbst durch die Krankheitssituation außergewöhnlich belastet (Strittmatter 1997). Kinder krebskranker Mütter haben nach Romer et al. (2002) ein erhöhtes Risiko, im Lauf ihrer Entwicklung eine kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankung zu entwickeln. Je jünger die Kinder sind, umso größer sind deren Belastungen, sie sind anfälliger für vegetative Störungen, psychische Auffälligkeiten und Schulprobleme (Rait et al. 1989). Viele fühlen sich mitschuldig an der Erkrankung ihrer Mutter, sind bekümmert durch den Verlust der Fürsorge oft beider Eltern oder ärgern sich darüber, von wichtigen Informationen ausgeschlossen zu werden. Ältere Kinder sind auch dadurch belastet, dass sie oft eine aktive Rolle in der Betreuung der Mutter übernehmen (müssen). Manche werden unbeabsichtigt überfordert, ziehen sich zurück oder verweigern die weitere Mithilfe. Ein wichtiges Ergebnis der Familienforschung ist, dass Kinder, die über die Krankheit informiert wurden, weniger Angst und ein geringeres Maß an regressivem Verhalten zeigen als nicht aufgeklärte Kinder.

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Rost (1992) sieht folgende häufig dysfunktionale familiäre Reaktionsmuster auf eine elterliche Erkrankung, die zunächst eine Problemlösung, langfristig aber eine Belastung darstellen: sehr starke Betonung des familiären Zusammenhalts, Isolation gegenüber der sozialen Umwelt, geringe Flexibilität in den familiären Routinen, Konfliktvermeidung, Einbindung des Kindes als Partnerersatz oder zur Versorgung (Parentifizierung). Als langfristig protektive Faktoren, die eine funktionale Anpassung des Kindes an die Krebserkrankung der Mutter ermöglichen, erscheinen hingegen: Außenkontakte zu Gleichaltrigen (v. a. bei Jugendlichen), offene Kommunikation über die Erkrankung in der Familie, die den Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigt und Konflikte toleriert, wenig Parentifizierung, Beachtung kindlicher, auch regressiver Bedürfnisse. Diese Ergebnisse der Grundlagenforschung sind starke Argumente für den Einsatz familienorientierter Beratungsangebote zur Stärkung und Erhaltung der sozialen Unterstützung durch die Familie – die in den entsprechenden Spezialkliniken und Schwerpunktpraxen bislang aber erst in Ansätzen angeboten werden.

iEntstörungeni Paar- und Familiengespräche sind insbesondere sinnvoll bei – dem Wunsch der Patientin oder eines Angehörigen nach einem gemeinsamen Gespräch, um Probleme in der Familie mit der Erkrankung zu klären, die aus eigener Kraft nicht zu bewältigen sind; – Problemen der familiären Kommunikation, besonders mangelnder Offenheit über die Gedanken und Befürchtungen der Einzelnen; – genetisch bedingtem Brustkrebs, vor allem wenn bereits eine nahe Angehörige an Brustkrebs verstorben ist; – schlechter Prognose der Brustkrebserkrankung; – Problemen bei der Kooperation mit den Ärzten (geringe Compliance); – häufiger Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe durch die Patientin; – medizinischen Behandlungsmaßnahmen mit weitreichenden gesundheitlichen und psychosozialen Folgen, die erhebliche Auswirkungen auch auf die Angehörigen haben – wie eine Brustamputation

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oder wie Einleitung und Erhalt der Wechseljahre und damit Aufgabe eines möglichen Kinderwunsches bei jüngeren Patientinnen; langanhaltenden Beziehungskonflikten, die einen nachteiligen Einfluss auf die medizinische Behandlung haben; der Palliativ- und Terminalpflege.

Der Gynäkologe Alexander Marmé und die Psychologische Psychotherapeutin Heike Stammer haben am Brustkrebszentrum der Universitätsfrauenklinik Heidelberg eine systemisch-familienorientierte psychoonkologische Ambulanz initiiert, in der onkologische und psychologische Behandlung räumlich und institutionell eng verzahnt sind. Der Vorteil eines behandlungsintegrierten familientherapeutischen Gesprächs als Bestandteil der onkologischen Behandlung liegt in der Normalisierung familiärer Konflikte, da damit verdeutlicht wird, dass sie bei vielen betroffenen Familien in einer solchen Ausnahmesituation auftreten können und daher ein solches Angebot für notwendig erachtet wird. Ein Angebot für Krebspatientinnen und deren Lebenspartner Für Krebspatientinnen und ihre Lebenspartner wurde von dem Psychoonkologischen Arbeitskreis an der Universitätsfrauenklinik Heidelberg ein Kommunikationsworkshop entwickelt, der darauf abzielt, die soziale Unterstützung durch den Partner zu aktivieren und gleichzeitig den Partner selbst zu entlasten (Marmé et al. 2003; Stammer 2006). Dieser »ZIELE«-Workshop ist eine eintägige Veranstaltung für Brustkrebspatientinnen und ihre Partner. Wünsche und Bedürfnisse bezüglich einer guten Kommunikation werden in nach Männern und Frauen getrennten Gruppengesprächen erarbeitet und in der Gesamtgruppe vorgestellt und diskutiert. Eine eineinhalbstündige musiktherapeutische Einheit macht nonverbale Kommunikation erfahrbar und verdeutlicht die Kommunikationsstruktur des Paares. Das ZIELE-Protokoll zur Strukturierung von Gesprächen zwischen den Partnern wird vorgestellt und die mögliche Anwendung in Rollenspielen geübt. Im Rahmen dieses Workshops haben die Partner von Brustkrebspatientinnen in der Regel das erste Mal Gelegenheit, sich mit anderen Männern über ihre Probleme und Sorgen auszutauschen. Für beide Geschlechter hat dies eine sehr entlastende Funktion. Sie können erleben,

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dass ihre Schwierigkeiten und Ängste von anderen betroffenen Paaren ganz ähnlich erfahren werden. In den geschlechtsspezifischen Gesprächen zeigt sich regelhaft, dass die Frauen eher die Erkrankung und ihre Konsequenzen für das gemeinsame Leben thematisieren wollen, wohingegen die Männer eher den Wunsch verspüren, wieder zum Alltag zurückzukehren und die bedrückenden Seiten der Krebsdiagnose hinter sich zu lassen.Mit dem ZIELE-Protokoll bekommen die Paare eine Hilfe zur Gestaltung regelmäßiger Paargespräche über die Erkrankung vermittelt, mit der Aufforderung sie nach ihren Bedürfnissen zu verändern. Tabelle 24: ZIELE-Protokoll Z= I= E= L= E=

Zusammensetzen: Das Gespräch sollte aus dem Alltag herausstechen und ein besonderes Ritual darstellen. Interesse bekunden: Beide Partner müssen Interesse an einem Gespräch bekunden. Es gibt keine professionelle Verpflichtung. Emotionen: Es wird empfohlen, eigene Emotionen zu formulieren, aber auch die des Partners wahrzunehmen und zu artikulieren. Lernen: Durch offene Fragen soll herausgefunden werden, was der jeweils andere über die Erkrankung weiß. Entwickeln: Es soll eine Strategie entwickelt werden, wie sowohl das Wissen über den Stand der Erkrankung vermehrt als auch die kommenden Gespräche fruchtbarer gestaltet werden können.

Dieses niederschwellige Paarangebot motiviert die meisten teilnehmenden Paare, intensivere Gespräche über die Erkrankung der Frau zu führen. Manchmal erleichtert es auch den Schritt, weiterführende Paargespräche bei der Psychoonkologin zu vereinbaren. Die zeitliche Befristung dieses Workshops auf einen Tag hat eine deutlich entängstigende Funktion. Er wird samstags angeboten, damit die Männer diesen Termin einfacher mit ihrer Berufstätigkeit verbinden können. Kinder krebskranker Eltern Wichtige Elemente psychotherapeutischer Interventionen bei Familien mit krebskranken Eltern sind nach Romer et al. 2002: – Empfehlung einer altersgerechte Sachinformation für die Kinder über alle Aspekte der Krankheit; – Anerkennung familiärer Ressourcen;

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Unterstützung der elterlichen Erziehungskompetenz; Förderung eines offenen Austausches mit anderen betroffenen Eltern; Unterstützung bei der Antizipation des bevorstehenden Todes der Mutter.

Die meisten Familien haben eine große Scheu, ihre Kinder in eine psychoonkologische Betreuung mit einzubeziehen, aus Angst vor einer zusätzlichen Labilisierung. Daher kommt der Elternberatung eine größere Bedeutung zu als den Familiengesprächen, an denen die Kinder direkt beteiligt sind. Manchmal suchen Familien, die im Sterbensprozess der Mutter begleitet wurden, nach deren Tod die Therapeutin noch einmal zu einem abschließenden Gespräch auf. Sofern die Patientin dazu ihr Einverständnis gegeben hat, ist dies eine gute Möglichkeit, den Trauerprozess der Angehörigen zu unterstützen. Vor allem für Töchter, die häufig mit dem Risiko leben müssen, vielleicht selbst einmal von dieser Erkrankung betroffen zu sein, bietet ein solches Gespräch die Chance, über diese Ängste zu sprechen. Auch Schuldgefühle, während der Krankheitsphase und am Lebensende der Mutter/Frau nicht genügend getan zu haben, können dabei zur Sprache kommen. Spezielle Familienthemen bei Frauen mit Brustkrebs Aus der allgemeinen psychosomatischen Forschung wissen wir, dass zusätzliche aktuelle und biografische Belastungen im Leben von Patientinnen die Krankheitsbewältigung erschweren und Risikofaktoren für eine depressive Verarbeitung der Krankheitserfahrung sein können (Stammer et al. 2004). Bei Frauen mit der Diagnose Brustkrebs gibt es zusätzlich zu den allgemeinen Vulnerabilitätsfaktoren (z. B. früher Tod eines Elternteils, belastende Scheidungserfahrungen mit den Eltern, Arbeitslosigkeit und finanzielle Sorgen) spezifische Belastungsfaktoren im familiären Kontext. In bestimmten Situationen sollte immer ein Angebot an die Patientin für ein Familien- oder Paargespräch gemacht werden, um mögliche psychische Dekompensationen oder psychosomatische Überforderungsreaktionen zu verhindern. In den folgenden Krankheitsverläufen und kritischen Lebenssituationen sind meist alle Familienmitglieder in ihrem psychischen Durchhaltevermögen gefordert:

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– Wenn eine frühe Schwangerschaft aufgrund einer Brustkrebsdiagnose abgebrochen wird, kommt zum Schock der Diagnosestellung die Trauer um den Verlust des Kindes hinzu. Falls bereits Kinder vorhanden sind, können zusätzliche Schuldgefühle hinzukommen, ihnen solche schweren Belastungen zumuten zu müssen. In diesem Fall fällt die Aufklärung der Kinder meist besonders schwer, da sie mehrere ängstigende Ereignisse zu verkraften haben: den Verlust des Geschwisterchens, die lebensbedrohende Erkrankung der Mutter und die Angst und Trauer der Eltern. – Wenn die Geburt eines Kindes zur zügigen onkologischen Behandlung der Mutter frühzeitig eingeleitet werden muss, kommt zur Sorge um die eigene Gesundheit noch die Sorge um die Gesundheit des Kindes, falls es aufgrund der Frühgeburtlichkeit zu gesundheitliche Einschränkungen gekommen ist, deren langfristigen Folgen nicht absehbar sind. Auch hier sind Geschwisterkinder einer besonderen Belastung ausgesetzt. Für eine umfassende psychosoziale Betreuung ist in diesen Fällen eine besonders intensive Zusammenarbeit mit einer Sozialarbeiterin notwendig. – Für Frauen, deren Mutter im Kindes- oder Jugendalter an Brustkrebs verstorben ist, bedeutet die eigene Diagnose häufig eine Retraumatisierung. Durch ihre meist noch sehr lebhaften inneren Bilder vom Sterben ihrer Mutter durch Brustkrebs sind ihre krankheitsbezogenen Ängste viel realer und eine gesunde psychische Abwehr, die sich normalerweise nach dem ersten Schock bei der Diagnosestellung einstellt, ist ihnen meist verwehrt. Dazu kommt, dass zu der Zeit, als die heute erwachsenen Frauen Kinder oder Teenager waren, es nicht sehr üblich war, das Leid der Kinder zur Kenntnis zu nehmen und ihnen bei der Verarbeitung ihrer Trauer zu helfen. Die Angehörigen waren in dieser Situation meist selbst überfordert – psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, war nicht üblich oder stand auch nicht zur Verfügung. Nicht nur bei der betroffenen Frau findet eine Retraumatisierung statt, sondern bei der gesamten Familie. Eine Patientin berichtete, dass man ihr bis zu ihrem 14. Lebensjahr verschwiegen hatte, dass ihre Mutter an Brustkrebs verstarb, als sie ein Säugling war. Das Thema war in der Familie vollständig tabuisiert, wobei die Mutter der leiblichen Mutter offensichtlich dieses Tabu am stärksten vermittelte. Erst als sie verstorben war, »verplapperte« sich eine Tante. Damals kam es zu einer adoleszenten Krise der Patientin, die die Familie jedoch gut bewältigen konnte. Die aktuelle Krebsdiagnose aktivierte

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jedoch wesentlich stärker die unverarbeitete Trauer in der gesamten Familie. Auch der Vater der Patientin hatte damals keine Zeit für eine angemessene Trauer um seine Frau, sondern musste sich schnell eine neue Frau suchen, die für die Patientin bis zu Aufdeckung des Tabus die leibliche Mutter war.

– Auch wenn der Tod der Mutter nicht so extrem verleugnet wird, erleben selbst betroffene Frauen die eigene Diagnose sehr viel stärker wie ein Todesurteil und reagieren häufig depressiver und mit schwereren Angstsymptomen als in dieser Hinsicht unbelastete Altersgenossinnen, die schneller wieder Hoffnung schöpfen. – Alleinerziehende Frauen, die schwere Konflikte mit dem Vater ihrer Kinder haben, fürchten häufig, dass ein offener Umgang mit ihrer Erkrankung einen Entzug des Sorgerechts zur Folge haben kann. Verlustängste, die ihren Ursprung in der oft sehr schmerzhaften Trennungsphase haben, werden (re)aktiviert und erschweren eine Konzentration auf die eigene medizinische Behandlung. Vor den Kindern wird versucht, die Erkrankung zu verstecken, damit sie das Geheimnis nicht aus Versehen verraten. Dies birgt die Gefahr einer zufälligen Entdeckung durch das Kind mit dem Risiko einer daraus resultierenden Entfremdung. Genau diese Reaktion des Kindes fürchtet die Mutter am meisten. Hier kann eine familienorientierte Intervention unter Umständen eine symmetrische Eskalation verhindern und zu einem ruhigeren und gelasseneren Umgang mit der schwierigen familiären Situation führen. Auch wenn ein Familiengespräch abgelehnt wird, können die möglichen Reaktionen des Vaters oder anderer Angehöriger im Gespräch antizipiert werden und konstruktive Lösungswege überlegt werden. – Bei unverheirateten Paaren mit Kindern kann bei Bevorstehen einer terminalen Situation ein Paargespräch hilfreich sein, damit geklärt werden kann, wie das Sorgerecht nach dem Tod der Mutter in ihrem Sinne geregelt werden kann. In unserer Klinik führte ein solches Gespräch mit einer Patientin zum Entschluss einer schnellen Eheschließung auf der Station, sodass das Sorgerecht nach dem Tod der Patientin eindeutig beim Vater lag. Dieser Schritt war auch für das gesamte Behandlungsteam sehr entlastend, da alle davon ausgehen mussten, dass die Patientin den ursprünglich geplanten Hochzeitstermin im Sommer nicht mehr erleben würde, sie verstarb wenige Tage später.

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Stammer (2005) empfiehlt, die Familien insgesamt darin zu unterstützen, sich nicht mit unrealistischen Harmonieidealen zu überfordern. Von therapeutischer Seite aus sollte vermittelt werden, dass es unter dem starken psychischen Druck, den eine Krebserkrankung hervorrufen kann, eine normale Reaktion von Menschen ist, vorübergehend »die Nerven zu verlieren«, dass Missverständnisse und Überreaktionen vorkommen können, dass Tränen fließen, obwohl man es unter allen Umständen vermeiden wollte. Sich seine eigenen Grenzen und seine Hilflosigkeit eingestehen zu können, seine Ängste und aufkommende Verzweiflung aushalten lernen – das ist die Entwicklungsaufgabe aller an diesem Krankheitsschicksal Beteiligter: der Familienmitglieder, aber auch der Mitglieder des medizinischen und psychosozialen Behandlungsteams.

4.3 Nierentransplantation – Einen Körperteil schenken36 35 iStörungsbilderi Die dauerhafte und fortschreitende Verminderung der Nierenfunktion führt in Deutschland bei etwa 15.000 Menschen im Jahr zu einem endgültigen Nierenversagen (terminale Niereninsuffizienz). Hauptaufgaben der gesunden Nieren sind die Blutreinigung von giftigen Stoffwechselprodukten und die Wasserausscheidung. Dies geschieht im Filtersystem der Nieren, den mehr als einer Million Nierenkörperchen (Glomeruli). Wenn Krankheiten das Nierengewebe schädigen, werden Nierenkörperchen zerstört und die noch nicht betroffenen Glomeruli übernehmen zunächst die Aufgaben der erkrankten Teile. Je mehr gesundes Gewebe zugrunde geht, desto schlechter wird die Nierenfunktion und die Erkrankung fällt auf, wenn nicht mehr ausreichend gesundes Gewebe zur Kompensation vorhanden ist. Bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz kommt es zur Flüssigkeitsansammlung im Körper (Ödeme), geringer Urinausscheidung, Bluthochdruck, Leistungsschwäche und 36 Wir bedanken uns bei Dr. Maria Seidel-Wiesel, Frankfurt, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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Müdigkeit. Da die gesunde Niere neben der Entgiftung und Wasserausscheidung auch Hormone für Blutbildung, Regulierung des Knochenstoffwechsels und des Blutdrucks produziert, kommen weitere Symptome wie Blutarmut, Knochenschmerzen, Magenschleimhautentzündung, Durst, Juckreiz hinzu. Medizinische Grunderkrankungen Dem chronischen Nierenversagen liegen zahlreiche erworbene oder angeborene Ursachen zugrunde: – Immunologische Erkrankungen der Niere (Glomerulonephritis) – Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) und Bluthochdruck – Entzündungen der Niere und zunächst des Nierenbeckens durch Bakterien – Jahrelange Einnahme von Schmerzmitteln – Angeborene Nierenerkrankungen wie beispielsweise Zystennieren Behandlungsalternativen Kommt es zum endgültigen Nierenversagen, stehen grundsätzlich drei Behandlungsmöglichkeiten zum Ersatz der Nierenfunktion zur Wahl: die Blutwäsche (Hämodialyse), die Blutfilterung durch das Bauchfell des Patienten (Peritonealdialyse) und das Einsetzen einer gesunden Niere (Transplantation) eines verstorbenen Organspenders oder eines Lebendspenders. Die Dialyse ist ein gut eingeführtes und weit verbreitetes Verfahren, dem sich derzeit in Deutschland ungefähr 60.000 Menschen unterziehen. Jährlich kommen etwa 15.000 Neuaufnahmen hinzu (DSO 2004). Die Hämodialyse weist aber mehrere ernsthafte Begrenzungen auf: – Sie ist ein aufwändiges Verfahren. Dreimal pro Woche muss über mehrere Stunden das Blut des Dialysepflichtigen mit Hilfe der Dialysemaschine durch ein Filtersystem gepumpt, entgiftet und von überschüssigem Wasser gereinigt werden. Dies empfinden viele Patienten als große körperliche Belastung, sodass sie danach erschöpft, müde und nur eingeschränkt leistungsfähig sind. – Der dialysepflichtige Mensch ist davon abhängig, in der Nähe einer Dialyse-Schwerpunkt-Praxis zu bleiben. Längere Reisen sind daher sehr erschwert. – Die Beschränkungen durch lebensnotwendige Diätvorschriften und

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zum Teil stark reduzierte Trinkmenge empfinden viele Patienten als sehr belastend. Die Dialyse ist kein optimales Ersatzverfahren, da zwischen zwei Dialysen die Konzentration der Giftstoffe wieder stark ansteigt. Deshalb vermag die Dialyse eine weitere Verschlechterung des Krankheitsbildes und die Folgeschäden der Niereninsuffizienz nicht vollständig aufzuhalten.

Organspende: von fremden Verstorbenen oder von nahestehenden Lebenden? Als Alternative bietet sich eine Nierentransplantation an. Entweder wird dem Kranken die Niere eines verstorbenen, ihm unbekannten Spenders eingepflanzt (Verstorbenenspende). Oder ein lebender, gesunder, dem Empfänger persönlich nahe stehender Spender überlässt ihm seine zweite, nicht benötigte Niere (Lebendspende). Jeder gesunde Mensch kann mit nur einer Niere ohne gesundheitliche Folgeschäden leben. Auch gespendete Organe halten nicht ewig – nach dem Erkenntnisstand im Jahr 2005 funktionieren fünf Jahre nach einer Transplantation noch ungefähr 75 % und nach zehn Jahren noch rund 50 % aller Nieren bei der Verstorbenenspende. Für Lebendspenden liegt das Transplantatüberleben nach fünf Jahren bei circa 85 % und erst nach 12 bis 15 Jahren fällt die Rate der nicht mehr funktionierenden Nieren auf 50 % ab. Darüber hinaus wird die konsequente und dauerhafte Einnahme von Immunsuppressiva erforderlich. Dies sind Medikamente, die die spontane Immunabwehr des Körpers gegen ein ihm zunächst fremdes Organ unterdrücken. Auch diese Medikamente sind nicht ohne Nebenwirkungen – dazu gehören eine erhöhte Infektanfälligkeit, Bluthochdruck, Knochenbrüchigkeit, Gewichtszunahme, Zittern, grauer und grüner Star und langfristig eine erhöhte Anfälligkeit für Haut- und MagenDarm-Tumoren. Trotz dieser Einschränkungen gilt eine Organtransplantation derzeit als die bessere Behandlung – und die Lebendorganspende zunehmend als die bessere der beiden Spendeformen. Allerdings ist die Verfügbarkeit solcher Spenderorgane begrenzt. In Deutschland warten etwa 10.000 Nierenkranke auf eine Spenderniere. Im Jahre 2003 konnten rund 2.500 Nierentransplantationen durchgeführt werden, davon waren 16 % Le-

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bendspenden. Pro Jahr kommen ungefähr 2.500 bis 3.000 neue Anmeldungen auf der Warteliste hinzu. Mit den Fortschritten der Transplantationsimmunologie konnte der Kreis infrage kommender Lebendnierenspender zunehmend ausgeweitet werden: von anfangs nur biologischen Verwandten (Eltern, Kinder, Geschwister) immer mehr auf biologisch nicht verwandte, aber beziehungsmäßig nahe stehende Menschen. Damit wird die zwischenmenschliche Beziehungsdynamik zwischen Menschen, die miteinander in ein Spender-Empfänger-Verhältnis treten könnten, immer bedeutsamer. Um illegalen Organhandel auszuschließen oder zumindest einzuschränken, verlangt das deutsche Transplantationsgesetz von 1997 eine enge persönliche Beziehung zwischen Spender und Empfänger, verbietet materielle Anreize und verlangt einen sorgfältigen Prüfungsprozess, der belegt, dass bei der Organspende keinerlei direkter oder indirekter Zwang ausgeübt worden ist. Gute Ergebnisse und wachsende Akzeptanz der Lebendspende, steigender Spenderbedarf und mehr Rechtssicherheit durch das Transplantationsgesetz von 1997 haben zur vermehrten Anwendung der Nierenlebendspende beigetragen (Tuffs 2001). Die Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass neben medizinischen auch psychologische Aspekte bei der Vorbereitung und Betreuung von Empfängern und Spendern im Rahmen der Lebendspende von Bedeutung sind (Schneewind et al. 2000).

iBeziehungsmusteri Die folgenden eigenen Erfahrungen, Übersichten und Fallbeispiele verdanken wir vorwiegend einer von 1996 bis 2005 bestehenden Kooperation in der Heidelberger Universitätsklinik zwischen internistischen Nierenspezialisten (Nephrologen), Urologen, Chirurgen und Medizinpsychologen. Gemeinsam haben wir darin ein Beratungskonzept für die psychosozialen, medizinischen, ethischen und rechtlichen Aspekte der Lebendnierenspende entwickelt. Das Konzept umfasst die Vorbereitung von Empfängern und Spendern auf eine Transplantation und deren Nachbetreuung nach der Operation. Es geht von folgenden empirisch gesicherten Erfahrungen aus (Schweitzer et al. 2003): Für die große

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Mehrzahl von Spendern wie Empfängern scheint die Lebendnierenspende einen positiven Einfluss auf die Lebensqualität zu haben. Für eine Minderheit von rund 15 bis 25 % scheinen aber subjektive Problemwahrnehmungen aufzutreten. Zur Lebendspende entscheiden sich in der Regel Menschen mit guter und stabiler Beziehung zum Empfänger. Diese Beziehung wird durch die Spende meist noch besser und enger. Allerdings belasten und gefährden schlechte medizinische Verläufe diese Beziehungsqualität, 4 bis 10 % der Spender bereuen ihren Schritt später. Bescheidene Erwartungen vor der Transplantation, insbesondere der Spender in Bezug auf eigenen Lebensqualitätsgewinn, verbessern die Zufriedenheit post hoc. Postoperativ ist auch unter günstigen Ausgangsbedingungen bei 15 bis 20 % der Empfänger mit meist depressiven Übergangskrisen zu rechnen. Dies bedeutet für die psychologische Beratungspraxis: Eine Mehrzahl braucht keine psychologische Beratung, weil die für eine gute Einstimmung wichtigen Prozesse spontan auch ohne professionelle Beratung ablaufen. Bei minimal 10 % und maximal 25 % aber ist eine präoperative Erwartungsklärung (und bei Bedarf eine postoperative Krisenbetreuung) wichtig (alle Angaben zit. nach Schweitzer et al. 2003; siehe auch Seidel-Wiesel u. Schweitzer 2005). In den Vorbereitungsgesprächen gehen wir von folgenden Annahmen aus: Lebendnieren-Transplantationen verlaufen medizinisch und psychologisch besser, wenn zwischen Spender und Empfänger eine (gute) Beziehung besteht, die gekennzeichnet ist durch Stabilität, durch eine Balance zwischen Geben und Nehmen und durch gegenseitige Autonomie (»Wir könnten auch anders«). Zum guten Verlauf gehören außerdem die äußere Freiwilligkeit der Spende und das realistische Durchdenken möglicher Komplikationen. Sind diese Voraussetzungen noch nicht gegeben, sollte das Paar im Beratungsgespräch oder zwischen diesem und der Operation Gelegenheit haben, sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Mit Blick auf diese Themen stoßen wir in unterschiedlicher Häufigkeit auf folgende Konstellationen, die uns dazu bringen, Spender, Empfänger und eventuell auch den Transplanteuren eine Verlangsamung und Infragestellung der Operationsabsicht nahe zu legen: 1. Extrem einseitig-abhängige Versorgungsbeziehungen: Solche unausgewogenen Beziehungen sind gekennzeichnet durch einen stets sor-

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genden und unterstützenden Partner als Spender und den empfangenden und Fürsorge erfahrenden Gegenpart als Empfänger. Dieses Beziehungsmuster fanden wir vorwiegend zwischen Mutter und Sohn sowie zwischen Ehefrau und Ehemann als Spender-Empfänger-Paaren. 2. Unrealistische Veränderungshoffnungen: »Alles wird besser werden«. Diese fanden wir nur in wenigen Fällen, die aber geprägt waren von einer extrem hohen Hoffnung auf Verbesserung aller Lebensaspekte. In diesen Fällen nutzten wir das Gespräch, um realistischere Sichtweisen zu entwickeln und psychologische Unterstützung für kritische Enttäuschungsphasen nach der Transplantation anzubieten. Ein 30-jähriger Mann, der in absehbarer Zeit mit der Dialyse beginnen musste, hatte sich auf Anraten der Ärzte zu einer präemptiven Nierenlebendspende (d. h. Transplantation vor Dialysebeginn, um diese zu vermeiden) entschlossen, nachdem seine Mutter sich zur Spende bereit erklärte. Zu dieser Zeit konnte der Sohn noch halbtags bei einer Autoleasing-Firma arbeiten und plante, nach der Transplantation möglichst bald beruflich voll einzusteigen. Gleichzeitig hatte er bisher nie die richtige Frau für eine dauerhafte Beziehung gefunden und hoffte, dass auch in dieser Hinsicht nach der Transplantation weniger Probleme auftreten würden. Im Gespräch zeigte sich, dass eigentlich die Mutter mehr als der Sohn sich für ihn diese weitreichenden Auswirkungen bezüglich Karriere und Partnerschaft wünschte und nährte. Im Gespräch wurden realistische Perspektiven definiert und gleichzeitig Strategien im Umgang mit der körperlichen Anpassungsphase nach der Transplantation entwickelt. Gerade Patienten, die nicht den Leidensdruck der Dialyse erfahren haben, sind zunächst in den ersten Wochen nach der Operation oftmals enttäuscht und realisieren die Verbesserungen nur langsam.

3. Ängstliche Vermeidung jeglichen Nachdenkens über Komplikationen: Beim Durchsprechen von Komplikationsszenarien im Zusammenhang mit der Transplantation identifizierten wir drei Arten der Auseinandersetzung mit diesem Thema. Jeweils etwa ein Drittel der Kandidaten reagierte mit Verdrängung, einer aktiven Auseinandersetzung oder einem optimistisch gefärbten Fatalismus. In vier Fällen der ersten Gruppe veranlasste die Ablehnung jeglicher Auseinandersetzung mit möglichen Komplikationen die psychologischen Berater dazu, einen schwierigen seelischen Verlauf nach Transplantation zu erwarten. In einem aus Sicht der Katamnese später tragisch verlaufenen Fall lernten wir eine alleinerziehende Mutter (Mitte 30) als Spenderin und einen Mittfünfziger, verwitweter leitender Angestellten, als Empfänger kennen – beide ein Paar. Der hektisch und dominant auftretende »Manager« wollte in getrieben wirkender Weise die Transplantation sogleich hinter sich bekommen – so viele Aufgaben stünden an

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Systemische Familienmedizin und duldeten keinen weiteren Aufschub. Die schüchtern bis verängstigt wirkende Frau wollte spenden. Das Paar hatte aber durch sein polarisiertes Auftreten (hektisch-dominant versus schüchtern-verängstigt) bei mehreren Ärzten und Pflegenden den Eindruck erzeugt, dass er sie zu einer Spende zwingen wolle. Im Gespräch zeigte sich, dass dies nicht der Fall war, sondern dass die beiden »nur« eine extrem komplementäre, aber in den Austauschbeziehungen stimmige Beziehung entwickelt hatten (»Du managst mein Leben und erziehst meinen Sohn in männlich-väterlicher Strenge – dafür umsorge ich dich und schenke dir auch meine Niere«). Deshalb stimmten wir trotz Restbedenken einer Organspende zu. Das tragische Element kam im weiteren Verlauf nach der Transplantation dadurch hinzu, dass der Empfänger infolge einer Nebenwirkung der Antisuppressiva (Verringerung der Knochendichte) sich später einen Bruch zuzog, der ihn lange Zeit festsetzte und seine Agilität und Vitalität viel mehr beeinträchtigte als früher die Dialyse. Dadurch wurde der Beziehungsvertrag zwischen beiden nicht mehr erfüllbar – er zeigte sich jetzt so hilflos und abhängig, wie sie sich ihn weder hatte vorher vorstellen können noch wie sie ihn jetzt ertragen wollte.

4. Dominanz der Spender – Zögern der Empfänger (»Geschenk als Belastung«): Bedenken der Empfänger, ob sie die Niere als Geschenk annehmen können, traten gewöhnlich in Verbindung mit einer einseitig-abhängigen Spender-Empfänger-Beziehung auf. In diesen Fällen wurde den Beteiligten geraten, die Transplantationsentscheidung auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen. Ein junger Mann, 25 Jahre alt, war als »Frühchen« geboren, hatte als Kind verschiedene ausführliche Krankheitsphasen durchgemacht, war in der Schule von seiner alleinerziehenden Mutter intensiv bei den Hausaufgaben unterstützt und als Jugendlicher auf seiner lange erfolglosen Suche nach einer Freundin ausführlich beraten worden. Nun hatte er aber (erst seit kurzem) sowohl eine Freundin als auch einen festen Job, fühlte sich erstmals nicht mehr so abhängig von der Mutter und mochte mit der Annahme einer Spende nicht wieder in das alte Abhängigkeitsgefühl zurück. Die Mutter konnte dies anfangs gar nicht verstehen, wollte sie doch mit der Spende ihn unabhängiger machen – unter anderem von der Dialyse, von der sie ihn zuweilen abholte.

5. Erweiterter Verwandtschaftsbegriff in anderen Kulturen: Dieser erschwert in einigen Fällen die Beurteilung, ob hier die Spende tatsächlich zwischen »einander nahestehenden Personen« erfolgt: Der deutsche Chef eines europaweiten Roma-Clans präsentierte einen polnischen Verwandten, dessen Hausbau er finanziell unterstützt habe und für dessen Kind er Taufpate sei. Mehrfach begegnete uns auch der Fall einer in Deutschland lebenden türkischen Familie mit mehreren Kindern, die eines ihrer noch in der Türkei lebenden, nun gerade kein Deutsch sprechenden Geschwister aktivierten – diese waren stets weiblichen Geschlechts. 6. Schlechte Vorerfahrungen der Kandidaten mit früheren medizi-

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nischen Institutionen und deren Diagnosen, Behandlungsstrategien und Organisationsproblemen: Diese gingen in der Regel mit einer ambivalenten Haltung gegenüber dem Ärzteteam einher. Die Patienten und zum Teil auch ihre Spender schwankten zwischen Skepsis und sehr hohen Erwartungen. Zuweilen haben Patienten nicht verstanden, warum sie nach langer und intensiver Diagnostik in einem früheren Transplantationszentrum am Ende doch abgewiesen wurden. Manche beklagten, ihr Operationstermin sei schon mehrmals aufgrund konkurrierender »Notfalloperationen« abgesetzt worden, sie hätten sich »hintangestellt« gefühlt. Ein stark sehbehinderter Patient war nicht in der Lage gewesen, die schriftlichen Materialien zu lesen, hatte aber auch ein ausführliches Vorlesen nicht zu erbitten gewagt und stattdessen Ressentiments entwickelt, die Ärzte wollten ihn nicht richtig aufklären.

iEntstörungeni Vor der Organspende Präoperativ gilt es zum einen, die medizinischen und psychologischen Heilserwartungen beider Partner an die Transplantation abzuklären und auf ein realistisches Maß zu bringen. Andererseits sollte die Möglichkeit eines schlechten postoperativen Verlaufes vorab bedacht werden und man sich fragen, welche Bewältigungsmöglichkeiten dafür verfügbar sein werden. Postoperativ sollte ein – oft kurzes – Kriseninterventionsangebot verfügbar sein. Vor jeder Lebendspende wird zumindest ein gemeinsames (psychologisches) Gespräch mit Spender und Empfänger geführt. Das Vorbereitungsgespräch ist verbindlich für alle Spender-Empfänger-Paare, ohne dieses wird nicht operiert – es handelt sich also um einen »Zwangskontext«. Es findet zeitlich etwa in der Mitte der medizinischen Abklärungsphase statt. Am Gespräch nehmen Medizinpsychologen und Organmediziner teil (dichte medizinisch-psychologische Kooperation). Die beteiligten Kandidaten, Spender und Empfänger, sprechen gemeinsam mit uns. Zusätzlich können auf Wunsch der Betroffenen weitere Angehörige in das Vorbereitungsgespräch einbezogen werden (Familienberatungs-

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ansatz). Schwierige und heikle Fragen werden auch dann thematisiert, wenn diese »Worst-Case«-Szenarien Spender und Empfänger subjektiv belasten (Risikoabwägung). Der Gesprächsraum befindet sich nicht im (quirligen) Transplantationszentrum, sondern im (ruhigeren) Institut für Medizinische Psychologie, um eine störungsfreie Atmosphäre zu gewährleisten. In kritischen Fällen endet das Gespräch mit dem Vorschlag einer Nachdenkphase statt einer Ablehnung. Allen Kandidaten bieten wir die Möglichkeit der postoperativen psychologischen Betreuung an. Thematisch erfragen und diskutieren wir mit den Beteiligten im Regelfall die folgenden Aspekte (Schweitzer et al. 2004): – Familiensituation (Alter, Berufe, Wohnorte, Gesundheitszustand der Familienmitglieder) und Familiengeschichte anhand eines Genogramms; – Vorgeschichte der Krankheit und des Umganges mit der Krankheit bei Patient und Familie; – Geschichte der Spendenidee einschließlich Bedenken und Zweifel gegenüber der Transplantation; – Wünsche und Erwartungen an die Transplantation; – Balance von Geben und Nehmen in der Beziehung; – Realistisches Durchdenken von Komplikationen; – Geschichte und Stabilität der Beziehung von Spender und Empfänger; – Weitere Bedenken und offene medizinische Fragen; – Beratung zu kritischen Punkten; – Angebot intermittierender psychologischer Betreuung. Treffen wir im Gespräch auf problematische Konstellationen wie bereits im Abschnitt Beziehungsmuster beschrieben – das ist bei ungefähr 20 % unserer Gespräche der Fall – dann raten wir den Spender-EmpfängerPaaren dazu, vor der Nierenlebendspende diese Probleme in weiteren Gesprächen und Erkundungen zuvor zu lösen – auf Wunsch gern mit unserer Beratung, die aber nicht genutzt werden muss. Häufig wird eine Wiedervorstellung bei uns nach einiger Zeit dann erforderlich. Ein 18-jähriger männlicher türkischer Jugendlicher kommt mit seiner Mutter (die für ihn spenden soll) und seiner älteren Schwester, die für die nur wenig Deutsch sprechende Mutter dolmetschen soll. Normalerweise nutzen wir in solchen Fällen einen professionellen Dolmetscher. Hier war der entsprechende Bedarf aber vorher nicht abschätzbar gewesen. Im gemeinsamen Gespräch erwähnt er gelegentlich Angstträume, die ihn

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etwa seit der Transplantationsentscheidung heimsuchen, die aber damit »gar nix zu tun« hätten. Er wird zu einem Einzelgespräch eingeladen, in dem intensive Operationsängste deutlich werden, basierend auf schwierigen und langwierigen (orthopädischen) Erfahrungen als kleines Kind. Wir überlegen im Sinne des Bildes vom »inneren Parlament«, was denn derjenige Teil in seinem Herzen zu ihm sagt, der diese Transplantation nicht erleben mag. Dieser möchte schon gern die Niere der Mutter annehmen, aber fragt sich, ob er sich den Operationsstress zutrauen kann, wo er doch vor so vielen Herausforderungen steht (Abschluss einer Berufsausbildung in einem Rehabilitationszentrum, Führerschein, danach Suche nach einem ersten Job). Nun zeigt die Zeitperspektive eine Lösungsmöglichkeit auf: In einem halben Jahr wird aller Voraussicht nach die Berufsausbildung abgeschlossen und der Führerschein erworben sein. Dann bleibt nur noch die Jobsuche und dann würde er sich vielleicht die Operation zutrauen. Am Ende steht die Empfehlung, die Transplantation erst einmal um ungefähr ein Jahr zu verschieben. Den entsprechenden Brief an den Transplanteur sendet der Berater auch ihm zu. Interessant ist, was rund neun Monate später passiert: Empört kommt er mit seiner Schwester zu einem kurzfristig vereinbarten Termin: Damals hätte er sich ja der Operation noch nicht unterziehen dürfen. Inzwischen habe er so viel erreicht (er kommt diesmal als Fahrer des Familienautos) und wolle endlich von der Dialyse weg. Ich (Jochen Schweitzer) solle jetzt endlich mit der Unterschrift herausrücken und die Transplantation nicht weiter blockieren.

Wir lehnen den Wunsch zur Nierenlebendspende aus rein psychologischen Gründen nicht grundsätzlich ab. Allerdings raten wir bei allen Problemfällen zu einem Moratorium, das heißt zur Verschiebung der Entscheidung auf einen für die Beteiligten annehmbaren Zeitpunkt und zur Beschäftigung mit den ungelösten Themen während dieser Zeit. In einigen Fällen setzen wir dafür auch einen klaren Zeitrahmen, meist zwei bis sechs Monate. Zögerlichen Empfängern raten wir abzuwarten – sie würden schon merken, wenn die Zeit reif sei für eine autonome Entscheidung. Wann immer Empfänger und Spender Unzufriedenheit oder feindselige Gefühle gegenüber dem medizinischen System äußern, thematisieren wir diesen Punkt mit allen Beteiligten vor der Transplantation. Patienten, Ärzte und Pflegekräfte bereiten wir auf die spezifischen kritischen Punkte vor, die bezüglich der Kooperation in der Klinik auftreten könnten. Nach der Organspende Das Angebot einer psychologischen Betreuung in der stationären Phase wird nur in Anspruch genommen, wenn wir selbst postoperativ ein spontanes Kontaktangebot machen (wir besuchen daher jedes SpenderEmpfänger-Paar in der Woche nach der Operation kurz für fünf bis zehn Minuten auf der Station und erkundigen uns nach ihrem Befinden) oder

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wenn die behandelnden Ärzte oder Pflegekräfte uns konsultieren. In der Regel handelt es sich um Patienten mit depressiver Verstimmung oder ihnen selbst unerklärlicher Ängstlichkeit, meist in Zusammenhang mit unerwarteten Komplikationen und unerwartet langem stationären Aufenthalt. Wir führen in diesen Situationen ein bis maximal sechs Beratungsgespräche im Abstand von vier bis sechs Wochen zwischen den Sitzungen. Auf Wunsch wird der Spender oder ein anderer wichtiger Angehöriger zu einem oder mehreren Beratungsgesprächen eingeladen. Der 41-jährige Patient kommt mit seiner gleichaltrigen Ehefrau zum Erstgespräch, da er ein halbes Jahr nach erfolgreicher Nierentransplantation unter depressiven Symptomen und Angstanfällen litt. Zu diesem Zeitpunkt ist er seit drei Jahren berentet, seine Frau ganztags berufstätig. Er hat zuvor 13 Jahre Heimdialyse praktiziert, wobei ihn die Ehefrau unterstützte. Es werden in sieben Monaten zwei Paargespräche sowie drei Einzelgespräche mit dem Empfänger geführt. Im Verlauf dieser Gespräche lassen die depressiven Symptome nach, zunächst wird aber die Angst stärker. Der Patient setzt sich intensiv mit den Angstattacken auseinander und experimentiert mit ihnen: Worin bestehen die angstauslösenden Situationen? Soll er Tabletten einnehmen oder nicht? Wie lässt sich die Angst einladen, wie kann er sie wieder verabschieden? Außerdem besprechen wir die Rollenverteilung in der Paarbeziehung und seinen Umgang mit der vielen verfügbaren Zeit seit seiner Berentung. In den letzten Gesprächen kommt es zu einem Rückgang der Angstattacken und der Patient beendete die Therapie. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass er mit dem verbliebenen Maß an Angst leben und umgehen kann, diese als Zeichen der Sorge um die Niere akzeptiert und keine weiteren Empfehlungen mehr braucht.

Auch wenn nicht gespendet wird: Beratung für Dialysepatienten Unsere Kriseninterventionen und längeren Beratungen werden außer von Transplantierten auch von Dialysepatienten in Anspruch genommen. Hier geht es weniger um das Bewältigen der Operationsrisiken und das Erleben nach der Operation, als vielmehr darum, in veränderten Lebensphasen auch mit den Dialysepraktiken anders umzugehen als zuvor. Ein 18-jähriger junger Mann, der schon als Kind lange Zeit erfolgreich Bauchfelldialyse praktiziert hat, ist nun mit seiner Mutter in alterstypische Ablöseprobleme geraten, die auch seine medizinischen Routinen in Mitleidenschaft ziehen. Er ist mehrmals nachts nicht nach Hause gekommen, lebte zeitweise bei einem schon allein lebenden Freund und hatte oft die für die Bauchfelldialyse nötigen Utensilien nicht bei sich, was eine allmähliche, aber bedrohliche Verschlechterung seines Zustandes nach sich zieht. Die systemische Einzelberatung in zwei Gesprächen und einem Telefonat dreht sich um die Frage, ob er denn die Dialyse eher seiner Mutter zuliebe oder eher sich selbst zuliebe durchführe – ob er sich also je kränker umso erwachsener fühle. Als er dies nach längerem verblüfften Nachdenken schließlich verneint, beginnen wir zu überlegen, wo

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Nierentransplantation – Einen Körperteil schenken

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denn technisch und beziehungsmäßig der beste Platz sei, seine Dialyseutensilien aufzubewahren. Er kommt schließlich auf die Idee, diese in seinem Kleinwagen zu deponieren, den er vor dem Haus seiner Mutter, vor dem Haus seines Freundes oder gelegentlich auch mal eine Nacht auf einem Feldweg abstellen könne. Er beschließt, in seinem Handy einen Piepton zu programmieren, der ihn zu den festgelegten DialyseZeiten immer erinnert. So könne er immer (einigermaßen) gut dialysieren, unabhängig davon, ob er nun andernorts übernachte oder im Haus der Mutter – was er zwischen dem zweiten Gespräch und dem abschließenden Telefonat wieder mehr zu tun beginnt.

Systemische Beratung bei High-Tech-Interventionen: Was lässt sich aus der Beratung vor und nach Lebendorganspenden lernen? Die Beratung vor und eventuell nach High-Tech-Interventionen hat, soll sie gelingen, einige sehr spezielle Voraussetzungen. Die erste ist die möglichst enge Einbindung der Berater in die medizinischen Routineprozeduren. Das systemische Beratungsgespräch sollte für alle Spender-Empfänger-Paare verbindlich und so auch in den Behandlungsleitlinien markiert sein. Dann muss die Beraterin den so konstruierten Zwangskontext als Teil einer sorgfältigen Diagnostik auch selbst bejahen (»Ich überprüfe gern!«) und darf ihn den Klienten gegenüber nicht dementieren mit der unglaubwürdigen Botschaft: »Das geschieht hier nur zu Ihrem Besten und ganz freiwillig!« Ein Interviewleitfaden hilft, alle kritischen und unangenehmen Punkte anzusprechen. Ein relativ offenes Gespräch mit nur wenig Prüfungsatmosphäre wird dennoch möglich, wenn die Berater zu Beginn verkünden, dass sie am Ende nicht kategorisch urteilen werden, wer spenden darf und wer nicht, sondern nur schauen wollen, ob es noch Überlegungen, Bedenken, auch Zweifel, Ängste oder Sorgen gibt, die vor der Transplantation noch geklärt oder gelöst werden müssten. Die systemische Beratung sollte etwa in der Halbzeit der medizinischen Diagnostik stattfinden – wenn einige der vielen organischen Ausschlusskriterien schon geklärt sind, aber nicht erst am Tag vor der Operation, wenn alle Würfel schon gefallen sind. Sie sollte in möglichst enger praktischer Zusammenarbeit mit den Transplantationsärzten oder -pflegekräften stattfinden, idealerweise in gemeinsam oder teilweise gemeinsam geführten Gesprächen (vgl. McDaniel et al. 1997). Ob dies gelingt, hängt nicht zuletzt von den Zwängen des Klinikbetriebs ab. Diese Voraussetzungen sind selten regelmäßig und dauerhaft gegeben. Um sie zu längerfristig zu sichern, müsste die systemische Beratung

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vor solchen High-Tech-Interventionen integrierter Teil von Qualitätsleitfäden, Behandlungsrichtlinien und Abrechnungsgrundlagen gegenüber den Krankenkassen werden.

4.4 Unerfüllter Kinderwunsch – Wenn das Wunschkind nicht kommt3736 iStörungsbilderi Seitdem durch die Pille die Möglichkeit einer fast sicheren Empfängnisverhütung besteht und Sexualität von der Fortpflanzung entkoppelt ist, können Familiengründungen besser geplant, aber auch leichter »verpasst« werden. In Deutschland hat sich die Geburtenrate von 1965 bis 2005 nahezu halbiert, zugleich stieg das durchschnittliche Erstgebärendenalter von 1980 bis 2005 um vier Jahre. Ein bedeutsamer Teil kinderloser Paare ist ungewollt kinderlos. Als ungewollt kinderlos gelten Paare mit Kinderwunsch, bei denen es trotz regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs innerhalb eines Jahres nicht zu einer Schwangerschaft gekommen ist (weiterführend siehe Strauß et al. 2004; Stammer et al. 2004; Spiewak 2005). Häufigkeit, medizinische Ursachen, Risikofaktoren In Deutschland gelten 3 bis 9 % der Paare mit Kinderwunsch als ungewollt kinderlos. Die medizinischen Ursachen sind auf Frauen und Männer etwa gleich verteilt: 25 bis 30 % aus gynäkologischen oder andrologischen Gründen, 30 bis 40 % aus sowohl gynäkologischen wie andrologischen Gründen, 10 bis 15 % ohne bekannte psychische oder organische Ursache. Letztere bezeichnet man als idiopathische Infertilität. Paare mit idiopathischer Sterilität unterscheiden sich psychologisch nicht von Paaren mit organisch begründeter Sterilität – das ist sorgfältig untersucht (Strauß et al. 2004) und dieser Befund kann helfen, unnötigen Selbstvorwürfen der Paare entgegenzutreten. Von psychogener Ste37 Wir bedanken uns bei PD Dr. Tewes Wischmann und Dr. Heike Stammer, beide Heidelberg, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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rilität spricht man lediglich dann, wenn ein Paar fruchtbarkeitsschädigendes Verhalten praktiziert, keinen Geschlechtsverkehr an den fruchtbaren Tagen praktiziert oder eine begonnene reproduktionsmedizinische Behandlung »sabotiert«. Die Häufigkeit rein psychogener Infertilität wird auf etwa 5 % geschätzt (Wischmann 2006). Hypothesen über Zusammenhänge zwischen Stress und Fruchtbarkeit sind bisher nur postuliert und noch nicht ausreichend untersucht worden: Stress könne zu Tubenspasmen oder zu einer eingeschränkten Spermatogenese führen. Dies würde die Fruchtbarkeit beeinträchtigten, was dann Schuld- und Schamgefühle und Wut zur Folge hätte und als emotionaler Stress wiederum das reproduktive System beeinflussen würde. Das Alter der Frau gilt als wichtigster prognostischer Faktor für den Schwangerschaftseintritt. Auch die Risikofaktoren Übergewicht und Chlamydieninfektion nehmen bei Frauen durchschnittlich zu, sodass allein aus diesen drei Gründen von einem weiteren Anstieg ungewollter Kinderlosigkeit ausgegangen werden muss. Reproduktionsmedizinische Behandlungsverfahren Zu den Verfahren der assistierten Reproduktion im engeren Sinne zählen: – Intrauterine Insemination (IUI): Das Einbringen von Sperma in die Gebärmutter mittels Katheter. – In-vitro-Fertilisation (IVF): Nach Hormonstimulation punktierte Eizellen werden mit Sperma in einer Petrischale kultiviert. Nach einigen Tagen im Brutschrank erfolgt der Rücktransfer von zwei bis maximal drei befruchteten Eizellen in die Gebärmutter. – Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI): Punktion und Rücktransfer wie bei der IVF, dazwischen Mikroinjektion eines Spermiums in die Eizelle. Die Zahl dieser Behandlungen hat stark zugenommen. Betrug 1998 die Zahl der behandelten Frauen noch ungefähr 30.000, waren es fünf Jahre später mehr als doppelt so viele. Der Prozentsatz der Lebendgeburten (»Baby-take-home«-Rate) liegt pro initiiertem Behandlungszyklus (IVFbzw. ICSI-Methode) im Durchschnitt bei ungefähr 14 %. Nach drei Behandlungszyklen bleiben damit 50 bis 80 % der Paare weiterhin kinderlos. Die Reproduktionsmedizin ist also (Stand 2004) bei weniger als der

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Hälfte ihrer Klientinnen erfolgreich. Das Hauptrisiko stellen die Mehrlingsgeburten dar. Die Rate der Zwillingsgeburten ist um das 20fache, die der Drillingsgeburten um das 200fache gegenüber spontan gezeugten Kindern erhöht. Etwa 24 % aller Geburten nach assistierter Reproduktion sind Mehrlingsgeburten. In neueren Studien zeigen sich allgemein keine bedeutsamen psychischen und sozialen Auffälligkeiten von Kindern (sowie deren Eltern und Familien), die in reproduktionsmedizinischer Behandlung zur Welt kamen. Familien mit Mehrlingen nach assistierter Reproduktion erscheinen allerdings als Risikogruppe: Mehrlingskinder neigen vermehrt zu Verhaltens- und Sprachentwicklungsstörungen; Mehrlingsmütter haben eine signifikant größere Chance, Depressionen zu entwickeln; Mehrlingseltern trennen sich häufiger als Eltern mit einem oder zwei Kindern. Und Mehrlingskinder haben nach assistierter Reproduktion ein höheres Risiko (1:12) für chromosomale Anomalien als spontan konzipierte Kinder (1:15). Psychische Auswirkungen reproduktionsmedizinischer Maßnahmen Viele Studien zeigen, dass Infertilität von sehr vielen Frauen als schlimmste emotionale Krise empfunden wird, manchmal gleichzusetzen mit dem Verlust eines nahe stehenden Angehörigen. Hinzu kommt die Belastung durch die zeitlich, emotional und finanziell aufwändige reproduktionsmedizinische Behandlung, vor allem nach erfolglosen Behandlungszyklen. Wenn eine idiopathische Sterilität – wie es häufig geschieht – fälschlich mit psychogener Sterilität gleichgesetzt wird, kann dies die Paare in Form von Schuldgefühlen unter zusätzlichen Druck setzen. Langfristige Folgen ungewollter Kinderlosigkeit Systematische Studien zeigen, dass es nur geringe Unterschiede in der Lebensqualität und der Lebenssituation zwischen kinderlos gebliebenen Paaren und Paaren mit Kindern gibt. Prognostisch günstig ist, wenn kinderlos Gebliebene diese Situation positiv neu bewerten können und akzeptieren, aktiv nach Alternativen suchen und soziale Kontakte aufrechterhalten und ausbauen. Entsprechend prognostisch ungünstig sind Grübeln, das Gefühl der Machtlosigkeit und des Versagens sowie eine weiterhin starke Fokussierung auf Kinder als wichtiges Lebensziel.

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iBeziehungsmusteri Wenn sich aus ungewollter Kinderlosigkeit eine Krise entwickelt, kann ein Paar enger zusammenrücken oder gravierende Beziehungsprobleme eskalieren lassen beziehungsweise zuvor latente Konflikte aktualisieren (Meyers et al. 1995). Bei solchen entweder harmonisierend-verstrickt oder konflikthaft-verstrickt wirkenden Paaren haben wir (Stammer et al. 2004) eine Einengung von Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten beobachtet, die einer lösungsorientierten Verarbeitung der Kinderlosigkeit im Wege stehen können. Während der Typus des harmonisierend-verstrickt wirkenden Paares die Behandler zu einer invasiven bis spaltenden Vorgehensweise verleiten kann, mag die Dynamik des konflikthaft-verstrickt wirkenden Paares die Therapeuten potenziell zur Solidarisierung mit dem Wohl des noch ungeborenen Kindes verführen. Konflikthaft-verstrickt wirkende Paare beenden am ehesten eine Paartherapie vorzeitig oder brechen sie ab, vor allem wenn im Streit darum, wer die Ursache und wer das Opfer der Kinderlosigkeit ist, die Therapeuten eine Richterfunktion einnehmen sollen. Harmonisierend-verstrickt wirkende Paare Bei einem harmonisierend-verstrickt wirkenden Paar (nach Schätzung von Wischmann et al. 2001 ca. 25 % der Paare) werden negative Beziehungsaspekte und unterschiedliche Standpunkte als bedrohlich erlebt. Hier entsteht der Eindruck, als wolle sich das Paar durch Wohlverhalten das Kind verdienen: »Das Einzige, was uns im Leben fehlt, ist das Kind« oder »Das Kind wäre das Sahnehäubchen«. Oft vermeiden die Partner wichtige, aber konflikthafte Gespräche aus Angst, die Harmonie zu gefährden. Wenn Harmonie in der Partnerschaft ein hohes Ideal ist, kann die Unfruchtbarkeit als das zu bekämpfende »Böse« angesehen werden, das mit allen Mitteln ausgemerzt werden muss. Solche Paare beenden nicht gern medizinische Therapien, weil sie den Verlust nicht akzeptieren können oder weil der Partner, der als erster die Behandlung beenden möchte, keine Konflikte heraufbeschwören möchte. Ein solches Ideal kann aber umgekehrt auch den Behandlungsbeginn verzögern, wenn Meinungsverschiedenheiten über Zahl und Ausmaß reproduktionsmedizinischer Behandlungen deutlich werden könnten. Kurzfristig entlastet diese Konfliktvermeidungstrategie. Langfristig kann sie die Verar-

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beitung widersprüchlicher Gefühle und das Entdecken einer sinnvollen, gemeinsamen Lebensperspektive ohne Kind hemmen. Konflikthaft-verstrickt wirkende Paare Konflikthaft-verstrickt wirkende Paare (nach unserer Schätzung 10 % der von uns gesehenen Paare) versuchen die Krisensituation unter Kontrolle zu bekommen, indem sie sich ihre Kinderlosigkeit mit Paarkonflikten erklären und sich somit mit den biologischen Grenzen nicht zu konfrontieren brauchen. Sie scheinen durch die heftige Diskussion aktueller Konflikte zu vermeiden, sich mit dem Schmerz und der Trauer über eine bleibende Kinderlosigkeit zu konfrontieren. Hier kann eine Umdeutung des konflikthaften Verhaltens als gegenseitiger Schutz vor noch unangenehmeren Gefühlen entlastend wirken. Langfristig ist bei diesem Verarbeitungsmodus der Zusammenhalt des Paares permanent gefährdet. In ihrer Paar-Dauerkrise können sie einander nur schwer die gegenseitige emotionale Unterstützung geben, die gerade während reproduktionsmedizinischer Behandlung notwendig ist. Bei beiden Beziehungsmustern kann die Herausforderung für das Paar darin bestehen, Hilflosigkeitsgefühle auszuhalten und zu erkennen, dass eine endgültige Kinderlosigkeit kein Versagen ihrer Partnerschaft bedeuten muss.

iEntstörungeni Im Heidelberger Paarberatungskonzept (die folgenden Darstellungen orientieren sich eng an Stammer et al. 2004) wird in zunächst zwei Beratungsgesprächen mit dem Paar über mögliche kinderwunschbezogene Belastungen gesprochen und über weitergehende psychologische Hilfen informiert. Falls in diesen Gesprächen sexuelle Sorgen, Behandlungsängste, Ängste vor einer Perspektivlosigkeit ohne eigenes Kind oder wichtige Veränderungswünsche deutlich werden, bieten wir dem Paar eine Therapie mit maximal zehn Sitzungen an. In großem Umfang wurde diese Beratung 1994 bis 2000 in der Heidelberger Medizinpsychologie in Kooperation mit der Heidelberger Universitätsfrauenklinik angeboten. Seit Ablauf der Drittmittelförderung ist sie nur noch in begrenztem Umfang möglich. Die Paarberatung zielt darauf:

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– eine bessere Bewältigung der aktuellen Kinderlosigkeit unabhängig vom Erfolg reproduktionsmedizinischer Maßnahmen zu fördern; – Informationsdefizite zu beheben; – Entscheidungshilfen bezüglich einzelner medizinischer Behandlungsschritte zu bieten; – mögliche (Paar-)Konflikte mit der Infertilitätsbehandlung zu vermindern; – die Kommunikation miteinander und mit den Ärzten zu verbessern; – mögliche sexuelle Störungen zu bearbeiten; – die Akzeptanz einer möglicherweise nicht therapierbaren körperlichen Störung zu fördern und – Unterstützung bei der gegebenenfalls notwendigen Veränderung des Lebensstils und der Lebensziele zu bieten. Angestrebt wird eine allgemeine Stressreduktion. Ziel ist, das Leiden am unerfüllten Kinderwunsch zu relativieren, die Eigenverantwortlichkeit und den notwendige Zusammenhalt des Paares zu fördern, ohne mögliche Trennungsfantasien oder -wünsche als Lösung aus der aktuellen Krise zu tabuisieren. Langfristige Entscheidungen sollte das Kinderwunschpaar möglichst nicht in Zeiten treffen, in denen es von Resignation, Frustration, Wut oder Depression beherrscht wird. Der Eintritt einer Schwangerschaft wird nicht als primäres Ziel der Beratung angesehen. Wir stellen nicht die Qualität des Kinderwunsches infrage, aber den psychischen Druck, den Kinderwunsch baldmöglichst zu realisieren. Hauptpfeiler der Gesprächsführung in der Paarberatung und -therapie sind: – Transparenz: Ablauf, Inhalte und Ziele der Beratung werden dem Paar erläutert und begründet. – Paarzentrierung: Der Kinderwunsch wie auch der Umgang mit der Kinderlosigkeit gehen beide Partner an und es ist sinnvoll, gemeinsame Lösungsansätze zu entwickeln. – Klärung: Welche Motive fließen bei beiden Partnern in den Kinderwunsch ein? – Entlastung: Informationen, dass fast jedes Paar die Sexualität während der Kinderwunschbehandlung als beeinträchtigt empfindet. – Ressourcenaktivierung: Die Gestaltungsmöglichkeiten des Paares in der jetzigen Situation der Kinderlosigkeit werden gestärkt.

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– Ergebnisoffenheit: Die Beratung ist sowohl reproduktionsmedizinischen, naturheilkundlichen, umweltmedizinischen als auch verschiedenen psychologischen Behandlungsansätzen gegenüber aufgeschlossen und drängt das Kinderwunschpaar nicht in eine bestimmte Richtung, sondern versucht, eine für das jeweilige Paar möglichst tragfähige Lösung zu entwickeln. In die Beratung fließen bei diesem Thema naturgemäß eigene Partnerschafts-, gegebenenfalls auch Kinderwunscherfahrungen von Beraterin oder Berater ein, die in einer Supervisions- oder Intervisionsgruppe zu reflektieren sich sehr lohnt. Konkretisierung der Wünsche und Klagen Viele Paare scheuen sich verständlicherweise zunächst, gegenüber Dritten ihre intimeren Schwierigkeiten miteinander zu benennen. Sie drücken sich eher allgemein aus: »Er versteht mich nicht!«, »Sie reagiert zu emotional!« Wir lassen uns dann typische Konflikte etwas genauer schildern und fragen, wie solche Situationen vom jeweils anderen erlebt werden. Zirkuläre Fragen über gegenseitige Erwartungen können von egozentrierten Wahrnehmungsmustern wegführen; wir ermutigen die einzelnen Partner, genauer zu formulieren, was sie sich vom anderen konkret wünschen: »Was glauben Sie, wünscht sich Ihr Partner/Ihre Partnerin in Bezug auf die weitere medizinische Behandlung von Ihnen?« – »Was sollte nach seiner/ihrer Meinung noch alles durchgeführt werden?« Konkrete und optimistische Zukunftsperspektiven als kinderloses Paar – und damit Entscheidungen zur Beendigung der Infertilitätsbehandlung – können oft erst nach ausreichender Würdigung des unerfüllten Kinderwunsches und der damit aufgenommenen Anstrengungen in Erwägung gezogen werden: »Manche Paare finden es schwer, Pläne für ein Leben ohne eigenes Kind zu entwerfen, weil sie glauben, dies könnte bedeuten, dass ihr Kinderwunsch doch nicht ernsthaft genug gewesen ist. Wir wissen jedoch, dass eine Entspannung für das Paar eintreten kann, wenn sie darüber gesprochen haben, dass es für ihre Partnerschaft auch eine positive Zukunft ohne leibliches Kind geben könnte. Haben Sie über dieses Thema schon einmal miteinander gesprochen?« Das kann es dem Paar erleichtern, die Vorteile eines Lebens ohne eigene Kinder bewusster und ohne schlechtes Gewissen abzuwägen.

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Unterschiede der Partner markieren und positiv konnotieren Paare, die ihre gemeinsame Harmonie sehr in den Vordergrund stellen, vertreten häufig ein hohes Gleichheitsideal. Die gegenseitige Schonhaltung, in der vorhandene Unterschiede nicht sichtbar werden dürfen, birgt die Gefahr einer Entfremdung des Paares. Bereits die Verdeutlichung eines solchen, oftmals nicht bewussten Rollenverhaltens kann klischeehafte Idealvorstellungen produktiv infrage stellen: »Sie wirken auf mich als Paar wie eine harmonische Einheit. Ich frage mich, wie hoch die Hürde für Sie ist, Ihrem Partner/Ihrer Partnerin auch mal ernsthaft zu widersprechen. Gibt es bei Ihnen solche Situationen?« – »Wie fühlen Sie sich dann? Was machen Sie, um einen vielleicht auch mal vorkommenden Streit zu beenden?« Die letzte Frage eignet sich hervorragend als Beobachtungsaufgabe zwischen den Sitzungen. Normalisierung der auftretenden Krisen und negativen Affekte Auftretende Scham- und Neidaffekte auf andere Paare, die Kinder haben, werden oft als unangenehm erlebt. Phasen von Trauer und Schmerz werden als überzogene Reaktionen wahrgenommen. Wir betonen, dass ein solches Erleben angesichts der existenziellen Bedeutung der möglichen Kinderlosigkeit verständlich ist. Dies führt häufig dazu, dass Paare schon in der nächsten Sitzung von einer Entlastung bei einer Begegnung mit Schwangeren berichten, da sie nicht mehr so viel Energie aufbringen mussten, solche Gefühle zu unterdrücken: »Neid und Wut sind Gefühle, die in erster Linie unangenehm für Sie sind und dem Betreffenden erst einmal nicht schaden. Wann ist es Ihrer Meinung nach gerechtfertigt, Neid und Wut zu empfinden?« – »Finden Sie es bei anderen unangemessen, wenn sie über einen schwerwiegenden Verlust traurig sind? Ist Traurigkeit in Ihrem Leben überhaupt gestattet?« Keinen zusätzlichen Leistungsdruck durch die Psychotherapie erzeugen Viele Paare sind aufgrund der medizinischen Behandlung daran gewöhnt, zur Realisierung ihres Kinderwunsches vieles auf sich zu nehmen. So wird manchmal auch eine Psychotherapie mit der Idee begonnen, »nichts unversucht zu lassen«. Die Vorstellung, sich ein Kind durch »richtiges« Verhalten oder eine »richtige« Einstellung gewissermaßen verdienen zu können, versuchen wir von Anfang an durch entsprechende Informationen infrage zu stellen. Wir würdigen die bisherigen

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Anstrengungen der Paare eher unter dem Aspekt, inwiefern sie dazu beigetragen haben, Schuldgefühlen wegen eines unzureichenden Engagements für das Fruchtbarkeitsziel vorzubeugen: »Ich bin sehr beeindruckt, was Sie bereits alles auf sich genommen haben, um eine Schwangerschaft zu erreichen. Wie ist es für Sie, dass Sie dafür bisher noch nicht belohnt worden sind? Wie gehen Sie damit um, dass andere ohne jede Mühe und manchmal sogar ungewollt schwanger werden?« – »Glauben Sie, dass eine Schwangerschaft durch Psychotherapie gefördert werden kann? Was wäre, wenn psychologische Gespräche sich dafür nicht eignen würden?« Externalisierung der Unfruchtbarkeit Manche Paare empfinden die medizinische Diagnose subjektiv als ein Urteil über ihre Identität als Frau, als Mann oder als Paar. Sie fühlen sich unfruchtbar in einem existentiell umfassenden Sinn. In diesen Fällen weisen wir darauf hin, dass die Fruchtbarkeitsstörung zwar ein schwieriges Lebensproblem darstellen kann, aber nicht das entscheidende Kriterium für das Selbstwertgefühl oder die Qualität der Paarbeziehung sein muss. Wir sprechen nie von einer Sterilität, sondern immer von einer Fruchtbarkeitsstörung als einer aktuellen Krise, die ohne ein endgültiges »Versagen« der Partnerschaft überwunden werden kann. Hilfreich ist die Einstellung: »Wir haben ein Problem mit der Fruchtbarkeit, aber wir sind nicht das Problem«. Um aufzuzeigen, dass eine Fruchtbarkeitsstörung nur einen Teil des individuellen und gemeinsamen Lebens ausmacht, ist folgende Aufgabe als Hausaufgabe zwischen den Sitzungen für das Paar gut geeignet: »Zeichnen Sie beide einen Kreis und gestalten Sie daraus ein Tortendiagramm, in dem Sie den momentan wichtigsten Lebensbereichen Teile der Torte zuweisen: Der Fruchtbarkeitsproblematik, dem Beruf, der Freizeit und den Hobbys, den Freunden, Ihrer Ehe, den Eltern und Geschwistern etc. Versuchen Sie möglichst konkret, Ihr augenblickliches Leben abzubilden: Welche Rolle sie den einzelnen Lebensbereichen innerlich zuweisen, muss nicht Ihrem realen Tages- oder Wochenablauf entsprechen. Versuchen Sie – jeder für sich –, spontane Einfälle zu notieren. Zensieren Sie möglichst wenig. Tauschen Sie Ihre Antworten aus und besprechen dann Ihre Eindrücke. Welche Ihrer Einteilungen erscheinen Ihnen angemessen und sinnvoll? Welche möchten Sie am liebsten ändern? Möchten Sie vielleicht etwas Neues hinzufügen?« – »Wenn Sie

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damit fertig sind, nehmen Sie sich noch mal kurz Zeit, gemeinsam einen Plan zu erstellen, welche Schritte in der nächsten Zeit für Sie anstehen. Nehmen Sie sich auf gar keinen Fall zu viel vor. Legen Sie zusammen fest, wann Sie sich das nächste Mal zusammensetzen, um zu überprüfen, welche Ihrer Vorhaben Sie realisiert haben und welche nicht. Bei denen, die Sie nicht realisiert haben, lohnt es sich zu überlegen, welche guten Gründe Sie davon abgehalten haben. Wägen Sie ab, ob die festgelegten Ziele noch Bestand haben oder einer Korrektur bedürfen. Vielleicht gibt es auch neue Ziele, die sich in der Zwischenzeit entwickelt haben?« Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen Kinderwunschpaare und vor allem die betroffenen Frauen berichten häufig über ein negatives Körperbild. Durch die Erfahrung der Unfruchtbarkeit betrachten sie ihren Körper manchmal mit Selbsthass oder Ablehnung. Die zyklisch auftretende Regelblutung wird zum Indikator des Versagens. Das Konzept »Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen« (Seemann 1998) kann helfen, wieder in einen positiven inneren Dialog mit dem eigenen Körper zu treten, indem die Paare mehr auf ihre körperlichen Bedürfnisse achten und sie in ihrem Alltag besser berücksichtigen. Auch das Erlernen von Entspannungsmethoden kann hilfreich sein. Wesentlicher erscheint dabei, Weiblichkeit und Männlichkeit auch unabhängig von eigener Elternschaft erfahren zu können: »In welchen Situationen empfinden Sie körperliches Wohlbefinden?« – »Wie können Sie sich am besten entspannen?«– »Wie wohl fühlen Sie sich in Ihrer Haut?« – »Können Sie sich vorstellen, in einen inneren Dialog mit Ihrem Körper zu treten und ihn nach seiner Meinung zu fragen, bevor Sie sich wieder eine zusätzliche Arbeit aufbürden?« »Was sind Inseln der Ruhe und Entspannung für sie als Paar?« Traurigkeit zulassen Das Einsetzen der Regelblutung oder die Schwangerschaft einer Freundin ruft bei den meisten Frauen (und manchmal auch Männern), wenn sie auf eine Schwangerschaft warten, Traurigkeit hervor. Diese Trauerreaktionen sind üblich und können zur Integration von Affekten genutzt werden. Traurigkeit kann sich auch als eine starke Gereiztheit ausdrücken, die schnell zu Missverständnissen führen kann – auch im Umgang mit den Beratern.

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Das Verlusterleben ist für andere nicht immer nachvollziehbar. Erst langsam entwickelt sich in unserer Kultur eine Sensibilität für die Notwendigkeit von Abschiedsritualen auch bei dem Thema des unerfüllten Kinderwunsches. Früheren Fehl- und Totgeburten und deren noch aktuellen emotionalen Bedeutungen sollte genügend Aufmerksamkeit geschenkt werden. Oft sind depressive Verstimmungen verzögerte Trauerreaktionen um eine bereits früher nicht glücklich zu Ende gebrachte Schwangerschaft. Die Paare sind von ihrer Umwelt eher Unverständnis für ihre Traurigkeit gewöhnt und suchen aktiv nicht mehr das Gespräch darüber. So kann es in der Therapie ein zentraler Schritt sein, die Trauer als eine verständliche und sogar notwendige Reaktion zu akzeptieren. Die Therapeutin kann mit dem Paar ein individuelles Ritual entwickeln, das dem Abschied eine konkrete Form gibt: »Wie lange haben Sie nach dem Verlust des Kindes getrauert? Haben Sie sich von dem Kind in irgendeiner Form verabschiedet?« – »Manche Paare pflanzen in ihrem Garten einen Baum zur Erinnerung an das verlorene Kind. Manche bewahren ein Ultraschallbild oder ein Spielzeug, das sie bereits für das Kind gekauft haben, an einem besonderen Ort auf. Andere lassen auf dem Familiengrab eine Inschrift anbringen. Könnten Sie sich solche Möglichkeiten für sich vorstellen?« Ressourcen des Paares bewusst machen Wenn das gesamte Lebensgefühl des Paares von der Traurigkeit über ihre Kinderlosigkeit überschattet und durch ein starkes Gefühl von Hilf- und Hoffnungslosigkeit eingeengt ist, scheint es für die innere und zwischenmenschliche Balance förderlich, bisherige Erfolge im Leben des Paares in Erinnerung zu rufen und zu würdigen. Dies jedoch nicht als Beschwichtigung, sondern mit dem Hinweis, dass wir ein möglichst vollständiges Bild der eigenen Person und der des Partners brauchen, wenn wir im therapeutischen Prozess weiterkommen wollen: »Wie laden Sie Ihre Batterien auf, wenn sie leer geworden sind?« – »Was hat Ihnen bisher in schwierigen Lebenssituationen geholfen? Wie sind Sie in ihrem Leben mit anderen Krisen umgegangen?« – »Wer von Ihnen beiden ist der Erfahrenere im Krisenmanagement? Können Sie von ihm/ihr etwas lernen?«

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Verabschiedung erleichtern Atwood und Dobkin (1992) empfehlen, Metaphern zur Beschreibung der Erfahrung ungewollter Kinderlosigkeit zu nutzen: »Ihre Beziehung wird durch die Krise des unerfüllten Kinderwunsches erschüttert wie ein Haus durch einen starken Sturm. Was können Sie machen, um das Haus zu stabilisieren? Was machen Sie, wenn der Sturm abgezogen ist?« Dem inneren Erleben, dass das Leiden an der ungewollten Kinderlosigkeit allgegenwärtig ist, kann mit folgender Frage entgegengewirkt werden: »Stimmt es wirklich, dass Sie immerzu an den unerfüllten Kinderwunsch denken?« Um die Perspektive einzuführen, dass es ein glückliches Miteinander auch ohne ein eigenes Kind für das Paar geben kann und dass sie dafür über die notwendigen Ressourcen verfügen, kann folgende Frage hilfreich sein: »Wenn Sie Ihr Leben immer öfter genießen könnten: Woran würden Sie es merken?« Zur Auseinandersetzung mit der endgültigen Beendigung der Behandlung und zur Verabschiedung des Traumkindes haben sich folgende Formulierungen bewährt (Sewall 1999): »Was brauchen Sie noch, um die Behandlung abschließen zu können?« – »Wie haben sich Ihre Einstellungen gegenüber der Behandlung im Lauf der Zeit verändert?« – »Könnte Ihrem Wunsch zu sorgen und zu erziehen auch auf eine andere Weise entgegengekommen werden?« – »Entwickeln Sie ein Ritual oder eine Zeremonie, wie Sie Ihr Traumkind verabschieden können. Entwickeln Sie einen Plan und einen Sprachgebrauch, wie Sie anderen erklären können, weshalb Sie keine Kinder haben.« – »Schauen Sie, wie Ihr Leben eingerichtet ist: Welche Veränderungen haben Sie bereits geleistet und welche müssen Sie noch vornehmen, um ein kindfreies Leben annehmen zu können?« – »Welche Möglichkeiten können sich dadurch für Sie eröffnen?« Beendigung der fokalen Paartherapie Das Sprechen über die Begrenzung der Paartherapie auf zehn Sitzungen kann für Kinderwunschpaare eine beunruhigende Komponente haben, vermittelt aber dem Paar das Zutrauen der Therapeuten, dass sie ihre Probleme und Konflikte künftig auch allein bewältigen können werden. Das Ende der Paartherapie im Auge zu behalten, beginnt bereits bei der Auftragsklärung. Es geht damit weiter, etwa in der fünften Stunde nachzufragen, was bisher in der Therapie erreicht wurde und was in der rest-

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lichen Zeit noch zu besprechen wäre. Nichtsdestoweniger sollte in begründeten Fällen die Therapiebeendigung flexibel gehandhabt werden. Sie kann auch vorzeitig beendet oder befristet verlängert werden. Grundsätzlich bieten wir allen Paaren an, sich in Krisensituationen wieder an uns zu wenden. Eine ausdrücklich als Abschluss definierte Sitzung ist ein hilfreiches Ritual, um ein gemeinsames Resümee zu ziehen und die entwickelten Perspektiven zusammenzufassen: »Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?« – »Was war hilfreich? Was war weniger hilfreich? Was hat gefehlt?« – »Haben Sie sich von uns verstanden gefühlt?« – »Haben Sie uns unterschiedlich oder ähnlich erlebt? Wann waren Unterschiede hilfreich, wann nicht?«

4.5 Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen – Hängemattentag für die Familie38 37

iStörungsbilderi Jene 90 % aller Kopfschmerzen von Kindern und Jugendlichen, die nicht durch eine andere Erkrankung verursacht sind (Erkältung, wachstumsbedingte Kreislaufstörung, Gehirnerschütterung, Hirntumor), werden primäre Kopfschmerzen genannt. Dazu gehören vor allem die Migräne und der Spannungskopfschmerz. Migränen sind anfallsartige Kopfschmerzen, die unbehandelt zwischen vier und 72 Stunden andauern. Das Kopfweh wird einseitig nur in der linken oder rechten Kopfhälfte erlebt; es pulsiert, seine Intensität erschwert oder verhindert alltägliche Tätigkeiten. Durch körperliche Anstrengungen wird es schlimmer; es geht mit Übelkeit/Erbrechen oder mit einer Überempfindlichkeit auf Licht und Lärm einher. Manchen Migränen geht eine Aura zeitlich voran, eine seltsame, meist optische Wahrnehmung von wenigen Minuten bis maximal einer Stunde Dauer (IHS 1988). Spannungskopfschmerzen hingegen werden auf beiden Kopfseiten 38 Wir bedanken uns bei Dr. Matthias Ochs, Ludwigshafen (früher Heidelberg), für seine Mitwirkung an diesem Kapitel.

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erlebt, eher druckartig als pulsierend. Ihre Intensität ist geringer als bei der Migräne. Sie lösen grundsätzlich kein Erbrechen aus und von den anderen vegetativen Begleitsymptomen (Übelkeit, Lichtscheu, Lärmscheu) maximal eines. Dafür sind sie ausdauernder als die Migräne: Sie können von 30 Minuten bis sieben Tage andauern. Episodisch nennt man Spannungskopfschmerzen, wenn sie mindestens zehnmal im Jahr auftreten. Chronisch nennt man sie, wenn sie seit mindesten sechs Monaten in mindestens der Hälfte der Tage eines Monats oder Jahres auftreten (IHS 1988). Nach epidemiologischen Untersuchungen leiden rund 10 % aller Kinder und Jugendlichen unter Migräne, die Schätzungen für Spannungskopfschmerzen sind uneinheitlich, liegen aber höher. Es besteht Konsens darüber, dass die Prävalenzraten in den letzten 40 Jahren angestiegen sind, bei Migräne um die Hälfte. Kopfschmerzen treten innerhalb derselben Familien gehäuft auf – das heißt, oft haben mehrere Familienmitglieder ein Insiderwissen darüber, wie es sich anfühlt, mit Kopfschmerzen zu leben. Migräne wird heute als eine Reizverarbeitungsstörung im Zentralnervensystem angesehen (Gerber u. Kropp 1993): Die davon Betroffenen reagieren überstark und ohne sich »daran zu gewöhnen« auf die unterschiedlichsten Reize und überfordern damit ihren Organismus. Der Migräneanfall kann als ein – nebenwirkungsreicher – Selbstschutzmechanismus gegen diese Reizüberflutung angesehen werden, denn nach dem Migräneanfall normalisieren (»habituieren«) sich die überreizten kortikalen Neuronenverbände wieder. Auch der Spannungskopfschmerz wird als Selbstschutzmechanismus gegen Reizüberflutung angesehen, wobei hier chronischer Stress zunächst zu Muskelverspannungen im Kopf- und Halsbereich, längerfristig zu einer verminderten Schmerzempfindlichkeit dieser Muskulatur und schließlich zu Kopfschmerzen führen soll. Die überstarke Reaktionsbereitschaft auf Sinnesreize wird als genetisch oder früh erworben angesehen. Auf dieselbe Dosis externer Reize reagieren andere, nicht kopfschmerzgefährdete Menschen viel selektiver, ihr Nervenkostüm gewöhnt sich schneller an die Reize und reagiert schon bald nicht mehr intensiv darauf. Seitens des betroffenen Kindes oder Jugendlichen tragen ein hohes Ausmaß von Ängstlichkeit und Depressionsneigung, von erlebtem Alltagsstress (»daily hassles«) sowie von Problemvermeidung, destruktiver Selbstkritik und katastro-

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phisierendem Denken als Stressbewältigungsstrategien zur Überlastung bei (Seemann 2002; Just et al. 2003).

iBeziehungsmusteri Zahlreiche Studien, sowohl neuropsychologisch wie familiendynamisch orientierte, weisen auf einen Zusammenhang zwischen familiären Beziehungsmustern und Kinderkopfschmerzen hin. Ochs und Schweitzer (2006) haben diese Befunde dahingehend zusammengetragen, dass acht unterschiedliche familiäre Beziehungsmuster in ihren ungünstigen Extremausprägungen sich dazu eignen, die Auslösung und Aufrechterhaltung von Kopfschmerzen bei entsprechend reaktionsbereiten Kindern und Jugendlichen besonders zu fördern: 1. Ein überbehütender Bindungsstil, der den Kindern wenig Freiraum zum selbstständigen Umgang mit ihren Kopfschmerzen gibt, kann dem Entwickeln eigener Bewältigungsstrategien im Wege stehen, kann Wut- und Ärgerausdruck unterdrücken und zu einer Selbstunsicherheit beitragen, die selbst wieder zur Stressquelle werden kann. 2. Familien können im Umgang mit dem eigenen Körper einen allzu unachtsamen oder aber überachtsamen Stil entwickeln. Kinder erlernen diesen Stil schnell. Unachtsamer Umgang mit dem eigenen Körper fördert eine Mentalität des Durchhaltens und Ertragens von Belastungen über eine sinnvolle Belastungsgrenze hinaus. Überachtsamer Umgang hingegen fördert durch liebevolle Zuwendung zu jeder Schmerzmeldung einen sekundären Krankheitsgewinn. 3. Das familiäre Reizmilieu kann überladen sein – die Freizeit allzu vollgepackt, das Kind in die intime Beziehung seiner Eltern allzu involviert, die Mediennutzung allzu intensiv, die Wohnungssituation allzu laut oder beengt. 4. Die familiäre Leistungsorientierung kann allzu ehrgeizig sein. Das kann häufig zum Problem werden beim anstrengenden Übergang des Kindes auf einen höheren Schultypus oder wenn dieses Kind im Wettbewerb mit einem Geschwisterkind ins Hintertreffen gerät. 5. Der Ausdruck von negativen Gefühle wie Wut und Ärger kann in einer Familie negativ bewertet und unterlassen werden.

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6. Eine krisenhafte oder unglückliche Paarbeziehung der Eltern kann von entsprechend sensiblen Kindern schnell erspürt und im ungünstigen Fall als intrapsychischer Stress kopfschmerzfördernd verarbeitet werden. 7. Familien können über Krankheit und Gesundheit im ungünstigen Fall eher bagatellisierend oder eher dramatisierend erzählen. Angesichts der Häufung von Kopfschmerzen in Familien ist die Frage spannend, welche Bewältigungsmöglichkeiten, aber auch welche Katastrophenszenarien im familiären Geschichtenvorrat weitergegeben werden und den Umgang mit Kopfschmerzen beeinflussen. 8. Der Umgang mit kritischen Lebensereignissen (z. B. Tod eines Angehörigen, Arbeitsplatzverlust, Trennung der Eltern) kann in Familien eher verdrängend gestaltet werden (»Da wollen wir uns gar nicht dran erinnern und nicht darüber sprechen«) oder eher im Sinne einer permanenten, gar nicht aufhören wollenden Auseinandersetzung damit.

iEntstörungeni Aufbauend auf einem von Hanne Seemann entwickelten, vorwiegend hypnotherapeutischen Kindergruppenprogramm mit zusätzlichen Elternabenden und Familiengesprächen (Seemann 2002; Seemann et al. 2002) haben Ochs und Schweitzer (2005; siehe auch Ochs et al. 2005) eine für »leichtere« Fälle geeignete, auf drei Sitzungen zugeschnittene Form der Familienberatung bei kindlichen Kopfschmerzen mit klar definierten Bausteinen entwickelt, die systemisch-familiendynamische, hypnotherapeutische und neuropsychologische Ideen miteinander verknüpft. Diese Bausteine sind: Tabelle 25: Bausteine des Drei-Sitzungs-Konzeptes zur systemischen Familienberatung bei Kinderkopfschmerzen Eröffnungsfrage: »Wie können wir gemeinsam Ihr Kind unterstützen?« Auftragsklärung: – die Wege zum Beratungsgespräch für alle nachvollziehbar machen – die gemischten Gefühle gegenüber dem Beratungsgespräch erfragen

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Eine knappe Erhebung kopfschmerzanamnestischer Daten: – Zeitpunkt und Kontext des erstmaligen Auftretens der Kopfschmerzen – Wann treten die Kopfschmerzen im Wochen- und/oder Tagesverlauf auf? – Wie stark, wie lang, wie oft treten die Kopfschmerzen auf? Erkundung der bisher unternommenen Versuche, dem Kopfschmerz zu begegnen: – Frage nach den familiären Interaktionen rund um den Kopfschmerz – Frage nach den familiären Ideen, wie Kopfschmerzen entstehen und ob/ wie man sie loswerden kann Eine Kiste guter Gründe: Wofür können Kopfschmerzen nützlich sein? Werben für die Akzeptanz und Würdigung der Vulnerabilität/Sensibilität des kopfschmerzbetroffenen Kindes Einführung der »Stress-Wohlfühl-Waage« Hausaufgaben für das Kopfschmerzkind und die ganze Familie: – Entspannungshausaufgabe 1: »Neues beim Entspannen« – Entspannungshausaufgabe 2: Der »Hängemattentag« Diskussion: Die Sensiblen und die Robusten in der Familie – wie können unterschiedliche genetische Ausstattungen in der Familie als Ressourcen genutzt werden? Spezielle Beobachtungsaufgaben: – Ressourcen und Lösungen: genau beobachten, was dem Kind im Familienalltag und außerhalb der Familie darin unterstützt, besser mit seinen Kopfschmerzen zurechtzukommen – »Wettervorhersage«: abends gemeinsam mit dem Kind vorhersagen, ob am nächsten Tag Kopfschmerzen auftreten oder nicht – und die Vorhersage begründen – Was für Umstände bestehen, wenn keine Kopfschmerzen da sind? Sitzungseröffnung zweites und drittes Gespräch: »Was hat sich seit dem letzten Mal verändert?« Zukunftsfragen: – »Angenommen, dass heutige Gespräch würde erfolgreich verlaufen …«

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– »Was würde an Veränderungen berichtet, wenn wir uns in sechs Monaten wieder treffen würden?« – »Wenn durch ein Wunder eines Nachts die Kopfschmerzen zum Fenster herausflögen und nie zurückkommen – was würdest du danach anders machen?« Verschlimmerungsfrage: – »Hättest du irgendeine Chance, die Kopfschmerzen einmal aktiv herbeizulocken, wenn sie den Besuch bei dir verschlafen haben?« Schaf-Dolly-Frage: – »Angenommen, man könnte dich klonen wie das berühmte Schaf Dolly und dein Doppelgänger hätte dieselben Kopfschmerzprobleme – wie würdest du ihn als erfahrener Kopfschmerzexperte beraten?« Diskussion der mit dem Kopfschmerz zusammenhängenden, in den Gesprächen deutlich gewordenen familiären Beziehungsmuster Visionen in zwei und in fünf Jahren: – Wie wird die Beziehung zwischen dem Kopfschmerz, dem Kind und den anderen Familienmitgliedern dann aussehen? Abschlussstatements: – »Veränderung verläuft oft nach dem Motto ›Zwei Schritte vor, einer zurück‹. Falls also zwischenzeitlich wieder Kopfschmerzen auftreten sollten, können Sie das als gutes Zeichen deuten.« – »Was werden Sie nach Abschluss der Beratung tun, um weiter erfolgreich voranzukommen?« – »Mir bleibt zum Schluss nur noch, Ihnen zu Ihren Fortschritten zu gratulieren.«

Einige dieser Bausteine beschreiben wir im Folgenden genauer. Gemischte Gefühle gegenüber der Familienberatung erfragen Patienten mit Schmerzen leuchtet eine psychosozial orientierte Behandlung anfangs häufig nicht ohne weiteres ein. Daher empfiehlt sich, Skepsis und Befürchtungen einerseits und die Erwartungen und Wünsche andererseits – also die sogenannten gemischten Gefühle – der einzelnen Familienmitglieder gegenüber der psychologischen Beratung zu erkunden: »Wenn Familien mit Kindern, die Kopfschmerzen haben, zu mir

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kommen, dann kommen sie mit Wünschen und Erwartungen, aber oft auch mit Skepsis und Befürchtungen darüber, was hier denn möglicherweise Unangenehmes oder Seltsames passieren könnte. Wer von Ihnen in der Familie ist denn der Skeptischste solchen psychologischen Familiengesprächen gegenüber?« Häufige Antworten auf solche Befürchtungsfragen sind: – dass uns als Eltern irgendwie Schuld daran gegeben wird, dass unser Kind Kopfschmerzen hat; – dass Sie sagen, dass mit unserem Kind psychisch was nicht stimmt; – dass Sie uns auch nicht helfen können. Solche Antworten lassen sich nutzen, um weitere Erwartungen gegenüber den Familiengesprächen zu erkunden: – »Was müsste ich sagen/tun, damit Sie das Gefühl hätten, ich gäbe Ihnen die Schuld für die Kopfschmerzen Ihres Kindes? – »Woran würden Sie merken, dass die Familienberatung hilfreich/ nicht hilfreich ist?« – »Wie hilfreich wird die Familienberatung Ihrer Ansicht nach auf einer Skala von 0 bis 10 maximal sein können?« – »Was müsste ich tun, damit die Familienberatung scheitert und Sie beim nächsten Mal nicht wiederkommen?« Da Kopfschmerzen zunächst meist als ein rein medizinisches Problem bewertet werden, empfiehlt es sich, anschließend die anamnestische Erhebung der körperlichen Beschwerden ausführlich in den Vordergrund zu stellen. »Was hat bisher geholfen?« – Exploration erfolgreicher und weniger erfolgreicher Lösungsversuche »Uns geht es hier ja darum, gemeinsam Lösungen zu finden, wie ihr Kind besser mit seinen Kopfschmerzen umgehen kann. Deshalb ist es hilfreich, wenn wir zunächst einmal gemeinsam schauen, was bisher schon geholfen und nicht geholfen hat. Vielleicht beginnen wir damit, was alles bisher nichts gebracht hat? Was hat im Gegensatz dazu bisher geholfen? Was davon am besten und was am zweitbesten?« Oft berichten die Familienmitglieder zunächst lediglich von ein bis zwei hilfreichen Strategien – zum Beispiel »Aspirin einnehmen« oder »sich hinlegen«.

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Nach mehrmaliger Nachfrage folgen dann oft weitere Dinge, die bereits einmal geholfen haben, aber wieder verschüttet sind, nicht mehr regelmäßig zum Einsatz kommen oder noch nie geholfen haben. T1: Therapeut 1; T2: Therapeut 2; M: Mutter; P: Patient Andreas (13 Jahre) T1: »Dass Sie hierherkommen zeigt, dass Sie nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern aktiv werden, um mit den Kopfschmerzen besser zurechtzukommen. Was haben Sie schon alles probiert gegen die Kopfschmerzen? Was hat bisher geholfen?« M: »Massage an den Schläfen mag er gerne, Öl, Autogenes Training, Raumspray. Ein paar Mal Aspirin, wenn es zu stark war, haben geholfen. Das hat alles bisher ein bisschen geholfen. Am besten hat aber bisher Homöopathie geholfen. Zweimal haben wir Kügelchen verordnet bekommen. Seitdem hat sich das mit den Kopfschmerzen verbessert. Falls es wieder schlimmer werden würde mit den Kopfschmerzen, würden wir das nochmals in Anspruch nehmen.« T1: »Was machst du, wenn du Kopfschmerzen kriegst? Was hilft dir?« P: »Mir hilft Entspannen, kein Fernsehen, mich hinlegen und Augen zumachen, Massage von Mama und Öl. Aber am besten hilft Massage von Mama.« M: »Die Kopfschmerzen haben sich gebessert während der homöopathischen Behandlung, deswegen geben wir jetzt keine Kügelchen mehr. Wir sind zu Ihnen gekommen, um rauszukriegen, was er selbst tun kann. Autogenes Training hat aber nicht viel gebracht.« T1: »Manche Kinder entspannen sich eher zum Beispiel beim Musik hören oder wenn sie mit dem Hund nach draußen gehen … Wie entspannst du dich?« P: »Einfach hinlegen …« T1: »Was macht dir Spaß?« P: »Tennis spielen, freiwillige Feuerwehr, Inliner fahren, Hockey spielen.« M: »Ich habe ihm ein Buch mit Entspannungsgeschichten gekauft: Das lese ich ihm auch manchmal vor.« T2: »Sie haben schon viel ausprobiert, aber manchmal ist auch weniger mehr…« M: »Ich möchte gerne, dass Andreas das mit den Kopfschmerzen selbst im Griff haben kann. Denn ich bin ja nicht immer da.« T2 zu T1: »Die Mutter hat viel gemacht für Andreas’ Kopfschmerzbewältigung und das hat gut geklappt bisher. Jetzt will sie gern, dass Andreas das übernimmt? Ob Andreas auch diesen Wunsch hat?« T1 zu T2: »Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass Andreas Ideen dazu haben könnte, wie er besser mit den Kopfschmerzen auch ohne Mama zurechtkommt. Vielleicht ist aber die Attraktivität, dass Mama das macht, größer.« M: »Andreas tut es auch gut, in meinem Armen zu sein, geschmust zu werden …« T2: (später im Gespräch) »Ich schlage vor, dass Sie Andreas so oft, wie Kopfschmerzen sonst so kommen, eine Kopfmassage geben – allerdings nur in kopfschmerzfreien Zeiten, das ist ganz entscheidend bei dieser Hausaufgabe! Wenn Kopfschmerzen dann tatsächlich da sind, macht Andreas die Massage dann für sich.«

Hier wird durch die Fragen nach den bisherigen Lösungsversuchen deutlich, dass sich um die Linderung der Kopfschmerzen eine sehr liebevolle Mutter-Sohn-Interaktion mit Vorlesen, Schmusen und Kopfmassage entwickelt hat. Und es wird im Sinne einer Musterverschrei-

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bung empfohlen, dieselben liebevollen Interaktionen vermehrt zu praktizieren, wenn gar keine Kopfschmerzen auftreten – um die Möglichkeit zu eröffnen, beides zu entkoppeln. Was sich bei dem einen Kind als hilfreich herausstellt, kann bei dem anderen Kind zur Verschlimmerung beitragen (z. B. Fernsehen, mit Freunden sich treffen). Deshalb ist es in der Kopfschmerzberatung entscheidend (Seemann 1998, 2002), mit dem Patienten und seiner Familie zu explorieren, was, wann, wie bei der Kopfschmerzbewältigung helfen kann – indem er oder sie mit dem Hund spazieren geht, laut Musik hört, Joggen geht, Entspannungsgeschichten auf Kassette hört oder Progressive Muskelrelaxation in einem Gruppentraining einübt. Da primäre Kopfschmerzen in Familien meist bei mehreren Mitgliedern zugleich auftreten (Russell 1997), sind in der Familie oft schon Erfahrungen im Umgang mit Kopfschmerzen vorhanden. Diese lassen sich nutzen: »Unsere Erfahrung ist, dass in Familien mit einem Kopfschmerzkind oft noch mindestens ein weiteres Familienmitglied ebenfalls Kopfschmerzen hat – eine Mama, ein Papa, eine Oma, ein Opa, eine Tante, ein Onkel usw. – wie ist das denn bei Ihnen? Wie geht denn dieses Familienmitglied mit seinen Kopfschmerzen um?« »Wo kommen die Kopfschmerzen her?« – Exploration familiärer Ursachen- und Heilungstheorien Wir erkunden die subjektiven Krankheits- und Gesundheitstheorien der einzelnen Familienmitglieder: – Wie erklären Sie sich selbst die Kopfschmerzen: mit Vererbung, Überforderung, Genießen des Krankenstatus etc.? – Wie lange, denken Sie, wird das Kind seine Kopfschmerzen mit Therapie und ohne Therapie behalten? – Lässt sich dies durch Therapie verkürzen oder würden Sie lieber bis dahin ohne Therapie abwarten? Aus den Antworten werden oft die bevorzugten Lösungsmuster deutlich: – Die Mutter des 14-jährigen Thorsten erzählte: »Die Kopfschmerzen von Thorsten werden so schnell nicht besser. Das wird genau so sein, wie bei mir. Da ist auch erst vor einigen Jahren Besserung eingetreten.« Die Mutter von Thorsten ist 49 Jahre alt.

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– Die Mutter des zehnjährigen Moritz verglich im Familiengespräch ständig die Kopfschmerzen ihres Sohnes mit schweren Migräneanfällen aus dem Bekanntenkreis. Eine Folge dieser Vergleiche war, dass Moritz seine Migräne verschwieg, aus Angst davor, genauso wie die Bekannten der Mutter in die Klinik gehen zu müssen. – Im Familiengespräch mit Tatjana, einer 16-Jährigen mit schwerer chronischer Migräne, fragten wir, womit die Migräne nach ihrer Ansicht zusammenhängen könne. Nach einigem Nachhaken erzählte die Mutter auf recht dramatische Weise die Geschichte einer Hirnhautentzündung Tatjanas im vierten Lebensjahr. Sie glaube, dass damals, sozusagen wie bei einem elektrischen Generator, der sich überhitzt, bestimmte Nervenbahnen im Kopf verschmolzen seien. Diese Verschmelzungen seien für die Migräne verantwortlich. Wozu man Kopfschmerzen auch nutzen kann – Exploration der »guten Gründe« für Kopfschmerzen »Jetzt hätte ich noch eine Frage, die Ihnen auf den ersten Blick vielleicht etwas ungewohnt erscheint: Angenommen, die Kopfschmerzen wären für etwas gut oder wichtig, was könnte das sein? Meine Erfahrung mit den Kopfschmerzen bei den Kindern ist, dass der Körper nichts ohne guten Grund macht. Was für gute Gründe könnte denn dein Körper haben, die Kopfschmerzen, wenn man so will, einzuladen?« Tabelle 26: Eine Kiste »guter Gründe« für Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter – – – – – – – – –

sich ins Zimmer zurückziehen können Pause machen müssen Zuneigung/Aufmerksamkeit von Eltern/Lehrern bekommen sich an den Eltern rächen Sonderbehandlung erfahren; nicht in die Schule müssen Zusammenhalt der Familie stärken Ruhe, eine Auszeit auch für andere in der Familie erreichen größere Aufmerksamkeit für seinen Körper bekommen auf die eigene Sensibilität aufmerksam machen etc.

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Sensible Kinder – Vulnerabilität akzeptieren und würdigen »Wir sehen es so, dass Kopfschmerzkinder besondere Kinder sind, weil sie ein besonderes Nervenkostüm, eine besondere Sensibilität besitzen. [Fast immer nickt an dieser Stelle die Mutter des Kindes.] Oft sind solche Kinder sehr interessiert an ihrer Umwelt, sind deshalb ehrgeizig, wollen viel erleben, lernen, mitbekommen. Oft haben solche Kinder besondere Fähigkeiten, Neigungen und Begabungen. Es ist äußerst wichtig, dass diese besonderen Begabungen und Fähigkeiten des Kindes gefördert werden.« An dieser Stelle lohnt es sich zu erwähnen, dass viele berühmte Persönlichkeiten Migräniker waren (siehe Tabelle 27). Außerdem kann nach den besonderen Talenten und Kompetenzen des Kindes gefragt werden. Werden diese gefördert? Wenn ja: Wie? Wenn nein: Warum nicht? Als Hausaufgabe für die folgende Sitzung kann aufgegeben werden, etwas Konkretes zu finden, wie die Begabungen des Kindes gefördert werden können. Danach führt man die Idee ein, dass die Sensibilität als eine Begabung des Kindes auch eines besonderen Schutzes bedarf: »Die besondere Begabung ist jedoch, wie Sie wahrscheinlich selbst schon mitbekommen haben, nur die eine Seite der Medaille der Sensibilität. [Auch an dieser Stelle erleben wir oft, dass die Mütter kopfnickend zustimmen.] Die andere Seite ist, dass die Kinder vor der Aufgabe stehen, sich einen Lebensstil anzueignen, der die Bedürfnisse und besondere Verletzlichkeit des Körpers respektiert und im Alltag berücksichtigt. Denn wenn dies nicht geschieht, kann es zu Kopfschmerzen kommen. Die Kopfschmerzen sind also sozusagen etwas ganz Normales, sie sind also, wenn man so will, eine Art Signal des Körpers, besser auf sich aufzupassen. Oder wie sehen Sie das, wie siehst du das?« In der Tat kann man es als Migräniker(in) weit bringen, wie folgende Liste zeigt: Tabelle 27: Berühmte Persönlichkeiten, die unter Migräne litten Julius Cäsar Hildegard von Bingen Hermann Hesse Queen Elizabeth II. Karl Marx Charles Darwin Lewis Caroll Sigmund Freud

Wilhelm Busch Madame Pompadour Marie Curie Thomas Jefferson Alfred Nobel Guy de Maupassant Napoleon Bonaparte Vincent van Gogh

George Seurat Claude Monet Cervantes Virginia Woolf Königin Victoria Friedrich Nietzsche

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Gern erkundigen wir uns auch nach dem sensiblen und dem robusten Lager innerhalb der Familie: »Unsere Erfahrung ist, dass meistens nicht nur das Kopfschmerzkind sensibel ist, sondern es oft ein sensibles und ein robustes Lager in der Familie gibt. Also einerseits Familienmitglieder, die eher empfindsam sind und sich Dinge zu Herzen nehmen und andererseits Familienmitglieder, die eher robuster wirken und die so leicht nichts aus der Ruhe bringt. Ist das bei Ihnen auch so? Beides, das Robuste wie das Sensible, hat ja Vorteile – beides hat natürlich auch Nachteile, klar. Aber zunächst mal zu den Vorteilen: Was können beide Lager voneinander lernen?« Hier ein Gesprächsausschnitt aus einer Familienberatung, welches rund um den Kopfschmerz die verschiedenen Lager (Koalitionen) verdeutlicht: T: Therapeut; M: Mutter; P: Patient Andreas (13 Jahre) T: »Ist das ein Thema in Ihrer Familie: »locker nehmen, schwernehmen«? Gibt es da eventuell Vorbilder aus vorangegangenen Generationen?« M: »Ja, Andreas (Kopfschmerzkind) ist eher wie der Vater und doch auch wie der Opa – Lena eher wie ich und mein Bruder: Die Dinge lockerer nehmen, eine Nacht darüber schlafen und so.« T: »Ernst sein, locker sein, wofür könnte jedes gut sein?« M: »Locker sein hilft gegen Magengeschwüre. Ernst sein muss eigentlich gar nicht sein. Man kann auch locker sein und trotzdem etwas ernst nehmen.« T: »Vielleicht um Fehler zu vermeiden?« M: »Aber wenn man zu ernst ist, dann ist das nicht gut …« P: »Ernster sein ist besser, wenn man zum Beispiel nicht einfach jemand nachahmen will, der sehr lange unter Wasser tauchen kann, das wäre dann gefährlich.« T: »Wie macht Vater das, zu ernst sein?« M: »Er muss alles sofort regeln, er kann nicht eine Nacht darüber schlafen, er selbst sieht es auch so, dass er nicht so locker sein kann. Ich habe meinen Mann schon so kennengelernt, mit dem Alter wird’s aber schlimmer mit dem Ernst-Sein … (lacht wohlwollend) Als Maurermeister hat er im Moment schon viel Stress …«

Die »Stress-Wohlfühl-Waage« Um die besondere Begabung und Sensibilität mit der erhöhten Stressanfälligkeit auszubalancieren, kann die »Stress-Wohlfühl-Waage« (Seemann, 2002, s. 147ff.) eine hilfreiche Intervention sein, besonders in Familien mit sehr ausgeprägter Leistungsorientierung: »Wir sehen das so: Wenn man viele Talente hat, viele Begabungen und dementsprechend auch ehrgeizig ist, dann ist das toll und gut so! Das wäre sozusagen das, was auf der einen Seite der Waage ist … [Mit beiden Händen veranschaulichen wir eine Waage, die im Gleichgewicht oder einseitigem Übergewicht sein kann.] Wenn also auf der einen Seite viel ist, man sich

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eventuell viel anstrengt, unterwegs und neugierig auf die Welt ist, [Jetzt veranschaulichen wir mit der Hand ein Übergewicht auf einer Seite.] … dann ist es wichtig, dass auch auf der anderen Seite viel ist, nämlich viel Ruhe, Spaß, Ausgleich und Entspannung … [Jetzt zeigen unsere Hände die Waage wieder im Gleichgewicht.] – und besser ist doch, wenn auf beiden Seiten der Waage viel ist, als wenn auf beiden Seiten wenig liegt, denn so könnte natürlich auch Gleichgewicht hergestellt werden, was meinst du/ihr/Sie?« Spaß, Entspannung, es sich gut gehen lassen – allein und mit der ganzen Familie Damit die Entspannungsidee attraktiv wird, darf sie nicht mit anstrengend zu erlernenden Übungen gleichgesetzt werden, sondern mit Spaß haben und Wohlfühlen in Verbindung gesetzt werden. »Was machst du, damit es dir gut geht und du dich wohlfühlst?«, »Wie ist das eigentlich bei Ihrem Kind: Wie entspannt es sich?«, »Wie entspannen Sie sich als Mutter/Vater?«, »Wie lassen Sie es sich als Familie insgesamt gut gehen, jeder für sich und alle miteinander?«, »Wie kann Ihre Familie sich Inseln der Ruhe verschaffen, ohne dass das Leben komplett umgestellt werden muss?« Das ist erfahrungsgemäß die Angst vieler Eltern. Mittels Genogramm (»Entspannungsgenogramm«, »Wohlfühl-Genogramm«, »Spaß-Genogramm«) kann das Thema auch transgenerational betrachtet werden: Wie entspannen sich Oma und Opa? Wie lassen es sich Tante und Onkel gut gehen? Aus dieser Unterhaltung ergeben sich oft zwanglos zwei Hausaufgaben zur nächsten Sitzung. Die Entspannungshausaufgabe 1 nennen wir »Neues beim Entspannen«: »Notieren Sie bis zum nächsten Mal genau, was Ihrem Kind Spaß macht, wobei es sich wohl und gut fühlt und wie es sich entspannt. Seien Sie beim Beobachten genau und aufmerksam. Notieren Sie auch, wenn es etwas Neues entdeckt hat, etwas Neues ausprobiert, um sich zu entspannen. Geben Sie Ihrem Kind Anregungen zum Wohlfühlen und zur Entspannung. Regen Sie Ihr Kind dazu an, für sich selbst Möglichkeiten zu entdecken, sich zu entspannen und es sich gut gehen zu lassen.« Diese Hausaufgabe kann dem Kind/dem Jugendlichen auch eigenverantwortlich aufgegeben werden. Die Entspannungshausaufgabe 2 nennen wir den »Familienhängemattentag«: »Vielleicht finden Sie bis zum nächsten Mal etwas Neues,

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wie Sie es sich als Familie insgesamt gut gehen lassen können. Manchmal empfehlen wir Familien, alle zwei Wochen einen Hängemattentag einzuführen. Mit Hängemattentag meinen wir, dass jeder in der Familie sich an diesem Tag einfach der Muße hingibt, tut, wozu er gerade Lust hat, man zusammen – wie es neudeutsch so schön heißt – ›abhängt‹, man gemeinsam, bildlich gesprochen, in der Familienhängematte fläzt, es sich dort gut gehen lässt.« Weniger kann mehr sein – Überbehütung, Reizüberflutung und Leistungsorientierung infrage stellen Im folgenden Beispiel geht es um die Veränderung eines Beziehungsmusters, bei dem die Mutter dazu neigt, sich ausgeprägt Sorgen und ein schlechtes Gewissen zu machen, wenn ihr Sohn Migräne hat. T: Therapeut; M: Mutter; P: Patient Paul (12 Jahre) T: »Wenn Sie auf einer Skala von 0 bis 10 einschätzen würden, wie belastend die Migräne von Paul für Sie ist, welchen Wert würden Sie wählen?« M: »Also wenn es eine richtige Migräne ist, ist sie sehr belastend – bestimmt auf 8 bis 9. Das beeinträchtigt auch mich sehr stark. Wenn er mit richtiger Migräne im Bett liegt, kann ich mich auf nichts mehr konzentrieren, kaum noch noch so richtig meinem Ding nachgehen. Ich kann mich nicht mal hinlegen und ein Buch lesen oder so etwas; sondern ich versuche mich dann zu beschäftigen und denke, hoffentlich geht das bald wieder vorbei und hoffentlich wird’s nicht schlimmer. Also ich mach mir unheimlich viele Gedanken, warum hat er jetzt Migräne? Und wenn er dann wieder morgens rauskommt oder auch abends, also dann bin ich richtig erlöst. Mir fällt so ein richtiger Stein vom Herzen, wenn er rauskommt und sagt: ›Es ist wie weggeblasen.‹ Ich kenne das ja von mir. Ich kann es manchmal einfach nicht glauben, wenn ich mit einem Migräneanfall eingeschlafen bin – und bei mir ist auch das Einzige, was hilft, schlafen – und ich wache morgens auf und die Schmerzen sind weg – ich kann es nicht glauben.« T: »Und Sie sind ganz erholt …« M: »Ja, ich war dann in so einem fast komaartigen Tiefschlaf, ich komme aus diesem Schlaf raus und es war wie ein Alptraum. Deshalb weiß ich auch, wie er sich fühlt und wie das eigentlich ist mit dieser Migräne und deshalb bin ich dann richtig erleichtert. Ich bin danach immer so energiegeladen – also nach meinem eigenen Migräneanfall, wie auch nach seinem. Es ist vielleicht ein bisschen zu stark, so von der inneren Beteiligung, aber es ist einfach so.« T: »Ist denn Ihre Migräne weniger geworden, seit er welche hat?« M: »Das kann ich so nicht sagen.« T: »Klingt jetzt vielleicht ein bisschen blöd.« M: »Es, also, ich hab’ nur noch einmal im Monat, bis auf ganz, ganz groß belastende Situationen. Ich hatte früher öfters Migräne, ja.« T: »Mal angenommen, die Migräne von Paul wird so bleiben, wie sie ist. Was müssten Sie machen, damit die Belastung auf der Belastungsskala, Sie haben ja eben eine 8 bis 9 sozusagen angekreuzt, beispielsweise auf 5 runter geht?«

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M: »Naja. Einfach weniger Gedanken machen. Oder mir sagen: Das hat nichts mehr mit mir zu tun, Pauls Migräne. Oder mir sagen: Er kommt inzwischen eigentlich ja auch ganz gut selbst mit der Migräne zurecht.« T: »Trauen Sie es ihm denn zu, dass er da selbst zurechtkommt?« M: »Na eigentlich schon. Ich merke, wenn ich den ganzen Tag arbeiten bin und er geht morgens schon mit einem leichten Kopfweh in die Schule, dann denke ich schon auf der Arbeit: Also wenn er jetzt Migräne hat, was macht er jetzt? Oder: Hoffentlich kommt er zurecht. Oder: Soll ich vielleicht mal anrufen oder so? Also ich sorge mich schon noch, aber ich weiß, dass er eigentlich gut zurechtkommt. Allerdings, wenn ich dann zurückkomme, jammert er dann so wegen den Kopfschmerzen, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme – was es mir dann wieder schwer macht, das einfach so hinzunehmen und zu sagen: Okay, er ist ja damit klargekommen.« T: »Was würde Sie denn daran unterstützen, sich weniger Gedanken zu machen?« M: »Naja, wenn er mir sagen könnte, das ist schon in Ordnung, ich komme zurecht, das hat er ja bis jetzt noch nicht gesagt, das war vorhin das erste Mal.« T: »Aha.« M: »Oder?!« P: – stimmt leise zu – M: »Wenn ich weiß, dass Paul damit zurechtkommt, brauche ich mir auch keine Sorgen zu machen: Warum hat er denn jetzt Kopfweh, was war denn heute, oder liegt es an mir, ich bin manchmal ja auch angespannt, habe ich das jetzt provoziert oder war ich zu ungeduldig? Oder durch diese äußeren Umstände, dass ich alleinerziehend bin?« T: »Paul, würdest du denn sagen, dass du auch ganz gut mit der Migräne allein zurechtkommst?« P: »Ja.« T: »Ja? Wie fändest du es denn, wenn sich die Mama nicht mehr so viele Sorgen macht?« P: »Gut, ja!« M: »Das findest du gut, dass ich mir Sorgen mache?« P: »Ne!«

Modifikationen Meist wird sich schon im Erstgespräch herausstellen, ob das hier vorgeschlagene Drei-Sitzungs-Setting ausreicht. Bei einer Reihe von Komplikationen wird dies nicht der Fall sein; hier sollte schon am Ende des Erstgesprächs ein anderes Setting vereinbart werden. Spätestens im dritten Gespräch sollte, wenn die Kopfschmerzen sich bis dahin nicht gebessert haben, eine der folgenden Möglichkeiten erwogen werden. Wenn das Kind oder der Jugendliche nicht nur an Kopfschmerzen leidet, sondern zugleich an anderen gravierenden Problemen (häufig: soziale Ängste, Schulverweigerung oder Hyperaktivität) sollten deutlich mehr (oft 5 bis 20) familientherapeutische Sitzungen angeboten werden, oft kombiniert mit einzel- oder gruppentherapeutischen Interventionen. Auch andere familiäre Belastungen und Risiken, zum Beispiel besonders ausgeprägte

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Paarkonflikte der Eltern oder starke Geschwisterrivalität, können mehr Sitzungen erforderlich machen. Wenn schulische Probleme mit den Kopfschmerzen eng verknüpft sind, etwa massiver Stress mit Mitschülern und Lehrern oder schulische Leistungsunter- oder -überforderungen, ist oft eine Beratung mit der Klassenlehrerin ergänzend sinnvoll. Bei massiver und anhaltender Kopfschmerzsymptomatik kann die Vermittlung an eine ärztliche schmerztherapeutische Praxis sinnvoll sein. Dort kann eine medikamentöse Therapie, die über die pädiatrische Standardmedikation hinausgeht, eingeleitet werden.

4.6 Asthma im Kindesalter – Der »Luftiku(r)s«3938 iStörungsbilderi Asthma bronchiale ist eine chronische Atemwegsobstruktion, das heißt eine Verengung der Atemwege. Die Atemwege können vollständig oder nur teilweise verengt sein; die Verengung kann sich spontan oder durch Medikamente zurückbilden. Ein entscheidender Faktor ist dabei eine immunologische Entzündungsreaktion der Bronchialschleimhaut, die zu einer Übererregbarkeit des Bronchialsystems führt, insbesondere der Schleimhaut und der Bronchialwand. So kommt es zu einem sich selbst aufrechterhaltendem Teufelskreis aus Übererregbarkeit und Entzündungsreaktion (Szczepanski u. Schmidt 1997). Das betroffene Kind erlebt eine kontinuierliche Belastung durch die Erkrankung. Zum einen kommt es, je nach Verlauf, zu wiederkehrenden Zuständen von Atemnot, die lebensbedrohliche und starke Ängste auslösende Ausmaße annehmen können – die Bronchusobstruktion geht mit einem allgemeinen Gefühl von Luftnot einher, obwohl die Lunge mit Luft überfüllt ist. Zum anderen gibt es immer wieder Situationen, in denen das Alltagsleben beeinträchtigt ist – beim Sport oder bei Klassenfahrten. Und schließlich bedeutet die Anforderung, über lange Zeit kontinuierlich die erforderliche Dauertherapie einzuhalten (zwei- bis dreimal am Tag jeweils für 39 Wir bedanken uns bei Dipl.-Psych. Barbara Ollefs, Osnabrück, für ihre Mitwirkung an diesem Kapitel.

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etwa 15 Minuten inhalieren), eine ständig bemerkbare Einschränkung, auch wenn keine akuten Beschwerden auftreten – gerade in Familien mit kleineren Kindern eine Quelle ständiger Konflikte. Anders als bei einer akuten Erkrankung, die nach kürzerer Zeit ausgeheilt ist, müssen sich Kind und Familie also an vielen unterschiedlichen Punkten des gemeinsamen Lebensprozesses in ihrem Lebensraum neu orientieren. Verursachungstheorien und Prävalenz Die Ursachen für die Hyperreagibilität der Atemwege sind letztendlich unbekannt. Das Vorliegen erblicher Faktoren beim Asthma bronchiale kann als gesichert gelten. Ob allerdings bei genetisch belasteten Kindern eine allergische Erkrankung auch tatsächlich auftritt, ist nur begrenzt vorhersagbar. Das Spektrum der Reize, die für das labile Bronchialsystem des Asthmatikers einen Auslöser für Symptome darstellen können, ist sehr groß. Infekte, insbesondere durch Viren, und auch körperliche Anstrengung wie zum Beispiel Herumtoben sind häufige Auslöser. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die Allergene (Pollen, Milbenkot, Tierhaare, Schimmelpilzsporen, selten auch einmal Nahrungsmittel). Wetterlagen mit hoher Luftfeuchtigkeit, kaltes, nebliges Wetter und Wetterumschwung können genauso Asthma auslösen wie psychische Belastungen, Stress, Angst, aber auch Freude. Weitere Auslöser stammen aus dem Wohnklima, hier ist die passive Rauchbelastung eine der wichtigsten unspezifischen Auslöser. Passives Rauchen erhöht eindeutig die Rate von Asthmaerkrankungen, verstärkt die Symptomatik und verdoppelt das Risiko, dass bei einem Kind allergische Erkrankungen entstehen (Szczepanski u. Schmidt 1997). Asthma bronchiale ist die weitaus häufigste chronische Erkrankung des Kindes- und Jugendalters. Die Angaben über die Prävalenzraten schwanken zwischen 5 und 15 %. Szczepanski und Schmidt (1997) halten Schätzungen, nach denen 11,7 % aller deutschen Kinder betroffen sind, für realistisch. Es gibt darüber hinaus deutliche Hinweise, dass die Prävalenz nicht nur des Asthmas, sondern auch anderer atopischer Erkrankungen, steigt.

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Körperliche Krankheit und psychische Belastung Etwa ein Zehntel der chronisch asthmakranken Kinder zeigen zugleich ausgesprochen ausgeprägte Verhaltensstörungen, wie sie nur bei etwa 2 % gesunder Kinder zu beobachten sind (Ollefs u. von Schlippe 2003). Dies wird in Beziehung zu der um ein Vielfaches erhöhten Anzahl an belastenden Momenten gesetzt, denen die Kinder und ihre Familien ausgesetzt sind. Im Gegensatz zu einer Akuterkrankung, deren Krankheitsverständnis von einer völligen Genesung gekennzeichnet ist, müssen sich die asthmabetroffenen Kinder und Jugendlichen und ihre Familien mit den Symptomen, der Therapie und möglichen Einschränkungen im Alltag langfristig auseinandersetzen.

iBeziehungsmusteri Die dauerhaften Anforderungen gehen mit bestimmten körperlichen, besonders aber auch psychischen und sozialen Prozessen als Umgebungsbedingungen des Asthmas auf der individuellen Ebene der Kinder und Jugendlichen einher, sie betreffen die Familie aber auch als Ganzes. Belastende Interaktionen Die mit dem Asthma einhergehenden längerfristigen chronifizierten psychosozialen Belastungsmerkmale finden sich dabei in zahlreichen Bereichen (Theiling et al. 2001): – Das Kind muss täglich eine mehrmalige Dauertherapie durchführen, auch wenn keine Asthmasymptome wahrgenommen werden. Beispielsweise muss es regelmäßig inhalieren oder Spray einnehmen, was sehr langweilig ist. – Es muss akzeptieren, durch das Asthma nur begrenzt körperlich leistungsfähig zu sein. – Das Kind muss auf manche attraktive Dinge verzichten oder ihnen aus dem Weg gehen: beispielsweise auf eigene Tierhaltung und auf den Kontakt mit Pferden, Hunden, Katzen. Oft muss auf bestimmte Nahrungsmittel ebenso verzichtet werden wie auf das Spielen im Heu. – Es muss in diagnostischen und therapeutischen Behandlungsprozeduren mancherlei Schmerzen, Hilflosigkeit und Ängste ertragen.

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– Arztbesuche sind zeitaufwendig und verringern die verbleibende Freizeit. – In der Schule lässt sich kaum vermeiden, den Mitschülern das Asthma zu offenbaren, insbesondere in den Sportstunden. Das kann das Verhalten in der Freizeit, im Sportverein, gegenüber Freunden hemmen. – Heftige Emotionen bleiben in Verbindung mit dem Asthma nicht aus: zum Beispiel Angst vor Kontrollverlust, Angst und Panik vor oder beim Anfall, Angst vor Medikamentenabhängigkeit, Schamgefühle, sich mit dem Asthma in der Öffentlichkeit darzustellen, Ärger und Wut über die Ungerechtigkeit des Asthmas. – Das Kind ist durch das Asthma früher als andere Kinder mit der existentiellen Möglichkeit des Todes konfrontiert. – Konflikthafte Auseinandersetzungen innerhalb der Familie werden wahrscheinlicher: zwischen einem eher besorgten und einem eher beschwichtigenden Elternteil oder auch innerhalb der erweiterten Familie/Nachbarschaft, wenn konkurrierende Alltagstheorien über die Verursachung des Asthma aufeinandertreffen – zum Beispiel psychosomatische Theorien (»Das liegt an deiner Erziehung«) und Vererbungstheorien (»Warum hat mein Sohn auch diese Frau heiraten müssen, deren Vater ja schon diese Krankheit hatte!«). In einer Familie mit einem asthmabetroffenen Kind oder Jugendlichen fühlen sich nach unserer Erfahrung die Eltern im Umgang mit dem Asthma ihres Kindes oftmals hilflos. Krankheitserfahrungen können Familien viel Kraft kosten (Cohen 1999). Die Krankheit kann die Gleichgewichte in der Familie so massiv verschieben, dass es zu einem Verlust der elterlichen Präsenz kommt (Omer u. von Schlippe 2004). Die Eltern können sich durch Schuldgefühle über ihren Anteil an einer vermeintlich psychosomatischen Verursachung gebunden fühlen. Sie verlieren ihre persönliche Stimme und rücken an den Rand der Familie, in deren Zentrum nun die Krankheit steht. Aus Sorge und Angst, ein Asthmaanfall könnte ausgelöst werden, scheuen die Eltern möglicherweise den Konflikt mit ihren asthmabetroffenen Kindern. Die nicht geführten Auseinandersetzungen können sich darin zeigen, dass die Eltern oder auch ein Elternteil den Forderungen ihrer Tochter/ihrem Sohn gegenüber immer wieder nachgeben, das Kind seine Forderungen steigert und

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die Eltern in ihrer Unsicherheit und Hilflosigkeit weiter nachgeben. Das folgende Beispiel einer komplementären Eskalation auf der Paar- und Mutter-Sohn-Ebene verdeutlicht dies: Der zwölfjährige Torsten, bei dem erst vor einem Jahr die Diagnose Asthma bronchiale gestellt wurde, ging im Schuljahr nach der Diagnoseeröffnung 89 Tage nicht zur Schule. Er begründete dies damit, dass er immer wieder Atembeschwerden und sich insgesamt nicht wohlgefühlt habe. Die Mutter unterstützt ihren Sohn in seiner Haltung, indem sie seinem Wunsch nach Schonung immer wieder nachgibt. Sie fühlt sich hilflos und panisch, wenn Torsten Atemnot hat. Darüber hinaus hat sie große Sorgen, dass ihr Sohn, ähnlich wie schon ihre asthmabetroffene Mutter, zunehmend mehr Medikamente nehmen müsse und infolge dessen davon abhängig werden könne. Der Vater, der sich von dieser engen Mutter-Sohn Dyade ausgegrenzt fühlt, versucht seine eigene Unsicherheit zu kompensieren, indem er der Angst seiner Frau mit Bagatellisierung entgegen zu wirken versucht. Dadurch fühlt sich die Mutter von ihrem Mann nicht ernst genommen und reagiert noch panischer, was ihr Mann wieder mit einem »Herunterspielen« des Asthmas beantwortet. Torsten wird immer wieder in den Konflikt zwischen Verharmlosung und Überbewertung einbezogen und so fällt es ihm schwer, seinem Jugendalter entsprechend einen angemessenen Umgang zu finden. Andere altersgemäß anstehende Konflikte zwischen Torsten und seinen Eltern (erste Selbstständigkeitsbestrebungen) werden durch das Asthma ausgeblendet.

Mehr oder minder vorteilhafte familiäre Überlebensstrategien Folgende elf familiären Beziehungsmuster beobachteten Theiling et al. (2000) in der praktischen Arbeit mit asthmabetroffenen Familien – sie sind nicht Ursachen des Asthmas, sondern Überlebensstrategien, die je nach Krankheits- und Familienphase unterschiedlich vorteilhaft wirken können und deren Beibehaltung oder Veränderung daher oft im Mittelpunkt der Familienberatung/-therapie bei Asthma stehen. 1. Enge Bindungen in der Familie: »Nun müssen wir zusammenhalten. Wir können uns nur aufeinander verlassen. Mir kann es nicht gut gehen, wenn es den anderen nicht gut geht. Jeder ist für die Gefühle des anderen mitverantwortlich.« 2. Eingefrorene Rollenkonstellation: »Jede Veränderung ist angesichts der Bedrohung, unter der wir stehen, gefährlich. Es ist das Sicherste, den einmal eingeschlagenen Lösungsweg beizubehalten und nichts zu verändern.« 3. Harmonisierung: »Wir können uns keine weiteren Konflikte leisten!« 4. Probleme bei Trennungen/Distanzierungen: »Distanzierung ist gefährlich.«

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5. Isolation nach außen: »Die Außenwelt ist eher bedrohlich. Wir haben weder Zeit noch Energie, uns mit der Außenwelt zu beschäftigen.« 6. Besonders enge, priviliegierte Beziehung zwischen nur einer Bezugperson und dem betroffenen Kind: »Ich bin verantwortlich für die Entwicklung der Erkrankung meines Kindes. Ich arbeite, sorge für das Geld und habe mit der Krankheit nichts tun.« 7. Die quälende Suche nach der Ursache: »Was haben wir (was hast du) falsch gemacht? Was ist die Ursache des Asthmas? Warum trifft es gerade mein Kind?« 8. Tabuisierung und Bagatellisierung: »Solange wir es nicht aussprechen, haben wir es noch gebannt. Wenn wir es beim Namen nennen, wird es noch schlimmer, damit können wir nicht umgehen! Vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm …« 9. Verantwortungsdiffusion: »Unser Kind hat keine Lust zu inhalieren, wir müssen ständig auf es einreden.« »Wenn Mama und Papa sich nicht kümmern, mache ich auch nichts!« 10. Bedrohliche Familiengeschichten über die Generationen hinweg: »Das gibt sich mit der Zeit wieder, so war es bei meinem Bruder auch.« »Mir kann niemand helfen; ich werde irgendwann sterben, so war es bei meiner Mutter auch!« 11. Reibungsloser Umgang: »Die Krankheit unseres Kindes ist zwar wichtig, bestimmt aber nicht unser Leben. Das Asthma läuft bei uns in der Familie ganz selbstverständlich mit. Die Therapie gehört wie das Zähneputzen zum Alltag dazu. Unser Familienleben besteht nicht nur aus Asthma.« Wenngleich die elfte Strategie optimal anmutet, so ist sie doch in vielen Krankheitsphasen unrealistisch und meist erst nach einem langen Adaptationsprozess der Familie zu erreichen – und auch dann nicht zu jedem Zeitpunkt.

iEntstörungeni Im Kinderhospital Osnabrück, in dem jährlich 2.500 bis 3.000 Kinder und Jugendliche mit Asthma bronchiale behandelt werden, hat sich seit 1990 in Zusammenarbeit mit dem Fachgebiet Klinische Psychologie der

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Universität Osnabrück ein familienmedizinisches Betreuungsangebot, der »Luftiku(r)s«, entwickelt, das die ausdrückliche Einbeziehung der Familien zum Schwerpunkt hat. Der »Luftiku(r)s« (ausführlich Könning et al. 1997; Theiling et al. 2001, von Schlippe et al. 2001) ist ein an dem Modell der systemischen Familienmedizin (vgl. Kap. 4.1) ausgerichtetes Unterstützungsangebot, das Aspekte der Medizin, Wissensvermittlung, Verhaltenstraining und Verhaltensmedizin mit Elementen der systemischen Familientherapie verknüpft. Neben Informationsvermittlung und Schulung zu organmedizinischen und pflegerischen Aspekten des Asthma bronchiale sowie physio- und sporttherapeutischen Übungen zur Körperselbstwahrnehmung und -stärkung stellt die Einbindung der Familien mit ihren persönlichen Erfahrungen und ihrem Wissen im Umgang mit dem Asthma einen Schwerpunkt dar. Die Familien erfahren in interdisziplinär ausgerichteten Einzelgesprächen psychosoziale Unterstützung bei der Umsetzung in den Alltag. Die Umsetzung des stationären »Luftiku(r)ses« findet dabei wie folgt statt: Tabelle 28: Elemente des Osnabrücker »Luftik(u)rs« – Es werden sechs Familien pro Kurs über je fünf Tage einbezogen. Zwischen einem Familieneingangs- und Familienabschlussgespräch finden ein Kinder- beziehungsweise ein Jugendlichen-Seminar und ein paralleles Elternseminar statt. – Den jeweiligen entwicklungsbedingten Besonderheiten angepasst gibt es ein Kursangebot für die Vorschulkinder (5 bis 7 Jahre), für die Schulkinder (8 bis 12 Jahre) sowie einen speziellen Jugendlichen-Kurs (13 bis 18 Jahre). – Das interdiszipliäre Team besteht aus Ärztin, Psychologin, Kinderkrankenschwester, Physiotherapeutin, Asthmasport-Übungsleiterin. – »Lufti« führt als Leitfigur in Form einer Handpuppe durch die Einheiten der Kinder. – Inhaltlich werden folgende konzeptuelle Säulen miteinander verknüpft: 1. Asthma-Diagnostik und Therapie nach pädiatrischen Konsensstandards; 2. methodisch-didaktische Wissensvermittlung, die sich an der Entwicklungspsychologie der betroffenen Kinder und Jugendlichen orientiert, Einsatz kind- und jugendlichengerechter Sprache, Methodik und Didaktik; 3. Übungen zur Körperselbstwahrnehmung; 4. Physiotherapie und Sport; 5. Raum und Zeit für die mit dem Asthma einhergehenden Gefühle (Angst, Trauer, Schuld, Verzicht, Selbstwertprobleme);

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6. Familienzentrierung: jeweils ein Familieneingangs- und ausführliches Familienabschlussgespräch; 7. Einbezug weiterer sozialer Systeme (z. B. Kinderarzt, Hausarzt, Lehrer, Erzieher, Freunde, die manchmal beim Abschlussgespräch dabei sind) oder der erweiterten Familie (Geschwister, Großeltern etc.); 8. Interdisziplinarität: täglicher Austausch oder Teamsitzungen, berufsgruppenübergreifendes Durchführen verschiedener Einheiten und Gruppensettings.

Da in Familien oft nur die Mütter als für das Asthma ihres Kindes zuständig angesehen werden, werden ausdrücklich die Väter in den »Luftiku(r)s« mit eingeladen. Dies erweitert für die Behandler die Chancen, die häuslichen Abläufe zu verstehen und verbessert die Koordination auch in der Familie: Jede/r hört das Gleiche und erhält somit den gleichen Kenntnisstand – eine wesentliche Voraussetzung dafür, sich zu Hause überhaupt über die Krankheit und die vielen damit einhergehenden Aspekte austauschen und wechselseitig unterstützen zu können. Beide Elternteile können dabei neben der Erörterung somatischer Befunde auch Sorgen und Wünsche aneinander thematisieren sowie gegenseitige Wertschätzung für gegenseitige Stärken ausdrücken. Wenn die Väter nicht in den »Luftiku(r)s« einzubinden sind, kann versucht werden, die väterliche Perspektive mit aufzunehmen, indem die Mütter und Kinder zirkulär nach der väterlichen Perspektive mitbefragt werden: »Gesetzt den Fall Ihr Mann würde hier sitzen: Wie viel Zuständigkeit würde er Ihrem Sohn für das Asthma zutrauen?« Einige andere Methoden aus der Familientherapie können hilfreich sein, um familiäre Muster zu erfragen, zum Beispiel differenzierte Fragen zu den Dimensionen Raum, Zeit und Energie: Mögliche Fragen zum Raum: – Wie viel Raum nimmt die Krankheit in der Familie ein? – Wo sehen die Familienmitglieder den Ort der Krankheit – in der Mitte der Familie, am Rand? (z. B.: »Wo steht das Inhaliergerät des Kindes?« – »Im Wohnzimmer!« – »Was würde sich ändern, wenn es im Kinderzimmer stünde?«) – Wessen Raum wird am meisten durch das Asthma begrenzt? – Hat jedes Familienmitglied Raum für sich selbst zur Verfügung, in den das Asthma nicht hereinkommt?

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Mögliche Fragen zur Dimension Zeit: – Wie viel Zeit benötigen welche Familienmitglieder für das Asthma? – Wie lassen sich akute Anfallsphasen und chronische Krankheitsphasen unterscheiden? – Wer hat welche Zeit für sich selbst zur Verfügung, wer bestimmt die Zeit, wer sorgt für die Zeit? – Wie war es zur Zeit der Diagnoseeröffnung, davor, was sind Ideen für die Zukunft? – Was sind Ihre Fantasien, wie es weitergehen wird, was ist die schönste, was die schlimmste Fantasie? Mögliche Fragen zur Dimension Energie: – Wer investiert wie viel Energie in das Asthma? Wer ist wie angestrengt, was sind die jeweiligen Einschränkungen? – Wo hat jeder seine Tankstellefür neue Energie? Was macht Spaß in der Familie? Wer darf am ehesten auftanken und wo? – Wer wendet seine Energie eher für Veränderungsschritte auf, wer sorgt mit seiner Energie eher für Beständigkeit? – Was haben Sie früher (z. B. vor der Diagnose) gern getan, was Sie mittlerweile aufgegeben haben? Wenn Sie sich entscheiden würden, etwas davon wieder aufzunehmen, wer würde darauf wie reagieren? Zur Verdeutlichung der drei Zugangsdimensionen bietet sich eine Vielzahl von Methoden der systemischen Familientherapie an. Mit den Personen selbst oder mit Objekten wie Stühlen kann eine Familienskulptur gestellt werden: Wie viel Raum nimmt jeder ein? Wie viel Platz braucht jeder? Wer sieht von wo aus wen? Wo ist der Platz des Asthmas? Wenn es nicht dort stünde, wie wäre das Gleichgewicht der Familie anders? Die Arbeit mit Skulpturen verdeutlicht gerade Mitarbeitern aus medizinischen Berufsgruppen die Zirkularität der Herausforderungen durch das Asthma und den Platz, den das Asthma in den Beziehungen besetzt, sehr eindrücklich. Die Zeit lässt sich über eine Zeitleiste darstellen: mittels einer Darstellung im Raum wird der Verlauf des Asthmas über verschiedene Zeitpunkte thematisiert und die Einflussfaktoren, die den Verlauf begünstigen oder verschlechtern, mittels Symbolen visualisiert (vgl. Grabbe 2003). Auf diese Weise kann vor allem den Kindern eine Idee von der zukünftigen Asthmaentwicklung und damit verbundenen Möglich-

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keiten vermittelt werden. Schließlich kann die Dimension Energie mit einem »Zeit- und Energiekuchen« symbolisiert werden. In einen Kreis zeichnet jedes Familienmitglied ein, wie viel Zeit oder wie viel Energie wofür aufgewendet wird. Diskrepanzen können Gegenstand intensiver Gespräche werden: Wird die Aufteilung als angemessen erlebt, ist jeder mit seinem »Kuchen« zufrieden? Mit all diesen Methoden lassen sich wichtige Fragen klären: Welchen Stellenwert bekommt das Asthma in der Familie? Wie organisiert sich die Familie als Ganzes um diese Erkrankung herum? Welche Ereignisse sind zu welcher Art von Geschichten geworden? Wie bestimmen diese Geschichten das Bewusstsein jedes Einzelnen, den Anforderungen der Krankheit gewachsen zu sein, von den Angehörigen dabei unterstützt zu werden oder diese Unterstützung gerade zu vermissen? Alle Fragen können direkt gestellt werden, aber auch zirkulär: Ein Familienmitglied kann gefragt werden, wie ein anderes diese Frage wohl beantworten würde. Zusätzlich können daran anknüpfend hypothetische Szenarien skizziert werden, die mögliche Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Familie betreffen: »Gesetzt den Fall, Sie würden sich entscheiden, das und das zu verändern – wie würde Ihre Frau darauf reagieren?«

4.7 Juveniler Diabetes – Die »Süßmuts«4039 iStörungsbilderi Bei Kindern und Jugendlichen tritt fast ausschließlich der sogenannte Typ-1-Diabetes (insulinpflichtiger Diabetes) auf. Dieser Diabetes mellitus Typ 1 ist eine immunvermittelte Erkrankung, bei der es zu einer progressiven Zerstörung der insulinproduzierenden Betazellen in den Langerhans’schen Inseln der Bauchspeicheldrüse kommt. Wenn nur noch weniger als 20 % der Zellen funktionieren, kommt es zu den charakteristischen klinischen Zeichen wie häufiges Wasserlassen, vermehrtes Trinken und Gewichtsabnahme. Da die Blutzuckerregulation nicht oder 40 Wir bedanken uns bei Dr. Stephan Theiling, Osnabrück, für seine Mitwirkung an diesem Kapitel.

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nur eingeschränkt funktioniert, muss der Betroffene ständig sehr bewusst die Art und Menge der eingenommenen Nahrungsmittel (und der Medikation) im Blick haben, um Über- oder Unterzuckerung zu vermeiden. Im schlimmsten Fall kommt es zu Bewusstseinstrübung und Bewusstlosigkeit (Koma). Hinzu kommt das Wissen um potenziell bedrohliche Altersfolgen des Diabetes, die, auch wenn sie nicht zwangsläufig sind, doch erschrecken (Blindheit, Verlust von Gliedmaßen aufgrund von Durchblutungsstörungen). Leben mit der Insulinsubstitution Die wichtigste therapeutische Maßnahme des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen, von dem hier nachfolgend ausschließlich die Rede sein wird, stellt die Insulinsubstitution dar. Der nahrungsabhängige Insulinbedarf (Mahlzeiteninsulin) wird durch Normalinsulin oder ein noch schneller wirksames Insulinanalogon zu den Mahlzeiten gedeckt, wobei die Dosis anhand der jeweiligen Kohlenhydrataufnahme berechnet wird. Der nahrungsunabhängige Insulinbedarf wird als Basalinsulin zwei- bis viermal täglich als Verzögerungsinsulin injiziert. Da der Insulinbedarf ständig schwankt, sind täglich ungefähr vier bis sechs Blutglukosebestimmungen (»Fingerpiekse«) erforderlich. Und damit deutet sich die selbstdisziplinierte Ausdauerleistung an, die mit dem Diabetes verbunden ist, denn alle Insulinsdosierungen sind intra- und interindividuell unterschiedlich und müssen von den Kindern und Jugendlichen oder ihren Eltern ständig neu ermittelt werden (alle Angaben aus Theiling u. von Schlippe 2003). Ein Beispiel für das hier erforderliche Komplexitätsmanagement einer Jugendlichen: Britta (14) trifft sich um 19.00 Uhr mit ihren Freundinnen am Pferdestall zu einem Abendausritt und zum Zelten. Sie hat sich über das zuverlässige selbstständige Durchführen ihrer Diabetestherapie gegenüber den Eltern das Vertrauen »erarbeitet«, trotz Diabetes an diesem Ereignis teilnehmen zu dürfen. Die Zelte sind schon am Vortag errichtet worden. Brittas Blutzucker liegt bei 140mg/dl (ein mittlerer Wert von etwa 150 mg/dl spricht für eine gute Stoffwechseleinstellung). Zuletzt hat sie gegen 18.00 Uhr Normalinsulin zum Abendessen und zwei Einheiten Basalinsulin gespritzt. Am Stall angekommen isst Britta noch ein paar Chips, bevor die Gruppe mit der Reitlehrerin den dreistündigen Wanderritt beginnt. Gegen 22.00 Uhr fällt Britta ein, dass es Zeit für ihr Basalinsulin zur Nacht ist. Wegen der körperlichen Anstrengung spritzt sie etwas weniger Verzögerungsinsulin als sonst, damit sie keine verzögerte Hypoglykämie (Unterzuckerung) bekommt. Nach weiteren eineinhalb Stunden ist sie total durchgeschwitzt. Sie fühlt sich schlapp, weiß aber nicht, ob das an der Anstrengung liegt oder an ihrem Blutzucker. Die Messung ergibt 58mg/dl. Es droht eine Unterzuckerung. Sie trinkt ein kleines Glas Cola und isst

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noch ein kleines Stück Pizza, das ihre Freundin dabei hat (ihren Traubenzucker kann sie nicht finden, sie hat ihn beim Reiten irgendwie verloren oder zu Hause vergessen). Die Pferde müssen noch abgesattelt und versorgt werden. Gegen 24.00 Uhr wird es ruhiger. Der Blutzucker liegt bei 150mg/dl. Die nächste Stunde wird noch im Zelt gequatscht, gegen 1.30 Uhr kann Britta beruhigt einschlafen, ihr Blutzucker liegt bei 160mg/dl. Britta hat mit der Reitlehrerin abgesprochen, sie früh zu wecken, damit sie wieder ihren Blutzucker kontrollieren und spätestens um 9.00 Uhr das Basalinsulin spritzen kann.

Häufigkeit In Deutschland leben etwa 20.000 Kinder und Jugendliche mit dieser Diabetesform, jährlich kommen etwa 2.000 neu hinzu, zudem gibt es ungefähr 200.000 bis 250.000 Erwachsene mit einem Typ-1-Diabetes. Der Typ-2-Diabetes (hierbei wird zwar genug Insulin gebildet, jedoch ist seine Wirksamkeit eingeschränkt) ist dagegen mit vier bis fünf Millionen betroffenen Erwachsenen eine regelrechte Volkskrankheit, wobei viele gar nichts von ihrem Typ-2-Diabetes wissen.

iBeziehungsmusteri Diabetes als organisierendes Prinzip familiärer Kommunikation und individueller Selbstgespräche Die Belastungen auf der körperlich-medizinischen Ebene haben wegen ihrer Chronizität genügend Zeit, sich auch im psychischen und sozialen Leben niederzuschlagen. Ein diabetesbetroffenes Kind hat mit den modernen Möglichkeiten der Insulinierung, Stoffwechselkontrolle und Ernährungsumstellung eine vergleichbare Lebensperspektive wie ein gesundes Kind. Doch der Diabetes birgt die Gefahr in sich, dass sich die familiären Befindlichkeiten und der Familienselbstwert um den jeweiligen Blutzuckermesswert ranken: »Ist er wieder zu hoch, zu niedrig oder endlich einmal wieder okay?« Auch der HbA1c-Laborwert, der ungefähr alle drei Monate Auskunft über die Qualität der Stoffwechselführung über einen längeren Zeitraum gibt, verführt dazu, die Kommunikation sowohl in der Diabetes-Sprechstunde als auch in der Familie zu bestimmen. Ganz unmittelbar mischen sich scheinbar objektiv bewertbare medizinische Fragen der Stoffwechseleinstellung mit psychosozialen Aspekten von Lebensqualität und Lebensperspektive. Sobald die Frage nach dem Warum für bestimmte Laborparameter gestellt wird, werden auch familiensystemische Aspekte berührt: »Warum sind die Blutzu-

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ckerwerte in der Schulzeit morgens immer so hoch, an den Wochenenden aber zur gleichen Zeit bei gleicher Insulindosis im Normalbereich?«, »Hast du (wieder) in der Schule genascht?«, »Warum kannst du auch nach drei Jahren Diabetes nicht konsequent ›Nein danke‹ bei Süßigkeiten sagen?«, »Warum belügst du mich, warum schummelst du bei deinen Werten?«, »Denk an die Folgen, willst du etwa mit 30 Jahren blind sein?« Auch die Fragen, die sich die Eltern, meist vor allem die Mütter, selbst stellen, deuten darauf hin, dass der Diabetes zum organisierenden Prinzip nicht nur der familiären Kommunikation, sondern auch der inneren Selbstgespräche geworden ist: »Warum kann ich als Mutter keine Nacht mehr durchschlafen und stehe mindestens zweimal auf, um nach dem Kind zu sehen? Wer übernimmt die Verantwortung anlässlich einer Klassenfahrt oder wenn es bei einer Freundin/einem Freund übernachten möchte? Soll mein Kind lieber aufhören, Leistungssport zu betreiben? Sollte ich einen Schwerbehindertenausweis beantragen oder ist sie/er dann noch ›kränker‹ und mit Vorurteilen belastet? Darf ich/muss ich mein drei- oder fünfjähriges Kind, das den Sinn der Maßnahmen überhaupt noch nicht verstehen kann, zwingen zu testen und zu spritzen?« Herausforderungen an betroffene Kinder und Jugendliche im Langzeitverlauf Im Langzeitverlauf haben diabetesbetroffene Kinder und Jugendliche es mit einer ganzen Reihe von psychosozialen Herausforderungen zu tun: – Schmerzen, Hilflosigkeit, Wut und Ängste aufgrund der therapeutischen Behandlungsprozeduren, zum Beispiel tägliche Spritzen oder Blutzuckerkontrollen müssen ertragen werden. Kleinere Kinder verstehen die schmerzhaften Therapiemaßnahmen überhaupt noch nicht, zumal für sie keine körperliche Beschwerden spürbar sind, denn Diabetes tut nicht weh. – Bei anderen chronischen Krankheiten haben die Betroffenen und ihre Eltern zumindest die motivierende Aussicht, dass die Symptome weniger werden oder verschwinden, wenn die Therapie konsequent durchgehalten wird. Doch egal wie selbstdiszipliniert, ordentlich und ausdauernd die tägliche Therapie beim Diabetes auch ist, er bleibt lebensbegleitend und ist lediglich in seinem Verlauf beeinflussbar. – Es kommt selbst bei optimaler Einstellung und Therapiedurchfüh-

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rung zu Blutzuckerschwankungen, daher ist das Erkennen von Hypound Hyperglykämien (Unter- bzw. Überzuckerungen) zentral: Was sind Warnsignale des Körpers? Wie muss in welchen Situationen reagiert werden? Das Verständnis der chronischen Krankheit und der langfristigen Risiken einer unzureichenden Stoffwechseleinstellung ist beim Kind je nach entwicklungspsychologischem Stadium sehr unterschiedlich. Verbote und Gebote können oft nicht (vollständig) verstanden werden, zumal Übertretungen nicht zu sofort spürbaren körperlichen Beeinträchtigungen führen. Verhalten in der Schule, gegenüber Mitschülern und Lehrern, Verhalten in der Freizeit, im Sportverein, gegenüber Freunden, Situationen in der Familie: Traue ich mich, während des Unterrichtes zu spritzen oder einen Blutzuckertest zu machen? Wie reagiere ich, wenn die anderen sagen: »Guck mal, der Fixer!«, »Igitt, die steckt uns mit Aids an!« Umgang mit Emotionen, die in Verbindung mit Diabetes stehen, zum Beispiel Angst vor Kontrollverlust, vor möglichen Folgeerkrankungen; Angst und Panik vor Hypoglykämien; Schamgefühle, sich mit dem Diabetes in der Öffentlichkeit darzustellen (Außenseiterrolle); Ärger und Wut über die Ungerechtigkeit des Diabetes. Ständig besorgte Aufsicht der Eltern und damit Gefahr der eingeschränkten Selbstständigkeit oder Überforderung mit den Therapieanforderungen. Insbesondere weibliche Jugendliche mit Diabetes neigen zu einem kritischeren Körperselbstbild als nicht diabetesbetroffene Gleichaltrige (Seiffge-Krenke 1996).

Im Kontext von Diabetes im Kindes- und Jugendalter können die natürlichen Ressourcen und Bewältigungskompetenzen der Familie als Ganzes stark gefordert werden. Oft dreht sich das gesamte Familienleben thematisch um die Erkrankung des Kindes oder Jugendlichen. Vieles – manchmal alles – orientiert sich an der Behandlung und Betreuung des einen Familienmitglieds.

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Herausforderungen an die Eltern im Langzeitverlauf Die Eltern befinden sich in dem schwierigen Spagat, auf der einen Seite müssen sie als Therapeuten ihrer Kinder für eine gute Stoffwechseleinstellung sorgen und sich zum anderen um ein altersentsprechendes Aufwachsen kümmern. Die elterlichen Herausforderungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: – Sie müssen Informationen beschaffen und die Behandlung organisieren, auch die vielen Kontakte zwischen Kind, Familie und dem diabetischen Versorgungssystem. – Sie müssen mit ihrem eigenen Widerstand gegen die Injektionen (ihrer Angst, dem Kind wehzutun) und dem Widerstand des Kindes umgehen, verlässliche Hypoglykämiesignale des Kindes erkennen, Blutzuckerschwankungen trotz optimaler Therapie ertragen. Sie müssen Heimlichkeiten wie Süßigkeiten naschen, Blutzuckermanipulationen oder heimliches Spritzen behutsam aufdecken. – Erziehungsmäßig gilt es zu versorgen, aber nicht verwöhnen, was leichter gesagt als getan ist. Es gilt, auf diabetesspezifische Bedürfnisse und Notwendigkeiten dieses Kindes einzugehen, aber es möglichst wenig den Geschwistern gegenüber zu bevorzugen; es zu stützen, aber ihm nicht zu viel Verantwortung abzunehmen. Geschwisterreaktionen von Neid und Vernachlässigung (»Wir sind die Schattenkinder«) gilt es wahrzunehmen und zu bewältigen. – Mancherlei Enttäuschung und Wut über eigene unerfüllte Hoffnungen ist zu bewältigen: Vorwürfe in der Partnerschaft, Angst vor Folgeerkrankungen, Gefühle, allein mit der Situation dazustehen, Schuld- und Versagensgefühle. Eltern erleben viele Einschränkungen ihrer Spontaneität im Alltag, da jede Aktivität vorab geplant werden muss. Zeit für die Partnerschaft ist dadurch oft knapp. – Sie müssen sich mit zunehmendem Alter des Kindes auf eine von ihm selbstständiger durchzuführende Therapie umstellen. Dadurch ist immer wieder neu zu überlegen, wie viel Forderung, wie viel Kontrolle, wie viel Selbstständigkeit altersangemessen ist.

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iEntstörungeni Ein »Kontext von Unsicherheit«: Die Situation des Diabetesteams Neumeyer (1991) beschreibt, dass Diabetesbetreuung beim Typ-1-Diabetes in einem »Kontext von Unsicherheit« stattfindet: Unsicherheit des Wissens über kausale Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Diätetik und Stoffwechselergebnissen, Blutzuckereinstellungen und Zeitpunkt/Art/Ausmaß von Folgeerkrankungen sowie psychischen und physiologischen Aspekten. Die Stoffwechselsituation lässt sich trotz aller Erfahrungswerte oft nicht hinreichend vorhersagen. In dieser unsicheren Situation steht insbesondere die Ärztin in der ständigen Gefahr, zur Abwehr eigener Ängste die Rolle des beständigen Kontrolleurs der Regeln zu übernehmen. Die Betroffenen reagieren dann häufig damit, dass sie ihr Vertrauen innerlich aufkündigen oder die Zuständigkeit für das Gelingen der Therapie vollständig an die Expertin delegieren. Diese sieht sich dann in der Zwickmühle, die Patienten zu enttäuschen oder das Angebot einer – auf Dauer unmöglichen – vollständigen Verantwortungsübernahme aufrechtzuerhalten. Wie kann ein Mittelweg aussehen? Die Fixierung auf das Erreichen und die Einhaltung einer vorgegebenen Stoffwechselnorm bedeutet eine völlige Überforderung, die genau mit den Gefühlen in den Familien korrespondiert, den Anforderungen der Therapie nicht gewachsen zu sein. Wenn die Idee scheitert, die große Menge an medizinischem Wissen linear in eine weitgehende Kontrolle des Krankheitsverlaufes zu übersetzen – dann liegt eine wesentliche Kompetenz der Betreuer darin, zum einen die eigene Begrenztheit und Unsicherheit anzuerkennen und diese im Team ebenso wie mit den Familien zu thematisieren, zum anderen ein interdisziplinäres Angebot zu machen, um sich nicht in einer einzelnen Perspektive zu verrennen (Theiling et al. 1994). Die Diagnoseeröffnung und Zeit der Erstmanifestationsbetreuung Die Diagnoseeröffnungssituation stellt Weichen. Wird der Diabetes sofort in einen Kontext von Interdisziplinarität und Familie gestellt, dann werden Kind oder Jugendlicher und Eltern einen systemisch-familienorientierten Behandlungsansatz als selbstverständlich betrachten. Wenn dagegen erst hinterher und bei krisenhaften Verläufen Psychologen als

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»Reparaturauftragsdienst« eingeschaltet werden, ist ein Kontext von Versagen markiert, der eine gute Kooperation eher unwahrscheinlich macht. Nicht zuletzt empfiehlt es sich auch daher, bereits ab Diagnoseeröffnung beide Elternteile einzuladen. Das nachstehende Fallbeispiel macht deutlich, welche Spannungen entstehen können, wenn Diabetes zu einer Angelegenheit ausschließlich zwischen Tochter und Mutter wird: Im Familieneingangsgespräch einer einwöchigen systemisch-familienmedizinisch ausgerichteten Betreuungswoche prallen wir auf einen offenen Konflikt zwischen Lisas Eltern, den beide schonungslos und mit viel Wut, hinter der sich eine große (verdeckte) Enttäuschung und Kränkung verbarg, vor uns austragen. Frau H. (Bibliothekarin) präsentiert uns ihren Mann in anklagender Art und Weise als »ungehobelten Klotz« (Tischler), dem sie die seit zwei Jahren diabetesbetroffene sechsjährige Lisa nicht anvertrauen möchte: »Mein Mann liest nicht und hat keine Ahnung vom Diabetes.« Dieser kontert, dass seine Frau bei allem völlig übertreibe, auch bei Lisas Diabetes: »Andauernd diese Messerei und das Drama um die Esserei! Kein Wunder, dass Lisa noch nicht schulreif ist!« Im Verlauf der Woche erfahren wir von der Familie, dass Herr H. genau zum Zeitpunkt der Diabeteserstmanifestation die lang ersehnte Zusage für eine Kur bekommen hatte, die wegen mehreren Bandscheibenvorfälle beantragt worden war. Frau H. war daraufhin allein mit Lisa für 17 Tage in die Klinik zur Erstmanifestationseinweisung gegangen. Hier wurde ihr quasi symbolisch die Zuständigkeit und Verantwortung für Lisas Diabetes auf die Schultern gelegt. Frau H. wurde zur »Diabetesexpertin« und Herr H. traf nach der Rückkehr von seiner Kur auf eine eingespielte Mutter-Tochter-Konstellation, zu der er keinen Zugang fand/bekam. Im Familienabschlussgespräch der Woche versuchen wir nun, die Rollen und Positionen der Eltern vorsichtig zu hinterfragen. Frau H. kann ihre Kränkung, damals in der Krise alleingelassen worden zu sein und die damit verbundene Überforderung benennen – und dass sie sich eigentlich Unterstützung hinsichtlich des Diabetes von ihrem Mann wünscht. Herr H. gesteht, dass er sich zurückgezogen habe, da er Angst hatte, etwas falsch zu machen. Er habe sich auf keinen Fall vorstellen können, seine Tochter selbst zu spritzen, mochte dies jedoch nicht zugeben.

Bereits die Einladung an die Familie als Ganzes stellt eine bedeutsame Intervention dar und bietet den Eltern die Möglichkeit, sich im Alltag ebenbürtig mit Diabetes auseinandersetzen und wechselseitig unterstützen zu können. Die ersten Tage werden von den meisten Eltern (offen oder verdeckt) als Schock erlebt: »Es ist Diabetes, dies wird zeitlebens so bleiben. Warum wir?« Die meisten Eltern stellen ihr emotionales Gleichgewicht dadurch wieder her, dass sie die Informationsvermittlung und das Erlernen des Therapiemanagements in den Mittelpunkt stellen. Über Informationen und das Erlernen und Trainieren von Spritzen, die Berechnung von

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Mahlzeitenmengen, Blutzuckerkontrollen und das Interpretieren von Blutzuckerprotokollen wird versucht, die verlorene Kontrolle zurückzugewinnen. Ein weitaus geringerer Teil an Eltern ist in der ersten Zeit überhaupt nicht in der Lage, sich auf diese Themen einzulassen – Trauer, Verzweiflung, Enttäuschung und Wut überwiegen. Diese Eltern brauchen zunächst Zeit und Gelegenheit, sich mit ihren Gefühlen auseinander zu setzen, bevor sie sich den Fakten zuwenden können. Egal, wie (einzigartig) Familien mit diesem Ausnahmezustand umgehen: Alle Teammitglieder sollten auch die nicht unmittelbar nachvollziehbaren familiären Reaktionen verstehen lernen, um zur Erlebenswelt jeder dieser Familien mit einer diesbezüglich wertfreien Haltung einen Zugang zu erhalten. Es gilt zu differenzieren, welche Familie zu diesem Zeitpunkt was braucht. Nicht alle sind bereitwillige und aufgeschlossene Kunden die ein psychologisch orientiertes Gespräch wünschen und diesem offen begegnen. Die Kernbotschaft einer Familientherapeutin an die Familie in einem anfänglichen Familiengespräch könnte etwa folgendermaßen lauten: »Es ist für mich schwer zu beurteilen, ob und wie intensiv Sie mich jetzt in der Erstmanifestationszeit als Psychologin brauchen können. Wichtig ist mir, dass wir uns heute erst einmal kennenlernen. Falls wir zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Kontakt miteinander haben sollten, ist es erfahrungsgemäß einfacher aufeinander zuzugehen, wenn man sich schon einmal gesehen und einmal miteinander gesprochen hat. Wie Sie sicherlich schon erfahren haben, arbeiten wir hier in einem Diabetesteam unterschiedlicher Berufsgruppen, in dem jeder seine Schwerpunkte einbringt. Meine Aufgabe in unserem Team besteht darin, Ihnen jetzt, aber auch zukünftig behilflich zu sein, dass Ihr Kind und Sie als Familie so normal wie möglich mit dem Diabetes leben können, auch wenn Sie sich das jetzt in dieser Situation noch überhaupt nicht vorstellen können. Über die Monate und Jahre mit dem Diabetes werden sehr wahrscheinlich bei Ihnen Fragen aufkommen, bei denen Sie unter Umständen auch psychologische Unterstützung wünschen, zum Beispiel: Wie gehen wir mit dem Diabetes in der Schule um? Wie kommen wir gefühlsmäßig mit dem Diabetes zurecht? Wie viel muss ich als Vater/Mutter beim Diabetes kontrollieren und wie viel Selbstständigkeit ist wichtig? Was machen wir, wenn unser Kind heimlich Süßigkeiten isst? Für Fragen dieser Art möchte ich für Sie Ansprechpartner/in sein. Da es für mich nicht einfach ist, herauszube-

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kommen, ob und wann Sie einen Kontakt mit mir wünschen, schlage ich vor, dass Sie in den nächsten Tagen der Erstmanifestationsbetreuung hier bei uns und auch in der Zeit, wenn Sie bereits wieder entlassen und zu Hause sind, entscheiden, ob und wann Sie mit mir sprechen möchten.« Neben einem solchen Angebot wird jedes Familienmitglied befragt, wie es ihm mit der neuen Situation geht und wie sie mit dem Diabetes in den ersten Tagen zurechtgekommen ist. Die meisten Eltern gehen davon aus, dass ihr Kind sich in einer psychischen Krisensituation befinden müsse. Doch das Kind mag alters- und entwicklungsbedingt mit ganz anderen Fragen im Hier und Jetzt befasst sein als mit Erwachsenenfragen wie »Wie alt kann ich mit Diabetes werden?«, »Werde ich Kinder bekommen können?«, »Wie wird meine Gesundheit sein, wenn ich 40 oder 50 Jahre alt bin?« Kindliches Erleben spielt sich in ganz anderen Zeitfenstern ab und Eltern sind manchmal beunruhigt zu erleben, wie ihr Kind »den Diabetes wegsteckt«. Hier kann Aufklärung zu den Unterschieden in der Zeitdimension psychosozialer Verarbeitungsprozesse angemessen sein. Auch die Jugendlichen haben meist das Hauptanliegen, möglichst bald zur Normalität zurückzugelangen. Von daher tauchen auch hier die von Elternseite befürchteten emotionalen Krisen weniger auf. In einer Befragung von 100 Jugendlichen gaben diese auf die Frage »Was nervt dich am meisten an deinem Diabetes?« erst nachgeordnet therapiebedingte Einschränkungen wie Spritzen, Blutzuckerkontrollen, Ernährungsbesonderheiten an. Sie nannten an erster Stelle: »Immer in einer Sonderrolle gesehen und behandelt zu werden«. Diabetesbetroffene Jugendliche wollen normal behandelt werden und keine Sonderrolle in der Familie oder Peergruppe einnehmen (Klischan u. Toeller 1994). Familiengespräche Die Familiengespräche können als Forum dienen, Themenbereiche wie Stärken, Ressourcen, Wünsche, Ängste, Zeit und Unterstützung zu besprechen. Häufig reagieren einzelne Familienmitglieder mit: »Das habe ich ja noch gar nicht gewusst, dass du so denkst/fühlst«. Dabei bedarf es keiner umfangreichen Ausbildung, um familienmedizinische Gespräche zu initiieren und Fragen wie die folgenden einzubringen: – Wie bewertet jedes Familienmitglied den Diabetes? Wo sieht jedes Fa-

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milienmitglied Schwierigkeiten, die mit dem Diabetes in Verbindung stehen? Wo sind Vorsätze zur Veränderung? Wie kann ein erster Schritt aussehen? Was spräche dafür, nichts zu verändern? Was kann wer in der Familie tun, damit garantiert zu Hause alles so bleibt, wie es ist? Wo sehen die einzelnen Familienmitglieder die Stärken der Familie/ der Einzelnen allgemein und in Bezug zu dem Diabetes? Welche Qualitäten haben sich bei Einzelnen vielleicht erst durch die Krankheit entwickelt? Was würde fehlen, wenn es den Diabetes nicht gegeben hätte? Was sind Wünsche und Erwartungen der Familienmitglieder aneinander? Das Bilden von Rangreihen mit dem Ziel der Kontextualisierung, zum Beispiel: Wem in der Familie macht der Diabetes am meisten Sorge? Wer kommt am besten klar? Wer bemerkt in der Familie als Erste/r, wenn eine Akutsituation droht? Was macht sie/er dann? Wer kümmert sich am meisten um die Über- oder Unterzuckerung? Soll sich daran in Zukunft etwas ändern? Diese Fragen lassen sich auch zirkulär an die einzelnen Familienmitglieder stellen, zum Beispiel: Was denken Sie, was Ihre Frau meint, wer am stärksten in der Familie durch den Diabetes eingeschränkt ist? Wem in der Familie macht der Diabetes am meisten Angst (Rangreihe oder zirkuläres Befragen)? Wie wirkt diese Angst auf die anderen? Wenn er/sie weniger Angst hätte, was würde das für die anderen bedeuten? Was würde sich ändern, wenn man den Diabetes wegzaubern könnte? Wer würde dann mehr, wer weniger gefordert? Wer würde etwas gewinnen, wer etwas verlieren, wer etwas vermissen? Was wäre das Erste, was einem Beobachter, der zu Ihnen in die Familie käme, auffallen würde, was anders wäre? Wo sind die Freiräume der einzelnen Familienmitglieder? Wie bestimmt der Diabetes die Freiräume der Einzelnen? Wer leidet am meisten? Gibt es in der Familie Möglichkeiten, hier mehr Spielraum zu gewinnen? Wer hält wen in der Familie für unterstützungsbedürftig? Wissen alle das voneinander? Wie kann Unterstützung aussehen?

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Das Team koordiniert sich als Ganzes in einer wöchentlichen Sitzung. Stoffwechselum- oder -neueinstellungen erfolgen im ambulanten, stationären oder teilstationären Rahmen, beachtend dass die Lebens- und Bewegungssituation außerhalb der Klinik im Alltag sich ganz anders darstellt. Langzeitbetreuung Im Rahmen der Langzeitbetreuung am Kinderhospital Osnabrück besuchen die Kinder und Jugendlichen in Begleitung eines oder beider Elternteile in der Regel alle sechs bis acht Wochen die sogenannte Diabetessprechstunde, wo sie den Stationen »Labor«, »Gespräch mit der Ernährungsberaterin«, »Gespräch mit der Diabetesassistentin« sowie »Arztgespräch« begegnen. Eventuell erforderliche Familiengespräche finden auf der Basis eines separaten Kontrakts statt. Variabel und einzelfallartig gestaltet es sich, wer bei den Familiengesprächen von Expertenseite zugegen ist, wobei dies als interdisziplinäres Angebot verstanden wird und nicht auf die Vertreter einzelner Berufsgruppen begrenzt ist. Kurzfristige Krisenintervention Bei körperlichen Krisen (insbesondere schweren Hypoglykämien oder Ketoacidosen41 ) müssen die Kinder und Jugendlichen stationär, gegebenenfalls sogar intensivmedizinisch betreut werden. Deuten sich psychosoziale Probleme und Krisen an, werden diese vom Team angesprochen und es kann zu einer vorwiegend psychosozial-familienorientierten Betreuung kommen. Psychosoziale Krisen müssen nicht in jedem Fall einen primären Bezug zum Diabetes haben, auch wenn diabetesspezifische Symptome wie Naschen, heimliches Zuspritzen, Manipulation von Stoffwechselwerten erst einmal im Vordergrund stehen. Diabetesspezifische Symptome können auch Ausschnitt und Hinweis einer umfassenderen Problematik sein, in der die gesamte lebens- und entwicklungsgeschichtliche Situation des Kindes und seiner Familie miteinander verwoben ist. Ist der Diabetes zum Beispiel der (Frust-)Bereich, an dem sich etwas viel Grundsätzlicheres an Problem entlädt? Hat der Diabetes die Funktion, die Bühne für alles Schwierige und Problematische 40

41 Hierbei handelt es sich um eine schwere Stoffwechselentgleisung, die sofortige Tropfinfusion erfordert.

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zu sein, was sonst keinen Platz hat? Diese Perspektiven gilt es auf jeden Fall mit zu berücksichtigen. Bedeutsam ist beim Zusammenspiel der verschiedenen Berufsgruppen in der Krisensituation auch, dass je nach individuellem Bedingungsgefüge einmal mehr die eine oder andere Profession mit ihrem speziellen Repertoire in den Vordergrund rückt, die je nach Verlauf wieder in den Hintergrund wechseln kann, entscheidend bleibt der Verbund der Berufsgruppen untereinander. Die »Diabetesbrille« Es ist nahe liegend, dass das Klinik- oder Praxenpersonal das betroffene Kind und seine Familie selektiv (und überbetont) durch die »Diabetesbrille« sieht, denn oft haben sich die entsprechenden Einrichtungen auf diese Symptomperspektive spezialisiert und werden dafür bezahlt. Meistens ist Diabetes jedoch nur eine Facette der Lebenskomplexität der Familien. Nicht jedes auftauchende Problem muss sofort im kausalen Zusammenhang mit dem Diabetes stehen. Hilfreich ist hier die Perspektive: »Hätte es dieses Problem auch ohne Diabetes gegeben?« Alters- und therapiespezifische Schulungen Je nach Alter des Kindes oder Jugendlichen und nach Art der Diabetestherapie sind im Langzeitverlauf erneute Unterweisungen zu den sich verändernden Therapieregimes erforderlich. Im Kinderhospital Osnabrück wurde in Anlehnung an erfolgreiche Konzepte der familienmedizinischen »Luftiku(r)s«-Asthmabetreuung (siehe Kapitel 4.6) die »Süßmut-Erlebnis- und Aktionswoche« entwickelt. Sie basiert auf der Überlegung, dass in einer Schulung nach systemisch-familienmedizinischen Gesichtspunkten die Aspekte Wissensvermittlung und Training lediglich notwendige, aber nicht hinreichende Elemente einer interdisziplinären Diabetesbetreuung darstellen:

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Tabelle 29: Elemente der Osnabrücker »Süßmut-Erlebnis- und Aktionswoche« Elemente der Osnabrücker »Süßmut-Erlebnis- und Aktionswoche« – Sechs Familien werden über vier bis fünf Tage im Rahmen einer pädiatrischen Tagesklinik ganztägig über einen strukturierten Ablauf interdisziplinär betreut. – Zwischen je einem Familieneingangs- und einem Familienabschlussgespräch finden ein Kinder-, ein Jugendlichen-Seminar und ein Eltern-Seminar statt. – Es gibt Versionen jeweils für Familien mit einem diabetesbetroffenen Vorschulkind (5 bis 7 Jahre), einem Schulkind (bis 12 Jahre) sowie für Jugendliche (bis 18 Jahre). – Das Hündchen »Wauzi« führt bei den Kindern als protagonistische Leitfigur in Form einer Handpuppe durch die Einheiten. – Inhaltlich werden folgende konzeptuellen Säulen miteinander verknüpft: 1. Bestandsaufnahme, gegebenenfalls Anpassung der aktuellen Diabeteseinstellung; 2. Alterspezifische methodisch-didaktische Wissensvermittlung: Zum Beispiel wird der Weg der Nahrung im Körper in spielerischer Form erkundet, indem die Kinder als Banane, Würstchen und Brötchen verzaubert in einen Mund (dargestellt durch einen riesigen roten Holzmund, in den sie einsteigen können) durch die Speiseröhre (einen Kriechtunnel) in den Magen (ein Zelt) gelangen, wo sie dann in der Blutbahn (weitere Kriechtunnel) auf andere als »Insulinchen« verzauberte Kinder stoßen, die aus der Pankreas (einem weiteren Zelt) dazu gekommen sind. Symbolisch für das Zusammenwirken von Nahrung und Insulin müssen jeweils Paare von verzauberten Bananen, Brötchen und Würstchen mit den Insulinchen eine Aufgabe lösen, die nur zu zweit lösbar ist (z. B. ein bestimmtes Gewicht heben); 3. Verhaltensschulung bezogen auf die Therapiehilfsgeräte; 4. Rollenspiele mit Video-Feedback zu sozialen Situationen im Diabetes-Alltag (z. B. »Wie kann ich meine Eltern überzeugen, dass ich trotz Diabetes ins Zeltlager fahren darf?« »Wie sage ich einem neuen Freund/einer neuen Freundin, dass ich Diabetes habe?«, »Was mache ich, wenn ich beim Sport eine Hypo bekomme?«); 5. Raum und Zeit für die mit dem Diabetes einhergehenden Gefühle (Wut, Angst, Trauer, Verzicht, Schuld, Selbstwert etc.); 6. Aktivitäten wie Essen gehen, Stadtbummel, Einkaufen gehen, Abschlussfest, gemeinsames Kochen in der Küche; unter Umständen »Specials« wie Eislaufen, Schwimmen, Grillen.

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Für beide Elternteile findet ein Seminar statt, in dem anknüpfend an den aktuellen Wissensstand der Gruppe in dialogischer Form sämtliche diabetesrelevanten Aspekte erarbeitet werden. Dies wird wiederum verknüpft mit den jeweiligen psychosozialen Bedürfnissen der Eltern, die insbesondere in einem derartigen Gruppen-Setting deutlich werden und explizit in angeleiteten Austauschrunden zwischen den Eltern fokussiert werden. Das Team koordiniert sich im Wochenverlauf über Teamkonferenzen und bereitet gemeinsam das jeweilige Familienabschlussgespräch vor, der Einbezug weiterer sozialer Netze (z. B. Kinder- oder Hausarzt, Lehrer, Erzieher) oder der erweiterten Familie (Großeltern, Geschwister der Eltern etc.) ist möglich.

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Nachwort

Dass wir dieses Entstörungsbuch vorlegen, bedeutet nicht, dass wir nun die »Störungslogik« für den Königsweg der weiteren Entwicklung der Psychotherapie im Allgemeinen und der systemischen Therapie im Besonderen halten. Die systemische Therapie bietet zwar, wie dieses Buch zeigt, viele spezifische Beschreibungen von Beziehungsmustern und entstörende Interventionen. Ihre besondere unverwechselbare Kernkompetenz scheint uns aber ihre breite Kontextorientierung zu sein – ihre Fähigkeit, Störungen einzelner Menschen als Teil breiterer Systemprozesse nicht nur zu verstehen, sondern als solche auch zu beeinflussen. Das erleichtert es der systemischen Therapie und Beratung, – viele von einem Problem gemeinsam betroffene Menschen gleichzeitig zu beraten oder zu therapieren; – die Solidarität sozialer Netze für die Behandlung von Krankheiten und Störungen gezielt zu nutzen; – mit Respekt vor der Selbstorganisation und den Wirklichkeitskonstruktionen aller Beteiligten behutsam, anerkennend und lösungsorientiert vorzugehen; – gestresste Angehörige nicht nur als »Informanten« oder als Adressaten edukativer Maßnahmen anzusprechen, sondern zugleich als Mitbehandler und Mitbehandelte zu nutzen und zu unterstützen; – in einer genauen Auftragsklärung nicht nur beim Patienten, sondern auch in dessen Umfeld die Chancen und Grenzen guter Behandlungskooperation schon vorab realistisch einzuschätzen und dadurch – eine relativ konflikt- und verschleißarme Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten zu fördern, auch im größeren Rahmen der psychosozialen Versorgung in ganzen Teams, Organisationen und Versorgungsregionen. Insofern sehen wir systemische Therapie als ein Grundlagenverfahren der Psychotherapie an, das über kurz oder lang auch in die Curricula anderer Therapieschulen Einzug halten wird. Ihre »Spezialität für Fortge-

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schrittene« sehen wir in den Mehrpersonensettings der Paar-, Familien-, Multifamilien- und Netzwerktherapien. Andererseits gibt es aber zahlreiche »Spezialitäten für Fortgeschrittene«, die systemische Therapeuten von anderen Schulen lernen können und unseres Erachtens in künftigen, besser integrierten Aus-, Weiter- und Fortbildungen auch lernen sollten. Dazu rechnen wir die gut strukturierten Übungsverfahren der Verhaltenstherapie, die suggestive Potenz der hypnotherapeutischen Sprache, die spielerische Kreativität des Psychodramas, die feine Beachtung des Übertragungsgeschehens in der Tiefenpsychologie und die Differenzierung emotionaler Selbstwahrnehmung in der klientenzentrierten Therapie. Wir sind zuversichtlich, dass in diesem Sinne die systemische Therapie in den nächsten Jahrzehnten ein wichtiger Bestandteil gesundheitsbezogener Dienstleistungssysteme sein wird. Dies war kein leicht zu schreibendes Buch und es ist kein enzyklopädisches Werk. Manches interessante Praxiswissen wird uns nicht bekannt geworden sein. Dieses Buch ist voller Fettnäpfchen, in die wir hineintreten können – und wir sind schon gespannt auf die Rezensionen, die uns davon Kunde geben.

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Stichwortverzeichnis

A Abhängigkeit, physische 195 Abhängigkeit, psychische 195 Abschlusskommentar 239, 381 Abstinenz 210 Abwehrkoalition 222 Adipositas 166, 187, 189, 341 Agoraphobie 88, 90 ff. Akutintervention 229 Alkohol 192, 197 f., 201, 204, 210 Allparteilichkeit 35 Ambivalenzcoaching 256 Anfangs- und Endsignale 253 Angst 88, 90, 91, 93 f., 96 f., 99 f., 102, 104, 106, 156 Anliegenorientierung 202 Anorexie 166, 168, 173, 175 f., 178, 180, 182 Asperger-Syndrom 259, 265 ff., 269 Asthma 391–396, 398 f. Aufmerksamkeitsdefizitstörung/ ADHS 266, 280 ff., 284 f., 289, 292–295, 297 Auftragskarussell 202 Auftragsklärung 32, 39, 92, 113, 145, 255, 294, 323 f., 379 Autismus/autistische Störung 265, 267

Beziehungsebene 262 Beziehungskoalitionen 50, 52 Beziehungsmuster, pathogene 20 Beziehungsmuster, soziale 20 Bilanzsuizid 225, 231 Bindungs-Ausstoßungs-Zyklus 317 Bindungsforschung/ Bindungstheorie 52, 251 Bindungsfragen 181 Bindungsstil, überbehütender 378 Binge Eating Disorder (BED) 188 biomedizinische Erklärungen 100 BLS, siehe Borderline-Syndrom Borderline-Syndrom 137, 140 f, 143, 148 f, 151, 153 Brustkrebs 342, 344, 346 f, 349 f Bulimie 166, 183, 185 f Bullying 266, 300, 304, 312

C Chemotherapie 343 Chronifizierung 29, 30, 40, 55, 60, 63, 137, 192, 305 Chronizität/chronisch 46, 59, 70, 177, 292, 335, 338 f, 391 f., 402 Collaborative Family Health Care 339 Compliance 61, 339, 346

B »Baby-take-home«-Rate 365 Bagatellisierung 396 Behandlung, bedürfnisorientierte 66, 67 Beschreibungen 39, 94, 195, 335, 337 f, 415 Beziehung, dyadische 36 Beziehung, therapeutische 103, 128, 138, 146, 223

D Deeskalation 331 Dekonstruktion 102, 152 Deliktszenario 333 Delinquenz 315 ff., 321, 324, 326, 333 Depersonalisation 44

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Stichwortverzeichnis

Depression 68, 70–76, 78 ff., 83 f., 90, 156 Desintegration 322 Diabetes 400, 402 ff., 406 ff., 410, 412 Diagnose 20, 27 Diagnostik 26, 28, 31 Dialyse 353, 362 Disposition, genetische 46 Dissozialität 315 f., 319 ff., 324, 326 Double-Bind 50 Double-Parenting 254 Drei-Monats-Koliken 247 Dreier-Regel 247 Drogen 192, 199 DSM 26, 44, 121 f., 188

E eheliche Pflicht 224 Ehrenrunden 211 f. Elterncoaching 243 f., 263, 287, 288, 331 Elternkompetenzen 249, 292 EMDR-Therapie 133 Emotionsregulierung 336 Enkopresis 272, 276 f. Enttäuschungsarbeit 290 Entwicklungsstörungen 244, 258, 259 Enuresis 272, 273, 277 Erstarrung, emotionale 124 Erwartungs-Erwartungen 27 f. Eskalation, symmetrische 180, 197 f., 201 Essstörung 166, 169 Evidenzbasierung 36, 37 Exkommunikation 54 Expositionstherapie 113 Externalisierung 80, 104, 180, 205, 230, 239, 274, 277, 372

F Familie-Schul-Interview 306 Familie-Schule-Konferenz 325 Familien-Erziehungs-Schule 313 Familien-Hängemattentag 389 Familien-Helfer-Konferenz 325 Familiendynamik 111 Familiengespräche 346, 409

Familienkonferenz 340 Familienkonfrontationstherapie 182 Familienmedizin 337, 339, 340 f., 397 Familienresilienz 129, 130 Familiensitzungen 153 Familienskulptur 28, 243, 399 Familienspiel 173 Family Accommodation Scale for Obsessive Compulsive Disorder 110 Family and Larger Systems-Interview 306 Family Lunch Session 173 Fehl- und Totgeburten 374 FIRO-Familienmodell 190 Flashback 123, 131 Forced-choice-Situation 110 Fruchtbarkeitsstörung 372 Fütterstörung 246, 248, 254, 255

G Genogramm 28, 134, 226, 388 Geschwisterrivalität 244 Gewaltrituale 323 Gewalttätigkeit 126, 127, 131, 141, 244, 312, 315 f., 321 f., 324, 326 Gewichtssteigerungsphase 178 Gleichheitsideal 371 Göttinger Modell 182, 186 Grundregeln 239

H Hämodialyse 353 Harmonieideale 352 HbA1c-Laborwert 402 Hebephrenie 45 Heroin 192 Herzneurose 90, 155 Hormontherapie 344 Human Sexual Response Cycle 215 Hyperaktivität 266 Hyperglykämie 404 Hypoglykämie 404, 411

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Stichwortverzeichnis

I ICD-10 24, 26 Immunsuppressiva 354 In-vitro-Fertilisation (IVF) 365 Indikation, adaptive 33 Indikation, selektive 33 Infertilität 366, 370 Infertilität, idiopathische 364 innere Familie 81, 106 innere Familienkonferenz 81 inneres Parlament 229, 313 Insulin 400 Insulinsubstitution 401 integrative systemische Therapie 153 Inter-System-Probleme 301, 306 interaktionelle FamilienGehirntherapie 294 Intermediärobjekte 238 Interventionen provokative 103 Interventionseskalationen 320 Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) 365 Intrauterine Insemination (IUI) 365 isomorphe Strukturen 200

J

449

Klienten 22 Ko-Abhängigkeit 195, 202 f. Ko-Alkoholiker 202 Koalition 172 Kohärenzgefühl 121, 124 Kollaboration 340 Komorbidität 140, 156 kompetenter Säugling 249 Konfliktfreiheit 78 Konfliktumleitung 172 Kontextklärung 79 Kontextualisieren 99, 100, 148, 217, 410 Kontraindikation 35, 36 Kooperation 40, 41, 110, 211, 339 f. Kooperationspartner 23, 32, 232, 237, 263, 339 Kopfschmerz 376, 385, 390 Kranke 22 Krankheit 15, 17, 24 Krankheit, chronische 18 Krankheit, körperliche 335 Krankheit, psychische 17 f. Krebs 342, 344, 346 f. Krise, körperliche 411 Krise, therapeutisch induzierte 61 Kunden 23 Kunsttherapie 133

L

Joining 229, 240

K Katatonie 45 Ketoacidosen 411 Kinder- und Jugendlichentherapie 242 Kinderecke 238 Kinderkopfschmerz 378 f., 381 f., 386 f., 390 Kinderlosigkeit, ungewollte 367 Kindertherapie 237, 242 Kinderwunsch, unerfüllter 364, 368 f., 371, 373, 375 Klassifikation 24 kleinste mögliche Hingabe 223 kleinster vorstellbarer Übergriff 223

Leistungsorientierung 389 Lern- und Leistungsstörungen 261 Lese-Rechtschreibstörung (LRS) 260 ff., 264 Lösungsressourcen 32 Lösungsversuche 40, 79, 171, 211, 234, 382 Loyalität 77, 78, 91, 133, 135, 173, 176, 186, 188, 212, 220, 319 Luftiku(r)s 335, 397, 398

M Magersucht 170 Mammakarzinom, siehe Brustkrebs Manualisierung/Manual 84, 330 Marte Meo 244, 252

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Stichwortverzeichnis

Medizin, evidenzbasierte 34 Mehrlingsgeburten 366 Mehrpersonensetting 35, 39 Metagespräche 186 Metakommunikation 56 Methylphenidat 327 Migräne 376, 385 Migration/Migranten 71, 301 Missbrauch 84, 122, 126, 132, 138, 141 f., 146, 152, 154, 157, 184 Misstrauen 326 Mobbing 266, 300 f., 304, 312 Multifamiliengruppentherapie (MFGT) 63, 64 multisystemische Therapie (MST) 328 ff. Musterunterbrechung 116 Musterverschreibung 384 Mystifikation 49

N Nähe-Distanz-Regelung 92 Netzwerk, soziales 338, 344 Netzwerksitzung 325 Neuroleptika 327 Neutralität 130, 147, 202, 204, 222, 305, 310 Niereninsuffizienz 352 Nierentransplantation 352, 354 ff., 359 ff. Non-Suizid-Vertrag 227, 232

O offener Dialog 66 operationale Geschlossenheit 16, 269 Opferrolle 127 Organspende 352–356, 359 ff.

P

Parentifizierung 346 Partnerprobleme 71, 76 f., 92, 111 Patienten 22 f. Peritonealdialyse 353 Persönlichkeitsstörung 137 f., 140, 152, 156 Pfundskinder 190 Phobie 88, 91, 104 Plan schlägt Geist 180 Plussymptomatik 54 Polarisierungen 178 posttraumatische Belastungsstörung 119, 121, 125 f., 129 Präsenz, elterliche 117, 244, 288, 301, 317, 322, 331, 394 präsuizidales Syndrom 226 Problemanalyse 27 Problemperspektive 113 Problemtrance 102, 120, 145 Psychodrama 133, 243, 416 Psychoedukation 61, 133 Psychose 43, 46, 48, 52, 55 f., 59, 67 Psychose, manisch-depressive 50, 52 Psychose, schizoaffektive 50, 52 Psychose, schizophrene 50 f. Psychosomatik 336 f. PTBS 122

R Rangreihen 410 Reflektierendes Team 238 Reframing 80, 106, 114, 128, 173, 274, 286, 293 Regulationsstörung 245, 248 Ressourcenanalyse 79, 217, 323 Retraumatisierungen 133 Risikofaktor 21, 29, 90, 250, 260, 343, 349 Ritalin 283 Rituale 115, 131 Rollenspiele 237, 268, 347 Rückfälle 211 Rückfallprophylaxe 59, 64, 85, 93

Paargespräche 346, 348 Paartherapie 367, 369, 375 Pacing 80 Panikstörung 88, 90 f., 99, 102, 155 parental nattering 332

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Stichwortverzeichnis

S Salutogenese/salutogenetisch 21, 27 Schaf-Dolly-Frage 381 Schemata, dysfunktionale kognitive 75 Schizophrenie 43–46, 48, 51, 53, 57, 61, 63, 65, 67 Schlafstörung 70, 246 f., 255 Schlüsselwörter 241 Schlussintervention 219 Schreistörung 246 f., 254 f. Schulangst 300, 302, 307 Schulschwänzen 300 ff., 311 Schulverweigerung 244, 300 f., 305 Schutzfaktor 29 Selbstkontrolle 197 f., 333 Selbstorganisation 194, 415 Selbstquälung 184 Selbstschutzmechanismus 377 Selbstwert 240 Selbstwertgefühl 108, 219, 249, 250, 262, 337 Selbstwirksamkeit 249, 313, 337, 340 sexuelle Funktionsstörung 25, 212, 216, 218 sexuelle Kollusion 222 shared decision making 341 shared responsibility 339 Sit-in 118 Skalierungsfragen 99 Somatisierung 90, 154, 156 f., 341. Sozialphobie 88, 90, 94 Spannungskopfschmerz 376 Spieltherapie 237 Splitting, therapeutisches 135 Sprechchor 83 Sterilität, idiopathische 366 Sterilität, psychogene 365 Störung 24, 26, 31 Störung, depressive 69, 70 Störung, phobische 88, 102 Störung, psychische 30 Störung, hyperkinetische 280 Störung, sexuelle 215, 369 Störungsperspektive 113 Stress-Wohlfühl-Waage 380, 387 Strukturdeterminierung 198 Sucht 191 f., 194, 196 f., 199 f., 202 f., 210, 211

451

Suchtgedächtnis 211 Suizid 68, 70 ff., 74, 103, 118, 144, 147, 169, 225–229, 231, 233 f. Süßmut-Erlebnis- und Aktionswoche 412

T Tabuisierung 134, 396 Teilleistungsstörung 260, 262, 264 Tetralemma 204 Teufels- und Engelskreise 285 Time-Line 233, 239 Toilettentraining 277, 279 Trauerprozesse 133 Trauerreaktionen 373 Trauma 120, 122, 124 f., 127, 130 f., 133 Trennungsangst 84, 227, 244, 300 Trialogspiel 254 Triangulation 172 Triangulierung 196, 203

U Überfürsorglichkeit 171 Übergewicht 187 Überlebensstrategien, familiäre 395 Umwelten, kommunikative 338 Unlust, sexuelle 213 f., 216, 219 ff. Unterlassungsintervention siehe Musterunterbrechung Unterschiedsfragen 102 Unterstützung, familiäre 345 Ursachenforschung 29 f., 121, 282, 338, 384

V verdeckter Dialog 220 Verschlimmerungsfragen 83, 103, 186, 264 Versöhnungsgesten 333 Videoanalyse 54, 251 Videofeedback 251, 268 Visualisierungstechniken 257 Vulnerabilität 46, 47

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Stichwortverzeichnis

W

Z

Wertschätzung 31, 39, 80, 83, 92, 119, 124, 262, 326, 332 Widerstand, gewaltloser/gewaltfreier 117, 244, 331 Wirklichkeitskonstruktionen 49 f., 104 Wirksamkeitsstudie 34, 36 Worst-Case-Szenarien 360 Wunderfrage 31, 83, 96, 265

Zeit- und Energiekuchen 400 ZIELE-Kommunikationsworkshop 347 zirkuläres Fragen 97, 146, 152, 217, 228, 237, 264, 370, 398 Zukunftsszenarien 233 Zwangskontext 359, 363 Zwangsregelkreise 113 Zwangsrituale 108 ff., 114 Zwangsstörung 90, 107 ff., 111 f., 114 f., 117 f. Zyklothymien 43

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Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer bei V&R Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I

Arist von Schlippe / Haja Molter / Rose Schindler (Hg.) Vom Gegenwind zum Aufwind

Das Grundlagenwissen

Der Aufbruch des systemischen Gedankens

2. Auflage 2013. 494 Seiten, mit 31 Abb. und 6 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-40185-9

Mit einem Vorwort von Cornelia Oestereich. 2012. 286 Seiten, mit 8 Abb. und 16 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40184-2

»Es ist ein Buch, das in keiner ›systemischen Sammlung‹ fehlen darf – diese sehr gelungene und empfehlenswerte Neuauflage des Klassikers ist erneut ein Standardwerk der systemischen Therapie.« Kontext (Wolfgang Nowak)

Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer Systemische Interventionen UTB Profile, Band 3313 2. Auflage 2010. 128 Seiten, mit 7 Abb., kartoniert ISBN 978-3-8252-3313-6

»So bietet es eine kurze und klare, ohne Schnörkel und langatmige Seitenstränge, Über- und Einsicht in das systemische Denken und wird hilfreich genau für die, die eine solche Einsicht rasch erlangen wollen.« systhema (Hans-Georg Pflüger)

Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer Systemic Interventions 2015. 147 pages, with 7 figures, paperback ISBN 978-3-525-40220-7

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

»Und wenn man das insgesamt sehr lesenswerte Buch zuschlägt, dann weiß man, warum es mit diesem wunderbaren, mächtigen Vorspruch von Günter Eich eingeleitet wurde: ›Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!‹« Systeme (Thomas Lindner)

Matthias Ochs / Jochen Schweitzer (Hg.) Handbuch Forschung für Systemiker 2012. 469 Seiten, mit 24 Abb. und 18 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-40444-7

»Den Herausgebern ist es gelungen, ein umfassendes Werk zu schaffen, das auf den Tisch aller wissenschaftlich interessierten und arbeitenden Menschen gehört. Auch diejenigen, die sich bisher kaum mit Systemtheorie beschäftigt haben, finden Anknüpfungspunkte und einen reichhaltigen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung.« Praxis (Martina Kruse und Tanja Kuhnert)

www.v-r.de

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Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer bei V&R Jochen Schweitzer / Elisabeth Nicolai SYMPAthische Psychiatrie Handbuch systemisch-familienorientierter Arbeit

Arist von Schlippe / Willy Christian Kriz (Hg.) Personzentrierung und Systemtheorie

2010. 168 Seiten, mit 16 Abb. und 5 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-40162-0

Perspektiven für psychotherapeutisches Handeln

»Ich kann das nur empfehlen – alles was hier besprochen wird, ist praktikabel, vernünftig und für die Alltagsarbeit in der Psychiatrie höchst relevant.« Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung (Andreas Manteufel)

2004. 307 Seiten, mit 24 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49078-5

Christian Hawellek / Arist von Schlippe (Hg.) Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell 2. Auflage 2011. 263 Seiten, mit 32 Abb. und 8 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46227-0

»Jedem, der professionell mit Elternarbeit befasst ist, kann dieses Buch von Herzen empfohlen werden.« Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie (Birgit Westermann) »...eine Sammlung fundierter, interessanter und vielfältiger Beiträge...« Deutsches Ärzteblatt (Gabriele Enders)

Jochen Schweitzer / Elisabeth Nicolai / Nadja Hirschenberger Wenn Krankenhäuser Stimmen hören Lernprozesse in psychiatrischen Organisationen 2005. 215 Seiten, mit 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46229-4

»Insgesamt sollte die Arbeit [...] Pflichtlektüre für alle Mitarbeiter einer Klinik sein, die sich den Begriff ›systemisch‹ auf die Fahne geschrieben haben.« Kontext (Filip Caby)

Arist von Schlippe / Almute Nischak / Mohammed El Hachimi (Hg.) Familienunternehmen verstehen Gründer, Gesellschafter und Generationen 2. Auflage 2011. 296 Seiten, mit 19 Abb. und 5 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-49135-5

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© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462560 — ISBN E-Book: 9783647462561

Arist von Schlippe und Haim Omer Haim Omer / Arist von Schlippe Stärke statt Macht Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde 2. Auflage 2015. 360 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40203-0

»Für mich ist es ein intensives, besonderes und noch dazu leicht verständliches Buch, welches die LeserIn in die Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung in erzieherischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen führt.« Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung (Martin Lemme)

Haim Omer / Arist von Schlippe Autorität ohne Gewalt Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept Vorwort von Reinmar du Bois. 9. Auflage 2014. 214 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-01470-7

Haim Omer / Arist von Schlippe Autorität durch Beziehung Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung Mit einem Vorwort von Wilhelm Rotthaus. 8. Auflage 2015. 262 Seiten, mit 5 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-49077-8

Arist von Schlippe / Michael Grabbe (Hg.) Werkstattbuch Elterncoaching Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis 3. Auflage 2012. 292 Seiten, mit 4 Abb. und 6 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49109-6

»Also, falls Sie nach den Vorträgen und Büchern zum gewaltlosen Widerstand überlegen, wie Sie selbst die Ideen von Haim Omer nutzen können, kann ich Ihnen dieses Buch wärmstens empfehlen! Und auch den Skeptikern unter Ihnen gibt dieses Buch einen Einblick, wie überzeugend das Konzept ist.« systhema (Karin Wisch)

Haim Omer / Nahi Alon / Arist von Schlippe Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung Mit einem Vorwort des Dalai Lama 3. Auflage 2014. 230 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-49100-3

»...ein sehr schönes, ein klares, ein nützliches und gut lesbares, hoffentlich weite Verbreitung auch über die professionelle Szene hinaus findendes Büchlein!« Kontext (Markus Löble)

eBooks finden Sie auf www.v-r.de

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

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Systemische Therapie und Beratung: Grundlagen – eine Auswahl Rainer Schwing / Andreas Fryszer Systemisches Handwerk Werkzeug für die Praxis 7. Auflage 2015. 352 Seiten, mit 30 Abb. und 14 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45372-8

»Hier haben zwei in Therapie, Fortbildung und Supervision erfahrene Praktiker ihr Meisterstück vorgelegt, ...« systhema (Hans-Georg Pflüger)

Jan Bleckwedel Systemische Therapie in Aktion Kreative Methoden in der Arbeit mit Familien und Paaren 4. Auflage 2015. 314 Seiten, mit 25 Abb. und 26 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49137-9

Kirsten Nazarkiewicz / Kerstin Kuschik (Hg.) Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung Mit einem Vorwort von Jochen Schweitzer. 2015. 416 Seiten, mit 28 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40467-6

Die Herausgeberinnen präsentieren einen Überblick zu den aktuellen Tendenzen in der Aufstellungsarbeit.

Reinert Hanswille (Hg.) Handbuch systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Mit einem Vorwort von Jochen Schweitzer. 2015. 590 Seiten, mit 44 Abb. und 9 Tab. und digitalem Zusatzmaterial, gebunden ISBN 978-3-525-40195-8

»Das Handbuch, das noch viel mehr bietet, als in einer Rezension aufscheinen kann, ist eine Bereicherung für jeden therapeutisch tätigen oder therapeutisch interessierten Menschen!« schule.at (Franz Sedlak)

Rainer Schwing / Andreas Fryszer Systemische Beratung und Familientherapie – kurz, bündig, alltagstauglich 4. Auflage 2015. 168 Seiten, mit Illustrationen von Luise Rombach, kartoniert ISBN 978-3-525-45376-6

»lnsgesamt ein Buch, das einen sehr gut verständlichen und leicht lesbaren Einblick in systemisches Denken und Handeln gibt und dabei den Fokus auf viele praktische Anregungen legt.« systhema (Andreas Klink)

Alle Bände auch als eBooks: www.v-r.de

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