Wenn das Leben am Tod zerbricht: Philosophisch-praktische Impulse zur Begleitung trauernder Menschen [1 ed.] 9783666405266, 9783525405260

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Wenn das Leben am Tod zerbricht: Philosophisch-praktische Impulse zur Begleitung trauernder Menschen [1 ed.]
 9783666405266, 9783525405260

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Sylvia Brathuhn

Wenn das Leben am Tod zerbricht Philosophisch-praktische Impulse zur Begleitung trauernder Menschen

EDITION

 Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing Die Buchreihe Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krisen, Leid und Trauer.

Sylvia Brathuhn

Wenn das Leben am Tod zerbricht Philosophisch-praktische Impulse zur Begleitung trauernder Menschen

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Christa und Terry in großer Liebe und tiefem Respekt vor ihrem allumfassenden Verlustschmerz. Stephanie fehlt und Stephanie bleibt. Für immer!

Mit 2 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Sylvia Brathuhn Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-666-40526-6

Inhalt I Trauer-Ein-Sichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  I.1 Der Mensch als Werde-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  I.2 Alle Menschen sind sterblich – so auch ich und mein mir liebster Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  I.3 Das Band der Liebe und die Erfahrung des Todes . . . . . . . . .  I.4 Der Einbruch des Todes und der Zerriss des Wir . . . . . . . . . .  I.5 Leben in einer Fragewelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  I.6 Wenn das Wesentliche verloren gegangen ist . . . . . . . . . . . . .  I.7 Trauerarbeit: Harte innere Anstrengung – Experiment und Wagnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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II Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . .  51 II.1 Begegnungs- und Beziehungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  51 II.2 Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz . . . . . . . . .  55 II.2.1 Rollen- und Positionskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .  57 II.2.2 Wissenskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  68 II.2.3 Menschkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 II.3 Begleitkompetenz – Sei da! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  119 II.3.1 Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  120 II.3.2 Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  121 II.3.3 Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  123 II.3.4 Durchhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125 II.3.5 Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  126 III WEGgeDANKEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  128 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  131

»Wenn ein Seestern einen seiner Arme verliert, so wächst ihm dieser Arm wieder neu. Diese Tatsache mag uns ein Symbol dafür sein, dass am Ende des schmerzhaften Trauerweges Heilung möglich ist. Unser Seestern wird jedoch zeitlebens eine Narbe tragen. Seine Narbe ist beides: Zeichen für den Schmerz, den wir durch den Verlust eines geliebten Menschen tragen mussten, aber auch ein Zeichen dafür, dass dieser Mensch auf immer ein Teil unseres Lebens bleiben wird.« (Leittext des »Hospice of Palm Beach County, Horizons Bereavement Center«, mit freundlicher Genehmigung der genannten Institution; übersetzt von Sylvia Brathuhn)

I Trauer-Ein-Sichten

»Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus.« (Martin Buber, 1978, S. 45)

Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mit gewollten oder nicht gewollten Trennungen und Verlusten konfrontiert. Beide Erfahrnisse rufen dann Trauer hervor, wenn das Verlorengegangene eine sinnstiftende Bedeutung für das Leben des jeweiligen Menschen hatte. Trennungen gehen zwar vielfach mit der Erfahrung des Verlustes einher, können jedoch durchaus selbstbestimmt erfolgen und schon ab der frühesten Kindheit eingeübt und erlernt werden. Sie schmerzen, sie tun weh, sie sind jedoch oft genug auch begründet sowie verstehbar und werden damit handhabbar. Die Trennung durch den Tod und der damit einhergehende Verlust, den ein Mensch beim Tod eines nahestehenden, eines geliebten Menschen erfährt, ist jedoch ein existenzieller Einschnitt im Leben des Zurückbleibenden, der über die bisher beschriebenen Erfahrungen hinausgeht. Dieser Verlust hat den Charakter der »Grenzsituation«, wie sie durch den Existenzphilosophen Karl Jaspers entfaltet wird. Grenz­ situationen überraschen, gleichen einem Überfall und überwältigen. Der Zurückbleibende steht diesem Erleben nicht selten ohnmächtig gegenüber. Das Verstehen ist nicht mehr gegeben,

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der Verstand stößt an Grenzen, versucht sich in Erklärungen, stellt Fragen und muss doch passen. Der Verlust, der durch den Tod hervorgerufen wird, beinhaltet das Nie-wieder, das Nimmermehr, den endgültigen Schlusspunkt, den der Tod hinter ein (gemeinsames) Leben setzt. Nichts kann diesem Leben mehr hinzugefügt werden. Das Leben mit dem geliebten Menschen gehört der vollendeten Vergangenheit an. Mit dem Erleben des letzten und definitiven Abschieds ist ein Gefühl von Trauer verbunden, das Teil eines jeden Menschenlebens ist und das menschliche Dasein unabhängig von Alter, Geschlecht, Glauben oder religiöser Zugehörigkeit bis in die letzten Tiefen ersucht, verändert und dabei weder nach Wohlstand, Ausbildung oder Profession fragt. Der Terminus »Gefühl« ist hier im Scheler’schen Sinne zu verstehen, der die Trauer nicht nur als rein seelisches Gefühl kennzeichnet, sondern auch als geistiges Gefühl. Er ordnet die Trauer einerseits dem Bereich der »rein seelischen Gefühle« zu, da sie »von Hause aus eine Ichqualität« sei, die in ihrer Bewusstheit über den stumpfen Schmerz hinausragt und zum Zustand des Ich wird (Ichzuständlichkeit). In Bezug auf den trauernden Menschen ist hierbei von Bedeutung, dass die »rein seelischen Gefühle« eine mannigfach intensivierte Färbung aufweisen können: Sie können unterschiedlich »ichfern« oder »ichnah« sein. Je näher die Trauer am Ich ist, umso mehr wird der Mensch sie spüren und erleiden. Wenn Scheler formuliert, dass in echter Verzweiflung – und so auch in der Trauer – »alles Ichzuständliche wie ausgelöscht« (1954, S. 355) erscheint, dann wird deutlich, dass die Klassifizierung der Trauer als »rein seelisches Gefühl« nicht umfassend genug ist, sondern die Trauer andererseits auch im Gewand des »geistigen Gefühls« wirkt. Trauer erfüllt den zurückbleibenden Menschen gleichsam vom Kern der Person her, sie durchtönt und durchprägt das Ganze seiner Existenz und seiner Welt.

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Nahezu immer stellt sich beim Verlust eines geliebten Menschen ein durchdringendes und allumfassendes Gefühlschaos ein. In welchem Maße dieses Gefühlschaos ausgeprägt ist und wie es sich ausdrückt, das wird individuell empfunden und unterschiedlich erlebt. Hieran wird bereits deutlich, dass in diesem Buch kein einheitliches Trauerempfinden postuliert werden soll. Vielmehr geht es darum, zu verstehen, dass sich einerseits grundlegende Übereinstimmungen in dem Gefühlserleben »Trauer« finden lassen und dass andererseits jeder Mensch seine eigene Trauergeschichte hat, die ihm durch seine persönliche Biografie und die je eigene Beziehung zu dem verstorbenen Menschen aufgegeben ist. Die Trennung durch den Tod versetzt die Zurückbleibende1 in einen Abgrund des Leides, in dem sie sich leer und ausgebrannt fühlt. Trauernde Menschen berichten immer wieder, dass sie angesichts der Abgründigkeit des erlittenen Verlustes den Boden unter den Füßen verloren haben, dass sie für einen Moment, für einen Augenblick, wie lang auch immer dieser dauern mag, nichts mehr haben, woran sie sich halten können, dass da nichts mehr ist, das ihnen Orientierung bietet. Das bisherige Leben zerbricht und stürzt ein. Zer-Bruch und Ein-Bruch zwingen die Zurückbleibende in eine Situation, die ihr bisheriges Welt- und Selbstverständnis im höchsten Maße erschüttert und sie – ob sie will oder nicht – dazu auffordert, sich zu bewegen, sich neu zu orientieren, den Auf-Bruch zu wagen und sich selbst sowie das eigene Leben neu- bzw. anders oder umzugestalten (vgl. Brathuhn u. Müller, 2020, S. 64 ff.). Die in dieser Aufgabe enthaltene Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass die Hinterbliebene durch den Einbruch des Todes auf passive Weise einem Wandlungszwang ausgesetzt ist. Wie 1 Zur Wahrung der Lesbarkeit wird in diesem Buch darauf verzichtet, männliche und weibliche Formen zu verwenden. Wenn im weiteren Verlauf die weibliche Form benutzt wird, dann steht dahinter immer – gewissermaßen als Folie – »der trauernde Mensch« jeglichen Geschlechts.

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ihre Antwort auf diesen Zwang zur Wandlung ausfallen wird, ist von ihrer aktiven Reaktion abhängig. Da jedoch mit dem Tod des geliebten Menschen alle Aktivität zunächst einmal eingefroren scheint, wird hier schon deutlich, wie schwierig gerade zu Beginn des Trauerweges eine konstruktive Trauerantwort sein kann. All das, was dem trauernden Menschen bis zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich und auch verstehbar war, wird durch den erlebten Tod infrage gestellt. Selbstverständlichkeit und Verstehbarkeit sind aufgehoben. Für die Zurückbleibende entsteht eine umfassende Unsicherheit ihrer Bestimmung, und es ist gerade diese Unsicherheit, die sie zunächst einmal lähmt. Unsicherheit kann Lähmung hervorrufen und gleichzeitig Fragen aufwerfen. Die Fragen, die sich in dieser Situation dem Menschen aufdrängen, können ihm zum Motor werden, die ihn auf eine Suchreise schicken: Wer bin ich jetzt noch? Was hat mein Leben für einen Sinn? Wo ist mein geliebter Mensch hingegangen? Wird es je wieder hell werden? Was soll das alles noch? Wie kann ich ohne ihn leben? Wer ist jetzt für mich da? Welche Bedeutung hat unsere Beziehung für mich gehabt? – Solche und viele Fragen mehr kennzeichnen die Situation der Betroffenen. Die Zurückbleibende erlebt sich selbst als Suchende, erlebt ihr Handeln als ein Ringen um Sinnerfüllung und macht sich sowohl allein als auch in der Begegnung und Begleitung mit anderen auf den Weg, sich selbst und ihr Leben – ohne den verstorbenen Menschen – wahrzunehmen, zu erkennen und anzunehmen, um so ein neues Selbst- und Weltverständnis aufzubauen und zu gestalten. Dieser Trauerweg hält sich nicht an Regeln oder Gebote, nicht an Zeitpläne oder zur Verfügung stehende Kräfte. Er entsteht mit dem Tod und will gegangen werden: Trauerschritte sind Werdeschritte. Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, um zu verdeutlichen, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema »Tod und Trauer« letztlich aus einem philosophisch-praktischen Kontext

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heraus erfolgen muss: Der Tod eines geliebten Menschen reißt die Zurückbleibende mit Gewalt aus dem bisher geführten Alltagsleben heraus, verweist auf die Brüchigkeit und Begrenztheit des eigenen Lebens und zeigt auf, wie verletzlich und endlich dieses ist. Der erlebte Tod lässt sie etwas spüren von der Ambivalenz des Lebens, der Kontingenz des Seins, der Ausgesetztheit der menschlichen Existenz. Er bringt sie in Berührung mit ihren eigenen Begrenzungen, holt ihre eigene Sterblichkeit aus der Überschattung durch den Alltag heraus, stellt sie ungefragt in eine Grenzsituation hinein und fordert sie auf schmerzvolle Weise zu einer Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen auf. Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, bedarf die Trauernde des Mitmenschen. Sie ist meist nicht in der Lage, den Weg der Verwirklichung eines Lebens ohne den geliebten Verstorbenen, den Weg der Verselbstung, allein, das heißt nur im Rückgang auf sich selbst, zu gehen, sondern sie braucht den Mitmenschen, um im begleiteten Gehen ihres Trauer­weges Schritt für Schritt ein neues Verständnis ihrer selbst zu entwickeln, sich selbst wieder Gestalt, Kontur und Eigen-Sinn zu geben. Das Begleitungsgeschehen soll hier jedoch nicht per se auf den Vorgang der professionellen Begleitung eingeengt werden, denn »Trauerbegleitung ist nicht etwas, was ausschließlich professionellen Helfern vorbehalten bleibt – Trauerbegleitung wird für jeden Menschen in seinem Leben zu einer speziellen Beziehungsaufgabe und betrifft somit alle!« (Specht-Tomann u. Tropper, 2001, S. 239). Auch Müller und Schnegg verstehen unter Trauerbegleitung »zunächst und in erster Linie die Einbettung der Trauer in das Gemeinwesen, in den Familien- und Freundeskreis, in Nachbarschaften, Kollegengruppen, Kirchengemeinden und andere Gemeinschaften« (1997, S, 144 f.). Vor diesem Hintergrund richtet sich dieses Buch an Trauerbegleiterinnen und an dem Thema »Trauer« Interessierte.

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Im Durchleben ihrer Trauer, im bewussten Erleben der Grenzsituation, erhält die Trauernde Einblicke in sich selbst, die ihr nicht nur bisher ungekannte Einsichten in ihr individuelles Selbst, sondern auch Einsichten in das Wesentliche, in ihr Menschsein überhaupt, gewähren. Indem im Verlauf dieses Prozesses nicht nur die zerstörerische Seite des Todes gesehen, sondern auch sein konstruktiver und sinngebender Aspekt betrachtet wird, kann das Phänomen »Trauer« als ein Existenzial gefasst werden, das es der Zurückbleibenden ermöglicht, »sich selbst zu erkennen« und so »die zu werden, die sie ist«. Wenn Nietzsche in »Die fröhliche Wissenschaft« (1882/1959, S. 93) postuliert: »Das Rezept gegen die ›Not‹ lautet: Not«, dann kann hier analog festgehalten werden: »Das Rezept gegen ›die Trauer‹ lautet: Trauer.« Trauer ist ein natürlicher Selbstheilungsprozess, und jeder Schritt führt ins Leben, auch wenn sich dies streckenweise nicht so anfühlt und auch nicht so aussieht: Trauerschritte sind »Werdeschritte« und damit Lebensschritte. Die in diesem Buch ausgeführten grundlegenden und orientierenden Gedanken zur Begleitung Trauernder sollen demnach nicht nur für den professionellen Bereich gelten, denn nur ein geringer Teil der trauernden Menschen wendet sich an professionelle Trauerbegleiterinnen. Die meisten trauernden Menschen versuchen, ihre Trauer im alltäglichen Umfeld »irgendwie« durchzustehen, und sind dabei auf die begleitende Unterstützung aus dem nahen und persönlichen Umfeld angewiesen. Deshalb wäre laut dem Psycho- und Thanatologen Joachim Wittkowski »eine routinemäßige Zuweisung von Personen mit einem akuten Verlusterlebnis zu einer Trauerberatung […] nicht nur mit Blick auf den Nutzeffekt fragwürdig, sondern sogar kontraproduktiv, wenn sich Familienangehörige und Freunde als überflüssig erleben und sich vom Trauernden zurückziehen« (2003, S. 279). Der Untertitel dieses Buches heißt: »Philosophisch-­praktische Impulse zur Begleitung trauernder Menschen«. Um wirk­lich nah

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an der Praxis zu sein, habe ich an vielen Stellen Gesprächsauszüge aus der Begleitung trauernder Menschen eingefügt, und hier insbesondere Auszüge aus den Gesprächen mit der trauernden Marla Meesters, die zwei Jahre in meiner Begleitung war, und der trauernden Mutter Anna Kalweit, die ebenfalls fast zwei Jahre von mir begleitet wurde. Einige Gespräche wurden aufgenommen und in Teilen transkribiert. Die Namen sind aus Datenschutzgründen verändert. Die Gefühle, Gedanken, Worte und Reaktionen der Betroffenen sind jedoch unverändert und werden im Verlauf des Buches immer wieder herangezogen, um theoretische Gedanken und praktisches Erleben in Einklang zu bringen. Eine Theorie ist dann gut, wenn sie sich an der Praxis bewährt und diese befruchtet. Die Erfahrungen der hier zitierten Menschen sollen sozusagen als Verstehensfolie das Erleben von trauernden Menschen abbilden, um die daraus folgenden Überlegungen zur Begleitung Trauernder nachvollziehbar zu machen: »Das Individuelle erleuchtet das Universelle« (Landsberg, 2009, S. 55). So gilt die Trauer von Marla Meesters ihrem Ehemann und die von Anna Kalweit ihrer Tochter. An den Trauererfahrungen der beiden Frauen können entscheidende Einsichten in das Thema »Trauer« gewonnen werden, die auch dann ihre Gültigkeit haben, wenn ein Mensch um seinen Freund, Bruder, seine Mutter, Schwester, seinen Vater, Sohn, seine Tante oder einen anderen von ihm geliebten Menschen trauert. Jede dieser Trauer­erfahrungen wird individuelle Eigenheiten haben, und doch gibt es grundlegende Gemeinsamkeiten, die hier dargestellt werden. Marla Meesters ist 54 Jahre alt, als ihr Mann an einem Pros­ tatakarzinom erkrankt. Das Ehepaar ist seit 31 Jahren verheiratet, die Ehe ist kinderlos geblieben. Marla Meesters ist Grundschullehrerin und lässt sich im letzten Jahr der Erkrankung ihres Mannes beurlauben. Als ihr Mann stirbt, ist sie 57 Jahre alt.

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»Wir haben drei Jahre mit der Erkrankung gelebt und gerungen und gekämpft und am Ende doch verloren. Mit seinem Tod hat sich alles verändert. Kein Stein steht mehr auf dem anderen. Wie kann und soll ich jemals aus diesem Zusammenbruch von allem, was mir wichtig war, wieder herausfinden? Ich sehe keinen Weg. Nur Ödnis, Schatten und eine grenzenlose Fremdheit. Mein Leben ist mit ihm gestorben.« (Marla Meesters)

Es findet hier ein Verlust von Weltbezug, eine Negation von Welt statt, die bildlich gesprochen darin zum Ausdruck kommt, dass die Zurückbleibende nur auf Bruchstücke und Fragmente zurückschaut, nur Wege sieht, die ins Leere laufen und darauf verweisen, dass die Welt – ihre Welt – fremd, arm und leer geworden ist. Bei Freud heißt es: »In der Trauer ist die Welt arm und leer geworden« (1991a, S. 431). Ihre gegenwärtige Welt entbehrt jeglicher Geborgenheit und Vertrautheit mit der Folge von Fremdheit und Einsamkeit. Es gibt nicht mehr »unsere« Welt, es gibt nicht mehr »meine« Welt: Mit dem geliebten Menschen »stirbt auch die Welt, die mit ihm verbunden war, und ist nicht zuletzt auch der Trauernde der Welt und sich selber gestorben. Er ist tot für die Welt, wie die Welt für ihn gestorben ist« (Spiegel, 1981, S. 98). Mit dem Verstorbenen scheint Vergangenheit entschwunden, Gegenwart nicht mehr lebbar, die eigene Zukunft mit ihren Perspektivmöglichkeiten – wie ein schwarzes Loch – unvorstellbar geworden zu sein.

I.1 Der Mensch als Werde-Sein

Wenn wir einen trauernden Menschen in seinem Verlusterleben gut und aufrichtig begleiten wollen, kommen wir nicht darum herum, den Menschen an sich in seinem Menschsein in den Blick zu nehmen. Immanuel Kant hat in seiner »Kritik der

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reinen Vernunft« (1781) einst die grundlegende Frage gestellt: »Was ist der Mensch?« Kant stellte diese Frage nicht nur als Philosoph, sondern auch als Mensch. Es ist eine Frage, die darum ringt, den Menschen – und so auch sich selbst – in seiner besonderen Seinsweise zu verstehen. Diese Frage initiiert einen Weg des Verstehens, der es dem Begleitenden ermöglicht, sich der Verlust- und Lebenssituation eines trauernden Menschen anzunähern bzw. sich annähernd in die Lage eines trauernden Menschen zu versetzen, um mit ihm angemessene Begleitschritte zu gehen. Gehen wir also zunächst dieser Frage nach. Was (oder wer) ist der Mensch? Kant selbst gibt zur Antwort, dass der Mensch als Individuum ein frei handelndes Wesen ist, befähigt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um seine Lebenssituation da, wo nötig, zu verändern. Der Mensch ist qua seines Menschseins nicht dazu verurteilt, in einer für ihn unglücklichen Lage auszuharren. Dies scheint mit Blick auf einen trauernden Menschen ein wichtiger Gedanke. Kein Trauernder muss in der Situation bleiben, in die ihn der Tod eines geliebten Menschen gestoßen hat. Er ist grundsätzlich in der Lage, diese unglückliche Situation zu verändern. Was dies im Einzelnen bedeutet, was der Mensch dafür braucht, welche Herausforderungen auf ihn warten, wird im Verlauf dieser Schrift ausgeführt. Im Laufe der Jahrhunderte haben viele Philosophen sich mit der Frage beschäftigt, wer oder was der Mensch sei, und auf diese Frage erhellende Antworten gesucht. Eine mögliche Antwort auf die kantianische Frage »Was ist der Mensch?« wurde fast 200 Jahre später durch den Philosophen Paul Ludwig Landsberg formuliert. Nach Landsberg ist »der Mensch ein Werde-Sein« (1934, S. 74 ff.). Was genau bedeutet das? Wie ist der Mensch vor dem Hintergrund der Landsberg’schen Aussage zu verstehen? Im Verständnis von Landsberg wird das Werde-Sein des Menschen durch die innere Erfahrung erfasst und ist »absolute, teil-

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lose Ganzheit« (1934, S. 196). Das Werden des Menschen und sein Sein gehören für Landsberg zur Wesenswirklichkeit des Menschen. Der Mensch entwickelt sich in der Weise, dass sein Wesen sich verändert und grundlegend dasselbe bleibt. Insofern darf das Werden nicht nur rein faktisch verstanden werden, dann wäre die Entwicklungsidee nicht mehr als eine »triviale und unfruchtbare Feststellung, dass die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind« (Landsberg, 1934, S. 123). Es sei an dieser Stelle eine lebenspraktische Interpretation erlaubt, da diese für das Verstehen des Menschen schlechthin wie auch insbesondere für das Verstehen eines trauernden Menschen hilfreich erscheint. Gekürzt ausgedrückt bedeutet es, dass der Mensch gleichzeitig wird und ist. Er ist Entfaltung und Aufenthalt in einem. Landsberg versteht den Menschen in seiner lebensgeschichtlichen Entwicklung zwischen zwei Polen pendelnd und oszillierend eingespannt: dem Werden und dem Sein. Auf der Werde-Seite ist er in Bewegung, in Entwicklung, er sehnt sich nach Freiheit, Entfaltung, und er ist getrieben von der Suche nach Glück. Auf der Sein(s)-Seite ist er ein Wesen, das gekennzeichnet ist durch die Bestrebungen, (sich) zu bewahren, sich zu halten und Wurzeln zu schlagen. Die Seins-Seite des Menschen sehnt sich nach Stabilität, Halt, Sicherheit, Orientierung und ist auf der Suche nach Gewissheiten, nach der Wahrheit. Der Mensch ist folglich unterwegs zwischen Selbsterhaltung und Selbststeigerung (vgl. Zwierlein, 2013, S. 23). Die Lebensreise des Menschen ist demnach von einer beständigen Suchbewegung gekennzeichnet, die sich jedoch zu Lebzeiten nie letztgültig erfüllt, sondern auf alle Fragen immer nur provisorische, vorübergehende Antworten finden kann. Beflügelt oder abgebremst von den ausgehenden Impulsen seiner beiden Achsenendpunkte erwandert sich der Mensch als Homo viator, als ein Reisender (Marcel, 1949) seine in oszillierenden Bewegungen entstehende Lebenslinie, die sich mit jedem seiner

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Schritte, ausgehend von seiner Geburt auf den unbestimmten Zeitpunkt des Todes hingehend, entfaltet und auf der er seinen individuellen Lebensraum ausdeutet. Je nach Wesensart und je nachdem, was (und wer) ihm in dieser Welt begegnet und was (und wer) ihn prägt, sind diese beiden Pole in ihrer lebens­ bestimmenden Impulsgebung unterschiedlich stark ausgeprägt. Wenn einer der beiden Pole sehr hervorstechend und richtungsbestimmend ist, so käme dies auf der Seite des Werdens in Form von Fanatismus oder Prozessualismus zum Ausdruck. Auf der Seite des Seins könnte sich die am Extremen orientierte Lebensform im Gewand des ontologischen Fixismus zeigen bzw. des moralischen Zynismus – als Sein ohne Sinn. Das heißt, wenn einer dieser beiden Momente in der Lebensführung übertrieben wird, verliert der Mensch seine empfundene, gedachte Mitte, er gerät aus der Balance und droht, sich in seinem Werdeprozess zu verfehlen. Die lebensgeschichtliche Aufgabe eines jeden Menschen ist es, zwischen diesen beiden Polen sein Leben, sein Werde-Sein, in einer gesunden Art und Weise zu gestalten. Natürlich ist es nicht dauerhaft möglich, in einer sogenannten ausbalancierten Mitte zu leben. Was jedoch möglich ist: sich immer wieder neu auszurichten und in eine Art Gleichgewicht zu bringen – zumindest für den Moment. Hierfür sind Aufmerksamkeit, Wachheit, Achtsamkeit, Reflexionsfähigkeit, Bewusstheit für die eigene Lebensführung und durchaus auch Feedback von anderen Menschen notwendig. »Bevor mein Mann starb, war mein Leben in Ordnung. Wir waren beide berufstätig. Wir lebten finanziell zwar nicht auf einem superhohen Niveau, jedoch ein schöner Urlaub, ein-, zweimal im Monat essen gehen, den Nichten und Neffen was schenken und auch kulturellen Unternehmungen nachgehen waren ohne Schwierigkeiten drin. Für mich war es immer wichtig, dass wir

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ein bisschen was auf der hohen Kante hatten und auch nicht leichtsinnig mit unserem Ersparten umgingen. Ich hatte immer das Gefühl, ich brauche ein sicheres Polster, das mir das Gefühl gibt, für schwere Zeiten gewappnet zu sein. Mein Mann war da eher anders. Fast das Gegenteil. Er wollte immer etwas unternehmen. ›Geld ist da, um ausgegeben zu werden, Geld muss fließen‹, war sein Leitmotiv. Immer überlegte er, was wir noch tun könnten, um unseren Horizont zu erweitern und uns weiterzuentwickeln. Stillstand und ein blasses Leben, wie er es nannte, waren ihm verhasst. Er war so ein wunderbarer Freigeist, den ich manchmal auch bremsen musste. Und doch haben wir es ganz gut geschafft, miteinander unsere Gegensätze zu regulieren. Gleichwohl frage ich mich jetzt oft: ›Warum habe ich ihn überhaupt so oft gebremst?‹« (Marla Meesters)

I.2 Alle Menschen sind sterblich – so auch ich und mein mir liebster Mensch

Wir Menschen sind Sterbliche, wir sind »gezeitigte« Wesen, und wir wissen das. Zumindest irgendwie. Die Lebenslinie – und damit auch das irdische Werden – eines jeden Menschen nimmt ihren Ausgang bei der Geburt, beginnt mit dem ersten Atemzug und endet mit dem letzten Atemzug: Der Tod ist »ein-getreten«. Sein Eintritt ist für den irdischen Menschen gleichzeitig der Austritt aus dem Leben grundsätzlich und vor allem aus seinem eigenen Leben. Es gibt keine Schwelle, kein lang­ sames Hinübergleiten oder Hinübergehen. Es gibt Leben oder es gibt Tod. Mit dem Eintritt des Todes endet hier und jetzt seine Lebensreise. Der Tod setzt den endgültigen Schlusspunkt hinter die Lebenswanderschaft: »Es ist aus und vorbei«, so bezeichnen es viele trauernde Menschen. Keiner – weder die Zurückbleibenden noch der Verstorbene selbst – kann seinem oder

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dem gemeinsamen Leben etwas hinzufügen. Alle Möglichkeiten haben sich erschöpft – auch wenn sie vielleicht noch lange nicht ausgeschöpft waren: Der »ständige Ausstand« hat sich vollzogen. »[D]as Dasein hat […] mit seinem Tod seinen Lauf vollendet« (Heidegger, 2001, S. 242 ff.). Der heilige Augustinus formuliert: »Nur eines gibt es für dich auf dieser Erde, was sicher und gewiß ist; es ist der Tod« (Augustinus, 1954, S. 155). Das heißt, wir Menschen leben mit der unumstößlichen Gewissheit, dass wir sterben müssen. Augustinus fährt fort, indem er eine damit verbundene Ungewissheit ins Spiel bringt: »Der Tod ist sicher und gewiss: aber der Tag des Todes ist ungewiß« (S. 156). Das heißt wiederum, dass wir Menschen mit der prinzipiellen Ungewissheit des Todeszeitpunktes leben müssen. Dieses wissende Nichtwissen zwingt uns, im Rahmen der dialektischen Spannung von Wissen einerseits und Nichtwissen andererseits unser Leben zu gestalten. Zwar ist der Tod eine universale Konstante, die jeden Menschen – früher oder später – (be-)trifft, jedoch die Art und Weise, wie der je einzelne Mensch mit dem Wissen um sein eigenes Sterbenmüssen oder das des geliebten Menschen umgeht, ist individuell. Jeder Mensch schafft sich hierzu seine eigenen Strategien. Strategie soll hier verstanden werden »als die Kunst, zur rechten Zeit das Richtige zu tun«, denn unbewusst oder intuitiv »weiß« ein (trauernder) Mensch, was gerade gut für ihn ist, auch wenn es für Außenstehende manchmal unpassend oder sogar unangemessen erscheint. »Das Richtige« ist somit kein objektives Maß, das für alle Menschen gleichermaßen gilt, sondern es bedeutet, dass es hier und jetzt dem jeweiligen Menschen eine Möglichkeit bietet, mit dem Nichtverstehbaren umzugehen. »Kurz nach dem Tod von Hans ging ich mehrmals am Tag auf den Friedhof. Es war wie ein innerer Zwang. Immer und immer wieder musste ich mir dieses Holzkreuz anschauen, auf dem sein Name

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steht. Und so oft ich auch ging, es blieb wie ein Irrtum, weil ich es nicht verstand. Sein Name stand doch auf unserer Klingel, auf den Briefen, die noch längere Zeit kamen, und auch im Telefonbuch. Aber doch nicht auf diesem Kreuz. Meine Freundin sagte: ›Lass doch diese ständigen Friedhofbesuche sein, das zieht dich doch nur noch mehr runter. Ehrlich! Ich verstehe das nicht.‹ Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie mich verstehen wollte. Ich habe nicht den Friedhof besucht. Ich habe Hans besucht, oder besser gesagt: Ich habe ihn gesucht. Für mich war es jedenfalls gut. Auch wenn ich keine Ruhe fand am Grab, so war es doch beruhigend, dauernd dahin zu gehen.« (Marla Meesters)

Natürlich lassen sich bei aller Individualität der Strategien auch grundlegende Gemeinsamkeiten im Umgang mit der eigenen Sterblichkeit finden. Blaise Pascal, bedeutender Philosoph und Mathematiker des 17. Jahrhunderts, formulierte: »Da die Menschen den Tod, das Elend, die Unwissenheit nicht heilen konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, auf den Einfall gekommen, nicht daran zu denken« (zit. nach Zwierlein, 1997, S. 264). In den Worten Pascals liegt ein konkreter Hinweis darauf, warum wir Menschen unsere Sterblichkeit verdrängen: Die Gewissheit, dass wir sterben werden, steht unserem Entwicklungswillen, unserer Glücksbedürftigkeit, unserem Glücksstreben (dem Werden) im Wege. An anderer Stelle bringt Pascal einen ähnlichen Gedanken auf: »Ungeachtet jenes Elends [dass er sterben muss, S. B.] will er [der Mensch, S. B.] glücklich und nur glücklich sein, und er kann nicht umhin, es sein zu wollen. Doch wie soll er es anfangen? Um es ganz zu erreichen, wäre es notwendig, dass er sich unsterblich machte, doch da er es nicht kann, ist er auf den Einfall gekommen, sich den Gedanken daran zu versagen« (zit. nach Zwierlein, 1997, S. 285). Hier wird deutlich, dass die Verdrängung des Todeswissens kein bloßes Ergebnis der Neuzeit ist, sondern eine dem Menschen innewohnende

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Lebensbewegung, um sein bestehendes und ausstehendes Glück nicht zu gefährden (»und er kann nicht umhin«). Der Mensch versucht, sich von seiner wahren Lage abzulenken, indem er sich zerstreut. Dies ist nach Pascal »das einzige, was uns über unser Elend hinwegtröstet« (S. 265). Max Scheler spricht in seinem Aufsatz »Tod und Fortleben« davon, dass es im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder »Verdunkelungen und Erhellungen« (1979, S. 27) des Todeswissens gegeben habe. Er unterscheidet zwischen einer natürlichen Verdrängung der Todesidee, der nach seiner Auslegung eine hohe, vitale Zweckmäßigkeit zukommt. Sie ermöglicht uns, zu planen, Visionen zu wagen und uns aus der Gegenwart in die Zukunft zu entwerfen. Indem wir die Todesgewissheit ausklammern, verdrängen, ermöglichen wir uns, Begrifflichkeiten wie »später«, »irgendwann«, »vielleicht, mal sehen«, »wenn ich in Rente bin« usw. zu denken. Gleichzeitig stellt Scheler fest, dass es eine unnatürliche Verdrängung der Todesidee gibt, die den modernen Menschen charakterisiere. Diese Verdrängung habe ihren Grund in der modernen Gesellschaft, deren Erwerbstrieb und fortschrittsgläubiger Euphorismus ein besinnliches, kontemplatives Nachdenken über die Gewissheit des Sterbenmüssens nicht mehr zulasse. Vor diesem Hintergrund, so führt Scheler an anderer Stelle aus, rechne der Mensch zwar mit dem Tod und versichere sich tausendfach gegen ihn, dennoch sei der Tod »doch nicht eigentlich anschaulich für ihn da«, sondern »er überkommt nur als Katastrophe« (Scheler, 1979, S. 32). An einer anderen Stelle formuliert Scheler sinngemäß, dass der Mensch sich gegen den Tod versichere wie gegen einen Wasserrohrbruch. In beiden Fällen hoffe er, dass er nie eintreten werde. Wir versuchen, uns auf jegliche Art und Weise gegen den Tod zu »versichern«, und ermöglichen es ihm gerade auf diese Weise, uns – einer Katastrophe gleich – zu überfallen. Dies führt letztlich dazu, dass der Tod eines Menschen, den ich liebe, der

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mir etwas bedeutet, der für mich nicht irgendjemand, sondern die ganze Welt ist, dass das Erleben dieses Ereignisses in seiner Härte und Einmaligkeit für andere weder nachvollziehbar noch verstehbar ist. So formulieren trauernde Menschen sinngemäß oft folgende Aussage: »Für sie ist es ein Tod, für mich ist es mein Tod.« Der eingetretene Tod ist eine »radikale Neuigkeit« für denjenigen, der davon existenziell berührt wird (Benjamin, 1998, S. 560). Und bei Vladimir Jankélévitch heißt es: »Der Mensch begegnet dem Tod gezwungenermaßen im Zustand der Improvisation und Unvorbereitetheit: das Unerwartete des Todes ist im wahrsten Sinne des Wortes extemporalis, aus dem Stegreif« (Jankélévitch, 2005, S. 29). Hier wird deutlich, dass niemand mit Blick auf den Tod »erfahren« ist. Diesem Gedanken wohnt gerade für Trauerbegleitende eine große Beruhigung inne. Wir können gar keine Todesexpertinnen sein. Der Eintritt des Todes und der Umgang damit mag zwar auf der Sachebene einige planbare Handlungen ermöglichen, auf der existenziellen Ebene jedoch erfordert er Gegenwärtigkeit, um das Wagnis von Improvisation und Experiment überhaupt eingehen zu können. Der Tod zerbricht sowohl unsere Gewohnheiten als auch unser Bescheidwissen, und dies vor allem dann, wenn ein geliebter Mensch stirbt (vgl. Brathuhn u. Zwierlein, 2012, S. 144). Sigmund Freud kommt in seiner Schrift »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915/1991b, S. 20) zu der Konklusion, dass der Mensch im Grunde unbewusst überzeugt sei von der Illusion seiner Unsterblichkeit. Im Alltagsleben, also wenn alles seinen gewohnten Gang geht und die Routine und Gewohnheiten unser Leben prägen, wenn der Autopilot unseren Lebensalltag, unseren Lebenskurs bestimmt, sind wir Menschen demnach eine Gemeinschaft von unbewussten Unsterblichkeitsillusionisten. Der eingetretene Tod ist es dann, der eine Zurückbleibende aus dieser Gemeinschaft heraus­ katapultiert und sie das Gefühl eines Seitenwechsels erleben lässt.

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»Na klar wussten wir, dass wir älter werden, dass unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten dadurch eingeschränkter werden, und wir wussten auch, dass wir irgendwann sterben werden. Doch gleichzeitig war dies so ein absurder Gedanke. Wir waren endlich ›aus dem Gröbsten raus‹. Hatten so viele Pläne und wollten noch was vom Leben genießen. Als wir damals gebaut haben, hatten wir eine Risikolebensversicherung abgeschlossen, die mit dem 65.  Geburtstag meines Mannes ausgezahlt werden sollte. Damit wollten wir uns eine altersgerechte Eigentumswohnung kaufen. Nie und nimmer habe ich daran gedacht, dass ich diejenige bin, die dieses Geld bekommt, weil mein Mann tot ist. Das ist bis heute Geld, das ich nicht anfassen kann. Es ist Geld, das ich mit seinem Tod verdient habe. Doch nicht nur das ist schwer. Seit mein Mann tot ist, fühle ich eine Barriere zwischen mir und denen, die dieses Schicksal noch nicht erfahren haben. Es ist, als lebten wir in zwei Welten. Die Welt der anderen ist licht und hell und hat Zukunft. Meine Welt ist dunkel und finster, und von Zukunft keine Spur. Die Einsamkeit in meiner Welt ist so groß, dass ich sie manchmal nicht aushalten kann.« (Marla Meesters)

Deutlich geworden ist, dass wir Menschen eine Art Denkwissen, ein »dämmerhaftes Denken« (Jankélévitch, 2005, S. 14) von unserer Sterblichkeit haben. Wir wissen, dass wir sterben werden. Wir wissen nicht, wann (und auch nicht, wie) wir sterben werden. Dieses wissende Nichtwissen ist kaum auszuhalten, also versuchen wir seit Menschengedenken, »ein Kraut gegen die Sterblichkeit zu finden«, und wenn es eben darin besteht, nicht an den Tod zu denken. In einem Gedicht von Matthias Claudius – »Der Tod und das Mädchen«2 – finden wir in der ersten Strophe folgende Zeilen:

2 1774 im »Göttinger Musenalmanach« erschienen.

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»Vorüber! Ach vorüber! Geh, wilder Knochenmann! Ich bin noch jung, geh, Lieber! Und rühre mich nicht an.«

Auch hier wird ein Aus-Weg gesucht, mit dem uns innewohnenden Todeswissen umzugehen. Das Mädchen, das mit dem Tod in den Dialog geht, wirft ihre Jugend in die Waagschale: »Ich bin noch jung«. Wir Menschen setzen meist unbewusst auf eine folgerichtige, biologische Reihenfolge. Erst kommen die sehr, sehr Alten, dann die sehr Alten, dann die Alten. Das Wissen, es könne auch einen jungen Menschen treffen, wird beharrlich ausgeblendet, darf nicht sein, es verunsichert und ängstigt. Nicht selten sagen Menschen in der Trauerbegleitung: »Das darf doch nicht sein, dass Kinder vor den Eltern sterben.« Oder: »Meine Tochter war doch erst vierzig. Sie hatte doch noch ihr Leben vor sich.« Die Wiener Cartoonistin Nina Ruzicka hat in einer Comicreihe »Der Tod und das Mädchen« eine ähnliche Situation beschrieben3: Ein junges Mädchen fährt die Straße entlang. Am Wegesrand sieht sie einen Anhalter stehen. Sie hält an, dreht die Scheibe herunter und der Anhalter fragt: »Können Sie mich ein Stückchen mitnehmen, verehrtes Fräulein?« Sie erkennt den Tod, kurbelt panisch die Scheibe wieder hoch, drückt das Gaspedal durch und rast davon. Der Anhalter hebt drohend seinen Arm und ruft ihr nach: »Na warte, das hat ein Nachspiel.«

Der Glaube an die eigene Unverwüstlichkeit, Unversehrtheit und Unsterblichkeit ist in keinem Alter so groß und tragend wie in 3 https://todundmaedchen.de, Abschnitt 01, Strip 17.

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diesem Lebensabschnitt. Und so sagt auch der britisch-polnische Autor Joseph Conrad in seinem 1899 erschienenen Buch »Jugend«: »[U]nd ich erinnere mich noch an meine Jugend und an das Gefühl, das niemals wiederkehren wird – das Gefühl, dass ich endlos aushalten würde, alles überdauern, die See, die Erde und alle Menschen« (Conrad, 2016, 32 f.). Und doch. Der Tod wird sein Ziel erreichen, unabhängig davon, wie alt der Mensch ist oder was er tut, um ihm zu entfliehen. Max Scheler gibt hierzu eine aussagekräftige Formulierung: »Es gibt Dinge, die gerade dann nicht eintreten, wenn sie zum bewussten Zwecke des Handelns gemacht werden; und Dinge, die umso sicherer kommen, je mehr man sie vermeiden will. Solcher Art ist Glück und Leid. Das Glück flieht vor seinem Jäger in immer weitere Fernen. Das Leid nähert sich dem Flüchtling, je schneller er flieht« (Scheler, 1955, S. 60). In dieser Aussage findet sich implizit die Einladung, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, ihn nicht zu fliehen. Die französische Schriftstellerin Germaine de Staël fasst in passenden Worten die ängstigende Ambivalenz von Wissen und Verdrängen bzw. Entkommensversuchen in einem Brief an ihren Sohn Auguste zusammen: »Ach! Welch schrecklicher Gedanke, dass wir sterben müssen, und welch ewiges Wunder, dass wir das immer wieder vergessen können!«4 Weder der Gedanke an den eigenen Tod noch der Gedanke an den Tod des geliebten Nächsten ist in seiner Härte und Unwiederbringlichkeit vorstellbar. Der Tod des geliebten Menschen und die daraus entspringende Trauer können nicht antizipiert werden. Unser Todeswissen ist kein klares, augenfälliges Wissen, das uns begleitet und uns im besten Fall auch dazu befähigt, unser Leben als Kostbarkeit anzuerkennen, um es in der Weise zu leben, wie es dem Einzigartigen zukommt. 4 www.abyssal.de/zitate/tod.html (20.02.2022).

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Ich möchte auch hier nochmals Bezug zur Gedankenwelt von Paul Ludwig Landsberg nehmen. Nach Landsberg erlebt der Mensch – mit zunehmender Individualisierung und Besonderung – sein bevorstehendes Sterbenmüssen als einen Zukunftsausblick, der ihn ängstigt und ihm Furcht einflößt. Die sich hier zeigende Proportionalität lässt Landsberg zu dem Ergebnis gelangen, dass »es ein einziger Vorgang ist, in dem Individuen als solche werden und in dem sie, im eigentlichen humanen Sinne, sterblich werden« (Landsberg, 2009, S. 33). Landsberg verweist zudem auf die zu diesem Prozess der Individuation analog wachsende Last, nämlich das Gefühl der Angst vor dem Tod, das Empfinden der Bedrohung durch den Tod, das den Werdeprozess des sich in der Besonderung befindenden Menschen abbricht. Die zunehmende Individualisierung und der damit einhergehende Entwicklungsgang der »Sterblichwerdung« lassen das Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit wachsen. Die Folge hiervon ist, dass der moderne Mensch versucht, sein Sterblichkeitswissen so in seinen Alltag zu integrieren, dass es ihn nicht ängstigt. Eine Möglichkeit sieht er darin, den bevorstehenden Tod in alltäglicher Auslegung auf ein Begebnis – ein »Vorkommnis« – zu nivellieren, das zwar das Dasein berührt, jedoch niemanden Eigens ist und schon mal gar nicht ihm selbst oder den Menschen, die er liebt, zugesprochen werden kann. Heidegger formuliert dies in trefflicher Weise, wenn er sagt: »Das Sterben, das wesenhaft unvertretbar das Meine ist, wird in ein öffentlich vorkommendes Ereignis verkehrt, das dem Man begegnet« (2001, S. 253). In dieser Denkhaltung »stirbt man eben«. Das »Man« im Heidegger’schen Verständnis ist niemand Bestimmtes, und so könnte die Beruhigung darin liegen, dass »niemand« stirbt. Des Weiteren heißt es bei Heidegger: »Man stirbt am Ende auch selbst einmal, aber zunächst bleibt man selbst unbetroffen« (S. 253). Aus dieser Blickweise heraus kommt der Mensch zu der

Das Band der Liebe und die Erfahrung des Tode   27

Annahme, dass der Tod nicht zum jetzigen Zeitpunkt als dem – seinem – Leben zugehörig bedacht werden muss, mit der Folge einer weiteren Entfremdung von sich selbst.

I.3 Das Band der Liebe und die Erfahrung des Todes

Es scheint so, als wisse der Mensch nur rein äußerlich etwas über den Tod und lebe, als sei der Tod nur für die anderen relevant. Landsberg führt jedoch auch eine zweite Art des Todeswissens aus. Für ihn wird das Mit-Erleben des Todes, die Erfahrung vom Tod eines geliebten Menschen, der für den Zurückbleibenden eine unersetzbare Geltung hat, zur unmittelbaren Begegnung mit dem Tod. Der Tod wird erfahren. Landsberg führt aus, dass »der Tod eines Menschen, den wir […] lieben und als einzigartig und unersetzlich wahrnehmen, […] uns hinüberführt in die kalte Welt des vollendeten Todes […]. Einen Augenblick berühren wir gleichsam die Atmosphäre, die aus dem Land des Todes kommt […]. Sofort danach sind wir auch schon zurückgekehrt aus dem Reiche des Dunkels. […] Sind wir noch dieselben?« (Landsberg, 2009, S. 34 ff.). Damit wir diesen Gedanken nachvollziehen können, ist es von Bedeutung, die Liebe als Startpunkt aller Überlegungen hier hinzuzusetzen. Für Max Scheler ist der Mensch in erster Linie ein »ens amans«, ein liebendes Wesen (1954, S. 356). Was bedeutet es, einen Menschen zu lieben? In der Liebe heben wir den einen Menschen aus dem Meer der »Gleich-Gültigen« heraus. Wir besondern ihn, wir sehen ihn, wir geben ihm Ansehen. Wir sprechen dem Menschen, den wir lieben, das Seinskompliment aus: »Es ist gut, dass es dich gibt.« Mit unserer und in unserer Liebe sagen wir Ja zu diesem Menschen. Wir öffnen uns für ihn und gehen eine »Unio« mit ihm ein. Das heißt, aus dem Ich und dem Du erwächst in der Liebe eine sogenannte dritte Gesamtperson, das Wir.

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Die Schriftstellerin Anne Philipe, die in dem Buch »Nur einen Seufzer lang« (2001, S. 46) den Tod ihres Mannes und das darauffolgende Trauererleben beschreibt, findet für das Wir folgende Worte: »Es gab dich, mich und jenes ›wir‹, das nicht nur Du und Ich war, das im Entstehen war, das über uns hinaus-wachsen und uns beide enthalten sollte.« Hier wird deutlich, dass das Wir eine eigene Welt ist, die durch das Band der Liebe Form, Gestalt, Inhalt und Sinn findet. Ein solches Lieben ist gleichsam ein Streben, das den Menschen über die Enge seines Ichs hinaustreibt, hinein in die Weite des »Wir-sind«, in der er die Einsamkeit überwindet. Im Rückblick auf den Tod seines geliebten Jugendfreundes formuliert der heilige Augustinus in seinen »Bekenntnissen«: »[I]ch fühlte, meine und seine Seele waren eine einzige in zwei Körpern gewesen« (Augustinus, 1951, Viertes Buch, Kap. IV). In dieser Empfindung – ergänzt durch die Befürchtung, »hälftig leben« zu müssen – kommt zum Ausdruck, dass es dem Zurückbleibenden angesichts des erlittenen Verlustes nicht länger möglich scheint, sich dauerhaft und kontinuierlich in sich selbst geeint zu fühlen. Auch Colin Parkes hebt ähnliche Aussagen bei befragten Witwen hervor: »Es ist, wie wenn mir das Innere herausgerissen worden wäre und eine entsetzliche Wunde zurückgeblieben wäre« (1974, S. 114). Witwen würden angesichts des Todes ihres Partners vielfach von »Abtrennung« sprechen oder formulieren: »wie wenn die Hälfte von mir fehlte«. Das heißt, es werden Begrifflichkeiten verwendet, die den Vergleich zu einer Amputation herstellen. Das Empfinden, nur noch »hälftig zu leben«, nur noch ein »halber Mensch« zu sein, macht es Trauernden zunächst fast unmöglich, mit sich selbst im Einklang zu sein bzw. sich als eine eigenständige Ichheit zu empfinden. Dies könnte möglicherweise eine Erklärung dafür sein, warum es trauernden Menschen häufig so schwer fällt, von sich selbst in der Ich-Form zu sprechen.

Das Band der Liebe und die Erfahrung des Tode   29

Es wird hier viel eher das abständige Personalpronomen »man« benutzt. »Man kommt abends nach Hause und keiner ist da.« »Niemand kann nachvollziehen, wie man sich fühlt.« »Man kann diesen Schmerz kaum aushalten.« Das Wort »ich« auszusprechen will vielfach nicht gelingen und muss (neu) erlernt werden. Meiner Erfahrung nach wissen trauernde Menschen sehr genau, wann es an der Zeit ist, mit vorsichtigen Schritten das »man« durch ein »ich« zu ersetzen. Hier darf nicht gedrängt werden. Die Eigenidentität, die eine Zurückbleibende im gemeinsamen Leben mit dem geliebten Menschen erlangte, die ihr in ruhigen Zeiten Sicherheit, Stabilität, Selbstbewusstheit, Kontinuität, Dauerhaftigkeit gewährte und auch Experiment, Wagnis, Zukunftsstreben, Freiheitssprünge ermöglichte, hat sich angesichts des Todes im Abgrund des Nichts verflüchtigt. Die Zurückbleibende droht, sich selbst eine Fremde zu werden, eine Fremde, die sich die Frage nach der eigenen Identität, nach dem »Wer bin ich?« stellt. Immer wieder hören wir solche oder ähnliche Aussagen in der Trauerbegleitung, die genau diesen Aspekt betreffen: »Ein Teil von mir ist mitgestorben und ein Teil von ihm wird immer bleiben.« Der zweite Teil des Satzes wird häufig erst später wahrgenommen, da zunächst der Verlust, das Verlorene, die Leere im Vordergrund stehen. Verknüpfen wir dies mit dem Gedanken von Gabriel Marcel: »Jemanden lieben heißt ihm sagen, du wirst nicht sterben« (1952, S. 472), dann ist es demzufolge die Liebe, die den Menschen gegen das Nein des Todes unendlich bejaht. Bei Jaspers heißt es: »Was ich liebe, von dem will ich, dass es sei« (1971, S. 49). Die Liebe ist – so verstanden – der unsterbliche Sinn des sterblichen Lebens. Eine Teilnehmerin in einem Palliative-Care-Kurs sagte einmal: »Dass mein Mann, mein Kind, mein Bruder, meine Schwester, meine Freundin … eines Tages sterben werden, ist mir klar, ich

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kann es mir jedoch nicht vorstellen. In meinem beruflichen Alltag erlebe ich den Tod manchmal mehrfach pro Woche. Doch das kann ich mir immer gut erklären. Dasselbe Schicksal mir jedoch für meine Lieben vorzustellen, gelingt mir nicht. Es ist und bleibt ein abstraktes Gedankenexperiment, das mir obendrein ein schlechtes Gewissen macht. Als würde ich sie zu Lebzeiten schon töten wollen.«

Gegen das Ja der Liebe steht der Tod mit seinem eingeschriebenen Nein zum Leben. Tod bedeutet Abbruch, bedeutet Trennung und Separation von dem, den wir in seiner Unersetzlichkeit und Besonderheit lieben. Aus dieser Konklusion gewinnen auch die im alltäglichen Leben so häufig zitierten Sätze wie »Trauer ist der Preis der Liebe« oder »Liebe hat ihren Preis« ihren je eigenen Gehalt. Wir erkennen hier eine Proportionalität von Liebe und Trauer, in der deutlich zum Ausdruck kommt, dass der Tod immer der Feind der Liebe ist, ja dieser gewissermaßen sein muss, denn »die Liebe […] ist die Bewegungsweise des Lebens hin auf eine Erfüllung, die der Tod nicht erfüllen kann. Er ist ihr Gegenteil« (Zwierlein, 1989, S. 2).

I.4 Der Einbruch des Todes und der Zerriss des Wir

Die Liebende will bewahren, will behalten, will zusammen sein, will leben. In der Unio, nicht allein. Und dann geschieht es doch. Das für unmöglich Gehaltene – der Tod – wird möglich, wird Realität. Der Tod bricht in das Leben zweier Liebender ein. Er zerschlägt das Wir und nimmt der Zurückbleibenden in grausamer Unwiederbringlichkeit ihr Du. Aus! Schluss! Vorbei! Niemals, nimmermehr! »Das Nein des Unsäglichen ist das pure Nein; es sagt nein und damit Schluss, es schlägt die Tür hinter sich zu […]. Der Tod erwürgt Dauer«, heißt es bei Vladimir

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Jankélévitch (2005, S. 114 f.). Die Schwere dieses Todeserlebens lässt sich kaum in Worte fassen, was sich auch in der Sprachlosigkeit, die sich auf vielen verschiedenen Ebenen manifestiert, zeigt. Worte frieren ein, und überall ist Schweigen. Im unbekannten Land des Todes herrscht Schweigen: »Der Tod antwortet nicht, […] seine einzige Antwort ist quälende Stummheit« (Jankélé­ vitch, 2005, S. 114). Auch der Verstorbene schweigt für immer. Die Menschen um die Zurückbleibende herum suchen immer wieder »richtige« Worte und merken doch, wie ihre Sprachlosigkeit wächst. Und dieses große Schweigen, das dem Hinterbliebenen jetzt entgegenschlägt, lässt auch ihn selbst verstummen und vereinsamen, treibt ihn in ein isolierendes Für-sich-Sein. Der Philosoph Eduard Zwierlein hat hierfür in einem Gedicht den so treffenden Terminus »Wortwinter« (Brathuhn u. Zwierlein-­ Rockenfeller, 2021, S. 135 f.) geprägt. Die Erfahrung des Todes eines geliebten Menschen ist so radikal, dass ein Kommunikationsgraben entstehen kann, der für alle Beteiligten – natürlich in individueller Intensität – Unsicherheit und Schmerz bedeutet: »Der Tod des Nächsten, des geliebtesten Menschen […] ist im erscheinenden Leben der tiefste Schnitt« (Jaspers, 1948, S. 484). Einer der berühmten Gedanken Martin Bubers (2002) lautet: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« Das heißt, wir Menschen sind in unserem Werdeprozess auf das Du angewiesen. Wir leben mit diesem Menschen in einer Resonanzgemeinschaft, in Beziehung und im Dialog. Die Resonanz, die wir im Mitschwingen des geliebten Menschen erfahren, lässt uns wachsen und reifen, stabilisiert uns, gibt Halt und Sicherheit. Dieser Mensch ist uns sozusagen ein »Resonanzhafen« (Rosa, 2016). Mit dem Eintritt des Todes wird all dies genommen. Der Tod lässt die Zurückbleibende mit leeren Händen zurück, schickt sie ohne ihr Zutun, ohne ihre Einwilligung in eine Terra incognita, in ein Fremdland, das häufig als kalt und antwortlos beschrieben wird, in dem sie sich nicht auskennt, das sie ängstigt und ver-

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unsichert. Der Theologe Fridolin Stier schreibt angesichts des erfahrenen Todes seiner Tochter: »Aber dann kommt der Tod und reißt mir […] die Geliebte aus dem Arm. Mein Denkwissen platzt zur Wirklichkeit auf. Aus der Wahrheit, die ich eingeübt und mir vertraut gemacht habe, fährt es plötzlich heraus, wie ein Blitz in die Krone durch den Stamm bis in die Wurzeln des Baums schlägt […]. Dann schmecke ich ihn [den Tod, S. B.]. Die Wahrheit wissen ist das eine, sie zu schmecken bekommen, das andere« (Stier, 1981, S. 112). Wenn wir einen trauernden Menschen begleiten, dann wissen wir, dass jemand, der diesem Menschen wichtig war, jemand, den er geliebt hat, gestorben ist. Das ist die Wahrheit. Diese Wahrheit kennen wir. Sie wurde uns berichtet: Ein Mensch ist tot. Wie diese Wahrheit jedoch für den Trauernden, der diese Wahrheit schmeckt, ist, wie sie sich für ihn anfühlt, was sie bei ihm auslöst und welche Fragen sie aufwirft, das wissen Begleitende nicht. Dem müssen sie sich auf sensible, einfühlsame, ja behutsame Weise nähern. »Gerade am Anfang erfuhr ich viel Anteilnahme. Jeder schien mich zu verstehen. ›Ja, ja, weine ruhig. Das ist okay.‹ Ich habe dies mehr als einmal gehört. Und doch. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass meine Mitmenschen die Tragweite des Geschehens nicht begriffen, dass sie mich nicht wirklich verstanden. Wie sollten sie auch? Meine Schwägerin beispielsweise erzählte mir immer, wie schwer es doch für Hans – ihren Bruder, meinen Mann – war, in der Erkrankung seine Unabhängigkeit immer mehr aufgeben zu müssen und nicht mehr selbstbestimmt leben zu können. Das habe er nie gewollt, betonte sie immer wieder. Es war mir, als verstehe sie gar nicht, dass es nicht nur um Hans, und was er wollte, ging und geht, sondern auch um mich. Ich bin es doch, die jetzt allein und hälftig zurückbleibt. Ja, Hans war krank. Und ja, er war ein selbstbestimmter Mensch. Und ja, er hasste es, abhängig zu sein. Und ja, ich wusste irgendwie, dass

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er sterben wird. Aber diesen Gedanken zuzulassen, ging über meine Kraft. Er war doch für mich dieser Einzige. Als es geschah, war es so unvorstellbar, dass ich bis heute glaube, es sei nur ein böser Traum und er kommt wieder zurück zu mir … obwohl ich im Grunde weiß, dass dies nicht geschehen wird. Mein Leben fühlt sich falsch an. Ich funktioniere. Stehe morgens auf. Gehe abends ins Bett. Die Zukunft ängstigt mich, und im Grunde weiß ich gar nicht, ob ich sie will. Da sind so viele Fragen. So viel, was mir fremd und unvertraut ist, sogar ich selbst, meine Reaktionen erschrecken mich manchmal richtiggehend, und oft weiß ich eigentlich gar nicht mehr, wer ich bin. Das um mich herum ist wie eine Bannmeile. Ich bin einsam.« (Marla Meesters)

I.5 Leben in einer Fragewelt

In den Worten der trauernden Marla Meesters zeigt sich die quälende Kraft der Fragen. Sie kann ihnen nicht ausweichen. In jedem Moment des Tages sind sie gegenwärtig und berühren das Thema »Einsamkeit« auf besondere Weise. Schauen wir noch einmal auf den Menschen als Werde-Sein, dann wird deutlich, dass der Mensch auf seiner Lebenswanderschaft immer auch mit existenziellen Fragen konfrontiert wird. Der Mensch kommt aus einem unvordenklichen Anfang, und er geht in ein ihm unbekanntes Ende. Auf dieser Wanderschaft versucht er immer wieder, die Welt und sich selbst zu erkennen, zu verstehen, ohne in diesem »unendlichen Daseinsdunkel« (Landsberg, 1934, S. 112) jemals eine befriedigende bzw. für immer gültige Antwort zu bekommen. Dies bedeutet, dass der Lebenswanderschaft selbst wesentliche Fragen inhärent sind. »Wo komme ich her?« Aus einer mir unbekannten Vorwelt – erstes Fragezeichen! »Wo gehe ich hin?« In eine mir unbekannte Nachwelt – zweites Fragezeichen! »Wer bin ich?« Eine »magna quaestio« – drittes

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Fragezeichen! »Und was trägt mich in dieser unbeantwortbaren Fragewelt?« – viertes Fragezeichen! Die hier aufgespannten Fragen lassen sich aus einem mittelalterlichen Spruch, der ­Notker von St. Gallen (auch Notker, der Stammler genannt) zugeschrieben wird, ableiten: »Ich komm, ich weiß nicht, woher. Ich bin, ich weiß nicht, wer. Ich geh, ich weiß nicht, wohin. Mich wundert, dass ich fröhlich bin.«

Diesem Sinnspruch wohnen Fragen inne: Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Was lässt mich – trotz der letztgültigen Unbeantwortbarkeit dieser Fragen  – nicht verzweifeln? Schauen wir uns den Menschen in seinem Alltagsleben an, so wohnen diese Fragen jedem Menschsein zu jedem Lebenszeitpunkt inne. In der alltäglichen Routine mit ihrer begleitenden und manchmal ohrenbetäubenden Geräuschkulisse und einer – mehr oder weniger – verstehbar und handhabbar gemachten Normalität sind diese Fragen jedoch oft leise und nicht oder kaum hörbar. Der Mensch lebt in seiner Alltagswelt, als wären diese Fragen zufriedenstellend beantwortet. Der oder die geschätzte Lesende möge sich doch nur mal diese Fragen leise stellen: »Wer bin ich?« Wahrscheinlich kommen sehr schnell ein paar zuschreibende und die eigene Identität sichernde Antworten. Und doch werden Sie an einen Punkt kommen, an dem Sie deutlich spüren: »Ich weiß es eigentlich nicht.« Auch Marla ­Meesters hatte vor dem Tod ihres Mannes sehr schnell Antworten auf diese Fragen, die folgendermaßen gelautet haben könnten: »Ich bin Marla Meesters. Ich bin Lehrerin. Ich bin katholisch. Ich bin Chorleiterin. Ich bin verheiratet mit Hans. Ich bin Christin. Ich bin Ehefrau, Schwester, Nichte, Tante, Freundin, ich bin …«

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Ebenso wahrscheinlich hat sie die Frage »Woher komme ich?« rasch beantworten können, indem sie geografische Angaben machte, den Stammbaum zurate zog und familiäres Hintergrundwissen preisgab. »Ich komme aus einer einfachen Familie im Sauerland. Bin das dritte Kind von fünf Geschwistern. Als Kind lebte ich mit meiner Familie in einem kleinen Haus am Stadtrand. Schon als Kind habe ich gelernt, wie wichtig Regeln und Bescheidenheit sind. Wir – also mein Mann und ich – wohnen jetzt etwas außerhalb von Köln in einer Doppelhaushälfte.«

Die Frage »Wohin gehe ich?« ist oftmals schwerer zu beantworten, da das Leben in seiner Schnelllebigkeit die eigenen Pläne oft überholt und wegen der hohen Komplexität des Alltags häufig wenig Zeit zur Verfügung steht, darüber nachzusinnen. Dennoch konnte Marla Meesters hierauf antworten. »Ich habe noch vier Jahre zu arbeiten, dann gehe ich in Rente. Wir wollen uns ein Wohnmobil kaufen und herumreisen. Wenn mein Mann in zwei Jahren siebzig wird, wollen wir mit der ganzen Familie eine Kreuzfahrt machen.«

Die vierte Frage beschäftigt sich damit, herauszufinden: Was sind meine mich tragenden Kräfte, was sind meine Ressourcen, was macht mich glücklich, was lässt mich in einer Welt voller Fragen nicht verzweifeln? »Ich singe gerne, und ich liebe es, mit meinem Mann Kurzreisen zu unternehmen. Er ist ein wunderbarer Reiseführer, dem ich mich gerne anvertraue. Ohne ihn würde ich mich in einer fremden Stadt gar nicht zurechtfinden. Er ist eine große Kraftquelle für mich.«

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Gerade auf diese letzte Frage antworten Menschen meist bis fast immer: »Meine Familie!« (mein Mann, meine Frau, meine Kinder, meine Eltern …). Dieser Aspekt ist sehr bedeutsam, deutet er doch schon an, dass mit dem Tod eines geliebten Menschen nicht nur eine Leerstelle entsteht, sondern mit dem Einbruch des Todes tatsächlich auch eine tragende Ressource verloren geht, die das Leben vor dem Tod in all seinen Facetten erleichtert und bereichert hat. Die Fragen aus dem Vierzeiler waren in einer Begleitstunde Thema. Schnell wurde deutlich, dass diese Fragen bei Marla Meesters nach dem Tod ihres Mannes wiederum weitere Fragen nach sich gezogen haben. Ihre Identität, ihr Selbstverständnis, das sich auch aus dem Wir speiste, ist der trauernden Witwe abhandengekommen. Dies ist ein wichtiger Aspekt in der Begleitung trauernder Menschen. Das Ich ist mit dem Zerriss des Wir entzweigerissen, hat sich verflüchtigt, liegt in Trümmern, wie es Marla Meesters ausdrückt: »Wer bin ich? Keine Ahnung. Ich-Sagen ist fast unmöglich geworden. Immer wieder erwische ich mich dabei, dass ich in der WirForm sprechen möchte, und dann durchfährt es mich wie eine Höllenglut. Es gibt kein Wir mehr. Das Wir ist tot. Hans ist tot. Auch ich bin tot und doch verdammt zu leben. Warum? Das hat doch alles keinen Sinn mehr. Letzte Woche musste ich für eine Versicherung meinen Familienstand angeben. Anzukreuzen waren vier Begriffe: Ledig. Verheiratet. Geschieden. Verwitwet. Das war schmerzhaft und konfrontierte mich mit einer bisher nicht gekannten Fragewelt. Irgendwie bin ich wieder alleine. Also ledig! Verheiratet bin ich doch immer noch, ich trage ja auch noch unseren Ring! Geschieden bin ich ja auch irgendwie – ›Bis der Tod euch scheidet!‹, hat es geheißen, und er hat uns geschieden. Ja, und verwitwet bin ich auch. Am liebsten hätte ich alle vier Kästchen durchgekreuzt und das ganze Papier zerknüllt, zertram-

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pelt, weggeworfen. Ich bin wütend. Ich weiß, das ist nicht erwachsen. Und Erwachsensein wird von mir erwartet. ›Sei erwachsen und trage dein Schicksal mit Fassung.‹ Ich kreuzte ›verwitwet‹ an und brauchte alle Kraft, nicht zusammenzubrechen. Da stand es jetzt schwarz auf weiß. Wer bin ich? Eine Witwe! Ich könnte schreien.«

Die Frage »Woher komme ich?« hat sie unter dem Eindruck des Geschehenen folgendermaßen beantwortet: »Woher ich komme? Jedenfalls aus einer anderen Welt. In dieser Welt lebte ich mit meinem Mann. Wir waren glücklich und rechneten nicht damit, dass unser Zusammensein so abrupt vorbei sein könnte. Von dieser Welt bin ich nun für immer abgeschnitten. Mein Herkunftsland ist auf ewig verschwunden. Es ist untergegangen, besteht nur noch in meiner Erinnerung. Ich habe furchtbare Angst, dass diese verblasst, sich auflöst und ich dann nicht mal mehr die erinnerte Heimat habe. Für immer heimatlos. Ich erfahre das Gefühl der Heimatlosigkeit auf grausame Weise. Ich ahne nun, wie es Menschen geht, die ihre Heimat verlassen müssen. Auch sie werden gezwungen, in einem anderen Land zu leben, auch sie sollen sich anpassen und ihr Leben nach den Regeln der Gesellschaft gestalten. Regeln, die sie nicht kennen. Auch sie sind so oft nicht erwünscht. Heimatlosigkeit ist das Wort, das mich seit dem Tod von Hans begleitet.«

Auf die Frage »Wohin gehe ich?« antwortete Marla Meesters mit folgenden Worten: »Wohin ich gehe? Schon die Frage ist absurd. Gehen impliziert eine Vorwärtsbewegung, erfordert, nach vorne zu schauen. Ich kann jedoch nicht nach vorne schauen, denn da sehe ich nichts. Nur Leere, Schatten und Dunkelheit. Das verunsichert und ängs-

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tigt mich. Zukunft ist auf einmal ein abstraktes Wort. Früher, als Hans noch lebte, da hatten wir Pläne, konnten es kaum erwarten, sie zu verwirklichen. Doch jetzt? Zukunft ist für mich nicht denkbar. Gestern Abend im Bett fiel mir das Lied ein: ›Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt …‹ In mir war der leise Gedanke, wie schön es wäre, morgen früh nicht mehr geweckt zu werden. Einfach zu ruhen und bei Hans zu sein. Zukunft ist bei mir im Moment sehr mit der Frage nach dem Danach verbunden. Wo ist Hans jetzt? Wo ist er hingegangen? Wird es eine Wiedervereinigung geben? Immer wieder höre ich von Menschen den Satz: ›Du musst nach vorne schauen.‹ Oder: ›Nimm dir doch mal was vor.‹ Ein Freund sagte neulich: ›Du kannst nicht nur in der Vergangenheit leben‹, und ich frage mich: Warum nicht? In der Vergangenheit kenne ich mich aus. Da bin ich nicht alleine. Da ist Hans. Da ist unsere Liebe. Da sind wir. Ich traue mich jedoch nicht, das zu sagen. Verständnis erhalte ich dafür wenig bis gar nicht.«

Und als Letztes habe ich Marla Meesters die Frage gestellt: »Was sind Ihre Kraftquellen? Was hilft Ihnen, dies alles zu überleben? Und ihre Antwort lautete: »Wissen Sie, ich habe immer ganz viel Kraft aus der Spontanität und Lebendigkeit meines Mannes gezogen. Er war derjenige, der immer optimistisch war. Er war derjenige, der die Ärmel hochkrempelte, wenn es schwierig wurde, und er war derjenige, der mich auch immer mitgerissen hat. Jetzt ist er weg. Und mit ihm ist mein Motor, meine Kraft, meine Energie verschwunden. Es ist, als würde ich in einer Wüste ausgesetzt sein, erschöpft, ohne Kraft mich den Widrigkeiten des Lebens zu stellen. Meine Freundin sagt immer wieder: ›Da ist doch noch so viel, was du hast!‹ Dann zählt sie auf, was das ihrer Meinung nach alles ist. Und ja, sie hat recht. Es ist viel. Quantitativ. Doch nicht qualitativ. Friedrich Nietzsche hat mal gesagt: ›Die Kraft steckt in der Qualität‹,

Leben in einer Fragewelt   39

und genau die ist mir verloren gegangen. Ich bin müde. Ich bin erschöpft. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich habe unser Leben und damit auch mein Leben verloren. Es existiert einfach nicht mehr. Was soll ich bloß mit dem Rest dieses Lebens anfangen? Woher soll ich die Kraft nehmen, das alles zu überleben, und will ich das überhaupt? Meine Schwägerin? Meine Neffen und Nichte? Klar, sie trauern auch, doch letztlich erwarten sie von mir, dass ich mein Leben wieder in die Hand nehme, damit auch sie sich wieder beruhigt ihrem zuwenden können.«

Aus jedem Wort von Marla Meesters lernen wir die zermürbende Macht und die Unberechenbarkeit der Trauer näher kennen. Trauer ist da, wo Sinnhaftes, Sinnstiftendes, Wertvolles und Wesentliches verloren gegangen ist. Die plötzlich entstandene Leere bedroht und stellt ihr bisheriges sowie auch ihr zukünftiges Dasein infrage. Angesichts dieser Leere hat sie nicht nur Fragen, stellt nicht nur Fragen, sondern wird sich in dieser krisenhaften Situation selbst zur großen Frage. Insofern können wir sagen: Der Mensch ist eine Frage, eine »magna quaestio«, ein fragendes Lebewesen, ein »animal quaerens« (Zwierlein, 2013, S. 18 f.). Die Trauer besetzt als unangekündigter Gast das Lebenshaus der Zurückbleibenden. Sie nistet sich ein, belagert es, krallt sich fest und lässt sich nicht einfach vertreiben oder hinauskomplementieren. Quälende Fragen konfrontieren die Überlebende in allen Räumen. »Jedes Fragen ist ein Suchen«, formuliert Heidegger (2001, § 2, S. 5). Es ist wichtig, schon hier zu verstehen, dass es nicht darum geht, dass wir, die Begleitenden der Trauernden, Antworten geben. Natürlich muss hier unterschieden werden zwischen faktischen und existenziellen Fragen. Erstere können durchaus orientierend sein, doch hinsichtlich der existenziellen Fragen müssen wir verstehen, dass sie Ausdruck eines Suchprozesses sind, der wieder – ohne dies bewusst als Ziel zu formulieren – Heimat finden möchte:

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»Sein Tod hat mein Leben mit Fragen tapeziert, und mögliche Antworten sind hinter dieser Tapete verborgen. Ich kann sie vielleicht beantworten, wenn ich die Kraft aufbringe, hinter die Tapeten zu schauen. Dazu muss ich jedoch aktiv werden, sie abkratzen, doch das gelingt mir momentan nicht. Es ist so ein Schmerz in mir. In jeder Pore spüre ich den Verlust. Manchmal wünschte ich mir eine Trauerpause oder einen Kurzurlaub von diesem Schmerz, doch dann bekomme ich Angst. Was wird sein, wenn der Schmerz weg ist? Ist Hans dann auch weg?« (Marla Meesters)

Diese Worte von Marla Meesters zeigen auf eindrucksvolle Weise, dass trauernde Menschen von Fragen umgeben, ja durchdrungen sind und dass die für ein Weiterleben notwendigen tragenden Antworten sich oft in weite Ferne zurückgezogen haben. Der Philosoph Lorenz Marti sagte in einem Interview bei SFR-Kultur: »Es gibt viele Antworten, doch die meisten werden früher oder später alt und verstaubt, verlieren an Aussagekraft und Lebendigkeit. Die wirklich wichtigen und wesentlichen Fragen, die bleiben jung und frisch. […] Es ist nicht immer wichtig, eine Antwort zu haben, sondern mit den Fragen zu leben.« Diese Aussage ist mit Blick auf Begleitung wesentlich. Es geht weniger um »perfekte« Antworten als vielleicht um die »richtigen« Fragen.

I.6 Wenn das Wesentliche verloren gegangen ist

Es gibt ein Leben mit dem geliebten Menschen, das vor seinem Tod mit ihm geführt und gestaltet wurde, und dieses Leben machte in der Regel für die Protagonisten Sinn. In diesem »früheren« Leben wussten die Liebenden zwar, dass sie – sowohl selbst als auch ihr nahestehender Mensch – irgendwann sterben würden, sie wussten, dass der Tod jederzeit einbrechen könnte, doch es war nur ein Denkwissen. Immanuel Kant legt

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dies mit eindrucksvoller Kraft in seinem Kondolenzschreiben an die Mutter des Herrn Johann Friedrich von Funk dar: »Der Tod, der dieses Schattenspiel [Leben, S. B.] schließt, zeigt sich nur in dunkeler Ferne und wird durch das Licht, das über die angenehmeren Stellen verbreitet ist, verdunkelt und unkenntlich gemacht« (Kant, 1760/2009, S. 41). Unser Leben in seinem ganzen Ereignis- und Erlebensstrom verhüllt den Tod, lässt ihn, wie Paul Ludwig Landsberg formuliert, »anwesend in Abwesenheit« sein (1934, S. 51). Bei Landsberg finden wir auch den Zusammenklang zwischen Sinnhaftem und Wesentlichem. Für ihn muss das »Sinnhafte zugleich auch das Wesentliche sein« (1934, S. 64). Gehen wir dieser Spur einmal nach. Schauen wir auf das Wort »das Wesentliche«, so stoßen wir auf folgende Wortbedeutungen: den größten Anteil ausmachend, den wirklichen Kern, das Wesen (einer Sache) betreffend. Das gemeinsame Leben, die Wir-Welt, macht einen großen Anteil am eigenen Leben aus. Sie, die Wir-Welt, die wir mit dem geliebten Menschen gebildet haben, ist das, was den wirklichen Kern ausmacht: »Wir klangen zusammen wie zwei Stimmen einer Fuge, und nichts konnte das beeinträchtigen« (Philipe, 1964/2001, S. 46). Und dann. Plötzlich! Der Tod! Er bricht in diese Wir-Welt ein, reißt das, was wesentlich war, hinfort. Das heißt, der Tod nimmt sich nicht nur das, was den größten Anteil des Lebens ausmachte, sondern er vernichtet das, was den wirklichen Kern dieses gemeinsamen Lebens gebildet hat. Das Wir, die Unio, erfährt einen endgültigen Zerriss. Antoine de Saint-Exupéry lässt den kleinen Prinzen sprechen: »Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar« (1984, S. 52). Hier erklärt sich mit großer Kraft, warum trauernde Menschen gerade zu Beginn ihres Trauerweges solch große Leere verspüren. Sie haben das Wesentliche verloren, und der Schmerz verblindet die »Seh­ fähigkeit ihres Herzens«. Bei Blaise Pascal lesen wir: »Mit den ›Augen der Liebe‹ liebt man selbst die geringsten Dinge, wozu

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die anderen [die Nicht-Liebenden, S. B.] unfähig sind« (zit. nach Zwierlein, 1997, S. 311). Mit den Augen der Liebe erkennt der Mensch das für ihn Wichtige und Wesentliche. Insofern ist Liebe auch ein Erkenntnisorgan. Modern gesprochen könnten wir sagen, dass unser Erkenntnisorgan »Liebe« durch den erlittenen Verlust und der daraus resultierenden mehrdimensionalen Anspannung nicht mehr funktionsfähig ist. Die Augen der Liebe sind im Schmerz blind geworden. Da ist für einen Moment – wie lange auch immer dieser dauern mag – nichts Sehens-Würdiges mehr. Die Leere legt sich über alles, was noch verblieben ist, und macht dies sozusagen unsichtbar, es ist gewissermaßen nicht existent. Trauernde Menschen sprechen nicht selten davon, dass das, was bleibt, seinen Sinn und seinen Wert verloren hat. Es ist in ihrem Empfinden nicht mehr wesentlich, sondern wird oftmals nur noch als Banalität empfunden. Mit dem Verlust des geliebten Menschen ist das Sinnerleben abhandengekommen. Der Tod lässt das Verbleibende oftmals als unwichtig, als überflüssig, als nicht mehr wertvoll bis hin zu sinnlos erscheinen und löst so ein hohes Maß an Desorientierung aus. Desorientierung, so Plessner, ist die natürliche Folge auf Situationen, »denen gegenüber keine, wie immer geartete sinnvolle Antwort durch Gebärde, Geste, Sprache und Handlung noch möglich ist« (Plessner, 1982, S. 275). Blaise Pascal schreibt in seinem Essay »Über die Leidenschaften der Liebe«: »Wenn man heftig liebt, so ist es immer etwas Neues, das geliebte Wesen zu sehen. Sobald es einen Augenblick abwesend ist, entdeckt man, dass es dem Herzen fehlt. Welch Freude, es wiederzufinden! Unverzüglich fühlt man, dass die Sorgen verschwinden« (zit. nach Zwierlein, 1997, S. 311). Für Menschen, deren »geliebtes Wesen« durch den Tod für immer abwesend sein wird, ist dies eine kaum zu realisierende und noch weniger eine aushaltbare Situation. Hier liegt vielleicht auch einer der Gründe, warum trauernde Menschen gerade am

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Anfang so sehr der Vergangenheit verhaftet sind, immer wieder zurückblicken und das Verlorene wiederhaben wollen. Die gemeinsame Vergangenheit bedeutet rückblickend Fülle, aus der sie schöpfen konnten; da fehlte nichts, da gab es diese quälende Leerstelle nicht. Nicht immer wurde die Fülle bemerkt, nicht immer wurde sie wertgeschätzt und als Geschenk wahrgenommen. Und auch das macht trauernden Menschen zusätzlich zu schaffen und ruft heftige Schuldgefühle hervor. Marla Meesters sagte in einer Begleitstunde: »Immer, wenn ich meine Augen schließe und mich den Situationen hingebe, in denen Hans noch lebte und wir beisammen waren, ist es, als wäre nichts geschehen. Ich versuche, die Augen geschlossen zu halten, um die Realität nicht sehen zu müssen. Wenn ich sie öffne, sehe ich das Nichts. Leere. Ödnis! Schmerz! Wieso habe ich diese Fülle früher nicht öfters gesehen? Vieles war so selbstverständlich. Ich habe Hans oft ausgebremst. Wollte ihn lieber ruhiger und mehr daheim. Das Geschenk seiner (im wahrsten Sinne) ›Lebendigkeit‹ habe ich nicht immer wertgeschätzt. Es war mir ja auch oft zu viel, zu anstrengend, und auch dafür fühle ich mich heute schuldig. Ich habe mich so oft mit Unwichtigem begnügt, Banalitäten für wichtig gehalten und das Wesentliche, das, was wirklich wichtig war, das sah ich viel zu ­selten.«

I.7 Trauerarbeit: Harte innere Anstrengung – Experiment und Wagnis

Deutlich geworden ist, dass der Verlust des geliebten Zugehörigen meistens ungewollt und unvorbereitet ins Leben eines Menschen einbricht: Einen nahestehenden Menschen durch den Tod zu verlieren, bedeutet für die Hinterbliebene mehr als das

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Ertragen von großem Leid und das Hinnehmen eines unabänderlichen Schicksals. Es ist kein rein passives Geschehen, dem sie ausgesetzt ist, sondern der erlittene Verlust, der die Hinterbliebene in eine Landschaft des Nichtwissens und Nichtverstehens gestürzt hat, verlangt ihr nahezu zeitgleich ein hohes Maß an Entscheidungskraft, aktivem Handeln und auch Mut ab, um den schmerzhaften, uneinsehbaren und unberechen­baren Trauer­weg gehen zu können. Für diese durch den Tod initiierte Aufgabe gibt es weder allgemeingültige Wegweiser noch vorgegebene Wegspuren, die sagen, wie »Trauerarbeit« ausgeübt werden soll bzw. auszusehen hat. »Trauerarbeit« ist ein durch Sigmund Freud geprägter Begriff, den er erstmalig in seiner Schrift »Trauer und Melancholie« veröffentlichte. Er stellt hier die Frage: »Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet?« (Freud, 1916–17/1991a, S. 430). Schon in dieser Frage zeigt sich, dass es nicht die Menschen aus dem sozialen Umfeld, die Trauerbegleiterinnen oder andere sind, die Aufgaben an einen trauernden Menschen stellen, sondern der Trauer selbst sind Aufgaben inhärent, denen sich der trauernde Mensch auf seine je eigene Weise stellen muss. Hier zeichnet sich die (bereits auf vorherigen Seiten geschilderte) große Anforderung an die Zurückbleibende ab. Einerseits ist sie dem Verlustgeschehen passiv ausgesetzt, sie hat keine Kontrolle darüber, und andererseits ist sie gewissermaßen gezwungen, eine aktive Lebensantwort darauf zu finden. Dies ist gerade zu Beginn kaum vorstellbar. Die fast nicht aushaltbare Leere ruft Gelähmtsein, Starre, Nicht-wahrhaben-Wollen oder Nicht-wahrhaben-Können hervor und löst gleichzeitig Widerstand, Ablehnung und Aufbegehren aus. Nicht selten scheinen alle Reaktionen nahezu gleichzeitig da zu sein, was den trauernden Menschen zusätzlich verunsichert, ängstigt und überfordert. Der Begriff »Trauerarbeit« wird immer wieder hinterfragt. Ist er richtig? Wird dem Menschen da nicht von außen ein weiteres

Trauerarbeit: Harte innere Anstrengung   45

Mühsal aufdiktiert? Eigentlich sind doch dem Begriff »Arbeit« ganz andere Charakteristika zuzuschreiben, hören wir immer wieder. Setzen wir den Begriff »Arbeit« im Kontext von Erwerbsarbeit ein, dann sind natürlich andere Qualitäten vorhanden. Die Erwerbsarbeit wird monetär und im Ansehen honoriert. Wir qualifizieren uns für das, was wir tun, bzw. sind dafür qualifiziert. Wir verbuchen Erfolgserlebnisse, erleben uns als selbstwirksam, und in den meisten Fällen wird die Arbeit als sinnvoll erlebt. Wir bewerben uns auf freie Stellen, um dort arbeiten zu dürfen. Die Arbeitszeiten, Pausen und Urlaubszeiten sind geregelt. Arbeit gibt uns Struktur und ermöglicht Kontakte. Für einen Todesfall in der Familie (ersten Grades) bekommen wir einen Tag frei. Unsere Identität speist sich unter anderem aus Arbeit und Leistung (Petzold, 2012), und nicht zuletzt, wenn uns die Arbeit unglücklich macht, kündigen wir und suchen etwas Neues, und am Ende unseres Arbeitslebens gehen wir in Rente und erhalten eine Rente oder Pension. Bei der Trauerarbeit sieht dies ganz anders aus. Sie ist ohne feste Zeiten, es gibt keine Pausen und auch keinen Urlaub. Trauerarbeit wird nicht honoriert und genießt auch kein Ansehen in der Gesellschaft oder am Arbeitsplatz. Sie ist kräfteraubend. Kaum ist ein kleiner Erfolg zu verbuchen, verschwindet dieser schon wieder hinter der nächsten »misslungenen Prüfung«. Das Selbstwirksamkeitsempfinden ist dem Gefühl gewichen, ausgeliefert und ohnmächtig zu sein. Den Vorwärtsschritten folgen Rückschritte, Abstürze, Stagnation oder mühsames Weitergehen. Trauerarbeit ist keine lineare Bemühung, die auf ein klar definiertes Ziel hinarbeitet. Das Ziel der Trauerarbeit ist zunächst nur das »Überleben«. Der Prozess ist eher spiralförmig, zirkulär, hin und her, vor und zurück, unübersichtlich, chaotisch und verwickelt. Der Kanadier Tom Attig (2007) kommt zu der Schlussfolgerung: »Trauer ist nahezu immer kompliziert.« Dabei leitet er den Terminus »kompliziert« vom lateinischen »complicatio«

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her, was in etwa »verwickelt, umhüllend, komplex« bedeutet. Der Prozess der Trauerarbeit, die Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer, der veränderten Welt und dem fremden Ich, ist anstrengend, kräftezehrend und mühevoll. Trauer ist »wirkliche innere Arbeit« (Illhardt, 1982, S. 319), und »inneres Werk heißt immer auch Anstrengung« (Zwierlein, 1989, S. 59). Trauerarbeit ist dem Prozess der Trauer inhärent. So heißt es bei Freud: »Es ist auch sehr bemerkenswert, daß es uns niemals einfällt, die Trauer als einen krankhaften Zustand zu betrachten und dem Arzt zur Behandlung zu übergeben, obwohl sie schwere Abweichungen vom normalen Lebensverhalten mit sich bringt. Wir vertrauen darauf, dass sie nach einem gewissen Zeitraum überwunden sein wird, und halten eine Störung derselben für unzweckmäßig, selbst für schädlich« (1917–17/1991, S. 429). Freud macht deutlich, dass Trauer »kein Abweichen von Gesundheit ist«, sondern »Bestandteil und Aufgabe des Lebens. Sie ist Leiden im Gesunden« (Müller, Brathuhn u. Schnegg, 2021, S. 21). Den Trauerprozess beeinflussen, beschleunigen oder gar verhindern zu wollen, würde bedeuten, dem Selbstheilungs­prozess Einhalt zu gebieten. Kritisch anzumerken ist, dass Freud noch von einem »Überwinden« der Trauer spricht. Hier ist sicher Vorsicht geboten, denn was wir erleben, ist, dass zwar die akute Trauer nach einer individuellen Zeitspanne vorüber ist, doch die stille Trauer bleibt: »als leise Wehmut oder tief empfundene Dankbarkeit, [sie ist dann, S. B.] keine Arbeit mehr, sondern ›nur‹ noch einer von vielen Teilen des eigenen Lebens« (Paul, 2012, S. 6). Jedem Schritt, der in der Trauer gegangen wird, wohnt Angst bei, macht sich der Mensch doch im Sichöffnen abermals verwundbar und verletzbar. Um mit dieser Angst umgehen zu können, sich nicht von ihr beherrschen zu lassen, bedarf es einer veränderten Haltung, die getragen wird von der »Treue« und von Vertrauen in sich selbst, in den anderen und in die Welt. Bei Jaspers heißt es: »Wer nicht wirklich eintritt in das Grauen

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und die Probe besteht, kennt nicht Vertrauen. Es ist niemandem aufzudrängen. Es geht mit dem Bewusstsein einher, kein Verdienst an sich zu haben« (1948, S. 745). Es ist das Vertrauen, das Halt schafft und dem trauernden Menschen die Chance des »Sich-entfalten-Könnens« ermöglicht. Hier geht es sowohl um das Vertrauen in sich selbst als auch um das Vertrauen in andere und in das Leben an sich. Vertrauen ist hierbei keine durchgängige Konstante. Vertrauen wächst und Vertrauen verkümmert. Vertrauen prescht vor und Vertrauen zieht sich zurück. Vertrauen ist groß und Vertrauen ist nur eine Spur. Vertrauen reduziert Komplexität und schafft Orientierung. Vertrauen ermöglicht eine willentlich engagierte Haltung, die es dem Menschen erlaubt, sich dem – seinem – Leben zuzuwenden, sich in freiem Entschluss auf seine Zukunft hin zu entwerfen: bewusst, reflexiv und dialogorientiert. Im Rückblick erscheint der Prozess der Trauer vielfach als ein kreativer Umwandlungsprozess, in dessen Verlauf die Trauernde nicht nur die Möglichkeit hatte, sich ihre neue Welt zu gestalten, sondern auch sich selbst sowie ungewohnte Facetten in der Eigenidentität neu zu entdecken und sich in diese Neuwelt hinein zu gestalten. Die Beobachtung, dass die Hinterbliebene sich einen festen Stand, ihre »Eigen-Ständigkeit«, zurückerobert hat, impliziert jedoch keinesfalls, dass der Verlust abschließend »ver-arbeitet« wurde und die »Trauerarbeit« ab einem bestimmten Zeit-Punkt beendet ist. Objektiv betrachtet lässt sich zwar festhalten, dass so ein Mensch gefestigt und seiner Zukunft wieder mit einer gewissen Zuversichtlichkeit entgegengeht, dass wieder auf Bindungen der Liebe vertraut und ein bewusstes Ja zum neuen Leben gesprochen wird. Der direkte, der akute Schmerz ist nicht länger (be-)drängend und vorherrschend, er kann jedoch zu jeder Zeit wieder lebendig werden, aufschmerzen und für einen kürzeren oder längeren Moment erneut die Vorherrschaft gewinnen. Es kommt nicht selten vor, dass trauernde Menschen in einem jetzt

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stattfindenden Trauerprozess den Schmerz über einen vor Jahrzehnten erlebten Verlust spüren und zutiefst darunter leiden. Magnus Werner, ein 67-jähriger Mann, war in der Trauerbegleitung, weil seine Ehefrau nach einem langen Krebsleiden verstorben war. In der Trauer um seine Frau verspürte er – wenn auch verzögert – einen starken Schmerz über den Verlust seiner vor 53 Jahren verstorbenen Mutter. In der Vergangenheit die Mutter und im Jetzt die Ehefrau. Zwei wichtige Frauen in seinem Leben. Als die Mutter starb, war er 14 Jahre alt, mitten in der Pubertät. Alle Aufmerksamkeit ging zu seinen Zwillingsgeschwistern, die damals erst sieben Jahre alt waren. Über fünfzig Jahre später also schmerzte ihn dieser Verlust, als wäre er gerade geschehen.

Hier zeigt sich eindrücklich, dass es kein Trauerende gibt, sondern dass die Trauer ihre Gestalt, ihr Gesicht, ihre Dynamik verändert, sich jedoch völlig unvermittelt wieder ins Leben hineindrängen kann. Dann wird wieder Trauerarbeit geleistet, werden wieder Trauerschritte gegangen. Immer wieder aufs Neue wird der Trauernden ein Ja zu dem fremden Jetzt, zu dem unbekannten Ich abverlangt, um den eigenen veränderten, teils steinigen Weg konstruktiv, wachsend und werdend weiterzugehen. Manch Trauernde hat jedoch weder den Mut noch die innere Kraft, das Veränderte anzunehmen, und vielleicht gibt es darüber hinaus Faktoren, die den Trauerprozess zusätzlich erschweren und einen gesunden Selbstheilungsprozess blockieren oder behindern. Eine erschwerte Trauer liegt immer dann vor, wenn Risikofaktoren mit Blick auf die Todesursache, im Umfeld und in der Vorgeschichte des Trauernden sowie sichtbar belastende Symptome den Umfang und den Wert der zur Verfügung stehenden Ressourcen überschreiten. Gleichzeitig muss der Faktor Zeit beachtet werden: Sind nach 14 Monaten noch keine eindeutigen Veränderungen in Rich-

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tung Neugestaltung des veränderten Lebens zu erkennen, kann davon ausgegangen werden, dass das Einbeziehen einer psychotherapeutischen Unterstützung hilfreich und notwendig ist (vgl. Bundesverband Trauerbegleitung, www.bv-trauerbegleitung.de). Als Praxisbeispiel für »erschwerte Trauer« gilt das Trauererleben von Martha Holsten, 72 Jahre, die eine 44-jährige Tochter hatte. Mutter und Tochter waren sehr miteinander verbunden und lebten auch zusammen. Der Ehemann und Vater hatte sich, als die Tochter 17 war, das Leben genommen. Als bei der Tochter Eierstockkrebs diagnostiziert wurde, der schon Metastasen ins Bauchfell gestreut hatte, brach auch für die Mutter eine Welt zusammen. War die Beziehung schon vorher sehr symbiotisch, war sie nun an 24 Stunden während der Siebentagewoche für die Tochter da, pflegte sie aufopferungsvoll und dachte bis zum Todeszeitpunkt, sie könnte noch geheilt werden. Doch die Tochter starb vier Monate nach Diagnosestellung. Für Frau Holsten brach eine Welt zusammen. Drei Jahre nach dem Tod ihrer Tochter kam sie in die Trauerbegleitung: »Meine Ärztin hat gesagt, dass ich zu Ihnen kommen soll. Ich brauche das aber nicht. Mir geht es gut!« Als ich sie fragte, was genau das bedeute, dass es ihr gut gehe, antwortete sie: »Beate ist vielleicht tot, aber sie ist noch da. Überall. Ich frühstücke mit ihr, wir essen gemeinsam zu Mittag und ich erzähle ihr abends von meinem Tag. Dann sage ich ihr ›Gute Nacht‹, gehe ins Bett und hoffe, dass ich am nächsten Morgen nicht mehr aufwache.« Sie berichtete weiterhin, in der Wohnung nichts verändert zu haben, da Beate keine Veränderungen mochte.

Hier muss deutlich unterschieden werden zwischen einer »lebensdienlichen Nichtannahme«, weil die Zeit noch nicht reif ist, und einer »lebenshinderlichen Nichtannahme«, weil keine Bewegung

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in Richtung Zukunft mehr stattfindet und sogar das Thema Suizidalität aufleuchtet. Auch die Annahme der Nichtannahme gehört zum Prozess des Trauerns. Nichtannahme hat ihre je eigenen Nützlichkeiten, immer jedoch ist zu prüfen, ob sie die Trauernde vor der Wucht der Wahrheit (zunächst) schützt oder ob sie verhindert, dass Leben wieder erwachen und wachsen kann. Würde eine Begleiterin nun vermuten, dass es sich um erschwerte Trauer handeln könnte, dann ist es hilfreich, neben der Länge des Trauerprozesses auch die Faktoren zu berücksichtigen, die ein Risiko für den Verlauf des Prozesses darstellen (Tod eines Kindes, symbiotische Beziehung, plötzlicher Unfall- oder Gewalttod, Suizid …), sowie den Symptomen, die sich in der Trauer zeigen, Aufmerksamkeit zu schenken (Schlaflosigkeit, Schmerzen, Antriebslosigkeit, Wutausbrüche, Rastlosigkeit, suizidale Gedanken …). Gleichzeitig ist es wichtig, dass Trauerbegleitende sich ein Bild von der Ressourcenwelt der Trauernden machen (soziale Kontakte, familiäres Netz, Spiritualität, Glaube, Aufgaben, Arbeit …). Natürlich kann Arbeit für den einen Menschen eine Ressource sein und für einen anderen eine Belastung. Dies gilt es behutsam zu erfragen. Bei der oben geschilderten Trauernden waren einige Risikofaktoren gegeben: Tod des erwachsenen Kindes, symbiotische Beziehung zur Tochter, allein lebend, wenig soziale Kontakte und Suizid des Ehemannes. An Symptomen zeigte sie Antriebslosigkeit, Tendenz zur Verwahrlosung, suizidale Gedanken, und sie nahm ihre Herzrhythmustabletten nicht mehr. Als Ressource konnte die Tatsache, dass sie in die Begleitung kam, auch wenn sie »geschickt wurde«, gezählt werden. Das Verhältnis von Risikofaktoren, Symptomen, Ressourcen und Zeitverlauf lässt jedoch darauf schließen, dass bei der trauernden Martha Holsten ein erschwerter Trauerprozess vorlag. Im Verlauf der Begleitung erklärte sich die trauernde Mutter damit einverstanden, zusätzlich psychotherapeutische Begleitung in Anspruch zu nehmen.

II Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge

II.1 Begegnungs- und Beziehungsraum

Wollen wir dem trauernden Menschen wirklich begegnen und einen Beziehungsraum schaffen, so braucht es die Bereitschaft, ihn in seinem Gewordensein und in seinem Verlusterleben kennenzulernen. Denn »wenn wir eines Wegs gehen und einem Menschen begegnen, der uns entgegenkam und auch eines Wegs ging, kennen wir nur unser Stück, nicht das seine, das seine nämlich erleben wir nur in der Begegnung« (Buber, 2002, S. 77). Das heißt, es reicht nicht aus, zu erfahren, was diesem Menschen widerfahren ist, zu wissen, wen er verloren hat, sondern es braucht auch das Wissen darüber, wie sein bisheriger Weg war. Wir Menschen sind soziale Wesen und brauchen besonders in Krisenzeiten die wirkliche Begegnung mit einem anderen. Was können Begleitende dazu beitragen, dass es zur wirklichen Begegnung kommt, zur Begegnung, die es ermöglicht, dass ein Beziehungsraum entsteht, in der sich der trauernde Mensch in seinem Schmerz und seiner Andersheit zeigen darf und kann? Nach dem Tod eines nahestehenden Menschen wird die Trauernde erfahren, dass nicht jedes Aufeinandertreffen Begegnung ist. Trifft der trauernde Mensch beispielsweise auf einen Nachbarn, der möglichst schnell wieder weitergehen möchte und allenfalls noch einen »guten« Ratschlag zur Hand hat, dann wird der Begegnungsdimension von Mensch zu Mensch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Es bleibt dann bei einem bloßen

52    Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge

Aufeinandertreffen von zwei Personen, die aneinander vorbeigehen bzw. wieder auseinanderstreben. Es wird kein gemeinsamer Resonanzraum eröffnet. Ein solches Zusammentreffen wird von trauernden Menschen oft als schale, als leere Begegnung bezeichnet und ist vielfach eine zusätzliche Schmerzquelle. »In der ersten Zeit nach dem Tod von Hans gab es unterschiedliche Begegnungen. So klingelte nach sechs Wochen ein Chormitglied an der Tür und gab mir ein Päckchen. Sie sagte nur: ›Es tut mir so leid‹, versicherte mir, dass sie viel an mich denken würde. Dann verabschiedete sie sich und ging wieder. Irgendwie war es komisch, und ich fühlte mich stehengelassen. Als ich dann trotzdem das Päckchen aufmachte, kamen mir die Tränen: Darin war ein gestricktes rotes Herz, in das mit einem Goldfaden unsere beiden Namen ineinander verschlungen eingearbeitet waren. Auf der beiliegenden Karte stand nur: ›Aus deinem Herzen kann Hans nicht wegsterben.‹ Ich fühlte mich dieser Frau so verbunden, so nah, fühlte mich von ihr gehalten. Und es gab auch andere Begegnungen, die eher schmerzhafter Natur waren. Eine Nachbarin, die sich im Supermarkt an eine andere Kasse stellte. Eine Freundin, die sagte: ›Warte mal ab, nächstes Jahr sieht alles wieder ganz anders aus.‹ Ein Freund von Hans, der sich komplett aus meinem Leben zurückzog, weil seine Frau Besuche bei mir unpassend fand. Ich versuche, mit solchen Reaktionen umzugehen. Doch es ist schwer.« (Marla Meesters)

Wirkliche Begegnung schafft Verbindung, stellt Kontakt her, schafft einen Resonanzraum und ermöglicht Beziehung. Sie ist eine innere Bewegung hin zum trauernden Menschen und setzt eine bestimmte Grundhaltung bei der Begleitenden voraus, die Verstehensversuche zum Ziel hat: Offenheit, Achtsamkeit, Einfühlungsvermögen, Absichtslosigkeit, Bewertungsdemut, Ohnmachtsakzeptanz, Beurteilungszurückhaltung, Gegenwärtigkeit,

Begegnungs- und Beziehungsraum   53

Vertrauen in die eigene Intuition und Geduld. Gelingt es der Begleitenden, diese Haltung zu leben, dann kann Begegnung stattfinden. Es wird sich ein Beziehungsraum eröffnen, in dem der trauernde Mensch sich öffnen und so sein kann, wie es ihm hier und jetzt möglich ist. In diesem Raum ist die Trauerbegleiterin nicht nur mit ihrer Rollenkompetenz und ihrer Wissenskompetenz anwesend, sondern in erster Linie auch mit ihrer Menschkompetenz. Hierdurch wird die Voraussetzung geschaffen, miteinander auf Augenhöhe zu sein. Die Trauernde kann sich angenommen fühlen, kann sich mit ihren Ängsten und Hoffnungen, mit ihren Zweifeln, ihrer Wut und ihren Fragen zeigen. Begegnung ist nicht ein längerer Zeitraum des Miteinanderverweilens, sondern eine (nicht erzwingbare) Voraussetzung von Begleitung. Bei Buber heißt es: »›Begegnung‹ bedeutet nur etwas Aktuales; wer mit einem anderen, dem er begegnet ist, länger zusammen verweilt, der ist ihm eben vor dem begegnet, aber dieser Vorgang ist vergangen. Jetzt begegnet er ihm nicht mehr« (1978, S. 49). Die Begegnung jedoch hat stattgefunden und die Möglichkeit eines Resonanz- und Beziehungsraums eröffnet, der dem trauernden Menschen sowohl Ruhestätte als auch Ort der Hoffnung, Inspiration und Experimentierraum sein kann: ein Ort, an dem er sich in seinem Sosein bestätigt und angenommen fühlt. Begegnung ist kein einmaliges Erfahrnis, dessen Wirkung für immer anhält. Um den Begleit- und Beziehungsraum für die Dauer der Begleitung fruchtbar zu halten, ist es unabdingbar, dass sich die Begleiterin immer wieder aufs Neue innerlich bereitmacht. In der Praxis könnte dies bedeuten, dass die Trauerbegleiterin, bevor sie die Trauernde empfängt, sich für einen kurzen Moment auf die Begegnung vorbereitet. Sie rekapituliert, was sie von dem Menschen weiß, atmet vielleicht tief durch und öffnet sich bewusst für die Trauernde, der sie nun begegnen wird: Sie macht sich symbolisch zur wissenden Nichtwissenden.

54    Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge

Auf diese Weise versetzt sie sich in die Lage, dem trauernden Menschen offen (das heißt ohne Vorurteile, Voreinstellungen, Vorbehalte), achtsam (das heißt gegenwärtig, präsent, konzentriert), absichtslos (das heißt ohne Ansprüche und Vorsätze) und auf gleicher Augenhöhe (das heißt ohne Besserwisserei, nicht allein als Trauerbegleiterin, sondern auch als Mensch) gegenüberzutreten. Gelingt ihr dies, kann bei jedem Treffen ein Beziehungsraum geschaffen werden, der unabhängig vom realen, objektiven Begleitraum besteht. In der Vorbereitung hat sie sich in die Lage versetzt, den inneren Schrei der Trauernden wahrzunehmen, ihren flehentlichen Blick auszuhalten, der sagt: »Schau mich an, wer bin ich denn noch ohne meinen Mann?«, und etwas zu ahnen von der Angst und Unsicherheit, die diesen Menschen durchdringen. In einem solchen Raum entfaltet sich für einen trauernden Menschen die Möglichkeit, der Begleiterin das Spektrum seiner oft auch widersprüchlichen Empfindungen und Emotionen zu zeigen. Die Begleiterin hält dies aus, redet nichts weg und beschönigt nicht. Die Trauernde muss sich nicht »unsichtbar machen« (schämen), sondern darf sich zeigen, muss nicht »nach innen schreien« (hilflose Wut), sondern darf ihrer Wut Ausdruck geben. Bei Buber heißt es: Der »Einflußwille [der Begleiterin, S. B.] bedeutet hier nicht die Bestrebung, den anderen zu ändern, ihm meine eigne ›Richtigkeit‹ einzupfropfen, sondern die, das als richtig, als recht Erkannte, das ja eben darum auch dort, in der Substanz des anderen angelegt sein muss, dort, eben durch meinen Einfluß, in der der Individuation angemessenen Gestalt aufkeimen und wachsen zu lassen« (Buber, 1978, S. 30 f.). Es gibt keine Fachfrau auf dieser Seite und eine Nichtfachfrau auf der anderen Seite. Begegnung ist in ihrer Qualität ein zweckfreies, absichtsloses Zusammensein, das von dem Vertrauen geleitet wird, dass im Gegenüber alles angelegt ist, um zu wachsen. Oft sehen und hören wir nur durch den Filter der Absichten, und

Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz   55

damit verpassen wir den Menschen. Werden die Absichten für einen Moment beiseitegelassen, kann hinter allen Körpergesten, hinter dem traurigen Gesicht, hinter der versagenden Stimme dem Menschen begegnet werden. Der trauernde Mensch, der sich so ganzheitlich wahrgenommen und angesprochen fühlt, wird möglicherweise auf eine andere Art bereit sein, sich in die Begleitung einzubringen, sich selbst wahrzunehmen, zu erkennen, anzunehmen und sich selbst sowie sein neues Leben zu gestalten.

II.2 Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz

Damit die durch den Tod provozierte, erlittene und erlebte Leere wieder mit Leben und Lebendigkeit gefüllt werden kann und Werdeschritte zurück ins Leben führen, bedarf es in der Regel keiner langwierigen, professionellen Therapie, wohl aber gut befähigter und kompetenter Personen. »Trauernde brauchen kompetente Begleitung«, heißt es auf der Website des Bundesverbandes Trauerbegleitung (www.bv-trauerbegleitung.de). Trauernde Menschen professionell oder – im Auftrag einer Institution – ehrenamtlich zu begleiten, setzt mehr als guten Willen und beste Absichten voraus. Begleitende brauchen eine qualitätsgesicherte Fortbildung, wie sie beispielsweise durch erfahrene Trainerinnen des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V. (BVT) angeboten wird. Darüber hinaus brauchen sie fortlaufend Supervision, regelmäßige Weiterbildungen und kollegialen Austausch. In den Qualifizierungsangeboten des BVT (»Große Basisqualifikation zur Trauerbegleitung«) wird umfangreiches Wissen über den Prozess der Trauer vermittelt, gleichzeitig müssen sich die Teilnehmenden bewusst mit ihren eigenen Trauer­erfahrungen auseinandersetzen, ihre eigene Haltung sowie persönliche Einstellungen und eigene Deutungsmuster reflektieren, vertiefen,

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hinterfragen und wenn nötig neu ausrichten. Diese Anforderungen sollen sicherstellen, dass trauernde Menschen aus einer qualitätsgesicherten und kompetenten Haltung heraus begleitet werden. Der Begriff »Kompetenz« entspringt dem lateinischen »competentia« und verweist auf Zuständigkeit, Befugnis, Fähigkeit. Als Kompetenz können demnach die Fertigkeiten und Fähigkeiten bezeichnet werden, über die eine Trauerbegleiterin verfügt, um einerseits den vorhersehbaren und andererseits auch den überraschenden Herausforderungen im Prozess der Begleitung gut vorbereitet begegnen zu können. Kompetent Begleitende sind in der Lage, sowohl erworbenes als auch erfahrenes Wissen und Können so miteinander zu verbinden, dass mit den begleitungsbezogenen Aufgaben selbstständig, eigenverantwortlich und situationsgerecht umgegangen werden kann. Gleichzeitig begleiten sie aus einer hinwendenden, zugewandten Haltung heraus, die sich – ganz im Verständnis von Martin Buber – vom Gegenüber und dem, was ihm widerfahren ist, berühren lässt: »Jeder von uns steckt in einem Panzer, den wir bald vor Gewöhnung nicht mehr spüren. Nur Augenblicke gibt es, die ihn durchdringen und die Seele zur Empfänglichkeit aufrühren« (Buber, 2002, S. 153). Begleitung bedeutet demnach berührbar zu sein, sich nicht vor dem Leid des Gegenübers zu verschließen und sich hinter einem »Panzer« zu verstecken. Im Folgenden werden die Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Begleitende auszeichnen, in drei Grundkompetenzen gefasst: erstens die Rollen- und Positionskompetenz, zweitens die Wissenskompetenz und drittens die Menschkompetenz. Wenn wir davon ausgehen, dass jedem Menschen diese drei Grundkompetenzen innewohnen, dann ist es hilfreich, sich diese einmal gesondert anzuschauen, und zwar sowohl für den Begleitenden als auch für den trauernden Menschen. Selbstverständlich treten diese im Menschen nicht getrennt auf, sondern sind in einer Art Simultanität immer vorhanden, greifen inei-

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nander über, können sich überblenden und ergänzen und sind somit jederzeit verfügbar. II.2.1 Rollen- und Positionskompetenz

»Rollenkompetenz ist die Fähigkeit eines Menschen, in seinem Leben verschiedene Rollen zu verkörpern« (Stangl, 2021). So kann eine 39-Jährige die Rolle der Tochter, der Schwester, der Ehefrau, der Krankenschwester, der Trauerbegleiterin, der Kollegin, der Chorleiterin, der Mutter, der Schwiegertochter, der Nachbarin usw. einnehmen. Sie kennt sich in ihren Rollen aus, ist (vielleicht nach anfänglichen Schwierigkeiten) hineingewachsen, hat für die berufliche Rolle Qualifikationen erworben, kann differenzieren, was wann und wo von ihr erwartet wird. Jede ihrer Rollen zeichnet sich aus durch bestimmte Erwartungen, die an sie gestellt werden, und hat gleichzeitig Einfluss auf ihre Persönlichkeitsbildung wie auch auf ihr Identitätsempfinden. Rollen stehen immer in einem Verantwortungskontext. Beispielsweise ist es in den beruflichen Rollen die funktionale Verantwortung, die es ermöglicht, zu erkennen, auf welche Anforderungen wie reagiert werden soll. Sie ist somit richtungsweisend. In der definierten Rolle der Nachtkrankenschwester bedeutet funktionale Verantwortungsübernahme beispielsweise, auf ein nächtliches Klingeln der Patientinnen zu reagieren. In der definierten Rolle sind sowohl Zuständigkeiten als auch Grenzen beschrieben. So weiß die Nachtschwester, dass – abgesehen von Einzelfallausnahmen – zu nächtlicher Stunde keine Besuchszeiten ausgewiesen sind, keine Mahlzeiten verteilt werden müssen und sie nicht das entnommene Blut selbst zentrifugieren muss. Die funktionale Verantwortung bewahrt sie davor, ihre Zuständigkeiten aus dem Blick und sich in nicht ausgewiesene Erwartungen und Aufgaben zu verlieren. Die existenzielle Verantwortung, die einer jeweiligen Rolle ebenfalls innewohnt, bewegt sich nicht in einer (vor-)gegebe-

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nen Ordnung, ist nicht durch Regeln und Planung gelenkt, sondern vollzieht sich in einem außerordentlichen Raum. Bleiben wir bei der Rolle der Nachtschwester, so kann diese, wenn eine ­Patientin klingelt und von Ängsten geplagt wird, sich nicht darauf berufen, dass dies zum Aufgabenbereich des Seelsorgers oder des Psychoonkologen gehört. Die existenzielle Verantwortung zeigt ihr: »Da ist ein Mensch in Not. Wende dich diesem zu.« Die existenzielle Verantwortung verhindert Gleichschaltung und Vermassung und verleiht dem Einzigartigen und Besonderen seine Berechtigung. So ist es wichtig, schon an dieser Stelle zu verstehen, dass allein der Begriff »die Patientin« eine Eingruppierung in eine Gruppe vornimmt und dadurch bereits einen Identitätsverlust mit sich bringt. Im Folgenden sollen die Rollen- und Positionskompetenz der Trauerbegleiterin und des trauernden Menschen näher betrachtet und die daraus resultierende Asymmetrie deutlich gemacht werden. Rollen- und Positionskompetenz der Trauerbegleiterin

Im professionellen oder ehrenamtlichen Begleitkontext wird eine Begleiterin mit der Aufgabe der Trauerbegleitung beauftragt und bevollmächtigt. Die Position, die sie einnimmt, ist entweder vertraglich mit der beauftragenden Institution geregelt oder selbstverpflichtend gegeben, wenn es ein selbstständiger Kontext ist. Die Aufgabe, die Rolle, die mit dieser Position verbunden ist, ist klar definiert: einen trauernden Menschen für eine festgelegte Zeit, in einem vorher bestimmten Rahmen in seinem Trauerprozess zu begleiten, um ihn dann wieder zu verabschieden. Eine Trauerbegleiterin ist also nicht Freundin, nicht Köchin, nicht Sachbearbeiterin und auch nicht auf Dauer ausgerichtete Lebensberaterin. Natürlich lösen sich die anderen Rollen mit den dazugehörigen Kompetenzfeldern, die eine Begleiterin innehat, im Begleitprozess nicht auf. Jedoch sind sie nicht impulsgebend und handlungsleitend, sondern bleiben während der Begegnung im

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Hintergrund. Sich der eigenen Rolle und Position sowie der damit verbundenen Aufgaben und Grenzen bewusst zu sein und diese immer wieder zu reflektieren, schützt eine Begleitende einerseits davor, sich in anderen Zielsetzungen zu verstricken oder eine Rolle einzunehmen, die der Begleitsituation nicht adäquat ist, und andererseits wird der zu begleitende Mensch vor zusätzlicher Konfusion geschützt: Trauerbegleiter »sind mit ihrer Kompetenz da und begleiten den Menschen, der sich ganz konkret in einer Übergangssituation befindet, auf eine neue Lebensstufe. Sie helfen, das Chaos zum Kosmos zu ordnen« (Hirsch, 2004, S. 167). In einer Supervisionsstunde berichtet eine Trauerbegleiterin, dass eine Trauernde sie eingeladen hatte, mit ihr zusammen in ein Konzert zu gehen. Diese habe das Bedürfnis gehabt, ihr etwas Schönes zu schenken, da sie immer so nett und hilfsbereit sei. Die Begleiterin hatte einerseits ein ungutes Gefühl dabei, wollte jedoch andererseits der Trauernden keine Enttäuschung zufügen und sagte zu. Hier wird schon deutlich, dass die jeweiligen Rollen auf einmal nicht mehr klar waren. Die Trauernde holte die Begleiterin zu Hause ab, sie bewunderten gegenseitig ihr Outfit. Nach dem Konzert gab es noch ein Glas Sekt. Man unterhielt sich über dies und jenes, plötzlich jedoch brach die Trauernde in Tränen aus, weil ihr Mann dies nicht mehr miterleben konnte. Er fehle ihr so sehr. Die Begleiterin erlebte eine Rollenkonfusion, die sie selbst deutlich wahrnahm und in diesem Moment auch nicht auflösen konnte. Die trauernde Witwe befand sich zu diesem Zeitpunkt seit acht Monaten in der Begleitung. Es habe nach diesem Abend noch zwei Begleittreffen gegeben, die von der Begleiterin als »komisch« beschrieben wurden, danach habe sich die Trauernde für zwei Treffen jeweils entschuldigt und beim dritten Mal habe sie sich gar nicht mehr gemeldet. Sie blieb weg. »Sie kam einfach nicht mehr.« Die Trauerbegleiterin blieb mit einem unguten Gefühl zurück.

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Hier kann natürlich nur spekuliert werden, was der Grund bzw. was die Gründe für das Wegbleiben waren. Ein möglicher Grund könnte sein, dass auch die Trauernde sich anschließend nicht mehr wohlfühlte mit der Begleiterin. In ihren Augen hat sie der Trauerbegleiterin vielleicht gezeigt, dass sie »noch immer nicht« in der Lage ist, ein »normales« Leben zu führen. Dies kann durchaus unter das große Thema »Scham« eingeordnet werden. Trauernde Menschen neigen aufgrund ihres Verlustes, der ja eine große Leere in ihrem Leben hinterlässt, fast automatisiert dazu, sich defizitär zu fühlen. Begleitende Gedanken hierzu können sein: »Ich habe es wieder nicht geschafft, einen ›normalen‹ Abend zu verbringen«, »Was soll wohl die Begleiterin jetzt von mir denken?«, »Wieso kann ich nicht einfach mal ›normal‹ sein?«. Alle diese Gedanken fokussieren auf das Defizitäre und sind schambehaftet: »Ich bin anders. Mein Sosein ist nicht erwünscht.« Die in der Folge auf das Ereignis gewählte Strategie der Trauernden ist: »Ich mache mich unsichtbar.« Hier wird deutlich, dass die Rollenkonfusion Folgen hatte. Das Leben der trauernden Witwe ist von einer existenziellen Leerstelle gezeichnet, die immer wieder – oftmals unerwartet – schmerzt. Die Trauerbegleiterin in ihrer einfühlsamen und zugewandten Art kann hier also rasch als Platzhalterin für den erlittenen Verlust angesehen werden, vor allem dann, wenn die Rolle nicht klar gelebt wird. Streng genommen heißt das, dass die Trauerbegleiterin durch das Verlassen ihrer Rolle letztlich Mitproduzentin einer Situation geworden ist, die Scham erzeugen kann. Ein weiterer Grund könnte sein, dass die Trauernde solche Konzertbesuche auch mit ihrem Mann gemacht hat. Die Trauer­ begleiterin, die von der Trauernden eingeladen wurde, diente – sicher unbewusst – als Ersatz für den Verstorbenen bzw. als Platzhalterin für die Leerstelle, die der Verstorbene hinterlassen hat. In dieser gemeinsamen Unternehmung haben sie eine Reinszenierung auf den Weg gebracht, die ihnen wahrscheinlich

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beiden nicht klar war. An einem bestimmten Punkt des Abends wurde der Trauernden klar, dass ihr Mann wirklich nicht mehr da ist, dass da eine andere an seinem Platz steht. Die Erkenntnis, dass die Reinszenierung misslungen war, erschütterte sie und brachte sie ins Weinen. – Rolle und Position müssen eindeutig und transparent geklärt werden, um Rollenkonflikte und damit Ver(w)irrungen zu vermeiden. Einen trauernden Menschen positions- und rollenkompetent zu begleiten, setzt auch voraus, dass die Begleitung an einem Ort außerhalb der privaten Räume sowohl des trauernden Menschen als auch der Begleiterin erfolgt. Eine seltene Ausnahme kann es dann sein, wenn ein trauernder Mensch nicht mehr mobil ist und aus diesen Gründen ein Hausbesuch stattfinden muss. Hier ist es jedoch äußerst ratsam, von vornherein bestimmte Regeln wie Auftragsklärung und feste Anfangs- und Endzeiten zu formulieren sowie diese auch einzuhalten. Zur Rollenkompetenz gehören immer die Berücksichtigung eines angemessenen Settings sowie die Klärung der dazugehörigen Rahmenbedingungen. Die fünfzigjährige Trauerbegleiterin Regina Wall begleitete die 88-jährige Martha Wieland, deren 48-jährige Tochter Theresia an Krebs gestorben war. Die alte Dame war seit vier Jahren Witwe und kurz nach dem Tod ihres Ehemannes zu ihrer Tochter in ein anderes Bundesland gezogen. Frau Wieland war stark gehbehindert, konnte sich nur mit dem Rollstuhl fortbewegen und hatte eine Lungenerkrankung, die sie – aufgrund der damit verbundenen Luftnot – zusätzlich einschränkte. Die Tochter wollte die Mutter nach dem Tod des Vaters in ihrer Nähe haben, damit sie sich um sie kümmern könne. Dies gelang ihr auch gut, bis sie selbst an Krebs erkrankte. Der Krebs breitete sich sehr schnell aus und die Tochter verstarb 14 Monate nach der Diagnosestellung. Die Mutter blieb allein zurück. Die Hausärztin vermittelte

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den Kontakt zur Trauerbegleiterin. Der Erstkontakt fand telefonisch statt. Für das erste Trauerbegleittreffen wurde ein Haus­ besuch terminiert. Als die Trauerbegleiterin die Wohnung betrat, fand sie einen gedeckten Kaffeetisch vor, frisch aufgebrühten Kaffee, und der Lieblingskuchen der Tochter stand auf dem Tisch. Frau Wieland berichtete, dass die Nachbarin ihr geholfen habe, alles schön herzurichten, da sie ja selbst nicht mehr in der Lage sei, und sie freue sich wirklich, endlich mal wieder einen Gast im Haus zu haben. Sie sei sehr einsam. Frau Wall bemühte sich sehr, ein professionelles Setting herzustellen, es gelang ihr jedoch nicht. Frau Wieland begegnete ihr anhaltend in der Rolle der Gastgeberin, die sich freute, endlich jemanden zu haben, der ihre Leere ausfüllte. Hinzu kam, dass Frau Wall nahezu im gleichen Alter wie ihre Tochter war und auch deren Statur hatte. Nach dem ersten Kaffee bat Frau Wieland die Trauerbegleiterin, sie in das Zimmer ihrer Tochter zu schieben. Sie wolle ihr dieses zeigen. Dort angekommen, öffnete sie den Kleiderschrank und bot der Begleiterin an, sich etwas auszusuchen: »Sie haben ja die gleiche Größe wie meine Tochter, und es ist doch zu schade, das wegzuwerfen.« Die Trauerbegleiterin lehnte dieses Angebot freundlich dankend ab. Frau Wieland zeigte sich verletzt und beendete das Treffen mit den Worten, dass sie jetzt müde sei und sich hinlegen müsse.

Auch hier wird deutlich, wie sehr die Unklarheit der Rolle der Trauerbegleiterin zur Konfusion bei der hinterbliebenen Mutter beitrug. Sie konnte die Rolle und damit auch die Aufgabe der Trauerbegleiterin nicht mehr klar erkennen. Zurück blieben Enttäuschung und das Gefühl, von »ihrem Gast« abgelehnt zu werden. Selbstständige Trauerbegleiterinnen haben ihren Begleitraum gelegentlich im eigenen Zuhause. Auch hier ist es von Belang, dass der Raum deutlich für den Zweck der Beglei-

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tung vom Privatleben abgegrenzt ist. Ein Begleitraum ist ein geschützter Raum, der jedoch nicht privat ist. Im heimischen Wohnzimmer zu begleiten birgt voraussehbare Schwierigkeiten. Die Begleiterin würde in ihren übrigen Rollen sichtbar. Vielleicht sind Fotografien aufgestellt, die sie als Mutter oder Ehefrau zeigen. Der Postbote klingelt an der Tür, die Kinder wollen schnell was zeigen, der Hund fordert Aufmerksamkeit und vieles andere mehr. Rollen- und positionskompetent zu begleiten bedeutet, sich der eigenen Rollenanforderungen, der damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten und -grenzen bewusst zu sein, um den trauernden Menschen in einem geschützten Rahmen individuell begleiten zu können. Hierzu gehört auch, dass es zeitlich gesehen einen klaren Anfang und ein klares Ende gibt. Die Rolle der Trauerbegleiterin ist vergleichsweise klar geregelt sowie gesellschaftlich anerkannt (wenn auch nicht unbedingt bekannt). Für die Aufgabe der professionellen oder ehrenamtlichen Trauerbegleitung hat sich ein Mensch eigeninitiativ entschieden und sich im Rahmen von Qualifizierungsmaßnahmen bewusst vorbereitet. In der Regel gibt es ein Zertifikat als Qualifikationsnachweis, und die Erfüllung der Aufgaben wird im Hauptamt monetär und im Ehrenamt mit Anerkennung und wertschätzendem Dank entlohnt. Sobald die Aufgaben erfüllt sind, kann sich die Trauerbegleiterin der Präsenz der Rolle entledigen und bewusst in eine andere Rolle hineinschlüpfen: Feier­abend! Rollen- und Positionskompetenz des trauernden Menschen

Während also sowohl die Rolle als auch die Position der Trauerbegleiterin relativ klar definiert sind, sind Rolle und Position des trauernden Menschen unklar und unübersichtlich. Der Tod eines geliebten Menschen stößt die Zurückbleibende unvorbereitet und ungewollt in ihre Rolle als Trauernde hinein. Ihre

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Position, die nicht klar bestimmt ist, sondern ihren ganzen Lebensraum betrifft, wird ihr durch den Tod gewissermaßen zugewiesen und aufgezwungen. In dieser Rolle kennt sich der betroffene Mensch nicht aus, weder weiß er, was ihn erwartet, noch, was von ihm erwartet wird. Rolle und Position sind durch Nichtwissen und Nichtverstehen sowie durch ein Meer von aufbrechenden Fragen gekennzeichnet. Berücksichtigen wir hierbei die am Anfang dieses Buches gemachten Reflexionen zum Umgang mit der Sterblichkeit, dann wird schnell klar, dass die Rolle des trauernden Menschen auch im näheren und weiteren Beziehungsumfeld für Konfusion und Verunsicherung sorgt. Plötzlich ist der, der mit seinen ihm nahestehenden Menschen in der Gemeinschaft der unbewussten Unsterblichkeitsillusionisten lebte, ein vom Tod Berührter. Er hat die Seiten gewechselt. Ihm haftet der Tod an, und das macht ihn zu einem lebenden Memento mori für andere. Diesem Menschen ist das widerfahren, was jeder Mensch zwar weiß, jedoch nur gedanklich und abstrakt für wahr hält. Der trauernde Mensch führt allen anderen vor Augen, dass es wirklich geschieht: Menschen sterben und kommen nie wieder. Unwiderruflich! »Irgendwie spüre ich deutlich, dass ich nicht mehr dazugehöre. Es ist wie eine Art Ausgestoßensein. Wenn ich eingeladen werde, dann fällt es mir schwer, den Gesprächen zu folgen. Letzte Woche habe ich mich mit ehemaligen Kollegen meines verstorbenen Mannes getroffen. Sie haben ein Fotobuch gestaltet mit Dienstreisen, die sie zusammen mit meinem Mann gemacht haben. Eine reizende Idee. Ich wollte mich zusammenreißen und mich freuen, denn ich spürte, dass dies erwartet wurde. Ich konnte es jedoch nicht. Brach in Tränen aus. Die Stimmung war gedrückt. Ich habe die Kollegen enttäuscht. Ich kenne mich einfach nicht mehr aus. Nicht mit mir und nicht mit anderen.« (Herta Blum, 58 Jahre)

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Alles, was der trauernde Mensch in seiner neuen Rolle tut, tut er unter der Prämisse des Nie-wieder zum ersten Mal. Jeder Schritt ist ein erster, denn er erfolgt ohne den geliebten Menschen. Die Rolle des trauernden Menschen ist nicht durch Automatismen und Regeln gefestigt und somit im erheblichen Maße durch Unsicherheit und Ängste gekennzeichnet. Während etwa berufliche Rollen auf Zeit und nicht auf Unbegrenztheit angelegt sind, ist die Rolle des Trauernden zeitlich völlig offen. Es gibt in dieser Rolle keine bewussten Pausenzeiten, keinen Urlaub, keine Gleitzeit, keine monetäre Entlohnung, kein absehbares Ende. Haben wir vorhin Kompetenz gleichgesetzt mit Eignung, Befugnis und Fähigkeit, so wird deutlich, dass es auf der Seite des trauernden Menschen für diese neue, ihm unbekannte Rolle wenig bis keine Rollen- und Positionskompetenz gibt. Weder hat er sich für die Rolle entschieden, noch hat er sich im Vorfeld dafür qualifiziert. Vielfach herrscht die irrige Meinung, dass das Begleiten eines langen Krankheitsweges und das damit verbundene »Wissen«, dass der geliebte Mensch sterben wird, auf die Rolle als Trauernde vorbereitet. Dem ist nicht so. Ja, es kann – wie es in der Psychologie heißt – eine gewisse »Besorgnisarbeit« vorweggenommen werden: Was will noch gesagt werden? Was wollen wir noch gemeinsam regeln? Wie soll die Bestattung gestaltet werden? Diese »Besorgnisarbeit« kann jedoch niemals in Gänze das vorwegnehmen, was tatsächlich mit dem Eintreten des Todes beginnt, mit dem endgültigen Schlusspunkt, den der Tod setzt und der mit dem einsamen Zurückbleiben einhergeht. Die Aufgaben, die dem zurückbleibenden Menschen ab dem Moment des Todes und auf seinem weiteren Weg durch die Trauer begegnen, erscheinen nicht selten im Gewand der Prüfung, und oft genug scheitert er an ihnen. Nach Karl Jaspers scheitert der Mensch immer in Grenzsituationen. Ja, er kann nicht anders, als in der Grenzsituation zu scheitern. Grenz­ situationen sind durch eine doppelte Struktur gekennzeichnet:

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Unausweichlichkeit (»Ich kann nichts tun!«) und Undurchschaubarkeit (»Warum ist das so?«). Hier wird deutlich, dass zwischen dem Erleben der Grenzsituation und dem Scheitern ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Dies muss der zurückbleibende Mensch als eine Grundgegebenheit seines Menschseins mehr als nur hinnehmen, er muss es bejahen. Die Annahme dieser Gegebenheit bedeutet jedoch nicht, sich einem Fatalismus hinzugeben, der in der Auffassung gründet, dass ein vorherseh­ bares Scheitern ohnehin alles sinnlos werden lässt und deshalb als Aufruf zur Passivität verstanden werden kann: »Was soll das alles noch?« Vielmehr gewinnt in dieser Grundgegebenheit die Frage nach dem »Wie« des Scheiterns Gestalt: »Wie scheitert der Mensch?« Diese Frage zu beantworten, macht es erforderlich, weitere Fragen in den Blick zu nehmen, nämlich: »Welche Stellung bezieht der trauernde Mensch zu dem Geschehenen?«, »Wie geht er damit um?«, »Was ist der Sinn seiner Trauer?«. Während die Rolle der Trauerbegleiterin gesellschaftlich zwar nicht so bekannt ist, ist sie aber anerkannt. Die Rolle des Trauernden ist zwar gesellschaftlich bekannt, jedoch nicht wirklich anerkannt. Der Blick zurück zeigt, dass das Ausdrücken von Trauerempfindungen in den vorhergehenden Jahrhunderten aufgrund allgemein anerkannter Rituale immerhin einen gesellschaftlich gebilligten Platz hatte. Trauer konnte in einem gesellschaftlich regulierten Raum halbwegs gut gelebt werden und wurde so von der Gesellschaft unterstützt und mitgetragen. Zwar erfuhr das Trauerverhalten eine gewisse Verengung, da es gesellschaftlich geregelt und so auch fremdbestimmt wurde, es war jedoch grundsätzlich erlaubt, konnte und durfte öffentlich zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Mischke, 1996, S. 50 f.). Gegenwärtig jedoch befinden wir uns in einer Phase der »Verweigerung und Abschaffung der Trauer« (Ariès, 1980, S. 736). Das Gefühl der Trauer, das sich beim Tod des geliebten Menschen einstellt, wird zwar von der Öffentlichkeit zur Kennt-

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nis genommen und anerkannt, darf jedoch als »ein eher unerwünschtes Phänomen, dem enge örtliche und zeitliche Grenzen gesetzt sind«, nur im mehr oder weniger »unsichtbaren« Privatbereich zum Ausdruck gebracht werden (Fischer, 1988, S. 12). Uta Schlegel-Holzmann formuliert dies folgendermaßen: »Das Tabu Trauer wird nur für den kurzen Moment eines lauten Aufschreis gebrochen. Dann wird kein Aufhebens mehr davon gemacht« (2004, S. 69). Und bei Philippe Ariès heißt es: »Auf das Leichenbegräbnis und die Beisetzung folgt eine Zeit der Trauer. Die Hinterbliebenen können tiefen und anhaltenden Schmerz empfinden, doch nahezu im gesamten Abendland ist es heute zur Regel geworden, dass er nie öffentlich gezeigt werden darf« (1980, S. 740). Die Zunahme der anonymen Bestattungen, die nicht immer persönlich verfassten Todesanzeigen, das Schwinden der Trauer­ kleidung sowie die Bitte, von Beileidsbekundungen am Grab Abstand zu nehmen, um nur einige Aspekte zu nennen, sind eindeutige Anzeichen für eine schleichende und kontinuierliche Ausbürgerung der Trauer und damit auch der Rolle und Position des trauernden Menschen aus dem öffentlichen Leben. »Wer durch sein Tun und Sein [vom Normalen, S. B.] abweicht, muss als Folge erfahren, dass er fremd und unerwünschtes Glied, verlassen und schließlich ausgeschieden wird (Jaspers, 1948, S. 626). An anderer Stelle heißt es bei Jaspers: »Solange ich [die Trauernde, S. B.] die gesellschaftlichen Spielregeln nicht nur in Kauf nehme, sondern selbstverständlich mit dem Anderen auch vor mir bin, werde ich in freundliche Tendenzen aufgenommen […]. Wenn ich aber – […] ungewiss in mir selbst – […] nicht mitmache, die Spielregeln nicht mit vitaler Wärme erfülle, so werde ich den Anderen unverständlich und hassenswert« (S. 378). Isolation und damit das Gefühl der Vereinsamung von trauernden Menschen sind die Folge. Nachbarn wechseln die Straßenseite, Freundinnen und Freunde melden sich immer

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seltener, Arbeitskollegen und -kolleginnen beschränken sich auf Gespräche, die die Aufgaben betreffen, und Familienangehörige haben mit ihrem eigenen Kummer zu tun. Die Rollen­ inhaberin versucht, ihr ungewolltes und ungeliebtes Anderssein zu verbergen, indem auch sie sich zurückzieht, oder sie bemüht sich, ihre ungewollte Rolle hinter einer Maskerade der Gleichgültigkeit oder getarnter Funktionalität zu. In beiden Fällen kann die mit der Rolle verbundene Einsamkeit zum inneren Gefängnis werden. Betrachten wir die jeweiligen Rollen- und Positionskompetenzen von Trauerbegleiterin und trauerndem Menschen im Verhältnis zueinander, dann wird schnell klar, dass auf dieser Ebene eine asymmetrische Beziehung besteht, die nie in der Gänze aufhebbar ist. Diversität und Asymmetrie bleiben. Diese Asymmetrie birgt Gefahren, da sie auf ein Gefälle hinweist, das in der intersubjektiven Beziehung kein Gleichheitsverhältnis zulässt. Eine Trauerbegleiterin muss sich dieser Gegebenheit bewusst sein und wissen, dass sie diese Asymmetrie nur im Zusammenspiel mit ihren anderen beiden Grundkompetenzen – der Wissens- und Menschkompetenz – aufheben kann. II.2.2 Wissenskompetenz

Der Mensch als bewusst denkendes Wesen trifft in allen Lebenslagen auf ein ungewisses Dasein, das ihn beunruhigt, überrascht, verunsichert und ihn auf (s)ein grundsätzliches Nichtwissen aufmerksam macht. Das Wissen, ein Nichtwissender zu sein, verunsichert zusätzlich und lässt den Menschen nach Wissen streben. Wissen, das ihm festen Halt verheißt, Wissen, auf das er sich verlassen kann. Angeeignetes Wissen lehrt ihn, auf Ungewissheiten vorbereitet zu sein, mögliche Geschehnisse zu antizipieren und darauf zu reagieren. Gleichzeitig erwirbt er sich durch Wissensaneignung die Fähigkeit, Verknüpfungen und Transparenz herzustellen sowie Erklärungen für schwer Ver-

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stehbares zu bekommen. Wissenskompetent zu sein, bedeutet auch, fähig zu sein, zu erkennen, dass aller Wissenserwerb keine absoluten Einsichten schenkt, dass alles Wissen immer wieder ergänzt und weitergeführt werden muss und niemals in der Gänze gewusst werden kann. Den eigenen Wissenserwerb als abgeschlossen zu betrachten, führt zur trügerischen Ruhe und zur Lähmung des Interesses, weiteres Wissen zu erwerben. Alfred Bandura hat dies in einem Lernstufenmodell eindrucksvoll veranschaulicht. Er geht davon aus, dass jeder Mensch ein sogenanntes unbewusstes Nichtwissen in sich trägt. Das heißt, dem betreffenden Menschen ist nicht bewusst, dass er dies oder jenes nicht weiß. In Bezug auf das Nichtwissen lebt er in unbekümmerter Naivität. Durch ein Ereignis, eine Erfahrung, eine Begegnung oder Ähnliches kann das Nichtwissen auf einmal bewusst und damit auf die nächste Stufe – bewusstes Nichtwissen – gehoben werden. Der betreffende Mensch weiß jetzt, dass er dies oder jenes nicht weiß. Hier wird jetzt sozusagen eine erste Entscheidung gefordert. Entweder der Mensch nimmt das bewusste Nichtwissen zur Kenntnis und widmet sich dennoch anderen Dingen (dann versandet das Nichtwissen wieder), oder er nimmt es zur Kenntnis und entschließt sich, dieses Nichtwissen aufzuhellen und in bewusstes Wissen zu verwandeln. Diese dritte Stufe ist mit viel Aneignungswissen und Übung sowie mit Rückschlägen und Scheitern verbunden. Hält der Mensch diese sogenannte Trainingsphase durch, so kann es ihm gelingen, sich das bewusste Wissen zu eigen zu machen, es sich sozusagen als »zweite Haut« anzueignen. Diese Zeit zwischen zweiter und vierter Stufe ist eine anstrengende »Trainingsphase«, die mit viel Bewusstheit abläuft und mit Konzentrationsarbeit verbunden ist. Immer wieder muss sich der betreffende Mensch darauf konzentrieren und besinnen, was er tut. Ist das Wissen in ausreichendem Maße gefestigt und verinnerlicht, wird es auf die vierte Stufe gehoben: das unbewusste Wissen. Dieses Wissen ist

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jetzt sozusagen abrufbar, ohne dass die Wissensinhaberin darüber nachdenken muss. Es hat sich sozusagen in den Menschen eingewoben und beeinflusst sein Denken, seine Entscheidungen und sein Tun. Ein Verdeutlichungsbeispiel: Das kleine Mädchen weiß nicht, dass es nicht Auto fahren kann. Es setzt sich in eine Kiste, macht Autogeräusche, lenkt und imaginiert, dass es fährt (unbewusstes Nichtwissen). Der Jugendlichen ist zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst geworden, dass sie nicht fahren kann (bewusstes Nichtwissen). Sie möchte es lernen und weiß, dass sie sich dafür entsprechendes Wissen aneignen muss. Sie meldet sich in der Fahrschule an, erlangt theoretisches Wissen, nimmt Fahrstunden und besteht schließlich die Führerscheinprüfung (bewusstes Wissen). Das in der Fahrschule angeeignete Wissen muss nun in der Praxis vertieft und gefestigt werden. Die wertgeschätzten Leser*innen mögen sich zurückerinnern. Jeder Handgriff wurde bei den ersten alleinigen Autofahrten rekapituliert. Einsteigen. Sitz einstellen. Spiegel einstellen. Anschnallen. Schulterblick. Blinker setzen. Kupplung langsam kommen lassen. Langsam Gas geben. Nicht zu dicht auffahren usw. Nach einer gewissen Zeit schließlich geschieht das Fahren automatisiert (unbewusstes Wissen). Das erlernte Wissen hat sich nun so weit verfestigt, dass es mit einem gewissen Grad an Unbewusstheit genutzt werden kann. Ich steige nicht mehr ins Auto und frage mich: Mit welchem Bein muss ich bremsen und mit welchem Gas geben? Auch der Griff zum Gurt und zur Zündung erfolgt im Modus des Autopiloten. Muss die Fahrerin aufgrund eines Autowechsels zum Beispiel von Gangschaltung auf Automatik umsteigen und vom Schlüsselumdrehen zum Knopfdrücken wechseln, wird der Lernprozess wieder aufs Neue in Gang gesetzt. Unbewusstes Wissen birgt einerseits die Gefahr, zur Routine und damit als abgeschlossen betrachtet zu werden. Und andererseits besteht die Gefahr, dass der sogenannte Autopilot

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die Handlungsdirektive übernimmt und die damit verbundene Unachtsamkeit zur Gefahrenquelle wird. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass eine erworbene Wissenskompetenz immer im Fluss ist und auch sein muss. Die Wissenskompetenz der Trauerbegleiterin

Trauerbegleitung erfordert ein umfangreiches Wissen über sich selbst, über den Prozess der Trauer, über Umgangsstrategien, Begleitkonzepte und vieles mehr. Trauerspezifisches Wissen wird in der Qualifikation zur Trauerbegleiterin erworben und befähigt die Begleitende zu einer expliziten Reflexion dieses Wissens und zum angemessenen Umgang damit. Im Aneignen, im Erlernen, im Erarbeiten, in der Auseinandersetzung mit der Thematik »Trauer« gewinnt die Lernende Einsichten über die Trauer und in die Trauer. An anderer Stelle wurde ausgeführt, dass Trauer ein individueller Selbstheilungsprozess ist, der sein je eigenes Tempo hat, seine je eigene Intensität und seine je eigene Dauer. Vor diesem Hintergrund darf die Begleiterin das erworbene Wissen zu keinem Zeitpunkt als ein absolutes betrachten, sondern muss es immer in Beziehung setzen zu dem, was der trauernde Mensch gerade braucht. In diesem Abschnitt soll es darum gehen, einige wichtige Wissenspunkte über das Phänomen Trauer darzustellen, ohne dabei den Anspruch der Vollständigkeit zu erheben. Am Ende eines jeden Wissenspunktes wird ein Dialogausschnitt anhand eines Praxisbeispiels wiedergegeben. Trauer ist eine unmittelbare Wertantwort auf den Tod eines geliebten Menschen und leitet einen Selbstheilungsprozess ein.

Der Tod eines geliebten Menschen fügt dem Zurückbleibenden eine existenzielle Verletzung zu. Die gemeinsame und sinnstif-

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tende Wir-Welt wird zerrissen. Das Ich bleibt ohne sein geliebtes Du konturlos, verletzt, zutiefst verunsichert und voller Fragen zurück. Die Reaktionen, mit denen ein Mensch auf diese Grenzsituation antwortet, werden unter dem Begriff »Trauer« subsumiert. Trauer ist somit eine Antwort auf den werthaften Verlust, der erlitten wurde. Sie ist eine Wertantwort und leitet – so paradox es auch klingen mag – einen schmerzhaften Selbstheilungsprozess ein. Eine Begleiterin, die dem trauernden Menschen mit diesem Wissen begegnet, wird nicht versuchen, ihn vorschnell von seiner Trauer zu erlösen. Sie wird verstehen, dass der Schmerz, das Leid, der Kummer dazugehören und ihm nicht weggetröstet werden dürfen. Gehen wir von dem Grundgedanken aus, dass Trauer eine unmittelbare und normale Reaktion ist, eine Wertantwort auf den Verlust, dann kann an dieser Stelle postuliert werden, dass Trauer keine Krankheit ist, sondern »Leiden im Gesunden«. Den Trauerprozess vorschnell abkürzen oder gar auflösen zu wollen, würde – symbolisch gesprochen – bedeuten, dem Trauernden ein Pflaster über eine tiefe Wunde zu kleben und ihm zu sagen, dass jetzt alles gut sei. Unter dem Pflaster jedoch würde es weiter schmerzen und wüten. Bei diesem Bild liegt auch der Gedanke nahe, dass Trauer zwar keine Krankheit ist, sich aber zur Krankheit entwickeln kann bzw. den Menschen krank machen kann, wenn sie nicht sein darf. Anna Kalweit, 59 Jahre, drei Monate nach dem Tod ihrer 17-jährigen Tochter: »Leni war ein spätes Geschenk. Wir hatten schon alle Hoffnung auf ein Kind aufgegeben. Dann wurde ich schwanger und Leni kam zur Welt. Sie war wunderschön. So vollkommen. Sie war unser Sonnenschein. Unser Glück. Unsere große Liebe. Der Unfall hat mein Leben zum Stillstand gebracht. Der Schmerz wütet in mir und ich will ihn fühlen. Er ist alles, was mir von Leni bleibt. Der Schmerz zeigt mir, dass sie da war. Dass ich sie geliebt habe. Wäre dieser furchtbare Schmerz nicht, wäre auch Leni nicht.

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Eine Freundin sagte gestern: ›Leni hätte nicht gewollt, dass du so leidest.‹ Was weiß die schon, was Leni gewollt hätte. Die würden am liebsten alle eine Decke über meine Trauer legen. Als ob dann alles gut wäre.«

Diese Worte der Trauernden können ein Orientierungssystem für Begleitende sein. Es geht nicht darum, den Trauerschmerz zu lindern, sondern ihn als eine Wertantwort, als eine »Liebesreaktion«, anzuerkennen und zu würdigen. Gesprächsauszug: TRAUERBEGLEITERIN: »Ich würde Leni gerne näher kennenlernen.

Mögen Sie mir etwas von ihr erzählen?« ANNA KALWEIT: »Hm, was soll ich erzählen? Ich sagte ja schon,

dass sie ein Geschenk war. Sehr besonders, sehr einmalig. Liebenswert und auch neugierig.« TRAUERBEGLEITERIN: »Neugierig? Wofür hat sie sich interessiert?« ANNA KALWEIT: »Für alles eigentlich. Sie hatte einen unglaublichen Wissensdurst. Im Nachhinein denke ich manchmal, dass sie so viel wissen wollte, weil sie vielleicht wusste, dass sie nicht so viel Zeit hat. Finden Sie das komisch?« TRAUERBEGLEITERIN: »Ich finde es bemerkenswert, dass Sie solch einen Gedanken haben. Was würde das für Sie bedeuten, wenn Leni vielleicht unbewusst gewusst hätte, dass sie früh sterben wird?« ANNA KALWEIT: »Hm … weiß nicht … sie hat auf jeden Fall tiefer, intensiver und schneller gelebt. Ich dachte immer, sie sollte mal langsamer machen. Doch jetzt bin ich froh, dass sie all das noch erlebt hat.« TRAUERBEGLEITERIN: »Also zurück zu Ihrer Frage: Finden Sie das einen komischen Gedanken? Meine Antwort: Nein. Ich finde es keinen komischen Gedanken.« ANNA KALWEIT: (lächelt).

74    Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge

Trauer ist ein dynamischer Prozess mit Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen, mit Stillstand und Sprüngen, mit Abstürzen und Aufstiegen.

Trauer ist kein Zustand. Sie ist »nicht etwas Statisches, das als Verlustreaktion auftritt und sich dann gleichsam abnützt, sondern sie ist im wörtlichen Sinne etwas Dynamisches« (Illhardt, 1982, S. 239). Sie ist ein individuelles, prozesshaftes Geschehen, das sowohl lähmende als auch kraftvolle Dimensionen aufweist. Als »Verwandlungskünstlerin« (Canacakis, 1989, S. 29) zeigt sie sich immer wieder in einer anderen Gestalt und führt den betroffenen Menschen auf Wege, die ihm fremd und unbekannt sind: »Trauer gleicht einem langen Tal, einem gewundenen Tal, wo jede Biegung eine vollkommen neuartige Landschaft enthüllen mag. Wie schon bemerkt, tut dies nicht jede Biegung. Manchmal besteht die Überraschung aus dem Gegenteil; man steht vor genau der gleichen Landschaft, die man kilometerweit hinter sich glaubte. Dann fragt man sich, ob das Tal nicht ein Graben sei, der im Kreise führt. Das ist es aber nicht. Einzelne Abschnitte kehren zwar wieder; ihre Abfolge aber wiederholt sich nicht« (Lewis, 1998, S. 68). Hilfreich für Begleitende kann es sein, sich den Trauerweg als U-förmig vorzustellen. In diesem Bild ist es Aufgabe der Begleitenden, zu prüfen, an welcher Stelle des Weges sich der trauernde Mensch befindet. Befindet er sich auf dem Abstieg? Ist er in der Mulde auf dem tiefsten Punkt angelangt? Oder ist er im Aufstieg? Wichtig ist, dass die Begleitende nicht versucht, den Abstieg aufzuhalten, indem sie dem trauernden Menschen vermeintliche Abkürzungen aufzeigt, ihn zum Umdrehen auffordert oder einen scheinbaren Fluchtweg aufdeckt, sondern die Begleiterin steigt symbolisch gesehen mit hinab. Sie begleitet den trauernden Menschen, bis ihn der Einbruch erfasst und durchdrungen sowie ihn in seiner ganzen Existenz erfüllt hat. Sie muss

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ertragen, dass Worte nicht mehr greifen, sondern Schweigen die angemessene Form des Mitseins sein kann. Reden könnte an dieser Stelle auch zum »Geschwätz« werden: »unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mittendrin und schweigt« (Rilke, 1929, S. 41 f.). Diese scheue Befangenheit erkennt sozusagen, was jetzt richtig ist. Sie erkennt, ich muss das Gegenüber in dieser vorübergehenden Finsternis lassen, damit es weiterleben kann. Anna Kalweit, vier Monate nach dem Tod ihrer Tochter: »Irgendwie schaffe ich es, weiterzuleben, doch letzte Woche war der Geburtstag von Leni, sie wäre 18 geworden. Da ist alles über mir zusammengebrochen. Nur noch Schmerz und Dunkelheit. Kein Licht mehr. Nichts! Es war grausam und fühlte sich gleichzeitig richtig an. Leni kommt nicht wieder. Egal, was ich tue. Sie bleibt tot. Alles, was mir bleibt, sind Erinnerungen und dieses Wissen. Was mir zusätzliche Schmerzen bereitet, sind die sogenannten Trostworte, die Menschen mir zusprechen. Ich kann es einfach nicht ertragen. Was wissen die schon. Eine Nachbarin sagte: ›Bestimmt schaut Leni von oben zu und feiert mit.‹ Ich will sie für dieses Geschwätz ohrfeigen. Doch das macht man nicht. Das gehört sich nicht. Grönemeyer singt: ›Dieser Weg wird kein leichter sein.‹ Wie recht er hat.« Gesprächsauszug: TRAUERBEGLEITERIN: »Ich merke, dass Sie sehr gut spüren, was

Ihnen nicht guttut. Ein paar mögliche Reaktionen darauf – wie zum Beispiel das Ohrfeigen – schließen Sie ja aus. Was kann Ihnen hilfreich sein, mit nicht hilfreichen Trostworten umzugehen?« ANNA KALWEIT: »Na, meistens gehe ich einfach drüber weg und versuche, es zu überhören. Doch es kocht in mir.«

76    Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge

TRAUERBEGLEITERIN: »Es kocht in Ihnen? Darf ich Ihnen mal ein

Bild skizzieren, das sich gerade in mir auftut?« ANNA KALWEIT: »Klar. Machen Sie ruhig.« TRAUERBEGLEITERIN: »Ich sehe einen Kochtopf vor mir, der spru-

delt und zischt, und Sie tun den Deckel drauf. Darunter baut sich Druck auf. Was passiert?« ANNA KALWEIT: »Der Deckel fliegt irgendwann runter und alles kocht über.« TRAUERBEGLEITERIN: »Was ist das für ein Gefühl?« ANNA KALWEIT: »Na ja, nicht weniger – entschuldigen Sie den Ausdruck – beschissen.« TRAUERBEGLEITERIN: »Und nun?« ANNA KALWEIT: (lächelt) »Vielleicht probiere ich es mal damit, dass ich sage, was mir nicht guttut.« TRAUERBEGLEITERIN: »Einen Versuch ist es wert.«

Oftmals fürchten sich Begleitende vor solchen Zusammenbrüchen, sind gelenkt von der Furcht, der trauernde Mensch würde es nicht schaffen, sich wieder aus der Dunkelheit zu befreien. Dann über das Wissen zu verfügen, dass die Trauer ihren eigenen Weg zeichnet, ihre eigenen Stationen markiert und dieser Weg eben nicht kontrolliert werden kann, ermöglicht Mit-Sein und Mit-Bleiben. Trauer ist harte innere Arbeit.

Einen geliebten Menschen an den Tod zu verlieren, bedeutet für den Hinterbliebenen das Ertragen von großem Leid, das Hinund Annehmen eines unabänderlichen Schicksals. Dies ist kein rein passives Geschehen, sondern der erlittene Verlust, der den Hinterbliebenen in eine »Zone des Nichtwissens« (Zwierlein, 1995, S. 32) gestürzt hat, verlangt ihm nahezu unablässig Entscheidungen und aktives Handeln ab. Immer sind diese Ent-

Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz   77

scheidungsmomente mit dem Auftrag der Wahl verbunden: Stillstand und Stagnation oder gerichtete Bewegung und Werden. Der antike orphische Aufruf »Werde, der du bist!«, der immer und zu jeder Zeit für jeden einzelnen Menschen gilt – »Jeder einzelne Mensch ist […] berufen, die Aufgaben eines wachsenden Werdeseins hin zu einer noch ausstehenden Ganzheit und Einheit seines Selbst aktiv wahrzunehmen« (Zwierlein, 1989, S. 96) –, wird oftmals erst in der Krise der Existenz »gehört«. Hellhörig für diesen Aufruf zu sein und ihm nachzukommen, bedarf des Mutes, »der Wirklichkeit der [gewesenen] Beziehung und des eigenen Empfindens bewusst ins Auge zu sehen« (Stappen, 1996, S. 103). Anna Kalweit, sieben Monate nach dem Tod ihrer Tochter: »Es gibt Tage, da denke ich, es wird besser. Ich spüre Bewegung in mir und in meinem Leben. Kleine Momente der Lebendigkeit. Hoffnungsschimmer, die eine leere Zukunft kurz erhellen. Doch dann trifft mich die Realität wieder wie ein Keulenschlag. Leni ist tot. Mir verschlägt es den Atem. Alles steht wieder still. Ich kann nur noch in der Vergangenheit leben, sehe mir Fotos und Filme an und kann es immer noch nicht fassen, dass unser ›Wunder‹ unter der dunklen Erde liegt, anstelle auf ihr zu tanzen. Ich brauche alle Kraft, um nicht einfach liegen zu bleiben.« Gesprächsauszug: TRAUERBEGLEITERIN: »Was ist das für eine Kraft?« ANNA KALWEIT: »Wie meinen Sie das? Was ist das für eine Kraft?« TRAUERBEGLEITERIN: »Nun, Sie sagten eben: ›Ich brauche alle

Kraft, um nicht liegen zu bleiben.‹ Woher nehmen Sie diese Kraft? Und warum bleiben Sie nicht ›einfach‹ liegen?« ANNA KALWEIT: »Was ist denn das für eine Frage, warum ich nicht liegen bleibe? Das würde ja auch nichts an der Tatsache ändern, dass Leni tot ist.«

78    Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge

TRAUERBEGLEITERIN: »Was ändert sich für Sie, wenn Sie aufste-

hen?« ANNA KALWEIT: (schweigt, blickt vor sich hin) »Ich war immer

jemand, der mit allem klarkam. Jetzt ist es schwer, klarzukommen.« TRAUERBEGLEITERIN: »Was bedeutet ›klarkommen‹ für Sie?« ANNA KALWEIT: »Na ja, dass ich mich nicht unterkriegen lasse. Dass ich aufstehe und nach vorne schaue.« TRAUERBEGLEITERIN: »Was sehen Sie, wenn Sie nach vorne schauen?« ANNA KALWEIT: »Nicht viel.« TRAUERBEGLEITERIN: »Kennen Sie die Rose von Jericho?« ANNA KALWEIT: »Nein.« TRAUERBEGLEITERIN: »Die Rose von Jericho ist eine Wüstenblume, die die Fähigkeit hat, sehr lange ohne Wasser auszukommen. Sie wirkt vertrocknet und tot. Und irgendwann, wenn sie wieder mit Feuchtigkeit in Kontakt kommt, öffnet sie sich und wird von der Mitte her immer grüner. Bis sie sich wieder entfaltet hat. Vielleicht können Sie mit dem Bild was anfangen?« ANNA KALWEIT: »Und Sie meinen, ich bin so eine Rose?« TRAUERBEGLEITERIN: »Nun, ich meine, dass Sie durch eine Wüstenzeit gehen.« ANNA KALWEIT: »Hm.« (Sie schweigt und richtet sich etwas auf.)

Auf dem Trauerweg verändert der Verlust des geliebten Menschen nicht nur in allen Bereichen die Welt – also die Realität – des Hinterbliebenen, sondern auch grundlegend ihn selbst und sein Verhältnis zu sich selbst. Es findet ein sogenannter »innerer Umbau« (Schenk, 1998, S. 156) statt. Das eigene Dasein ist aus den Fugen geraten, der Lebensweg erscheint ziellos und die Ablösung vom Verstorbenen wird als eine Verflüchtigung der eigenen Identität ins Nichts empfunden. Die damit einhergehende seelische Erschütterung zwingt die Hinterbliebene

Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz   79

zu einer unabweisbaren Auseinandersetzung mit ihrer Trauer. Indem sie durch den erlittenen Verlust quasi gezwungen wird, Trauerarbeit zu leisten, »sieht sie sich plötzlich vor eine schier unlösbare Aufgabe gestellt« (Jülicher, 2003, S. 12). Die Art und Weise, wie ein Mensch mit dieser Herausforderung umgeht, findet in unterschiedlicher und individueller Weise ihren Ausdruck. So heißt es beispielsweise bei Karl Guido Rey: »Trauerarbeit! Trauer ist keine Arbeit. Trauer ist ein Prozess, der an mir geschieht und den ich an mir geschehen lassen muss und den ich nicht leisten kann. Wie soll ich arbeiten? Ich bin erschüttert, verwundet, sinnlos und verlassen. Meine Fähigkeiten haben sich verflüchtigt, mein Wille ist gestorben. Ich bin schlaff und ausgetrocknet. Das Leben ist Tod. Der Tag ist grau. Die Zukunft ist ungewiss. Ich habe Angst. Wie soll ich damit arbeiten? Ich muss aushalten. Ich muss durchstehen. Hoffen, dass es wieder einmal erträglicher wird. Auf einen Morgen warten. Die Morgendämmerung kann ja nicht erarbeitet werden. Wir können nur hoffen, dass sie kommt. Wir müssen sie kommen lassen« (Rey, 1998, S. 88). Um nicht im Strudel des Trauerchaos unterzugehen, sondern den Weg der Selbst- und Weltbejahung gehen zu können, bedarf ein Mensch der Struktur und Ordnung. Strukturieren und Ordnen sind Tätigkeiten, die, um ausgeführt werden zu können, der Aktivität – also der Entscheidungsfähigkeit – bedürfen. Das heißt, der trauernde Mensch muss aus seiner – ihn zumindest anfänglich – lähmenden Passivität heraustreten. Sehr eindrucksvoll beschreibt Liane Giudice diesen Entscheidungsvorgang: »Auf der Türschwelle entschied es sich. Entweder würde ich in meiner Qual passiv untergehen, oder ich mußte tätig werden« (1970, S. 39). Der Trauernde selbst wird seinen zunächst »als unbegehbar geglaubten Weg« (Smeding, 1998, S. 13) der Trauer letztlich aktiv gehen müssen. Dabei stellen sich ihm immer wieder Aufgaben, denen er sowohl praktisch als auch moralisch

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Genüge tun muss. Nietzsche formuliert dies folgendermaßen: »Wir haben uns über unser Dasein vor uns selbst zu verantworten; folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseins abgeben und nicht zulassen, dass unsre Existenz einer gedankenlosen Zufälligkeit gleicht« (1873–76/1964, S. 201). Der Weg, den die Zurückbleibende geht, entsteht im Gehen selbst. Es ist kein vorgezeichneter Weg, der nur aufgefunden werden muss, sondern die Trauernde ist Entdeckerin, Autorin und Gestalterin ihres eigenen Trauerweges. Einem solchen Wegbild liegt zwangsläufig das Verständnis zugrunde, dass der trauernde Mensch die notwendige Neuschaffung und Gestaltung seines Lebens niemals auf einen Schlag zu leisten imstande ist, sondern dass dies immer nur schrittweise erfolgen kann. Der Weg durch die Trauer kann von der Betroffenen als eine Gratwanderung zwischen den Extremen des selbstisolierenden Rückzugs (Fixierung) und des aktionistischen Bestrebens (Zerstreuung) erlebt werden. Ziel der Bestrebungen ist es, die Lücke, die der Tod gerissen hat, zu schließen. Insofern kann durchaus gesagt werden, dass »Trauer […] seelische Schwerstarbeit [ist] und sehr viel Zeit« (Lüdicke, 1995, S. 331) braucht. Trauer ist nicht »etwas, was entweder immer nur anwesend oder immer abwesend ist. [Sondern] sie kann zurückkehren und zur erneuten Auseinandersetzung einladen« (Smeding, 1998, S. 22). Bei Lohner heißt es: »Immer wieder fällt man in diese dunklen Löcher aus überwältigender Sehnsucht, Angst und Verlassenheit. Was solche Einbrüche auslöst, ist gar nicht vorherzusehen. […] es gibt hundert Anlässe am Tag, wodurch alles wieder aufbrechen kann« (1994, S. 69 f.). Clive Staples Lewis beschreibt die Trauerarbeit folgendermaßen: »Dann kommt ein plötzlicher Stich rotglühender Erinnerung – und die ganze ›gesunde Überlegung‹ verschwindet wie eine Ameise in der Mündung eines Schmelzofens. Der Rückfall wirft einen in Tränen und Pathos« (1998, S. 6). Trauern ist kontinuierliche und wiederkehrende Arbeit in der Zeit, die spezifische

Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz   81

Aufgaben enthält, deren Schritte ineinander verzahnt sind und die im großen Sinnzusammenhang der Selbstwerdung stehen. Anna Kalweit, drei Monate nach dem Tod ihrer Tochter: »Ich stehe morgens auf und bin erschöpft. Wenn ich Glück habe, habe ich ein paar Stunden geschlafen. Doch auch die sind von Träumen – oder besser Albträumen  – durchsetzt. Ich bin erschöpft und ausgelaugt. Jeder Schritt, den ich tue, kostet mich Kraft. Immer geschieht er das erste Mal ohne Leni. Immer wieder frage ich mich, wie es weitergehen soll. Mein Mann stellt diese Frage nicht. Er macht einfach weiter. Steht morgens auf. Geht zur Arbeit. Kommt abends heim. Isst etwas. Schaut Fernsehen. Geht zu Bett. Schläft. Ich hingegen kann auch jetzt noch nicht zur Arbeit gehen. In mir arbeitet es jedoch Tag und Nacht. Es arbeitet in meinem Kopf und in meinem Herzen. Ich muss das irgendwie hinkriegen. Ordnen. Strukturieren. Sonst wird mich das Chaos nicht loslassen.« Gesprächsauszug: TRAUERBEGLEITERIN: »Ordnen und Strukturieren ist wichtig für

Sie. Was würden Sie gerne ordnen und strukturieren und was könnte Ihnen dabei helfen?« ANNA KALWEIT: »Da sind so viele Fragen in mir. Das ist wie ein Karussell in meinem Kopf. Das macht mich manchmal ganz verrückt.« TRAUERBEGLEITERIN: »Hier ist ein Blatt Papier und ein Stift. Schreiben Sie einfach mal drauflos. Kreuz und quer, alle Fragen, die Ihnen kommen.« ANNA KALWEIT: (nimmt zögerlich Blatt und Stift, denkt kurz nach und schreibt dann drauflos. Nach fünf Minuten sagt sie:) »Fertig!« (siehe Abbildung 1) TRAUERBEGLEITERIN: »Mögen Sie mir die Fragen mal vorlesen?« ANNA KALWEIT: »Ja, kann ich machen.« (liest die Fragen vor)

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TRAUERBEGLEITERIN: »Gibt es eine Frage, der Sie gerne nachge-

hen möchten?« ANNA KALWEIT: (seufzt) »Hm, vielleicht das mit den Kondolenz-

briefen?«

Abbildung 1: Niedergeschriebene Fragen

Das Gespräch, das sich nach dieser kleinen Übung entfaltet, ist sehr konstruktiv und entspannt. Konzentriert arbeitet Anna Kalweit heraus, worin für sie der Schatz der Kondolenzbriefe liegen kann und wie sie mit Briefen umgehen kann, die ihr nicht guttun. Am Ende der Stunde steht sie auf und sagt: »Ich bin zwar völlig erschlagen, doch das Chaos ist etwas gelichtet.« Liebende erleben den gleichen Verlust, doch jede/r erlebt ihn anders.

Wenn ein nahestehender Mensch stirbt, dann sind es in der Regel mehrere Menschen, die zurückbleiben und den Zerriss des Wir erfahren. Jeder erlebt diesen Verlust auf eine eigene und für ihn selbst nicht selten sonderbare Weise. Familien wünschen sich in dieser schweren Zeit oft nichts sehnlicher, als dass die eigenen Reaktionen auch im anderen gespiegelt werden. Dies würde

Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz   83

ihnen helfen, sich selbst zu verstehen. Doch genau dies geschieht fast nie. Trauer ist sowohl ungleichzeitig als auch ungleichartig. Da ist im Praxisbeispiel der Familie Kalweit der Vater von Leni. Er versucht, mit dem Schmerz fertigzuwerden, indem er seinen Alltag seinem früheren Alltag so ähnlich wie möglich gestalten will. Jede Minute ist durchgetaktet, so schafft er es, dem Schmerz etwas entgegenzusetzen. Da ist die Mutter von Leni, die versucht, der schmerzlichen Realität zu entkommen, indem sie sich – so oft es geht – in die Vergangenheit flüchtet. Beide trauern um ihre Tochter. Beide leiden an diesem Verlust. Beide versuchen, zu überleben. Beide tun es auf ihre je eigene Art. In der Regel haben Menschen im Laufe ihres Lebens ihre eigenen Strategien entwickelt, um mit Schwierigkeiten, Herausforderungen und Krisen umzugehen. Vielfach wird in der Leidsituation auf diese geläufigen Umgangsstrategien zurückgegriffen, und die Betroffenen müssen schmerzhaft erleben, dass die vertrauten Taktiken nicht mehr greifen. Hinzu kommt, dass für die je andere Strategie wenig Verständnis aufgebracht werden kann. Diese mutet fremd an und ist damit unverständlich. Im Prozess der Trauer nimmt die Fähigkeit, sich in den anderen einzufühlen und hineinzuversetzen, zunehmend ab. Die Kraft reicht oftmals nur aus, um die eigenen (oft befremdlichen) Reaktionen auszuhalten. Die Reaktionen des anderen können umso unverständlicher wirken. Einsamkeit und die Leere nehmen zu. Menschen können in ihrem Schmerz nicht immer zusammenkommen. Vielfach wird bewertet, verurteilt und im je eigenen Sinne interpretiert. Kurt Tucholsky fragte einmal: »Wie reden Menschen miteinander?« Die Antwort lieferte er gleich mit, indem er sagte: »Meist aneinander vorbei.« Missverständnisse sind schon im regelhaften Leben in die Kommunikation eingewoben. Hier reichen jedoch manchmal die Kraft und der gute Wille aus, den anderen wenigstens ansatzweise zu verstehen. In der Ungleichartigkeit der Trauer jedoch ist dies

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vielfach nicht der Fall. Die Missverständnisse türmen sich auf. Verunsicherung und das Gefühl der zunehmenden Einsamkeit sind die Folge. Gerade in einer solchen Situation sehnen sich Menschen nach Verbundenheit, nach gegenseitiger Unterstützung, nach Zugehörigkeit, nach Zuwendung und Verständnis. Sie wollen gehört, gesehen und verstanden werden. In einer solchen Situation kann Trauerbegleitung eine wichtige Dolmetscherrolle übernehmen. Zu keiner Zeit darf es darum gehen, dass bewertet oder geurteilt wird, dass in Richtig oder Falsch eingeteilt wird, sondern es kann nur darum gehen, zu übersetzen und so möglicherweise eine Verstehensbrücke« zwischen den »sich nicht Verstehenden« zu bauen. Anna Kalweit, fünf Monate nach dem Tod ihrer Tochter: »Gestern war es schlimm zu Hause. Mein Mann saß mal wieder vor dem Fernseher. Starrte auf den Bildschirm. Ich kann das kaum mehr ertragen. Endlose Bilder, lautes Geplapper, wenig bis keinen Sinn. Ich wollte mit ihm die Anziehsachen von Leni sortieren. Er wollte nicht. Gab mir zur Antwort, dass ihm jetzt nicht der Sinn danach stehe. Er sei müde. Da wurde ich wütend. Habe ihn angeschrien, dass er abgestumpft und interesselos sei. Mein Mann stand wortlos auf und ging hinaus. Die Tür schloss er ganz leise. Ich blieb weinend zurück. Einsamer als je zuvor.« Gesprächsauszug: TRAUERBEGLEITERIN: »Können Sie sich vorstellen, dass etwas

anderes als ›abgestumpft‹ oder ›interesselos‹ hinter der Ablehnung Ihres Ansinnens steht?« ANNA KALWEIT: »Weiß ich nicht. Ist mir auch egal. Ich bin einfach so wütend.« TRAUERBEGLEITERIN: »Wütend? Auf was oder wen sind Sie wütend?« ANNA KALWEIT: »Ich bin wütend auf meinen Mann.«

Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz   85

TRAUERBEGLEITERIN: »Was macht Sie so wütend?« ANNA KALWEIT: »Er trauert überhaupt nicht oder vielleicht nicht

mehr. Am Anfang hat er mal geweint. Doch jetzt (zuckt die Schultern und schweigt eine Weile), jetzt scheint es, als trauere er nicht mehr.« TRAUERBEGLEITERIN: »Glauben Sie, dass er nicht mehr trauert?« ANNA KALWEIT: »Nein, natürlich nicht. Ja, irgendwie trauert er bestimmt auch. Aber er teilt sich ja nicht mit.« TRAUERBEGLEITERIN: »Was würden Sie sich denn wünschen, was er Ihnen sagt?« ANNA KALWEIT: »Dass er unglücklich ist. Dass er es ebenso wenig wie ich aushält, dass Leni tot ist. Dass er für mich da ist. Dass es ihn schmerzt.« TRAUERBEGLEITERIN: »Was würde sich für Sie ändern?« ANNA KALWEIT: »Ich würde mich nicht mehr ganz so alleine fühlen.« TRAUERBEGLEITERIN: »Wie war das vor Lenis Tod? Hat er sich Ihnen da mitgeteilt, wenn ihm was zu schaffen machte?« ANNA KALWEIT: »Nein, eher nicht. Er ist nicht der Typ, der sich mitteilt. Meistens kam es dann irgendwann viel später zur Sprache, was ihn bedrückte.« TRAUERBEGLEITERIN: »Gab es Auslöser, dass Ihr Mann dann ›irgendwann‹ sprechen konnte?« ANNA KALWEIT: »Nein, einen genauen Auslöser gab es, glaube ich, nicht. Er war halt irgendwann so weit.« TRAUERBEGLEITERIN: »Hm. Das heißt wohl akzeptieren, dass er anders mit dem Schmerz umgeht als Sie. Oder?« ANNA KALWEIT: »Ja. Muss ich wohl. Ich meine, er kann es wahrscheinlich nicht zeigen. Vielleicht würde es ihm dann genauso den Boden unter den Füßen wegziehen wie mir. Das wäre für uns beide abgründig.« TRAUERBEGLEITERIN: »Haben Sie eine Idee, wie Sie mit dem Sortieren der Kleider weitermachen möchten?«

86    Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge

ANNA KALWEIT: »Ja. Ich werde ihn fragen, ob er ein bestimmtes

Kleidungsstück von Leni behalten will. Ich glaube auch zu wissen, welches.«

In diesem Gespräch wird deutlich, dass sich die Trauerbegleiterin nicht zur Anwältin des Vaters von Leni macht, ihn weder in Schutz nimmt noch verteidigt, nicht richtet oder bewertet. Sie versucht, durch einfühlsames Fragen die trauernde Mutter für die Andersartigkeit von Trauerreaktionen zu sensibilisieren, sie fungiert gewissermaßen als Dolmetscherin und hilft ihr auf diese Weise, in ihre eigenen Antworten hineinzufinden. Die vier Dimensionen der Sprachlosigkeit

Mit dem Tod des geliebten Menschen stirbt auch die lebendige Kommunikation zwischen den Liebenden. Kommunikation kommt vom lateinischen »communicare« und heißt so viel wie »verbinden, vereinigen, teilen, gemeinsam machen«. Das heißt, Kommunikation ist eine Verbindungsbrücke zwischen zwei Menschen. Mit dem Eintritt des Todes jedoch verhallt alles, was dem geliebten Menschen noch gesagt wird, im ewigen Schweigen des Verstorbenen. Es wird keine Verbindung und auch keine Resonanz mehr erzeugt. Der Philosoph Eduard Zwierlein bezeichnet diesen Zustand als »Wortwinter«. Der Einbruch des Todes löst auf vier Ebenen den Wortwinter aus. Da ist erstens der Verstorbene selbst: »Nie mehr wird er das Wort an mich richten. Nie mehr wird er einen Gedanken in den Raum sprechen. Nie mehr wird seine Stimme ertönen.« Der Verstorbene ist für alle Zeit verstummt. Der Wortwinter wird – um im Bild zu bleiben – zum ewigen Eis. Die zweite Ebene des Wortwinters ist die Wortlosigkeit des hinterbliebenen Menschen: Wie soll er Worte finden für das, was geschehen ist? Wie soll er seinen unbändigen Trauerschmerz in Worte fassen? Alle Worte greifen zu kurz – wer würde ihn ver-

Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz   87

stehen? Unsere Sprache kann die existenzielle Dimension des Geschehenen nicht wiedergeben. Die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen verliert ihren Mann Ischa – ihre große Liebe – an den Tod. Sie lässt später in die Zeitung setzen: »Mein Mann ist tot!« Vier Wörter, die durchaus objektiv verstehbar sind. »Mein« ist ein Possessivpronomen. Es verweist auf etwas, auf jemanden, auf das, was zu mir gehört. »Mann« ist ein Substantiv, eine männliche Form der Spezies Mensch. »Ist« ist die deklinierte Form des Verbs »sein«, und »tot« ist ein Adjektiv, das Leb- und Bewegungslosigkeit ausdrückt. Alle vier Wörter ergeben jeweils für sich einen Sinn, sind nachvollziehbar und werden verstanden. Für die Hinterbliebene sind es jedoch Wörter, die nicht zusammengehören: »Jetzt dröhnt mir das Wort Tod durch den Kopf, mit seinem Namen verbunden wie ein unzertrennliches Gespann. Hin und wieder versuche ich, mich dazwischenzuzwängen, doch das gelingt mir nicht, ich lebe zu sehr. Ich fühle mich ausgestoßen, darf nicht mit von der Partie sein. Sein wundervoller Name und dieses Wort schieben gemeinsam alles beiseite. Sobald ich an etwas anderes zu denken versuche als an dieses Wortgespann, versperren sie dem Gedanken den Weg« (Palmen, 1999, S. 365). Aus den Worten von Palmen wird deutlich, dass sowohl der Verstand als auch die Sprache an Grenzen kommen. Eine dritte Dimension des Wortwinters ist das Schweigen der Mitmenschen. Was soll gesagt werden angesichts des Unfassbaren? Wie soll es ausgehalten werden, das Leid des Gegenübers? Worin kann Trost bestehen? Wie kann der eigenen Betroffenheit etwas entgegengesetzt werden? Viele trauernde Menschen leiden sowohl unter dem Schweigen der Mitmenschen als auch unter ihren Worten. Das Schweigen wird nicht als beredtes Schweigen empfunden, sondern als eine Art doppelte Nichtung dessen, worunter sie leiden. Nämlich der Abwesenheit des geliebten Menschen.

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Gesprächsauszug: MARLA MEESTERS: »Letzte Woche war ich bei einer Nachbarin

zum Kaffeetrinken eingeladen. Das fand ich sehr aufmerksam und irgendwie habe ich mich auch gefreut. Wir haben über alles Mögliche gesprochen, mit keinem Wort jedoch hat sie den Tod von Hans angesprochen oder mal gefragt, wie es mir ohne ihn geht.« TRAUERBEGLEITERIN: »Das hätten Sie sich gewünscht?« MARLA MEESTERS: »Ja, natürlich. Da kann man doch nicht einfach so drüber hinweggehen.« TRAUERBEGLEITERIN: »Was hätten Sie geantwortet?« MARLA MEESTERS: »Dass es mir schlecht geht. Dass er mir fehlt. Dass ich es noch immer nicht verstehen kann. Dass ich ihn zurückwill. Dass ich so alleine bin.« TRAUERBEGLEITERIN: »Wie hätte die Nachbarin im günstigsten Sinne darauf reagieren sollen?« MARLA MEESTERS: »Ich glaube, es hätte mir gereicht, wenn sie gesagt hätte, dass es ihr leidtut, dass Hans tot ist und ich jetzt alleine bin. Aber einfach so drüber hinweggehen, das tut mir weh.«

Das, worüber nicht gesprochen wird, das ist auch nicht wirklich geschehen. Und da, wo hilfloses Schweigen nicht mehr durchgehalten werden kann, erklingen nicht selten unvermögende Vertröstungen. Es werden Gemeinplätze gesprochen: »Jedes Leben geht einmal zu Ende«, »Die Zeit heilt alle Wunden«, »Der Mensch denkt, Gott lenkt«, »Jeder hat sein Kreuz zu tragen«, »Den Weg müssen wir alle mal gehen«, »Er ist jetzt erlöst«, »Ja, das Leben geht schneller vorbei, als man denkt«, »Du wirst das schon schaffen«, »Es gibt wahrscheinlich noch Schlimmeres«. Die Trauernde fühlt, dass ihr Gegenüber weder für sich selbst adäquate Worte für das Unbegreifliche, für das Unfassbare hat, noch ihr welche schenken kann. Die Folge ist, dass die Trau-

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ernde die oft gut gemeinten, der Hilflosigkeit entspringenden Tröstungsversuche meist nicht als tröstend, als haltgebend, sondern eher als verletzend und zusätzlich verunsichernd empfindet. Der Kontakt, die Verbindung, die Kommunikation zu den Mitmenschen und zur Außenwelt kann sich dadurch immer mehr erschweren. Nicht selten führt dies dazu, dass der trauernde Mensch sich zurückzieht, dass er zunehmend verstummt, schweigt, einen Panzer um sich herum aufbaut und dem Kontakt mit anderen Menschen ausweicht. In diesem Prozess macht er sich sozusagen unberührbar. Zwischen der Hinterbliebenen und den ihr im Alltag begegnenden Menschen bricht ein Kommunikationsgraben auf. Die Trauernde bleibt auf der einen Seite des Grabens mit ihren schmerzenden Fragen in quälender Einsamkeit und Schweigen zurück. Ihr Schweigen wird von Menschen, die ihr begegnen, häufig als eine Art Kontaktsperre erlebt, was wiederum bei den Mitmenschen zu einer wachsenden Sprachund Hilflosigkeit führen kann, bis auch sie letzten Endes keine Worte mehr finden, verstummen und der Trauernden aus dem Weg gehen. Die vierte Dimension des Wortwinters ist das Schweigen, das dem Zurückbleibenden aus dem Land des Todes entgegenstummt. Auf dieser Ebene geschieht es oft, dass ein trauernder Mensch »Zeichen« aus dem unbekannten Todesland als Nachricht, als Kommunikation deutet: Walter Groß, 59 Jahre, sein Sohn Jörg starb mit 29 an einem Lungentumor und hinterließ zwei kleine Kinder: »Ich saß auf einer Bank am Weiher. Jörg war seit vier Monaten tot. Meine Hände lagen auf der Lehne der Bank. Plötzlich setzte sich ein Schmetterling auf meine Hand. Mit seinen Fühlern ging er immer wieder zwischen meine Finger. Ich bewegte mich nicht. Dann kam ein Kind herangelaufen. Lärmte. Wollte den Schmetterling betrach-

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ten. Er flog weg. Als das Kind weg war, kam er wieder. Ich bin seitdem viel ruhiger. Das war eine Nachricht von Jörg, auch wenn Sie mich verrückt halten für diesen Gedanken.«

Vier Dimensionen des Wortwinters: Der Verstorbene schweigt, die Trauernde selbst und auch ihre Mitmenschen fallen ins Schweigen und das Land des Todes schweigt. Der Trauernden schlägt ein Schweigen entgegen, das nicht nur den Schmerz des Zerrinnens, sondern auch den des endgültigen Ausbleibens in sich trägt. Dieses Schweigen, dem die Trauernde ausgesetzt ist, lässt sich nicht als Mangel einer gegenwärtigen Ausdrucks­ armut bezeichnen, sondern die Ausdrucksarmut ist abschließend, endgültig, auf Dauer gestellt. Die Trauernde ist auf bisher nie da gewesene Weise dem Unversöhnlichkeitscharakter des Schweigens ausgesetzt. Trauerbegleitende werden mit dieser vierfachen Dimension des Schweigens und des Aus-derSprache-Fallens konfrontiert. Sie müssen um diese Prozesse wissen, müssen akzeptieren können, dass der Trauernden und ihren Mitmenschen Worte fehlen und dass auch ihnen selbst die Worte angesichts des Unbegreiflichen fehlen dürfen. Bei Blaise Pascal heißt es: »Es ist gut, sprachlos zu sein: Es gibt ein beredtes Schweigen, das tiefer dringt, als es die Sprache vermöchte« (zit. nach Zwierlein, 1997, S. 308). Eine Begleiterin, die sich zugesteht, dass Fragen angesichts des Todes offen, also antwortlos bleiben können und dürfen, die gemeinsam mit dem Hinterbliebenen das Unbegreifliche und Unaussprechliche des Todes teilt, die mit dem trauernden Menschen auch schweigen kann und dieses Schweigen geduldig erträgt, hilft ihm. Sie gibt ihm Raum, seine individuellen Reaktionen auf seine Erschütterung auszudrücken und sich seine Zeit zu nehmen, den eigenen Trauer­weg anzutreten und vielleicht langsam wieder in die Sprache zurückzukehren.

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Das Nie-wieder und der Wunsch nachzusterben

Wer einen trauernden Menschen begleitet, wird vielfach mit dem Wunsch des Nachsterbens konfrontiert. Trauerbegleiterinnen erleben dann häufig eine Verunsicherung, die Fragen aufwirft: Wie soll ich darauf reagieren? Will sich dieser Mensch vielleicht sogar selbst töten? Muss ich jetzt irgendwelche Hilfsmaßnahmen einleiten? Den Nachsterbewunsch als eine von vielen Reaktionen, als ein Trauergesicht für den Verlust zu verstehen und ihn nicht als etwas grundsätzlich Bedrohliches zu empfinden, ist Aufgabe der Begleitenden. Der Mensch ist mit dem unwiederbringlichen Verlust eines nahen Angehörigen oder geliebten Freundes selbst vom Tod getroffen. Die Wahrheit und das, was sie bedeutet – »Er ist tot, für immer und ewig, und ich werde weiterleben« –, ist zwar in den Menschen eingebrochen, hat sich jedoch noch nicht ausgebreitet. Auf unterschiedlichste Weise versucht der trauernde Mensch, vor dieser Wahrheit zu flüchten und sich Schonräume zu schaffen. Und doch schafft es die Wahrheit auf unbarmherzige Weise, manchmal langsam, manchmal blitzartig, in den Menschen einzudringen und ihn gewissermaßen zu »erfüllen«. Dann kommt der Zusammenbruch, und das schmerzhaft erfahrene Nichts wird durchdekliniert: »Ich weiß nichts mehr. Es ist nichts mehr. Es ist aus. Es ist vorbei. Es ist am Ende. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich bin nicht mehr.« Das paradoxe Erleben des Nichts ruft im Zurückbleibenden häufig die Formulierung »Am liebsten wäre ich tot« hervor. Begleitende müssen wissen, dass diese Aussage fast immer als eine Bekundung der Sinnlosigkeit des Nichts zu verstehen ist. Trauerbegleitende müssen es aushalten, dass die Trauernde an dieser tiefsten Stelle ihres Schmerzes verharren darf, nichts vortäuschen muss, keine Masken aufsetzen muss, kein Theater spielen muss. Dies ist schwer, manchmal fast nicht aushaltbar, und doch ist dies ein wesentlicher Aspekt von Begleitung: da

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sein, da bleiben, durchhalten und zulassen. Begleitende berichten häufig, dass sie in der Begleitung Aussagen hören wie: »Am liebsten wäre ich auch tot«, »Ich möchte nicht mehr leben«, »Ich fühle mich wie tot« oder »Da ist kein Leben mehr in mir«. Ein trauernder Mensch drückt damit aus, wie er sein Dasein erlebt. Seine Sprache bildet seinen inneren Zustand ab, wiederholt, was er von sich weiß: »In mir ist kein Leben mehr. Mein Leben existiert nicht mehr. Alles ist starr. Tot. Ausgelöscht« (Anna Kalweit). Lenis Mutter beispielsweise präsentiert mit ihren Worten ihre innere Verfassung. Der Nachsterbewunsch als Abbild des inneren Zustands kommt auch darin zum Ausdruck, dass manche Trauernde ihren Körper vernachlässigen, sich nicht berühren lassen wollen (können), verstummen, Farben und Licht ablehnen, sich in die Isolation zurückziehen. Begrifflichkeiten wie »Erstarrung«, »tot«, »ausgelöscht« verweisen auf Bewegungslosigkeit, auf tot sein. Begleitende brauchen hier Wissen darüber, dass es nicht immer hilfreich ist, den trauernden Menschen zu berühren. Oftmals erleben Trauernde die gut gemeinte Berührung als unerträglich: »Es war, als ob sie mich gewaltsam ins Leben zerren wollten. Wie eine Reanimation nach Suizid. Dabei wollte ich doch einfach nichts mehr spüren.« (Anna Kalweit)

Trauernden Menschen in dieser Situation Verständnis und Akzeptanz für ihre manchmal kaum nachvollziehbaren Reaktionen entgegenzubringen, kann wie ein Samenkorn für das weitere Leben werden, für ihr Wieder-ins-Leben-Finden. Immer wieder drücken trauernde Menschen ihre Sehnsucht nach Einheit und Ganzheit in Bildern aus: »Ich lebe nur noch hälftig«, »Ich fühle mich wie amputiert, wie zerrissen«. Diese Aussagen sind ein Hinweis darauf, dass das Wir, das einst als Ich und Du eine Einheit, eine eigene dritte Gesamtperson, bildete,

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nicht mehr ist. Zurück bleibt ein Ich, das nicht mehr weiß, was oder wer dieses Ich ist. Gedanken wie »Ich fühle mich wie tot«, »Am liebsten wäre ich tot« oder »Ich möchte bei ihm sein« gehen über die sprachliche Wiederholung des eigenen Zustands hinaus. Diese Formulierungen verweisen auf die Sehnsucht, auf das, was fehlt, und bringen zum Ausdruck, dass die bisher empfundene Vollständigkeit verschwunden ist: »Einst war ich ganz, und diesen Zustand möchte ich wieder erreichen«, lautet das implizite Ziel des Nachsterbewunsches. Wird dieser Gedanke nicht als etwas Bedrohliches, als etwas, das nicht sein darf, bewertet, dann wird spürbar, dass der Nachsterbewunsch auch eine Form von Ehre und Respekt gegenüber dem Verstorbenen ausdrückt. Wie können Begleitende nun auf den Satz »Am liebsten wäre ich auch tot« reagieren? Zunächst ist es wichtig, nicht dagegenzuhalten im Sinne von: »So etwas dürfen Sie nicht sagen« oder »Es gibt doch noch so viele Gründe, zu leben«. Auch belehrende Antworten wie »Ich mache Ihnen verständlich, warum Sie das sagen« oder »Ich erkläre Ihnen, warum dies durchaus eine nachvollziehbare Reaktion ist« sollten vermieden werden. Eine mögliche Antwort wäre: »Ja, so sehr haben Sie ihn geliebt.« Mit diesen Worten lässt die Trauerbegleiterin ein Licht aufscheinen; ein Licht, das die Trauernde in ihrem Schmerz nicht mehr erkennt, nicht erkennen kann. Eine aberkennende oder erklärende Reaktion wäre ein dürftiger Versuch, die Dunkelheit beiseitezuschieben, damit die Trauernde wieder Helligkeit erlebt. Sagt die Begleiterin jedoch: »Ja, so sehr haben Sie ihn geliebt«, dann kann die Trauernde antworten: »Ja, genau!« Mit diesem »Ja, genau« geht oft ein Seufzer der Erleichterung einher. Die Trauernde atmet tief durch, seufzt und zeigt damit, dass die Worte der Begleiterin ihr Herz berührt haben und sie sich unmittelbar verstanden fühlt: »Ja, so sehr habe ich ihn geliebt.« Der Seufzer der Erleichterung wird zum Indikator dafür, dass das Herz der Trauernden berührt wurde. Dann kann der Trauernden auch

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gesagt werden: »Das kann auch nicht anders sein. Wenn man jemanden geliebt hat und dieser durch den Tod entrissen wird, dann ist Sehnsucht da. Dann möchten Sie ihm folgen und sich wieder vereinigen. Sie wollen bei ihm sein. Es ist verständlich, dass Sie so fühlen.« Mit dem Wort »verständlich« wird das Verstehen eingeleitet: »Ja, genau!« Es scheint, als ob die Trauernde in diesem tiefen Atemzug mit ihrem Lebensatem in Berührung kommt. Sie atmet sich sozusagen aus der Todesrichtung zurück ins Leben. Vor diesem Hintergrund ist auch der Gedanke zu erspüren, dass der Trauer selbst der Trost des »Stirb und lebe« innewohnt. Körper (Atmen) und Geist (Reflektieren) geraten nun in einen Einklang. Sie sind Zeugen füreinander. Die innere Gestimmtheit der Trauernden kann dann Leben und Denken in Einklang bringen, so wie dies auch die Trauernde und die Begleiterin tun können. Leben (Atmen) und Denken (Reflektieren) in einem gemeinsamen Bezug. Es sind keine getrennten Welten. Es ist ein Denken, das aus dem Leben hervorgeht, und ein Denken, das dem Leben dient. Kommunikative Fertigkeiten und Fähigkeiten

Neben einem umfangreichen und fundierten Wissen über Trauer braucht die Begleiterin selbstverständlich auch ein Wissen über die unterschiedlichen Methoden, die ihr einen Zugang zur Innenwelt des trauernden Menschen ermöglichen. Die Herkunft des Begriffs »Methode« geht zurück auf das griechische »méthodos«, was so viel heißt wie »Weg zu etwas hin«. Die Methode ist demnach die Art und Weise, wie eine Trauerbegleiterin etwas tut, um ein definiertes gemeinsames Ziel zu erreichen. Hier soll als ein grundlegender Weg zum trauernden Menschen das Thema »Kommunikation« in den Mittelpunkt gestellt werden. Kommunikation bedeutet so viel wie »teilen, gemeinsam machen, verbinden«. Kommunikation verweist demnach grundsätzlich auf Zweiheit, die zur Einheit strebt. Daneben steht der bereits

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zitierte Gedanke von Kurt Tucholsky: »Wie reden Menschen miteinander? Meist aneinander vorbei.« Das heißt, Kommunikation will verbinden und kann doch entzweien, also misslingen. Deshalb soll im Folgenden da, wo Verbindung gelingt, wo nicht aneinander vorbeigeredet wird, von »gelingender« Kommunikation gesprochen werden. Gelingende Kommunikation schafft Brücken, überwindet Brüchigkeiten, erzeugt Verbindung und ermöglicht Verstehen. »Der Mensch wird am Du zum Ich«, heißt es bei Martin Buber. Der Mensch ist auf das Gegenüber – auf den Anderen – angewiesen. Er muss, um sich selbst erkennen und entwickeln zu können, um Sachverhalte zu erfassen, Geschehnisse einzuordnen, Sinnzusammenhänge zu verstehen, kommunizieren. Ergänzen wir dies durch den Gedanken von Virginia Satir, dass »Kommunikation […] für eine Beziehung genauso wichtig wie das Atmen fürs Leben« ist (1989, S. 34), dann wird deutlich, dass gelingende Kommunikation ein Lebens-Mittel ist, das den Menschen in Kontakt mit dem Anderen, mit der Welt, mit sich selbst und seinen Ressourcen bringen kann. Doch was ist nun der goldene Schlüssel zur gelingenden Kommunikation? Wissenskompetente Begleiterinnen sind vertraut mit den kommunikativen Kernelementen: Zuhören, Resümieren und Fragen. Das natürliche Zusammenspiel dieses Trios soll als »Kunst«, als Fertigkeit der Begleitenden den Begleitprozess kontinuierlich fundieren. »Richtiges« Zuhören bedeutet – verkürzt gesprochen – eine aufnahmebereite Hinwendung zum Gegenüber, die auch als »Momo-Haltung« oder »ganz Ohr sein« bezeichnet werden kann. In Michael Endes Roman »Momo« heißt es: »Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. […] Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten« (Ende, 1973, S. 14 f.). Indem eine Begleitende sich in

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die Momo-Haltung einfühlt oder anders gesagt »ganz Ohr« ist, versetzt sie sich in die Lage, das Gesprochene zu erfassen und gleichzeitig ein Ohr für Hintergründe, Unausgesprochenes und Zwischentöne zu entwickeln. Der Vorgang des Resümierens kann als eine besondere Form des Zuhörens verstanden werden, mit dem die Begleitende dem trauernden Menschen aufzeigt, was sie und wie sie etwas verstanden hat, um dann wieder zuhören und erneut Fragen stellen zu können. Das wechselhaft stattfindende Zuhören und Resümieren stellt sicher, dass die Begleitende nicht nach ihren eigenen Vorstellungen, Bewertungen und Absichten begleitet; es verhindert, dass sie einer »inneren Tagesordnung« (Müller, 2004, S. 55) folgt, und ermöglicht, das zu hören und das zu verstehen, was die Trauernde tatsächlich zum Ausdruck bringen will. Bezogen auf die Begleitung ist der Aspekt des Fragens – die Kunst des Fragens – ein wichtiges kommunikatives Kernelement. Im Verlauf dieser Ausführungen wurde deutlich, dass der trauernde Mensch seinem Wesen nach ein Fragender ist (siehe Kapitel I.5: »Leben in einer Fragewelt«). Er hat nicht nur Fragen, sondern er selbst ist eine Frage. Im Gespräch sollte daher möglichst viel Platz für Fragen sein. Fragen, die an die Trauernde gerichtet werden, sollten tunlichst direkt anknüpfen an dasjenige, was der Mensch gerade äußert, wobei die Begleiterin durchaus auch auf die Inhalte eingehen sollte, die nicht explizit ausgesprochen werden, sondern zwischen den Zeilen stehen. Das heißt, die Begleitende muss in jedem Moment ganz Ohr sein, um sowohl die offenen (artikulierten) als auch die verborgenen (nicht artikulierten) Fragen zu hören. Die Herausforderung in dieser Aufgabe ist es, neben den verbalen auch die nonverbalen Äußerungen wahrzunehmen. Es ist das aufmerksame Wahrnehmen, das die richtigen Fragen ermöglicht. Fragen sollen möglichst offen gestellt werden, um einen Anknüpfungspunkt zum Gespräch zu bieten. Geschlossene Fragen verhindern das Gespräch eher und nehmen schnell

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den Charakter des Ausfragens an. Die Begleitende kann immer wieder neu Fragen anbieten und der Trauernden dadurch die Möglichkeit geben, ihre eigenen Antworten zu finden. Natürlich kann die Begleitende der Trauernden auch hier und da ein Antwortangebot machen, aber dieses darf nicht im Sinn einer fertigen Problemlösung angeboten werden. Antwortangebote müssen offen und »begehbar« formuliert sein, sodass sie der Trauernden ein Fortschreiten auf ihrem Trauerweg ermöglichen. Wenn auch in der Trauerbegleitung vom »Geist der Absichts­ losigkeit« (Müller, 2004, S. 45–57) gesprochen wird, so ist doch die beraterische Absicht der Begleitenden im Wesentlichen auf eine Frage-Antwort-Frage-Situation ausgerichtet. Die Antworten, die die Trauernde gibt, sind häufig zögerlich und manchmal von längeren Gesprächspausen begleitet. Hier ist es Aufgabe des Begleitenden, Stockungen und Schweigen auszuhalten und der Trauernden zu vermitteln, dass dies eine durchaus natürliche Reaktion auf die fremde, unbekannte Situation ist (vgl. hierzu Spiegel, 1981, S. 156). Zuhören – Resümieren – Fragen ist ein zirkulärer Prozess. Das heißt, dass die Fragen, die seitens der Begleitenden gestellt werden, zunächst eher grundlegender Natur sein sollen und je nach Antwort des trauernden Menschen zunehmend spezifischer, präziser, konkreter und damit individueller werden. Ein schönes Bild für die Bedeutsamkeit des Fragens findet sich bei Monika Müller (2004, S. 79): »Eine Frage ist eine Straße irgendwohin, eine Antwort ist ein umschließendes Haus. Mit jeder Frage setzen wir unsere Reise durch die Welt der Begriffe fort. An dem Punkt, wo wir über das Fragen fast den Verstand verlieren, fängt die Heimkehr zu uns selber an.« Die Begleitende fragt sich dort tiefer und tiefer hinein, wo sie sowohl Hemmnisse und Verdrängungen erkennt, die die Trauernde in ihrem Werdeprozess behindern, als auch dort, wo sie Potenziale und Möglichkeiten vermutet, die der Trauernden helfen, sich in der unbekannten Welt (und so auch in

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sich selbst) zurechtzufinden. Die Begleitende kann mit ihren individuell ausgerichteten Fragen eine Brücke zwischen den jeweiligen »Werdeschritten« schlagen und so die Trauernde sowohl bestätigen als auch herausfordern, ihren ureigenen Weg zu wagen. Gesprächsauszug: ANNA KALWEIT: »Letztlich ist es doch so, dass Leni tot ist und tot bleibt und ich nicht damit klarkomme.« TRAUERBEGLEITERIN: »Leni ist tot und bleibt tot, und Sie kommen nicht damit klar. Was meint ›klarkommen‹?« ANNA KALWEIT: »Na, dass ich es verstehe. Dass ich mein Leben weiterleben kann. Dass ich nicht jeden Tag denken muss, dass ich verrückt werde.« TRAUERBEGLEITERIN: »Das heißt, wenn Sie ›es‹ verstehen, dann können Sie Ihr Leben weiterleben und würden nicht denken, dass Sie verrückt werden?« ANNA KALWEIT: »Ja!« TRAUERBEGLEITERIN: »Ich greife jetzt mal drei Wörter raus, okay? ›Verstehen, weiterleben, verrückt‹. Mit welchem der drei wollen Sie sich für einen Moment beschäftigen?« ANNA KALWEIT: »Weiterleben.« TRAUERBEGLEITERIN: »Okay! Weiterleben – weiter leben – weit leben. Was fällt Ihnen dazu ein?« ANNA KALWEIT: »Hm. Die meinen alle drei was anderes. Letztlich kommt es nicht nur auf das Weiterleben an. Sondern die Frage ist doch am Ende, wie ich weiterleben werde. Vielleicht ist das mit ›weiter leben‹ gemeint. Es ist alles so eng, schnürt mir manchmal die Kehle ab und nimmt mir den Atem.« TRAUERBEGLEITERIN: »Was fällt Ihnen zu ›weit leben‹ ein?« ANNA KALWEIT: »Dazu bin ich noch nicht bereit. Das erfordert ja, dass ich mich umschaue, Dinge ausprobiere und offen bin. So weit bin ich noch nicht.« (Bei diesem Wortspiel lächelt Frau Kalweit.)

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Zusammenfassend kann an dieser Stelle gesagt werden, dass alles Wissen, das sich die Begleitende aneignet, wichtiges Handwerkzeug ist. Es macht sie zunächst zur formalen Wissenden, zur formalen Expertin. In der Begegnung mit der Trauernden jedoch muss das Wissen der Trauernden und ihrem Weg dienen. In diesem Sinn ist Begleitung immer auch ein Dienen und setzt gleichzeitig eine Art Demut voraus. Die Trauerbegleiterin ist nicht die Expertin, die Kraft ihres Wissens weiß, wo es langgeht. Dies wäre eine Haltung des »Sich-erheben-über« und würde verhindern, dass sie sich mit wahrhaftigem Interesse dem trauernden Menschen zuwendet. Im Dienen führen immer das Nichtwissen und das »Sicheinfühlen«. Philosophisch gesehen, haben Menschen die Möglichkeit, sich zu Nichtwissenden zu machen. Es ist eine Option und eine Fähigkeit des wissenden Menschen, sich zum Nichtwissenden zu machen. Indem sich die Trauerbegleiterin zur wissenden Nichtwissenden macht, sozusagen aus ihrem Wissen heraustritt, eröffnet sie einen Raum, in dem sie versucht, sich in die Situation des trauernden Menschen einzufühlen und dessen Bedürfnisse, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Ideen aufzunehmen, sodass sie mit diesem Menschen die nächsten Schritte gehen kann. Die Wissenskompetenz des trauernden Menschen

Es wurde herausgearbeitet, dass jeder Mensch ein Wissen über sein Sterbenmüssen hat – und so auch über das Sterbenmüssen des geliebten Menschen. Dies ist jedoch, so wurde deutlich, ein eher abstraktes Denkwissen, das nicht die schmerzhafte Erfahrung des existenziellen Erlebens eines »leeren Danach« vorwegnehmen kann. Ein trauernder Mensch wird plötzlich mit dem eingetretenen Tod konfrontiert. Innerhalb eines einzigen Atemzuges haucht sich das Leben des geliebten Menschen aus. Der Tod des Nächsten ist als »katastrophale Nichtungsmöglichkeit« (Zwierlein, 1989, S. 85) ins eigene Leben eingebrochen. Von

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einem Moment zum anderen wird aus der begleitenden Angehörigen (bei Krankheit) oder aus der Ehefrau (bei plötzlichem Unfall- oder Herztod) eine Zurückbleibende. Da, wo zwei Liebende in einer dritten Gesamtperson vereinigt waren, bleibt nun ein Mensch »hälftig«, einsam und verlassen zurück. Für diese Situation und für die darauffolgende Zeit stehen weder hilfreiche Strategien noch erprobtes Wissen zur Verfügung. Alles ist neu. Alles ist anders. Alles ist fremd. Alles verunsichert. Alles wirft Fragen auf. Alles wird infrage gestellt. Der zurückbleibende Mensch steht als Nichtwissender in einer ihm unbekannten Welt voll von Fremdheit. Fremdheit, so formulieren es viele trauernde Menschen, ist neben dem Nichts und der Leere das Einzige, das in Fülle vorhanden ist. Paradoxerweise gewinnen trauernde Menschen genau in diesem Nicht(s)-Erleben eine besondere Wissenskompetenz, werden auf besondere Weise zu Wissenden. Dieses Wissen wurde nicht im Studium, in einer Ausbildung oder in einem Qualifizierungsangebot erworben. Das neu gewonnene Wissen ist kein fachspezifisches Wissen »über Trauer«, sondern es ist ein Wissen, das sie im (Mit-)Erleben der Unwiderruflichkeit des Todes erfahren haben: Von einem Moment zum anderen ist der Blick des geliebten Menschen erloschen, der Atem ausgehaucht, das Herz steht still. Nichts rührt sich mehr. Er lebt nicht mehr. Alles, was jetzt in Sprache gefasst, was jetzt ausgedrückt werden kann, ist nur in der Nichtung des einst Bestehenden möglich. Wie nun soll dieses Wissen bezeichnet werden? »Es ist ein existenzielles Wissen. Es ist ein transformatives Wissen, ein Wissen, das radikal verwandelt. Es ist gespürtes Wissen, gefühlte Bedeutung. Es ist ein Wissen von und um« (Zwierlein, 2014, S. 13). Dieses Wissen unterscheidet einen trauernden Menschen in einem kaum vorstellbaren Maße von den anderen Wissenden. Die Zurückbleibende hat die Macht des Todes erfahren und ist ihr unausweichlich ausgeliefert. Sie ist eine vom Tode Berührte,

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die doch weiterlebt – weiterleben muss – und in diesem Weiterleben einen radikalen Seitenwechsel vollzogen hat. Der Seitenwechsel hat sich an der geheimnisvollen Grenze des Todes vollzogen. Das, was trauernde Menschen jetzt sehen, das, was sie jetzt wissen, ist mit dem Tod des geliebten Menschen in sie eingedrungen. Das existenzielle Wissen um die Kostbarkeit des »letzten Mals«

Natürlich lebt jeder Mensch sein Leben in einer abschiedlichen Weise. Das ganze Leben ist von erzwungenen oder selbstbestimmten Trennungen und Abschieden durchzogen. Immer gibt es etwas, von dem wir uns verabschieden müssen, und gleichzeitig gibt es im Leben immer wieder und immer noch ein Danach, wenn auch häufig in veränderter Form. In der Trennung durch den Tod – so schildern es trauernde Menschen – wird der Wert des letzten Mals erst im Nachhinein erfasst. Es gibt kein Danach mehr. Dem letzten Mal ist das Morgen entzogen. Bei Jankélé­vitch heißt es: »Das Werden schlägt einen Purzelbaum und stürzt jäh in die Inexistenz. […] Nichts-mehr-auf-immer« (2005, S. 388). Trauernde Menschen erleben »das letzte Mal« nicht nur einmal, sondern sie erleben viele letzte Male. »Das letzte Mal hat er mich angeschaut. Das letzte Mal hat er dieses Buch in der Hand gehabt. Das letzte Mal hat er mir gesagt, dass er mich liebt. Das letzte Mal habe ich seinen Atem gespürt. Das letzte Mal …« Was unterscheidet einen letzten Kuss von den unzähligen Küssen zuvor? Er ist ein Kuss wie jeder andere auch, und doch ist er gleichzeitig der ganz andere, da er der letzte war. Die Beschreibung des »letzten Mals« geht immer mit einer Fassungslosigkeit daher, wurde es doch erst im Nachhinein als letztes Mal erkannt. Jedes Letzte-Mal-Empfinden ist schmerzhaft und entzieht der Zurückbleibenden den Boden, verweist es doch darauf, dass der Tod Realität ist. Es gibt kein Nochmal mehr. Gleichzeitig ist an der Sprache erkennbar, dass das letzte Mal noch in

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der Erfahrungswelt des Lebens stattgefunden hat. Der Tod ist eine Terra incognita, ein unbekanntes Land, und kann damit nicht in Sprache gefasst werden. Was diesseits der Sprache ist, ist in gewissem Sinn auch diesseits der Erfahrung, und so formuliert Marianne Mischke: »Die menschliche Sprache bezieht sich hauptsächlich auf gemachte Erfahrungen. Da der Tod die totale Verhältnis- und Beziehungslosigkeit ist, liegt er außerhalb der menschlichen Erfahrung, die weitergegeben werden kann« (1996, S. 15). Der Tod ist jenseits menschlicher Erfahrungswelt, setzt somit dem semantischen Vermögen der Worte Grenzen und bringt die Trauernde ans Ende ihrer Ausdrucksfähigkeit. Im Danach kann die Zurückbleibende das nicht mehr Mögliche nur noch als ausgedrückte Negativität beschreiben: »Nie mehr wird er mich anschauen. Kein Buch wird er mehr in die Hand nehmen. Nie mehr wird er mir sagen, dass er mich liebt. Nie mehr werde ich seinen Atem spüren.« Das alles wurde zum letzten Mal erlebt. Alles, was ein trauernder Mensch jetzt noch mit Worten ausdrücken kann, ist (s)ein Vermissen dessen, was er aus dem Leben kennt. Gesprächsauszug: MARLA MEESTERS: »Wenn ich gewusst hätte, dass dies das letzte Mal ist, dass er mir einen Zettel geschrieben hat, so wäre ich sorgfältiger damit umgegangen. Jetzt suche ich diesen Zettel und kann an nichts anderes denken. Es war das letzte Mal, dass er mir geschrieben hat. Es macht mich verrückt, dass dieser Zettel weg ist.« TRAUERBEGLEITERIN: »Erinnern Sie sich noch, was auf dem Zettel stand?« MARLA MEESTERS: »Ja klar.« TRAUERBEGLEITERIN: »Mögen Sie es mir sagen?« MARLA MEESTERS: »Er hatte das Zettelchen geschrieben nach der letzten Chemotherapie. Ich war nicht zu Hause. Als ich

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wiederkam, lag der Zettel auf dem Küchentisch: ›Hallo Schatz, ich habe mich hingelegt. Wecke mich, wenn du nach Hause kommst. XXX.‹ Die dreimal X standen immer für ›Ich küsse dich‹.« TRAUERBEGLEITERIN: »Und jetzt hätten Sie diesen Zettel gerne, um es noch Schwarz auf Weiß zu haben?« MARLA MEESTERS: »Nein. Ich weiß ja, was drauf stand. Doch es war das letzte Mal, dass er dies geschrieben hat, und das macht mich fertig.« TRAUERBEGLEITERIN: »Was genau macht Sie daran fertig?« MARLA MEESTERS: »Na ja. Ich wusste ja nicht, dass es der letzte Zettel war.« TRAUERBEGLEITERIN: »Geht Ihr Verrücktwerden um den letzten Zettel als Papier oder geht es vielleicht auch darum, dass es kein ›Nochmal‹ gibt?« MARLA MEESTERS: »Ja, genau. Es gibt kein Nochmal, und ich wusste es nicht. Ich hoffte, es geht so weiter. Jetzt ist er tot und ich stehe alleine hier und muss mich zurechtfinden. Es ist so unfair.« TRAUERBEGLEITERIN: »Ich höre: alleine, zurechtfinden, unfair. Welcher der drei Begriffe ist gerade für Sie der Wichtigste?« MARLA MEESTERS: »Das Zurechtfinden.« TRAUERBEGLEITERIN: »Was heißt ›zurechtfinden‹ für Sie? MARLA MEESTERS: »Na ja, dass ich irgendwann wieder weiß, wo es langgeht. Ich fühle mich manchmal wie in einer unübersichtlichen Bergwelt. Überall Schluchten und Hindernisse.« TRAUERBEGLEITERIN: »Welche Hindernisse sehen Sie denn in Ihrer realen ›Bergwelt‹?« MARLA MEESTERS: […]

In dem Gespräch wird deutlich, dass der verlorene Zettel zwar das »letzte Mal« und damit eine unersetzbare Kostbarkeit symbolisierte, dass er jedoch auf funktionaler Ebene ein Platzhalter

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für die Unsicherheit im neuen Leben war. Die Trauernde konnte sich immer auf ihren Mann verlassen. Er war ihr Wegweiser und Navigator. Jetzt, in der Unsicherheit des neuen Lebens, fehlte er ihr in doppelter Hinsicht: Als jemand, der sie bejahte, so wie sie war, und als jemand, der ihr in unsicheren Zeiten Halt, Stabilität und Richtung gab. Im weiteren Verlauf des Gesprächs konnte Marla Meesters auf der funktionalen Ebene ihre Hindernisse benennen und kleine Lösungsansätze kreieren. Zu der verlorenen Kostbarkeit des »letzten Zettels« sagte sie: »Den Zettel habe ich nicht mehr, doch die drei Mal XXX habe ich mir auf den Spiegel gemalt. Und mehrfach am Tag lese nur ich dort: ›Ich küsse dich‹, das tut gut.« Das Wissen um das Nie-wieder

Das Nie-wieder ist dadurch gekennzeichnet, dass es keinen Bezug mehr zu der gemeinsamen Welt gibt, kein gemeinsames Erleben mehr, nichts kann dieser Welt mehr hinzugefügt werden, denn der Mensch, der all dies möglich machte, wird nie wiederkommen, wie es zu Lebzeiten der Fall war. Das Nie-wieder zeigt unbarmherzig an, dass die Zukunft mit Plänen, Wünschen, Träumen und Hoffnungen gewissermaßen mitgestorben ist. Häufig formulieren trauernde Menschen dies, indem sie sagen: »Wir hatten doch noch so viel vor. Da gab es doch noch Pläne, Wünsche und Träume. Und das soll nun vorbei sein, endgültig und unwiderruflich?« Hier wird deutlich, dass sich in der fragmentarischen Bewusstwerdung des Endgültigen und Un­­widerruflichen auch der radikale Unterschied zum Sterbeprozess manifestiert, der bis zum letzten Augenblick noch von Hoffnung getragen ist, und sei sie auch noch so verzweifelt. Das mit dem eingetretenen Tod einhergehende Nie-wieder beinhaltet den unausgesprochenen Anschluss: »wie bisher«. Nie wieder können wir wie bisher miteinander leben, zusammen lachen, weinen, genießen, oder wie Fridolin Wiplinger es formuliert:

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Nie wieder können wir »Gegenwart für einander in Wort und Antwort, Blick und Anblick, Anruf und Erwiderung, Erwartung und Erfüllung« sein (1980, S. 46). Nie wieder wird es eine leibliche Begegnung geben. Der Tod des geliebten Menschen hat der Zurückbleibenden den Tod zur Grenzsituation werden lassen. Angesichts der Erfahrung, dass der geliebte Mensch nicht mehr ist, angesichts des »untilgbaren Schmerz[es] des ›nie wieder‹« (Jaspers, 1988, S. 160) hört jede Täuschung auf. Das Nie-wieder erreicht hier eine ungeahnte Tiefe, und die Zurückbleibende erfährt auf schmerzliche Weise, dass das bisher nicht für möglich Gehaltene – nämlich der verwirklichte Tod – in das eigene Dasein eingebrochen ist. Die Hinterbliebene ist jetzt der tiefen Not ihrer seelischen Ungesichertheit preisgegeben, in der alles gefährdet scheint. Jede Möglichkeit der Reversibilität ist ausgeschlossen. Der Verstorbene bleibt tot für sie wie sie für ihn: Nichts kann rückgängig gemacht werden. Es ist das Ende für alle Zeit. Schmerzhaft erlebt die Zurückbleibende hier eine Verdoppelung ihrer Einsamkeit. Da ist die Einsamkeit im Zurückgeworfensein auf das eigene Selbst, hervorgerufen durch den Einsturz alles Tragenden. Gleichzeitig wird die Einsamkeit der Vereinzelung erfahren, die bedeutet, für immer ohne diesen geliebten Menschen weiterleben zu müssen. Gesprächsauszug: MARLA MEESTERS: »Vom Kopf her weiß ich ja, dass er nie wiederkommt. Und doch, das Nie-wieder ist eine Zeitspanne, die ich mir einfach nicht vorstellen kann. Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich zur Uhr schaue und denke: ›Bald müsste er doch kommen.‹« TRAUERBEGLEITERIN: »Sie sagen, vom Kopf her wissen Sie, dass er nie wiederkommt. Und doch schauen Sie zur Uhr und denken: ›Bald müsste er kommen.‹ Schildern Sie mir doch einmal eine solche Situation.«

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MARLA MEESTERS: »Nun, beispielsweise heute. Kurz, bevor ich zu

Ihnen fuhr. Hans kam meistens gegen halb sechs nach Hause. Dann haben wir zusammen zu Abend gegessen. Wenn ich zum Sport gefahren bin, haben wir später gegessen. Heute Abend war es kurz vor halb sechs, als ich auf die Uhr schaute. Das ist so abgründig, wenn ich dann wieder verstehe, dass er nie mehr wiederkommt.« TRAUERBEGLEITERIN: »Wie darf ich mir das ›abgründig‹ vorstellen?« MARLA MEESTERS: »Nun, mir wird es dann leicht übel und ich muss mich total zusammenreißen, dass ich nicht anfange, zu weinen.« TRAUERBEGLEITERIN: »Sie wollen nicht weinen?« MARLA MEESTERS: »Na ja, davon wird es ja auch nicht besser.« TRAUERBEGLEITERIN: […] Das Wissen um das »Für-immer!«

Vladimir Jankélévitch fragt: »Kann man die Bedeutung der drei Silben für immer überhaupt erfassen?« (2005, S. 389). Der Autor selbst verneint diese Frage. Natürlich sei es möglich, diesen Gedanken rational zu erfassen. Der Mensch sei jedoch nicht in der Lage, die Konsequenz des Für-immer bis zum Ende weiterzudenken und damit die bisher für unmöglich gehaltene Ewigkeit in das eigene Denken einbrechen zu lassen. Menschliches Leben sei nicht in der Lage, sich dauerhaft mit Ewigkeit zu verbinden. Natürlich gibt es Momente, die von der Ewigkeit berührt zu werden scheinen und im Menschen das Sehnen nach Ewigkeit aufkommen lassen. Glücksmomente, Liebesmomente, da taucht plötzlich der Gedanke auf: »Möge dieser Moment doch ewig währen!« So berichtete Anna Kalweit, dass sie in dem Moment, als sie ihre Tochter Leni das erste Mal in den Armen hielt und in ihre Augen schaute, sich gewünscht habe, dieser Moment möge nie vorbeigehen. Dieser »Augen-Blick« habe sie für einen

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kurzen Moment aller irdischen Zeit enthoben, und sie habe auf einmal auf eine tiefe Art gewusst, was es heißt, einen Menschen zu lieben. Diese existenzielle Erfahrung habe sie zu einer anderen gemacht. Nochmals sei Marcel zitiert: »Einen Menschen lieben, heißt ihm sagen, du wirst nicht sterben« (1952, S. 472). Das Ja, das in der Liebe sozusagen beheimatet ist, schließt das Nein, das der Tod in unbarmherziger Unwiderruflichkeit spricht, aus. Und doch kann der Mensch nicht in diesem Ewigkeitsmoment des umfänglichen Ja bleiben. Das Leben mit all seinen Möglichkeiten und Widrigkeiten verdrängt die Ewigkeit, es schenkt dem Alltag immer wieder aufs Neue ein Danach. Hierdurch entsteht eine trügerische Gewissheit, die im Menschen eine (scheinbare) Wissenskompetenz hervorbringt, die ihm im alltäglichen Leben unhinterfragt den Weg weist. Auch Anna Kalweit wusste nahezu immer, was zu tun war. Alltagswissen stand ihr wie selbstverständlich zur Verfügung. Sie kannte sich aus. Dem Begriff »Alltagswissen« soll an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zu diesem Zweck sei hier auf das Höhlengleichnis von Platon verwiesen, mit der das siebte Buch der »Politeia« beginnt. Das Höhlengleichnis besagt, dass die Masse der Menschen auf einer niederen Erkenntnisstufe verharre und wie in einer Höhle lebe. Die Höhle versinnbildlicht bei Platon das Zuhausesein des Menschen in seiner alltäglichen Befindlichkeit. Es ist sein primärer Aufenthaltsort, in dem er wie in einem umschließenden Gehäuse gefangen lebt. Das, was er sieht und wahrnimmt, anerkennt er als das »Wahre«. Gefesselt, den Kopf geradeaus gerichtet, nimmt er die Schatten auf der Wand vor ihm als das Seiende wahr. Dann kommt es zu einem nicht gewollten, ungewünschten Befreiungsversuch innerhalb der Höhle. Dem Menschen werden die Fesseln abgenommen und er wird gezwungen, sich ins Licht zu drehen. Ihm wird gesagt, dass das, was er jetzt sieht, das, was sich ihm jetzt zeigt,

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wahrer sein solle als das bisher Gesehene. Das Licht schmerzt und blendet ihn, der Mensch will wieder zurück, will wieder in seine Fesseln, weg vom Licht. Das Unbekannte verwirrt und ängstigt. Nichts ist mehr, wie es war. Der erzwungene Aufstieg zu dem nun außerhalb der Höhle liegenden Unverborgenen geschieht mit Gewalt und erfordert vom Menschen Mut und Ausdauer, um die einzelnen Stufen des Vertrautwerdens mit dem Licht zu durchlaufen. Während des Aufstiegs muss jede Stufe gegangen, darf – vielleicht auch kann – keine Stufe übersprungen werden. Im Aufstieg beginnt der nun »Um-Gewöhnte«, das Trügerische seines bisherigen Daseins zu erkennen, und durchschaut das ganze Schattenhafte des Höhlenlebens. Er begreift und versteht, dass sein Leben einem Trugbild folgte, ein Schattendasein führte. Das neu erworbene Wissen muss nun in den Alltag übertragen werden, dies erfordert die Rückkehr in die Höhle und damit in die Finsternis. Das ist eine schwere Aufgabe, und der zurückkehrende Mensch erkennt, wie die Höhlenbewohner leben. Seine Bemühungen, die Höhlenmenschen zum Aufstieg zu bewegen, scheitern. Er kann sie nicht überzeugen, dass er das Wahre und Seiende gesehen hat. Seine Worte reichen nicht aus, sie zu überzeugen. Sie misstrauen ihm und wollen ihn wenn nötig sogar töten. Überträgt man das Gleichnis an dieser Stelle, geschieht das Töten durch den Rückzug der anderen, durch die Isolation, der der Rückkehrende nun ausgesetzt ist. Er droht, den sozialen Tod zu sterben. Ihm selbst bleibt das erfahrene Wissen, solange er es bewusst wach hält. Mit der Zeit kann dieses Wissen durch die Alltagsgestaltung und -gefangennahme wieder so weit überdeckt werden, dass er erneut beginnt, die Schatten für das Wahre zu halten. Das Höhlengleichnis stellt den Bildungsgang des Menschen von der Emanzipation (lateinisch »emancipare«: aus der Hand entlassen) bis hin zur Mündigkeit dar. Platon scheint mit diesem Gleichnis den Unterschied zwischen dem Leben

Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz   109

der Nichtwissenden und dem Leben der Wissenden, der in der unterschiedlichen Welt-Ein-Sicht besteht, zum Ausdruck zu bringen. Der zurückbleibende Mensch hat mit dem Einbruch des Todes eine Ein-Sicht in das Für-immer erhalten. Eine EinSicht, die ihm selbst bis vor dem Todeserleben verwehrt war und die die anderen Sterblichen (noch) nicht haben. Er wurde – konfrontiert mit der harten Realität des Todes – einer bedrohlichen Situation ausgesetzt. Diese löst Schmerz, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit, Machtlosigkeit, Angst und Ausweglosigkeit in ihm aus, um nur einige charakteristische Trauerfacetten zu nennen. Ihm begegnet mit dem Tod eine »über-natürliche Wirklichkeit, deren Macht und Eigengesetzlichkeit und Unerklärbarkeit« (Eliade, 1961, S. 274) den bisher unhinterfragt angenommenen und scheinbar tragenden Sinnhorizont (das Schattenspiel) gewaltsam auflöst. Halt- und orientierungslos, bar der bisherigen Fixpunkte, an denen er sowohl sich selbst als auch seine Lebensgestaltung ausrichten konnte, lebt er in einem Zustand der Zerrissenheit bzw. zwischen den beiden Polen Nicht-mehr und Noch-nicht. In diesem Sinn ist die Trauernde ein Zwischenwesen, die, gekennzeichnet durch den Status der Undefiniertheit, sich nicht nur selbst fragwürdig, sondern sich selbst zur großen Frage wird. Der hier stattfindende Sinnauflösungsprozess macht es der Zurückbleibenden nahezu unmöglich, entsprechend ihrer bisher als objektiv und gültig anerkannten Kriterien weiterzuleben (sie muss den Aufstieg wagen, die Umwendung wurde gewaltsam durch den Tod ausgelöst). Sinn suchend, getrieben von der Sehnsucht, sich ihrer Begrenzungen zu entledigen, strebt die Trauernde aus ihrer bisherigen illusionsvoll geprägten Daseins­ angepasstheit, mit der sie sich nicht länger als identisch erfährt, heraus und anerkennt dabei die damit verbundene Verantwortung. Sie möchte sich nicht länger als Opfer verstehen, sondern ihr ungewolltes Schicksal selbst in die Hand nehmen. Im Ertra-

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gen, Durchleben und Meistern der damit einhergehenden Prüfungen – die ihr u. a. in Gestalt von Unsicherheit, Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit und Ängsten unterschiedlichster Genese begegnen und sie auch über weite Strecken begleiten – muss sie ihren Weg finden. Im Aufstieg findet ein Sehenlernen, ein langsames Zu-sich-selbst-Kommen statt, das in Bezug auf vorher Gesagtes auch als überraschendes Erwachen bezeichnen werden kann: »Und dieses Sehenlernen ist zugleich eine entscheidende Veränderung und Verwesentlichung der Gesamtperson« (Zwierlein, 1989/90, S. 163). Das hier dargestellte Sehen erzwingt demnach keine Sichtbarkeit, will nicht zwanghaft aufdecken oder aufklären, sondern es ermöglicht dem Sehenden, sich auf den Weg in eine Einvernehmlichkeit mit seiner Situation und sich selbst zu machen. Beide – sowohl die Trauerbegleiterin als auch die, die trauert – haben ein unterschiedliches Wissen. Während das Wissen der Begleiterin ein eher abstraktes – natürlich auch von Erfahrung durchprägtes – Denkwissen ist, ist das Wissen der Trauernden im schmerzhaften (Mit-)Erleben des Todes in sie eingedrungen und hat sie in ihrem ganzen Sein verwandelt. Das, was die Trauernde in höchster Intimität und Singularität erfahren hat, ist uneinholbar, sie ist in ihrem Wissen »uneinholbare Expertin« geworden, und an dieses Wissen kann die Begleiterin zu keinem Zeitpunkt heranreichen. Die Erfahrung der Trauernden ist sozusagen die Hintergrundstrahlung für die Begleitgespräche. Die Akzeptanz der Begleiterin, dass sowohl sie als auch der Mensch, den sie begleitet, in unterschiedlichen Wissenswelten leben, ermöglicht es ihr, einer wesentlichen Aufgabe in der Begleitung trauernder Menschen nachzukommen, nämlich Verstehensbrücken zu bauen. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, benötigt die Begleiterin neben ihrer Rollen- und Wissenskompetenz eine dritte Kompetenz: die Menschkompetenz.

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II.2.3 Menschkompetenz

Jeder Mensch lebt, vereinfacht ausgedrückt, in zwei Welten. In der einen Welt wird geplant, organisiert, strukturiert, werden Ziele verwirklicht, Wünsche erfüllt und Routine gelebt. Abschiede werden vollzogen, Anfänge gefeiert, Zukunft ist allgegenwärtig; Fragen, die aufkommen, können beantwortet werden. Alles scheint klar. Diese Welt ist durch Alltäglichkeit, durch Alltag geprägt, in dem die Einzelne ihre eigene Art und Weise, mit der Zeit umzugehen, entwickelt und sich auf vielen Ebenen als omnipotent erlebt. Der Tod ist zwar da, jedoch als kleiner schwarzer Punkt in weiter Ferne. Dann bricht der Tod ins eigene Leben ein, vernichtet Sicherheiten und Gewissheiten, verfinstert tragfähig geglaubtes Wissen und zeigt auf unbarmherzige Weise, dass sich alles Lebendige letztlich unserer Verfügbarkeit entzieht. Dies ist die andere Welt. Es ist die Welt des Geheimnisses, die Welt des Nichtwissens und Nichtkönnens. In dieser Welt sind wir ohne Macht und müssen schmerzhaft anerkennen, dass sich alle Fragen im existenziellen Bereich einer Antwort entziehen. Während die erste Welt durch scheinbare Transparenz und Verfügbarkeit gekennzeichnet ist, zeichnet die zweite Welt sich durch Intransparenz und Unverfügbarkeit aus. In dieser Welt sind wir aufgerufen, »uns mit der zwiespältigen Endlichkeit des eigenen Lebens zwischen Macht und Ohnmacht auseinander[zu]setzen« (Brathuhn u. Zwierlein, 2012, S. 142). Menschkompetenz mit Blick auf die zwei Welten bedeutet, einen Versöhnungsweg zu gehen. Bedeutet, Wanderin zwischen den beiden Welten zu werden bzw. in jede Welt immer wieder etwas von der anderen hineinzutragen. Es bedeutet, anzuerkennen, dass nichts auf Dauer gestellt ist, dass jede Antwort provisorischen Charakter hat und das Leben an sich Experiment und Wagnis ist. Aufrecht und aufrichtig in und zwischen diesen beiden Welten zu leben, wird durch die Menschkompetenz ermöglicht. Mithilfe der Menschkompetenz verstehen wir das

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Leben auf eine tiefe Weise als ein Improvisationstheater, das den ganzen Einsatz der eigenen Persönlichkeit fordert. Sowohl intrapersonal als auch interpersonal. Kein Verstellen, keine Spielchen, kein Machtgehabe, sondern gelebte Authentizität, Integrität, Offenheit und mit Blick auf den anderen Respekt, Wertschätzung, Unvoreingenommenheit und Empathiefähigkeit. Die Menschkompetenz der Trauerbegleiterin

Nicht nur was die Rollen- und Positionskompetenz, sondern auch was die Wissenskompetenz angeht, besteht zwischen beiden – Trauerbegleiterin und Trauernde – eine natürliche Asymmetrie. Diese Asymmetrie ist an sich weder bedenklich noch bedrohlich. Sie ist einfach gegeben. Hinderlich wird sie jedoch dann, wenn dies die beiden alleinig führenden Kompetenzen in der Begleitung des trauernden Menschen sind. Dann wäre die Begleitung keine Begleitung, sondern eine Wegweisung, eine zielgerichtete Bevormundung durch die Begleiterin, ohne das Tempo, die Dynamik oder die Bedürfnisse der Trauernden zu berücksichtigen. Die Asymmetrie in den ersten beiden Kompetenzfeldern wahrzunehmen, zu erkennen und anzunehmen, ist eine Aufgabe der Begleiterin, insofern, als sie sich umstellen muss, um aus der scheinbaren Überlegenheitskompetenz in die Gestaltung in der Form des »Dienens« zu kommen. Das heißt, das, was der Begleiterin eigentlich »Macht« oder Überlegenheit ermöglicht, soll in der Begleitung dazu dienen, derjenigen, die begleitet wird, die Gestaltung ihres eigenen Weges zu ermöglichen. Das Dienen soll ganz in den Dienst der Trauernden gestellt werden. Dies erfordert einen Umschwung in der Seele der Begleiterin. Sie ist zwar mit ihrem Können, mit ihrem Wissen über Trauer dem Menschen, den sie begleitet, überlegen. Im Umschwung jedoch wird aus dem überlegenen Können ein supportives Halten oder Stützen, das für die Trauernde gleichzeitig Impuls und Provokation sein kann. Das Dienen

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der Begleiterin stellt sich also in den Dienst von Fördern und Fordern. Im Modus der Menschkompetenz reflektiert sie ihre eigene Persönlichkeit und bewegt sich jenseits allen »Werkzeugdenkens«. Eine alte Volksweisheit besagt: »Willst du anderen eine gute Gesprächspartnerin sein, dann schaue in dein eigenes Inneres hinein.« Diese Binnenschau kann nicht aus einem Methodenkoffer heraus erfolgen, kann sich keines Werkzeugwissens bedienen, sondern bedarf eines bewussten Innehaltens. In der Binnenreflexion wird der Begleiterin deutlich, dass auch sie ein Mensch mit einer eigenen Persönlichkeit und einer eigenen Biografie ist. Im Wahrnehmen ihrer eigenen Persönlichkeit erkennt sie, dass sie eine andere als ihr Gegenüber ist. Vielleicht mit mehr oder mit weniger Überschneidungen zur Trauernden, jedoch eine andere. Die Überwindung bzw. die Überbrückung der Asymmetrien zwischen Trauerbegleiterin und Trauernden setzt voraus, die Diversität von Persönlichkeitsprofilen wahrzunehmen. In diesem Kompetenzfeld geht es demnach nicht um Kommunikation als Einzelfähigkeit, die methodischer Natur ist – gutes Fragen, Resümieren, Zuhören –, sondern es geht um die Erkenntnis, dass sich hier zwei Persönlichkeiten begegnen, die möglicherweise von ihrem Typus her eher kongruent oder vielleicht auch inkongruent sind. Hierzu bedarf es seitens der Begleiterin der Fähigkeit der Anpassung an die Andersartigkeit ihres Gegenübers. Im Anpassungsprozess kann es ihr gelingen, die Kommunikationstür der Trauernden zu finden, um ihr in der Doppelstruktur von Fördern und Fordern zu begegnen und sie darin zu begleiten. Immer geht es dabei auch um das Austarieren von Nähe und Distanz. Die Begleiterin benötigt die Fähigkeit, distanzüberschreitende Brücken zur Trauernden aufzubauen und dabei immer die Logik von Fördern und Fordern im Blick zu haben. Trauer ist keine Krankheit. Trauer ist Leiden im Gesunden, ist ein Selbstheilungsprozess, und vor diesem Hintergrund darf die

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Begleitende der Trauernden auch immer etwas zumuten, darf ihr etwas anbieten, etwas aus ihr herauslocken, darf sie stimulieren und provozieren. Sie erkennt ganz bewusst die Diversität der unterschiedlichen Persönlichkeitsformen und wird auch hier zur Wissenden. Doch dieses Wissen ist kein methodisches, inhaltliches, sondern ein existenzielles. Es ist kein gelehrtes Wissen. Sie erkennt, dass den trauernden Menschen und sie viel trennt, und gleichzeitig erkennt sie auf tiefe Weise das Verbindende: »Wir sind beide Persönlichkeiten.« Indem die Begleiterin weiß, dass sie und die Trauernde unterschiedliche Persönlichkeiten sind und sich in dieser Unterschiedlichkeit begegnen, besteht wieder eine Asymmetrie. Diese Asymmetrie ist anspruchsvoller – und damit auch anstrengender – als die bisherige. Auch ihr kann nicht mit methodischem Wissen begegnet werden. Die Begleiterin muss sich selbst so ins Spiel zu bringen, dass eine Verbindung aufgebaut wird, in der sich die Trauernde mit ihrer ganz eigenen Persönlichkeit, so wie sie in diesem Moment der Begegnung ist, einbringen kann. Die Anstrengung besteht darin, dass die Begleitende sich vielleicht mehr zurückzunehmen muss, als es ihr eigenes Persönlichkeitsprofil vorsieht. Ist die Begleiterin beispielsweise aufgrund ihrer Persönlichkeitsmatrix eher extrovertiert, schnell im Ratschlagmodus und lösungsorientiert, so ist es ihre Aufgabe, aus ihrer Kernpersönlichkeit herauszutreten, ihre Komfortzone zu verlassen und sich in die Persönlichkeit ihres Gegenübers einzuschwingen. In der persönlichkeitsorientierten Kommunikation geht es nicht darum, dass sich Begleitende verstellen, sondern dass sie sich auf ihr Gegenüber einstellen. Verstellen würde bedeuten, dem anderen ein Theater vorzuspielen, von dem er nicht mal weiß, dass es ein Theater ist. Gleichzeitig impliziert Verstellen, dass der andere für unwissend gehalten wird, bis hin, dass die Begleitende die Trauernde sogar gegen deren Interessen verzweckt und instrumentalisiert. Hier gera-

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ten Begleitende schon in die Nähe der – vielfach unbewussten – Manipulation. Persönlichkeitsorientiert zu kommunizieren, sich einstellen zu können, ist eine besondere Facette der Menschkompetenz, sie ermöglicht einen Synchronisierungsprozess mit dem trauernden Menschen und erzeugt so den Gleichklang, den Gleichschritt, der ein gemeinsames Weitergehen auf dem Trauerweg ermöglicht. Als Menschkompetenz kann demnach die Fähigkeit verstanden werden, die es der Begleiterin ermöglicht, Persönlichkeitsdiversitäten zu erkennen, sich darüber in die Erlebniswelt der Trauernden einzufühlen, mit ihr im »Kon-Takt« zu sein, keine eigenen Ziele zu verfolgen, sondern der Trauernden in ihren eigenen Wegen – seien es auch empfundene Umwege, Irrungen und Wirrungen – zu folgen. Folgen heißt in diesem Sinne nicht, dass die Begleiterin hinterherläuft, dass sie alles mitmacht und gutheißt, was die Trauernde tut, sondern folgen heißt hier, zu verstehen, was gerade die Motivation der Trauernden ist, dies oder jenes zu tun bzw. dies oder jenes zu lassen. Von der Wortbedeutung her verweist »folgen« auf das Wortpaar »treu dienen«. Treue wiederum verweist auf innere Festigkeit, auf Halt, Stütze und Tragkraft, die im Dienst von Fördern und Fordern steht. Die Begleitende ist kraft ihrer Menschkompetenz sowohl haltendes und stützendes Gegenüber als auch das andere, das fremde Gegenüber. Und in dieser zugewandten Fremdheit ist sie jemand, die das Blickfeld – die perspektivische Sicht – der Trauernden anregt, stimuliert und weitet und sie – wenn nötig – auch provoziert und mit neuen Horizonten konfrontiert. Stimulieren und provozieren bedeutet auf keinen Fall, der Trauernden vorgegebene Antworten anzubieten: »Eine von außen gegebene Antwort auf eine Warum-Frage kann diese nicht nur nicht lösen, sondern sie um ein Vielfaches vergrößern« (Müller, 2004, S. 78). Immer geht es darum, sich für den Takt des anderen zu öffnen, sich darauf einzustellen und seinen

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Rhythmus zu übernehmen. Symbolisch gesprochen eröffnet die Menschkompetenz die Möglichkeit des gemeinsamen Tanzes. Dann kann Kommunikation im tiefsten Sinne der Bedeutung stattfinden, nämlich als vereinigen, verbinden und nächste Schritte gehen (vgl. hierzu Zwierlein, 2014, S. 54 f.). Ein Supervisionsbericht mit Gesprächsauszug: Constanze Dries, eine 54-jährige Trauerbegleiterin, berichtet in der Supervision, dass sie mit einer Trauernden »einfach nicht vorankomme«. Diese versperre sich allen Angeboten und lebe nur rückwärtsgewandt. Alle Versuche, sie »weiterzubringen«, schlügen fehl. Auf die Frage, wie lange die Trauernde bei ihr in der Begleitung sei, antwortet sie: »Acht Monate.« Am Anfang habe sie das alles ja verstanden, doch jetzt bewege sich »gar nichts mehr«. SUPERVISORIN: »Wohin würde ›es‹ sich denn bewegen sollen?« CONSTANZE DRIES: »Na ja, irgendwie mal vorwärts. Aber da tut

sich gar nichts.« SUPERVISORIN: »Wie sieht das denn aus, wenn sich ›gar nichts‹ tut?« CONSTANZE DRIES: »Ja, die Trauernde erzählt immer, was alles nichts mehr ist – natürlich hat sie da recht, das will ich ihr ja gar nicht absprechen –, doch sie hat sich ja auch schon was aufgebaut.« SUPERVISORIN: »Was hat sie sich denn aufgebaut?« CONSTANZE DRIES: »Nun, sie ist in eine neue Wohnung gezogen.« SUPERVISORIN: »Hm. Ist das nicht schon ein ›Vorwärts‹?« CONSTANZE DRIES: »Ja, klar. Und trotzdem, sie ist noch so verhaftet in der Vergangenheit. Ich würde ihr wünschen, dass sie auch nach vorne schaut.« SUPERVISORIN: »Können wir mal ein kleines Experiment machen?« CONSTANZE DRIES: »Ja, warum nicht?« (lacht)

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An dieser Stelle wird die Begleiterin eingeladen, sich in das Leben der Trauernden hineinzuspüren (T), um dann für die nachfolgende Übung deren Rolle einzunehmen. Die Supervisorin nimmt die Rolle der Begleiterin ein (TB). Hier folgt ein kleiner Gesprächsauszug aus der Übung. (TB)  »Ich erlebe Sie im Moment sehr rückwärtsgewandt. Was sehen Sie dort?« (T) »Alles, was nicht mehr ist.« (TB) »Was löst das bei Ihnen aus?« (T) »Schmerz und Schuld und Scham.« (TB)  »Schmerz kann ich ja verstehen. Doch warum Schuld und warum Scham?« (T)  »Na ja, ich habe das Haus verkauft. Mein Mann hing sehr daran. Nun habe ich eine kleine Wohnung. Die ist halt nicht so arbeitsintensiv. Aber ob mein Mann das gutgeheißen hätte?« An dieser Stelle wird die Übung beendet. Beide streifen die Rollen ab und setzen das Supervisionsgespräch fort. SUPERVISORIN: »Welche Gedanken haben Sie jetzt?« CONSTANZE DRIES: »Nun, vielleicht muss ich mich mehr für die Gründe ihres Zögerns interessieren und weniger nach vorne preschen wollen.« SUPERVISORIN: […] Die Menschkompetenz der Trauernden

Die Trauernde ist nach dem erlebten Tod verwundet, verletzt, verunsichert. Ihr hat sich das gezeigt, was sie zwar denkerisch erwartet, jedoch im erfahrbaren Leben niemals für möglich gehalten hat: der Tod des geliebten Menschen. Im Zerriss des Wir hat sie für einen Moment selbst hinter den Vorhang des Todes geschaut und wurde für den Bruchteil einer Sekunde von der Sterblichen zur Gestorbenen. Der Verstand gerät hier an seine Grenzen. Es werden Erklärungen gesucht, ohne sie zu fin-

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den, und die Erklärungen, die gefunden werden, sind Platzhalter für das Unverstehbare. Für das, was sich dem Begreifen, der Logik, dem Nachvollzug entzieht. Im (Mit-)Erleben des Todes hat die Trauernde sowohl eine Einsicht in die existenzielle Natur des Menschen als auch in ihr eigenes Menschsein gewonnen. Sie hat begriffen, dass es weder endgültige noch auf Dauer gestellte gültige Antworten gibt, sondern dass der Kern der menschlichen Natur (und so auch ihrer) die unaufhebbare und unbeseitigbare Fraglichkeit ist. Sie hat erfahren, dass sie als Mensch die Frage, die sie ist, und die Fragen, die sie hat, nur leben und vertiefen kann, dass ihre »Fragen […] nie, mag man noch so viele Voraussetzungen, Bedingungen, Motive des Erscheinens in der Welt angeben, beantwortbar [sind]. Jede Antwort macht [ihr, der Trauernden, S. B.] die radikale Unbeantwortbarkeit bewusst« (Jaspers, 1962, S. 121). Mit dieser erlittenen Kompetenz kommt die Trauernde in die Begleitung. Bei Zwierlein heißt es: »Der Trauernde ist ganz in die nackte Sphäre der Verzweiflung gestürzt, für die es keine wärmenden Kleider mehr gibt« (2014, S. 28). Menschkompetent begleiten heißt hier, keine wärmende Kleidung zu suchen, sondern sich sozusagen nackt mit in die Kälte zu begeben und dem Menschen in der Tiefe seines Trauerschmerzes zu begegnen. In der Abgründigkeit des Schmerzes kann alles erlernte und angesammelte Wissen, alles erprobte Können außen vor gelassen werden. Der Eintritt in die Halle des Nichtwissens, sich dem anderen zu nähern, sich auf ihn einzustellen und in seinem Tempo und Rhythmus weiterzugehen, bedeutet menschkompetent – auf Augenhöhe – begleiten. Die trennenden Asymmetrien sind hier aufgehoben. Die Trauerbegleiterin hebt in dieser Haltung ihr Expertinnentum nicht auf, sondern es ist geborgen und gesichert. In ihrem Inneren steht es auf Abruf bereit.

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II.3 Begleitkompetenz – Sei da!

Wie können die hier erörterten Wissensinhalte nun kurz und prägnant für die Praxis der Trauerbegleitung fassbar gemacht werden? Hierzu ist es hilfreich, von den Fragen der Ethik auszugehen: Was soll ich tun? Wie soll ich mich verhalten? Wie handele ich gut und richtig? Ausgehend von dem Grundgedanken, dass jeder Mensch ein Unikat ist, eine Besonderheit, eine Einzigartigkeit, muss konsequenterweise auch davon ausgegangen werden, dass die Art und Weise, wie dieser einzigartige Mensch trauert, einmalig ist. Hieraus ergibt sich wiederum die logische Schlussfolgerung, dass es zwar grundlegende Gemeinsamkeiten im Prozess des Trauerns gibt, die jedoch individuell gelebt werden. Somit kann es kein universales Begleitrezept geben, das für jede Art des Verlustes und für jeden Zurückbleibenden das richtige ist. Was wir jedoch schaffen können, ist eine Navigationshilfe, ein Orientierungsrahmen, der Begleitenden dabei hilft, trauernden Menschen auf gute und lebensförderliche Weise zu begegnen. Eine solche Orientierung kann das Akronym »SEI DA!« bieten. Üblicherweise wird ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter gebildet. Wichtig ist, dass ein Akronym immer in einer assoziativen Bedeutungsgleichheit mit den Wörtern verwendet wird, die dem Akronym zugrunde liegen: S ➢ Situation E ➢ Einfühlung I ➢ Interesse D ➢ Durchhalten A ➢ Abschied Die so entstehenden Begrifflichkeiten sollen der Trauerbegleiterin dabei behilflich sein, die eingangs gestellten Fragen – Was soll

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ich tun? Wie soll ich mich verhalten? Wie handele ich gut und richtig? – mit ihren drei Grundkompetenzen, ihrer Begleithaltung, zu beantworten. Wohin der Weg des trauernden Menschen dabei geht, wie er sich entwickelt und welche Zeit er für seinen Weg braucht, das vermag allein im »dienenden« Mitgehen dieses Weges erfahren werden. Das Akronym »SEI DA!« kann für die Trauerbegleitung in dreifacher Hinsicht hilfreich sein: 1. Bevor eine Begleiterin dem trauernden Menschen gegenübertritt, kann sie sich mit dem imperativen »Sei da!« für die gegenwärtige Situation öffnen, sich sozusagen bereitmachen für die Begegnung. 2. Während der Begleitstunde kann sie sich das Akronym und seine ihm zugrunde liegenden Wörter vergegenwärtigen, um zu prüfen, ob sie sich noch im Navigationsbereich aufhält. 3. Nach der Stunde kann sie mithilfe des Akronyms überprüfen, ob sie den Raum der Begegnung eröffnet hat und dem trauernden Menschen eine »gute Begleiterin« war. II.3.1 Situation

Der trauernde Mensch, der in die Begleitung kommt, befindet sich nahezu immer in einer Ausnahmesituation. Begleitende haben die Aufgabe, genau hinzuschauen, was das Besondere an der jeweiligen Situation des trauernden Menschen ist. Da ist zum einen die Gesamtsituation als das große Ganze, die in den Blick genommen werden muss: Was ist geschehen? Wer ist verstorben? Wie schildert der trauernde Mensch die Beziehung zum Verstorbenen? Wie waren die Umstände des Todes? Wie sind die häuslichen Verhältnisse? Welche Ressourcen stehen der Trauernden zur Verfügung? Ist sie eher introvertiert oder ex­­ trovertiert? Welche Trauerreaktionen zeigt sie? Gibt es Risiko­ faktoren? Des Weiteren, eng mit dem Begriff der Situationsprüfung verbunden, ist es unabdingbar, dass die Begleiterin sich ihrer eigenen Aufmerksamkeit und Konzentration vergewis-

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sert. Hiermit gelingt es ihr, herauszufiltern, was dieser Mensch jetzt mit diesen Worten sagt, was er vielleicht verschweigt und ob das, worüber er lange und viel redet, wirklich wichtiger ist als das, was er nur kurz und leise angedeutet hat. Zum anderen geht es um das Wahrnehmen und Erkennen der Detailsituation: Wie ist die augenblickliche Situation, im Moment der Begegnung? Was ist seit dem letzten Mal geschehen? Gibt es Veränderungen? Gibt es wiederkehrende Themen oder Fragen? Bedeutsam sind hier auch die objektiven situativen Gegebenheiten der Begleitstunde. Der Raum, die Sitzordnung, das Licht, die Temperatur, ein Telefon, das klingelt, ein Wasserhahn, der tropft, ein offenes Fenster, das lärmende Geräusche hereinträgt, können die Begleitsituation beeinflussen. Die situativen Gegebenheiten zu prüfen und so gut als möglich zu gestalten, setzt immer auch voraus, das Thema »Zeit« im Blick zu haben. Wenn für eine Begleitstunde 50 Minuten angesetzt sind, dann sollten diese auch nicht überschritten werden. Zum einen lässt die Begleitaufmerksamkeit nach Ablauf der abgesprochenen Zeit nach, und zum anderen wird dem begleiteten Menschen im Überziehen der Zeit eine wichtige Orientierungshilfe entzogen. Die subjektiv-situative Verfassung des trauernden Menschen muss wahrgenommen und für die objektiv-­situativen Gegebenheiten der Begleitsituation müssen bestmögliche Bedingungen geschaffen werden. II.3.2 Einfühlung

Trauerbegleitung heißt immer auch, der Aufgabe nachzukommen, sich in die innere und äußere Trauerwelt des zu begleitenden Menschen einzufühlen. Der äußeren Trauerwelt begegnen Begleitende, indem sie • äußere Umstände beobachten, • objektiv sind, • beschreiben,

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• erklären, • Kausalitäten herstellen, • distanziert-neutral sind. Der inneren Trauerwelt wenden sie sich zu, indem sie • engagiert nachvollziehen, • subjektiv sind, • sich hineinversetzen, • einfühlen, • mitfühlen, • sich für die innere Gefühls- und Gedankenwelt ­interessieren und engagieren. Sich in die Innenwelt des trauernden Menschen einzufühlen, sie innerlich nachzuvollziehen, findet über den engagierten Schritt des bewussten Perspektiventausches statt. Die Begleitende versucht, sich in die Erfahrungswelt der Trauernden hineinzuversetzen. Im bewussten Wahrnehmen und im gedanklichen Perspektiventausch ergänzt sie ihr (bisheriges) Wissen über die Situation der Trauernden, das sie von außen durch Beobachtung gewonnen hat, durch ein bewusstes einfühlendes, nachvollziehendes Wissen um die Situation der Trauernden. Hier verbinden sich Außensicht und Innensicht zu einer Gesamtschau, und es kann auf eine vertiefte Weise verstanden werden, was die Trauernde empfindet. Wer den Blick für das Ganze hat (Außen- und Innenperspektive), wird das Ganze sehen. Natürlich kann dies immer nur in der Annäherung geschehen. Sich auf diese Weise einzufühlen setzt voraus, dass sich die Begleitende frei macht von Absichten, Zielen, Vorurteilen und vor allem von der Annahme, zu wissen, was gut für den trauernden Menschen ist. Wir alle kennen den Satz: »Wenn ich du wäre, würde ich dies und jenes tun.« Fast immer wird der Satz aus der inneren Distanziertheit heraus und auf der Folie der eigenen Erfahrungen gesprochen.

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Die eigenen Erfahrungen auszuklammern, gewissermaßen aus ihnen herauszutreten, ermöglicht erst ein Einfühlen, das auch ein Nachvollziehen und Verstehen der Erfahrungs- und Erlebniswelt des Anderen gestattet. So ist also diese Art des Verstehens nicht als ein vorwiegend kognitiver Vorgang zu begreifen, sondern es ist ein Weg von Mensch zu Mensch, von einem Ich zu einem Du, von einem, der begleitet, zu einem, der trauert. Eine sich einfühlende Begleiterin wird es immer wieder erleben, dass trauernde Menschen das Gefühl haben, von keinem verstanden zu werden: »Niemand kann die Trauer anderer verstehen. Am ehesten ahnungsweise jemand, der selber trauert« (Rey, 1998, S. 94). Die Bereitschaft, sich einzufühlen, das »Verstehenwollen«, setzt »Menschkompetenz« voraus sowie eine ethisch geprägte und engagierte Haltung der Begleiterin, die es ihr ermöglicht, ihre eigene Innenperspektive mit der des trauernden Menschen in Kontakt, in Korrespondenz, in Resonanz und Austausch zu bringen. Einfühlen und Mitfühlen, so verstanden, signalisieren der Trauernden, dass da jemand ist, bei dem sie sich, so chaotisch, wie sie ist, mit dem, was sie fühlt und denkt – auch mit Gefühlen, die von anderen Menschen als negativ bezeichnet werden wie Ärger oder Wut –, zeigen kann und sich nicht mit und in ihrem Schmerz verstecken muss. In solchen Momenten erfährt die Trauernde grundsätzliche Anerkennung ihres Leides, indem es nicht weggeredet, beschönigt oder gar ignoriert, sondern ernst- und angenommen wird. Selbstredend bleibt hier der Vorbehalt bestehen, dass diese Art von Verstehen immer nur in der Annäherung erfolgen kann. Immer bleibt der Andere in seiner grundsätzlichen Andersheit intransparent, ein Geheimnis, und dem Fremd-Verstehen entzogen. II.3.3 Interesse

Einen Menschen gut und auf seinem Trauerweg angemessen begleiten zu können, setzt ein grundsätzliches Interesse an sei-

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nem Schicksal und seinem Leben voraus. Der Begriff »Interesse« wird häufig genutzt, um Vorlieben oder Hobbys zu beschreiben. Wahres Interesse geht jedoch weit darüber hinaus. Abgeleitet aus dem Lateinischen finden wir die Wörter »inter«, was so viel bedeutet wie »zwischen«, und »esse«, was auf »sein« verweist. So verstanden ist eine interessierte Begleithaltung zwischen-menschliche Anteilnahme, die sich bewusst von den eigenen Absichten und Intentionen frei macht, aus dem Fluss des Alltäglichen aussteigt und sich in einer Art »purer Neugier« dem trauernden Menschen zuwendet. Dabei geht es zu keiner Zeit um ein detektivisches Ausfragen oder um das Sammeln von Detailinformationen, sondern das Interesse ist darauf gerichtet, uneigennützig und wohlwollend Ein-Sichten in die Innenwelt des trauernden Menschen zu erlangen, an seinen Gedanken und Gefühlen teilzuhaben und ihn aus den gewonnenen Ein-Sichten und Erkenntnissen heraus zu begleiten. Gleichzeitig benötigt Interesse immer wieder auch eine Rückversicherung (z. B. mithilfe des Resümierens), ob sich das von der Begleiterin Wahrgenommene auch für den trauernden Menschen richtig anfühlt. Gelebtes Interesse ruft nicht selten auf der Seite der Trauernden Staunen hervor: »Da ist jemand, der interessiert sich wirklich für mich. Schaut nicht weg. Läuft nicht weg. Ich darf so sein, wie ich bin. Mit all meinen Schwächen und Defiziten.« Interessierte Begleiterinnen tragen dazu bei, dass der trauernde Mensch lernt, sich jemandem zuzumuten. Insofern kann Interesse auch als eine kreative Wirkkraft beschrieben werden. Die Begleitende ist mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme ganz bei dem, was sich ihr zeigt, was sie hört und was sie wahrnimmt. Interesse ist eine Geisthaltung, die eine Begleiterin benötigt, um ganz bei der Sache zu sein, sich einzustellen auf das Gegenüber, mit der Unvoreingenommenheitsbrille zu schauen und sich als Entdeckerin, als Spurensucherin und als Anfängerin zu verstehen.

Begleitkompetenz – Sei da!   125

II.3.4 Durchhalten

Trauer ist ein dynamischer, langwieriger, chaotischer, verwickelter, komplexer Prozess, der den zurückbleibenden Menschen mit der Abgründigkeit des eigenen und des Lebens überhaupt in Kontakt bringen kann. Es stehen ihm keine bewährten Strategien zur Verfügung, und vertrautes, hilfreiches, richtungsweisendes Wissen ist nur fragmentarisch vorhanden. Trauernde Menschen erkennen sich und ihre eigenen Reaktionen oftmals nicht wieder und reagieren darauf nicht selten mit unverhohlener Abwehr. Diese kann sich in unterschiedlichsten Gesichtern äußern: Wut, Verzweiflung, Fassungslosigkeit, Hilflosigkeit, Sprachlosigkeit und viele andere Facetten wechseln sich unberechenbar ab oder sind gefühlt gleichzeitig vorhanden. Manchmal entsteht eine Zerstörungswut, die dinglich ausgerichtet ist oder sich auch gegen andere bzw. gegen sich selbst richten kann. Mit all dem wird die Begleiterin konfrontiert. Der Aufruf »durchzuhalten« ist hier in zweifacher Weise zu verstehen. Zum einen tritt ihr die Trauer mit einer Wucht und Macht entgegen, die sie erschreckt und auch manchmal verstört. Hier berichten Begleiterinnen häufig von dem Impuls, diese Wucht abzumildern durch hilfreiche Worte, tröstende Gesten oder gut gemeinte Ratschläge. (Im privaten Bereich erleben Trauernde hier das Phänomen der Ausgrenzung: Freunde ziehen sich zurück, Straßenseiten werden gewechselt, Gespräche verstummen.) Die zweite Ebene, auf der das Durchhalten eine wichtige Rolle spielt, ist die Länge des Prozesses. Gerade am Anfang ist noch viel Verständnis für den trauernden Menschen da. Mit der Zeit – vor allem, wenn sich Erzählungen oder Verweigerungen wiederholen – entsteht der Wunsch, es möge weitergehen, vorangehen, es möge »Heilung« erfolgen. Doch Trauer ist keine Krankheit. Durchhalten meint demnach auch, unter erschwerten Bedingungen etwas fortzusetzen, es auszuhalten, mitzumachen, es bis zum Ende ertragen. Und genau hier liegt

126    Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge

die Herausforderung. Im Trauerprozess gibt es kein natürliches Ende. Es gibt ein Ende der Begleitung, dieses Ende sollte jedoch ausgerichtet sein auf den Prozess und den Zeitpunkt, an dem der trauernde Mensch wieder ein Ja zu sich und seinem Leben sprechen kann. Ein Leben, in dem er den Verstorbenen inte­ griert hat. Trauerbegleitung darf nicht ihr Ende finden, weil die Begleiterin die Wucht oder Trägheit der Trauer nicht mehr aushalten kann oder möchte. II.3.5 Abschied

Dem Thema »Abschied« ist in jeder Begleitung auf zweifache Weise Aufmerksamkeit zu schenken: 1. Mit Blick auf den trauernden Menschen ist es von Bedeutsamkeit, sich ein paar klärende Fragen zu stellen: • Habe ich geprüft, welche Abschiedserfahrungen der trauernde Mensch hat? • Habe ich den Abschied der einzelnen Begleiteinheiten gut gestaltet? • Habe ich die Aspekte gesichert, die für den weiteren Verlauf der Begleitung wichtig sind? • Habe ich einzelne Themen gut abgeschlossen? • Habe ich im Blick, dass es einen Abschied aus der Trauer­ begleitung geben muss? • Wie soll der Abschied aus der Trauerbegleitung gestaltet werden? 2. Mit Blick auf die eigene Person muss das Thema »Abschied« auch unter dem Aspekt der Selbstfürsorge betrachtet werden. Die Trauerbegleiterin stellt sich für kurze Zeit mithilfe all ihrer Kompetenzen auf das Leben des trauernden Menschen ein und geht ein Stück in dessen Leiderfahrung mit. Vor diesem Hintergrund ist es von großer selbstfürsorglicher Bedeutung, dass sie sich nicht nur am Ende einer Trauerbegleitung, sondern nach jeder Begleitstunde von der Trauern-

Begleitkompetenz – Sei da!   127

den verabschiedet und ganz bewusst wieder in ihr eigenes Leben, ihre eigene Identität »einsteigt«. Hierzu können folgende Fragen hilfreich sein: • Wie gelingt es mir selbst, mich aus der jeweiligen Trauerbegleitsituation zu verabschieden und mich meinem eigenen Leben zuzuwenden? • Welche rituellen Handlungen tun mir gut? (z. B. bewusstes Waschen der Hände nach der Begleitung, Öffnen des Fensters, Anziehen von etwas anderem, bewusste Atemübungen, eine kleine Meditation – hier sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt). Abschied erfordert Bewusstheit und Vorbereitung oder, um es mit den Worten Goethes auszudrücken: »Unvorbereitetes Wegeilen bringt unglückliche Wiederkehr« (Goethe, 1795/96, 3. Buch, 13. Kap.).

III WEGgeDANKEN

Eine Trauerbegleitung findet nicht einfach ihr Ende und ist dann vorbei. Mit dem Tod des geliebten Menschen wurde die Trauernde dem Abschied ungewollt ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund ist dem Ende einer Begleitung große Achtsamkeit zu schenken. Das Ende ist gewissermaßen der Neuanfang im veränderten Leben und muss dementsprechend gut vorbereitet werden. Ich gebe den Menschen, die ich über einen längeren Zeitraum begleitet habe, kurz vor dem Ende der Trauerbegleitung eine Aufgabe, indem ich sie bitte, sich für den Abschiedstermin zu überlegen, was ihnen in dieser Zeit besonders wichtig war, um es jetzt in der Abschiedsstunde zu sagen, zu resümieren, zu bewahren oder zu verabschieden. In diesem Buch sind zwei Frauen intensiv zu Wort gekommen: Marla Meesters und Anna Kalweit. Ihrer beider Abschluss- und Weggedanken sollen hier den Schlusspunkt setzen. An den Stellen, an denen ich etwas gesagt habe, werden Auslassungspunkte sein. Es geht jetzt nicht mehr um den Dialog, sondern darum, mit welchen Gedanken Menschen die Zwischenwelt der Trauer verlassen und eigenständig, verwandelt und mit für immer bleibenden Trauerspuren in ihrem veränderten Leben weitergehen. WEGgeDANKEN von Marla Meesters: »Sie haben gesagt, ich solle mir ein Thema überlegen, das ich am Ende dieses Weges gerne in Worte fassen möchte […]. Ich habe mich für das Thema ›Unsicherheit‹ entschieden. Diese war

WEGgeDANKEN   129

vom ersten Moment an meine ständige Begleiterin. Zunächst war sie da, als Hans gerade tot war. Es war eine Unsicherheit, die darauf fußte, dass Hans nicht tot sein kann: ›Wer das behauptet, lügt‹, habe ich gedacht. Mit der Zeit löste sich diese Unsicherheit auf. Hans war tot und blieb tot. Daran gab es nichts mehr zu rütteln. Die Unsicherheit veränderte ihre Gestalt. Jetzt erschien sie mir in den alltäglichen Herausforderungen. Da gab es so viel, was ich nicht konnte. […] Beispielsweise hatte ich keine Ahnung, wie ich alleine in ein Restaurant gehen sollte. Was sollte ich mit den Sachen von Hans machen? Seine Bettseite immer mitbeziehen? Sie abdecken? Oder ein neues Bett kaufen? Irgendwann wurde ich sicherer in der Gestaltung des Alltags. Lernte es, Entscheidungen alleine zu treffen. […] Ja, darauf war ich manchmal sogar stolz. Und doch, die Unsicherheit blieb, sie richtete sich jetzt auf die Frage: ›Wo ist Hans jetzt?‹. Ich wollte glauben, dass er an einem guten Ort ist, und dennoch blieb immer ein Rest Unsicherheit. Irgendwann sagte mir jemand im Gespräch: ›Gewissheit bekommst du nicht. Doch du kannst es glauben. Und wenn du dich dazu entscheidest, dann ist es auch so.‹ Das gab mir Sicherheit. […] Dann gab es die Unsicherheit, dass ich Hans vergessen würde. Ich konnte mich ja plötzlich nicht mehr an seine Stimme erinnern. Das war furchtbar. Unsicherheit. Wie kann das sein? Dann hörte ich ihn eines Morgens singen. Und da war sie wieder, seine Stimme. […] Jetzt erinnere ich mich immer an dieses Lied. […] ›You are my sunshine.‹ […] Ja, und heute die Unsicherheit: Werde ich das schaffen? […] Alleine weiterzugehen, mir ein Leben, mein Leben aufzubauen. […] In aller Unsicherheit ist eines sicher: Ich habe Hans geliebt und bin mit ihm die geworden, die ich bin. Hans wird immer zu mir gehören, und ich kann wieder glücklich werden. Ich schaue dankbar zurück auf die gemeinsame Zeit […]. Danke.«

130   WEGgeDANKEN

WEGgeDANKEN von Anna Kalweit:

»Ihre Aufgabe war ganz schön schwer. Es gibt so viele Themen, die mich beschäftigt haben. Wir haben mal über Licht gesprochen. […] Es war nach dem Tod von Leni so dunkel in mir, und Sie fragten mich, ob es für mich ein symbolisches Licht geben könnte. Damals ist mir nur das Lachen von Leni eingefallen. Beide Wörter fangen mit L an, haben Sie gesagt. Und dann fragten Sie, welche Wörter noch mit L anfangen, die mir einfallen würden. Das erste Wort, das mir in den Sinn kam, war Leni und das zweite Liebe. Sie haben gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, diese Wörter aufzuschreiben, sie zu sichern: Licht, Lachen, Leni, Liebe. Ich habe mir damals eine Karte gemalt und diese Wörter daraufgeschrieben. Gestern habe ich noch das Wort ›Leben‹ hinzugefügt. Diese Karte habe ich kopiert und möchte Sie Ihnen heute schenken […]. Als Danke für alles.« (siehe Abbildung 2)

Abbildung 2: Licht-Karte

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