Welterschaffung – Kunstvernichtung: Kunst in Zeiten der Bilder [Klappenbroschur ed.] 9783110680966, 9783110680904

The present is an age of images. But what becomes of a culture in which only very few pictures are still made by hand, i

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German Pages 326 [328] Year 2020

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Welterschaffung – Kunstvernichtung: Kunst in Zeiten der Bilder [Klappenbroschur ed.]
 9783110680966, 9783110680904

Table of contents :
INHALT
1. INKARNATIONSKUNST
2. ALLES KANN KUNST SEIN
3. LIEBE, LIST UND TÄUSCHUNG
4. DIS/SIMULATION
5. LOB DER OBERFLÄCHE
6. UNHUMAN ART
7. WAS VERLOREN GEHT
8. BILDBETRACHTUNG ALS KULTURTECHNIK
9. BILDER IM KOPF
10. STARKE BILDER
11. KUNSTAKTE UND BILDAKTE
12. WIEDERHOLEN, WIEDER HOLEN
13. ANHANG
Dank
Bibliographie
Bildnachweise

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Welterschaffung – Kunstvernichtung

Christiane Kruse

WELTERSCHAFFUNG – KUNSTVERNICHTUNG Kunst in Zeiten der Bilder

Gedruckt mit Unterstützung der Muthesius Kunsthochschule, Kiel

ISBN 978-3-11-068090-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068096-6 Library of Congress Control Number: 2020943497 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverdesign: Henning Reinke Berlin Einbandabbildung: Aby Warburg, Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 79 / Städel Museum, Digitale Sammlung: https://sammlung.staedelmuseum.de/de, © With permission of the Renate, Hans & Maria Hofmann Trust / Artists Rights Society (ARS), New York / VG Bild-Kunst, Bonn 2020, © Jean Arp: The Shell of Venus, 1958 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Daniel Buren: Photosouvenir, une peinture en 4 parties et lieux pour 2 collectionneurs, 1976 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 © The Warburg Institute Satz: Nicole Volz, aromaBerlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

INHALT

1 INKARNATIONSKUNST 7 2 ALLES KANN KUNST SEIN 31 3 LIEBE, LIST UND TÄUSCHUNG 63 4 DIS/SIMULATION 81 5 LOB DER OBERFLÄCHE 111 6 UNHUMAN ART 143 7 WAS VERLOREN GEHT 173 8 BILDBETRACHTUNG ALS KULTURTECHNIK 199 9 BILDER IM KOPF 221 10 STARKE BILDER 239 11 KUNSTAKTE UND BILDAKTE 265 12 WIEDERHOLEN, WIEDER HOLEN 289 13 ANHANG 311 Dank 311 Bibliographie 312 Bildnachweise 324

1  INKARNATIONSKUNST „Weißt du, welches Bild ich anschauen möchte, bis ich ins Dunkle der Blindheit eintauche?“ Orhan Pamuk, Rot ist mein Name, 1998

Fleischwerdung und Anmaßung Mit der Veröffentlichung seines anspielungsreichen Romans Soumission (Unterwerfung) provozierte der französische Schriftsteller Michel Houellebecq Anfang 2015 – am 7. Januar, genau am Tag des blutigen Anschlags von IS-Terroristen auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo in Paris – die europäische Öffentlichkeit mit der Fiktion, dass Frankreich im Jahr 2022 von einer Koalition regiert wird, an deren Spitze der charismatische Muslimbruder Ben Abbès steht.1 Der neue Staatspräsident Ben Abbès verfolgt humanistische Ideale und einen gemäßigten, kulturkonservativen Islamismus, der die Polygamie einführt und sich gegen die Emanzipation der Frau richtet. Jener Abbès besetzt die Bildungsinstitutionen des Landes mit Konvertiten. Der zum Islam konvertierte Robert Rediger wird Präsident der von den Golfstaaten fürstlich finanzierten Sorbonne und der Ich-Erzähler des Romans mit Namen François verliert seine Professur als Literaturwissenschaftler. Die islamische Regierung zeigt sich gegenüber Laizisten und Andersgläubigen liberal, verfolgt aber den Umbau der Gesellschaft nach islamischen Wertvorstellungen. Infolge dieses Umbaus ergeben sich innerfiktionale Konflikte, die die LeserInnen dazu bringen, über die realen Folgen der Aufklärung nachzudenken und mit dem Protagonisten tief in die Geschichte des Abendlandes hinabzusteigen, um den Verlust von Metaphysik und die Wertvorstellungen des Humanismus zu bedenken. Soumission gehört zur klassischen Gattung des Entwicklungsromans. Der Protagonist François befindet sich seit seiner Jugend in einer Dauerkrise, einer vergeblichen Suche nach kultureller Identität, die das zentrale Thema des Romans ist. Er hat sich den Schriftsteller Joris-Karl Huysmans zum einzigen Gegenstand seiner literaturwissenschaftlichen Forschung gewählt. Die Literatur dieses Autors der Décadence liefert die historische Folie für die im Roman diskutierte Auffassung, dass der Verlust der Metaphysik, vertreten durch die christliche Religion, für einen kulturellen Verfall der westlichen Welt in der Moderne verantwortlich gemacht werden muss. In einem Gespräch gegen Ende des Romans, kurz nach der Neugründung der Sorbonne, möchte der neue Präsident Robert Rediger François überzeugen, als Konvertit seine Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen. Er unterstellt, dass der Atheismus im Westen keine solide Grundlage

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habe. Genaugenommen gebe es sehr wenige „wahre Atheisten“, vielmehr seien diejenigen, die sich wie Dostojewskis Kirillow als Atheisten ausgeben, Humanisten, denn „[...] sie lehnten Gott ab, weil sie den Menschen an seine Stelle setzen, [...] sie hatten eine hohe Vorstellung von der menschlichen Freiheit, der menschlichen Würde“.2 In Anbetracht der unergründlichen Schöpfung und Schönheit des Universums, so Rediger weiter, gebe es keinen Anlass an der Existenz Gottes zu zweifeln. Keiner der großen Naturwissenschaftler (von Newton bis Einstein) sei Atheist gewesen, das Universum könne also nichts anderes als der Plan einer „gigantischen Intelligenz“ sein. Früher oder später würde sich diese Auffassung wieder durchsetzen, denn die intellektuelle Debatte des 20. Jahrhunderts sei auf „ ,einen Widerstreit zwischen dem Kommunismus – sagen wir, der Hardcore-Variante des Humanismus – und der liberalen Demokratie – seiner weichen Variante – beschränkt‘ .“3 Daher sei „die Rückkehr der Religion“ unvermeidlich. Allerdings gebe es kein Zurück zur christlichen Religion, die im vergangenen Jahrhundert an nichts anderem als an ihrem eigenen Untergang und damit am Untergang ihrer einst reichen Kultur gearbeitet habe. Die Epoche der Décadence Ende des 19. Jahrhunderts, so argumentiert der Roman, finde ihre Vollendung im 21. Jahrhundert: Erlösung bringe nur eine Konversion zum Islam. Zum Schluss überreicht Rediger dem Literaturwissenschaftler sein reich mit Fotos islamischer Kunst bestücktes Büchlein mit dem Titel Zehn Fragen zum Islam. Hier werde François schnell die Argumente finden, die jetzt noch zur Bekehrung fehlten. Am Ende konvertiert auch François, doch es bleibt offen, ob Frankreich eine neue kulturelle Identität in einem gemäßigten Islamismus finden wird. Im Verlauf des Gesprächs überkommt den Ich-Erzähler die Einsicht, dass auch sein Atheismus nicht wirklich begründet ist. Zu behaupten, es gebe keinen Gott, sei anmaßend. „‚Anmaßend‘“, bestätigt Rediger, „ ,ist das treffende Wort; in seinem Kern ist dem atheistischen Humanismus ein ungeheurer Hochmut, eine ungeheure Arroganz zu eigen. Und selbst die christliche Vorstellung der Fleischwerdung Gottes zeugt im Grunde von einer leicht komischen Anmaßung. Gott ist Mensch geworden ...‘ .“4 Wir sind beim Thema dieses Kapitels angekommen, das in einem Durchgang durch die Kunsttheorie und -praxis der Hautmalerei skizzieren wird, wie es zu der Dystopie in Soumission kommen konnte und welche Rolle die Kunst spielt, wenn es um Inkarnation geht.

Fleischwerden und Fleischmalen Um 1400 wurde im italienischen Frühhumanismus „incarnazione“ zu einer starken Metapher der Malerei. In einem zentralen, dem längsten Kapitel des Libro dell’Arte, das der Maler Cennino Cennini in Florenz verfasste, führt er in die Technik des Freskierens ein. Cennini überschreibt das Kapitel mit dem Titel: „Die Weise und Abfolge auf der Mauer zu arbeiten, das heißt in Fresko zu malen, und jugendliche Gesichter zu kolorieren oder inkarnieren.“5 Im Folgenden beschreibt Cennini eine Maltechnik, die er „incarnazione“ nennt, als eine Abfolge von Handgriffen, die nötig sind, um auf eine Mauer das Gesicht eines Menschen in Freskotechnik zu malen. Am Ende soll der Leser, das heißt der Schüler der Malerei, imstande sein, das beschriebene

Fleischwerden und Fleischmalen

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1  Giotto di Bondone: Kopf der Hl. Maria, Detail aus der Anbetung der Könige, 1304–06, Fresko, Padua, Scrovegni-Kapelle

Verfahren anzuwenden. Aus der Maltechnik der „incarnazione“ wird der deutsche Terminus „Inkarnat“ für gemalte Haut [frz. incarnat, ital. incarnato]. „Angenommen“, schreibt Cennini, „du möchtest an einem Tag nur einen Kopf einer Heiligen oder eines Heiligen machen, etwa der Jungfrau Maria.“6 (Abb. 1) Es wird nun erklärt, wie die Pigmente gemischt werden, wie der Kopf gezeichnet, dem Gesicht Ausdruck verliehen, Kinn und Lippen schattiert werden sollen. Zum Schluss schreibt er: „und auf diese Weise behandele mit Sachverstand das ganze Gesicht und die Hände überall dort, wo Fleisch werden [essere incarnazione] soll.“7 Der Vorgang des Malens von Haut wird von Cennini hier ausdrücklich als „incarnazione“ bezeichnet. Man lernt ferner, dass man in drei Gefäßen drei Farbtöne von „incarnazion“ benötigt, einen dunklen, einen hellen und einen mittleren Roséton. Der Zweck dieser Farbstufung ist die plastische, dreidimensionale Bildwirkung des Gesichts, für die Cennini den Begriff „rilievo“ einführt. Es geht Cennini darum, am Beispiel eines menschlichen Gesichts zu erklären, wie man die Bildfläche so behandelt, dass mit einer bestimmten Technik des Farbauftrags ein lebendiges Gesicht auf einer Wandfläche entsteht. Cennini ist der erste Kunsttheoretiker, der die Überwindung der Bildfläche mittels eines optischen Tricks beschreibt und erklärt. In der Malereipraxis des Trecento ist das im Libro dell’Arte beschriebene ein gängiges Verfahren, das der italienische Maler Giotto bereits Anfang des 14. Jahrhunderts virtuos beherrschte. In der Malereigeschichte markiert der seit Giotto praktizierte Illusionismus eine erste theoretische Vorstufe zur geometrischen Konstruktion des Bildraums mit Hilfe der Zentralperspektive.

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Die Bedeutung von Cenninis Traktat liegt also in der erstmaligen Beschreibung einer Maltechnik, deren Intention die illusionistische Nachahmung der Welt ist. Um die plastische Bildwirkung als technisches Verfahren zu beschreiben, führt der Autor Begriffe wie „ombrare“ (schattieren), „profilare“ (profilieren), „rilievo“ (Relief), „chiaro e scuro“ (hell-dunkel), „secondo la natura“ (nach der Natur) etc. ein, die es in der mittelalterlichen Kunsttraktatistik noch nicht gab. Beeinflusst wurde sein Unternehmen nachweisbar von Plinius’ Naturalis Historia, die im Kreis der Humanisten diskutiert wurde. Auch Petrarca spricht in Bezug auf seine Dichtung von Inkarnation, nämlich der Geliebten Laura, die er im Canzoniere besingt.8 Cennini stand vor der nicht geringen Aufgabe, die Terminologie eines neuen Repräsentationsverfahrens überhaupt erst zu erfinden. Dafür nimmt er einen Begriff, der erstmalig in der Theologie des 2. Jahrhunderts belegt ist. „Incarnatio“ bezieht sich auf Vers 14 im Johannesprolog: verbum caro factum est (das Wort ward Fleisch).Vermutlich war es der griechische Kirchenvater Irenäus, der in seiner Johannesauslegung das erste Mal vom „Logos, Fleisch geworden um der Menschen willen“ sprach.9 Er bildete auch das Substantiv „sarkosis“ (Fleischwerdung) und erklärte, dass das Heil für die Menschen im Sinne ihrer Teilhabe an der göttlichen Unvergänglichkeit erst durch die Menschwerdung Gottes möglich geworden sei. Die neue Terminologie gewann schnell an Bedeutung in der Liturgie der Eucharistiefeier und wurde seit dem Konzil von Nizäa in die Glaubensformel aufgenommen. Die lateinische Kirche nahm die Begriffe „incarnatio“ und „incarnari“ durch Übersetzung des Irenäus-Kommentars ebenfalls in die Liturgie der Eucharistie auf. Die Fleischwerdung des Wortes Gottes im Johannes-Evangelium bedeute die Menschwerdung Gottes in der Person Christi. Was im Alten Testament das Wort war, ist im Neuen Testament der Mensch aus Fleisch, Christus, geworden. Die Verbbildung „incarnari“ (ins Fleisch kommen) weist das Fleischwerden als einen Prozess der Verwandlung aus. Es ist der Vorgang der Wandlung des Wortes in Fleisch, der mit der materiellen Differenz von Wort und Fleisch auch eine Substanzveränderung anzeigt. Mit Inkarnation ist ferner das Sichtbarwerden des unsichtbaren Gottes in Christus bezeichnet. In der Person Christi wurde Gott real präsent. Die Inkarnation gehört zur Imago-Lehre der Theologie, denn das fleischgewordene Wort ist ein Abbild des unsichtbaren Gottes. Auch die Kirchenväter umschrieben die Inkarnation als Manifestation oder Erscheinung des Wortes, wonach das Wort Gottes in Christus sichtbar wurde. Die Theologen waren sich zu allen Zeiten darüber einig, dass die Inkarnation ein Mysterium, dass sie übernatürlich und keinem menschlichen Geist verständlich sei, sondern nur den Engeln offenbar werde. Die Menschwerdung Gottes in Christus ist somit eines der großen Fundamente der christlichen Glaubenslehre. Was aber konnte einen Maler auf der Schwelle zur Renaissance dazu bringen, einen theologischen Begriff in eine Metapher des Fleischmalens zu verwandeln? Ist es der Vorgang der Wandlung von flüssiger, amorpher Farbe in lebendige Figuren beim Malprozess, die einer Inkarnation gleichkommen soll? Ist es das Bildwerden eines Menschen auf einer leeren Wand, die Verkörperung? Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren im Akt des Malens? Petrarca schrieb in einem Sonett an der oben erwähnten Stelle des Canzoniere wörtlich: „Ich inkarniere auch nicht [né (...) incarno] mit meiner Schreibweise [meinem Schreibstift, mio

Inkarnationskunst

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stile] ihr Gesicht“,10 gemeint ist das Gesicht Lauras. Der Vers bezeichnet mit dem Verb „incarno“ die Verwandlung des inneren Bildes, das die Erinnerung von dem Gesicht der Geliebten bewahrt hat, in anschauliche Worte, die sich in Schrift konkretisieren. Die sich auf Papier in Schriftzeichen materialisierenden, mentalen Bilder versteht Petrarca im Vergleich zur Inkarnation Gottes als Defizit: „Né [...] incarno“ (ich kann nicht inkarnieren). Die Anspielung auf die Inkarnationstheologie meint hier, dass es nur Gott möglich sei, aus dem Wort Fleisch zu machen. Die Gleichung von Dichtung und Inkarnation geht bei Petrarca nicht einfach auf. Doch ein so sprachmächtiger Dichter wie Petrarca war von der Wirkung seiner Worte überzeugt, und die Selbstanzeige der Dichtung in der Inkarnationsmetapher weist auf die Verfahrensweise von Dichtung und Fleischwerdung des Wortes als ein hohes Ziel des Dichters. „Incarno“ bzw. „incarnazione“ bei Cennini und Petrarca ist folglich eine metapoetische Metapher, die das Malen bzw. Dichten als Prozess der Verkörperung, Vermenschlichung, Vergegenwärtigung umschreibt. Cennini beschreibt die Maltechnik des Freskos als einen Transfer von flüssiger, amorpher Farbmaterie in feste Formen und lesbare Bildzeichen. Die so verstandene künstlerische „creatio“ komplementiert die göttliche, indem sie im Bild das nachschafft, was Gott am Beginn der Welt einmalig initiiert hat. Deshalb beginnt der Libro dell’Arte mit dem Schöpfungsbericht der Genesis. Malen wird um 1400 als eine Epiphanie der Bildzeichen verstanden, was die intendierte Analogie zur Menschwerdung des Logos und seinem Sichtbarwerden in der Welt deutlich macht. Der Malprozess ist eine „arte“, eine Kunstfertigkeit, die mit Übung und Geschick von jedermann ausgeübt werden kann, eine Maltechnik – die Theologie dagegen bezeichnet mit Inkarnation eines der größten Mysterien des christlichen Glaubens. Die Dichotomie der Bedeutung dessen, was unter Inkarnation im 14. Jahrhundert zu verstehen sei, kann nicht größer gedacht werden. Und doch nähern sich theologische und kunsttheoretische Bedeutung an, wenn ein Maler unter „incarnazione“ die ikonische Präsenz Gottes versteht. Aus dieser Zusammenführung entsteht in unserer Kultur das, was wir „Kunst“ nennen.

Inkarnationskunst Eine Reihe von Renaissancemalern stellt den Malakt der Inkarnation jetzt in ihren Bildern dar (Abb. 2). Der legendäre, erste christliche Malers Lukas, der das Bild der Madonna malt bzw. inkarniert, inspiriert eine ganze Reihe von Malern des 15.-16. Jahrhunderts zu originellen Gemälden und Fresken, die die Rolle des Heiligenbildes, das jetzt (auch) Kunst ist, thematisieren.11 Vasaris Fresko des malenden Evangelisten Lukas in der Florentiner Kirche SS. Annunziata gehört zur künstlerischen Ausstattung der 1560 vom Bildhauer und Servitenmönch Giovanni Angelo Montorsoli gestifteten Grabkapelle für mittellose Künstler.12 In dem Lukas-Fresko werden Maria und das Kind in einer Wolke herangetragen, um Lukas für sein Gemälde auf der Staffelei ,Modell zu stehen‘. Die Wolke markiert das Visionäre der Szene, doch kontrastiert das Imaginäre der Theophanie mit der schweren körperhaften Gestalt der Madonna. Maria und das in ihrem Arm sitzende Kind scheinen wie wirklich anwesend in dem Maleratelier, während

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2  Giorgio Vasari: Lukas malt die Madonna, um 1570, Fresko, Florenz, SS. Annunziata

das vorgezeichnete Marienbild auf der Staffelei jene Transparenz und Schwerelosigkeit besitzt, die eigentlich dem Visionsbild eignet. Maria scheint mit Lukas zu reden und tippt dabei mit dem Zeigefinger auf den Rand der Bildtafel. Das Jesuskind wiederholt die rhetorische Geste wie in einem Echo, als wollten beide dem Maler Anweisungen zur Ausführung des Gemäldes geben. Lukas setzt gerade mit Malstock und Pinsel zum Malen an und hält inne, um aufmerksam zu lauschen. Der Malakt ist keine stumme Handlung, sondern muss auf geeignete Begriffe gebracht werden. Das Fresko handelt also auch von der Begriffsfindung als Voraussetzung für eine sich ausdifferenzierende Kunsttheorie. Diese verfolgte das Ziel, aus einer „ars“, dem handwerklichen Aspekt der Kunst, eine „scienza“, eine Wissenschaft, zu machen. Es ist unschwer zu erraten, mit welchen Begriffen Maria über das Gemälde, ihr Porträt, urteilt, das Lukas gerade malt. Man konnte die neueste Kunsttheorie damals in Vasaris Einleitung zu den Künstlerviten nachlesen oder in den Biografien von Raffael und Michelangelo. Neu ist hier eine Visionsmadonna, die in einer zweiten Bedeutung als Pictura, als personifizierte Malerei, auftritt und ihr Wissen an den Maler weitergibt. Lukas antwortet mit seinem Gemälde auf der Staffelei, das Produkt der Disputation zwischen theoretisch-rhetorisch argumentierender Maria/Jesuskind und geistig-manuell arbeitendem Lukas, der die Begriffe mit seiner Malerei Bild werden lässt. Die beiden Männer, die im Rücken des Lukas mit Blick auf die Staffelei und die Erscheinung in höchster Verzückung ihre Ergriffenheit äußern, antworten mit emphatischen Gesten auf das Geschehen an der Staffelei und bilden in ihrem Enthusiasmus auch bildräumlich den emotionalen Gegenpart zum theoretisch-rationalen Malakt, dessen Produkt – das Gemälde – offensichtlich darauf zielt, die Gefühlswallung, den „movimento d’animo“ vollendeter Kunst, bei seinen BetrachterInnenn zu bewirken.

Inkarnation und Bildschöpfung

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Die Bildproduktion des im Pelzkragen geistig tätigen Malers spielt sich auf der Staffelei im Zentrum des Freskos ab, während der Farbenreiber seine körperlich schwere Arbeit in einfacher Kleidung im Hinterzimmer tätigt. Die vorbereitenden Arbeiten, welche nur die Materie liefern, sind bei Vasari bereits auf eine soziale Differenz gebracht. Die bescheidenen Mal­ utensilien – Malkasten, Pinsel und die Palette mit den unscheinbaren Farbtupfen, am unteren Bildrand platziert – weiß der Maler virtuos zu handhaben, und wie durch Zauber verwandelt er die Malmaterie in Bilder. Das kleine Malkasten-Stillleben macht nur allzu deutlich, dass der rein materialtechnische Aufwand des Mediums in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Geistesleistung des Malers steht, zu seiner virtuosen Maltechnik und zum Effekt des fertigen Gemäldes auf die BetrachterInnen. Kunst und Theologie gehören zusammen, wobei der geistig inspirierende Part von den göttlichen Personen kommt, welche die Kunst damals noch legitimierten.

Inkarnation und Bildschöpfung Auch im weiteren Verlauf der Kunsttheorie wird Hautmalen als Inkarnation gedeutet.13 Giorgio Vasari liefert Mitte des 16. Jahrhunderts die folgende Beschreibung von Leonardos Mona Lisa: „Der Mund, dessen Konturen und Winkel sich im Rot der Lippen mit dem Inkarnat des Gesichts [l’incarnazione del viso] verbinden, erschien nicht gemalt, sondern wie lebendiges Fleisch [che non colori ma carni pareva veramente].“14 Der theologisch geprägte Begriff wird hier nicht mehr im Kontext der religiösen Malerei, sondern zur Beschreibung der Lebendigkeit des schon kurz nach seinem Entstehen hochgelobten Porträts der Florentiner Kaufmannsfrau Lisa del Giocondo verwendet, das Vasari wahrscheinlich nie mit eigenen Augen sah. „L’incarnazione del viso“ apostrophiert den lebendigen Schein der Malmaterie, die wie „wirkliches Fleisch“ wirkt. In Vasaris Künstlerviten taucht der Begriff nur noch elfmal auf. An seine Stelle treten die Begriffe „tinta di carne“, „colore del carne“‚ „carnigioni“ und weitere Ausdrücke, die nicht mehr theologisch konnotiert sind.15 Die Anspielung auf die Inkarnationstheologie geht in den Kunsttraktaten der Renais­sance jedoch nicht ganz verloren. Vasari greift sie auf, als er für die Entstehung von Leonardos Mailänder Abendmahl eine spöttische Anekdote erfand, welche die künstlerische Schöpfung [idea] in eine Analogie zur Fleischwerdung Gottes bringt und zugleich die Einmischung der Geistlichkeit in Angelegenheiten der Kunst geißelt, Dinge, von denen sie offensichtlich nichts versteht.16 Der Prior des Klosters, so beginnt Vasari, habe Leonardo auf „ungemein lästige Weise zur Vollendung seiner Arbeit“ gedrängt, weil der Künstler zuweilen „halbe Tage in Gedanken versunken zubrachte“. Der Maler solle so zügig mit dem Pinsel an dem Fresko arbeiten, wie diejenigen, „die den Klostergarten umzugraben hatten“. Leonardo habe daraufhin seinem Auftraggeber, dem Herzog von Mailand, erklärt, dass „sich schöpferische Menschen gerade dann am meisten mühen, wenn sie nicht arbeiten, weil sie nämlich im Geist Neues ersinnen und sich so die perfekten Ideen ausbilden, die dann die Hände zum Ausdruck bringen“. Er habe jetzt noch zwei Köpfe zu malen: „zum einen Christus, für den er nicht auf Erden nach einem

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Vorbild Ausschau halten wolle“. Es schiene ihm unmöglich, „mit der bloßen Vorstellungskraft [imaginazione] die Schönheit und Anmut zu entwerfen, die die fleischgewordene Göttlichkeit [la divinità incarnata] auszeichnen müsse“. Die Anekdote thematisiert genau das, was Vasari in seinem Lukas-Fresko in der SS. Annunziata gemalt hat (Abb. 2). Jedoch lässt er Leonardo hier demütig eine Differenz zwischen der göttlichen und der menschlichen Schöpferkraft äußern und rechtfertigt damit zugleich, dass das Haupt Christi in dem Fresko unvollendet geblieben sei. Vasari wiederholt hier nicht den Topos der vom Humanismus geprägten Kunsttheorie, wonach der Künstler ein „alter deus“ (Leon Battista Alberti) sei,17 vielmehr betont er die mentale, künstlerische Arbeit am Werk, die nichts mit Gartenarbeit und schon gar nichts mit Faulheit zu tun habe. Für den unpassenden Vergleich drohte er, als Vorbild für den Judas den „aufdringlichen und taktlosen“ Prior des Klosters zu nehmen. Noch im 17. Jahrhundert benennt Giovanni Pietro Bellori, Biograf der italienischen Barockkünstler, eine Eigenart der Fleischmalerei mit dem Begriff „incarnazione“. Demnach habe Caravaggio die Farbe von aller Schminke und Eitelkeit befreit und ihr das Blut und die Fleischfarbe [il sangue, e l’incarnazione] zurückgegeben, womit die Lebendigkeit und Natürlichkeit der Figurendarstellung gemeint ist.18 Die Kunsttheorie in der Renaissance und im Barock zieht also weiterhin eine Verbindung zur Inkarnationstheologie auf der einen und Maltechnik, Malmaterie, Bildschöpfung und Bildwirkung auf der anderen Seite.

Fleisch und Seele Erst die französische Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts markiert eine Zäsur in der Kunstgeschichte der Inkarnation. Roger de Piles vermeidet die Anspielung auf das theologische Dogma und spricht beim Fleischmalen von „carnation“ und „chair“. Mit „incarnation“ bezeichnet der Dictionaire de l’académie française 1694 ausschließlich die theologische Bedeutung der Fleischwerdung Christi, mit „incarnat“ hingegen, wie Cennini, jene Farbe, die dem Aussehen menschlicher Haut ähnelt. Diese Ausdifferenzierung hat ihren Grund. „Fleischmalen“ und „Fleischfarbe“ galt bei den Kunsttheoretikern, die im Streit über den Vorrang der Antike oder der Moderne (Querelle des Anciens et des Modernes) lagen, als modern, während die Zeichnung die Antike vertrat. Für Roger de Piles war Rubens der Maler, der mit den Farben die BetrachterInnen täuschen und verführen könne: Je gelungener der Betrug, desto größer sei der Künstler. Das ästhetische Konzept des schönen Scheins führt nun weit weg von der Kunsttheorie der Inkarnation eines Cennino Cennini. Ins Blickfeld geraten vielmehr die Emotionen, die ihre Spuren auf der Haut hinterlassen. Mit der Entdeckung des Blutkreislaufs am Anfang des 17. Jahrhunderts wächst das Interesse der Maler an einer medizinischen Forschung, die den Zusammenhang von Physiologie und Emotionen erklären will.19 Angst, so beobachtet Roger de Piles an Rubens’ Andromeda, zeige sich, wenn sich das Blut nach innen zurückzieht, auf einer blassen Haut der Extremitäten. Rubens wende eine Hautmalerei an, welche die Leidenschaften der Seele sichtbar mache (Abb. 3).

Fleisch und Seele

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3  Peter Paul Rubens: Andromeda, um 1638, Öl auf Leinwand, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie

Das Kolorit wird metaphorisch zur „Seele der Malerei“ erklärt, denn „die Seele ist die letzte Vollendung des Lebenden, das, was ihm Lebendigkeit gebe“.20 Damit ist zum einen das Argument gegen die Befürworter der Zeichnung [dessin] und der Antike gefallen. Zum anderen hält wiederum ein göttlicher Teil des Menschen, die (unsterbliche) Seele, Einzug in die Fleischmalerei. Im Grunde geht es immer noch, wie bei Cennini, um eine Maltechnik, die Lebendigkeit vortäuscht. Das gemalte, nackte Fleisch war jedoch in der Theologie der Gegenreformation wegen der Erregung von Wollust bei den Betrachtern in Verruf geraten. Eine Kunsttheorie der ,beseelten‘ Fleischmalerei half somit, die Darstellung von Haut gegen die strenge Moral der Gegenreformationstheologen zu legitimieren. Im 18. Jahrhundert verlagerte sich das Interesse der Kunsttheorie auf die empfindsame Haut. Mit „sensibilité“ definierten Mediziner wie Henri Fouquet in d’Alemberts und Diderots Encyclopédie Haut als ein empfindsames Organ, eine „toile nerveuse“. Diderot hatte in seinen Essais sur la peinture die „Wahrheit der Natur“ gegen das an der Akademie gelehrte „Studium der Gliederpuppe“ verteidigt mit ihren „Handlungen, Stellungen, mit Figuren, die nicht falscher, zugeschnittener, lächerlicher und kälter sein könnten“.21 Statt in den Louvre zu pilgern, sollen sie auf den Gassen das Leben beobachten, da werden sie die „richtigen Ideen fassen“. Das Diderot’sche Akademiestudium wäre also ganz anders konzipiert. Gezeichnet würden hier

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4  Louis Michel van Loo: Denis Diderot, 1767, Öl auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre

Frauen, Kinder, „Männer, Greise, Personen von verschiedenem Alter und Geschlechte, aus allen Ständen der Gesellschaft genommen“. Anschließend „erklärt ein geschickter Anatom [...] den abgezogenen Leichnam [écorché] und wendet dann seine Lektion auf das lebendige, belebte Nackte an“.22 Und dann kommt die Farbe: „Wer das lebhafte Gefühl der Farbe hat, heftet seine Augen fest auf die Leinwand, sein Mund ist halb geöffnet, er schnaubt (ächzt, lechzt), seine Palette ist ein Bilde des Chaos. In dieses Chaos taucht er seinen Pinsel und holt daraus das Werk der Schöpfung hervor.“ Es folgt ein Bericht dessen, was der Maler alles erschafft: Vögel, Blumen, Bäume, Tiere. Und zuletzt „steht [er] auf, entfernt sich, wirft einen Blick auf sein Werk: er setzt sich wieder, und nun werdet ihr Fleisch entstehen sehen“.23 So lautet Diderots Schöpfungsbericht. Am Werk ist das gottgleiche Genie, es inkarniert. Am Werk ist ein kühner Charakter, der seine Laune zeigen darf. Und das Schwierigste, das dieser zu bewältigen hat, ist das Fleisch, „[...] diese Mischung aus Rot und Blau, die unmerklich durch das Gelbliche dringt, das Blut, das Leben bringen den Koloristen zur Verzweiflung. Wer das Gefühl des Fleisches erreicht hat, ist schon weit gekommen, das übrige ist dagegen nichts. Tausende Maler sind gestorben, ohne das Fleisch gefühlt zu haben, tausend andere werden sterben, ohne es zu fühlen“.24 Die Verzweiflung des Koloristen ergibt sich aus dem Wechsel der Emotionen. Während der Künstler sein Modell beobachtet, verändert es sich ständig, denn es ist mit vielen, wechselnden Gedanken beschäftigt, die sich auf der Haut abzeichnen: „Erscheint mir mein Freund Grimm oder meine Sophie, dann klopft mein Herz, die Zärtlichkeit verbreitet sich über mein Gesicht, die Freude scheint mir durch die Haut zu dringen, die kleinsten Blutgefäße werden erschüttert, und die unmerkliche Farbe des lebendigen Flüssigen hat über alle meine Züge die Farbe des Lebens verbreitet. [...] Welche Qual ist nicht für sie das Gesicht des Menschen! Diese Leinwand,

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die sich rührt, sich bewegt, sich ausdehnt und so bald erschlafft, sich färbt und missfärbt, nach unendlichen Abwechslungen dieses leichten und bewegliche Hauchs, den man Seele nennt.“25 Die Aufklärung treibt die Wissenschaft der Physiologie in das Inkarnat und entfernt zugleich die theologische Bedeutung. Seele materialisiert sich in einem doppelten Sinn, einmal physiologisch und dann in der Malerei. Mit ironischer Distanz betrachtet Diderot sein Porträt des geschätzten Michel van Loo und schreibt von sich in der ersten Person (Abb. 4). Was werden seine Enkel zu diesem Bild sagen? „Liebe Kinder, ich sage euch: das bin ich nicht! Ich hatte an einem Tag hundert verschiedene Physiognomien, je nach der Sache, von der ich beeindruckt war. Ich war heiter, traurig, träumerisch, zärtlich, heftig, leidenschaftlich, begeistert; aber nie war ich so, wie ihr mich da seht.“26 Ein „wahres Porträt“ in Anbetracht der auch von Männern praktizierten Schminkpraxis zu malen, die bereits La Bruyère in seinen Caractères attackiert hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Wer sich schminkte, verbarg sein männliches Gesicht, weil er in der Hofkritik der Zeitgenossen effeminierte: „Es ist die Eigenart eines weibischen Mannes, dass er spät aufsteht, einen Teil des Tages mit seiner Toilette beschäftigt ist, sich im Spiegel anschaut, sich parfümiert, Schönheitspflästerchen platziert.“27 Wer sich wie Diderot nicht schminkte, der bereitete seinen Porträtisten Probleme: „Ich habe eine Maske,“ schreibt er über das besagte Porträt, „die den Künstler täuscht, sei es, daß zu viele Dinge in ihr verschmolzen sind, sei es, daß die Eindrücke meiner Seele zu schnell aufeinanderfolgen und sich alle auf meinem Gesicht abzeichnen, daß mich als das Auge des Malers von einem Moment zum andern nicht gleich wiederfindet und seine Aufgabe schwieriger wird, als er glaubt“, lautet die paradoxe Erklärung.28 Auf einem Porträt wollte Diderot, wie bei den Schauspielern auf der Bühne, sein natürliches Gesicht in der Maske der Kunst sehen. Die Natur habe ihm (dem Schauspieler) zwar nur „sein eigenes Gesicht“ gegeben, schreibt er in Das Paradox über den Schauspieler, er aber sei in der Lage, verschiedene Gesichter mit seiner Kunst zu erzeugen.29 Was aber hat Diderot zum Porträt gesagt, das Jean-Honoré Fragonard 1769 von ihm malte (Abb. 5)? Wir wissen es nicht und können nur vermuten, dass der Philosoph seine Maske in den nervösen Pinselstrichen besser getroffen empfand. In der Diderot’schen Kunstkritik vermittelt die Maske zwischen den Polen Natur und Kunst. Der Philosoph möchte sein Inneres, seine empfindsame, ruhelose Seele zeigen, und dazu bedarf es der Kunst einer transparenten Maske, das ist das Paradox. Eine Autodidaktin auf dem Gebiet der Malkunst, Anna Dorothea Therbusch aus Berlin, erlangte schließlich die Gunst des Kritikers. Er betraute sie mit seinem Porträt. Das Ergebnis: „ein recht ähnliches Porträt, auf dem ich nackt bis zum Gürtel bin. Es steht im Hinblick auf Kühnheit, Fleischpartien und Technik hoch über Roslin und jedem anderen Porträtmalerei unserer Akademie.“30 Er hängte es neben das von van Loo angefertigte Porträt, was nachteilig war: für van Loo. Das von Therbusch gemalte Porträt ist nur als Nachstich erhalten, der eine Porträtbüste, sehr angemessen, im Stil römischer Philosophenköpfe überliefert (Abb. 6). Seine Tochter würde es „hundertmal geküsst haben“, wenn er abwesend ist, aber wollte es nicht verderben. Die Porträtsitzung gestaltete sich überraschend: „Ich war nackt – völlig nackt. Sie malte mich, und wir plauderten mit einer Unbefangenheit und Unschuld, die der ersten Jahrhunderte würdig gewesen wären.“ Überraschend ist die Nacktheit des Philosophen, der sich

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5  Jean-Honoré Fragonard: Denis Diderot, 1769, Öl auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre

6  Pierre- François Bertonnier nach einem Gemälde von Anna Dorothea Therbusch

über „Wohlanständigkeit“, „Unschuld“, „Verderbung der Sitten“, „Geschmack“, „Fleisch“, und „Teint“ in Bezug auf die Malkunst eingehende Gedanken gemacht hat. Als er den Verdruss der Malerin Therbusch über die bedeckten Teile seines Halses bemerkt, geht er hinter den Vorhang, entkleidet sich und erscheint – alle Schicklichkeitsregeln gegenüber Frauen missachtend – in der Rolle des Akademiemodells. Es gibt für ihn zweierlei Nacktheit: „Ich sehe sie gern, aber ich vertrage es nicht, wenn man auf sie zeigt“, schreibt er über François Boucher.31 Und es gibt das Inkarnat eines Joseph-Marie Vien „mit Reinheit der Zeichnung, mit schöner Farbe, mit Weichheit und Wahrheit der Fleischpartien“.32 In der Erinnerung an die Porträtsitzung mit Frau Therbusch kommt ihm jedoch der Gedanke, dass er, als er so ganz nackt vor ihr saß, ja auch, „wenn der Zufall eingetreten wäre“, die unbeherrschbaren Körperteile hätte spüren können. Damit musste er sich abschließend, wohl an Montaignes Essay Über die Einbildungskraft denkend, noch befassen, jedenfalls theoretisch. Wie Diderot hatte Montaigne „den häufigen Ungehorsam dieses Gliedes zu rügen, das sich die Freiheit herausnimmt, gerade dann sich schamlos vorzudrängen, wenn wir keinerlei Gebrauch dafür haben [...]“.33 Wie der jüngere hatte der ältere Philosoph darüber sinniert, wie es kommt, dass unwillkürliche Bewegungen der Gesichtszüge die Gedanken enthüllen, die wir geheim halten wollen. Dank der Physiologie verstand man das jetzt alles besser. Doch die Maler und Malerinnen hatte sich damit zu plagen, wenn sie Fleisch malen sollten.

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Fleisch ohne Seele Wie geht es in Frankreich weiter mit der Fleischmalerei, und was hat das mit Houellebecqs Roman von 2015 zu tun, in dem aus Sicht eines Islamkonvertiten die göttliche Inkarnation als eine Anmaßung betrachtet wird? Wir nähern uns der Antwort im weiteren Verlauf der Geschichte. Die Abwendung der Krone von der religiösen Malerei in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Folge der Desakralisierung und Entmystifizieirung der absolutistischen Monarchie unter Ludwig XV. wirkte sich grundlegend auf das Urteil der Kunstkritik aus. Die Bekämpfung der Jansenisten durch die katholische Amtskirche, welche die Verbreitung des Jansenismus in allen Schichten der Bevölkerung nach sich zog, und der 1764 durch königliches Edikt ausgesprochene Verbot des Jesuitenordens, das die Allianz von Kirche und Krone zerbrechen ließ, sind als Ursachen für den Bedeutungsverlust der katholischen Religion ebenso benannt wie die Gottlosigkeit der Aufklärung.34 Daher schwanden die Aufträge für Kunst mit religiösen Bildthemen, zumal es auch den kirchlichen Institutionen an Geld mangelte. Religiöse Malerei wurde von privaten SammlerInnen, wenn überhaupt, vorwiegend wegen ihres Kunstwerts geschätzt. So kam es, dass der Marquis de Véri zu einem Gemälde mit der Anbetung der Könige von Fragonard ein Pendant bestellte, das sein Genie mit „einem absonderlichen Kon­ trast [beweisen wollte], ein freches und mit Leidenschaft erfülltes Bild, das unter dem Namen Der Riegel bekannt ist“ (Abb. 7).35 Der Riegel, mit dem der Liebhaber das Schlafzimmer der Geliebten versperrt, neben die Anbetung gehängt, entsprach dem avancierten Kunsturteil, das die „Zerstörung der geheiligten Gattungshierarchien“ verfolgte, wie der Direktor der französischen Kunstakademie Jean-François de Troy es forderte: Ein Genrebild soll neben einem Historienbild hängen.36 Einen säkularisierten Umgang mit der religiösen Malerei beobachtete auch JeanFrançois Marmontel in seinen Memoires angesichts der Gemälde von François Boucher: „Er hat die Anmut nicht am rechten Ort gesehen, denn er malte die Venus und die Jungfrau nach den Nymphen der Theaterkulissen; man spürt in seiner Sprache wie in seinen Gemälde die Sitten seiner Modelle und den Ton seiner Werkstatt.“37 Diderot beklagte sich über eine Heilige Jungfrau, die bei Boucher wie eine Dirne und Engel, die wie unanständige Satyrn aussehen. Beliebt bei den Salonbesuchern, verhasst bei der Geistlichkeit waren die Gemäldesujets, die schon in der Gegenreformation Anstoß erregten, insbesondere Maria Magdalena, die zu viel wollüstige Haut und kurvenreiche Formen zeigte. Die Hautmalerei spielte dabei naturgemäß eine große Rolle und war daher auch ein prominentes Kunstkriterium. Diderot bemängelte an Bouchers Inkarnat die Schminke, die er sowohl auf die Gesichter als auch das Gesäß seiner nackten Frauen malte, und empfahl als Gegenmittel die Beobachtung der Natur.38 Wenn der Maler jedoch seiner Fantasie folge, dann sei das falsch und Manier [manière]. Hinsichtlich der Erregung von sexuellen Begehren, die von nackten Frauen auf Gemälden ausgehen, machen sich die Kunstkritiker zuweilen die Moral der Geistlichen zu eigen. Angesichts der nackten Füße, Hüften, Brüste und Hintern auf Carle van Loos Die Badenden bemerkte Diderot im Salon von 1759, dass man eher von seinen eigenen Lastern als vom Talent des Malers angezogen werde. Malerei müsse die Seele berühren und nicht die Sinne, meinte auch der Begründer der Salonkritik La Font de Saint-Yenne.39 Für den Kritiker war die Kunst unter Louis XIV. das Maß

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7  Jean Honoré Fragonard: Der Riegel, um 1779, Öl auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre

und Bouchers Malerei der Gipfel einer Dekadenz der Moderne, wobei der ausgiebige Auftrag der Fleischfarbe Rosé das Hauptsymptom des Niedergangs darstellt: „Schminke ist heute der generelle Farbton fast all unserer Produktionen in der Literatur wie in der Malerei, alles ist aus der Farbe der Rosen und hält auch nicht länger.“40 Schminke wird zum Synonym des Hofs mit ihren Emporkömmlingen, insbesondere der Mätresse des Königs. Vor dem 1759 im Salon ausgestellten Gemälde Maria mit dem Jesuskind und Johannes der Täufer als Kind, das Madame de Pompadour bei Boucher bestellt hatte, bemerkte ein anonymer Kritiker: „[...] die Haltung der Jungfrau ist weder schlicht noch sittsam, sondern kokett und sinnlich. Ich frage mich, welchen Unterschied es zwischen dieser Figur und Tänzerinnen gibt; mit Ausnahme der Schminke, die nicht in einer abscheulich dicken Schicht auf ihrem Gesicht liegt, sehe ich keinen; doch wird an dieser Farbe im Rest des Bildes nicht gespart.“41 Wer dies las, wusste vermutlich, dass die Pompadour in ihrem vorherigen Leben Amateursängerin und Tänzerin war und schaute noch einmal genau hin. Die aufgeklärte Kunstkritik um 1750 hatte sich damit weit von der einst religiös motivierten Inkarnationstechnik der Malerei entfernt.

Austreibung der Seele Im Weiteren fußten die Maltechnik der Haut- bzw. Fleischmalerei dann auch auf den neuesten Erkenntnissen der Medizin. Von Inkarnation war nicht mehr die Rede. Fleisch ist demnach als ein Gewebe aus Muskeln, Fett, Blut- und Lymphgefäßen, Haut und Epidermis zusammengesetzt. Die moderne Histologie begann das Gewebe zu differenzieren und die Künstler vertieften sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Traktaten wie Anatomie des formes extérieures du corps humain (Paris 1829) in die Haut und das darunterliegende Fleisch, die zur Membran zwischen äußerer Erscheinung und dem physiologischen Innern wird.

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Zugleich zeigt sich der Einfluss des Positivismus mit seinem wissenschaftlichen Blick auf den menschlichen Körper folgenreich für das Konzept der Hautmalerei in der französischen Kunsttheorie und -praxis des 19. Jahrhunderts. Hier vollzieht sich die oben bereits angekündigte Austreibung nicht nur der Inkarnationstheologie aus dem Fleisch der Malerei, die vom Positivismus und seinem Begründer Auguste Comte philosophisch vorbereitet wurde. In seiner frühen Schrift Système de politique positive (1825) formulierte Comte das „Dreistadiengesetz“, nach dem die intellektuelle wie soziale Entwicklung des Individuums und der Menschheit gesetzmäßig und prozesshaft über drei Stadien verläuft: das theologische oder fiktive Stadium der Kindheit, das metaphysische oder abstrakte Stadium der Jugend und das wissenschaftliche oder positive Stadium des Erwachsenen. Zusammen markieren sie den Weg des menschlichen Geistes zu seiner Vervollkommnung.42 Im ersten, theologischen Stadium fragten die Menschen noch nach dem Warum ihrer Existenz und schufen sich „außerweltliche Gottheiten – in der Hoffnung, dadurch Glaubensgewissheiten zu erlangen, die sie auf Erden nicht finden können“.43 Im zweiten, metaphysischen Stadium „versuchten die Menschen, sich die Welt ohne den Rückgriff auf außerweltliche Instanzen verstehbar zu machen“.44 Im dritten, letzten tritt die Menschheit in das positive oder wissenschaftliche Stadium ein. Hier interessieren nicht mehr das Warum, sondern das Wie der Funktionszusammenhänge, das sich strikt auf Beobachtung und Erfahrung gründet. Durch die Verbindung von empirischer Beobachtung und logischem Denken ist der Mensch in der Lage, auf die Konstanz von Beziehungen zwischen den Phänomenen nach der Art von Naturgesetzen zu schließen. Aus dieser Entwicklungsgeschichte der Menschheit lässt Comte eine Rangordnung der Wissenschaften folgen, die er in seinem „Enzyklopädischen Gesetz“ formuliert. Dieses Gesetz bringt die Naturwissenschaften nach zunehmender Komplexität in die folgende Reihe: Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und zuletzt die Soziologie als Wissenschaft von höchster Komplexität. An die Stelle von Theologie, die „unfähig zum Fortschritt“, und Metaphysik, welche nicht in der Lage sei, „zur Stabilisierung der Gesellschaft beizutragen“, soll nach Auffassung von Comte der Positivismus treten, der beides vermag: „Fortschritt und Ordnung“ [progrès & ordre].45 Wolf Lepenies sieht das Jahr 1844, das Todesjahr von Clotilde de Vaux, Comtes „große[r], wenn auch unerfüllte[r] Liebe“, als Wendepunkt im Denken von Auguste Comte: „Im Positivismus bekommen jetzt Gefühle ihren Platz, die Kunst findet ihre gleichberechtigte Rolle neben der Wissenschaft, und die positivistische Bewegung wird zur Religion mit strengen Dogmen, präzisen Ritualen und einem starken Bekehrungsdrang, den der Religionsgründer auf seine Jünger zu übertragen hofft.“46 Ab 1851 wird der Positivismus eine Theokratie begründen, eine „Menschheitsreligion“: „Während die Protestanten und die Deisten immer die Religion im Namen Gottes attackierten, müssen wir, ganz im Gegenteil, letztlich Gott im Namen der Religion abschaffen“, schreibt Auguste Comte.47 Es sei hier an das berühmte Zitat erinnert, das dem Pathologen Rudolf Virchow zu Unrecht, d. h. von Seiten der Presse im „Kulturkampf “ Bismarcks gegen die katholische Kirche, in den Mund geschoben wurde: „Ich habe tausende von Leichen seziert, aber nirgendwo eine Seele gefunden.“ Virchow konterte 1877 in einer Replik vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus: „[I]ch könnte [...] sagen, es wäre mir auch nicht gelungen, den Aberglauben durch das Seziermesser zu entdecken.“48

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8  Alexandre Cabanel: Geburt der Venus, 1863, Öl auf Leinwand, Paris, Musée d’Orsay

Émile Zolas Literatur und Kunstkritik, die unter dem Epochenbegriff Naturalismus in die Literatur- und Kunstgeschichte eingegangen sind, verbinden Haut- und Fleischmalerei mit sozialpolitischen und naturwissenschaftlichen Diskursen des Positivismus. Matthias Krüger führt aus, wie sich Zolas antiaristokratische und antibürgerliche Haltung im Inkarnat der Malerei seiner Zeit wiederfindet. In Zolas Kunstkritik ist die „glatte und seidene Haut“ der Damen in den glatten Oberflächen der Gemälde gespiegelt, die er als Sinnbild einer dekadenten, akademischen Salonmalerei verachtet.49 Die Pariser Gesellschaft spaltet sich nach der Wahl der Pinsel, die sie darstellt. Statt eines feinen Dachshaarpinsels [blaireau], der die Farboberfläche der „blutarmen“ Damenporträts im Stil eines Alexandre Cabanel wie eine Puderquaste glättet, fordert Zola die Maler auf, den rauen Borstenpinsel [brosse] zu benutzten, der Spuren in der Farbmaterie hinterlässt, die Malmaterie betont, um so ein „brutales, mit genialer Grobheit bearbeitetes Bild“ zu schaffen, in dem sich das „Fleisch und Blut des Malers“ zeigt.50 Die als anämisch-glatt kritisierte Malweise der Salonmaler reduziere dagegen den Menschen auf einen „pomadisierten und fauligen Kadaver“.51 Cabanels berühmtes Gemälde Geburt der Venus (Abb. 8) ist für Zola eine „Lorette [ein leichtes Mädchen, C. K.], aber nicht aus Fleisch und Knochen – das wäre unanständig – sondern aus einer Art rosa-weißem Marzipan“.52 Die Kunstkritik, so auch Joris-Karl Huysmans, erfand lächerliche Metaphern, um die akademische Malerei zu diffamieren: „Nehmen Sie die Venus“, so beschreibt Huysmans Cabanels Gemälde, „vom Kopf bis zu den Füßen, das ist nur eine schlecht aufgeblasene ,baudruche‘ [Luftballon: auf Jahrmärkten verkaufter Ballon aus Kautschuk, C. K.]. Ohne Muskeln, ohne Nerven, ohne Blut.“53 Gefordert sei daher die Darstellung von Fleisch, wie Zola am Beispiel von Manets Gemälde Olympia erklärt, das im Salon von 1865 einen Skandal ausgelöst hatte (Abb. 9). Für eine

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9  Edouard Manet: Olympia, 1863, Öl auf Leinwand, Paris, Musée d’Orsay

­ ahre Darstellung von Leben müsse der Literat wie der Künstler „ins Fleisch eindringen“, denn w „der Blick in den Operationssaal ist [...] für diejenigen ekelhaft, die keine Liebe zur strengen Wahrheit verspüren“.54 Der Maler hatte die ursprünglich glatte Gemäldeoberfläche mit einem Borsten­pinsel nachträglich aufgeraut, sodass der Pinselstrich sichtbar ist und die Malhaut durchgängig geriffelt erscheint. Die Wahrheit liege „nicht im Gehirn, sondern im Fleisch“.55 Zola erforscht in seinem Roman Thérèse Raquin einen „merkwürdigen Fall der Physiologie“, wie ein Chirurg zergliedere er lebendige Menschen. Die Menschen, deren Erforschung Zola betreibt, sind, wie bei Manet, „brutal und mit genialer Grobheit bearbeitet“. Sie sind „allmächtig von ihren Nerven und ihrem Blute beherrscht“, „besitzen keinen freien Willen“, „sind menschliche Tiere, nichts weiter“. In ihnen wirken „die dumpfen Leidenschaften, das Drängen des Naturtriebs“, deren „Verwirrungen des Gehirns in Folge einer Nervenkrise“ Zola in Thérèse Raquin seziert. Diese aus Liebesleidenschaft mordenden Menschen hätten kein „höheres Leben“: „[E]ine Seele fehlt vollständig: [...] ich habe das so gewollt.“ Wer dem „Mechanismus des Lebens“ auf die Spur kommen wolle, dürfe sich nicht von der Oberfläche einer schönen Haut betören lassen, sondern müsse sich mit wissenschaftlichem Ethos den kruden Tatsachen der menschlichen Natur annehmen. In der physischen Verfasstheit des Menschen wohnt sein „tempérament“, das von den Nerven und seinem Blut bestimmt und damit Ursache für sein moralisches Denken und Handeln ist.

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Verlust und Rückkehr der Religion Wir nähern uns den zu Beginn anlässlich Houellebecqs Roman Soumission angestellten Überlegungen, dem Verlust von Metaphysik, den der Roman als Verlust der christlichen Religion problematisiert. Wie der von François erforschte Joris-Karl Huysmans stand sein älterer Zeitgenosse Zola im Einklang mit dem Positivismus, der metaphysische Spekulationen gegen eine auf Empirie und logisches Denken vertrauende, Fortschritt versprechende Naturwissenschaft setzte. Émile Littré, ein Nachfolger Comtes, prognostizierte, dass die Physiologie des Gehirns das metaphysische Weltbild und damit jede Religion erledigen werde. Mit der Erkenntnis der Funktionsweisen des Gehirns werden Theologie und Metaphysik auf ihre physiologischen Ursachen zurückgeführt werden. In Zolas physiologischer Kunsttheorie ist das Kunstwerk keine Äußerung des Geistes, sondern ein Produkt des Körpers: „Wie jedes Ding ist die Kunst ein menschliches Produkt, eine menschliche Absonderung; die Schönheit unserer Werke wird von unserem Körper ausgeschwitzt.“56 Daher lautet sein Urteil über Manets Olympia wie folgt: „Ich behaupte, dass dieses Gemälde wahrlich das Fleisch und Blut des Malers ist und dass er nie wieder etwas Vergleichbares erschaffen wird.“57 Aber so einfach lässt sich der Geist nicht aus der Kunst vertreiben. Im Gegenteil wird die Kunst jetzt selbst zu einem Gott, der seinen Jüngern alles abverlangt. In Zolas Künstlerroman L’Œuvre verzehrt sich der Maler Claude vor seinem Meisterwerk, unfähig es zu vollenden. Er wird wahnsinnig und erhängt sich schließlich vor dem Gemälde, für das seine Frau monatelang Modell stehen musste. In qualvollen Sitzungen hatte sie mitangesehen, wie sich gemalte Schenkel in „goldene Tabernakel“ verwandelten, ein gemalter Bauch „wie ein Gestirn erstrahlte“ und die Nacktheit „wie eine Monstranz“ leuchtete. 58 Die Malerei, die Claude im Sinne der Moderne vorantreibt, treibt ihn in die soziale Isolation und lässt ihn materiell verarmen. Doch ist sie ihm die einzig wahre Religion. Er wird der göttlichen Kunst seinen Sohn, seine Frau und sich selbst opfern, im festen Glauben, dass seine Werke ihn nicht nur überleben, sondern Unsterblichkeit erlangen werden. Houellebecqs Literaturwissenschaftler François in Soumission hat sich Joris-Karl Huysmans zu seinem Forschungsgegenstand gewählt. Huysmans Œuvre stand unter dem Eindruck von Émile Zola und dem Naturalismus seiner Zeit. Sein 1884 veröffentlichter Roman A Rebours (Gegen den Strich), der sich durch Soumission wie ein roter Faden zieht, sollte eigentlich ein naturalistischer Roman in der Nachfolge Zolas werden. Er gilt heute als „Bibel der Décadence“. Seine Hauptfigur, Jean Floressas Des Esseintes, ein neurotischer Aristokrat, flüchtet aus der Realität ins ländliche Exil und spinnt sich dort in eine artifizielle und mystische Welt voll berauschender Sinnesreize ein, die ihn an den Rand der geistigen Umnachtung bringt. Zum Schluss glaubt er, dass nur der Glaube an das Reich Gottes ihn noch erlösen könne. Und so endet das Buch mit einem Stoßgebet: „Herr, erbarme dich eines Christen, der zweifelt, eines Ungläubigen, der glauben möchte, eines Galeerensklaven des Lebens, der sich einschifft, allein in der Nacht, unter einem Firmament, das die tröstlichen Leuchtfeuer der alten Hoffnung nicht mehr erhellen.“59 Das Jenseits wird ihm zur Erlösung von der gottfernen Wirklichkeit.

Verlust und Rückkehr der Religion

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10  Schwarze Madonna von Rocamadour, Notre Dame

In Houllebecqs Soumission begibt sich François auf die Spuren dieses Autors der Décadence, der zum Katholizismus konvertierte, und folgt ihm bis in die Klöster, in denen Huysmans den Sinn seines Lebens suchte und nicht fand. Auf diese Weise gelangt er zu einem der bedeutendsten Wallfahrtsorte Frankreichs, nach Rocamadour. In der Kapelle Notre Dame gedenkt François der „Leiden und des Zweifel“ Huysmans, „an seinen verzweifelten Wunsch, sich einer Glaubensrichtung anzuschließen“.60 In Rocamadour betrachtet er die Kultstatue der Schwarzen Madonna und erfährt das „Geheimnisvolle, etwas Priesterliche und Königliche [...] die Macht“, die das Bild demjenigen verkörpert, der an sie, d. h. an die Inkarnation Gottes in der Person Christi, glaubt (Abb. 10).61 Doch während er die Staue betrachtet, spürt er, „wie er den Kontakt verliert, wie sich die Madonna in den Raum und in die Jahrhunderte zurückzieht und er selbst immer kleiner wird, immer mehr schrumpft“.62 Nach einer halben Stunde, so heißt es in Soumission, steht er auf und geht, endgültig vom Geist verlassen und auf seinen vergänglichen Körper beschränkt. Im Jahr 2022 sind die in dem Roman einem gemäßigten Islam anhängenden Angehörigen der Sorbonne derweil vom Geist ihrer selbst produzierten Dekadenz beseelt. In ihrer westlich-liberalen Gesinnung, die sie nicht aufgeben wollen, widmen sie sich allen möglichen Körperfreuden wie der Völlerei mit orientalischen Spezialitäten, dem Suff exquisiter französischer Weine und der Vielweiberei nach islamischem Vorbild. Soumission betreibt den Abgesang der Kulturgeschichte des Abendlands als Elegie und beklagt die Reste ihrer sinnlichen Schönheit, die sich nur noch in der Erinnerung des Protagonisten finden. Die Melancholie, die François über den Verlust empfindet, deckt sich mit dem Verlust von zwischenmenschlichen Beziehungen und der Leere der sexuellen Eskapaden, die der Autor pornografisch auflädt. Nadia, Es-

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cort-Girl, Muslima und Diderot-Studentin, „übte ihr Metier sehr professionell“ aus.63 Der Protagonist spürt allenfalls noch seine diversen Körperöffnungen, doch keine menschliche Haut. Die Naturwissenschaften des 21. Jahrhunderts liefern einen Gottesbeweis, ohne danach zu suchen. Einige wenige Figuren des Romans betreiben die Ursachenanalyse und sehen sie in den nationalen bzw. kolonialen Altlasten der Geschichte, der Globalisierung, der Politikverdrossenheit der Bevölkerung, die sich von den Politikern nicht mehr repräsentiert sieht, den abstrakten Machtinteressen der politische Parteien. Dass Frankreich islamistisch regiert werden wird, stellt sich als eine fast logische Konsequenz und allenfalls als Kollateralschaden dieser Entwicklung dar. Denn der Autor zeigt seinen LeserInnen listig und mit immer neuen Argumenten, wie es dazu kommen konnte. Rediger hat sich seinen Traum erfüllt und bewohnt das Haus, in dem Dominique Aury Die Geschichte der O geschrieben hat, ein, wie er findet, „faszinierendes Buch“ wegen des grandiosen und zugleich einfachen Gedankens, „dass der Gipfel des menschlichen Glücks in der menschlichen Unterwerfung besteht“.64 So wie die in der Geschichte der O beschriebene unbedingte Unterwerfung der Frau, so sei auch die im Islam angestrebte Unterwerfung des Menschen unter Gott. Und der Koran? „Ein Lob des Schöpfers und der Unterwerfung unter seine Gesetze“ und zugleich auch „die Grundidee der Poesie, eine Einheit von Klang und Sinn, die es ermöglicht, die Welt zu erzählen.“65 Houellebecqs anthropologischer Humanismus entdeckt im Fremden das Eigene und die strukturelle Gleichheit von Kulturen. So ist es nur eine Frage der Macht und ihrer Agenten, welche Kultur sich über eine andere erhebt. Dennoch ist die Botschaft des Romans für Anhänger der abendländischen Kultur nicht zynisch zu nennen – denn unter dem Abgesang der westlichen Kultur und ihrer Geschichte erscheint dieselbe noch einmal in ihrer Vielfalt, ihrer Schönheit und ihrem Reichtum, vor allem aber in einem vormaligen Vermögen sinn- und identitätsstiftend auf diejenigen zu wirken, die an sie glaubten. Allein die Literatur – dies ist die Botschaft des Romans – ist noch in der Lage den Verlust des Geistes, des göttlichen wie des menschlichen Geistes, in Worte zu fassen.

Endnoten

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Endnoten 1 Michelle Houellebecq: Soumission, Paris 2015 (dt.: Unterwerfung, aus dem Franz. von Norma Cassau und Bernd Wilczek, Köln 2015); ich zitiere im Folgenden die deutsche Übersetzung. 2 Houellebecq: Unterwerfung, S. 224; der Autor spielt auf Dostojewskis Romanfigur Alexei Kirillow in Die Dämonen an. 3 Ebd., S. 227. 4 Ebd., S. 226. 5 Zu Cenninis Traktat und zur Kunsttheorie der „incarnazione“ im italienischen Frühhumanismus Christiane Kruse: Wozu Menschen malen, München 2003, S. 175–202. 6 Ebd., S. 76. 7 „E così con sentimento ricercare tutto il viso e le mani dove ha a essere incarnazione.”, ebd., S. 78. 8 „Né col mio stile il suo bel viso incarno.“ Francesco Petrarca: Canzoniere, hg. von Ugo Dotti, Rom 1996, S. 812–813. Zur Verwendung von „incarnata“ und „incarnare“ in der Dichtung des Trecento vor Petrarca siehe Kruse: Wozu Menschen malen, S. 181–183. 9 Bjarne Scard: Die Inkarnation, Stuttgart 1958. 10 Petrarca: Canzoniere, S. 812. 11 Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, hier S. 523–532. 12 Kruse: Wozu Menschen malen, S. 225–268. 13 Daniela Bohde / Mechthild Fend (Hg.): Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte, Berlin 2007. 14 Giorgio Vasari: Das Leben des Leonardo da Vinci, neu übers. u. komm. von Sabine Feser, Berlin 2006, S. 37; Daniela Bohde: „Le tinte delle carni“. Zur Begrifflichkeit für Haut und Fleisch in italienischen Kunsttraktaten des 15. bis 17. Jahrhunderts, in: Bohde / Fend (Hg.): Weder Haut noch Fleisch, S. 41–63, hier: S. 49. 15 Siehe Bohde: „Le tinte delle carni“, S. 41–63. 16 Zit. n. Giorgio Vasari: Leonardo da Vinci, S. 29–30 und Anm. 74–76; vgl. Bode: „Le tinte delle carni“, S. 49–50. 17 Zur scholastischen Vorgeschichte des „homo secundus deus“ und der Ausarbeitung zum Topos des „artifx alter deus“ im italienischen Frühhumanismus siehe Kruse: Wozu Menschen malen, S. 155–173. 18 Giovanni Pietro Bellori: Vita di Michelangelo Merisi da Carvaggio Pittore, in: ders.: Le Vite de Pittori, Scultori ed Architetti [...], Rom 1672, I/5, hier S. 212; Marianne Koos: Haut als mediale Metapher in der Malerei von Caravaggio, in: Bohde / Fend (Hg.): Weder Haut noch Fleisch, hier S. 66, Zitat S. 80. 19 Ulrich Heinen: Haut und Knochen – Fleisch und Blut. Rubens’ Affektmalerei, in: Ulrich Heinen / Andreas Thielemann (Hg.): Rubens Passioni. Kultur der Leidenschaften im Barock, Göttingen 2001, S. 81–109. 20 „L’ame de la Peinture est le Coloris. L’ame est la derniere perfection du vivant, & ce qui luy donne la vie“, zit. n. Roger de Piles: Divers conversations sur la peinture, Paris 1677, S. 272; Mechthild Fend: Die Substanz der Oberfläche. Haut und Fleisch in der französischen Kunsttheorie des 17.–19. Jahrhunderts, in: Bohde / Fend (Hg.): Weder Haut noch Fleisch, S. 87–104, hier S. 89. 21 Denis Diderot: Versuch über die Malerei, in: ders.: Ästhetische Schriften, hg. von Friedrich Bassenge, aus dem Frz. übers. von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke, 2 Bde., Berlin und Wismar 1967, Bd. 1, S. 635– 694, hier S. 638. 22 Ebd., S. 641. 23 Ebd., S. 642. 24 Ebd., S. 644. 25 Ebd., S. 646–647. 26 Denis Diderot: Salon 1767, in: ders.: Ästhetische Schriften, Bd. 2, S. 25. 27 Rosemarie Gerken: La Toilette. Die Inszenierung eines Raumes im 18. Jahrhundert in Frankreich, Hildesheim u. a. 2007, S. 255. 28 Diderot: Salon 1767, in: Ästhetische Schriften, Bd. 2, S. 25. 29 Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004, S. 172–173. 30 Diderot: Salon 1767, in: Ästhetische Schriften, Bd. 2, S. 166. 31 Denis Diderot: Salon 1765, in: Ästhetische Schriften, Bd.1, S. 531. 32 Denis Diderot: Salon 1763, in: Ästhetische Schriften, Bd. 1, S. 441. 33 Michel Eyquem de Montaigne: Essais. I, 21: De la force de l’imagination, zit. n. der ersten modernen Gesamtübersicht, ins Dt. übers. v. Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, S. 55.

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Martin Schieder: Jenseits der Aufklärung, Die religiöse Malerei im ausgehenden Ancien regime, Berlin 1997. Ebd., S. 201. Ebd., S. 201–203. Martin Schieder: Between „Grâce“ and „Voplupté“: Boucher and Religious Painting, in: Melissa Hyde / Mark Ledbury (Hg.): Rethinking Boucher, Los Angeles 2006, S. 61–87, hier S. 61 und Anm. 1. 38 René Démoris: Boucher, Diderot, Rousseau, in: Hyde / Ledbury (Hg.): Rethinking Boucher, S. 201–228, hier S. 201–202 und Anm. 5. 39 Ebd., S. 203. 40 Ebd. und Anm. 5. 41 Humphrey Wine: Madame de Pompadour im „Salon“, in: Xavier Salmon / Johann Georg Prinz von Hohenzollern (Hg.): Madame Pompadour und die Künste, München 2002, S. 19–27, hier S. 25. 42 Siehe zum Folgenden Wolf Lepenies: Auguste Comte. Die Macht der Zeichen, München 2010, S. 22. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 23–24. 47 Ebd., S. 25. 48 Zur Geschichte dieses Zitats siehe Christian Andree: 1000 Leichen seziert – und nie eine Seele gefunden?, in: ders. (Hg.): Neue Virchow-Forschungen, Essen 2015, S. 175–193, hier S. 178. 49 Matthias Krüger: Das Fleisch der Malerei. Physiologische Kunstkritik im 19. Jahrhundert, in: Bohde / Fend (Hg.): Weder Haut noch Fleisch, S. 159–180. 50 Krüger: Das Fleisch der Malerei, S. 172–176 und 179 Anm. 31. 51 Ebd., S. 178 Anm. 9. 52 Émile Zola: Schriften zur Kunst. Die Salons von 1866–1896, aus dem Franz. übers. v. Uli Aumüller, Frankfurt a. M. 1988, S. 84; Krüger: Das Fleisch der Malerei, S. 165. und 178 Anm. 13. 53 Joris-Karl Huysmans: L’art moderne. 1883, Farnborough 1969, S. 19; Krüger: Das Fleisch der Malerei, S. 167. 54 Krüger: Das Fleisch der Malerei, S. 172 und S. 179, Anm. 27. 55 Ebd., S. 172 und die folgenden Zitate aus Thérèse Raquin, S. 172–174 und S. 178–179, Anm. 26–29. 56 Ebd., S. 176 und 170, Anm. 41. 57 Ebd., S. 176 und 179, Anm. 42. 58 „ [...] et ses ciusses se doraient en colonnes de tabernacle, ce ventre dévenait un astre, éclatant de jaune et de rouges purs, [...]. Une si étrange nudité d‘ostensoir [...]“, zit. n. Émile Zola: L’ Œuvre, in: ders.: Œuvre complètes, hg. v. Henri Mitterand, Bd. 5, Paris 1967, S. 719. 59 Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich, aus dem Franz. übers. v. Brigitta Restorff, 6. Aufl., München 2015, S. 261–262. 60 Houellebecq: Unterwerfung, S. 148. 61 Ebd., S. 149. 62 Ebd. 63 Houellebecq: Unterwerfung, S. 163. 64 Folgende Zitate ebd., S. 233–235. 65 Ebd., S. 235.

2  ALLES KANN KUNST SEIN „Die guten alten Bilder wurden geschaffen, wann immer jemand Abstand von einem Gegenstand nahm, um ihn zu betrachten und das Erblickte für andere zugänglich zu machen.“ Vilém Flusser, Bilderstatus, 1991 Mit seiner Installation Second Wave hat der ghanaische Künstler El Anatsui im Februar 2019 das Haus der Kunst in München verhängt (Abb. 11). Die Säulen des 1933–1937 von den Nationalsozialisten im Namen der Kunst erbauten Gebäudes hat der Künstler in einer Länge von 110 m mit gebrauchten Offset-Druckplatten verhüllt, die sich in 22 Meter hohen Bahnen überlagern. Druckplatten von Tageszeitungen und aus einem Kunstbuchverlag heben und senken sich in zwei Wellen in Richtung Friedensengel und symbolisieren die täglich ansteigende und verebbende Informationsflut. Im Innern ist die Überblicksausstellung Triumphant Scale des Bildhauers mit seinen vielfach ausgezeichneten Werken zu sehen, die er aus Müll, etwa Dosenblech und Kronkorken herstellen lässt. Viele MitarbeiterInnen sind in zeitaufwändigen Arbeitsgängen daran beteiligt, das Material im Atelier zu großen und schillernden, mosaikartigen Gobelins zusammenzuketten. Für El Anatsui ist es von größter Bedeutung, dass sein kunstfernes Material mit der Hand gefertigt wird: „ The only blessing probably is that we can work uninterrupted by mechanical failure or tools or power outages, since the whole process is manual, much in consonance with my wish to create work with many human hands leaving their individual charges on it.“1 Etwas Konträres ereignete sich im Namen der Kunst am 25. Oktober 2018 bei Christie’s in New York. Dort ging das sogenannte Porträt Edmond de Belamy für 432.500 US-Dollar über den Auktionstisch, ein Bild auf Leinwand mit altmeisterlichem Goldrahmen (Abb. 12). Das von einem Algorithmus errechnete Bild entstand mit Hilfe eines Generative Adversarial Networks (GAN), in dem Programmcodes trainiert werden, ungeheure Datenmengen nicht nur zu verarbeiten, sondern sich in der Verarbeitung von Daten gegenseitig zu überbieten, um voneinander zu lernen. Es handelt sich um ein Stück „Unhuman Art“, wie Ahmed Elgammal, IT-Künstler am Art and Artificial Intelligence Lab (AAIL) der Rutgers University, New Jersey diese aus dem Computer stammenden Bilder nennt (vgl. Kap. 6).2 Die verwaschene, unfertige Anmutung von Edmond de Belamy stammt von tausenden, mit einem GAN-Code verarbeiteten Digitalisaten von Gemälden der westlichen Kunstgeschichte um 1900, aus denen ein Künstlertrio aus Frankreich namens „Obvious“ ein Bild aus dem Drucker zog, von dem Christie’s im Auktionskatalog behauptet, es handele sich um „einen Mann, vielleicht Franzose und vielleicht ein Kleriker“. Die beiden Beispiele aus dem Kunstgeschehen 2018/19 eröffnen die spannungeladenen Pole zwischen denen sich Kunst ereignet und sich die Kapitel dieses Buches bewegen. Es geht um die Frage der Kunst in Zeiten der Bilder.

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2  Alles kann Kunst sein

11  El Anatsui: Second Wave, 2019, München, Installation an der Fassade am Haus der Kunst

12  Obvious / Robbie Barrat: Edmond de Belamy, GAN-Painting, 2018, Tinte auf Leinwand

Alles ist sichtbar Unser Leben findet in und mit Bildern statt. Die Welt auf der Netzhaut außerhalb des Displays ist zu banal, um noch betrachtet zu werden. Wer das eigene Bild auf seinem Smartphone sieht, weiß, dass er existiert. Die/der BildbetrachterIn ist zugleich BildproduzentIn und BildbenutzerIn. Sie hält ihr Leben in der Hand: Sie betrachtet, handelt, lebt mit und in Bildern. In der digitalen Bilderwelt wendet sich das Schicksal des mythischen Narziss, den Selbsterkenntnis durch Bilderkenntnis in den Tod trieb. Das Spiegelbild als Quelle der Selbsterkenntnis ist in Bildermaschinen der permanenten Neu- und Umkreation des Selbst transformiert. Das digitale Spiegelbild kennt den Tod nicht, wenn es körperlos auf ewig im Speicher von Big Data

Iconic turn

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zirkuliert. Lebensformen in und mit Bildern haben eine lange Geschichte, die die Kapitel dieser Studie in einigen Grundzügen zurückverfolgt. Eine zentrale Frage lautet daher: Wozu machen wir Bilder? Was machen sie mit uns – und: Wie wurden wir zu den BildbenutzerInnen und -erzeugerInnen, die wir heute sind? Die lange Geschichte der Bildbenutzung begleitet eine Geschichte der Bildmedien, der Bildtechniken, der Bildereignisse und vor allem der Kunst als einen bildkulturellen Spezialfall mit treibender Kraft. Dieses Buch handelt von ‚starken‘ Bildern – und Kunst. Politische Ereignisse sind heute Bildereignisse, die sich blitzschnell über alle Bildmedien verbreiten (vgl. Kap. 11). Die Bilder und Videos des Terroranschlags von 9/11 sind und bleiben in unseren Köpfen. Wir kannten sie bisher nur als Phantasmen aus Katastrophen- oder Horrorfilmen. Niemand hätte gedacht, dass sie wahr werden könnten.3 Zwischen dem Grusel-Look des Action-Kinos und der faktischen Realität, den die Bilder von 9/11 repräsentieren, klafft ein Abgrund, den jeder als Schock erfährt, der in den Ground Zero geblickt hat. Die als Bildereignis in die Geschichte eingehende Realkatastrophe markiert daher eine Zäsur. Wer bis dato nicht an die Wirkmacht von Bildern glaubte, hat sie nun mit Wucht als ein von einer Bildermaschinerie in Gang gesetztes Instrument des Terrors erfahren. Was ist es, dass Bilder so stark macht und wie sind diese Bilder gemacht (vgl. Kap. 10)? Den Bildern von 9/11 folgte eine nie dagewesene Verunsicherung (nicht nur) im Umgang mit Bildern: Die ,ikonische Differenz‘ ist visuell hinfällig geworden. Der Ununterscheidbarkeit der Bilder folgt Zensur und Kontrolle, die wir als Freiheitsberaubung erfahren. Wer Herrschaft über die Bilder ausübt, wer entscheidet, welche Bilder sichtbar sind und welche nicht, welche Folgen mit der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verbunden sind, ist nicht mehr zu durchschauen und auch nicht zu prognostizieren. Die täglich steigende Bildfrequenz scheint ohne Ordnung und daher unkontrollierbar und von keiner Macht der Welt beherrschbar. Auf den Wunsch nach Allsichtbarkeit antworten die Bilder mit Macht. Wer bedient sich der Bilder zu welchen Zwecken? Dies wird ein durchgängiges Thema dieser Studie sein.

Iconic turn Um 1995 proklamierten der amerikanische Literaturwissenschaftler William T. Mitchell und der deutsche Kunsthistoriker Gottfried Boehm beinahe gleichzeitig den Iconic turn.4 Kulturgeschichtlich war dies eine Reaktion auf das hereinbrechende digitale Zeitalter, das für das nächste Jahrtausend die Technik für eine rasant wachsende globale, populäre Bildkultur bereitstellte, die sich mit dem Internet das geeignete Medium erfand, im Videoclip die Jugend erreichte und über die Kanäle des Satelliten- und Kabel-TVs die Welt in die Wohnzimmer einer jeden Bürger­in brachte. In kurzer Zeit hatte die mediale Distribution von Bildern ein Ausmaß erreicht, auf das niemand vorbereitet war. Wissenschaftsgeschichtlich war der Iconic turn eine Reaktion auf den von Richard Rorty ausgerufenen Linguistic turn (1967), auf sprachphilosophische Konzepte, die Welt als Text, Natur als Diskurs und das Unbewusste als sprachlich strukturiert dachten. Bilder, so entgegnete Boehm den Sprachphilosophen, haben eine eigene Logik und sie erzeugen „Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln“. Diese kategorische Trennung

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der Bilder von Sprache und Schrift befeuerte die nun einsetzende Bilderdebatte, die eine Medienrevolution grundierte: der Eintritt in das digitale Zeitalter, das Zeitalter der Bilder.5 Der Iconic turn brachte zu Bewusstsein, dass Bilder einen blinden Fleck im Gebrauch der rationalen Systeme markieren, die immer im Dienst von Sprache und Schrift standen. Wie Bilder gemacht sind, wozu sie gemacht sind und was sie mit ihren Betrachtern machen, hatte eine auf Texten basierende Wissenskultur bis dato unterschätzt und daher ignoriert. Dem Visus wurde zwar zugesprochen wahrzunehmen, was Boehm mit „ikonischer Differenz“ bezeichnet.6 Was aber das Ikonische sei, wie es funktioniert und was es leistet, sollte jetzt das Projekt einer neuen, philosophisch fundierten Bildwissenschaft werden. William T. Mitchell, Initiator des Pictorial turn in den USA, bescheinigt den Vertretern der Sprachphilosophie, etwa Ludwig Wittgenstein und Richard Rorty, eine „Ikonophobie“, eine Furcht vor Bildern, die Sprache gegen das Visuelle zu verteidigen sucht.7 Dies, so Mitchell im ersten Kapitel seiner 1994 publizierten Picture Theory, sei Indiz genug, um darin das Anzeichen eines Pictorial turn zu sehen. Während Mitchell den Pictorial turn als Folge einer Verdrängungsgeschichte der Bilder betrachtete, zeigte Gottfried Boehm, wie sehr die Philosophie in ihren Gegenständen und ihrem Sprachgebrauch den Bildern verpflichtet ist: sei es Kant, der die Einbildungskraft als Voraussetzung für die Verknüpfung von Sinnlichkeit und Verstand betrachtete, oder Nietzsche, der die Metapher in seinem philosophischen Denken zentral stellte, um das logisch scheinbar Verbindungslose mit Sprachbildern zu überbrücken. Das philosophische Denken ist, wie Hans Blumenberg feststellte, „metaphernpflichtig“.8 Der Iconic turn war von Anfang an als ein interdisziplinäres Projekt angelegt und wirkte äußerst stimulierend in viele andere akademische Fächer hinein. Schon bald stritt man darüber, welche der Wissenschaften die ‚Leitwissenschaft‘ einer sich neuformierenden „Bildwissenschaft“ werden wird.9 Die akademische Kunstgeschichte, die sich den Bildern nicht eigens zuwenden musste, sah und sieht sich durch die interdisziplinäre Wende zum Bild mit neuen Fragestellungen an die Kunst und Methoden über die Bilder im Kunstkontext hinaus herausgefordert. Was überhaupt ist ein Bild? Die neue, sich als Bildwissenschaft reformierende Ikonologie brachte zunächst eine ganze Reihe von historischen Bildbegriffen zutage, die in der Philosophie-, Linguistik-, Psychologie- und Kunstgeschichte verankert sind.10 Aber kann man Bilder überhaupt begrifflich-diskursiv bestimmen, da sich ja jede Bilderklärung der Sprache bedienen muss? Entzieht sich das Bild nicht dem begrifflich-logischen Denken, führt nicht „das Ikonische zu denken [...] auf schwankenden Boden“?11 Ungeachtet dieser Warnungen ignorieren Machthaber dieser Welt Sprache und Logik und stellen Bilder und Medien in den Dienst der Politik (siehe dazu Kap. 11). Die globalisierte Welt artikuliert sich in Bildern, erklärt die Welt in Bildern, regiert mit Bildern.12 Wir befinden uns im Zeitalter der Bilder. Der bildwissenschaftliche Impuls, der von deutschsprachigen Vertretern der akademischen Kunstgeschichte mit dem Iconic turn ausgesendet wurde, wirkte in einer ganzen Reihe von geisteswissenschaftlichen Disziplinen inspirierend – man erinnerte sich einer vergessenen Tradition der Bilderforschung oder hieß den Begriff „Bild“ auf einmal dort willkommen, wo er bisher keine Rolle spielte bzw. unterdrückt wurde.13 Hinzu kommt eine junge Kulturwissenschaft, die an die Bild- und Medienwissenschaft von Warburg, Benjamin, Cassirer, Huizinga u. a. anknüpft

Kunst gegen Bild

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und potenziell alle Bilder, ungeachtet ihrer Qualifizierung in kulturellen Teilbereichen wie etwa Kunst, untersucht, um ihre Funktionen und Bedeutungen im kulturellen Ganzen zu verstehen.14

Kunst gegen Bild In der 150 Jahre alten Tradition der akademischen Kunstgeschichte traf der Iconic turn und der damit einhergehende Austausch der Begriffe – sag Bild statt Kunst – auf einen empfindlichen Nerv. Die Kunstgeschichte sah ihre exklusive Deutungshoheit über Gegenstände und Objekte schwinden, die sie mit ‚Kunst‘ nicht nur be-, sondern auch ausgezeichnet hatte: Wenn alles nur noch Bild ist, was ist dann Kunst? Eine konservative Fraktion, die sich der Erforschung der Kunst verschreibt, übergeht deshalb die bildwissenschaftliche Forschung lieber stillschweigend oder äußert sich gern kritisch und polemisierend gegen die BildwissenschaftlerInnen im Fach. Bild gegen Kunst, behaupten bilderskeptische VertreterInnen der Zunft und fordern zum Bekenntnis pro Kunst auf.15 Man fürchtet Reduktion und Verlust, nämlich, dass Kunst und Kunstgeschichte durch Bild und Bildgeschichte ersetzt werden. Ein Blick auf die Diskussion zeigt jedoch, dass Missverständnisse auf beiden Seiten zu einer unnötigen Polarisierung geführt haben. Denn weder befassen sich die BildhistorikerInnen und -theoretikerInnen im Fach mit der Abschaffung der Kunstgeschichte, noch haben sich konservative KunsthistorikerInnen je gegen einen Bildbegriff der Kunst gesperrt. Beide könnten sich problemlos auf den Begriff der Ikonologie Warburg’scher und Panofsky’scher Prägung einigen. Die Diskussion „Kunst gegen Bild“ erinnert an die Literatur-gegen-Text-Debatte in der Literaturwissenschaft, die Ende der 1970er-Jahre u. a. die Gültigkeit des mit dem bildungsbürgerlichen weitgehend identischen akademischen Kanons in Frage stellte.16 In der Kunst-gegen-Bild-Debatte wird jetzt der Verlust der an den Kunstbegriff gebundenen Identität einer akademischen Disziplin befürchtet, die einen Korpus von Gegenständen (Kanon) für wertvoll hält, den sie mit rein kunstwissenschaftlichen Methoden der In- bzw. Exklusion identifiziert, autorisiert und an dessen Überlieferung sie interessiert ist. Für diesen Kanon hat die Kunstwissenschaft Interpretationsmethoden entwickelt, mit denen sie festgelegt hat, welche Bedeutungen und Wertvorstellungen mit den kanonischen Gegenständen verbunden sind. Da die als ,Kunst‘ identifizierten Gegenstände über die Jahrhunderte einen kulturellen Spitzenwert tradieren, von Anfang an mit politischer Macht verbunden sind und auch noch einen unüberbietbaren Geldwert darstellen, könnte der wertneutrale Begriff ‚Bild‘ den hochkulturell stark aufgeladenen Begriff ‚Kunst‘ abwerten. Dies könnte einen Verlust von Autorität, Macht und Ansehen nicht nur einer akademischen Disziplin bedeuten, die hochkulturelle Werte pflegt. Die Kunst-gegen-Bild-Debatte wäre sicher nicht von Interesse, wenn sie nur einen Streit um Begriffe, Gegenstände und Methoden innerhalb einer kleinen akademischen Disziplin repräsentierte. Die Einführung des Bildbegriffs legt vielmehr altbekannte Schwachstellen im Kunstsystem frei, die gern verdrängt bzw. verdeckt werden.17 Die BefürworterInnen einer unbedingt vorzunehmenden kategorischen Trennung und wissenschaftlichen Separatbehandlung von Kunst und Bild beklagen etwa den Verlust ästhetischer Urteilskraft, wenn alles ‚nur‘ Bild

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13  Ist das schon Müll oder kann das noch Kunst, Kampagne der BSR (Berliner Stadtreinigung) 2018

ist.18 Denn das Kunsturteil bewertet, ob ein Objekt oder Ereignis als Kunst gelungen, gescheitert, interessant oder aber fragwürdig ist. Ein solcher ,Glaube‘ an den Kunstbegriff liegt jedoch quer zur systematischen Entgrenzung, welche die Kunst in den Avantgarden der Moderne und der Postmoderne mit der Intention betrieben hat, potenziell alles zu Kunst zu machen (Abb. 13). Das vor mehr als dreißig Jahren von Arthur C. Danto immer wieder beschriebene, mit Andy Warhos Brillo Boxes beginnende „Ende der Kunst“ mündete bekanntlich in eine Aporie des Kunstwerks, das sein eigenes Ende in der Unmöglichkeit der Unterscheidung von Kunst/Nicht-Kunst reflektiert, woraus die Auflösung der Kriterien des ästhetischen Urteils in Bezug auf Kunst – gelungen, interessant, gescheitert, fragwürdig etc. – erfolgte und was in der Behauptung: „Kunst ist Kunst“ endete (Abb. 14).19 Ebenfalls dreißig Jahre sind vergangen, seit Hans Belting die Konsequenzen aus dem Ende der Kunst für die Kunstgeschichte vorhersah und die „Synopse alter und moderner Kunst [im] Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Fragestellung, heutiger Kunsterfahrung und Kulturbewußtsein“ forderte, da die Antithese von Avantgarde und Tradition nicht mehr überzeugte.20 Nach dem Ende der Kunst und nach dem Ende der Meistererzählung über Kunst, die ihre Geschichte mit dem einzig ,reinen‘ Kunstkriterium – Stil – identifizierte, ließ sich nur noch im Perfekt über Kunst urteilen. Die Geschichte der Kunst und des Kunsturteils, darüber kann kein Zweifel bestehen, ist historisch geworden, seit es keinen herrschenden Kunststil mehr gibt, den die Kunstkritik durchsetzen kann. Gleichwohl wird weiterhin behauptet und auch begründet, dass Kunst gemacht wird, doch speiste sich das zeitgenössische ästhetische Urteil immer aus dem historischen Urteil und dem Wissen über das, was Kunst war – und ist damit ein Anachronismus. Im Zeitalter der Bilder sind alle Kunststile gleichzeitig vorhanden, verfügbar, kombinierbar. Historische Kunst ist im Universalarchiv des Internets allen BenutzerInnen zugänglich und für die Bildproduktion (in welcher Weise auch immer) verfügbar (Abb. 15).

Kunst gegen Bild

14  Warhol: Brillo Boxes, Ausstellungsansicht der Galerie Leo Castelli 1964, New York

15 VW-Werbung mit Magritte, 2008

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16  Louise Lawler: Is She ours? 1990

Traditionskunst Nach dem „Ende der Kunst“ will niemand wirklich, auch nicht die BildwissenschaftlerInnen unter den KunsthistorikerInnen, dass die Kunst aufhöre – aber die pausenlos an ihrer Um- und Neudefinition arbeitende Kunst lässt KritikerInnen, InterpretInnen und auch KunstwissenschaftlerInnen immer wieder mit historischen Kriterien für ihre Beurteilung zurück. Auch im Zeitalter der Bilder werden noch neue Kriterien kreiert, die Kunst begründen (vgl. Kap. 6).21 Es wird auch neue Medien geben, die Kunst verbreiten, wie etwa die Kunst-App von Daniel Birnbaum.22 Der Nachweis, dass es Kunst auch künftig geben wird, liegt weiterhin an Künstler­ Innen, die sich in die Hände von Institutionen begeben, die dies behaupten, auch wenn eine seit den 1970er-Jahren etablierte, als „Institutional Critique“ bekannte Kunstrichtung versucht, dem System- und Institutionszwang der Kunst mit Foucault und anderen KritikerInnen durch Strategien der Destitution, des Entzugs, Rückzugs, Abfalls, Ausfalls, der Flucht oder der Bildung eines Anti-Kanons zu entkommen (Abb. 16).23 Die KunsttheoretikerInnen, die eine Kunst-gegen-Bild-Debatte führen, argumentieren in den etablierten Kunstinstitutionen mit den Argumenten der als historisch abgeschlossen geltenden Kunstgeschichte gegen das Ende und für eine Zukunft der Kunst. Und mit diesem Anliegen sind sie gar nicht so weit entfernt von denjenigen, die aus der historischen Kunst einen

Traditionskunst

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Bildbegriff gewinnen wollen, nämlich diejenigen, die ich Kunst-als-Bild-WissenschaftlerInnen nenne. Ein Kernproblem der akademischen Kunst-gegen-Bild-Debatte ist somit benannt: Es kreist um Kriterien der Valorisierung von Bildern und Objekten, die das Prädikat Kunst tragen sollen, um in den Kunstbetrieb eingeschleust zu werden, und spricht damit, wie oben bereits bemerkt, vor allem die Furcht vor Autoritätsverlust aus, wenn Kunst nur noch Bild ist. Die BildbegriffskritikerInnen, die im akademischen Kunstbetrieb argumentieren, beklagen ferner die Verwissenschaftlichung der Künste (Artistic Research) und verweisen auch die Ästhetisierung naturwissenschaftlicher Bilderzeugnisse mit Mitteln der Kunst aus dem Kanon, der Kunst durch Definition ermöglicht. Man wirft diesen „Überkreuzungen [...] eine falsche Versöhnung zwischen zwei radikal unterschiedlichen Geltungsbereichen“ vor.24 Hier kommt, wenn auch unausgesprochen, in den Blick, was in anderen Geistesdisziplinen „Kultur“ genannt wird, und zwar eine Kultur, die nicht als zweigeteilt (C. P. Snow) oder dreigeteilt (W. Lepenies), sondern „als Ganzes“ (J. Mittelstraß) in den Blick genommen werden soll. Würde der akademische Kunstbetrieb seine Daseinsberechtigung aus einem ‚reinen‘ Kunstbegriff ziehen, dann wäre Kultur tatsächlich zweigeteilt, in Kunst und Nicht-Kunst. Ungeachtet dessen haben WissenschaftshistorikerInnen vor Augen geführt, wie stark beispielsweise Kunst und Naturwissenschaft über die Bilder miteinander verwoben sind und diese durch das Medium Bild geprägt werden.25 Die hier nur anzitierte Argumentation „Pro-Kunst-gegen-Bild“ überprüft ihre ästhetische Urteilskraft innerhalb der eigenen historischen Setzungen, verbleibt notwendig im System und ignoriert die Phänomene, die sie irritieren, zugunsten einer ‚Reinkultur‘ der ‚Tradition‘.26 Viele Bilder im zeitgenössischen Bilderstrom, die auf welche Weise auch immer wahrgenommen, verstanden, rezipiert oder bewertet werden, bedienen sich eines „looks“, vormals Stil genannt, den die akademische Pro-Kunst-Fraktion für die Kunst reklamiert, sodass man allgemein von einer „Verkunstung“ der Bilder spricht (Abb. 15).27 Die traditionell als Kunst legitimierten Bilder erfinden nicht nur ‚neue‘ Bilder, sondern bedienen und bedienten sich auch immer der Bilder, Medien und Objekte, die nicht im und für den Kunstkontext entstanden sind, sondern von überall hergenommen werden – aus der ganzen Welt (Abb. 17). Die Pro-Kunst-gegen-Bild-Fraktion arbeitet infolge des grenzenlosen und nun auch digital-medial frei verfügbar gewordenen Bilderpools an der Zementierung einer Einbahnstraße, in die potenziell alle Bilder hineinfahren können, um dort Kunst zu werden. Wenn jedoch Kunst als „look“ oder Oberflächenphänomen (Abb. 15), als Zitat oder gar als Argument in die Nicht-Kunst-Bilder kommt, entstehen Irritationen und Zurückweisungen im Kunstbetrieb, denn das, was wie Kunst aussieht, ist definitionsgemäß nicht ,rein‘: nennen wir sie ,Traditionskunst‘. Dies wird insbesondere für Bilder im Bereich der angewandten Kunst (Werbung, Bildstrecken in Magazinen u. a.) geltend gemacht. Es kann zwar jedes Bild in die Kunst hineinkommen – was sich in Zeiten digital produzierter Bilderströme mit einem ‚Klick‘ als besonders einfach erweist –, aber nicht jedes Bild darf ins traditionelle Kunstsystem.28 Wer aber bestimmt, welches Bild nach dem „Ende der Kunst“ in die Kunst hineinkommt? Hier verschärft sich die Kunst-gegen-Bild-Debatte, denn die Pro-Kunst-Fraktion behält sich die exklusive Definitionshoheit der Unterscheidung Kunst/ Nicht-Kunst, die die Kunst ja bereits abgeschafft hatte. Worum geht es? Es geht nicht nur um

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17  Paul Gauguin: Maske einer Tahitianerin (Tehura), 1893, Bronze, Saarbrücken, Saarland-Museum

die Rettung der Traditionskunst, sondern um den Erhalt von Macht und Einfluss zu bestimmen, was Kunst ist.29 Traditionskunst folgt somit dem mittelalterlichen Modell der Translatio, der Sicherung der Herrschaft durch Machtübertragung, das im Humanismus der Renaissance zum kulturellen Durchbruch gelangte, indem Wissenschaft und Künste als Medien der Traditionssicherung inauguriert wurden. Kunst wurde in der Renaissance erfunden und folgt heute als Traditionskunst der kulturellen Norm des Klassischen, wie sie Aleida Assmann versteht: „Auf ein Klassisches bezieht man sich über einen beliebig weiten historischen Abstand hinweg als auf etwas nach wie vor Bedeutsames, Unvergangenes, Gültiges. Um es noch schärfer zu fassen: Das Merkmal des Klassischen ist die Affirmation von Gleichzeitigkeit bei manifest gewordener Nachzeitigkeit.“30 Für die akademische Kunstgeschichte bedeutet Kunst die Gegenwart des Vergangenen. Für die Kultur bedeutet die Norm des Klassischen „ein Beharrungsmoment in eben dem Augenblick, da sie sich ihrer substantiellen Wandelbarkeit inne geworden ist“.31 Im Zeitalter der Bilder ist dieser am Klassischen orientierte Kunstbegriff der Anker in einer globalisierten und digitalisierten (Bild-)Kultur. Spätestens jetzt wird es Zeit, wenigstens zwei Kunstsysteme voneinander zu unterscheiden: die im akademischen Betrieb (Hochschulen, Museen) arbeitende Kunstgeschichte und den an der ökonomischen Verwertbarkeit von Kunst interessierten Kunstmarkt.32 Gegen Massenmedien, Kulturindustrie und Kunstkonsum – drei von Adorno benannte Herausforderungen an die Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – hatte sich zwar nicht immer die Kunst,

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18  How to talk with birds, trees, fish, shells, snakes, bulls and lions, Cover des Ausstellungskatalogs Hamburger Bahnhof, Berlin 2018/2019

aber der historisch-akademische Kunstbegriff durch kategorisch-definitorischen Ausschluss gewehrt. Um der „Profanierung der Kunst“ durch Kulturindustrie und Kunstkonsum entgegenzutreten, wird die Konzentration auf eine „strenge Bestimmung von Kunst“ gefordert.33 KunstkritikerInnen, die sich an einen wie auch immer zu definierenden, „strengen Kunstbegriff “ gebunden und zugleich autonom fühlen, behalten sich vor, Bildern den Kunst-Status gegebenenfalls auch abzusprechen.34 Kritische Fragen nach den Voraussetzungen und Geltungsansprüchen einer Alleinherrschaft des ,westlichen‘ (europäisch-amerikanisch) geprägten Kunstbegriffs schütteln die Tradition des akademischen Kunstbetriebs mit ihrem Anspruch der abendländischen Deutungshoheit über den Kunstbegriff derzeit gehörig durch.35 Museen gehen das Problem neuerdings progressiv an und stellen mit Ausstellungen wie Hello World (Berlin 2018) die Frage, wie man dem weltweiten künstlerischen Austausch in seiner Vielfalt und in seiner Besonderheit im Einzelnen künftig gerecht werden kann.36 Aus dieser Einsicht entstehen nun Ausstellungen wie How to talk with birds, trees, fishs, shells, snakes, bulls, and lions, in der KünstlerInnen von überall her ein uraltes poetisches Wissen über die Welt wiedergewinnen, sichtbar, fühlbar machen und nebenbei zeigen, dass die westliche Tradition von Kunst nur eine unter vielen Kunsttraditionen ist, die einem auf dem triadischen Konzept Subjekt – Macht – Herrschaft beruhenden, verengten Kunstbegriff folgt (Abb. 18).37 Das Kernproblem kreist für westlichen KunsttraditionalistInnen weiterhin um die Definition von Kunst, die eine Frage von Inklusion und Exklusion – eine Machtfrage – ist: Soll der museale und akademische Kunstbe-

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trieb um Erzeugnisse der Weltkunst erweitert werden oder lässt man diese doch lieber in den Depots der ethnologischen Sammlungen?38 In How to talk with birds wird diese Machtfrage erst gar nicht gestellt, denn Kunst soll sich im globalen Netzwerk der KünstlerInnen a priori als unabhängig vom Kunstmarkt und seinen rein kommerziellen Interessen erweisen. Museum und Galerien folgen nun, wie am Anfang der Avantgarde den Interessen der freien Kunst und nicht umgekehrt. Die westlich geprägte akademische Kunstgeschichte wird also in Zukunft eine Menge zu tun haben, denn sie müsste sich mit vielen anderen Fachkompetenzen verständigen, um dann gemeinsam eine komplett neue und anders fortzuschreibende Weltkunstgeschichte zu entwerfen. Diese ,neue‘ Kunstgeschichte handelte dann auch von der Ignoranz gegenüber den durch Kolonialismus unterdrückten Künsten seitens der auf das Klassische der eigenen Tradition verpflichteten Kunstwissenschaft.39 Aus dieser hier skizzierten Analyse der Funktionsweisen des zeitgenössischen Kunstsystems spricht eine Krise des akademischen und des kommerziellen Kunstbetriebs, ausgelöst vom Festhalten an einem westlichen Begriff der Traditionskunst. Beide reagierten auf die Drohung „Everything is an artwork“40 mit Inklusion und Erweiterung und verleibten sich Dinge und Phänomene ein, die sie dazu herausforderten, die eigenen Kategorien, Definitionen, Urteile immer wieder zu revidieren. Während der kommerzielle Teilbereich des Kunstbetriebs einfach den Gesetzen des Marktes folgt und Bilder als Kunst verkauft, die danach aussehen,41 rudert der sich autonom fühlende akademische Kunstbetrieb angesichts der von Weltkunst, Naturwissenschaft und Bild bedrohten „abendländischen Kunst“ zurück und fordert, da er nicht jedes Bild als Kunst zu akzeptieren bereit ist, eine ,strenge‘, d. h. eine ,reine‘ Bestimmung von Kunst. Diese aber kann nur mit Rückgriff auf bereits vorhandene Traditionen, mithin auf die Kriterien der eigenen Geschichte definiert werden. Im Zeitalter der Bilder gibt es folglich ,reine‘ Kunst nur noch als Traditionskunst, gemeint ist die Kunst des erweiterten Kanons der Kunstgeschichte in einem Zeitraum von den Karolingern bis zum Ende der Avantgarden. Die Frage, wie Kunst nach dem „Ende der Kunst“ definiert wird, steht also weiterhin mitten im Raum des akademischen Kunstbetriebs, der sich mit „zeitgenössischer Kunst“ befasst, das ist „Kunst nach dem Ende der Moderne, [der] ein identifizierbarer Stil fehlt“.42 Man bemüht sich an vielen Stellen, eine Antwort aus der Traditionskunstgeschichte zu finden.43 Dies aber wird nicht mehr gelingen, weil Kunst nicht mehr ,rein‘ ist. Einstweilen ist das von BildermacherInnen gemachte Produkt, das vom Diskursbetrieb des akademischen Kunstbetriebs ex post als ‚Kunst‘ anerkannt wird, nach wie vor da – ein dynamischer und lebendiger, manchmal auch geistreicher und poetischer, zuweilen resignativer, aber nicht mehr zwangsläufig innovativer und origineller kultureller Teilbereich. Es zeichnet sich jedoch ab, dass Kunst gern wieder selbst bestimmen würde, was Kunst ist, indem sie sich system- bzw. institutionsfern gibt. Dies führt, wie man weiß, in das unter KünstlerInnen vorherrschende Prekariat.

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Bild statt Kunst Aus der postmodernen These „Everything is an artwork“ heraus formierten sich in den angelsächsischen Geisteswissenschaften Auswege: die Visual Culture Studies mit dem Aufruf zum Pictorial turn.44 Im Vordergrund stand hier zunächst eine dezidiert politisch-aufklärerische Fragestellung nach der Funktion von (allen) Bildern, die in Diskursen über Bilder fassbar sind. In diese Diskurse fallen auch Kunstwerke, wenn sie für gesellschaftliche Herrschafts- und Machtausübung instrumentalisiert werden. Visual Culture Studies begannen im Kontext der Gender Studies und der Postcolonial Studies. Sie arbeiten transdisziplinär an den Bildern im Dispositiv der Macht und richten sich mit diesem Anliegen auch gegen Tendenzen des Kunstbetriebs, Kunst durch Inklusion, Konsum und Vermarktung zu entmachten. Wir sind im Zeitalter der Bilder. Mit der Frage „Was ist ein Bild?“ leiteten im deutschen Sprachraum Vertreter des Faches Kunstgeschichte den Iconic turn ein. Eine Antwort wird hier vor allem in dem akkumulierten Wissen über Kunst gesucht, d. h. am historischen Bildmaterial der Kunst deduziert. Der Bildbegriff der Kunst- als-BildwissenschaftlerInnen ist demnach ein Bildbegriff der Traditionskunst und kann zunächst einmal nur für den kulturellen Teilbereich Kunst Geltung beanspruchen. Bei der Pro-Kunst- und-Gegen-Bild-Fraktion des akademischen Kunstbetriebs entsteht also der irrtümliche Eindruck, dass bildwissenschaftlich orientierte KollegInnen sich der Kunst stillschweigend entledigen wollen: Das Gegenteil ist der Fall (siehe hier Kap. 10). Am Anfang einer Kunst- als Bildwissenschaft stand aber nicht Gottfried Boehms Iconic turn, sondern die Kritik an der von Ernst H. Gombrich und Erwin Panofsky vorgelegten Deutung der Renaissancekunst mit Texten des Neuplatonismus unter Anwendung der von ihnen weiterentwickelten ikonologischen Methode, die Horst Bredekamp beklagte, da sie Renaissancekunst hermeneutisch auf ein Textkorpus festlege.45 Bredekamp forderte die Rückbesinnung auf Aby Warburg nicht nur, weil dieser der eigentliche Begründer der Ikonologie und Bildhistoriker sei, sondern wegen „seiner Offenheit gegenüber geformten Objekten von den Skulpturen der griechischen Klassik bis zum Kühlergrill des Rolls Royce“. Warburgs Konzept eines Bilderatlas Mnemosyne machte potenziell den „gesamten Bereich der Bildproduktion“ zum Gegenstand der Untersuchung. Sekundiert von dem „unhierarchischen Zugang“ der ikonologischen Methode formulierte Warburg das Forschungsprogramm der künftigen Kunst- als Bildwissenschaft.46 Die Wiederentdeckung der Ikonologie wurde zunächst jedoch mit dem Blick auf das „Kunstwerk“ und nicht auf „alle Bilder“ projektiert. Rückblickend liest es sich als der Neubeginn einer Kunstgeschichte aus ihrer kulturwissenschaftlichen Tradition, die sich als „Historische Kunst- und Bildwissenschaft“ mit dem Ziel versteht, dem „Kunstwerk die Funktion zurückzugewinnen [...], kraft seiner formalen Gestalt eine eigene, begriffliche Potenz jenseits der wortgebundenen Modellsysteme zu bilden und auflösend einzuwirken in kulturelle Verkrustungen und schematische Denkformen“.47 Deutlich hört man die Aufforderung an die Kunstwissenschaft, ihren Gegenständen, die hier noch als „Kunstwerke“ angesprochen werden, eine eigene Bedeutung, eine eigene Logik, einen eigenen Sinn – jenseits von Wort und Text – im kulturellen Ganzen zu geben. In der Folgezeit werden sich die Kunst-als-BildwissenschaftlerInnen

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den Bildern mit drei verschiedenen Ordnungskriterien zuwenden: alle Bilder (Bredekamp im Anschluss an Warburg), dem erweiterten Kanon der Kunstgeschichte (Belting) und dem engen Kanon der Kunstgeschichte nach 1450 (Boehm). Parallel zur Wiederentdeckung Warburgs stellte Hans Belting in Bild und Kult die Frage, was christliche Bilder waren, bevor sie im 15. Jahrhundert zum ersten Mal in nachantiker Zeit mit einem reinen Kunstbegriff definiert wurden. In dieser Studie untersucht Belting den Übergang der europäischen Bildgeschichte von den religiös-institutionalisierten Bindungen des christlichen ,Bildes‘ zu einer genuinen Kunstgeschichte, die anfangs von einem vielfältig motivierten Ausdrucks- und Repräsentationsbegehren fürstlicher MäzenInnen und dem bürgerlichen Individuum getragen wurde, die Bilder für politische Zwecke nutzten bzw. in privaten Gebrauch nahmen. Die Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, so zeigte Belting dann in seiner Bild-Anthropologie, riss mit dem Paradigmenwechsel vom Bild zur Kunst nicht ab. Belting beabsichtigte explizit das Fundament für eine „Bildwissenschaft“ zu liefern, indem er (wie Warburg) Bilder – ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zum Kunstsystem und zum engeren Kunstkanon, sondern darüber hinausgehend – in einer globalisierten Welt kulturübergreifend untersucht.48 Das Nomen „Kunst“ spielt in dieser Gründungsstudie der kunsthistorischen „Bildwissenschaft“ gar keine Rolle mehr, und dennoch exemplifiziert Belting seine systematischen Überlegungen zum Verhältnis von Bild – Körper – Medium an dem Kanon der Kunstgeschichte, unter die er hier und da auch Bilder aus anderen Kulturen mischt, die die akademische Kunstgeschichte nicht zu ihrem Kanon rechnet. Die Studie zeigt, dass der historisch eng gefasste, reine Kunstbegriff einem weit gefassten Bildbegriff folgt, um den es ihm geht. Dass dies im akademischen Feld Kunstgeschichte überhaupt möglich wurde, ist der radikalen Öffnung des Kunstbegriffs durch avantgardistische KünstlerInnen nach Duchamp zu verdanken. Hans Dieter Huber legte mit Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft nach und vermied darin sowohl das Wort „Kunst“ als auch die Frage, was denn die Kunst, die in seiner Studie neben Nicht-Kunst-Bildern eine thesenillustrierende Funktion hat, zur Klärung einer Wissenschaft von den Bildern beitragen könnte.49 Gottfried Boehm zieht wenig später mit Wie Bilder Sinn erzeugen Bilanz seiner bildwissenschaftlichen Forschungen und betont schon im ersten Satz, dass seine „Beiträge von der Faszination der Bilder [leben]“, die er auf die „Gründe und Voraussetzungen“ zurück „buchstabieren“ will.50 Es folgen 12 Kapitel, die alle mit dem Begriff „Bild“ überschrieben sind, aber westliche Traditionskunstwerke zum Gegenstand einer allgemeinen Theorie des Bildes machen. Auch Boehm formuliert folglich eine Bildtheorie der Kunst. Da eine explosionsartige Freisetzung des Potenzials Bild von der Moderne und den Avantgarden genug Stoff für deren Erkundung bereithält, geht seine Bildtheorie von der Kunst zum Bild und kehrt immer wieder zurück zur Kunst: „Die Kunst der Moderne reflektierte und recherchierte in einer gewaltigen Anstrengung ihre eigenen ikonischen Voraussetzungen. Seitdem haben Gestalter immer wieder auch eine Entscheidung darüber zu treffen, was für sie jeweils das Bild ist, das sie hervorbringen wollen.“51 Der Kunstbildbegriff der Moderne wird daher zum reinen Bildbegriff mit universaler, mithin globaler Geltung. Was vormals Stil genannt wurde, heißt jetzt Bild. Gleichzeitig wird die westliche KünstlerIn (und nur er/*/sie) zur SchöpferIn der Bildbegriffe. Das letzte Kapitel

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des Buches, der Wiederabdruck eines Hans-Georg Gadamer gewidmeten Aufsatzes, trägt noch das Wort „Kunst“ im Titel und führt zugleich an den Anfang der kunstbildwissenschaftlichen Leitthese, die die „Dominanz der Sprache“ gegen einen „starken“ Bildbegriff der Kunst setzt (vgl. hier Kap. 10). Horst Bredekamp verwendet in seiner Theorie des Bildakts, eine Summa seiner unter der Bezeichnung „Kunstgeschichte“ laufenden Forschung, den Begriff Kunst synonym mit dem Begriff Bild und benennt zunächst einmal fünf Gründe, die dazu geführt haben, dass „die Bilderfrage ein so insistent verfolgtes Thema geworden ist“.52 Ein Leonardo-Zitat am Anfang überschreibt das Leitthema des Buches, das die Wirkkraft „des Bildes“ aus den Diskursen über Kunst zum Gegenstand hat. Wie Belting und Boehm geht auch Bredekamp stillschweigend von der Prämisse aus, dass sich ein Bildbegriff aus den kanonischen Gegenständen der westlichen Kunstgeschichte herleitet und dass der Kunstbegriff bildkulturell prägend ist – dies kann nur als ein weiterer Beweis dafür gelten, dass es der bildwissenschaftlichen Kunstgeschichte gar nicht um die Vertreibung der Kunst aus der Wissenschaft geht. Doch worum geht es dann? Der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman, befragt auf seine Position in der Kunst-gegen-Bild-Debatte, lehnt eine kategorische Trennung von Kunst und Bild ab, denn es handele „sich hierbei um zwei Perspektiven auf möglicherweise die gleichen Gegenstände“.53 Es gäbe daher keinen Widerspruch zwischen Bild und Kunst. Hiermit ist ausgesprochen, was sich bei allen genannten Autoren als konstitutiv für eine kunstwissenschaftliche Erforschung von Bildern herausstellt und was ihre Studien implizit leitet: Der historische Kunstbegriff (Traditionskunst) – eines der hermeneutischen Ziele der Kunstwissenschaft – ist ein Akzidenz des Bildes, kann also keine universale Gültigkeit beanspruchen. Genau an dieser Stelle erweisen sich die kunstbildwissenschaftlichen Studien als Paradox: Wenn Kunst weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung – folglich Akzidenz – des Bildes ist, dann ist die Gleichung Kunst = Bild falsch. Es ist ein Verdienst der hier genannten Studien, einen Bildbegriff der Traditionskunst herauszuarbeiten, der Geltung für den Kunstkanon der westlichen Kultur beanspruchen kann. Ob und in welcher Weise dieser Kunstbildbegriff jedoch die gesamtkulturelle Bildkultur oder gar globale Bildkulturen erklären hilft, muss jetzt als Frage und nicht als Prämisse formuliert werden. Sie wird nun von KollegInnen beantwortet, die sich der Kunst- und Bildproduktion nicht-westlicher Kulturen widmen und andere Kunst- und Bildbegriffe in den Diskurs einführen.54 Aus diesen Forschungen konturiert sich ein Kunstbegriff des Westens, der zu allen Seiten durchlässig agiert, der sich potenziell aller Bilder und Dinge aus allen Kulturen bemächtigt und sich zugleich zu allen Seiten abschottet, um einen exklusiven Kunstbegriff durchzusetzen. Das bedeutet, dass Bilder und Objekte, die vormals Nicht-Kunst waren, schnell Kunst werden können – und Bilder und Objekte, die Kunst sind, in Nicht-Kunst-Bereiche einwandern können. Mit dieser Deutungsoffenheit trifft sich die „Leerformel“ ,Kunst‘ mit der Ideologie ,Westen‘, welche Stefan Weidner in Jenseits des Westens einer grundlegenden Kritik unterzieht. Man ersetze im folgenden Zitat nur das Wort „Westen“ durch das Wort „Kunst“: „Die Rede vom Westen ermöglicht eine Abgrenzung, ohne sie zu erzwingen oder offensichtlich zu machen. [...] Jeder kann, potenziell, Teil des Westens werden; jeder kann, potenziell, ausgeschlossen werden.

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[...] ‚Westen‘ ist unverbindlich, deutungsoffen – aber nicht ganz und gar: Das Label ermöglicht Identifikation, ohne allzu genau sagen zu müssen, was darunter verstanden werden wird. Es präjudiziert eine Unterscheidung, ohne sie zu erzwingen.“55 Weidner reiht sich in den Chor derjenigen ein, die „globale Gemeinschaft oder Identität“ einklagen, eine „Gleichbehandlung aller Kulturen“, die Akzeptanz „alternativer Weltanschauungen und Identitätskonzepte“. Dass die Erfüllung dieser Forderung solange verhindert wird, wie die Welt vom entfesselten Kapitalismus beherrscht wird, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Die Gleichung Westen und Kapitalismus muss um Kunst erweitert werden. Das oben skizzierte „Ende der Kunst/Kunstgeschichte“, einer der Auslöser für die kunstwissenschaftliche Bildwissenschaft, führt dazu, dass ein ‚starker‘, wissenschaftlich fundierter, westlicher Traditionskunstbegriff – maskiert als Bildbegriff – in die Mitte einer akademischen Disziplin platziert wird (vgl. Kap. 10). Im Zeitalter der Bilder könnte sich genau dies als eine Strategie erweisen, die der akademischen Kunstgeschichte helfen würde, sich nach dem Ende der Traditionskunst – im Zeitalter der Bilder – in den zeitgenössischen digitalen und globalen Bilderströmen zu positionieren. Andernfalls droht, wie Martin Warnke schon 1999 bemerkte, eine Kunstgeschichte, die archäologisch nur mehr historische Gegenstände einer abgeschlossenen Kultur – ich nenne sie Traditionskunst – erforscht.56 Der fachinterne Angriff der ProKunst- auf die Kunst-Bild-Fraktion ist also völlig unbegründet.

Bild und Kunst Die ersten kunstbildwissenschaftlichen Studien werfen eine Reihe interessanter Fragen auf, die auch die Pro-Kunst-Fraktion beschäftigt bzw. beschäftigen sollte. Was zeichnet die diversen Bildbegriffe aus, die an den Werken der kanonischen Traditionskunstgeschichte gewonnen wurden? Was lernen wir aus dem kulturellen Spezialfall historischer Bilder, d. h. Bilder, die zum akademischen Kunstkanon gehören, für eine Kultur aller Bilder? Und: Wie unterscheiden sich Bilder anderer Kulturen vom Kunstbild des Westens? Wie ist dieses historische Bildwissen der Kunst gesamtkulturell und darüber hinaus transkulturell wirksam?57 Lässt es sich auf die neuen digitalen Bildkulturen anwenden? Wie lässt es sich anwenden? – Wenn sich die akademische Kunstgeschichte mit diesen Fragen befasst, kann der Brückenschlag von Traditionskunst hin zum Zeitalter der Bilder gelingen. Bilder werden nicht als Kunst geboren (siehe Kap. 5). Der Kunstbildbegriff ist wie gesagt ein kultureller Spezialfall und als solcher mit großer historischer Dynamik und institutioneller Macht ausgestattet worden: Er ist kulturspezifisch, weil er in der westlichen Bildtradition erfunden und verankert ist, und ein Spezialfall, weil er – nach der Definition des akademischen Kunstbetriebs – nicht auf alle Bilder zutrifft, auch wenn die Kunst selbst behauptet, dass alle Bilder Kunst werden können. Für die weiteren Überlegungen gelten deshalb die folgenden Prämissen: Kunst ist eine Frage der kulturellen Zuschreibung und keine universale Eigenschaft ,des Bildes‘. Die Definition von Kunst ist in der westlichen Welt zweigeteilt. Es gibt Bildermacher­ Innen, die nicht zwingend eine akademische Kunstausbildung genossen haben müssen, und

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in der Regel akademisch ausgebildete KunstkritikerInnen, KuratorInnen und KunstwissenschaftlerInnen, die auf das Bild-Angebot mit ihrem begründeten Urteil durch Inklusion in den akademischen Kunstbetrieb oder Exklusion reagieren. Der westliche Kunstbegriff unterliegt einem historischen Wandel und wird argumentativ immer wieder neu ausgehandelt. Kunst und Kunstbegriff stehen in Kontexten, in denen soziale, politische, moralische, ethische und ästhetische Werte als kulturrelevante Werte diskutiert werden. Angesichts der zunehmenden „Verkunstung“ der Bildkulturen im Zeitalter der Bilder, stellen sich folglich zwei komplementäre Fragen, die in dieser Studie beantwortet werden sollen: 1. Was ist der Mehrwert des Bildes namens Kunst? 2. Was bleibt vom Kunstbild, wenn man den historisch reinen Traditionskunstbegriff abzieht, wenn es bar jeder Kunst nur noch Bild ist? Macht die Kunst das Bild, wie die oben zitierten kunstbildwissenschaftlichen Studien glauben? Sind die als Kunst definierten Bilder der Jahrhunderte bildkulturell prägend? Oder genauer: In welche (bild)kulturellen Teilbereiche wirkt Kunst hinein? Greift die Kunst aktiv in die (Bild-)Kulturen ein – oder ist ihre (bild)kulturelle Wirksamkeit eher passiv: Wird die Kunst von den Bildern anderer kultureller Teilbereiche für kunstferne Zwecke benutzt? Diese Fragen stellen sich angesichts der Bilderströme, die im Sekundentakt Bilder produzieren und sich nicht selten Anregungen aus dem historischen Teilbereich der Traditionskunst holen oder sich Traditionskunstbilder einverleiben, ohne das Zitat kenntlich zu machen, die kunsthistorisch definierte Stile als „looks“ imitieren, die sich mit Mitteln der schönen Kunst schmücken, dekorieren, in Szene setzen und/oder Geld verdienen wollen (Abb. 15). Was ist der Zweck dieser Einwanderung? Welche historischen, im Kunstsystem erfundenen Stile, Bilder, Bildkonzepte benutzen Bilder in Zeitungen, Magazinen, der Werbung, im TV, im unüberschaubaren, digitalen Strom des Internets – und wieso gerade diesen Stil, dieses Bildzitat, dieses Bildkonzept und keine anderen? Und: Wie reagieren Bilder, die der Kunstbetrieb als Kunst akzeptiert, auf die Bildangebote der Bilderströme, die sich, wie gesagt, nicht selten Kunst als „look“ wie modische Kleider umwerfen, ohne aber Kunst sein zu wollen? Das gegenwärtige Zeitalter der Bilder ist ein Spiegelkabinett: Bilder spiegeln die Kunst – die im White Cube als Kunst ausgestellten Bilder spiegeln die Bilder und unterscheiden sich von den nicht im White Cube ausgestellten Bilder nur noch mit Strategien der Ironie. Auf Bilder, die so aussehen wie Kunst, reagiert eine institutionskritische Kunst deshalb mit Bildern und Aktionen, die so tun, als ob sie Nicht-Kunst sind (Abb. 16). Mit dem Fake, mit Ironie und Dis/ simulation arbeitet eine Kunst, die nach ihrer Identität sucht, an ihrem Selbstverständnis, und kapituliert zuweilen vor der eigenen, historischen Entgrenzungsstrategie sowie der fatalen Prophezeiung: Alles kann Kunst sein. Selbst der kritische Zugriff auf die Gesellschaft ist ihr streitig gemacht worden, wenn Nicht-KünstlerInnen ihre Strategien übernehmen. Beuys’ erweiterter Kunstbegriff trägt Früchte, denn soziale Plastik formiert sich heute im „Transformationsdesign“ eines Sozialpsychologen.58 Auch die diversen Bildbegriffe sind dem kulturhistorischen Wandel und der Ausdifferenzierung ihrer Definitionen unterworfen. Der Iconic turn ist das Symptom für die Öffnung vieler Disziplinen mit ganz unterschiedlichen Interessen und Fragestellungen auf Bildkulturen: Philosophie, Archäologie, Geschichtswissenschaft, Medienwissenschaft, Ethnologie, Religionswissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Literaturwissenschaft, Psychologie, Hirnforschung,

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um nur einige zu nennen. (siehe Kap. 9).59 KunstwissenschaftlerInnen bilden in diesem Chor der Erforschung von Bildern nur noch eine von vielen Stimmen. Die Kunsttheorie westlicher Prägung ist nicht mehr alleiniger Bildbegriffsgeber (Kap. 10). Insofern ist es auch für die Kunstwissenschaft von Interesse, inwieweit Traditionskunst an den Bildpraxen und Bildtheorien anderer historischer Bilddiskurse beteiligt ist – und welche Bildpraxen und -diskurse es außerhalb der mächtigen Kunstbildtradition des Westens gibt.60 Statt einen Kunstbegriff durchzusetzen, könnte man Kunst als Frage formulieren und sich damit befassen, aus welchen historischen Bildbegriffen der Kunstbildbegriff gespeist wurde, wie sich der Kunstbildbegriff formierte und ausdifferenzierte und wie Kunstbildbegriffe auf die diversen Bildbegriffe in anderen kulturellen Teilbereichen zurückwirkten.

Freiheit der Kunst Kunst im Sinne der Traditionskunst westlicher Prägung wurde im Lauf ihrer langen Geschichte von den Subjekten, die sie ausübten und förderten, mit Freiheit ausgestattet. Freiheit, ein Zentralbegriff der bürgerlichen Moderne, war von den KünstlerInnen des 19. Jahrhunderts hart errungen bis hin zur Autonomie, die sich die Avantgarden des 20. Jahrhunderts erkämpften.61 Freiheit konnte sich aus der epistemologischen Krise der Postmoderne bis in unsere Zeit hinüberretten. Seit 9/11 ist Freiheit in der westlichen Welt jedoch im Zustand einer permanenten Bedrohung und daher zu einer gesellschaftspolitischen Dauerkrise globalen Ausmaßes geworden. Heute wird Kunst in der westlichen, ihre freiheitlich-demokratische Gesinnung gegen Rechtspopulismus und neue Diktaturen verteidigenden Welt als das Symbol schlechthin für die Freiheit des Individuums gehandelt. Das Postulat Freiheit und Unabhängigkeit hat nicht nur universalen, sondern Zwangscharakter für all diejenigen, die noch an die persönliche Freiheit glauben: Kunst kann nicht nur alles sein, sondern sie muss alles dürfen können, wie unlängst der Angriff auf Charlie Hebdo gezeigt hat.62 Die freie Kunstausübung ist hierzulande im Artikel 5 des Grundgesetzes an das Recht der freien Meinungsäußerung gekoppelt, es ist ein verbrieftes Grundrecht der BürgerInnen eines demokratischen Rechtsstaats – und dieses Recht gilt, was entscheidend ist, auch für die Mehrheit der Bilder, die nicht im und für den Kunstkontext entstanden sind.63 Kunst und Bild sind also zunächst einmal über das freiheitlich-demokratisch verbriefte Grundrecht einer Gesellschaft gleichberechtigt miteinander verbunden. Die Gesellschaft überträgt dem Kunst- und Bildermachen einen ethischen Wert. Aus der seit der Französischen Revolution verbrieften Meinungsfreiheit der Bürger machten die Avantgarden des 20. Jahrhunderts ihre Strategie des „Ausstiegs aus der Kunst“, die nicht nur zum „Alles ist Kunst“ führte, sondern auch zu dem immensen Reichtum immer neuer Kunst. Mit der Kategorie Freiheit wendete sich das Kunstbild immer wieder gegen den Systemzwang des Kunstbetriebs, Bilder als Kunst zu definieren, zu bewerten und in den Betrieb ein- oder aus ihm auszuschließen, um sie dort zu vermarkten. Innerhalb des demokratischen Grundrechts der freien Meinungsäußerung existiert für eine Reihe von Bildern und Aufführungen, die nicht Kunst sind, ein gesetzlich geregeltes Verbot, das

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19  Jonathan Meese: Ohne Titel, 2008, bemalte Fotografie mit Collage, Kopenhagen, Statens Museum for Kunst

die Kunst – und nur sie – missachten darf. Es ist also ein Privileg der Kunst, Bilder zu machen, die ohne den Kunstkontext unter Strafe gestellt würden (Abb. 19).64 Was folgt daraus? Gäbe es die Kunst nicht mehr, würde mit ihr die Freiheit untergehen. Und: Wenn alles Kunst wäre, wäre die Freiheit grenzenlos. Im Jahr 1972 waren einige KunsthistorikerInnen noch davon überzeugt, „daß der Warencharakter der Kunst ihr autonomes Wesen nicht auflöst, sondern gerade zur Voraussetzung hat: autonome Aura und Marktwert bedingen einander noch heute“.65 Seit Fälschungen im großen Stil als Kunst verkauft werden, seit Kunst in Steueroasen und Freeports der Superreichen ihr Dasein als Kapitalanlage fristet, ist die hier formulierte Prämisse ein kritischer Punkt im Kunstsystem. Der Kunstmarkt nimmt der Kunst ihre Freiheit. Die Wanderung der Bilder von Nicht-Kunst in den kommerziellen Kunstbetrieb gibt Georges Didi-Huberman Anlass zur Sorge um die Kunstfreiheit. „Wem gehört das Bild? Wenn es aus einem [öffentlich zugänglichen, C. K.] Archiv stammt, dann gehört es allen. Wenn es ein Kunstwerk ist, dann ist ein Honorar fällig, das dem Autor zukommt.“66 Die Wanderung des Bildes aus dem Archiv und seine kommerzielle Verwertung im Kunstsystem macht die AutorIn zur KünstlerIn und nimmt ihm/*/ ihr und dem Bild im Gegenzug die Freiheit. Hier greift jetzt tatsächlich die Gleichung Kunst = Bild. Das im ,Alles ist Kunst‘ gründende Ende der Kunst förderte die Annährung von Bild und Kunst, bis zur Ununterscheidbarkeit: Bild wird Kunst. Der von den Kunstbildwissenschaftler­

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Innen eingeführte Bildbegriff der Kunst bekommt eine überraschende Wendung, wenn er als ein Ausweg aus dem kommerziellen Kunstbetrieb verstanden wird. Die neue Ikonologie der BildwissenschaftlerInnen ist möglicherweise nur vor der für die Kunst verbrieften Autonomie und Freiheit zu verstehen: Als Bild ist die Kunst wieder frei. Deshalb also die Rede vom Bild!

Bildkulturen Die in den Kapiteln dieses Buches behandelten Fallstudien arbeiten am Bildbegriff der Traditionskunst, markieren aber deutlich den Kunstbegriff des Bildes und machen Bilder, die der Kunstbetrieb (noch) nicht durch Definition oder Verschiebung in den Teilbereich Kunst aufgenommen hat, auch nicht zur Kunst. Die Bilder, die im Zentrum der folgenden Kapitel stehen, nehmen im Kanon der Kunstgeschichte ihren Ausgang, der mit dem seit dem 14. Jahrhundert in den Niederlanden und Italien entwickelten, kanonisch-westlichen Kunstbegriff identisch ist (wie in Kap. 1 gezeigt). Eine zentrale Fragestellung lautet daher: Wozu machen wir Bilder und – was machen Bilder mit uns? Zu diesem Zweck werden Epochen, Werke, Künstler und Kunstbildkonzepte im Kontext ihrer Verwendung erkundet. Vor dem Hintergrund des nach wie vor gültigen und grundgesetzlich verbrieften autonomen, selbstbezüglich, zweckfreien – freiheitlichen – westlichen Kunstbegriffs seit dem späten 18. Jahrhundert – der Moderne – muss die Frage „Wozu Bilder?“ lauten, denn die Autonomie der Kunst lässt eine Frage nach dem Zweck (wozu) der Bilder nicht zu. Es überrascht allerdings nicht, dass Kunstbilder – jenseits ihrer philosophisch verbrieften Zweckfreiheit – nicht in einem funktionslosen Vakuum herumhängen, sondern diese Bilder etwas mit den Menschen machen, die sie betrachten (siehe Kap. 8). Aus dem akademischen Kunstkanon heraus lassen sich Grundfunktionen der Bilder in unserer Kultur ableiten, die seit der Antike formuliert, historisch fortgeschrieben, ausdifferenziert und erweitert wurden und bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts praktiziert werden.67 Wie Bilderverwendung oder -benutzung bildkulturell mit dem Kunstbegriff verklammert ist, ist Thema der folgenden Kapitel. Ein großer Teil von Bildern unserer Kultur, so lautet die These dieses Buches, ist durch ihre Nähe oder Ferne zu den Bildern, die als Kunst definiert worden sind, charakterisiert – und: Die digital fluktuierenden Bilderströme im Zeitalter der Bilder vergrößern diesen Anteil ständig.68 Die Rede von Bildern (statt Kunst) hat den systematischen Vorteil, potenziell alle Bilder in die Untersuchung einzubeziehen, in allen Medien, auch Kitsch und Kunstfälschungen. Es werden in diesem Buch Kunstwerke interpretiert, aber die Interpretation von Einzelwerken der Kunstgeschichte ist nur dann das Anliegen, wenn in dem zu interpretierenden Kunstwerk ein Bildbegriff enthalten ist, der über das Wozu des Bildes eine Auskunft gibt. Die Studie profitiert von dem immensen Bildwissen, das die abendländische Kunst über die Jahrtausende gespeichert und das die Kunstgeschichte in einer über 150-jährigen Geschichte ihrer Wissenschaft durch Forschung analysiert hat. Die BildermacherInnen, die in unserer Kultur KünstlerIn genannt werden, haben in ihrer Praxis nicht nur über Kunst und Kunstsysteme nachgedacht, sondern ihre Freiheit lag und liegt noch immer vor allem darin, dass sie in einem umfassenden Sinne über Bilder und Bildgebrauch reflektieren: Der Sinn und das Privileg des

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Bildermachens ist zunächst Bildreflexion durch Bildpraxis, die dann nachträglich zur Kunst erklärt werden kann, was im Zeitalter der Bilder kein zentrales Anliegen mehr ist. Am Anfang einer Bildproduktion steht das offene Experiment mit dem Bild in seinem Medium, der Prozess der Bildfindung, die Reflexion über Bilder und Bildpraxis, die zur Bilderkenntnis bzw. zur Erkenntnis der Welt, der Menschen, in und durch Bilder führen kann. Das Ziel der BildermacherInnen ist das unter An- bzw. Verwendung von Kunst gewonnene Bild und nicht umgekehrt. Und weil es zuerst um das Bild geht, konnte, so die These noch einmal anders formuliert, das anwachsende Wissen über Bilder zu einem identitätsstiftenden kulturellen Teilbereich werden, der Kunst genannt wird. Das immense Bildwissen der Kunst, das die Kunstgeschichte erforscht, wirkt auf die Kultur zurück, in deren Kontext es gewonnen wird – die Kultur, die Bilder ermöglicht, wirkt auf den kulturellen Teilbereich Kunst zurück. Insofern sind Bildkultur, Kunst als deren Teilbereich und Kultur als Ganzes füreinander durchlässig. Das Anliegen dieses Buches ist es, an einigen markanten Beispielen, aufzuzeigen, wie diese Durchlässigkeit praktiziert wird, wie eine jahrhundertelange Kunstbildpraxis im Kontext der Bildkulturen bis heute wirksam ist.

Plädoyer für eine Bildkulturwissenschaft Unter einer „Bildkultur“ wird im Folgenden der Zusammenhang von Bildern innerhalb einer Kultur unter dem Paradigma der Funktion oder der Verwendung verstanden. Das Material dieses Buches besteht aus der Erkenntnis von Bildfunktions- bzw. Bildverwendungszusammenhängen innerhalb der westlichen Kultur, die sich in Bildkulturen formiert. Ich knüpfe damit methodisch an den Anfang einer als „Bildkulturwissenschaft“ zu bezeichnenden Forschung von Aby Warburg an, dessen Wiederentdeckung auch am Anfang des Iconic turn stand, da er sich potenziell der Erforschung aller Bilder einer Kultur widmete.69 Warburg stellte die Tafeln seines Bilderatlas Mnemosyne aufgrund von Formähnlichkeit in den Bildern zusammen, um daraus das Einwirken „Nachleben“ der antiken Kunst in allen bildkulturellen Teilbereichen, insbesondere die Wirksamkeit einer „psychischen Energie der Bilder“ abzuleiten (Abb. 20). Das Erkenntnisinteresse in diesem Buch liegt hingegen in der Frage, wozu die in den Kanon der Kunstgeschichte als Kunst aufgenommenen Bilder dienen und was der Beitrag der Kunst ist, aus denen sich Bildkulturen ableiten lassen.70 Eine Bildkultur ist also nicht etwas Gegebenes, ein vorliegendes Korpus von Bildern, wie etwa das Werk eines Künstlers oder die Summe der Bilder einer Epoche, einer Kunstlandschaft oder ein Kanon, sondern etwas, das sich durch den Umgang mit Bildern als kulturell formt bzw. ausformt. Bildkulturen gibt es in allen Kulturen, sie sind nicht auf das ‚Abendland‘ begrenzt. Die Erforschung von Bildkulturen unter dem Aspekt der Bildfunktion oder Bildverwendung hat den Vorteil, dass die westliche Bildkultur mit anderen Bildkulturen vergleichbar wird und somit für eine inter- oder transkulturelle Bildkulturwissenschaft zur Verfügung steht.71 Für die Konzepte einer World Art und einer Global Art ist von Interesse, wozu andere Kulturen Bilder machen und benutzten. Dies führt zurück zu den Fragen einer allgemeinen Bild-Anthropologie, die Hans Belting als seinen Beitrag zu einer Bild(kultur)wissenschaft gestellt hat.72

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20  Warburg: Bildatlas "Mnemosyne" Tafel 39 (Rekonstruktion des Originals)

21  Höhle von Chauvet: Nashorn, ca. 30.000–32.000 v. Chr.

Die hier vorgelegte Erforschung von Bildkulturen fragt nicht nach historischen Entwicklungen, die Anfänge, Höhepunkte und ein Ende erkennen lassen. Bilder einer Bildkultur haben zwar historisch gewachsene Wurzeln, aber sie entwickeln sich nicht zum Höheren, im Sinne einer Evolution, die zu Selektion oder gar Perfektion führt, wie dies für die Geschichte der Kunst angenommen wurde; sie kommen auch nicht an ein Ende, das die westliche Kunstgeschichte mit ihren TheoretikerInnen dann gesetzt hat, wenn historische Zäsuren im Sinne eines Epochen­endes bemerkt wurden.73 Wer die Bilder in den Höhlen von Chauvet oder Lascaux betrachtet, stellt fest, dass die menschliche Bildproduktion, soweit sie uns bekannt ist, vor circa 30.000 Jahren auf einem Stand ist, der nicht an eine Weiterentwicklung denken lässt. Diese Bilder erscheinen so, wie sie sind, in Form und Ausdruck als vollendet (Abb. 21). Wozu die Menschen des Aurignaçien diese Bilder an die Höhlenwände malten, etwa zum Zweck eines wem auch immer gewidmeten Kults, lässt sich nicht sicher sagen.74 Das Nichtwissen um ihre Funktion verschafft ihnen einstweilen eine Zweckfreiheit, wie sie die Kunst der Moderne reklamierte, die ihre Formen rezipierte und mit dieser Rezeption an uns Heutige vermittelte. Bildkulturen, wie ich sie hier verstehe, sind historisch gewachsen und haben konstante Anteile, die den Bildgebrauch betreffen und die – als roter Faden tradiert – ‚Geschichte‘ machen. Die Funktionen und Verwendungen der Bilder in einer Kultur, so wird sich auf den folgenden Seiten zeigen, sind trotz stetig steigender Anzahl und Vielfalt von Bildern begrenzt: Immer mehr Bilder nehmen dieselben Funktionen im kulturellen Ganzen wahr. Was sich verändert, ist die Bildtechnik. Die von Algorithmen programmierte, digitale Bildästhetik, in Zeiten analoger Kunsttechniken noch Stil genannt, ist heute begrenzt, d. h. weitaus weniger wandelbar.

Alte Bilder – neue Bilder

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22  nach Michelangelo: robot-finger

Alte Bilder – neue Bilder Das Aufzeigen des bildkulturellen Zusammenhangs von ‚alten‘ Bildern der Traditionskunst mit den gerade erzeugten Bilderströmen der digitalen Massenmedien erscheint notwendig, da die maschinell ausgestoßenen Bilder die kulturelle Dimension von Bildern, ihre Funktion und ihren Sinn für das kulturelle Ganze, zu verwässern drohen (vgl. Kap. 6). Die Masse der Bilder lässt vergessen, dass heutige Bilder, heutiger Bildgebrauch aus dem Kontext historischer Bildkulturen möglich wurde (siehe Kap. 3–5). Die manchen sinnlos erscheinende, nur schnellem Zeitvertreib, Konsum und Unterhaltung dienende Bildproduktion verbirgt unter der bunten, leuchtenden Oberfläche ihre Herkunft aus dem traditionellen, als hochkulturell geltenden Bildgebrauch (Abb. 22). Wenn die Verbindung von ,neuen‘ und ,alten‘ Bildern geklärt ist, erscheinen die auf elektronischem Wege erzeugten, global zugänglichen Bildermassen in Bezug auf ihre Funktion für den Bildbenutzer nicht als kultureller Bruch, sondern zunächst einmal nur als eine Weiterentwicklung von Bildtechniken, die dazu dienen, Grundfunktionen von Bildern zu optimieren, indem beispielsweise (potenziell) alle Menschen via Internet Zugang zu Bildern bekommen bzw. alle über Digitalkameras selbst Bilder produzieren. Die heutigen, im digitalen Zeitalter entstandenen Bilder sind nicht aus dem Nichts entstanden: Was aber ist neu an ihnen? Neu ist die Masse der Bilder erzeugenden Maschinen, die von Bildproduzenten im Sekundentakt bedient werden. Neu ist die reduktiv-nivellierende Ästhetik der Bilder, Ergebnis von Algorithmen, die sich an den der vormals analogen Fotografie anklammern, weil das Fotografische einst die Beweiskraft des Index versprach (vgl. Kap. 7). Neu ist die Schnelligkeit,

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mit der Bilder maschinell erzeugt und digital ‚gepostet‘ werden können – um im nächsten Moment durch einen Klick eliminiert zu werden oder durch ein Programm (z. B. SnapShot) wie eine Seifenblase zu zerplatzen. In ihrer globalen Sichtbarkeit unterscheiden sich die im World Wide Web hochgeladenen Bilddateien von den Kunstbildoriginalen, zu denen nach wie vor nur ein elitärer, einschlägig gebildeter BetrachterInnenkreis intellektuellen Zugang bekommt, fundamental. Alle wollen Bilder. Der Umgang mit Bildern, sei es in Facebook oder Instagram, ist in einer alten Bildpraxis eingeübt, die ich exemplarisch bis Kapitel 5 untersuche. Doch die omnipräsenten, blitzschnell erzeugten, scheinbar ,neuen‘ Bilder lassen die handgemachten oder mit Maschinen produzierten Bilder, die, wie die Druckmaschine oder das Fotolabor dem industriellen Zeitalter angehören, bei den ‚Digital Natives‘ alt aussehen. Auch die unendlich anmutende Archiv­leistung von Big Data lässt die traditionellen kulturellen Bildarchive, das Museum oder die Bibliothek, als unflexibel und schwerfällig zurück. Doch werden auch im Personal Computer, auf Tablets und Smartphones via Facebook, Instagram, Google etc. Bildergalerien hergestellt. Dies geschieht durch eine Klickbewegung mit einer Schnelligkeit und einer Variationsbreite von nie gesehenen Ordnungen und Beziehungen von Bildern aus aller Welt, die im Museum, wenn überhaupt, nur durch umständliches Ab- und Umhängen und durch kostspielige Bildertransporte möglich wären. Big Data spült Bilder an die Oberfläche, die aus allen denkbaren Archiven, öffentlichen wie privaten, mit analogen und digitalen Kameras, durch Scannen und Uploaden in den Bilderpool eingeschleust werden. Die global sichtbaren Bilder, die jetzt aus allen Kulturen der Welt kommen, werden – etwa durch Google – in neue, nie geahnte Bezieh­ungen gebracht, die die alten (westlichen) Bilderordnungen (der Kunst) in ihrer Dominanz und ihrem hegemonialen Anspruch in Frage stellen oder gar außer Kraft setzen.75 Der hochleistungsfähige menschliche Bildspeicher, das individuelle Bildgedächtnis, kapituliert jedoch vor der immer größer werdenden Masse von Bildern aus allen Teilen der Welt. Die Menge der Bilder ist unfassbar. Die Anhänger der alten, handgemachten Bilder, die bis heute Kunst genannt werden, blicken mit Sorge auf die in das digitale Zeitalter hinein geborene Generation, die lieber Bilder downloadet oder selbst digitale Bilder mit ihren Smartphones produziert als ins Museum zu gehen, um dort ,Originale‘ zu betrachten. Man beobachtet die Digital Natives in den Museen dieser Welt aber auch, wie sie mit den Rücken zur Kunstikone Selfies machen (Abb. 23), um sie stolz für ihre Freunde in aller Welt zu posten: „Schaut mal, ich bin im Bild des Museums XYZ!“ Die Kulturtechniken des Malens, Bildhauens, die Vielfalt der grafischen Techniken werden vernachlässigt, wenn Kunstunterricht nur mehr episodisch auf dem Lehrplan steht und kein Kind mehr malt, zeichnet, modelliert, geschweige denn sonst irgendwie angeleitet wird, etwas mit den Händen herzustellen. Die Handarbeit der Digital Natives reduziert sich dann auf das Antippen oder Wischen des Touchscreens mit extrem flinken Fingerspitzen. Was geht verloren, wenn niemand mehr ins Museum geht, um Kunstoriginale zu erfahren? Wozu und wem dient noch das Original im Zeitalter der Bilder (siehe dazu Kap. 6)? Die Masse der im Bildschirm aufleuchtenden Bilder überdeckt ihre Vielfalt – der Unterhaltungswert der Bilder verflacht und macht bewusstlos für den Sinngehalt der Bilder. Wer in den Bildschirm schaut, bekommt zwar Unmengen von Bildern zu sehen, stellt aber den Körper still und reduziert ihn auf den

Alte Bilder – neue Bilder

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23  Selfie im Museum

tippenden Finger. Man erlebt etwas und macht Erfahrungen, während die Maschine den Geist ansaugt, um ihn für ihre Zwecke zu programmieren. Wer Selfies postet, zeigt sein äußeres Selbst als reine Oberfläche und stellt nicht die Frage, wen oder was diese Oberfläche durch das Zeigen verdecken will (vgl. Kap. 5) – darin gleichen die neuen Bilder der alten Kunst, wie ich zeigen werde (besonders Kap. 4). Das Wort „posten“ (lat. positus) für das digitale Versenden von Bildern erinnert noch an die räumlich-örtliche Postierung von mündlichen Nachrichten oder Briefen, die Kuriere über große Distanzen zu Fuß oder in Pferd-und-Reiterketten an den Empfänger übermittelten. Es erinnert aber auch an Zeiten, in denen Bilder ihre festen Orte hatten, an denen sie betrachtet wurden, und es Regeln für den Bildverkehr gab. Neu ist also, dass jeder, der Zugang zu einer Bildermaschine hat, Bilder posten kann, die jeder, der Zugang zum Internet hat, sehen kann. Neu ist die daraus resultierende Regellosigkeit im Umgang mit Bildern, die Unübersichtlichkeit, Um- und Unordnung der Bildermassen. All diese Neuheiten haben dazu beigetragen, dass die Fragen, wozu Bilder eigentlich gemacht werden, welchen Sinn sie für ihre BenutzerInnen haben, aus dem Blick geraten sind. Der Blick in den Bildschirm, wo alle Dinge leuchten, leicht und schwerelos sind, lässt die materielle Welt außerhalb des Bildschirms schwerfällig und träge – alt – aussehen. Die Welt, zumal in ihrem ,Naturzustand‘, ist eine Antiquität geworden bzw. für den, der auf den Bildschirm starrt oder sich ein Head-Mounted Display (HDM) aufsetzt, gar nicht mehr da. Egal, wie ‚neu‘ die materiell greifbaren Dinge sind, die uns in unserer körperlichen Lebenswelt weiterhin umgeben und die wir (außer den Bildermaschinen) auch noch benutzen: Ihre Bilder auf dem Bildschirm sind schöner (gemacht), sie haben mehr Strahlkraft. Ihre programmatische Komplexitätsreduktion in Bezug auf die wechselseitige Abhängigkeit von Bildästhetik und -inhalten machen sie zu einer schnell konsumierbaren Erscheinung. Sie erscheinen so schnell im Bildschirm, wie man sie wieder verschwinden lassen kann. Ein Bild jagt das nächste. Dieses Buch ist im Bewusstsein einer kulturellen Schwellensituation geschrieben. Wer auf die alten Bilder (Traditionskunst) blickt, schaut mit Sorge in die Zukunft der Bilder. Was würde aus einer Kultur, in der kein Bild mehr mit der Hand gemacht wird, wenn nicht mehr gezeichnet und gemalt wird, wenn sich kaum mehr jemand als BildhauerIn betätigt (Kap. 6)? Was

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2  Alles kann Kunst sein

24  Städelmuseum Frankfurt: Digitale Sammlung

würde aus der individuellen Vorstellungskraft, wenn alles sichtbar gemacht, alles gezeigt wird und nichts mehr verborgen ist? Wie sehr wir uns von der materiellen, haptisch-greifbaren Welt bereits entfernt haben, lässt sich nur beurteilen, wenn wir die ‚alten‘ Bilder betrachten. Wie und von wem die neuen Bildermassen verwendet werden, um ihre Benutzer zu hypnotisieren – um sie ökonomisch und politisch zu verwerten, damit sie sozial isolieren, ethisch (um)erziehen und ästhetisch anästhesieren – kommt zu Bewusstsein, wenn man die ‚alten‘ Bilder betrachtet – die ebenfalls diese Zwecke verfolgen konnten (vgl. Kap. 4). Doch die Big Data produzierende Bildermaschine, der sich alle aussetzen, die diese Maschinen benutzen, vermag Massen zu erreichen. Dieses Potenzial hatte das Einzelbild, zumal das Kunstoriginal, vor dem Zeitalter der Bilder, nicht. Die Masse der Bilder, die wir tagtäglich downloaden, scannen und uploaden, die wir browsen und posten sind ästhetisch oft unterkomplex programmiert und üben daher keinen materiellen oder haptischen Reiz auf unseren sinnlichen Geist aus – dafür wecken sie Begehren nach noch mehr Bildern (Kap. 6). Sie folgen allesamt einer bildmaschinellen Technik der Programmierung, die die meisten von uns weder verstehen noch beherrschen wollen. Das erledigen die wenigen, die nicht an den Bildern, sondern an ihrem ökonomischen Wert interessiert sind. Die diversen Programme, die der digitalen Bildkommunikation dienen, machen alle Bilder ästhetisch gleich. Sie reduzieren einen van Eyck, einen Rembrandt, einen Cézanne auf dieselbe Photoshop-Ästhetik, um sie mit der Leuchtkraft eigens dafür entwickelter Displays konsumierbar zu machen. Auf dem Display ist das Traditionskunstwerk zwar konserviert, aber tot wie ein präparierter Schmetterling im Schaukasten. Mit dem Bildoriginal haben diese Leuchtbilder nichts mehr gemein. Während der Transformation in eine Bilddatei, die mit Bildbearbeitungsprogrammen nach Belieben verändert werden kann, um das ‚Original‘ der zeitgenössischen Oberflächenästhetik anzugleichen, geht das Bildobjekt, das einmal als Kunst bezeichnet wurde, verloren. Jedes materielle Bildobjekt verliert seine AutorIn, seine Herkunft,

Alte Bilder – neue Bilder

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seinen Ort, seine Geschichte, seinen Kontext, seine Bedeutung – seinen Sinn –, wenn es zwar für alle verfügbar, aber in seiner Latenz unsichtbar im Big-Data-Archiv als Datensatz gespeichert ist (vgl. Kap. 12). Wenn sich niemand mehr an Kunst erinnert, weil der Weg in das Museum zu weit geworden ist, da die Bilder doch so nah und schnell auf dem Bildschirm zu haben sind, dann geht mit dem Original auch die Traditionskunst verloren. Auf der Schwelle zum Zeitalter der Bilder ist noch alles vorhanden: Kunst kann man noch mit den Händen machen, das Museum mit den Alten Meistern ist noch da, und es gibt auch MuseumsbesucherInnen, die im Foyer mit dem digitalen Bildschirm-Preview der Sammlung begrüßt werden (Abb. 24).

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2  Alles kann Kunst sein

Endnoten 1 Convergence: History, Materials, and the Human Hand – An Interview with El Anatsui, El Anatsui and Laura Leffler James, in: Art Journal, 67/2 (2008), S. 36–53, hier: S. 44; https://www.jstor.org/stable/40598941 (Zugriff 22.03.2019). 2 Ahmad Elgammal u. a.: CAN: Creative Adversial Networks Generating „Art“ by Learning About Styles and Deviating from Style Norms, 2017 (22 Seiten); https://arxiv.org/pdf/1706.07068.pdf (Zugriff am 28.2.2019). 3 Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München/Wien 2003, Kap. 2. 4 Siehe zu den Anfängen den Briefwechsel zwischen Boehm und Mitchell in Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 27–46. 5 Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache?, in: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen, Berlin 2007, S. 28–43. 6 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1995, S. 11–38, hier S. 29–36. 7 William J. T. Mitchell: The Pictorial Turn, in: ders.: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994, S. 11–34. 8 Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 27. 9 Dabei geht es der Kunstwissenschaft weniger um eine Vorrangstellung im bildwissenschaftlichen Diskurs als vielmehr an die Anknüpfung an abgebrochene bildwissenschaftliche Traditionen, die insbesondere mit der Forschung von Aby Warburg und Erwin Panofsky verbunden sind; siehe Horst Bredekamp: A neglected tradition? Art history as Bildwissenschaft, in: Critical Inquiry 29 (2003), S. 418–428. 10 Siehe den Überblick bei Martin Schulz: Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München 2005. 11 Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 9. 12 Vilém Flusser: Alphanumerische Gesellschaft, in: ders.: Medienkultur, hg. von Stefan Bollmann, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2008, S. 41–60 (Mannheim 1993). 13 Als Initiator einer transdisziplinär arbeitenden „Bildwissenschaft“ wirkte der Medienphilosoph Klaus Sachs-Hombach mit einer Reihe von Sammelbänden und dem Virtuellen Institut für Bildwissenschaft. 14 Siehe z. B. Thomas Macho: Vorbilder, München 2011. 15 Die folgende Debatte wurde 2014 von KunsthistorikerInnen geführt. Sie scheint mir symptomatisch für eine zukünftige Ausrichtung des Faches, die ich hier zur Diskussion stelle. Siehe dazu: Texte zur Kunst: Art vs. Image. Bild vs. Kunst 24/95 (2014). Siehe zuletzt Martin Büchsel: Bildmacht und Deutungsmacht. Bildwissenschaft zwischen Mythos und Aufklärung, München 2019. 16 Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, Stuttgart/Weimar 1998. Siehe auch das Thema „Kanon“ des 30. Deutschen Kunsthistorikertages 2009 in Marburg. 17 Zum Kunstsystem siehe Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, auf den ich mich im Folgenden beziehe. 18 Texte zur Kunst: Art vs. Image. Bild vs. Kunst. 19 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt a. M. 1984 (Cambridge/Mass. 1981). „Why was it a work of art when the objects which resemble it exactly, at least under perceptual criteria, are mere things, or, at best, mere artifacts?”, fragte Danto in: After the End of Art, Princeton, New Jersey 1997, S. 124– 125, angesichts von Warhols Brillo Box. Siehe auch Niklas Luhmann: Die Funktion der Kunst und die Ausdifferenzierung des Kunstsystems, in: ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 215–300. 20 Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte?, Berlin 1984, S. 32–51, hier S. 43–44. 21 Siehe dazu Hans Ulrich Reck: Eigensinn der Bilder. Bildtheorie oder Kunstphilosophie?, München 2007. 22 Acute Art, https://acuteart.com/ (Zugriff am 24.7.2018). 23 Siehe beispielsweise den Überblick von Stefan Nowotny / Gerald Raunig: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien u. a.O. 2016. 24 Gertrud Koch: Falsche Versöhnung. Für eine begrifflich und praktische Differenzierung von Kunst und Bild, in: Texte zur Kunst: Art vs. Image. Bild vs. Kunst, S.41–47, S. 47. 25 Lorraine Daston / Peter Gallison: Objectivity, New York 2007, S. 121–200. 26 Aleida Assmann: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar/Wien 1999. 27 Walter Grasskamp: Die unästhetische Demokratie. Kunst in der Marktgesellschaft, München 1992, S. 158–159.

Endnoten

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28 Dies zeigt sich schon an der Tatsache, dass die an der Kunstakademie ausgebildeten KünstlerInnen nur zu einem sehr geringen Teil von ihren Bildverkäufen leben können. Man sollte doch meinen, dass die dort ausgebildeten Menschen Kunst machen. 29 Vgl. Wolfgang Ullrich: Siegerkunst. Neuer Adel, neue Lust, Berlin 2016. 30 Assmann: Zeit und Tradition, S. 118. 31 Ebd., S. 119. 32 Es handelt sich um eine Unterscheidung unter Laborbedingungen, denn beide sind, wie man weiß, ohne den Namen Beltracchi erwähnen zu müssen, miteinander vernetzt. 33 Christoph Menke: Die Kraft der Kunst, Frankfurt a. M. 2013, S. 11, erinnert noch einmal daran, was gegenwärtig mit der Kunst verloren geht: „Die ubiquitäre Gegenwart der Kunst und die zentrale Bedeutung des Ästhetischen in der Gesellschaft gehen einher mit dem Verlust dessen, was ich ihre Kraft zu nennen vorschlage – mit dem Verlust der Kunst und des Ästhetischen als Kraft.“ 34 Siehe Ludger Schwarte im Gespräch mit Georges Didi-Huberman / Philipp Ekardt, in: Texte zur Kunst, Art vs. Image. Bild vs. Kunst, S.104–123, S. 111. 35 Siehe dazu aus kunstwissenschaftlicher Perspektive grundlegend Susanne Leeb: „Weltkunst“ und die anthropologische Konfiguration der Moderne, 2013, https://opus4.kobv.de/opus4-euv/frontdoor/index/ index/docId/69 (Zugriff am 30.7.2018). Ferner die Fakten und Beiträge in Hans Belting / Andrea Buddensieg / Peter Weibel (Hg.): The Global Contemporary and the Rise of the New Art Worlds, AK ZKM, Karlsruhe 2013; Lydia Haustein: Global Icons. Globale Inszenierungen und kulturelle Identität, Göttingen 2008. 36 Hello World. Revision einer Sammlung, AK Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin 2018, S. 7. 37 How to talk with birds, trees, fishs, shells, snakes, bulls and lions, AK Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst, Berlin 2018. 38 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, aus dem Franz. übers. v. Daniel Faster, Berlin 2019. Die unterschiedlichen, national geprägten Kunstgeschichtsinstitute der westlichen Welt haben dafür eigene Antworten. Für eine sich formierende „Bildkulturwissenschaft“ stellt sich die Frage nach der Kunst schon gar nicht mehr. Siehe dazu Birgit Mersman: Bildkulturwissenschaft als Kulturbildwissenschaft? Von der Notwendigkeit eines inter- und transkulturellen Iconic Turn?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 49/1 (2004), S. 91–109. 39 Susanne Leeb: Weltkunstgeschichte und Universalismusbegriffe 1900/2000, in: kritische berichte, 40/2 (2012), 13–25; vgl. dazu Kathrin Peters: Im kolonialen Archiv. Zu Peggy Buths künstlerischer Historiographie, in: Christiane Kruse / Victoria von Flemming (Hg.): Fassaden? Zeigen und Verbergen von Geschichte in der Kunst, München 2017, S. 108–126; Christiane Kruse / Birgit Meier / Anne-Marie Korte (Hr.): Taking Offense. Religion, Art, an Visual Culture in Plural Configurations, Paderborn 2018. 40 Danto: After the End of Art, S. 125. 41 Der kommerzielle Kunstbetrieb hat sich längst vom akademischen abgespalten, von den Kunstakademien und von den Kunstgeschichtsinstituten, funktioniert nach seinen eigenen, vom Markt bestimmten Gesetzen und verkauft Dinge als „Kunst”, welche die akademischen Experten als Kitsch definieren bzw. Dinge als Original, die sich als Fälschungen erweisen. 42 Danto: After the End of Art, S. 21–39. Siehe dazu Reck: Eigensinn, S. 165–212, der mit seinen „Überlegungen zu einem visuellen Sampling“ als „kultureller Strategie und künstlerischem Paradigma“ einen Zugang zur Bildkultur des 21. Jahrhunderts findet . 43 Wolfgang Ullrich: Gesucht Kunst! Phantombild eines Jokers, Berlin 2007, tut dies im Gegensatz zu Reck mit Kriterien der Traditionskunst. 44 Siehe die Zusammenfassung von Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, 4., neu bearb. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2010, S. 329–380; William J. T. Mitchell: Picture Theory; Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture, London 1999. 45 Horst Bredekamp: Götterdämmerung des Neuplatonismus, in: kritische berichte, 14/4 (1986), S. 39–48. 46 Die Warburg-Rezeption ist eng mit den Mitgliedern des Hamburg Graduiertenkollegs „Politische Ikonographie” (1990–1999) und seinem Gründer Martin Warnke verbunden. 47 Bredekamp: Götterdämmerung, S. 44. 48 Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. 49 Hans Dieter Huber: Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfildern-Ruit 2004. 50 Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 9.

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2  Alles kann Kunst sein

51 Ebd., S. 13. Das Zitat kennzeichnet den durchgängigen Wechsel von Kunst zu Bild als Methode der Induktion, die auf einen universellen gültigen Bildbegriff der Kunst, insbesondere der modernen Kunst, hinauslaufen soll. 52 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 10. 53 Georges Didi-Huberman: Prestige zurückweisen, in: Texte zur Kunst: Art vs. Image. Bild vs. Kunst, S. 105. 54 Vgl. z. B. Birgit Mersmann: Embracing World Art: Art History’s universal History and the Making of Image Studies, in: Rens Bod / Jaap Maat / Thijs Weststeijn (Hg.): The Modern Humanities, Amsterdam 2014, S. 329– 343. 55 Siehe die Zitate im Kapitel „Die Ideologie des Westens“ in Stefan Weidner: Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken, München 2018, S. 23–107, hier S. 36–37. 56 Siehe dazu Michael Diers: Das Bild hängt schief – Kunstgeschichte als kritische Bildwissenschaft, in: ders.: Fotografie Film Video. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg 2006, S. 10–30, hier S. 26. 57 Das Projekt einer transkulturellen Bildwissenschaft verfolgt Birgit Mersmann: Bildkulturwissenschaft als Kulturwissenschaft?, S. 91–109. 58 Mit „Transformationsdesign“ ist der Flensburger Lehrstuhl des Soziologen Harald Welzer denominiert, der, ohne sich direkt auf Joseph Beuys zu beziehen, an dessen erweiterten Kunstbegriff mit einer Aufforderung an alle Bürger anknüpft, kreativ an einer Transformation der Welt im Sinne ihrer Gestaltung nach ethischen Kategorien aktiv mitzuwirken: Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt a. M. 2013. 59 In dem Initialband zum Iconic turn von Gottfried Boehm: Was ist ein Bild?, München 1995, sind bereits eine Reihe von Disziplinen, Philosophie, Literaturwissenschaft, Theologie, Psychologie, Kunstgeschichte, deren VertreterInnen zum wissenschaftlichen Bilddiskurs beitragen, versammelt. Siehe ferner den Band Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt a. M. 2005. 60 Hans Belting / Andrea Buddensieg: Léopold Sédar Sengor und die Zukunft der Moderne, München 2018, erschließen, wie Kunst in den 1960er-Jahren in einem kulturpolitischen Dialog zwischen Paris und Westafrika, die der senegalesische Präsident Senghor initiiert hat, zur Vision einer postkolonialen, humanen Weltordnung führen konnte. 61 Siehe die kritischen Essays von Hanno Rautenberg: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus, Frankfurt a. M. 2018. Die Geschichte der Kunstautonomie erzählt in leicht lesbarer Form Wolfgang Ullrich: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt a. M. 2005. 62 Christiane Kruse / Birgit Meyer / Anne-Marie Korte (Hg.): Taking Offense: Religion, Art, and Visual Culture in Plural Configurations, Leiden u. a.O. 2018. 63 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 5 (1): „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ 64 So konnte Jonathan Meese 2014 per Gerichtsurteil das Privileg erstreiten, den Hitlergruß als „Meesegruß“ im Kunstkontext aufzuführen. 65 Unter dem Eindruck der kapitalistischen Verwertung von Kunst seitens des Spätbürgertums entstand eine kleine Geschichte der Kunstautonomie von Michael Müller / Horst Bredekamp / Berthold Hinz / Franz-Joachim Verspohl / Jürgen Fredel / Ursula Apitzsch (Hg.): Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie, Frankfurt a. M. 1972, S. 7. 66 Siehe Texte zur Kunst, 24/95 (2014), S. 115. 67 Siehe Christiane Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums, München 2003. 68 Aus der Prämisse der Kunstbildwissenschaftler, dass der Kunstbildbegriff universalkulturellen Anspruch hat, wird jetzt eine These. 69 Thomas Hensel: Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde: Aby Warburgs Graphien, Berlin 2011. 70 Dies sind die Grundfragen in Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. 71 Siehe hierzu den Entwurf von Mersmann: Bildkulturwissenschaft als Kulturwissenschaft? und den medienkulturellen Ansatz von Birgit Meyer: Mediation and the Genesis of Presence. Towards a Material Approach to Religion, Utrecht 2012. 72 Hans Belting: Bild-Anthroplogie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001.

Endnoten

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73 Vasari setzte der Renaissance, Hegel der Aufklärung und Danto bzw. Belting der Moderne ein Ende. 74 Siehe die Beiträge in Klaus Sachs-Hombach / Jörg R. Schirra (Hg.): Origins of Pictures. Anthropological Discourses in Image Science, Köln 2013. 75 Leeb: „Weltkunst“. Ferner die Fakten und Beiträge im AK The Global Contemporary and the Rise of the New Art Worlds; Haustein: Global Icons.

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3  LIEBE, LIST UND TÄUSCHUNG „Für mich ist es nicht weiß. Wenn ich sage, für mich, dann meine ich objektiv. Objektiv gesehen ist es nicht weiß.“ Yasmina Reza: Kunst, 1995 Die Fundamente des westlichen Traditionskunstbegriffs fußen auf dem Begehren nach Schönheit und Augentäuschung. Vom Liebesbegehren, das sich als Täuschung durch ein Bild erweist, erzählen die ältesten Ursprungsmythen der Kunst. Die ersten Künstler stehen, wie Zeuxis und Parrhasios, im Wettbewerb um die Täuschung ihrer Betrachter, die den Trug nicht durchschauen sollen. Die virtuose Kunstpraxis der Augentäuschung, das Trompe-l’œil, ist ein Spiel, das dazu auffordert, über die Sinne zur Erkenntnis von Bild und Medium zu gelangen. Die Antwort auf die Frage „Was ist ein Bild?“ liegt im Doppelsinn des Bildes, in der Wahrheit seiner Täuschung. Wie ein roter Faden zieht sich das ,ikonische Paradox‘ durch die Kulturgeschichte, ist bis heute aktuell und erhält mit der Erfindung neuer Bildmedien, wie Fotografie und Virtual Reality immer neue Spielfelder. In den folgenden Kapiteln wird exemplarisch untersucht, wie die westliche Kultur von einem Bildbegriff geprägt ist, der als Kunstbegriff begann, d. h., wie aus einer zentralen Definition von Kunst ein allgemeiner Bildbegriff wurde. Kunst und Bild, auch das werden wir sehen, ist von Anfang an an das Begehren nach Macht und die Ausübung von Herrschaft geknüpft.

Amors Listen Wie Bildkunst und Wahrheitserkenntnis miteinander verbunden worden sind, zeigt sich in der Ikonografie Amors. Amor, Gott der Liebe, scheint für das Thema geradezu prädestiniert, denn er versteht sich meisterhaft auf die Kunst der Täuschung und Verstellung. In Torquato Tassos pastoralem Drama Aminta (1573) wird er schon in den ersten Zeilen des Prologs als ein in Hirtenkleidern verkleideter Gott eingeführt: „Wer würde glauben, daß in menschlicher Gestalt / und unter diesem schäferlichen Äußern / ein Gott verborgen wäre?“1 Nicht irgendein Gott mischt sich unter die Hirten, sondern „unter den Großen und Himmlischen der Mächtigste“,2 der nichts Besseres im Sinn hat, als seine als Speer getarnte Fackel in die Herzen der Verliebten zu bohren, um dort Verwirrung und Unheil zu stiften. Die Verkleidung als Hirte dient Amor in Aminta zugleich der Flucht vor der Mutter und der Emanzipation von ihren Vorschriften, wen und wo er verliebt zu machen habe, nämlich die Gesellschaft an den Höfen. Das Drama nimmt dann seinen Lauf ganz im Sinne des Liebesgottes, wobei Venus, die ihn vergeblich in

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3  Liebe, List und Täuschung

der Hofgesellschaft sucht, nur eine Nebenrolle zukommt. Aber sie weiß natürlich, wen sie sucht, und charakterisiert im Epilog ihren Sohn vor den Höflingen als einen Betrüger: „Obgleich er alt schon ist / an Jahren und an Listen [astuzia], / ist er so klein, daß er ein Kind noch scheint / [...], die Augen voller Flammen und voll / von betrügerischem Lachen [ingannevol riso], / schauen oft scheel; und von unten, / wie verstohlen, und nie / mit gradem Blick schaun seine Augen. / [...] Sein Mund ist stets eine Grimasse, / und Trug und Täuschung [gl’inganni e la frode] / verbergen sich darunter, / wie unter Laub und Blumen giftige Schlangen.“3 Da sie ihn aber bei Hofe nicht findet, will sie ihn woanders suchen, womit das Drama endet. Amor will eben seine Listen und Täuschungen lieber bei den Hirten in Arkadien, die seit Vergil die urtümliche und unverdorbene Menschheit repräsentieren, ausüben. Aber auch dort haben höfische Liebes- und Lebenskonventionen bereits die einstige natürliche Unschuld und Naivität der Menschen vertrieben, was zu Missverständnissen und Konflikten führt, die Amor auf seine Weise zu lösen sucht. Der betrügerische Knabe hat einen festen Ort im frühneuzeitlichen Kunstgeschehen. Erinnert sei hier zunächst an eine Episode Vasaris aus der Vita des jungen Michelangelo, der aus Bologna zurückgekehrt in Florenz einen schlafenden Amor in Marmor fertigte. Das Werk hat sich nicht erhalten, folgte aber vielleicht einer der vielen antiken Skulpturen des Schlafenden Eros, wie sie bald überall in italienischen Sammlungen, so auch seit 1488 im Besitz der Medici anzutreffen waren (Abb. 25).4 Vasari schriebt dazu das Folgende: „Er [...] schuf aus einem Marmorblock einen schlafenden Cupido in Lebensgröße. Als er fertig war, wurde Pierfrancesco dank der Vermittlung von Baldassare del Milanese als ein schönes Werk präsentiert. Der kam zu demselben Urteil und sage zu ihm: ‚Ich bin sicher, daß er als antik durchgehen würde, wenn Du ihn nur vergraben würdest: Schick’ ihn nach Rom, nachdem Du ihn so bearbeitet hast, daß er alt wirkt, und Du wirst sehr viel mehr dafür bekommen, als wenn Du ihn hier verkaufen würdest.‘ “5 Pierfrancesco de’ Medici stiftete den Künstler zu einer Fälschung an, ermunterte ihn dazu, die moderne Herkunft der Skulptur zu verbergen und das Werk als antik auszugeben, um dafür einen höheren Preis zu erzielen. Was nun mit der Skulptur geschah, ist nicht wirklich bekannt, denn Vasari hält gleich mehrere Versionen über das Schicksal des Werkes parat: „Es heißt, Michelangelo habe ihn daraufhin in einer Weise behandelt, daß er antik wirkte, was einen nicht verwundern muß, da ihn sein Talent zu solchem und zu vielem mehr befähigte. Andere hingegen sind der Auffassung, jener Milanese habe ihn (den Cupido) nach Rom gebracht, dort in seinem Weinberg vergraben und ihn dann als antikes Werk für zweihundert Scudi dem Kardinal von San Giorgio verkauft. Wieder andere sagen, er sei ihm von einem Agenten des Milanese verkauft worden, der Pierfrancesco schrieb, er solle Michelangelo dreißig Scudi geben, da er für den Cupido nicht mehr erhalten habe, womit er zugleich den Kardinal, Pierfrancesco und Michelangelo täuschte.“6 Wie es sich denn wirklich zugetragen hat, bleibt im Dunkel der Geschichte. Die Episode soll zeigen, dass eine Täuschung die andere nach sich zieht und alle daran Beteiligten für sich Vorteile aus der gefälschte Sache ziehen wollten. Aber sie ist hier noch nicht zu Ende erzählt. Eine weitere, nicht bekannte Person verriet nämlich dem getäuschten Kardinal Riario, dass die Skulptur in Florenz angefertigt worden sei, worauf dieser Milaneses Agenten zwang, ihm

Dis/simulation im Schutzraum der Macht

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25  Schlafender Eros, 1. Jh. n. Chr., Marmor, Rom, Musei Comunali, Palazzo dei Conservatori

das Geld zurückzugeben und den Cupido zurückzunehmen. Über Cesare Borgia soll dann das Werk an Isabella d’Este gelangt sein, die den Cupido mit nach Mantua nahm. Für den getäuschten Kardinal, so hören wir von Vasari, war die Angelegenheit insofern peinlich, da er die Kunst des Werkes nicht erkannte, und zwar die Kunstqualität des modernen Cupidos, den er einfach zurückgab, weil er nicht von antiker Herkunft war. „Es ist also reine Eitelkeit“, schlussfolgert Vasari, „mehr auf den Namen als auf die Tatsachen zu achten, doch diese Sorte Mensch, die größeren Wert auf Schein als auf Sein legt, hat es zu jeder Zeit gegeben.“7 Man könnte nun meinen, auch für Michelangelo sei die ganze Angelegenheit mit dem Cupido eher unangenehm gewesen und wäre besser schnell in Vergessenheit geraten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die perfekt gelungene Täuschung brachte ihm derartiges Prestige ein, dass ihn der getäuschte Kardinal nach Rom einlud und fast ein Jahr bei sich beherbergte, ohne jedoch dass Michelangelo ein einziges Werk in seinem Auftrag ausgeführt hätte, was wiederum Riarios geringen Kunstverstand bestätigte. Wir entnehmen der Episode, dass Ende des 15. Jahrhunderts die Simulation eines antiken bzw. Dis/simulation eines modernen Kunstwerks im Kunstkontext dem ausführenden Künstler gesellschaftlichen Ruhm einbringen konnte und dass die Vortäuschung aufgrund ihrer Perfektion mehr zu loben, als die Moral des Künstlers, der seine Käufer hinters Licht führt, zu tadeln war. Letztlich geht es Vasari auch um den Beweis, dass hier durch eine List die moderne über die antike Kunst den Sieg davongetragen hat.

Dis/simulation im Schutzraum der Macht Die Anstiftung des Künstlers zu Täuschung und Betrug seitens eines Mächtigen ist nicht so verwunderlich, wie es vielleicht scheint, dafür aber hochbrisant. Denn Vasari legt Pierfrancesco de’ Medici in den Mund, dem Künstler genau das zu raten, was Machiavelli damals im 18. Kapitel seiner vieldiskutierten Fürstenlehre, dem Principe (posthum 1532 in Florenz veröffentlicht),

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empfahl.8 Machiavelli wurde, wie man weiß, 1559 unter die „Autoren erster Klasse“ im Index der verbotenen Bücher gezählt, galt also als besonders gefährlich, was nicht zuletzt dem Principe anzulasten war.9 „Wie löblich es für einen Fürsten ist, sein Wort zu halten und aufrichtig statt hinterlistig zu sein [vivere con integrità e non con astuzia], versteht ein jeder; gleichwohl zeigt die Erfahrung unserer Tage, daß diejenigen Fürsten Großes vollbracht haben, die auf ihr gegebenes Wort wenig Wert gelegt und sich darauf verstanden haben, mit List die Menschen zu hintergehen [che hanno saputo con l’astuzia aggirare e’ cervelli degli uomini]; und schließlich haben sie sich gegen diejenigen durchgesetzt, welche auf Redlichkeit [lealtà] gebaut hatten.“10 Machiavelli empfiehlt dem Fürsten in einem Gleichnis sich die Fuchs- und die Löwennatur zu eigen zu machen, „denn der Löwe ist wehrlos gegen Schlingen und der Fuchs gegen Wölfe. Man muß also ein Fuchs sein, um die Schlingen zu erkennen, und ein Löwe, um die Wölfe zu schrecken“.11 Das allein genügt jedoch nicht, um ein kluger Fürst zu sein. Wer den Fuchs am besten spielt, der kommt auch am weitesten: „Man muß eine solche Fuchsnatur zu verschleiern [colorire] wissen und ein großer Lügner und Heuchler sein [ed essere gran simulatore e dissimulatore]: die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr den Bedürfnissen des Augenblicks, dass derjenige, welcher täuscht, stets jemanden finden wird, der sich täuschen lässt.“12 Und schließlich: „Die Menschen urteilen im allgemeinen mehr nach dem, was sie mit den Augen, als nach dem, was sie mit den Händen wahrnehmen [iudicano più agli occhi che alle mani]. Denn allen ist es vergönnt zu sehen, aber nur wenigen zu berühren [tocca a veder ognuno, a sentire a pochi]. Alle sehen, was du scheinst, aber nur wenige fühlen, was du bist [ognuno vede quello che tu pari, pochi sentono quello che tu se’]; und diese wenigen wagen nicht, der Meinung der vielen zu widersprechen, die die Majestät des Staates, der sie schützt, auf ihrer Seite haben.“13 Diese berühmten Passagen aus dem Principe führen über die frühneuzeitliche Herrschaftslehre auch tief in die Erkenntnistheorie dieser Zeit, indem sie die Frage behandeln, mit welchem der beiden Sinne, dem Gesichtssinn oder dem Tastsinn, das Sein vom Schein, die wahren Absichten von den vorgespielten Tatsachen unterschieden werden kann. Für den Fürsten gilt zunächst, dass er die eigenen listigen Absichten, seine Fuchsnatur, zu verbergen weiß, wofür Machiavelli ein Verb aus der Malerei einführt. „Colorire“ in der Bedeutung von „färben“, „mit Farbe bedecken“, meint hier, dass die List des Fürsten unter einem farbigen Anstrich nicht nur bedeckt, sondern auch beschönigt werden soll. Der Visus gilt dem Staatsphilosophen wenig im Erkenntnisprozess des wahren Seins (eines Fürsten), da sich die Augen vom äußeren Schein, gewissermaßen von der bunten Farbe, täuschen lassen. Dem Visus stellt Machiavelli den Tastsinn entgegen. Das, was sich mit den Händen greifen lässt, was greifbar nahe ist, wird dem Fernsinn des Visus entgegengestellt. Danach führt der Tastsinn zur Erkenntnis handfester Tatsachen, während der aus der Ferne wahrnehmende Visus nur Zugang zu einer Oberfläche hat, die möglicherweise die Wahrheit überdeckt [colorire]. Nur wenige aber sind dem Fürsten auf Reichweite des Tastsinns nahe. Und die Wenigen, die um die wahre Fuchsnatur des Fürsten wissen [sentire], wagen es nicht, sich gegen diejenigen zu stellen, die die Fuchsnatur des Fürsten als ihren eigenen Schutz, als ihren Vorteil anerkennen. Die Erkenntnis der Wahrheit, das heißt das Durchschauen der wahren Absichten des Fürsten, ist im Kontext der fürstlichen Machtpolitik den listigen Strategien der Herrschaft nicht nur unterlegen, sondern erst gar nicht

Amors Schlaf

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intendiert. Mit anderen Worten: Es ist zwar möglich, die wahren Absichten des Fürsten zu durchschauen, aber es bringt keinen Vorteil. Der Fürst benutzt die Dis/simulation als einen Schutzraum seiner Macht, in dem er nach seinem Ermessen handeln kann, wobei sein Handeln nur von dem einen Ziel geleitet ist – der Erhaltung der eigenen Macht. Bekanntlich hat niemand das absolutistische Machtprinzip der Vortäuschung von Tatsachen [essere gran simulatore e dissimulatore] schärfer in die bedingungslose Anerkennung eines ‚obersten Fuchses‘ im Staate gefasst als Machiavelli. Der Fürst verfolgt zuallererst das Ziel des eigenen Machterhalts und regiert das Volk nach seinem Gutdünken, wenn nötig sogar gegen jede Tugend und Moral. Halten wir hier fest, dass der Visus im Kontext der frühneuzeitlichen Staatsphilosophie für die Erkenntnis von Wahrheit nicht taugt.

Amors Schlaf Michelangelos gefälschter Cupido setzt dagegen nicht auf den Tastsinn als obersten Erkenntnissinn, sondern vielmehr auf den Visus, der sich täuschen lässt. Das Bildthema des schlafenden Amor ist in der Täuschungsintention aufgehoben, denn der Liebesgott war, wie nicht nur in Tassos Aminta zu lesen ist, in der Kunst der Verstellung und Täuschung berüchtigt. Und gerade der Schlaf des Amor, ein in der Antike überaus beliebter ikonografischer Typus, wurde in zwei Epigrammen der Anthologia Graeca dem Eros als List ausgelegt, der noch im Schlaf seine Macht über die Menschen ausübt, indem er davon träumt, ihnen Leid anzutun : „Schläfst du, der du den Menschen die schlaflosen Sorgen bereitest? Schläfst du, Kyprias Sohn, Kind einer grausamen Frau? Schwingst du wirklich nicht mehr die brennende Fackel? Dein krummer Bogen, verschickt er nicht mehr jählings den sicheren Pfeil? Mögen andere dir trauen! Ich fürchte, dir kommt noch im Schlafe, wilder Geselle, ein Traum, wie du ein Leides mir antust.“14 Das Epigramm des Statilius Flaccus aus dem 16. Buch der Anthologia Graeca fürchtet den Schlaf des Eros als eine List. Die Unschuld des Schlafenden könnte demnach nur vorgetäuscht sein und seine wahre Absicht verhehlen, nämlich sich bereits im Traum das nächste Opfer zu suchen, dem er mit seinem Pfeil Liebesschmerzen zufügt. Das folgende Epigramm (XVI, 212) steigert das Thema der Furcht vor dem schlafenden Eros zur wahren Wut auf den unberechenbaren Liebesgott: „Eros, ich reiße dir gleich aus der Hand die brennende Fackel, nehme den Köcher dir weg, der um die Schulter dir hängt, wüßt ich, du schliefest auch wirklich, du Feuergeburt, und den Menschen wär für ein Weilchen Ruh vor den Pfeilen gegönnt.

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Aber ich fürcht dich so noch: du führst was im Schilde, Verschlagner, und du siehst noch im Traum, wie du ein Leides mir tust.“ 15 Selbst die Entwaffnung des Eros verspricht keine Ruhe vor dem Quälgeist, der noch im Schlaf Macht über das Liebesleben der Menschen ausübt und davon träumt, wie er ihre Herzen verwundet. Dieser listige, verschlagene Gott, der seinen Schlaf nur vortäuscht, ist wie gemacht für die Kunst, die – wie der Schlafende Cupido des Michelangelo – ihre antike Herkunft vortäuscht. Ist es ein Zufall, dass die Skulptur auf das Jahr 1495/96 datiert wird, genau ein Jahr nach dem ersten, von Ioannes Laskaris besorgten Druck der Anthologia graeca in Florenz?16

Amors Maske Etwa 40 Jahre nach dem Schlafenden Cupido, um 1533, datiert ein Gemälde, das Jacopo da Pontormo nach einem Entwurf von Michelangelo für das Schlafzimmer [camera] des Florentiner Bankiers Bartolomeo Bettini gemalt hat.17 Auf dem Gemälde nähert sich Amor einer nackten, stattlichen Venus wie ein Liebhaber (Abb. 26).18 Während er sie küsst, zieht sie ihm einen seiner Pfeile aus dem Köcher und deutet mit der anderen Hand auf ihr Herz, den Knaben fest im Blick, als wolle sie ihm zeigen, wohin er zu zielen habe. Das Gemälde war als Teil einer Dekoration mit Porträts der toskanischen Dichter vorgesehen, welche die Liebe besungen haben, namentlich Dante, Petrarca und Boccaccio.19 Für das Thema Liebe, Macht, Täuschung, Verstellung, Kunst ist von Interesse, dass sich die beiden Götter bei ihrem eigenen Liebesspiel unmaskiert zeigen, dass sie die Masken mit ihren Bändern an den entspannten Bogen geknüpft bzw. um die Vase mit den Rosen gehängt haben. Das Bildsujet war so erfolgreich, dass Vasari es gleich vier Mal kopierte und dann noch die beiden Maskentypen in sein Porträt des Lorenzo de’ Medici übernahm, wo er sie nach eigenen Angaben als schöne Tugend- und hässliche Lastermaske auf die „persona“ des Fürsten bezogen hat.20 Diese Maskensymbolik trifft auch auf das Venus und Amor-Gemälde zu. Dass hier gleich zwei Masken in einer Allegorie der Liebe ins Bild gesetzt werden, ist eine ikonografische Neuheit, denn üblicherweise tritt Amor mit einer bärtigen Satyrn- oder Silensmaske auf. Dass aber die beiden abgelegten Masken nicht Amor allein, sondern je einem der beiden Götter zugeordnet sind, zeigt die Bildsyntax: Während die hässliche Faunsmaske an Amors Bogen geknüpft und das nach rechts gewendete Dreiviertelprofil des kleinen Amor wie in einem Echo wiederholt, nimmt die schöne Maske dahinter das nach rechts gewendete Gesicht der Venus auf und hängt an der zur Venus gehörenden Schale mit den Rosen. Somit wäre Amor das Laster und Venus die Tugend zugeordnet. Die beiden Götter haben ihre Masken abgelegt, Amor hat sich seiner täuschenden oder gar betrügerischen Absicht entledigt und genießt den Kuss. Venus ‚spielt‘ ebenfalls nicht die Rolle der Tugendhaften, wenn sie Amor hinterrücks den Pfeil entwendet und auf ihr Herz zeigt, als wünsche sie sich, genau dort vom Liebesgott verwundet zu werden.

Entdecken und Enthüllen

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26  Michelangelo / Pontormo: Venus und Amor, 1533, Öl auf Leinwand, Florenz, Galleria dell’Accademia

27  Jacopo Tintoretto: Vulkan, der Venus und Mars überrascht, Öl auf Leinwand, um 1555, München, Bayrische Gemäldesammlung, Alte Pinakothek

Entdecken und Enthüllen Tintoretto platziert den Liebesgott wenig später ebenfalls schlafend in seinem Gemälde Vulkan, der Venus und Mars überrascht (1555) auf eine Truhe unterhalb einer Fensternische (Abb. 27). In der Bildfläche verbindet er Venus und Vulkan, was jedem, der mit dem von Ovid erzählten Mythos vertraut ist,21 zu verstehen gibt, dass zwischen den beiden Eheleuten das Feuer der Liebe erloschen ist. Wie auf einer Bühne inszeniert Tintoretto den peinlichen Moment, in dem Vulkan an das Bett seiner Gattin tritt, die er dort nackt antrifft, um den Nachweis des vollzogenen Ehebruchs zu erbringen. Was es dort zu sehen gibt, führt der Maler nach Art einer Satire vor.22 Wie ein lüsterner Faun lüftet Vulkan hier das weiße Laken, das die Scham der Venus kaum verhüllt, und starrt auch noch indezent auf die anstößige Körperstelle. Während Mars sich unter dem Tisch verbirgt, was dem Kriegsgott auch nicht gerade ziemt, und versucht, Venus’ Hund zu beruhigen, der ihn als Eindringling entdeckt hat und verraten könnte, ist die Liebesgöttin eilig damit beschäftigt, sich mit einem durchscheinenden Leinentuch, das Amor

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als Unterlage dient, wenigstens den Kopf zu verhüllen. Mit den sich verbergenden bzw. enthüllenden Bewegungen und Gesten der Bildfiguren kreist das Gemälde um sein zentrales Thema, die Dialektik des Bedeckens und Verhüllens bzw. des Entdeckens und Enthüllens und dem damit verbundenen Problem der Wahrheitsfindung. Wissen und Nichtwissen verhalten sich gegenläufig, konkurrieren miteinander und führen schließlich zu der Frage, wem denn zu trauen sei, wer oder was der Wahrheitsfindung dienlich ist: Soll man dem Gerücht des Sonnengotts Sol glauben, der, wie Ovid erzählt, den Göttern die Kunde vom Ehebruch als erster verbreitete? Sieht Vulkan nicht eher aus, als ob er, als er den Beweis des Ehebruchs suchte, den Reizen seiner Gattin erlag und sich dieser zum Beischlaf nähern will (ergo: Mars gar nicht zum Zuge käme), wie es das Spiegelbild an der Rückwand des Schlafgemachs zeigt? Oder hat Mars den Liebesdienst an der Göttin bereits vollzogen, war er gerade dabei, sich wieder angezogen und gerüstet aus dem Schlafzimmer zu entfernen, als Vulkan überraschend eintrifft? Oder wartet er nur in seinem Versteck ab, dass sich der Ehemann wieder entfernt, um dann ungestört mit Venus zu schlafen? Trifft Amor eine Schuld, der sich doch ganz offensichtlich als Unbeteiligter schlafend und völlig unbewaffnet aus der Affäre gezogen hat? Jede dieser Fragen soll hier offen bleiben, keine will das Gemälde eindeutig beantworten. Ganz nebenbei belehrt es seine über den Ablauf und die Moral des Geschehens sinnierenden Betrachter, dass sich hier die Dinge anders zutragen könnten, als man meint, und dem Augenschein nicht unbedingt zu trauen ist. Weder ist dem Glasgefäß zu trauen, das auf die Jungfräulichkeit seiner Besitzerin durch makellose Reinheit anspielt. Noch gibt das Spiegelbild das eindeutige Bild eines klaren Sachverhalts wieder. Und auch der Schlaf des Amor könnte trügerisch sein, da er doch ganz offensichtlich mit Venus unter derselben Decke, nämlich dem Leinentuch, steckt. Amors Nymphengestus des über den Kopf gelegten Arms ist spiegelbildlich auf die Geste des Verhüllens der Venus bezogen. Wo sie sich allerdings hektisch zu verbergen sucht, schläft Amor oder stellt sich schlafend. Ganz nebenbei spielt die Armhaltung der Venus auf ihre berühmten venezianischen Vorgängerinnen an, etwa Tizians Venus von Urbino, die völlig entspannt und selbstbewusst die ganze Erotik ihres nackten Körpers zur Betrachtung offenlegt. Hier nun vom misstrauischen Gatten aufgeschreckt, muss Venus ihren schönen Körper mit ungelenken, in aller Hektik ausgeführten Bewegungen vor ihm verhüllen. Doch der Maler will, dass ihr das misslingt. Was den Schlaf des Amor betrifft, wusste jeder zeitgenössische Betrachter, dass Amor nicht schläft, wenn Mars bei Venus weilt. Im Gegenteil nimmt er immer sehr rege und aktiv Anteil an ihrem Liebesglück, fliegt herbei, wie bei Tizian, schmiedet seine Waffen, wie später bei Poussin, oder knotet das Paar an den Beinen zusammen, wie bei Veronese. Da in Tintorettos Gemälde Vulkan das Beisammensein der Liebenden stört und der Liebesgott, wenn sich der Ehemann seiner Frau nähert, nicht viel zu tun hat, kann er sich beruhigt schlafenlegen und erst dann wieder aktiv werden, wenn der Gatte sich entfernt hat und der Liebhaber in Aktion tritt. Mit seinem Schlaf macht sich Amor zum Komplizen des Liebespaars. Die Komik des Gemäldes wurde bereits beschrieben, der lächerliche Mars, der wie der „Liebhaber im Wandschrank“ agiert, Vulkan, der sich vom Anblick des Venushügels blenden lässt und darüber vergisst, dass er eigentlich dem heimlichen Liebesleben seiner Frau nachge-

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hen wollte, den vergeblich bellenden Schoßhund, die Perspektivkonstruktion des Raums mit den Fliesen, die direkt zum erloschenen Ofen führen, den Vulkan wieder zu entzünden bemüht ist. Auch wurde bemerkt, dass Venus von der Komik ausgeschlossen ist, dass sie sich im Gegenteil in einer „unkomfortablen Situation“ befindet, da sie riskiert, sich lächerlich zu machen und demütigen zu lassen. 23 Der spiegelbildlich auf Venus bezogene Amor wurde jedoch bislang übersehen. Tintoretto hat sich damit weit von Ovid entfernt, denn Vulkan ist eben gerade nicht gezeigt als derjenige, der den Göttern des Olymps das bekannte „homerische Gelächter“ abnötigt, wo er doch gar keinen Eindringling in das eheliche Schlafgemach ausmachen kann und Mars hier obendrein in der Verliererrolle gezeigt wird.

List und Magie des Amor Caravaggio malte den Schlafenden Amor 1608 im Exil auf Malta und widmete ihm eine lebensgroße Bildtafel (Abb. 28).24 Es gibt eine weitere Fassung, die früher, nämlich 1594/95, und mutmaßlich im Auftrag des Kardinal Benedetto Giustiniani entstand (Abb. 29).25 In Caravaggios Version wendet sich der Liebesgott in einer Pose zum Betrachter, die seine Nacktheit in einem dramatischen Helldunkel regelrecht präsentiert. Amor hat seine Waffen abgelegt, als er sich zum Schlafen auf den harten, dunklen Boden legte, sein Kopf ruht auf dem Köcher, in dem eine ganze Menge Pfeile stecken. Der Bogen liegt entspannt, aber griffbereit neben den Oberschenkeln. Er hält einen Pfeil in der rechten Hand, dessen Spitze unter seinem Arm auf seine Rippen zielt und ihn verletzen könnte, wenn er sich im Schlaf bewegte. Lasziv ist die Pose des dort am obskuren Ort liegenden Knaben. Die angewinkelten Beine und die Torsion des Körpers um die Körperachse lassen das wenn auch verschattete Geschlecht zwischen den Beinen hervortreten. Der runde Bauch ist wollüstig gewölbt, der Ansatz knäblicher Brüste mit den Knospen kleiner Brustwarzen strahlt im hellsten Licht der Helldunkelmalerei, der leicht geöffnete Mund mit zwei hervorblitzenden Schneidezähnen und auch ein freigelegtes Ohr mag die Blicke eines für Knabenliebe empfänglichen Betrachters zu reizen. Während ein Arm auf dem mächtigen, schwarz-silbrigen Flügel ruht und eine Feder die Hand des Knaben streichelt, blitzt die andere, abgespreizte Schwinge im Dunkel der Nacht wie die Klinge einer Sichel auf.26 Es frappiert, dass die erste Fassung den blondgelockten Amor als ‚süßen‘ Knaben zeigt, während der nahe Blick auf die Replik aufgrund des ‚schmierigen‘ Inkarnats eine ganz andere Bildwirkung erzielt. Betont ist hier die kurze, etwas breite Nase, die in Untersicht große Nasenlöcher zum Vorschein bringt, die fleischige Oberlippenpartie akzentuiert die zurückweichende Unterlippe, die die vorderen Schneidezähne im Überbiss zeigt, und die Wangen wirken hier feist und nicht wohlgerundet wie in der Urfassung. Das Gesicht wirkt schmutzig, ältlich, derb – es ist hässlich! In den Worten von Andreas Prater: „Im Florentiner Bild besitzt die Kunstgeschichte nicht nur das hässlichste, sondern wohl auch das einzige hässliche Bild Amors überhaupt.“27 Die Verlassenheit und der heruntergekommene Eindruck des Schlafenden Amor in Florenz folgen einer Stelle in Platons Gastmahl, in der Sokrates mit den Worten der Diotima die

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28  Caravaggio: Schlafender Amor, 1608, Öl auf Leinwand, Florenz, Palazzo Pitti , Galleria Palatina

wahre Natur des Eros nach den Eigenschaften enthüllt, die er von seinen Eltern empfangen hat. Marsilio Ficino hatte 1492 mit Dell’Amore seinen neuplatonischen Kommentar zum Symposion in eigener italienischer Übersetzung in Florenz veröffentlicht. Kurze Zeit später machte Michelangelo ebendort seinen Schlafenden Cupido. Dieser Text wird das Rätsel von Caravaggios hässlichem, bei Nacht auf nacktem Boden schlafendem Armor lösen helfen. Zugleich haben wir einen Urtext für das Verständnis der frühneuzeitlichen Bildkunst und über die Frühe Neuzeit hinaus. Ficinos Symposion-Kommentar legt den Ursprung der Kunst in den Geist des Eros und macht den Eros zum ontologisch-kosmologischen Prinzip.28 Er erklärt die Kunst zu nichts weniger als einer magischen Triebkraft der Kultur. Das 7. Kapitel in Ficinos Diotima-Rede beginnt mit der Zeugung Amors während der Geburt der Venus. Seine Eltern, Poros und Penia, sind dort als „Überfluss“ und „Dürftigkeit“ charakterisiert. „Poros, der Sohn der Einsicht, ist der Lichtfunke des höchsten Gottes. [...] wenn der Lichtstrahl Gottes mit der Penia, nämlich der Dürftigkeit, [...] sich verbunden hat, so zeugt er den Eros.“29 Mit dem Lichtstrahl ist das Erkenntnisvermögen gemeint ist, das ohne die Erleuchtung von Gott so finster wie das Auge ohne Sonnenlicht bliebe.30 Penia hingegen vertritt die Finsternis, das Fehlen des Lichtes. Ficino spricht, Platon folgend, von einer zweifachen Venus, die in jeder Seele wohnt, eine himmlische und eine niedere, der er je einen Amor zuordnet. Die himmlische Venus habe den Amor, um die göttliche Schönheit zu denken, die niedere habe den Amor, um die Schönheit in der Weltmaterie hervorzubringen. Der erste Amor wird Gott, der zweite aber wird Dämon genannt, „weil er offenbar einer bestimmten Neigung zur Körperlichkeit folgt und zur niederen Weltregion strebt.“31 Nach Ficinos auf Platon fußender Seelenlehre

List und Magie des Amor

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29  Caravaggio: Schlafender Amor, 1594/95, Öl auf Leinwand, Indianapolis, Museum of Art

befinden sich die beiden Veneres und Amores nicht nur in der Weltseele, sondern auch in den Seelen der Sphären, der Gestirne, der Dämonen und in den Seelen der Menschen. Alle Seelen – so wird es im 8. Kapitel geschildert – stehen zur Weltseele in einem Abhängigkeitsverhältnis. Die Menschen aber haben nicht nur die beiden Amores, den guten und den schlechten Dämon, sondern weitere drei Dämonen in ihrer Seele, die „Triebe“ genannt werden. Im 9. Kapitel geht es um die Leidenschaften der Liebenden, die aus dem Wesen Amors resultieren. Hier findet sich das Zitat aus Platons Gastmahl, das sich direkt auf das Gemälde des Caravaggio bezieht:32„Die Worte der Diotima lauten: ‚Da Amor am Geburtstag der Venus gezeugt ward, so ist er ihr Begleiter und trägt Verlangen nach dem Schönen; denn Venus ist überaus schön. Als Kind der Dürftigkeit ist er hager, dürr und unansehnlich, barfüßig, demütig, ohne Obdach, ohne Lager und Bedeckung schläft er vor den Türen, auf der Straße, unter freiem Himmel und ist er allzeit bedürftig. Als Sohn des Überflusses aber stellt er schönen und guten Menschen nach, ist er kühn, wild, ungestüm, listig, verschlagen, ein Fallensteller, schmiedet er immer neue Ränke, strebt er nach Einsicht, ist er beredt, philosophiert er sein ganzes Leben lang, ist er ein mächtiger Hexenmeister mit Zauberwort, bösem Blick und Zaubertränken und Sophist.‘ “33 Ficino sieht die Eigenschaften besonders im mittleren, dem tätigen Amor ausgeprägt, den er den menschlichen Amor nennt. Die von der Mutter ererbten Eigenschaften erklärt er im 9. Kapitel. Die Hagerkeit und Unansehnlichkeit Amors kommt von der Auszehrung des Körpers infolge der langandauernden Liebesleidenschaft, die dazu führt, dass sich der Liebende körperlich vernachlässigt. Amor ist barfüßig, weil er seinen privaten und öffentlichen Geschäften

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nicht mehr nachkommen kann und sich deshalb in Gefahren begibt, gleich jemandem, der sich, weil er barfuß geht, verletzt. Für unser Thema ist Ficinos Verständnis des Amors als listenreichen Betrügers und Erfinders von Täuschungen interessant, diejenigen Gaben, die er von seinem Vater Poros empfangen hat. Demnach ist Amor „listig, verschlagen, Fallensteller, Ränkeschmied, Nachsteller der Klugheit, beflissen, Philosoph, mutig, verwegen, gewalttätig, beredt, Zauberer und Sophist. Derselbe Amor, welcher bewirkt, daß der Liebende in seinen übrigen Geschäften unbedacht und saumselig ist, macht ihn in Liebesangelegenheiten gewandt und verschlagen, so daß er mit erstaunlichen Schlichen die Gunst des Geliebten zu ergattern trachtet, indem er ihn mit List umgarnt, durch Dienstfertigkeit verblendet, mit Beredsamkeit gefügig macht oder durch Gesang bezaubert“.34 Hier also hat die List und Verschlagenheit des Amor/Eros, vor dem Statilius Flaccus in den oben zitierten Epigrammen, Tassos Venus und viele andere frühneuzeitliche Autoren warnen, ihren Ursprung.35 Im Vergleich mit dem Platon’schen Urtext zeigt sich sogar, dass Ficino eine beachtliche Verschärfung der listigen Eigenschaften des Amor vornimmt. Die Liebe, so führt Ficino weiter aus, entspringt aus dem Sehen, das die Mitte zwischen dem Geist [mente] und Tastsinn [tacto] einnimmt. Und der triebhafte Visus führt dazu, dass der Liebende zwischen der Lust zur Berührung und dem Verlangen nach himmlischer Schönheit hin und hergerissen ist. Diejenigen aber, die die Sinnlichkeit der Vernunft unterwerfen, philosophieren, indem „sie den Gestalten der Körper gleichsam als Fußspuren und Witterungen behutsam nachgehen und an der Hand derselben scharfsinnig die hehre Schönheit der Seele und der göttlichen Wesenheiten aufspüren.“36 Wer so verfährt, gelangt vom Körper der Geliebten zur Seele, zum Engel und schließlich zu Gott als Urquell des Lichtstrahls. Dieser Aufstieg Amors zu Gott nennt Ficino „utile caccia“, ein erfolgreiches Fallenstellen. Amor wird ein Sophist oder Zauberer genannt, „ein aufgeblasene[r] arglistige[r] Wortfechter, welcher mittels verfänglicher Trugschlüsse Falsches als wahr erscheinen läßt“.37 Dies liegt vor allem daran, dass der Trieb etwas anderes anstrebt als der Verstand für ratsam hält. „Weshalb aber wird Amor Zauberer genannt?“, fragt Ficino. „Weil alle Macht der Zauberei auf der Liebe beruht. Die Wirkung der Magie besteht in der Anziehung, welche ein Gegenstand auf einen anderen auf Grund einer bestimmten Wesensverwandtschaft ausübt.“38 Alle Teile der Welt hängen von einem gemeinsamen Urheber ab und stehen ihrer Natur nach in einem Zusammenhang. „Aus dieser allgemeinen Verwandtschaft entspringt gemeinsame Liebe, aus dieser die gegenseitige Anziehung: und dies ist die wahre Magie. [...] Folglich sind die Werke der Magie Wirkungen der Natur, und die Kunst ist nur Vermittlerin.“39 Hier nun kommt die Kunst [arte] als Vermittlerin ins Spiel, und Ficino meint, dass der Überlieferung nach die Kunst den Dämonen zugeschrieben wurde, „denn diese kennen die Wahlverwandtschaften der Naturdinge sowohl wie die zwischen ihnen bestehende Harmonie und wissen das etwa fehlende Einvernehmen wiederherzustellen“.40 Es gab einige Philosophen, so Ficino, die mit den Dämonen Freundschaft pflegten, wie Zoroaster und Sokrates, und deshalb Magier genannt wurden. In der Liebe wirkt die Kunst der Magie durch den Blick, den schöne Personen auf sich ziehen. Alle magischen Kräfte, so schließt Ficino, beruhen auf der Liebe, und das Wirken Amors vollzieht sich durch „Zauberblicke, Zaubersprüche und

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Zaubertränke“ [mal d’occhio, incantesimi, e malie].41 Da die Anlagen der Menschen jedoch verschieden sind, leitet der angeborene Amor die einen zur Literatur [lettere], zu denen auch die Poetik gehört, die anderen zur Musik oder zur bildenden Kunst [figure], andere zum sittlichen Lebenswandel etc.42 Die Liebe steht zwischen Weisheit und Unwissenheit, so beschließt Ficino seine Auslegung der Eigenschaften des Amor, da sie sich Schönes zu ihrem Gegenstand erwählt hat und danach strebt. Das Schönste von allem aber ist die Weisheit, und wer seine Unwissenheit erkennt, der strebt, wie der Philosoph, nach Weisheit.43 Ficinos Symposion-Kommentar wirkte auf die frühneuzeitliche Philosophie, Ästhetik, Dichtung und Kunsttheorie.44 Eros oder „Amore“ ist eine Figur des Philosophen und wird zur [Identifikations-]Figur der Dichter, Musiker und eben der bildenden Künstler, die im Florenz des ausgehenden 15. Jahrhunderts in den Rang der freien Künste [artes liberales] aufgenommen waren. Die Ambivalenz oder Zwiespältigkeit des Amor, seine als Magie oder Zauber beschriebene Anziehungskraft, das Dämonische und die Faszination, die ihm und alle seine Sinne – vor allem den Visus und den Tastsinn – affizierende Kunst zugeschrieben werden, nicht zuletzt der erotische Trieb, der vom Körperlichen, von der Materie, zum Geistigen führt, wirkte in der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts, in den Schriften Michelangelos genauso wie bei Giambattista Marino, Freund des Carvaggio, und weit darüber hinaus in allen Bildkulturen, die von der Faszinationskraft der Bilder leben.

Amor schläft an einem Brunnen Anfang des 17. Jahrhunderts widmet der Barockdichter Giambattista Marino in seinem Gedichtzyklus La Galeria dem schlafenden Amor in der Statuenabteilung seiner imaginären Kunstsammlung fünf Gedichte. Das längste Gedicht dieser Reihe, eine 25-strophige Canzonetta, beginnt mit den folgenden Worten: „Niemand möge Amor trauen, wenn er ihn in Marmor sieht dort auf seinen Waffen ruhen, denn noch waffenlos und marmorn entzündet und verwundet er.“45 Die Ikonografie des auf seinen Waffen ruhenden Amor folgt Caravaggios schlafendem Liebesgott (Abb. 28 und 29), forciert aber durch den Medien- und Materialwechsel (von Malerei zu Marmorskulptur) die gattungs- und materiell bedingte Starre der Figur, die ganz im Sinne Ficinos und mit deutlichem Rekurs auf die Anthologia graeca – mit dem so machtvollen wie magischen Thema des Bildes vereint wird. Genau dieser Concetto wird in den kommenden vierundzwanzig Strophen durchgespielt, der naturphilosophische Diskurs wird geistreich und kunstvoll mit der antiken Dichtungstradition verwoben; und nur wer beides kennt, kommt in den vollen Genuss der „acutezza“, der scharfsinnig-virtuosen Gedankenführung, um die es dem barocken Dichter Marino geht. Niemand, der Amor anschaut, so suggeriert das Ich dem

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Betrachter des Bildwerks, kann sich seiner Macht entziehen, denn Liebe wird nach platonischer Auffassung, so auch bei Ficino, durch den Visus erzeugt. Die ganze Canzonetta ist an den Betrachter adressiert, der, von dem Bildwerk am Brunnen in den Bann gezogen, Amors Macht erliegt, erliegen muss, denn der Marmor ist hier über die göttliche Kunst belebt.46 Amor ist das belebende Prinzip der Weltseele schlechthin, seine Wirkungsweise über die Lebensgeister [spiriti] und seine Auswirkungen auf die Menschenseelen beschreibt Ficino in Dell’Amore ebenso wie er die Künste den Dämonen zuordnet, die die Dinge der Natur mit Hilfe der „magischen Kunst“ ergänzen und zur harmonischen Vollendung bringen. „Der liebende Bildhauer fürchtete, ihn wach darzustellen, und zwang, als er ihn schuf, durch ein Wunder, den Marmor zu schlafen.“ 47 In Marinos Canzonetta hat der „scultore amante“ aus Furcht vor dem Unhold, den die Anthologia graeca beschreibt, zwar den Marmor in den Schlaf gezwungen, doch die lebendige Wirkmacht des Sujets vermochte er nicht einzuschläfern. Hier liegt die Magie oder Zauberkraft der Kunst begründet, wie Ficino ausführt, in der belebten Natur, in der sich alles, was wesensverwandt ist, anzieht, und in dem Künstler, der die Wahlverwandtschaften, die Anziehungskräfte der Naturdinge kennt und die zwischen ihnen bestehenden Harmonien. Da alle magischen Kräfte auf der Liebe beruhen, ist die Kunst wie die Liebe eine Magie und der Künstler folglich ein Magier. In dem Bildwerk wirkt die Anziehungskraft der Liebe. Deshalb versagt die Kraft des Visus, der, gebannt von der Magie Amors, zwischen Kunst und Leben nicht mehr unterscheiden kann. „Betrachter, es sei dir nicht lästig mit leichtem und kühlem Fächer die milde Luft zu bewegen, damit der Schlaf [Amors, C. K.] ruhiger und tiefer sei.“ 48 Wie in vielen anderen Gedichten der Galeria ist das lyrische Ich Beobachter des Beobachters: Es beobachtet die Bedingungen, unter denen sich Kunstwahrnehmung ereignet, d. h., der Betrachter verdoppelt sich, er ist in dem Bild, das er betrachtet. Marino führt diese distanzierte Perspektive ein, um den Leser die Gefahren zu suggerieren, die in der Begegnung mit dem im Kunstwerk anwesenden Amor lauern. Indem der barocke Dichter den naturphilosophischen Diskurs, den ihm Ficino, auf Platon fußend, eröffnet hat, für die rezeptionsästhetischen Zwecke seiner eigenen Kunst instrumentalisiert, distanziert er sich zugleich von Ficino und dem „spiritualisierten Naturalismus“ seines Weltbildes. Aus der Perspektive des Ich als zweitem Beobachter geht es dem Dichter natürlich um die Ausarbeitung einer Rhetorik der Leseraffizierung durch literarische Illusionsbildung, die der vitalistischen Naturauffassung in ihrer Wirkungsweise gleichkommt, aber nach ihren eigenen Gesetzen, nämlich den Gesetzen der

Amor schläft an einem Brunnen

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barocken Wortkunst, verfährt.49 Als InterpretInnen des Gedichts wird man in die Position des Beobachters des Beobachters des Beobachters versetzt und kann als ‚dritter Beobachter‘ die Sprachkunst des Dichters genießen, sofern der Bildungshorizont die kunstvolle Verknüpfung der oben beschriebenen Diskurse erfasst. „Schon ist die Morgenröte verschwunden, sieh’ der Morgen tritt hervor. Schau wie Phoebus zum Lauf die Rosse von den rosenfarbenen Pforten losbindet. Es muss schwerer Mohn oder Bacchus sein, der ihm [dem Amor] die stolzen Augen niederdrückt; aufrütteln können ihn nicht einmal die Posaunen!“ 50 Abermals wird die Starre des Bildwerks gegen die Suggestion ihrer Lebendigkeit ausgespielt, doch deutet die Verflüchtigung der Morgendämmerung bereits an, was sich in den letzten Strophen bewahrheiten wird. In den beiden letzten Versen wird nicht nur das von dem Bildwerk halluzinierte Betrachter-Ich, sondern auch der von der Suggestionskraft der Dichtung betörte Leser jäh aus der Illusion geworfen und in die harte Wirklichkeit zurückgeholt: „Wer du auch seiest, der ihn anschaut, fürchtest du, dass er lebt und atmet? Geh’ ruhig auf ihn zu, berühre ihn nur: ich habe mit dir gescherzt, er ist aus Stein.“ 51 Ausgerechnet der Visus wird gegen den Tastsinn ausgespielt und letzterem in Anspielung auf Machiavelli und Platon in einer zweifachen Ironie zum Sieg der Erkenntnis verholfen. Es wird also nicht nur das bereits zitierte Diktum Machiavellis angesichts der beabsichtigten Täuschung bestätigt: „Die Menschen urteilen im allgemeinen mehr nach dem, was sie mit den Augen, als nach dem, was sie mit den Händen wahrnehmen. Alle sehen, was du scheinst, aber nur wenige fühlen, was du bist.“52 Und der Weg der Erkenntnis schwingt sich eben nicht hinauf in die lichten Höhen der Ideen, wie bei Ficino und Platon. Ganz im Gegenteil! Der beobachtete Betrachter gelangt durch eine steile Abwärtsbewegung zur Erkenntnis der Wahrheit: Vom Blick auf Phoebus’ Rosse, die im Morgenlicht emporsteigen und den Brunnen, an dem Amor schläft, beleuchten – wie es in der vorletzten Strophe heißt –, geht es im freien Fall abwärts zur Erkenntnis der ertasteten Tatsachen. Und dies ganz sicher zum Entzücken derjenigen Leser, die diese funkelnden Ironien in allen Facetten genießen konnten. Am Ende zeigt sich der Dichter mit dem Bildhauer, Machiavelli, Amor und der Kunst in enger Komplizenschaft. Als „gran simulatore e dissimulatore“ geht es doch ihnen allen darum zu beweisen, dass „derjenige“, wie Machiavelli weiß, „der täuscht, stets jemanden finden wird, der sich täuschen lässt“.53

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3  Liebe, List und Täuschung

Endnoten 1 Prolog des Amor in Tasso: Aminta, ital.-dt., übers. und hg. v. Janos Riesz, Stuttgart 1995, S. 9. 2 Ebd. 3 Epilog der Venus, ebd., S. 163–165. 4 Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architettori. Nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. v. Rosanna Bettarini, Bd. VI, Florenz 1987, S. 14–15; Giorgio Vasari: Das Leben des Michelangelo, neu übers. v. Victoria Lorini, hg., komm. und eingel. v. Caroline Gabbert, Berlin 2009, S. 46–47: zur Rekonstruktion des Schlafenden Cupido, ebd., S. 268–269, Anm. 65. 5 Ebd., S. 46. 6 Ebd., S. 46. 7 Ebd., S. 47. 8 Jon R. Snyder: Dissimulation and the Culture of Secrecy in Early Modern Europe, Berkeley 2009, bes. S. 110– 114. 9 Der Principe erschien 1532 unter dem Dispens des Medici-Papstes Klemens VII.; siehe dazu Carlo Ginzburg: Spuren einer Paradigmengabelung: Machiavelli, Galilei und die Zensur der Gegenreformation, in: Sibylle Krämer / Werner Kogge / Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 257–280, hier S. 260–261. 10 Niccolò Machiavelli: Il Principe – Der Fürst, ital.-dt., übers. und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 134. 11 Ebd., S. 137. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 139. 14 Anthologia Graeca. Buch XII–XVI, hg. u. übers. aus dem Griech. v. Hermann Beckby, Freising 1958, S. 415. 15 Ebd. 16 Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur, München 1993, S. 831. 17 Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori, Bd. V, S. 326; Giorgio Vasari: Das Leben des Pontormo, neu übers., komm. und eingel. v. Katja Burzer, Berlin 2004, S. 51. 18 Venere e Amore – Venus and Love, hg. v. Franca Falletti und Jonathan Katz, AK Florenz Galleria dell’Accademia, Florenz 2002; Eckhard Leuschner: Persona, Larva, Maske. Ikonologische Studien zum 16. bis frühen 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997, S. 175–179. 19 Vasari: Michelangelo, S. 51; Richard Aste: Bartolomeo Bettini e la decorazione della sua „camera“ fiorentina, in: Venere e Amore, S. 3–25. 20 Zu Vasaris Porträt des Lorenzo de’ Medici (Florenz, Uffizien) Ute Davitt-Asmus: Corpus quasi vas: Beiträge zur Ikonographie der italienischen Renaissance, Berlin 1977; zu den insgesamt 16 nachweisbaren Kopien von Venus und Amor siehe Jonathan Katz: Le „Venere e Cupido“ fiorentina: un nudo eroico femminile e la potenza dell’amore, in: Falletti / Katz (Hg.): Venere e Amore, S. 27–63, hier S. 50–57 und Appendix II. 21 Ovid: Metamorphosen, IV, 169–189. 22 Erasmus Weddigen: Des Vulkan paralleles Wesen. Dialog über einen Ehebruch mit einem Glossar zu Tintorettos Vulkan überrascht Venus und Mars, München 1994; Tom Nichols: Tintoretto. Tradition and Identity, London 1999, S. 88–90; Daniel Arasse: Cara Giulia, in: ders. (Hg.): On n’y voit rien. Descriptions, Paris 2000, S. 9–22. 23 Arasse: Cara Giulia, S. 17–18. 24 Sibylle Ebert-Schifferer: Caravaggio. Sehen – staunen – glauben. Der Maler und sein Werk, München 2009, S. 219–220. 25 Valeska von Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600, Berlin 2009, S. 201–223, hier S. 213, 220–221. Die im Röntgenbild sichtbaren Pentimenti sowie der aus zwei Teilen zusammengenähte Bildträger sprechen für eine Urfassung des Gemäldes, über die sich die Caravaggio-Kenner allerdings streiten; Nicole Hartje, in: Originale und Kopien im Spiegel der Forschung, hg. v. Jürgen Harten / Jean Hubert Martin, AK Düsseldorf Museum Kunstpalast, Ostfildern 2006, Kat. Nr. 2. 26 Beide Versionen waren 2006 im Düsseldorfer Kunstpalast nebeneinander auf Augenhöhe sichtbar. Die Replik zeigt im Vergleich einen modifizierten Befund. 27 Andreas Prater: Licht und Farbe bei Caravaggio. Studien zur Ästhetik und Ikonologie des Helldunkels, Stuttgart 1992, S. 141–149, hier S. 142; Sybille Ebert-Schifferer: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben, S. 219; von Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren, S. 201–223.

Endnoten

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28 Siehe zum Folgenden den Ficino-Kommentar von Thomas Leinkauf: Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), 2 Bde., Bd. 2, Hamburg 2017, S. 1165–1246, hier S. 1221–1226, und S. 1256 –1262. 29 Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, lat.-dt., übers. v. Karl Paul Hasse, hg. u. eingel. v. Paul Richard Blum, Hamburg 1994, S. 209. 30 Ebd., S. 209, 211. 31 Ebd., S. 215. 32 Prater sieht in dem Amor „eine Allegorie des Philosophen“. Prater: Licht und Farbe, S. 145. 33 Ebd., S. 221, 223. 34 Ebd., S. 237–239. 35 „Nach seinem Vater wiederum stellt er den Guten nach, ist tapfer, unerschrocken und unermüdlich, ein gewaltiger Jäger, immer auf irgendwelche Kniffe sinnend, begierig nach Einsicht und nie um einen Ausweg verlegen, sein ganzes Leben philosophierend, ein gewaltiger Zauberer, Giftmischer, Sophist.” Platon: Symposion (203, d–e). 36 Ficino: Über die Liebe, S. 241. 37 Ebd., S. 243. 38 Ebd. S. 243. 39 Ebd., S. 245. 40 Ebd., S. 245. 41 Ebd., S. 247. 42 Ebd., S. 247. 43 Ebd., S. 253. 44 Thomas Leinkauf: Ut philosophia pictura. Beobachtungen zum Verhältnis von Denken und Fiktion, in: Inigo Bocken / Tilman Borsche (Hg.): Kann das Denken malen? Philosophie und Malerei der Renaissance, München 2009, S. 45–69; Liana De Girolami Cheney: Giorgio Vasari’s Teachers: Sacred and Profane Art, New York 2007, S. 48–60; Maria Moog-Grünewald (Hg.): Eros. Ästhetisierung eines (neu)platonischen Philosophems in Neuzeit und Moderne, Heidelberg 2006, darin die Aufsätze von Gerhard Regn und Joachim Küpper; André Chastel: Marsile Ficine et l’art, Genf 1975. 45 Giambattista Marino: La Galeria, ital.-dt., ausgew. u. übers. v. Christiane Kruse und Rainer Stillers, Mainz 2009, S. 314–321, hier S. 315; den italienischen Wortlaut siehe ebd. 46 Frank Fehrenbach: „Tra vivo et spento”. Marinos lebendige Bilder, in: Christiane Kruse / Rainer Stillers (Hg.): Barocke Bildkulturen. Dialog der Künste in Giambattista Marinos Galeria, Wiesbaden 2012, S. 203–222, hier S. 214–222. 47 Marino: La Galeria, S. 315. 48 Ebd., S. 319. 49 Christiane Kruse: Psychologie einer Bildbetrachtung. Imagination, Affekt und die Rolle der Kunst in Sopra il ritratto della sua Donna, in: Kruse / Stillers (Hg.): Barocke Bildkulturen, S. 221–250. 50 Marino: La Galeria, S. 321. 51 Ebd., S. 321. 52 Machiavelli: Il Principe, S. 139. 53 Ebd., S. 137.

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4  DIS/SIMULATION

„Nichts trügt weniger als der Schein.“ Max Liebermann Um 1500 kultiviert sich an den europäischen Höfen eine Dialektik der Oberfläche, die das Zeigen und Verbergen betont. In diesem doppelten Sinn entdeckte das frühneuzeitliche Individuum sich selbst und die Kunst als persönliche Ausdrucksformen, die Stephen Greenblatt mit Blick auf die Verflechtung von Literatur und kultureller Praxis unter dem Begriff „self-fashioning“ gefasst hat.1 Im Folgenden liegt der Fokus des Self-Fashioning auf der Inszenierung des Selbst als Bild, das unter dem Begriff „Dis/simulation“ eine soziale Praxis mit der Kunstpraxis verknüpft.2 Abermals geht es dabei um Macht bzw. Machtbegehren, die man sich, wenn man ihrer noch nicht teilhaftig ist, durch Strategien der List und Täuschung aneignet. Eine Satire spitzt das Problem zu. Till Eulenspiegel kam eines Tages nach Marburg und stellte sich dem Hessischen Landgrafen als Maler mit außergewöhnlichen Fähigkeiten vor.3 Er zeigte ihm eine Reihe von Gemälden, die er zuvor in Flandern gekauft hatte, und erhielt den Auftrag des Grafen, die Galerie seiner Ahnen zu malen. Eulenspiegel machte sich an die Arbeit unter der Bedingung, dass niemand außer seinen Gesellen den Saal betreten dürfe. Seinen Gesellen befahl er aber nichts zu tun, außer zu schweigen und Schach zu spielen. Als der Landgraf eine Probe der Gemälde zu sehen wünscht, verriet er dem Grafen, was es mit seiner Malerei auf sich habe, dass nämlich jeder, der die Bilder betrachtet und unehelich geboren sei, nichts darauf erkennen könne, die Ahnen folglich für jeden Bastard unsichtbar blieben. Der Landgraf zeigte sich von diesem Bildkonzept begeistert. Man betrat den Raum, und Eulenspiegel zog das Leinentuch, das er vor die Wand gespannt hatte und bemalen sollte, zurück, zeigte mit einem weißen Stab auf die Wand und erklärte dem Landgraf wortreich die vermeintlichen Porträts einer stattlichen Ahnenreihe, die er vom Landgrafen über Ludwig den Frommen bis zu Justinian zurückreichen ließ (Abb. 30). Der Landgraf, der nichts sah als die weiße Wand, erschrak innerlich, dass er wohl ein Hurenkind sei. „Jedoch sprach er, um den Anstand zu wahren: ‚Lieber Meister, uns genügt Eure Arbeit wohl. Doch haben wir nicht genug Verständnis dafür, um es richtig zu erkennen.’ Und damit ging er aus dem Saal.“4 Der Gräfin, die bereits Misstrauen gegen den neuen Hofmaler hegte, verheimlichte der Landgraf, was er erkannt, aber nicht gesehen hatte: „Liebe Frau, mir gefällt seine Arbeit durchaus und genügt mir“,5 versuchte er das persönliche Desaster, das ihm die ,Gemälde‘ offenbarten, herunterzuspielen. Also traute sich auch die Gräfin samt ihrer Gefolgschaft nicht mit der Wahrheit herauszurücken. Die Hof-

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30  Eulenspiegel in Marburg, Holzschnitt aus der 27. Historie, Frühdruck S, Straßburg 1515

närrin gab schließlich zu, dass sie nichts sehe außer eben einer weißen Wand, und dann auch das ganze Gesinde, das durch ein betretenes Schweigen die Wahrheit ans Licht brachte. Erst jetzt erkannte der Landgraf, dass er betrogen worden war. Eulenspiegel hatte aber längst sein Geld kassiert und war weitergereist. Mit dem Malen wollte er sich künftig nicht mehr befassen. Die Kunst des Als-ob/Als-ob-nicht [dis/simulatio] wird hier von einem ihrer Meister, jenem als Schalk bekannten Till Eulenspiegel, entlarvt. Derjenige, der sie ausüben will, muss sich schon ein ganzes Bündel an Strategien aneignen und beherrschen, um ein Ziel zu erreichen. Es geht um Vorteilsnahme durch Vorspiegelung falscher Tatsachen, die durch Überredung, Vortäuschung von Evidenz und Illusionsbildung erreicht wird. Derjenige, der dis/simuliert, muss daher Kenntnis von gesellschaftlichen Regeln und Rollenspielen haben. Er oder sie muss den Anstand wahren, Eitelkeiten bedienen können, ein Hochstapler sein und einen Instinkt für Macht und Machterhalt besitzen. In der Marburg-Episode wird Dis/simulation zwar vordergründig als Strategie eines auffälligen Nichtsnutzes eingeführt, der sich als Hofkünstler aufspielt, aber ein Hochstapler ist und sich über eine List einen Vorteil zu verschaffen sucht. Doch die Pointe der Episode liegt in der Dissimulation der Dissimulation: Denn dieser angebliche Nichtsnutz beherrscht eine Kulturtechnik von hohem Rang, eine Kunst, die nicht weniger als Intelligenz, Witz, Phantasie und Kreativität, die Weitsicht, strategisches Denken und Selbstbeherrschung, die aber vor allem Menschenkenntnis, insbesondere das Verständnis der menschlichen Seele, der Charaktere und ihren Ausdruck auf Gesichtern, Körperoberflächen und Gesten sowie ein immenses kulturelles Wissen erfordert. All diese im sozialen Daseinskampf der frühneuzeitlichen Gesellschaft außerordentlich nützlichen Fähigkeiten und Talente vereint ein bekannter Nichtsnutz auf sich und versteht es, Vorteile und Gewinne daraus zu ziehen.6 Die Marburger Eulenspiegelei hat als ihren realen Hintergrund den seit dem Spätmittelalter weit verbreiteten Abstammungsnachweis, die sogenannte Ahnenprobe, die vor allem der ständischen Abschließung adliger Eliten gegenüber Aufsteigern diente.7 Mit dem Nachweis von Linearität und ‚fleischlicher Abstammung‘ war die Qualifikation für ein Amt, die Mitgliedschaft

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in einer Gruppe oder der Zugang zu Privilegien verbunden. Die Repräsentationsform solcher Adelsbeweise war die Ahnentafel, auf der die Genealogie mit den Namen und den Wappen der Familienmitglieder in Form eines Stammbaums aufgezeichnet war. Aus dem Adelsbeweis legitimierte sich Herrschaft. Interessant ist nun, dass für den Beweis der adeligen Abstammung des hessischen Landgrafen die Porträtkunst der Flamen herangezogen werden sollte, mit der seit Jan van Eyck vor allem eine bürgerliche Oberschicht bedient wurde. Die BürgerInnen konnten ihr soziales Prestige nämlich nicht auf eine lange Ahnenreihe gründen. Mit ihren Porträts, die Bildqualitäten der spiegelbildlichen Ähnlichkeit aufwiesen, traten sie nun öffentlich, etwa auf Altarbildern in Kirchenkapellen, als fromme BürgerInnen in Erscheinung.8 Wenn in Marburg ein Adliger von niederem Rang, ein Landgraf, eine dazu auch noch übertrieben lange Dynastie mit gemalten Porträts ,beweisen‘ wollte, so konnte er dies womöglich durch die übliche Ahnentafel nicht bewerkstelligen. Seine dynastische Legitimation war daher in Zweifel zu ziehen. Zu vermuten war eher, dass er gar keine Legitimation hatte – und sich aus Ermangelung derselben der Gattung des Bürgerporträts bediente, um sich mit der Evidenz der auf ihnen dargestellten ,Ahnen‘, welche die Bilder fingieren sollten, eine dynastische Legitimation zum Zweck der Machtausübung und des Machterhalts zu ergaunern. Diese Rechnung ging nicht auf, weil der eine Hochstapler (Landgraf) auf den nächsten Hochstapler (Eulenspiegel) hereingefallen war, wobei ersterer noch nicht einmal zum Tugendadel zählen konnte, was Aufstiegswillige gern als Argument für ihre Aufstiegsbefähigung vorbrachten. Am Ende gibt die Episode tiefe Einblicke in die Meinung der Bürger über die Legitimation adeliger Herrschaft.9 „Simulatio“ und „Dissimulatio“ sind nicht als Begriffe der bildenden Künste erfunden worden, sondern haben ihren Ursprung in den antiken Rhetorik- und Soziallehren. Quintilian findet für das griechische „Ironie“ die Übersetzung „dissimulatio“ (IX, 2, 44) und betont die Komplementarität der beiden Begriffe (VI, 3, 85). In der Rhetorik bezeichnet Dissimulation das gezielte Zurückhalten oder Verbergen von Wissen, um die Gesprächspartner mit Fangfragen zu entlarven. Kennzeichnend ist, dass der/die SprecherIn bei der Dissimulation mehr weiß, als er/sie vorgibt zu wissen, während bei der Simulation der/die SprecherIn die Übereinstimmung der eigenen Meinung mit der der Gegenpartei vortäuscht. Noch am Anfang des 18. Jahrhunderts, als Carl Gottfried Ittig das Wissen über Dis/simulation in seinem Traktat De simulatione et dissimulatione olim et hodie (1709) zusammenfasste, sind beide „in unlöslicher Verbindung vereint“: wer beispielsweise Freundschaft simuliere, verberge Feindschaft und umgekehrt.10 Die enge Verbindung von Simulation und Dissimulation zeigt sich in einem Zitat aus Shakespeares Richard III, das zugleich von der Rhetorik weg, hin zu einer mehr handlungsbezogenen und bilderzeugenden Bedeutung führt: „And thus I clothe my naked villainy […] And seem a saint“ (I,3,336–338). Ich muss nur den Schurken, der ich bin, be- bzw. verkleiden, um als Heiliger zu erscheinen – wenn ich mich gut verstelle, dann kann ich die Rolle des Heiligen übernehmen. Hierin erweist sich Dis/simulation als eine Kulturtechnik, die sich nicht mehr nur auf die Rede bezieht. Das Be- bzw. Verkleiden wird zum strategischen Rollenspiel, das den ganzen Körper einbezieht.11 In einem Akt der listigen Selbstverwandlung wird aus einem nackten Schurken ein verkleideter Heiliger. Es ist dies das Spiel der Maskerade, das jedem Rollenspiel eignet. Dieses

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Spiel hat keinen Selbstzweck, sondern ist Teil einer sozialen Kommunikation, in der Spieler beabsichtigen, sich Vorteile zu verschaffen. Carl Gottfried Ittig betont den ontologischen Aspekt der Dis/simulatio, wonach die Simulatio die vorgespiegelte Präsenz dessen ist, was nicht da ist [eius quod non est praetexta praesentia] und Dissimulatio das Verbergen dessen, was existiert [eius quod adest negata praesentia].12 Auf den Rollenspieler bezogen heißt das, er simuliert, was nicht ist, und dissimuliert, was ist: „dissimulamus quod sumus, simulamus, quod non sumus“.13 In der Marburger Ahnengalerie simuliert Eulenspiegel die Existenz von Bildern, die nur sieht, wer legitim geboren wurde, und dissimuliert die weiße Wand des Ahnensaals. Die als komplementär aufgefassten Begriffe beziehen sich auf die Identität von sprechenden Personen und auf Handlungen, auf Formen der Repräsentation des Selbst in der Welt, des „So-tun-als-ob“ im Fall der Simulation und „So-tun-als-ob-nicht“ im Fall der Dissimulation. Um es noch schärfer zu formulieren: Dis/simulation hat das Ziel, der Lüge eine reale Existenz zu geben. Dies macht sie zu einer Kulturtechnik der Kommunikation. Sie hat Adressaten, ein Gegenüber, eine/n GesprächspartnerIn, die/der qua Dis/simulation überzeugt werden soll. Die Performanz – oder rhetorisch die „actio“ – spielt dabei eine entscheidende Rolle. Zur Strategie der Dis/simulatio gehört notwendig eine angemessene Stimme, eine überzeugende Mimik, Gestik, Körperhaltung – alles, was auch SchauspielerInnen lernen.14 Doch unterscheidet den Dis/simulanten von der/vom SchauspielerIn, dass das Spiel, das er oder sie spielt, sein Leben und die Bühne nicht das Theater, sondern das soziale Umfeld und die Alltagssituation ist. Frühneuzeitliche Dis/simulantInnen spielen ihr Leben, schreiben sich seine Rolle, studieren sie selbst ein, entwerfen sich als lebendiges Bild. Dies macht Dis/simulation zu einem Gegenstand der bildenden Kunst, die sich für das Körperbild interessiert. Erving Goffman hat in einer viel zitierten Studie das Rollenspiel des modernen Menschen aus der Sicht eines Soziologen untersucht.15 Uns interessiert hier nicht nur die Vorgeschichte, sondern die Verflechtung von sozialer Praxis mit einer sich ausbildenden Kunst- bzw. Bildtheorie.

Gesellschaftliche Praxis Der Ort, an dem die Kunst der Verstellung ein- und ausgeübt wird, ist der Hof.16 Anfang des 16. Jahrhunderts versammelten sich am Hof von Urbino in einer Folge von Abenden prominente Mitglieder der Höfe aus verschiedenen Regionen Italiens zu „Gesprächsspielen“, um darüber zu diskutieren, welche besonderen Eigenschaften der vollendete Hofmann und die vollendete Hofdame haben müssten. Der Libro del Cortegiano von Baldassar Castiglione entwirft eine Theorie des „uomo universale“ und implementiert eine Ästhetik des (schönen) Scheins in die gesellschaftliche Praxis, die weitreichende Folgen in der frühen Neuzeit hat.17 Entscheidend an den abendlichen Gesprächsspielen ist, dass sie vom Prinzip des Widerspruchs geleitet sind und nicht die Vermittlung einer eindeutigen Wahrheit gefordert ist, die ein „kaltes Spiel“ wäre. Es geht den Teilnehmenden vielmehr um Wahrscheinlichkeit [più simili del vero], genauer: um die Kontingenz der Wirklichkeitserfahrung eines jeden Subjekts und um die Fähigkeit,

Gesellschaftliche Praxis

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sich ein eigenes Urteil zu bilden. Die Vielfalt der Meinungen, die im Dialog geäußert werden, machen den Prozess der Findung einer einzigen Wahrheit folglich problematisch. Im Diskurs über den Hofmann und die Hofdame gilt als wahr, was plausibel vertreten werden kann. Was hier zählt, ist das überzeugende Argument, das die Dialogpartner vorbringen. Wenn es nämlich Konsens der am Gesprächsspiel beteiligten Personen ist, dass die subjektive Wirklichkeitserfahrung da­rüber entscheidet, was wahr ist, „dann muss die zentrale Aufgabe des vollkommenen Hofmanns darin bestehen, nicht nur vollkommen zu sein, sondern in der gesellschaftlichen Interaktion auch vollkommen zu erscheinen“.18 Hierin liegt ein hermeneutisches Grundproblem, das auch die semantische Offenheit der frühneuzeitlichen Kunst erklärt. Herman Bote treibt es in der Marburg-Episode seines Helden Till Eulenspiegel auf die Spitze. Wir haben es mit einem Rezipientenkreis zu tun, der nicht zu der einen, allein gültigen – wahren – Deutung kommen, sondern vor den Bildern zu kontroversen Meinungen und zu alternativen Deutungen gelangen will. Im Libro del Cortegiano wird die Kontingenzerfahrung des Subjekts zum generellen Rezeptionsproblem, da grundsätzlich jeder Meinung mit guten Argumenten widersprochen werden kann. Hierin hat Klaus Hempfer die entscheidende Differenz zwischen dem Renaissancedialog und dem antiken Dialog formuliert, wo die Mäeutik trotz aller Widersprüchlichkeit auf eine gültige Wahrheit zielt, während „in der Renaissance die Vertretbarkeit unterschiedlicher Wahrheiten inszeniert und auch explizit thematisiert wird. [...] Daß sich der Dialog des Hofmanns als ‚Spiel‘ ausweist, ist somit die metaphorische Transponierung einer epistemologischen Pro­blematik, denn ein Spiel gewinnt nicht, wer recht hat, sondern wer die besseren Züge macht. Und die besseren Züge im Argumentationsspiel macht derjenige, der seine Argumente überzeugender vorbringt“.19 Im Diskurs über den Hofmann gilt als wahr, was plausibel vertreten werden kann. Ein solches ,persuasio‘-Konzept fundiert nicht nur den Prozess der Wahrheitsfindung selbst, sondern auch den Gegenstand, über den hier verhandelt wird: die soziale Interaktion des Hofmanns und der Hofdame. Da es also nicht um die Herausarbeitung einer zu setzenden Norm geht, sondern der Zugriff auf die Perfektion über die als perfekt anerkannten Phänomene geschieht, ist es für den Hofmann und die Hofdame wichtig, dass er/sie vor allem für sich und von sich selbst einen guten Eindruck zu erwecken verstehen. Es geht um nicht weniger als das Ansehen, dass man sich durch die Meinungen, die über einen kursieren, erwirbt, wobei man den Einfluss der Meinungen anderer über die eigene Person nicht unterschätzen sollte, wie einer der Teilnehmenden der Gesprächsrunde im zweiten Buch des Traktats darlegt: „Es könne nämlich jemand, der bei Hofe nicht bekannt ist, noch so witzig und schlagfertig sein, er könne sich in seinen Gesten, Manieren und Worten noch so gut erweisen. Wenn er aber dem Fürsten nicht angenehm ist, aus welchem Grund auch immer, dann werden sich die Höflinge der Meinung des Fürsten anschließen und nichts von ihm halten. Im Gegenteil, sie werden ihn verspotten und jagen bis hinab zum Pagen. Wenn sich der Fürst hingegen einem Dummkopf als geneigt erweist, dann werden alle Höflinge dessen Sitten und Gewohnheiten, so töricht und albern sie auch sind, loben und jeder über die dümmsten Sprüche lachen, obwohl sie eher Erbrechen als Lachen hervorrufen müssten.“20 Dieses Verhalten der Höflinge ist bereits aus der Ahnengalerie des Marburger Landgrafen bekannt, der vor den Untertanen sein Gesicht angesichts der vermeintlichen Porträts zu wahren hatte. „Aus diesem

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Grund müsse der perfekte Hofmann dafür Sorge tragen, dass, an welchen Ort er sich auch immer begebe, dort bereits eine gute Meinung über ihn im Umlauf ist. Denn der Ruf, der einem vorauseilt, erzeuge einen gewissen Glauben an einen Wert, der sich bei derart vorbereiteten, geneigten Herzen durch Taten aufrechterhalten und vermehren lässt.“21 Die entscheidende Qualität, mit der der Höfling einen guten Eindruck zu machen vermag, ist „grazia“.22 Grazia war zu Castigliones Zeiten zugleich eine der zentralen ästhetischen Kategorien der bildenden Kunst, die Giorgio Vasari in seinen Vite besonders Raffael zuschrieb. „Da ich aber schon häufig bei mir bedacht habe“, so der Gesprächsleiter Ludovico da Canossa im Libro del Cortegiano, „woraus die Anmut [grazia] entsteht, bin ich immer [...] auf eine allgemeine Regel gestoßen, die mir in dieser Hinsicht bei allen menschlichen Angelegenheiten, die man tut oder sagt, mehr als eine andere zu gelten scheint: nämlich so sehr man es vermag, die Künstelei [affettazione] als eine rauhe und gefährliche Klippe zu vermeiden und bei allem, um vielleicht ein neues Wort zu gebrauchen, eine gewisse Art von Lässigkeit [sprezzatura] anzuwenden, die die Kunst verbirgt und bezeigt, daß man das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustande gekommen ist. Davon rührt, glaube ich, großen Teils die Anmut her. [...] Man kann daher sagen, daß wahre Kunst ist, was keine Kunst zu sein scheint; und man hat seinen Fleiß in nichts anderes zu setzen, als sie zu verbergen.“23 Im Gegenzug raube deshalb das ostentative Zurschaustellen von Kunst [affettazione], jede Übertreibung und Affektiertheit, die Anmut. Die Essenz höfischen Verhaltens wird folglich als ‚eine Kunstregel‘ formuliert, die sich bereits in den antiken Rhetoriklehren, bei Aristoteles, Quintilian und bei dem im 16. Jahrhundert wiederentdeckten Pseudo-Longinus findet. Auch Ovid erhebt die ,Kunst des Kunstverbergens‘ zur Maxime einer technisch perfekten Kunstfertigkeit: Mit „ars latet arte sua“ kommentiert Ovid in den Metamorphosen (X, 252) angesichts der Frauenstatue des Pygmalion die perfekt mimetische Leistung des Bildhauers. In der sozialen Interaktion des Hofmanns und der Hofdame ist im Begriff der „sprezzatura“ folglich die „dissimulatio artis“ verankert. Aus „sprezzatura“, einer kunsthaft erzeugten Natürlichkeit, folgt „grazia“, die mit Lässigkeit oder Nonchalance vorgetragen werden soll. „Sprezzatura“ ist mithin eine Strategie des Hofmanns und der Hofdame, mit der sie die Mitglieder des Hofes davon überzeugen wollen, dass sie über alle Qualitäten mühelos, sine arte et studio, verfügen. Der Hofmann täuscht also nicht Eigenschaften vor, die er gar nicht besitzt, sondern rückt seine Person über eine ihm souverän zur Verfügung stehende Lässigkeit ins rechte Licht – gleiches gilt für die Hofdame. Auf dem schönen Schein, der Ästhetisierung des Seinsmodus des ‚als ob‘ im sozialen Rollenspiel bzw. der gesellschaftlichen Interaktion der Hofleute basieren eine ,Kunst‘ der Maske, Maskerade und Verstellung – und parallel dazu, in einer moralisch negativen Ausprägung die Täuschung und Lüge –, die sich spannungsvoll in der Literatur, auf der Bühne und in den Bildkünsten seit dem 16. Jahrhundert an den europäischen Höfen entfalten.24 Diese nicht nur bei Hofe, aber dort mit der größten Wirksamkeit auf alle anderen gesellschaftlichen Schichten ausagierten sozialen Kompetenzen werden zum Dreh- und Angelpunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit der höfisch-absolutistischen Gesellschaft, wie sie etwa Michel de Mon­ taigne, der sich vom Hof fernhielt, und die Moralistik des 17. Jahrhunderts sowie auf breiter Basis das Zeitalter der bürgerlichen Aufklärung formuliert haben.25

Falschspiel

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31  Georges de la Tour: Falschspieler mit Karo-Ass, um 1652, Öl auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre

Falschspiel Wer täuschen will, muss sein Anliegen glaubhaft vortragen. Gesicht und Körpersprache dürfen ihn oder sie nicht verraten, er oder sie muss in eine Rolle schlüpfen, deren Strategie im Voraus geplant und zu jeder Zeit perfekt gespielt werden muss. Der/die DissimulantIn ist immer auch ein/e SpielerIn oder ein/e FalschspielerIn. Das Spielfeld sind die Paläste und Höfe.26 Im Gemälde Der Falschspieler mit dem Karo-Ass von Georges de la Tour ist nur der Betrachtende in die Spielaktion eingeweiht, denn er oder sie überblickt den Spieltisch, wo der Falschspieler das Ass hinterrücks aus dem Gürtel zieht und mit Kopf- und Körperbewegung die Aufmerksamkeit der MitspielerInnen von sich auf andere lenkt (Abb. 31).27 Seine Mimik ist entspannt und äußert eine programmatische Gelassenheit. Dass das Spiel von der Mitspielerin und ihrer Vertrauten durchschaut wird, ahnt er nicht, denn er will ja betont von der Täuschung ablenken und hat sich deshalb vom Kartenspiel abgewendet. Er sollte aber wissen, dass derjenige, der betrügt oder täuscht, immer damit rechnen muss, dass es jemanden gibt, der die Täuschung durchschaut. Und genau dies ist hier der Fall. Die verschwörerischen Blicke und Gesten der beiden Frauen verraten den Bildbetrachtenden die Entdeckung des Täuschungsversuchs: Während die Magd, die Komplizin der Hofdame, ein Glas Wein serviert, schielt sie zu dem Falschspieler, den sie als solchen entlarvt hat. Die Kartenspielerin hat den Seitenblick verstanden und bedeutet dem Falschspieler mit einer leisen, aber fordernden Geste, die rechte Hand mit dem Ass auf den Tisch zu legen. Der dritte Mitspieler hat sich nur auf das Blatt in seinen Händen konzentriert und deshalb nichts bemerkt; er ist noch zu jung und unerfahren. Das Gemälde des Georges de la Tour ist ein Lehrstück der gemalten Physiognomik. Das verschattete Pokerface des Falschspielers, die verschwörerischen Seitenblicke von Magd und Hofdame, ihre überbetonte Mimiklosigkeit, mit der sie den Betrüger entlarven, und schließlich der jugendliche Grünschnabel, ein Neuling am Tisch, der in die Kunst des Falschspielens noch nicht eingeweiht ist – all dies

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sind psychologisch fein differenzierte Auffassungen der Mimik und der Handaktionen, die sich bildhaft, ganz ohne Worte mitteilen. „Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm. [...] Wer mit offenen Karten spielt, läuft Gefahr, zu verlieren. [...] Die Wahrheit ist für wenige, der Trug so allgemein wie gemein.“ 28 Die Maximen in Baltasar Graciáns Handorakel lesen sich wie ein Kommentar auf das Geschehen am Spieltisch. „Un homme qui sait la cour est maître de son geste, de ses yieux, et de son visage: il est profond, impénétrable; il dissimule les mauvais offices, sourit à ses ennemis, contraint son humeur, déguise son coeur, parle, agit contre ses sentiments“, resumiert Louis de Rouvroy, duc de Saint-Simon das Verhalten des Hofmanns in Versailles zu Zeiten Ludwig XIV.29 In de la Tours Gemälde ist der Spieltisch ein Ausschnitt aus der Welt, denn Falschspielerei kann sich überall ereignen. Dargestellt sind die miteinander verflochtenen Beziehungen der Individuen, die sich gegenseitig beobachten, weil sie sich nicht vertrauen können. Vielleicht sind sogar die beiden Frauen die größeren Betrügerinnen. Sieht nicht die Magd mit der bestickten Bluse und dem Turban wie eine ,Zigeunerin‘ [gitane] aus? Sie galten in der frühneuzeitlichen Gesellschaft als „Beutelschneiderinnen“.30 Um 1600 widmen sich in einer Welle des Erfolgs Texte und Bilder überall in Europa der Kultur der GaunerInnen. Ihre Kniffe und Tricks werden Sujets der beliebten Pikaro- und Schelmenromane, waren wie Till Eulenspiegel im ‚niederen Stil‘ geschrieben, sollten unterhalten, eine Moral vermitteln – und zielten auf ein gebildetes, aristokratisches Publikum.31 Texte und Gemälde, in denen sich die Unterwelt der GaunerInnen und die Oberschicht der Aristokraten begegnen, befanden sich wie etwa Caravaggios Falschspieler (Abb. 32) und der Roman Lazarillo de Tormes auch im Besitz von Kardinälen.32 Indem die Unterwelt die Gesetze und Organisation der Oberschicht imitierte und sie mit ihren eigenen Verhaltensweisen hereinlegte, wie dies die Bilder darstellen und die Texte beschreiben, amüsierte sie sich über Arglist und Täuschung, wohlwissend, dass es in den anständigen Kreisen nicht besser zuging als bei den meist armen BetrügerInnen. Peter Burke bemerkte eine zunehmende Polarisierung der frühkapitalistischen Gesellschaft in Arm und Reich.33 Hatte man sich im Mittelalter um die Armen noch karitativ gesorgt, so werden sie jetzt inkriminiert, werden von den Wohlhabenden als BettlerInnen, DiebInnen und HochstaplerInnen verfolgt – und tauchen als Wahrsagerinnen, Beutelschneiderinnen und Falschspieler auf den Gemälden an den Wänden der Paläste wieder auf. Beide Welten eint die Kunst der Verstellung, eine Überlebenskunst für die armen GaunerInnen wie die Hofgesellschaft. Jeder, der sich am Hof bewegt, muss sie beherrschen, muss seine Affekte bändigen und seinen Verstand gebrauchen lernen. Klugheit ist gefordert, weiß der Jesuit Gracián, denn ihr Gegner heißt Scharfsinn. Dis/simulation ist mehr als nur ein Rollenspiel, sie ist so existenziell für das gesellschaftliche Leben nicht nur am Hof, dass Gracián sie im 13. Orakel in eine Kriegsmetapher kleidet. Die Klugheit führt einen listigen Krieg gegen die Bosheit der Menschen: „Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen. [...] Eine Absicht läßt sie erblicken, um die Aufmerksamkeit des Gegners dahin zu ziehen, kehrt ihr aber wieder den Rücken und siegt durch das, woran keiner gedacht hat.“ 34 Wie in einem Schachspiel bestimmt das Leben bei Hof die Stellung der Personen zueinander.35 Die Etikette gibt die Regeln vor, nach der der Zweck des Hofes gespielt wird: Demonstration von Prestige, Distanzierung gegenüber rangniedrigeren

Falschspiel

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32  Caravaggio: Falschspieler, um 1594, Öl auf Leinwand, Fort Worth, Kimbell Art Musuem

Mitgliedern, Anerkennung der Distanzierung von ranghöheren Mitgliedern. Innerhalb der Etikette werden die Prestigechancen, die Auf- und Abstiegsmöglichkeiten der Hofleute aus­ agiert. Für diese Aktionen, die das Überleben sichern sollen, gibt Gracián Maximen aus, deren Beherzigung er dringend empfiehlt. Eine strategisch, d. h. vorausschauende Klugheit rechnet immer mit dem gegnerischen Scharfsinn, der sie belauert und ihre Absichten durchkreuzt: „Stets versteht er [der Scharfsinn] das Gegenteil von dem, was man ihm zu verstehen gibt, und erkennt sogleich jedes falsche Mienemachen. Die erste Absicht läßt er immer vorübergehen, wartet auf die zweite, ja auf die dritte. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr, durch Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern und läßt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet.“36 Das Hofleben erfordert eine Dialektik des Denkens und Handelns und eine weit vorausschauende Planung von Winkelzügen, welche die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, ja selbst die Wahrheit hinter den Absichten verbirgt. Klugheit kann durch Scharfsinn zu Fall gebracht werden, die aber wiederum „ihren Scharfblick anstrengt und die in Licht gehüllte Finsternis entdeckt; sie entziffert jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger, desto trügerischer war“.37 In der Doppelstrategie der Dis/simulation ist das höfische Individuum im Zweispalt. Es unterwirft seinen Körper einem unablässig an der unsichtbaren Gesichtsmaske, an den Bewegungen und Handlungen arbeitenden, wachen Geist, der seine im Innern gehegten, ‚wahren‘ Absichten nach außen nicht zeigt. Dis/simulation ist eine Sache der Körperoberflächen, des Körperdesigns, des sich selbst beobachtenden, gestaltenden und kontrollierenden Individuums, das gezwungen ist, scharfsinnig zu handeln. Aus den Gesprächsspielen bei Castiglione wird bei Gracián die „agudeza de acción“, eine Handlungsmaxime, die den Plan des eigenen Handelns für andere undurchschaubar macht.38 „Es ist leicht, den Vogel im Fluge zu treffen, der ihn in gerade fortgesetzter Richtung, nicht aber den, der ihn in gewundener nimmt. Aber auch aus der zweiten Absicht darf man nicht immer handeln; denn schon beim zweitenmal kennen die Gegner die List. [...] Nie spielt der Spieler die Karte aus, welcher der Gegner erwartet, noch weniger die, die er wünscht.“39

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Wer scharfsinnig handelt, erfindet seine Körperoberfläche, bedient sich der „sprezzatura“ Castigliones, agiert mühelos und scheinbar ohne Absicht. Entscheidend ist der kreative Aspekt, denn der erfinderische, der ingeniöse Geist legt entweder präexistente Analogien zwischen den Dingen offen oder stellt neue, unerwartete Korrespondenzen her. Scharfsinniges Handeln zielt auf eine Erschließung der Wirklichkeit und beabsichtigt, in einer Welt der Täuschungen hinter den Schein der Dinge zu blicken.

Ästhetik des Scheins Für das Ausagieren des lebendigen Scheins, der den Hof regiert, entwirft die Bildkunst ihre Spiegelbilder. Die in den Kunstzentren beliebte Ikonografie der Falschspieler und Wahrsagerinnen führt den Betrachter in diese Künste ein, indem sie ihn zum Komplizen macht, ihm zeigt, wie es geht (Abb. 31 und 32). Lorenzo Lippis Allegorie der Simulation macht sogar die Verfahrensweise der Dis/simulation zum eigenen Bildthema (Abb. 33). Eine junge Frau wendet sich im hellen Licht vor dunklem Hintergrund aus dem Bild an den Betrachter.40 Graziös hält sie eine Theatermaske vor der Brust, in der anderen trägt sie einen aufgeplatzten Granatapfel, den sie über die gemalte Brüstung des Bildrahmens reicht. Mit dieser Geste signalisiert die Frau, dass sie so, wie sie die Maske abgenommen hat, um ihr Gesicht zu zeigen, jederzeit in der Lage wäre, diese aufzusetzen, um ihr Gesicht zu verbergen. Der kühle Blick von oben herab lässt die Überlegenheit der Maskenträgerin spüren, die über das Objekt souverän verfügt und es nach ihrem Belieben einsetzt. Die schwebende Handhaltung veranschaulicht den Doppelsinn der Maske, die verbirgt und zugleich etwas anderes zeigt.41 Der Granatapfel verbirgt unter der harten Schale seine süßen Kerne. Lippis Allegorie ist ein selbstbewusstes Bekenntnis der Malerei zur Kunst der Dis/simulation, die Deklaration ihrer dis/simulativen Verfahrensweise. Die Maske bringt das Gesicht ihrer Besitzerin auf die Differenz von lebendiger Gesichtshaut und dem aus Leder gefertigten Gesicht der Maske, auf das rote Apfelbäckchen gemalt sind. Die Maske symbolisiert das künstlerische Verfahren der „dis/simulazione“, das der römische Gelehrte Cesare Ripa in seiner Iconologia in einem Satz erklärt: „Simulazione ist das Verstecken der wirklichen Seelenregungen und des Herzens in der Doppeldeutigkeit der Worte. Die Maske wird vor das Gesicht gehalten, um das Wahre zu verbergen [dissimulatio] und das Falsche zu zeigen [simulatio].“42 Die Maske verbirgt, wenn sie vor das Gesicht gebunden wird, das wirkliche Gesicht ihrer Trägerin und zeigt stattdessen ein künstliches Gesicht, das in Ripas Diktion das Falsche sei. Was aber ist das Wahre, das die „simulazione“ verbirgt und das Falsche, das sie zeigt? Es ist die Kunst selbst, die, indem sie sich verbirgt, ihre Kunst zeigt. Das Verbergen der Kunst zum Zwecke der Vortäuschung von ‚Natur‘ ist der Kern einer Doppelstrategie: Das, was als Natur erscheint, ist in Wahrheit Kunst. Ihr Prinzip ist das Kunstverbergen.43 Aristoteles begründet diese Kunstregel in seiner Rhetorik (III, 2,4) als allgemeine Regel für die Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks in der Prosarede: „Daher ist es erforderlich, die Kunstfertigkeit anzuwenden, ohne dass man es merkt, und die Rede nicht als verfertigt, sondern als natürlich scheinen zu lassen – dies macht sie glaubwürdig, jenes aber bewirkt das Gegenteil.“44 In der

Ästhetik des Scheins

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33  Lorenzo Lippi: Allegorie der Simulation, erste Hälfte 17. Jh., Öl auf Leinwand, Angers, Musée des Beaux-Arts

Ausführung zur „narratio“ der Institutio oratoria erklärt Quintilian in genau diesem Sinne, dass die Gerichtsrede nicht erfunden oder unsicher klingen dürfe und man aus diesem Grunde jede Künstlichkeit vermeiden müsse: „Wir meinen nicht, die Kunst gehe verloren, wenn sie nicht zum Vorschein kommt, sondern, dass sie doch aufhört eine Kunst zu sein, wenn sie erscheint.“45 Baldassar Castiglione macht im Libro del Cortegiano aus dieser rhetorischen Regel eine soziale Handlungstheorie, nach der der Hofmann und die Hofdame – kurz gesagt – in der Interaktion mit den Mitgliedern des Hofes nicht vollkommen zu sein, sondern als vollkommen zu erscheinen habe: „Deshalb kann man sagen, dass diejenige Kunst wahre Kunst ist, die nicht Kunst scheint.“46 Cesare Ripa beendet mit diesem Topos aus der antiken Rhetorik seine Erläuterungen über den „concetto“ der Malerei: „So wie es bei den Rednern große Kunst ist, vortäuschend zu verstehen, ohne Kunst zu reden, so ist es für den Maler eine große Kunst in solcher Weise malend zu verstehen, dass die Kunst sich nur den Verständigsten offenbart.“47 Im Doppelsinn von Zeigen und Verbergen, den Lippis Allegorie darstellt, treffen sich soziale Lebenspraxis und künstlerische Technik. Es geht nach Meinung von Gracián um den zum Überleben am Hof notwendigen Erwerb von Scharfblick: „Wer hiermit begabt ist, bemeistert sich der Dinge, nicht sie seiner. [...] Indem er einen Menschen sieht, versteht er ihn und beurteilt sein innerstes Wesen. Er macht feine Beobachtungen und versteht meisterhaft, das verborgenste Innere zu

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entziffern. Er bemerkt scharf, begreift gründlich und urteilt richtig; alles entdeckt, sieht, fasst und versteht er.“48 Für das Individuum bedeutet Dis/simulation eine Geist und Sinne herausfordernde Technik, die mit Hilfe des Visus Oberflächen zu durchdringen vermag, um sich die opake Welt zu erschließen. Dies trifft in das Zentrum der Bildkünste.

Doppelsinn der Malerei Unter dem Lemma Pittura verfasst Cesare Ripa in seiner Iconologia einen weiteren Text, der jetzt die Personifikation der Malerei beschreibt, ihre inneren, geistigen Fähigkeiten und ihren Charakter, die sich als Chiffren in ihrer äußeren Gestalt zeigen: „Eine schöne Frau mit dichten schwarzen, losen und in verschiedener Weise aufgedrehten Haaren, mit hochgezogenen Augenbrauen, die fantasievolle Gedanken ausdrücken; sie bedeckt sich den Mund mit einer Binde, die hinter den Ohren zusammengebunden ist, mit einer Goldkette, an der eine Maske hängt, auf deren Stirn imitatio geschrieben steht. Sie hält in der einen Hand den Pinsel und in der anderen die Palette; mit einem Kleid aus schillerndem Stoff, das die Füße bedeckt; zu ihren Füßen kann man einige Instrumente der Malerei darstellen, die zeigen sollen, dass die Malerei eine würdige Betätigung ist, die man nicht ohne großen geistigen Eifer ausüben kann. [...] Sie [die Pictura] trägt eine Goldkette, an der eine Maske hängt, um zu zeigen, dass die Nachahmung mit der Malerei untrennbar verbunden ist.“49 Ripas Text handelt von der Verbindung der Geistestätigkeit [pensieri, fantasia] der Maler mit ihrem Vollzug in den Werken, von geistig-seelischer Schönheit, die sich in den körperlich schönen Bildern entäußert. Die personifizierte Malerei macht ihr unsichtbares inneres Wesen über ihren Körper, ihre Mimik, Kleidung, ihren Schmuck und dingliche Beigaben sichtbar. Ihre schwarzen, dichten Haare sind Zeichen ihrer Kenntnis der Geometrie [prospettiva], der Optik und überhaupt der Naturdinge, die dem Maler ein Höchstmaß an intellektuellem Niveau bescheinigen. Die hochgezogenen Augenbrauen äußern das Erstaunen, das die Malerei bei den Betrachtern ihrer Bilder hervorrufen soll. Die den Mund bedeckende Binde bezeugt Schweigsamkeit und Kontemplation der Maler. Das innere der Malerei, ihre Intellektualität, ist die Welt der Philosophen, Dichter, Rhetoriker und eben der Maler. Die hier formulierte Diskrepanz von grammatikalisch weiblichem Geschlecht und Körper der Pictura und ihrem männlichen Intellekt ist kein Thema für den Ikonologen Ripa. Der Malerin Artemisia Gentileschi gab sie jedoch Anlass zu einer Gegendarstellung, denn sie entschied, sich selbst in der Maske der Pictura darzustellen: Malerei ist weiblich (Abb. 34).50 Das um 1630 datierte Selbstbildnis als Pictura zeigt die Malerin zugleich als Urheberin und Produkt ihrer Kunst. Dieser logische Zirkel ist der Selbstdarstellung der Malerei zu verdanken, die Gentileschi in ihrem maskierten Porträt in Szene setzt. Jeder, der wusste, dass Artemisia Gentileschi die Urheberin dieser allegorischen Malereidarstellung ist, assoziierte die hier abgebildete Malerin mit der Autorin des Gemäldes. Und es ist gerade die Maske der Malerei, hinter der sich Gentileschi in einer idealisierten, aber sicher identifizierbaren Gestalt verbirgt. Die als Halbfigur dargestellte Malerin hält die zum Malen bereite Palette in der Hand und ist gerade dabei, den

Doppelsinn der Malerei

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34  Artemisia Gentileschi: Selbstbildnis als Pictura, 1630, Öl auf Leinwand, London, Kensington Palace, Collection of Her Majesty the Queen

ersten Pinselstrich auf eine grundierte Leinwand zu setzen. Die braune Leinwand bildet den Hintergrund der Malszene. Sie fingiert in tautologischer Weise die ungrundierte, grob und unregelmäßig gewebte Leinwand, die sich ohnehin als realer Malgrund unter der Farbschicht des Gemäldes befindet. Das von braunen Hintergrundflächen dominierte Bild lässt dem kräftigen Oberkörper der Gentileschi kaum Raum für den Malakt. Die Spannung zwischen Körpervolumen und Bildfläche äußert sich besonders in der kühnen Verkürzung des malenden Arms, dessen Perspektive nicht exakt gelungen ist. Der Körper der Malerin ist nur bis zum Taillengürtel malerisch definiert und verliert sich im Hintergrund, wo der braune Stoff des Trägerkleids in den braunen Leinenhintergrund übergeht. Dort wird der stattliche weibliche Oberkörper, der zu atmen scheint, zur toten braunen Fläche. Das Porträt der malenden Künstlerin hat wörtlich genommen seinen Ursprung in einer Leinwand, die die wirkliche Gentileschi um 1630 bemalt hat. Einst, so gibt die Urheberin des Gemäldes zu verstehen, war auch das Gemälde nur eine grob gewebte Leinwand, die mit Pinsel, Palette und dem künstlerischen Vermögen einer Frau in der Weise bearbeitet wurde, dass ihr lebendig scheinendes Bildnis auf ihr erscheint. Hat man erst einmal den Prozess des Bildwerdens der Pictura, der sowohl die Materialität des Gemäldes als auch den illusionsstiftenden Effekt der Malerei zur Darstellung bringt, als „concetto“

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erkannt, so zeigen sich überall Ambivalenzen in Bilddetails, die auf ihr Gemaltsein hinweisen: die malende und die die Palette haltende Hand, deren braunes Inkarnat mit der Leinwand wie in einer Mimikry verschwimmen, oder die zum Braun der Leinwand hin changierenden Ärmel des Gewandes. Auch der kleine Anhänger mit der Maske scheint mit der groben Struktur der gemalten Leinwand verwebt zu sein. So sind die Übergänge von beleuchtetem Gesicht und dem tiefen Dekolletee, deren Inkarnat das Leben und die jugendliche Schönheit der Malerin wie in einem Spiegel einfangen, zum graubraunen Schattenfleck, den der Kopf auf den Nacken der Malerin wirft, bis hin zum kaum mehr von der braunen Hintergrundfläche unterschiedenen Kleiderstoff am Rücken in ihrem Illusionsgrad stufenweise gemindert und schließlich ganz aufgehoben. Die illusionistische Leistung der Malerei, im Zentrum des Gemäldes, im Gesicht und der Büste der Malerin, am größten, nimmt zu den Bildrändern ab und schwindet schließlich ganz in den amorphen braunen Farbpartien am rechten und unteren Bildrand. Der Verweis auf die Materialität des Gemäldes als stoffliche Substanz der Illusion, ein Markenzeichen der barocken Malerei, erhält hier, im Bildthema der Pictura, eine metapikturale Deutung. Auch der kleine Maskenanhänger am goldenen Collier der Pictura, der laut Ripa die Kunst der täuschenden Nachahmung von Wirklichkeit symbolisieren soll, zeigt deutlich, dass sein Gold trügerisch ist, da er wie alles andere in dem Gemälde aus Leinwand, Farbe und Kunst besteht. Als eine der ersten übernahm die römische Malerin Artemisia Gentileschi das Attribut der Maske, mit der Ripa seine Pictura schmückte, wie oben zitiert, und erklärt sie wie folgt: „In der Antike nannte man imitatione jene Rede, die man, obwohl sie falsch ist, unter der Führung eines wahren Geschehens hält. [...] Und das Vergnügen, das man von der einen [der Dichtung] wie der anderen Kunst [der Malerei] empfängt, ist nichts anderes, als dass Kraft der Kunst mit einer Täuschung der Natur die Malerei mit den Sinnen verstehen lässt und die Dichtung mit dem Geist fühlen lässt. Die Malerei bedarf also der Nachahmung wirklicher Dinge, worauf die Maske, die ein Abbild des menschlichen Gesichts ist, hinweist.“51 Die Goldkette mit dem kleinen Maskenanhänger wird in den Pictura-Allegorien des 17. und 18. Jahrhunderts zum Symbol der Malerei. Gentileschis Pictura trägt sie wie eine Ordenskette, als eine Art Ehrenbezeugung, die der Malerin verliehen wurde. Im Selbstbildnis der Gentileschi hat sie eine doppelte Bedeutung. Sie verweist auf die doppelte Identität der im Bild dargestellten Malerin, die sich hinter der Maske der Pictura verbirgt. Und sie zeigt die Nachahmungskunst [imitatio] an, die dem Betrachter ein lebendiges „ritratto“ ihrer selbst vortäuscht. Was wird auf dem Bild, das Artemisia Gentileschi mit spitzem Pinsel beginnt, zu sehen sein? Was wird sie malen? Auch darauf gibt die Malerin eine einfache Antwort: Sie wird ihr Selbstbildnis malen, dass ihr Selbstbildnis malt etc. Der unendliche Regress des Gemäldes schließt den logischen Zirkel zu einer metafiktionalen Ausdeutung des Selbstbildnisses, das sich als etwas Gemachtes, Künstliches, als etwas Gemaltes – als Täuschung – thematisiert und bloßstellt. Das Wesen der Malerei lässt sich demnach nicht im Textmedium erschließen, sondern nur in gemalten Bildern sichtbar machen. Artemisia Gentileschi tritt in ihrem Selbstporträt nicht nur als Allegorie der Malerei auf – sie selbst ist Malerei in persona und daher identifizierbar in einem ganz materiellen Sinn: Ihre Person besteht aus Farbpigmenten, Öl und Leinwand. Deshalb ist sie vorgetäuschte oder simulierte – künstliche – Artemisia. „Der Künstler [hier nun die Künst-

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lerin]“, schrieb Emanuele Tesauro in seiner Filosofia morale, „lässt auf der toten Leinwand ein lebendiges Bild entstehen, das, obwohl selbst ohne Sinn, die Sinne der Betrachter täuscht, und genießt es ein Täuscher zu sein.“52

Bildstrategien der Dis/simulation Der Maler und Kunsttheoretiker Federico Zuccari nennt die künstlerische Täuschung eine Tugend und der Dichter Torquato Tasso hält überhaupt alle große Kunst für Dissimulation.53 Die Kunst der Verstellung als ein rhetorisches Stilmittel erfunden, soll, im Barock wirkungsästhetisch eingesetzt, die Rezipienten nicht nur täuschen, sondern zu scharfsinnigen Überlegungen anstacheln. Tesauro ist einer der Theoretiker, der sich dem Scharfsinn in der Metapherntheorie seiner ,argutezza-Lehre‘ widmet.54 Danach erfindet der „ingegno“ „concetti“, Fantasiebilder, die weit Entferntes und Unähnliches zusammenbringen, um Nichtseiendes ins Sein zu bringen oder Niegesehenes zu erfinden. Verblüffung und Bewunderung sind die wirkungsästhetischen Absichten dieser Lehre, die ästhetischen Genuss verspricht, weil „die Seele in Bewegung gehalten“ wird.55 Insbesondere der Trugschluss ist eine Kunst, „die ohne böse Absicht auf scherzhafte Weise Bilder wahrer Vorstellungen auslöst und sie nicht unterdrückt und in einer Weise Bilder falscher Vorstellungen auslöst, daß die wahren durch sie wie durch einen Schleier hindurchscheinen, so daß man dem, was gesagt wird, das, was verschwiegen wird, schnell assoziiert“.56 Dazu bedarf es eines beweglichen Geistes, der genau beobachtet und bereit ist zu lernen. Die höfische Überlebensstrategie der Dis/simulation wird in den Künsten vorgeführt. Was der Rhetorik Trugschluss, Sophismus und Metapher, sind der Malerei die Täuschungen des Visus, die zu Trugschlüssen führen können. Dem Schein ist nicht zu trauen, vielmehr sind die gemalten Dinge so, wie sie auf der Bildfläche erscheinen, zu hinterfragen, um das Potenzial des Bildmediums zu erkennen, das sich dann als Paradox offenbart. Der Schein kann zwar trügen, aber das Bild kann nicht lügen, sondern verlangt nach der Erklärung eines ingeniösen Geistes, der die widersprüchlichen Phänomene, ihre paradoxe Logik, entlarvt. Die Kunst des Als-ob belohnt den kritischen Geist mit blitzartiger Erkenntnis und mit durchaus vergnüglichen Aha-Effekten.57 Auf diese Weise operiert auch die Bildstrategie der Täuschung, die der flämische Maler Antonie van Steenwinckel in seinem doppelten Selbstporträt anwendete (Abb. 35). Sie ist ihm so überzeugend gelungen, dass sie erst vor Kurzem entlarvt wurde. Die Autoren des Illustrated Dictionary of 17th Century Flemish Painters hielten das Gemälde noch für ein „portrait of the painter and his wife“.58 Eine Betrachtung im Sinne des oben erläuterten Dis/simulatio-Konzepts offenbart jedoch das „verborgene Innere des Gemäldes“, das zu entziffern Tesauro wie Gracián empfehlen. Auf den ersten Blick zeigt das Gemälde eine bartlose Person, die einen Spiegel hält, in dem sich ein pompös gekleideter Hofmann spiegelt, den man sich im Betrachterraum vor dem Gemälde denken soll. Auch die Dinge, die auf der gemalten Kommode stehen, erscheinen noch einmal in dem gemalten Spiegel. Aber genau dies ist die Strategie der Täuschung oder, barock gesprochen, der „concetto“ des Gemäldes, denn in Wahrheit hält der bartlose,

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35  Antonie van Steenwinckel: Doppeltes Selbstbildnis, um 1670, Öl auf Leinwand, Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten

in ein Alltagsgewand gekleidete Maler sein gemaltes Selbstporträt in den Händen, in dem er sich in der Rolle eines bärtigen Hofmanns à la mode präsentiert. Der Maler maskiert folglich das Medium, mit dem er umzugehen pflegt, indem er das Bild im Bild als Spiegelbild ausgibt. Zugleich thematisiert das Gemälde die Frage nach dem Schein und dem Sein dieser Selbstdarstellung: Wer ist dieser Antonie van Steenwinckel, der zugleich der Mann vor, hinter und in dem Gemälde ist? Die Intention des doppelten Selbstporträts erschöpft sich nicht im concettistischen Spiel von Malerei, Spiegelbild und Maskerade. Die Beantwortung der Frage, wer er denn sei, welchen gesellschaftlichen Status er habe oder einnehmen kann, wird das Motiv des Malers gewesen sein, sich in dieser recht auffälligen Kleidung zu zeigen. Steenwinckel stammt aus einer Antwerpener Künstlerfamilie. Dort wie auch in anderen Handelsstädten Europas pflegte sich das Bürgertum schon seit dem Spätmittelalter kostbar zu kleiden.59 Mit fantasievollen Proportionen der Hüte konnte das aufstrebende Bürgertum zeigen, dass es sich mit dem Adel als ebenbürtig betrachtete. Nun waren es ja auch die bürgerlichen Handwerker, die Hüte fabrizierten und kostbare Spitzen an Krägen und Manschetten klöppelten. Steenwinckel zeigt einen gesellschaftlichen Rang durch Kleidung, einen gepflegten Bart und ondulierte Haare an, die auffällig mit dem Wuschelkopf kontrastieren, der hinter dem

Doppelsinn des Bildes

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gemalten Spiegel listig hervorlugt.60 In Frage steht nun, ob dem Maler Steenwinckel, als er das Gemälde vollendete, der gesellschaftliche Rang dieser Aufmachung überhaupt zukam. Wer sich so auffällig kleidet und hinter diesem Bild seine ‚wahre‘ Erscheinung verbirgt, der mag Aufstiegsambitionen hegen. Man kann in dem Gemälde ein Entree des Antwerpener Malers sehen, der sich mit diesem Selbstporträt beim dänischen König bewirbt und ihm signalisiert, was er sich von seiner Tätigkeit am Hof erwartet, nämlich eine angemessene Bezahlung und eine standesgemäße Kleidung.61 Denn der König bestimmte, wer bei Hofe in welchem Aufzug erscheinen durfte.62 Dann wäre das gemalte Spiegelbild eine Verkleidung und so etwas wie eine bildliche Antizipation seiner Ambitionen auf die Stellung eines Hofmanns, wenigstens aber eine Bild gewordene Hoffnung seines Autors. Die Kunst der Dis/simulatio liegt in ihrer Dissimulation. Cesare Ripa definiert in seiner Iconologia das Verfahren der „simulazione“ folglich als eine performative Handlung der Maskierung.

Doppelsinn des Bildes Wir haben Vortäuschung von Unschuld und Seelenruhe des Amor in Tintorettos Vulkan bei Venus, Vortäuschung des Schlafes in Caravaggios Schlafender Cupido, Unberechenbarkeit und Hinterlist in den Gemälden der Falschspieler von Georges de la Tour und Caravaggio, Vortäuschung eines gesellschaftlichen Aufstiegs im Selbstporträt als Hofmann des Antonie van Steenwinckel untersucht – all diese Beispiele markieren ein hermeneutisches Grundproblem der bildlichen Dis/simulation. Sie veranlassen ihre BetrachterInnen, über zwei Weisen der Bildbetrachtung nachzudenken: Das Bild zeigt den Betrachtenden etwas, das so nicht da ist – es verbirgt bzw. verdeckt also etwas, um stattdessen etwas anderes zu zeigen. Diese Dialektik von Zeigen und Verbergen, die der Begriff Dis/simulation fasst, ist jeder Bildlichkeit eigen. Sie betrifft die ästhetische Ausformulierung, das ‚Wie‘ des Bildes. Sie steuert die Rezeption, die Begegnung der Rezipienten mit dem Bild. Aus ihr folgt der epistemologische Wert des Bildes, sein Anteil an der Erzeugung von Kultur – eine Poetik des Scheins. Mit der handwerklichen Perfektion der bildlichen Welterzeugung komplementiert die bildliche Dis/simulation die Rhetorik des Kunstverbergens zu einer kohärent scheinenden Welt, die ganz auf die Überzeugung ihrer RezipientInnen ausgelegt ist. Diese Kunsttechnik ist mit gesellschaftlichen und machtpolitischen Interessen verbunden. In der machtpolitischen Argumentation des Machiavelli, die aus Vasaris Anekdote der Vita des jungen Michelangelo und aus Steenwinckels doppeltem Selbstporträt spricht, kreuzen sich die Überzeugung, dass eine gut geplante Strategie verbunden mit einer perfekten Augentäuschung in der Politik wie in der Kunst zur Anerkennung der Macht bzw. der Kunst führen kann. Die Verflechtungen von Kunst und Macht betreffen nicht nur den sozialen Habitus der HerrscherInnen, der Höflinge oder die Schauspielkunst. Dis/simulation ist ein Grundprinzip der Repräsentation: ein Prinzip des Machens und Erfindens schlechthin, nicht nur, aber auch von Bildern. Wer ein Bild macht, zeigt etwas, das so nicht da ist (Simulation) – und der verdeckt oder verbirgt etwas, um stattdessen etwas anderes zu zeigen (Dissimulation). Machtpolitik gründet auf der Kunst des Scheins.

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Das Vanitas-Stillleben, das Steenwinckel in seinem Selbstporträt so ostentativ ins Bild setzt, zeigt nun die Kehrseite der Aufstiegsambitionen seines Urhebers und zugleich die Moral des Strebens nach gesellschaftlichem Ansehen. Das halb abgelaufene Stundenglas, die Bücher und der Totenschädel verweisen auf die Eitelkeit und Nichtigkeit der Hofmannsambitionen. Ebenso die halbgeöffnete Schublade, in der sich ganz offensichtlich ‚nichts‘ befindet. Vor allem der Totenschädel, der – zwischen dem aufgeputzten Hofmann und dem Alltagsgesicht des Malers platziert – die fleischlose Substanz der beiden disparaten Gesichter des lebendigen Malers offenbart, weist das Spiel mit der Verkleidung als ein Rollenspiel im Welttheater aus, das mit dem Tod sein Ende finden wird. Der dissonante Dreiklang des Totenkopfs mit den beiden lebendigen Gesichtern stellt das Gemälde auf die Bühne des christlich-stoizistischen Theatrum mundi und der ihm eigenen Dialektik von Lust an der Illusion und Lust an der Desillusionierung im alle gleichmachenden Tod. Die europäische Literatur des Hochbarocks ergeht sich in dem oft und immer wieder aufgeführten Memento mori, nach dem das Leben als Schauspiel, die Welt als Bühne und das Lebensende als ein fallender Vorhang zu verstehen sei. Wenn das Spiel zu Ende gespielt ist, tritt der Tod auf die Bühne und zieht den Lebenden Reichtum, Pracht und Schönheit wie eine Maske ab: „Nemt Kleid und Mantel hin! Wenn sich das Schaw-Spil endet / Wird der geborgte Schmuck / Wohin er soll / gesendet!“63 Da die ganze Welt eine Bühne ist, ist es nur konsequent, dass der Tod allen, gleich welcher Herkunft und welches Standes, „die Larvenkleider endlich außziehet“, wie es bei Harsdörffer heißt.64 Hier äußert sich als Vorbote der bürgerlichen Revolution der Wunsch nach der sozialen Gleichheit aller Menschen, die im 17. Jahrhundert jedoch erst der Tod herbeizuführen vermag. Das vorgetäuschte Spiegelbild des Malers Steenwinckel ist somit nicht nur ein concettistisches Bravourstück einer Malerei, die auf sich selbst verweist. Die Illusionskunst des Malers verwirklicht sein Wunschbild als nichtige Utopie: zu pompös ist die Aufmachung des Mannes im Spiegelbild. Das fingierte Spiegelbild beabsichtigt somit eine Entlarvung der Maskerade im Rollenspiel des Welttheaters. Die Dinge auf der Kommode verweisen auf die Nichtigkeit, auf die Vanitas eines Hochstaplers. Das Gemälde demaskiert die soziale Praxis der höfischen Dis/ simulation. Wir wissen nicht, was aus dem Maler geworden ist, denn eine Ironie der Geschichte lässt Steenwinckels Œuvre mit dem doppelten Selbstporträt beginnen und zugleich enden: Kein weiteres Gemälde von seiner Hand ist uns bekannt.

Schminkkunst und Toilettenritual Das gespiegelt-gemalte Wunschbild des aufstiegswilligen Künstlers Steenwinckel antwortet auf die soziale Praxis der Körper- und Gesichtsbehandlung, die Caterina de’ Medici am französischen Hof einführte, sich von dort aus verbreitete und allmorgendlich zelebriert wurde: das Schminken.65 Das Schminkritual in Anwesenheit zugelassener ZuschauerInnen ist aus zahlreichen Bildern und Beschreibungen bekannt und hat seinen Ursprung im Zeremoniell des „Lever du roi“ Louis XIV., das der Adel imitierte. Adelige Damen und auch Herren begaben sich morgens an den Toilettentisch, um mit weißen Fettsalben und Pudern zunächst alle Gesichts­

Schminkkunst und Toilettenritual

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unebenheiten wie Pusteln, Warzen, Narben und Falten zu glätten und Hautpigmentierungen zu überdecken. Schwarze Farbe betonte Augenbrauen und rahmte die Augen, das Rouge für die Wangen sollte dem Teint Frische, Jugend und Lebendigkeit verleihen (Abb. 36). Ein künstliches, an die rechte Stelle platziertes Schönheitsmal aus Samt oder Leder brachte Charakter und Erotik in das zurechtgemachte Gesicht. Die Damen bedienten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts der „maquillage“ immer reichlicher und auch die Herren ließen sich pudern, schminken und mit Schönheitspflastern zieren. Das Schminken erscheint zunächst als zweckfreie Arbeit am ästhetischen Ideal des Körpers. Es diente jedoch als sichtbares Distinktionsmerkmal für die Zugehörigkeit von Individuen zur herrschenden Klasse des Adels, mehr noch: Es war eine soziale Praxis der Machtdemonstration, denn nur Damen und Herren von Stand durften sich schminken.66 Die kollektive Schminkpraxis bewirkte vor allem, dass die unter einer Schicht von weißer Paste und Puder, dem Wangenrouge und dem schwarzen Rahmen für die Augen verborgenen Gesichter die Hofgesellschaft zumindest dem äußeren Schein nach uniformierte. Die gleichmachende Tendenz, welche die Schminke auf den Gesichtsoberflächen bewirkte, brachte die Höflinge auf eine neutrale Position im Kampf um den sozialen Rang, d. h. die Gunst des Königs. Die täglich aufs Neue vorgenommene Herstellung eines für die Öffentlichkeit bestimmten künstlichen Gesichts war die Antwort auf Körper- und Affektkontrolle, die das Hofleben seinen Mitgliedern abverlangte. Das Toilettenritual findet in der Aufklärung beißende Kritiker. Doch schon Jean de La Bruyère und viele andere, die das Treiben am französischen Hof beobachteten, beschrieben die Praxis des Schminkens und betonten deren Inszenierung und Doppelsinn, nannten sie eine „Geltungssucht vor den Augen anderer“, einen „Willen nach außen gegen die Wahrheit zu Erscheinen“, mithin eine „Art Lüge“.67 Die Schminkkunst der Damen im Rokoko, ihre Bezwingung der Körperform mit Hilfe großkurviger Kleidung, Reifrock und Korsett, sind sichtbarer Höhepunkt der höfischen Dis/simulation und zugleich ihr Endpunkt in der sich anbahnenden bürgerlichen Revolution. Ihr prominentestes Beispiel ist die Marquise de Pompadour, Mätresse von Louis XV.68 Der französische Schriftsteller und Journalist Louis-Sébastien Mercier beobachtete das Geschehen in den Beletagen der Pariser „hotels particuliers“, wo sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Standesgrenzen zwischen der „noblesse d’épée“ und den „nouveaux riches“ genannten reichen BürgerInnen durch Einheiraten aufzulösen begannen. Mit der ironischen Distanz eines Aufklärers stellte er zunächst fest, dass sich jede schöne Frau in zwei morgendlichen Toiletten der Inszenierung ihrer Persönlichkeit und ihres Standes durch die Zurechtmachung ihres Körpers widmete. Zur ersten, geheim gehaltenen Toilette war noch nicht einmal der Liebhaber zugelassen. Dieser sollte sich im Übrigen hüten, die Dame beim Toilettenritual zu überraschen, denn „man darf die Damen täuschen, aber nicht überraschen“.69 Hier wurden also die Vorbereitungen für die zweite, halböffentliche Toilette nach dem Vorbild des „lever du roi“ getroffen. Diese zweite Toilette diente den Damen ausschließlich zur Demonstration von Macht durch Inszenierung ihrer Erotik und Schönheit, ein „Spiel, das allein der Eitelkeit dient“, wie Mercier meint, in dem die Damen „die tausend verborgenen oder noch nicht bemerkten Reize“ zur Schau stellten.70 Mercier und Louis-Antoine Caraccioli beschrieben die Toiletten als Schauspiel, in dem die Dame zuvor hinter der Bühne jede Pose vor dem Spiegel einübt, die sie später vor

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36  François Boucher: La Mouche, Öl auf Leinwand, Privatsammlung

den Gästen begehrenswert erscheinen lassen, ja sie spricht sogar mit ihrem Spiegel, um die Konversation mit den Teilnehmern einzustudieren.71 Jede Grimasse, jeder Bürstenstrich der Haare ist bereits geprobt und auch das Parfum schon appliziert, um bei der anschließenden Aufführung vor der anwesenden Prominenz die Schmink- und Körperpflegebewegungen mit lasziver Lässigkeit zur Aufführung zu bringen. Da aber der in wohlriechendes Wasser fallende Arm aus Alabaster zuvor bereits gereinigt war, konnte er gar nicht sauberer und weißer werden, bemerkte Mercier. Die ganze Rede von der „Lässigkeit“ [sprezzatura] am Hof zu Urbino, die Castiglione wortreich beschreibt, wird in Paris zum einstudierten Rollenspiel rund um den Toi­ lettentisch, der Machtanspruch als ritualisierte Körperkunst entlarvt. Zum „rendre à la toilette“ begeben sich die Gesellschaftskreise, die sich vom Hof, von Spazierfahrten und aus den Cafés kennen, um am Vormittag während des Toilettenrituals die ihnen zugedachte Rolle zu spielen. Der Abbé tritt in der Funktion des „Toilettenkontrolleurs“ und Beraters in modischen Dingen auf, weil er keine seelsorgerische Aufgabe mehr wahrnehmen kann oder will, und greift der Dame schon mal um die Taille. Der Arzt findet sich dort ein, um sie für ihren makellosen Teint, ihre strahlende Schönheit und ihre Grazie zu loben. Der Schöngeist [belesprit] setzt seine Eloquenz ein, um die dort Versammelten in ihrem herausragenden Gesellschaftsrang zu bestätigen; Jean-Jacques Rousseau nennt ihn einen „Windverkäufer“.72 Es ist das Personal, das auch in

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37  François Boucher: Madame de Pompadour beim Schminken, 1753, Öl auf Leinwand, Cambridge, Fogg Art Museum

den Komödien Molières und bei Marivaux auftritt, um im Symbol von Maske und Verkleidung die Praxis der Dis/simulation „hellsichtig [als] gesellschaftliche Schieflage“ durchzuspielen.73 Das Schminken war ein sozialer Transformationsprozess, denn erst die Schminkschicht machte aus einem Individuum ein Mitglied einer bestimmten Gesellschaftsschicht.74 In ihrer Funktion der Gesichtsfassade fungierte die Schminke als eine Membran zwischen Innen und Außen, zwischen Individuum und Gesellschaft. Was als erotisches Raffinement, Anstand [bienséance] und Distinktion ausgegeben und wahrgenommen wurde, war außer dem Self-Fashioning auch ein Schutzmechanismus des Individuums, das seine wahren Absichten und Emotionen hinter der vorgezeigten Gesichtsmaske gut verstecken konnte, um das ernste Spiel der Dis/simulation erfolgreich zu spielen. Dieses Spiel hatte, wie am Porträt Steenwinckels ausgeführt, den sozialen Aufstieg bzw. Standeserhalt zum Ziel, weshalb es nicht verwundert, dass auch emporstrebende Bürgerinnen und Bürger sich mit dem gewünschten Erfolg in dieser Kunst betätigten. Madame de Pompadour übertünchte ihre bürgerliche Herkunft mit einer exquisiten Schminkkunst, die sich stilbildend am französischen Hof auswirkte.75

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Schminken und malen An den Schminktischen von Paris geht es – anders als in der Gesprächsrunde in Urbino – um die Ausübung einer Kunst, die ihre Künstlichkeit demonstrativ vorzeigt, und eben nicht verbirgt. Zahlreiche Abhandlungen, vor allem aus dem Lager der hofkritischen Aufklärer, betonen die Analogie von Schminken und Malen: „Die Damen bedienen sich dieser Malerei, um die Lebhaftigkeit ihrer Augen zu steigern.“76 Casanova befindet: „Die Zierde dieser Malerei besteht in der Flüchtigkeit, mit der sie auf die Wangen appliziert wird.“77 Wichtig ist ihm die Zurschaustellung von Künstlichkeit: Man „will nicht, dass dieses Rouge natürlich scheint“, denn es verspricht den betrachtenden (männlichen) Augen „Abwege und zauberhaften Leidenschaften“, bemerkt er angesichts der sich kreuzenden Blicke beim Toilettenereignis.78 Die Schminke verhalf der Pompadour zu ihrem sozialen Stand und in ihre Rolle – ohne sie wäre sie gesellschaftlich ein Nichts. Es wundert also kaum, dass sie diese Kunst zur Vollendung brachte und auch gleich noch eine Riege von Malern verpflichtete, ihr künstliches Gesicht mit ihrer Kunst zu vervielfachen und gleichzeitig die von ihr ausgehende Macht zu bestätigen. Bouchers Maltechnik, sein samtweicher Pinselduktus, der zu einer pudrig-duftenden Gemäldeoberfläche führt, ist die Antwort auf Gesichtsbemalungen, voluminöse Roben und feinmaschige Spitzenbordüren, die Machtinteressen mit erotischer Verführung verfolgten. In seinem Gemälde der sich schminkenden Marquise de Pompadour wiederholt der Pinselstrich den zarten Strich des Puderpinsels, den die Pompadour elegant, fast wie ein Zepter zwischen Daumen und Zeigefinger als ein intimes Instrument ihrer Macht vorzeigt (Abb. 37). Der Schminkprozess ist ein Bildprozess. Er ist abgeschlossen, jedenfalls soweit gediehen, dass sie das Bild, das sie gerade gemalt hat, auf einem Gemälde zeigen will. Den kritischen Blick, mit dem die Marquise zuvor den seitlich postierten Toilettenspiegel befragt hat, ob das Selbstbildnis nun reif für eine Veröffentlichung sei, lässt sie durch den Künstler bestätigen. Sanft und selbstbewusst schaut sie ihren BetrachterInnen in die Augen, deutet auf das verborgene Spiegelbild und lässt den gespreizten Finger sagen: Schaut her, ich gleiche meinem Spiegelbild. Das Gemälde affirmiert dies mit der ovalen Form eines Spiegels. Um Kosmetik, Farbe, Weiblichkeit und Malerei zentriert sich der Kunstdiskurs in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Rokoko-Kunststil antwortet auf die soziale Konvention des Make-ups mit der Ununterscheidbarkeit der Individuen, die sich ein Porträt leisten konnten. Sie ähneln sich wie ein Ei dem anderen. In ihren Gemälden erarbeitete die Pompadour zusammen mit den beauftragten Malern ihr für den Rahmen der höfischen Gesellschaft passendes Identitätskonzept, ihr ,image‘; hier definiert sie, wer sie ist.79 Die Dialektik von Zeigen und Verbergen in der Kunst der Dis/simulation erfasst nicht zuletzt auch die Bildpolitik der Mätressen-Ikonografie, die sehr genau auf die Orte der Bildpräsentation abgestimmt war.80 Zeigte sie sich in den Innenräumen der Rückzugsorte illegitimer Liebe, dem „maison de plaisance“, in der Rolle der erotischen und verführerischen Venus oder Haremsvorsteherin, so stellt sie sich einer Öffentlichkeit nach außen, etwa in den Salonausstellungen der Académie Royale, ihrem Rang nach offiziell als tugendhafte, gebildete und gläubige Freundin des Königs dar. Das Gemälde, das sie am Schminktisch zeigt, war nie öffentlich zu sehen, es war nur Kennern bekannt, welchen die Marquise eine eindeutige Bot-

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schaft übermittelte. Mit dem farblich auf Rouge, Lippenrot und Satinschleifen abgestimmten Porträtmedaillon von Louis XV., das sie auf dem Armband um ihr Handgelenk dem Betrachter ostentativ zeigt, bestätigt sie ihre Nähe zum König – dies jedoch zu einem Zeitpunkt, als der König sein intimes Verhältnis mit der Marquise bereits beendet hatte. Die Bildkunst diente der Demonstration, Bestätigung und Festigung tatsächlicher oder aber nur ersehnter sozialer Beziehungen und Rangordnungen. Wie die Schminke fungiert auch die bildliche Selbstinszenierung als Membran, mit der sich das Individuum vor der Gesellschaft schützte, im Innern gegen die rivalisierenden Standesgenossen, nach außen gegen Untergebene. Die Kunsttheorie des Ancien Régime bestätigte die Identität von Schminke und Malerei und verhalf der Rokokomalerei zu ihrem Erfolg: „Ich räume ein“, schreibt Roger de Piles in seinem Cours de peinture, die Malerei von Rubens bewundernd, „dass dies eine Schminke ist: allein es wäre zu wünschen, die Gemälde, welche man heut zu Tage verfertigt, würden alle so geschminkt. Man weiß sattsam, daß die Malerey nichts als Schminke ist; daß sie ihrem Wesen nach täuschen muß, und daß der größte Betrüger in dieser Kunst der größte Maler ist.“81 Roger de Piles, Wortführer der Modernen im Streit um den Vorrang der Malerei vor der Zeichnung, zielt darauf, den von den Mitgliedern der Académie Royale favorisierten „dessin“ mit den strengen Regeln der Malerei, insbesondere des Kolorits und der Farbgebung zu widerlegen: „Das Ziel der Malerei ist nicht so sehr den Geist zu überzeugen, als vielmehr die Augen zu täuschen.“82 Die Täuschung aber ist nun das Wahre in der Malerei, wie de Piles ausführt, eine Wahrheit, die nur dieser Kunst zu eigen ist. Sie beruht auf der Tatsache der Repräsentation, die mit Hilfe der getreuen Nachahmung erreicht wird: „Nämlich, obgleich der Gegenstand in der Natur wahr, der Gegenstand auf dem Gemälde nur erdichtet ist, so wird der letztere dem ungeachtet ein Wahres genennet. Und dies ist nun das Wahre der Malerei.“83 Er spricht vom paradoxalen Doppelsinn des Bildes als Dis/simulation.

Abgeschminkt In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet die Schminkpraxis des Adels in den Fokus der hofkritischen Aufklärer. Besonders lächerlich empfanden männliche Kritiker die Toilette der Damen jenseits ihrer vierziger Jahre: „Was macht sie nun?“, fragt Mercier. „Sie umgibt sich mit jungen Frauen, die vor Frische und Schönheit glänzen; sie leitet sie an, belehrt sie, dringt in ihre Geheimnisse ein und erreicht damit, dass diese ihre Gesellschaft suchen, damit sie ihren Herrschaftsbereich verlängert, auf den sie so neidisch ist.“84 Mit dem Alter bröckelt der Schminkputz von den Gesichtern: „Man kann sagen, dass die Toilette eine Wiederauferstehung ist, welche Skelette widerherstellt, die Kadaver verschönert, die ihnen einen erstaunlichen Glanz verleihen: Zähne wachsen dadurch, Atem bekommen einen Duft nach Tuberosen, Haare färben sich, Augenbrauen schwärzen sich, die Stirne entfalten sich, die Häute werden dort weiß“, wundert sich Louis-Antoine Caraccioli in seiner Schmink-Kritik.85 Schminke wird nun zum Symbol des korrumpierten Adels, der seinen Machtanspruch auf eine künstliche Fassade gründet. Überdies sieht sie auch nicht schön aus, wie Charles-Nicolas

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38  Jean Baptiste Siméon Chardin: Stillleben mit Olivenglas, 1760, Öl auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre

Cochin, Direktor der königlichen Grafiksammlung, befindet: „Man weiß ja schon längst, dass das Rouge nur ein Zeichen des Rangs oder des Reichtums ist, weil man ja nicht annehmen kann, dass irgendeiner glaubt, sich mit diesen grellroten Flecken zu verschönern.“86 „Schaffen Sie die Toiletten ab“, rät Caraccioli, „und unsere Frauen, bedacht auf ihren Haushalt, ungeschminkt und ohne Aufmachung, werden nicht mehr lästern, nicht mehr ihren Männern untreu sein, sich nicht mehr darbieten, nicht mehr schwatzen.“87 Hier bildet sich zum einen das künftige, protestantisch-bürgerliche Ideal der ihrem Mann treu ergebenen Hausfrau, zum anderen kommt unter der Schminke das unverwechselbare Individuum und eine dezidiert männliche ‚Natur‘ hervor. Ob aus aufgeklärt hofkritischer, ästhetischer oder religiöser Sichtweise argumentiert wird, es gilt der Rat an alle, sich abzuschminken. Und was taten die Bürgersfrauen am Endes 18. Jahrhunderts? Sie warfen die dicken Pasten weg und schminkten sich dezenter, transparenter, damit ihre ‚Natur‘ durchscheine. Sie erfrischten sich, trugen Cremes für eine samtweiche Haut auf und ein Make-up, das die Individualität der Trägerin betonte und das sich mit den Moden änderte.88 Von der roten Färberei auf Gesichtern und Gesäßen Abstand zu nehmen, empfiehlt auch Diderot in seinen Salonberichten jedem Maler, vor allem Boucher. Auch wenn „das beste, harmonischste Gemälde nur ein Gewebe von Unwahrheiten [ist], die sich gegenseitig verdecken, [...]“, so besteht die „große Magie darin, der Natur so nah wie möglich zu kommen“.89 Diderot lobte wie zuvor die Anhänger der Anciens in den Querelles Poussin und Le Sueur und verachtete eine Malerei, die „unwirklich“, „unwahr“, „emailliert“, „geschmacklos“, „aufgeputzt“, „zu rund, zu weich, schlaff “ – weiblich – ist: gemeint war Boucher. Dagegen Chardin: „Das ist wahrhaft ein Maler!“90 Angesichts des im Salon von 1763 ausgestellten Stillleben mit Olivenglas von Chardin entfesselt der Kritiker seine Begeisterung (Abb. 38): „Das ist die Natur selbst“, behauptet er, „eine Wahrheit, die die Augen täuscht“, weil man sie nicht auf einem Gemälde vermutet. Chardins Malerei ist Transparenz, unmaskierte Natur, das „Porzellangefäß ist wirklich aus Porzellan“, man kann die Biskuits nehmen und essen, die Farbe ist aus der „Substanz

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der Gegenstände“, die sie darstellt. Chardin überträgt sogar die Luft und das Licht mit der Spitze des Pinsels auf die Leinwand. Da sie nicht aus Schminke besteht, kann der Laie auch nicht mehr erklären, wie das Bild entstanden ist: „Man versteht diese Magie überhaupt nicht.“91 Das Bild ist zwar transparent, doch die Kunst undurchschaubar. Auch Diderot entkommt dem Bildprinzip der Dis/simulation nicht.

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Endnoten 1 Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago und London 1980, hier S. 4–5. 2 Die Schreibweise Dis/simulation wird im Folgenden verwendet, um die (bildliche) Doppelstrategie des Sotun-als-ob/als-ob-nicht zu kennzeichnen. 3 Herman Bote: Ein kurzweiliges Buch von Till Eulenspiegel aus dem Lande Braunschweig: wie er sein Leben vollbracht hat. 96 seiner Geschichten, hg. v. Siegfried H. Sichtermann, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, S. 82–86. 4 Ebd., S. 85. 5 Ebd. 6 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. M. 1983 (Darmstadt und Neuwied 1969). 7 Elizabeth Harding / Michael Hecht: Ahnenproben als soziale Phänomene des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, in: dies. (Hg.): Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion – Initiation – Repräsentation, Münster 2011, S. 9–83, hier S. 44–72. 8 Hans Belting / Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 39–53; Martin Warncke: Hofkünstler, Köln 1985. 9 Harding / Hecht: Die Ahnenprobe, S. 73–83. 10 Wolfgang G. Müller: Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini, in: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hg. v. Christian Wagenknecht, Stuttgart 1989, S. 189–208, hier S. 193–194. 11 Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992, S. 67–95. 12 Müller: Ironie, S. 195. 13 Ebd. 14 Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 81–94. 15 Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, aus dem Amerik. übers. v. Peter Weber-Schäfer, München und Zürich 2003 (New York 1959). 16 Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmanns. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992. 17 Baldesar Castiglione: Das Buch vom Hofmann (I llibro del Cortegiano), übers. und erl. v. Fritz Baumgart, mit einem Nachwort von Roger Willemsen, München 1986; Baldassar Castiglione: Il libro del Cortegiano, hg. v. Giulio Carnazzi, eingel. v. Salvatore Battaglia, Mailand 1987. 18 Klaus Hempfer: Rhetorik als Gesellschaftstheorie. Castigliones Il libro del Cortegiano, in: Andreas Kablitz / Ulrich Schulz-Buschhaus (Hg.): Literarische Begegnungen. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Bernhard König, Tübingen 1993, S. 103–121, hier S. 113. 19 Ebd., S. 112. 20 Castiglione: Hofmann, S. 151–152. 21 Ebd., S. 152. 22 Klaus Krüger: Grazia. Religiöse Erfahrung und ästhetische Evidenz, Göttingen 2016, hier S. 70–73. 23 Castiglione: Hofmann, S. 55. 24 Christiane Kruse (Hg.): Maske, Maskerade und die Kunst der Verstellung vom Barock bis zur Moderne, Wiesbaden 2014. 25 Elias: Die höfische Gesellschaft. 26 Peter Burke: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock, Berlin 1986, S. 67–78. 27 Philipp Conisbee (Hg.): Georges de la Tour and his World, AK National Gallery of Art, Washington D. C. 1996, darin Gail Feigenbaum: Gamblers, Cheats and Fortune Tellers, S. 150–168. 28 Baltasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, übers. v. Arthur Schopenhauer, München 2005, S. 7, 57 und 29. 29 Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 160. 30 Helen Langdon: Cardsharps, Gypsies and Street Vendors, in: Beverly Louise Brown (Hg.): The Genius of Rome 1592–1623, AK London und Rom, London 2001, S. 42–65; Victor I. Stoichita: L’Image de l ’Autre. Noirs, Juifs, Musulmans et „Gitans“ dans l’art occidental des Temps modernes, Paris 2014.

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31 Burke: Städtische Kultur, S. 75–78. 32 Peter Burke: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, München 1985, S. 36–41. 33 Burke: Städtische Kultur, S. 75–78. 34 Gracián: Handorakel, S. 13 (Orakel Nr. 13). 35 Elias: Die höfische Gesellschaft. 36 Gracián: Handorakel, S. 13. 37 Ebd. 38 Christian Wehr: Von der platonischen zur rhetorischen Bändigung der ‚varietas‘: Überlegungen zur Kategorie des Scharfsinns bei Castiglione und Gracián, in: Marc Föcking / Bernhard Huss (Hg.): Varietas und Ordo. Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock, Wiesbaden 2003, S. 227–238. 39 Gracián: Handorakel, S. 15 (Nr. 17). 40 Seicento. Le siècle de Caravage dans les collections françaises, AK Galeries Nationales du Grand Palais, Paris u. Palazzo Reale, Mailand 1989, S. 260–261; Christiane Kruse: Ars latet arte sua. Zur Kunst des Kunstverbergens, in: Ulrich Pfisterer / Anja Zimmermann (Hg.): Animationen – Transgressionen, Berlin 2005, S. 95–113. 41 Victoria von Flemming: Dissimulazione. Lorenzo Lippi, Salvator Rosa und die Krise der Repräsentation, in: Christine Göttler / Ulrike Müller Hofstede (Hg.): Diletto e Maraviglia: Festschrift für Rudolf Preimesberger, Emsdetten 1998, 75–101. 42 „Simulatione, è il nascondere con doppiezza di parole, & di cenni, l’animo, & il core proprio; però tiene la Maschera sopra il uolto, ricoprendo il uero, per star uedere il falso, il che si dimostra ancora per lo color cangiante della ueste.” Cesare Ripa: Iconologia overo discrettione d’imagini delle Virtù, Vitij, Affetti, Passioni humane, Corpi celesti, Mondo e sue parti, Padua 1611 (Rom 1593), S. 257. 43 Heinrich F. Plett: Aesthetic Constituents in the Courtly Culture of Renaissance England, in: New Literary History, 14 (1982/83), S. 597–621, hier S. 603–604. 44 Vgl. dazu Valeska von Rosen: Celare artem. Die Ästhetisierung eines rhetorischen Topos in der Malerei mit sichtbarer Pinselschrift, in: Ulrich Pfisterer / Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi, München 2003, S. 323–350. 45 „At hoc pati non possumus et perire artem putamus, nisi appareat, cum desinat ars esse, si apparet.” Quintilian: Institutio oratoriae, I, 484. 46 Castiglione: Hofmann, S. 53. 47 Ripa: Iconologia, S. 430. 48 Gracián: Handorakel, S. 33 (Nr. 49). 49 Ripa: Iconologia, S. 429. 50 Christiane Kruse: Malerei ist weiblich. Maske und Maskerade in Pictura-Allegorien des römischen Barock, in: Sylvia Ferino-Pagden (Hg.): Wir sind Maske, AK Museum für Völkerkunde, Wien/Mailand 2009, S. 316– 325. 51 Ripa: Iconologie, S. 429. 52 Emanuele Tesauro: La Filosofia Morale derivata dall’alto fonte del grande Aristotele Stagirita, Turin 1670, S. 5–6; zitiert nach Klaus-Peter Lange: Theoretiker des literarischen Manierismus. Tesauros u. Pellegrinis Lehre von der Acutezza oder von der Macht der Sprache, München 1968, S. 143–144. 53 Kruse: Ars latet arte sua, S. 112, Anm. 29. 54 Lange: Theoretiker, S. 72–86. 55 Das Zitat aus Emmanuele Tesauros Cannocchiale aristotelico, zit in: Lange: Theoretiker, S. 109. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 142–152. 58 Jan de Maere / Marie Wabbes (Hg.): Illustrated Dictionary of 17th Century Flemish Painting, Brüssel 1994, S. 1114; vergleiche die Studie eines ähnlichen Falls von Julian Kliemann: David Baillys „Porträt eines Malers mit Vanitassymbolen”, in: Victoria von Flemming / Sebastian Schütze (Hg.): Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner, Mainz 1996, S. 430–452. 59 Marita Bombek: Kleider der Vernunft. Die Vorgeschichte bürgerlicher Präsentation und Repräsentation in der Kleidung, Münster 2005, S. 109–116. 60 „Il faut que chacun soit vêtu selon sa qualité & il n’y a que les ajustemens qui puissent faire en Peinture la distinction des gens.” Roger de Piles: Cours de peinture par principes, Genf 1969 (Nachdruck Paris 1708), S. 281. 61 Warncke: Hofkünstler, S. 122–132.

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62 Den sogenannten „Justeaucorps“ beispielsweise, ein blauer, rotgefütterter und reich bestickter Rock, nach dem jeder Höfling strebte, verlieh Ludwig XIV. als Gunstbeweis nur an ganz besondere Höflinge. Ihn zu tragen, war mit besonderen Privilegien bei Hof verbunden. Die Hofgesellschaft beobachtete und bewertete mit scharfem Blick, wer in welcher Weise gekleidet war. Nach dem Tod Ludwigs XIV. trug man diesen Rock in Abwandlung an allen europäischen Höfen. Auch Bürger besaßen dieses als „Französischer Anzug” bekannte Kleidungsstück, das allerdings nicht mehr à la mode war. Bombek: Kleider der Vernunft, S. 221–226. 63 So spricht der antike Rechtsgelehrte Papinian in Gryphius’ Trauerspiel angesichts des Todes. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 2002, S. 113. 64 Andreas Gryphius: Papian, V. 334–336; Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektendarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von ‚Agrippina‘, Göttingen 1986, S. 198–213, hier S. 208. 65 Rosemarie Gerken: La Toilette. Die Inszenierung eines Raumes im 18. Jahrhundert in Frankreich, Hildesheim u. a.O. 2007; Catherine Lanoë: La Poudre et le Fard. Une Histoire des Cosmétiques de la Renaissance aux Lumières, Lonrai 2008; Melissa Hyde: The „Makeup” of the Marquise: Boucher’s Portrait of Madame Pompadour at Her Toilette, in: The Art Bulletin, 82/3 (2000), S. 453–475. 66 Hyde: The „Makeup“ of the Marquise. 67 Gerken: La Toilette, S. 123; Hyde: The „Makeup“ of the Marquise. 68 Andrea Weisbrod: Von Macht und Mythos der Pompadour. Die Mätressen im politischen Gefüge des französischen Absolutismus, Königstein/Taunus 2000. 69 Marianne Koos: Haut, Farbe und Medialität. Oberfläche im Werk von Jean-Étienne Liotard, München 2015, S. 372, Anm. 591 (Zitat Louis Sébastien Mercier). 70 Gerken: La Toilette, besonders S. 141–152. 71 Ebd., S. 234. 72 Es treten ferner auf der Chevalier, der Marquis, der Magistrat, das Akademiemitglied, der Modenarr, der Staatsminister, der Botschafter, der Kardinal, der Prälat, der General und der Liebhaber; ebd., S. 152–170. 73 Rainer Stillers: Maskierung und Demaskierung als Strategien in Komödien von Marivaux und Goldoni, in: Kruse: Maske, Maskerade und Verstellung, S. 51–79. 74 Hyde: The „Makeup“ of the Marquise. 75 Ewa Lajer-Burcharth: Pompadour’s Touch. Difference in Representation, in: Representation, 73 (2001), S. 54– 88. 76 Marianne Koos: Haut, Farbe und Medialität, S. 195–200, hier S. 197. 77 Ebd., S. 197–198 (Zitat Casanova). 78 Ebd. 79 Hyde: The „Makeup“ of the Marquise; Ewa Lajer-Burcharth: Pompadour’s Touch. 80 Claudia Denk: Heterotopien der Liebe. Bilder illegitimen Begehrens, Standortfragen und die verborgenen Liebesdiskurse der Marquise de Pompadour, in: Doris Guth / Elisabeth Priedl (Hg.): Bilder der Liebe. Liebe, Begehren und Geschlechterverhältnis in der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2012, S. 147–188. 81 Roger de Piles: Cours de peinture par principes, Paris 1708; dt. Einleitung in die Malerey aus den Grundsätzen, aus dem Franz. von Georg Heinrich Martini, Leipzig 1760, S. 273. 82 Jacqueline Lichtenstein: The Eloquence of Colour. Rhetoric and Painting in the French Classical Age, Berkeley u. a.O. 1993, hier S. 178–195. 83 De Piles: Einleitung in die Malerey, S. 23. 84 Louis Sébastien Mercier: Tableau de Paris, Bd. 8, Amsterdam 1783, S. 141; Gerken: La Toilette, S. 239. 85 Louis-Antoine de Caraccioli: La Critique des dames et messieurs à leur toilette, Paris 1770, S. 5–6; Gerken: La Toilette, S. 241. 86 Koos: Haut und Medialität, S. 200. 87 Ebd., S. 374, Anm. 611. 88 Lanoë: La Poudre et le Fard, S. 111–130. 89 Die folgenden Ziate aus dem Salon von 1763 in Denis Diderot: Ästhetische Schriften, aus dem Franz. v. Friedrich Bassenge und Theodor Lücke, 2 Bde., Bd. 1, Frankfurt a. Main 1968, S. 448, zu Boucher S. 439–440. 90 Zu Chardin, ebd., S. 453–454, hier S. 454. 91 Ebd.

5  LOB DER OBERFLÄCHE „Anscheinend haben wir hier wieder dasselbe Problem: was ist Wirklichkeit und was ist Schein?“ Ilya Kabakov Im Rückblick auf die westliche Kunst- und Bildgeschichte erscheint das Bildermachen dreigeteilt, in Weltverdopplung, Welterschaffung und Weltnichtung. ‚Natur‘, ,Welt‘, ,Mensch‘ sind Dreh- und Angelpunkt der Bildschöpfung, die in der „imitatio“ mit Kunst bildhaft verdoppelt, mit Kunst übertroffen oder durch Kunst zum Verschwinden gebracht werden soll. In den antiken und christlichen Mythen vom Ursprung der Bilder, Mythen, die das Bildschaffen begründen, ist immer dann von bildlicher Weltverdopplung die Rede, wenn der Verlust von Natur, Welt, Menschen beklagt oder befürchtet wird.1 Das Missfallen oder der Überdruss an der vorgefundenen, ‚wirklichen‘ Natur, Welt und am Menschen, wie er ist, motiviert andererseits die Utopie einer ‚zweiten Schöpfung‘, die in Bildern antizipiert oder ‚verwirklicht‘ wird. In Bildern sind ,Natur‘ und ,Mensch‘ immer noch schöner oder aber verschwunden. Eine Ästhetik des Als-ob, wie sie die Dis/simulation praktiziert, hat die Bildfunktion, Weltverdopplung und Welterschaffung miteinander zu vereinen. Der ästhetische Schein soll die in den Bildern repräsentierte Welt wenn nicht beglaubigen, so doch wenigstens wahr machen. Dis/simulation ist die Kunst der Wahr-Schein-lichkeit.

Wahrheit und Schein der Fotografie Als 1839 mit der Fotografie ein neues Medium der Weltverdopplung erfunden bzw. entdeckt wurde, bedeutete dies zunächst eine weitere Ausdifferenzierung der Bildkulturen. Die Fotografie stand in dem Ruf, die Welt wie durch ein Fenster zu sehen bzw. sie in einem Spiegel abzubilden – dazu mehr in Kapitel 6. Den Fensterblick hatte Leon Battista Alberti bereits 400 Jahre zuvor als neue Bildqualität und -funktion der Malerei erläutert. Er ist der bis heute gültige Topos der westlichen Bildkultur. Der physikalisch-chemische Prozess der Bildproduktion, der in Gang gesetzt wird, wenn Licht durch das Objektiv eines mechanischen Apparats, genannt Kamera, auf eine lichtempfindliche Platte fällt, wurde im 19. Jahrhundert zu einer Zeit entdeckt und entwickelt, in der das Weltbild auf eine naturwissenschaftlich fundierte Erkenntnistheorie messbarer Daten gebaut wurde.2 Die auf naturwissenschaftlicher Grundlage erfolgende Bilderzeugung erforderte einen neuen theoretischen Zugang zu Bildern, der sofort nach der

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Bekanntgabe der Erfindung einsetzte. William Henry Fox Talbot, einer der Fotografie-Erfinder, sah ihren Vorteil „in dem Umstand, daß sie uns ermöglicht, in unseren Bildern eine Vielzahl kleinster Details aufzunehmen, die die Wahrheit und Realitätsnähe der Darstellung steigern helfen und die kein Künstler so getreu in der Natur abkopieren würde“.3 Mit der Erfindung der Fotografie glaubte sich die westliche Bildgeschichte im Besitz einer Bildtechnik, welche die Ästhetik der Weltverdopplung auf ein Nonplusultra brachte. Die Genauigkeit der Abbilder brachte ihr den Ruf „wissenschaftlicher Objektivität“ ein, aus der eine Reihe unterschiedlicher Funktionen abgeleitet wurden, die auch für KünstlerInnen interessant waren.4 Das neue Medium polarisierte diejenigen, die über Traditionskunst nachdachten. Der den Positivismus des 19. Jahrhunderts kennzeichnende Enthusiasmus für eine quasi objektive Präzision der Fotografie, bei der keine (zeichnende oder malende) Hand mehr im Spiel war, begegnete Charles Baudelaire in seinem Salonbericht von 1859 mit einer vorgeblichen Verachtung. Baudelaire glaubte dem Zauber der Weltverdopplung, doch sah er ihre Funktion als „eine Dienerin der Wissenschaften und Künste [...], eine sehr bescheidene Dienerin jedoch, wie die Druckkunst und die Stenographie, welche die Literatur weder geschaffen noch ersetzt haben“.5 Mehr noch ist sie für ihn ein Phänomen des verirrten Publikumsgeschmacks, das ein „Natur identisches Ergebnis“ als „absolute Kunst“ begreift: „Da die Photographie uns alle wünschenswerten Garantien der Genauigkeit liefert (das glauben sie, die Wahnwitzigen!), so ist die Kunst die Photographie.“6 Besonders zuwider sind ihm die vor der Linse vorgenommenen Verkleidungen: „Man versammelte und gruppierte einen Haufen männlicher und weiblicher Spitzbuben, putzte sie wie Metzger oder Wäscherinnen im Karneval heraus, bat diese Helden, für die Dauer, welche die Operation in Anspruch nahm, ihre zufällige Grimasse festzuhalten, und schmeichelte sich derart, die tragischen oder anmutigen Szenen der antiken Geschichte wiederzugeben“, womit nicht nur „die göttliche Malerei“, sondern auch die „erhabene Kunst des Schauspielers“ beleidigt werde.7 Gemeint sind die vor der Kamera inszenierten „tableaux vivants“, mit denen der in London arbeitende Oscar Gustave Rejlander und andere Fotografen in seinem Atelier der Fotografie zu einem „pictorial effect“ verhalfen und unter Rückgriff auf literarische bzw. mythologische Quellen vor allem mit der Kunst Raffaels wetteiferten. Wer die Fotografie, wie die mit den Präraffaeliten zusammenarbeitenden Fotografin Julia Margaret Cameron, auf das Niveau von Kunst heben wollte, der verkleidete sie als alte Meister: „My aspirations are to ennoble photography and to secure for it the character and uses of High Art by combining the real & the Ideal & sacrificing nothing of the Truth by all possible devotion to Poetry & beauty“, bekundete die Fotografin selbstbewusst ihre Kunstabsicht in einem Brief an John Herschel.8 Cameron arrangierte ihre Modelle nach Art von Guido Reni, Perugino oder Raffael und fotografierte sie mit dem weichzeichnenden Effekt des „out of focus“, der vor allem ihren künstlerischen Stilwillen zum Ausdruck brachte und zugleich mit dem fotoästhetischen Ideal detailgenauer Bildschärfe brach (Abb. 39).9 Das Hauptinteresse der Fotografin galt der Inszenierung von Bildthemen mit der Absicht einer Ikonografie, die dem viktorianischen England zu einer soliden nationalen Identität verhelfen sollte. Themen der klassischen Literatur, aus der Bibel, zeitgenössischer Literatur und Geschichte arrangierte sie vor der Kamera zu „fancy subjects“.10 Doch Kunstkritiker legten ihr die Unschärfe als Unvermögen in der Handhabung

Wahrheit und Schein der Fotografie

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39  Julia Cameron: Venus schilt Cupido und nimmt ihm die Flügel weg, 1872, Fotografie auf Albumin­ papier, Bradford,The RPS Collection at the National Museum of Photography, Film and Television

der Technik aus, einer Technik, die kaum jemand beherrschte, weil sie sich noch im Stadium ihrer experimentellen Anfänge befand, nur von wenigen Avantgardisten ausgeübt wurde und überdies bereits die Norm der detaillierten Bildschärfe ausgebildet hatte. Camerons in der Pariser Weltausstellung von 1867 gezeigten Fotografien spalteten die Kunstkritiker in diejenigen, die ihre Bilder, „diese großen, unscharfen Köpfe, diese fleckigen Hintergründe, diese tiefen undurchsichtigen Schattenmassen [als] stümperhafte Schülerarbeiten“ verlachten, und diejenigen, die in ihnen Caravaggio, Tintoretto oder Velázquez entdeckten.11 Zeitgenössische Künstler scherten sich wenig um die Kunstkritik, sondern tauschten sich bald, wie die Präraffaeliten in England, mit den Fotografen aus.12 Für viele Kritiker hatte die Fotografie nur den Schein der Wahrheit, der durch die mechanische Technik ausgetrieben wurde. Die Technik hatte die Kunst verraten: „Werke der Kunst sollten nicht durch eine mechanische Erfindung ausgeführt werden. Einzig das menschliche Geschick, geleitet von der himmlischen Seele, kann Großartiges in dieser Richtung hervorbringen“, befand Robert Hunt in The Art Journal angesichts von Rejlanders Two Ways of Life (Abb. 40).13 Dieser hatte Raffaels Schule von Athen aus über dreißig fotografierten Einzelszenen zu einem einzigen Negativ komponiert, von dem dann mehrere Abzüge gemacht wurden; der größte Abzug mit den Maßen 78,7 × 40,6 cm ist ein Meisterwerk fotografischer Handwerkstechnik, aber leider keine Kunst in den Augen der zeitgenössischen Kunstkritik.

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40  Oscar Gustav Rejlander: The Two Ways of Life, 1857, fotografische Komposition auf Albuminpapier, Bath, Royal Photographic Society

Baudelaire betrachtete die Fotografie als Zufluchtsort aller unbegabten Maler, als ein Symptom für Dekadenz in einer Zeit, in der die „Industrie, wenn sie in die Kunst einbricht, deren schlimmste Todfeindin“ wird.14 Als Bildtechnik des Fortschritts sei sie unvereinbar mit der Poesie, beide trügen einen „instinktiven Abscheu voreinander“.15 Wenn die Fotografie, so lautet die kulturpessimistische und zugleich antimodernistische Prognose des Dichters, an die Stelle der Kunst tritt, dann wird sie diese bald „verdrängt oder gänzlich verdorben haben, dank der natürlichen Verbündeten, die sie in der Torheit der Menge finden wird“.16 Am Beginn des fotografischen Zeitalters äußert sich die Kampfansage eines elitären Traditionskunstbegriffs, der Originalität, Genie und Einbildungskraft als festzementierte Merkmale des kunstschaffenden Individuums festgelegt hat, an den massenhaft, industriell hergestellten Kunstfeind namens Fotografie. Das Ausmaß des von der industriellen Bildtechnik hervorgerufenen Bildbedarfs hatten Maler und Bildhauer weder erwartet noch konnten und wollten sie die Massen mit ihren ‚alten‘ Techniken befriedigen. FotografInnen als KollegInnen anzuerkennen fiel jedoch den meisten nicht schwer. Im Gegenteil machte die neue Bildtechnik eher neugierig. Viele moderne Traditionskünstler fotografierten.17 Der Dreiklang Masse, Technik, Fortschritt wird sich von nun an als Generalbass durch die weitere Bildgeschichte ziehen und immer so lange erklingen, bis das jeweils neue Massenmedium (sei es Film oder digitales Bild) von Fortschrittsgläubigen unter den Kunstkritikern erobert und in das Kunstsystem eingespeist wird.18 Für Baudelaire gilt 1859 jedoch: „Die Natur ist häßlich, und ich ziehe die Ungeheuer meiner Phantasie den vorhandenen Trivialitäten vor.“19 Nun hatte Julia Margaret Cameron genau das im Sinn, was Baudelaire mit der Erfindung der Fotografie verloren glaubte, nämlich „den Charakter und die

Noch einmal: schminken und malen

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Aufgaben der Kunst [zu] sichern, indem das Wirkliche mit dem Idealen vereint sei und nichts der Wahrheit geopfert werde durch die größtmögliche Hingabe an die Dichtkunst und Schönheit“.20 Da hätte der Dichter ja eigentlich zustimmen müssen, doch versagte ihm der Glaube an die Tradition, dass in dem neuen Medium so etwas wie Kunst stecken könnte.

Noch einmal: schminken und malen Baudelaire nahm die Fotografie zum Anlass, die Traditionskünste zu lobpreisen. Kaum hundert Jahre waren vergangen, dass eine aufgeklärte Kunstkritik der Schminkpraxis des Adels eine Absage erteilt hatte, da hielt Baudelaire in seinem Essay Der Maler des modernen Lebens eine Lobrede auf das Schminken: „Die Frau ist durchaus in ihrem Recht, ja sie erfüllt eine Art Pflicht, wenn sie es darauf anlegt, berückend und übernatürlich zu erscheinen; sie soll erstaunen machen, sie soll bezaubern; ein Götzenbild, muß sie sich vergolden, um Anbetung zu erwecken. Alle Künste müssen ihr deshalb als Mittel dienen, sich über die Natur zu erheben, um die Herzen besser zu unterjochen und den Geist zu bestricken. Es ist unerheblich, ob die Listen und Kunstgriffe allen bekannt sind, wenn der Erfolg nur gewiß und die Wirkung immer unwiderstehlich ist. In solchen Erwägungen wird der philosophische Künstler leicht die Rechtfertigung aller Mittel finden, welche die Frauen zu allen Zeiten angewandt haben, um ihre zerbrechliche Schönheit zu festigen und sie gewissermaßen zu vergöttlichen.“21 Der Dichter preist die Künstlichkeit der Kunst und schmäht das Natürliche, das Wirkliche, kurz: den Realismus seiner Zeit, wie ihn Jules Champfleury in der Literatur oder Gustave Courbet in der Malerei vertraten. Ausgerechnet Schminke, zuvor noch als Verrat an der Natur, als Lüge und Geschmacklosigkeit gegeißelt, wird jetzt wieder hervorgekramt und die Aufklärung für obsolet betrachtet. „Die meisten Irrtümer hinsichtlich des Schönen entspringen der falschen Vorstellung des achtzehnten Jahrhunderts hinsichtlich der Moral. Die Natur galt damals als Grundlage, Quelle und Urbild alles möglichen Guten und Schönen.“22 Luxus, Vergnügen und Reispuder, „den einige einfältige Philosophen so töricht verdammt haben“, würden wieder ins Recht der Schönheit gesetzt, damit natürliche Flecken verborgen werden und schwarzumrandete Augen „das Leben zum Ausdruck [bringen], ein übernatürliches und überbetontes Leben“.23 Es ist nun wieder der Farbkasten, der Natur verbergen und Schönheit hervorzaubern soll. Die Schminke darf sich auch „mit einem gewissen Freimut darbieten“. Die Rede ist jedoch nur vordergründig vom Schminken und verbirgt das eigentliche Anliegen des Dichters. Wenn man das Wort „Frau“ durch „Kunst“ im Allgemeinen und „Malerei“ im Besonderen ersetzt, gelangt man in das Zentrum von Baudelaires Kunsttheorie. Die Kunst bekommt nun ihren Auftritt im philosophischen Gewand der Moral und stellt sich gegen das Böse, das als Natur auftritt. „Alles Schöne und Edle ist ein Ergebnis der Vernunft und der Überlegung. Das Verbrechen, an dem das Menschentier vom Mutterleib an Gefallen hat, ist natürlichen Ursprungs. Die Tugend hingegen ist künstlich, übernatürlich, denn zu allen Zeiten und bei allen Völkern bedurfte es der Götter und Propheten, um sie der vertierten Menschheit

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beizubringen, weil der Mensch unfähig gewesen wäre, sie aus Eigenem zu entdecken. Das Böse geschieht mühelos, natürlich, schicksalhaft; das Gute ist immer das Ergebnis einer Kunst.“24 Eine Frau, welche die Kunst des Schminkens beherrscht, ist (wie schon Madame de Pompadour) eine Malerin des eigenen Porträts. „Le vrai portrait“, so Baudelaire, zeigt nicht das Modell wie in einem Spiegel, nackt und ungeschminkt. Ein wahres Porträt verlangt Poesie und Einbildungskraft des Malers, der die innewohnende Schönheit und den verborgenen Charakter des Modells erkennt und darzustellen weiß, ohne es zu verfälschen. So wird die Schönheit von der sich schminkenden Frau ebenso wie von dem Maler eines „wahren Porträts“ entdeckt und durch die Kunst überhaupt erst hervorgebracht. Mit der Schönheit verhält es sich laut Baudelaire nun wie folgt: „Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Element, dessen Anteil äußerst schwierig zu bestimmen ist, und einem relativen, von den Umständen abhängigen Element, das, wenn man so will, eins ums andere oder insgesamt, die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird. Ohne dieses zweite Element, das wie der unterhaltende, den Gaumen kitzelnde und die Speiselust reizende Überzug des göttlichen Kuchens ist, wäre das erste Element unverdaulich, unbestimmbar, der menschlichen Natur unangepaßt und unangemessen.“25 Schminke und Porträt, bemaltes oder gemaltes Gesicht und auch die Glasur des Schönen sind die Beschaffenheit der Zweidimensionalität, der Oberfläche eigen, die sich über etwas Dahinterliegendes oder dahinter Vermutetes, etwas Tieferes und Dreidimensionales legt, das nicht unmittelbar gezeigt werden soll oder kann. Das geschminkte und das gemalte Gesicht sind äußere Erscheinung eines dahinterliegenden Inneren: „Man betrachte deshalb [...] den ewig gleichbleibenden Anteil als die Seele der Kunst, das veränderliche Element aber als ihren Körper.“26 Es geht in der Kunst um die Glasur. Im Doppelsinn von Zeigen und Verbergen kommt erneut ein Prinzip des Bildermachens zum Vorschein.

Das Selbst in Bildern Bilder erzeugen die Gesichter einer Kultur. Thomas Macho hat die Ursache für die „Facialisierung der Welt“ in frühen Zivilisationsprozessen gefunden und bis in die Massenmedien verfolgt, die permanent auf allen Kanälen „faciale Botschaften“ aussenden.27 Das Bedürfnis von Gesichtern, Gesichtern zu begegnen ist ständig gewachsen und nimmt im Zeitalter von Facebook und Selfie ungeahnte Ausmaße an. Mit der Erfindung der Fotografie geschieht Face-to-Face-Kommunikation der Bildbetrachter vor den Medien. Seit der Erfindung von Sozialen Medien wie Facebook und Instagram kommuniziert man nur noch in Medien, d. h., der Körper, den man hat und der man ist, bleibt außen vor. „Die Geschichte der Zivilisation forderte immer gebieterischer vom Gesicht: daß es ein Gesicht hat. Daß es sich eine Erscheinung gibt. Im Grunde genommen hatte es das Wesen eines Bildes anzunehmen: kulturell konstruiert mit Linienführungen, inneren Kohärenzen und erkennbaren Strukturen.“28 Eine Kulturgeschichte des Gesichts als Bild rekonstruiert Hans Belting in seiner Studie Faces.29 Maskierungen oder Fassadenbildungen sind demnach Folgen des

Hautprobleme

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alltäglichen Rollenspiels auf den Bühnen der Welt, die – in einer jahrhundertelangen Praxis eingeübt – dazu dienten, gesellschaftliches Ansehen zu erlangen. Gesichtsbildung ist eine strategische Anforderung der Zugehörigkeit zur Face-to-Face-Gesellschaft. Der Soziologe Erving Goffman hat bereits 1959 das Rollenspiel im Alltag zum Thema seines Buches The Presentation of Self in Everyday-Life gemacht, ein Klassiker, der bis heute immer wieder aufgelegt wird.30 Das alltägliche Theaterspiel auf den Lebensbühnen, nicht nur im Beruf oder bei gesellschaftlichen Anlässen, sondern im Zeitalter der Massenmedien im Verlangen selbst privat noch in den Formaten des Reality-TVs oder auf Facebook der Öffentlichkeit seine Existenz zu versichern, verlangt nach bildlicher Erscheinung, Kreativität und sozialem Einfühlungsvermögen. Fast jeder wird heute in die Lage gebracht, ein passendes Selbstbild für die jeweilige Situation, sei sie privat oder beruflich, zu erfinden. Goffman interessierten nicht so sehr die Selbstbilder, die kreiert werden, um die jeweiligen Bühnen sicher zu betreten. Seine Studie untersuchte noch die unterschiedlichen Situationen und Handlungsstrategien, die nötig sind, um das ‚reale‘ soziale Leben in den zahlreicher werdenden gesellschaftlichen Rollen erfolgreich zu meistern. Im 21. Jahrhundert kreieren Individuen mit Bildmedien ein Selbst, das sie für sich erfinden, passgenau zu der Situation, in der das Selbst als Bild eine Wirkung erzielen soll, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Gehandelt wird jetzt mit Bildern – welche Rolle Kunst dabei spielt, wird in Kapitel 11 behandelt.31 Bilder in Facebook oder Instagram machen nicht nur das Image einer Person. Mit über die sozialen Medien im World Wide Web geposteten Serien von Selbstbildern, besonders in der Spielart des Selfies, entsteht eine Person als Summe ihrer Bilder. Bilder sind die Person, sie machen Angebote zur Kommunikation: man kann es mögen [liken] oder man kann ihm folgen [followen]. Man kann sie im ,Real Life‘ als sogenannte Stilikonen imitieren. Das Realleben einer Person verschwindet ums so mehr, je mehr sie ihr Leben in Bildern lebt, sei es in den sozialen Medien oder als Avatar eines Digital Game. All diese Bilder sind sie selbst und das Selbst verschwindet in den Bildern. Am Anfang des Bilderzeitalters steht das Starwesen, das in den 1950er-Jahren in den USA begann. Zwei Protagonisten des aufkommenden Starkults sind maßgeblich am Erfolg massenhaft reproduzierter und konsumierter Bilder beteiligt: Die amerikanische Filmschauspielerin Marilyn Monroe und Andy Warhol, einer der scharfsinnigsten Kommentatoren des damals beginnenden Medienzeitalters, in dem den Bildern mit fortschreitender Technik eine kulturprägende Rolle zukommt. Warhol erfand die passende Bildtechnik und -ästhetik für den einsetzenden Massenkonsum von Waren und machte als Erster deutlich, dass Kultur von nun an eine Sache der Bildoberfläche sein wird.32

Hautprobleme Die Probleme der Bildoberfläche begannen damals wieder (wie bei Baudelaire) mit der Verwandlung von ,natürlicher‘ Haut in Haut, die Bild ist. Haut spielt jetzt eine große Rolle für die massenmediale Zurschaustellung der Stars in den Star-Fotos. Andy Warhol selbst litt Zeit seines Lebens an chronischen Hautproblemen, die er in seiner als Philosophy betitelten Selbstdarstellung immer wieder zur Sprache bringt. Warhols und Monroes Haut ähneln einander:

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Beide haben eine blasse, eine bleiche und äußerst verletzliche Haut.33 Beide kaschieren ihre Haut mit Make-up, um sie für die Blicke der Öffentlichkeit – und im Falle der Monroe – für die massenmediale Vermarktung bereitzustellen. Seitdem Bilder als Medien der Konsumsteigerung eingesetzt werden, sind makellose Hautoberflächen das ästhetische Signum der westlichen Bildkultur: in der Mode, in der Werbung, im Film. Die im 21. Jahrhundert digital produzierte Hautoberflächen sind besonders glatt – sie gehören zum Massenphänomen, nach dem sich jetzt jeder als Star erfinden kann: „Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart“, beginnt der Medienphilosoph Byung-Chul Han seinen Essay Die Errettung des Schönen (2015).34 Das Starkonzept der 1960er-Jahre geht von einer Natur des Körpers aus, der grundsätzlich mit Mängeln behaftet ist. Die Rede von der ‚Natur‘ eines Körpers trägt dem Umstand Rechnung, dass im Zeitalter der analogen Fotografie dieser Körper noch vor der Kamera posierte. Das ästhetische Ideal der Hautglätte musste noch hergestellt, Haut noch wie eine Leinwand bemalt, geschminkt werden. Das im Starbusiness für beide Geschlechter reichlich verwendete Make-up kaschierte nicht nur Pickel, Narben oder andere Makel, sondern machte nach Maßgabe der Botschaft, die der Starkörper verbreiten soll, aus Lippen Kussmünder, aus Wangen Rosen und Augen zu Funkelsteinen. Im digitalen Zeitalter hat Make-up zwar nicht an Bedeutung verloren, doch Bildprogramme machen bereits im Smartphone aus der (geschminkten) Epidermis ein Idealbild eben dieser Epidermis. Make-up bedeutet im angelsächsischen Sprachgebrauch das durchaus positiv konnotierte Zurechtmachen und Aufputzen des (weiblichen) Gesichts. Die sich schminkende Frau vollzieht eine performative Handlung, die der Zurschaustellung des Gesichts für die Öffentlichkeit dient.35 Charles Baudelaire plädierte in seiner Lobrede auf das Schminken in deutlicher Abgrenzung von der moralisierenden bürgerlichen Kritik, die sie als eine verlogene Form der weiblichen Selbstinszenierung verwarf, nachdrücklich für die Schminkpraxis der Frauen. Im Lauf des 20. Jahrhundert, als Gesicht und der Körper der Stars (massen)medial vermarktet wurden, ergänzte die mediale Inszenierung das nach wie vor unerlässliche Make-up, das jetzt beide Geschlechter, allerdings mit unterschiedlicher Intensität verwenden. Für einen Hollywoodstar wie Marilyn Monroe fand keine Inszenierung vor der Kamera ohne den Auftrag von Schminke statt, für die man im Theater, Film und Fernsehen den Begriff „Maske“ verwendet (Abb. 41 und 42). Funktion der Maske ist es, die Starqualität des Körpers als Bildqualität für eine Öffentlichkeit sichtbar zu machen, die über Massenmedien erreicht werden soll. Die zurechtgemachte Haut ist eine Maske, deren Funktion jedoch ambivalent ist.36 Nach dem Willen der Bildproduzenten sollen die Blicke magisch angezogen werden. Ihr Träger verbindet mit der Maske aber auch die Funktion eines Schutzschilds, hinter dem sich das Selbst verbergen kann, um die gewünschte Rolle zu spielen. Die Bildwerdung und Bildqualität des weiblichen Starkörpers vollzieht die Reduktion des maskierten, des geschminkten und verkleideten Leibs auf zwei Dimensionen. Für das Bild zählen lediglich Linie, Fläche und Farbe: eine elegante Körpersilhouette, eine makellos glatte oder samtige Oberfläche, etwa der Haut. Andy Warhol wäre gern ein Filmstar wie die Monroe gewesen. Aber eine Vielzahl gravierender, nicht zu kaschierender körperlicher Mängel – vor allem der Haut –, die er ständig thematisierte, machten ihm dies unmöglich. Stattdessen übernahm er mit seiner Factory und

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den Kunstprodukten, die aus ihr hervorgingen, die Rolle eines Kommentators und Promotors des amerikanischen Starwesens. Warhol überführte das Bild des Stars in den Kunstkontext und kommentierte seine massenmediale, seine zweidimensionale Bildexistenz.

A Star is born Marilyn Monroe ist das Urbild des Hollywoodstars (Abb. 41). Es gelang ihr eine Omnipräsenz in den Medien, die sie noch heute, mehr als 60 Jahre nach ihrem Tod bekannt sein lässt, obwohl die Filme, in denen sie spielte, kaum mehr gezeigt werden, weil sie ein völlig veraltetes Rollenbild der Frau verkörpert.37 Überlebt hat das Bild einer extrem blonden, jungen Frau, die sich in affektierten Posen bewegt und mit grellrot geschminktem Mund lasziv in die Kamera lächelt. Der Sexappeal der Monroe ist perfekt und zugleich so provozierend, dass sie sich tief in unser Bildgedächtnis eingeprägt hat. Ihre Bilder kursieren im Bildkulturarchiv und wiederholen ein und dasselbe Thema in leichter Variation: Fantasien von Macht weiblicher Erotik und Leidenschaft unter dem Deckmantel einer fast kindlichen Reinheit und Unschuld. Remakes und Reinszenierungen dieses Star-Images wurden von den Monroe-Nachfahren Madonna und Lady Gaga aktualisierend ,performt‘. Das kindlich-erotische Image der Starikone besteht aus weißblondem Haar, einer makellos glatten, hellen Haut, die in freizügigen Dekolletés zur Schau gestellt wird (Abb. 42). Die meist weißen, enganliegenden, ärmellosen Kleider vor hellen Bildhintergründen geben der immer lächelnden Frau eine strahlend reine Lichtgestalt. Mit ihren üppigen, runden Körperformen, ihren aufreizenden Posen transportieren die Monroe-Bilder zugleich eine naive Unschuld, Schutzbedürftigkeit, Zartheit und Verletzbarkeit. Das Image der Monroe, ihr öffentliches, massenmedial verbreitetes Bild, das von dem künstlich zurechtgemachten Starkörper, der vor der Kamera agiert, vermittelt werden soll, hat demnach zwei Gesichter: ein lichtes, heiteres, kindliches und eines, das eine ungezügelte, kraftvolle weibliche Erotik ausstrahlt. Beide überlagern sich in der Bildwirkung, ohne dass sie sich stören oder gar widersprechen. Der Betrachter ist frei, die eine, die andere oder beide Komponenten des Monroe-Images zu konsumieren. In ihren Bildern ist die Monroe weder Vamp noch Engel, weder Heilige noch Hure, sondern beides. Diese ambivalente Aussage bedient ein nach wie vor männlich dominiertes Repräsentationssystem, in dem Bilder von Weiblichkeit als Fetische fungieren, wie es in frühen Publikationen der Gender Studies heißt.38 Die doppelte Kodierung spielt bei der Inszenierung und Repräsentation des Starkörpers eine wesentliche Rolle. Marilyn Monroes erstes Titelfoto für die Zeitschrift Life aus dem Jahr 1952 zeigt Pars pro toto eine von nur wenigen Bildformeln ihres Images als Star (Abb. 42). Wie der Körper von dem weißen, schulterfreien Kleid hauteng umhüllt ist, ist auch die ganze Halbfigur in einen engen Bildausschnitt gezwängt. Der Kamerablick von unten, den die Monroe lasziv-provokativ erwidert, ist intim und bedrängend. In dieser Nahsicht ist der halbnackte Körper den Blicken ausgesetzt und wirkt vor dem zweigeteilten Hintergrund gefangen wie in einem Käfig. Obwohl der lüsterne Blick der Monroe den Blick auf ihren Körper provoziert,

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41  Bert Stern: Marilyn Monroe, 1962, Farbfotografie

42  Marilyn Monroe, Cover von Life April 7, 1952 (Foto: Philippe Halsman)

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zieht sie die Schultern hoch und schützend nach vorn als ob sie ihre Blöße, ihr Ausgeliefertsein an die Blicke instinktiv bemerke. Von den Kurven, der Drapierung des eng anliegenden Kleides und der glatten, weichen, hellen und schutzlosen Haut des Dekolletés angezogen, vermittelt die Bildintention dem voyeuristischen Betrachter vor allem einen Impuls: das Kleid herunterstreifen, um mehr Haut zu sehen. Die Inszenierung zielt auf den visuellen Reiz des halb entblößten, halb verborgenen Frauenkörpers, der den haptischen Reiz auslöst. Der Bildkörper soll imaginär berührt und entblößt werden. Wie sehr die (imaginäre) Geste fetischistischer Skopophilie intendiert ist, wird deutlich, wenn man den Stoff des Kleides, das den Voyeur erheblich stört, mit der nackten Haut vergleicht. Die seidig glatte Stoffqualität des Kleides, das viele kleine Fältchen in eine krause, die Körperformen verunklärende Oberfläche legen, kontrastiert mit den runden, glatten Formen der Haut, von der man mehr sehen will. Die Kehrseite dieser auf haptische Reize ausgerichteten Bildinszenierung und -ästhetik liegt in der realen, körperlichen Absenz der begehrten Person. Wie Pygmalion agiert der vom Bild animierte Betrachter mit einer Kunstfrau als einem Ersatzobjekt, das er nach seinem Belieben behandeln kann. Jede Berührung der Haut des begehrten Objekts scheitert jedoch an der zweidimensionalen Bildoberfläche. Als Bild(körper) ist die Monroe zwar nah, aber doch unnahbar, ihre weiblichen Reize scheinen aggressiv, sind aber nicht wirklich bedrohlich, sondern im erstarrten Bildkörper gebannt.39 Wie Medusa bannt sie den begehrenden Blick des Betrachters. Das Bild des Stars dient als Ersatz für die unmögliche Berührung seines Körpers. In Bert Sterns Last Sitting soll auch der Tastsinn des Betrachters stimuliert werden (Abb. 41).40 Die Anziehungskraft der repräsentierten Haut liegt im perfekten Auftrag des matten Puder-Make-ups, das sich als hauchdünner Schleier aus Samt, transparent und opak zugleich, über die Haut legt und die feinen Härchen des Gesichts betont.41 In der fotografischen Inszenierung und Bearbeitung wirkt die gepuderte Haut der Monroe wie mit feinkörnigen Pigmenten gemalt. Die Oberflächen von Wangen- und Kinnpartien sehen aus wie mit dem Pinsel matt schattiert, die Glanzlichter auf den himbeerfarbenen Lippen wie nachträglich aufgesetzt. Der faltenlose Hals und ein makellos glattes Dekolleté verleihen der goldschimmernden Haut das Aussehen eines Pfirsichs. Intendiert ist eine malerische Qualität, die sich an den Feinmalern der Renaissance orientiert (Abb. 43). Die fotografisch repräsentierte Haut wird zum Inkarnat, zur künstlich gemachten, bildgewordenen Illusion einer Haut, deren ästhetische Perfektion für das erotisch zu konsumierende Bildsujet maßgeschneidert wurde. Trotz eklatant lasziver Mimik transportiert sie noch ihr reines, unschuldiges, sündloses, ja engelgleiches Image. Die Inszenierung einer strahlenden, makellos ästhetisierten Haut, umgeben von einer weißen Federboa, die den Busen nicht einfach verhüllt, sondern streichelt, und die silberblonde, einem Heiligenschein gleichende Lockenmähne, vor dem schneeweißem Hintergrund eines ort- und zeitlosen Bildraums machen aus der Monroe kurz vor ihrem Tod die Ikone, die sich bis heute tief ins Bildgedächtnis der westlichen Kultur eingeprägt hat.42 Die ‚ideale Whiteness‘ dieser Haut ist eine notwendige Bedingung des amerikanischen Starwesens und überhaupt der Ästhetik des westlichen Repräsentationssystems. Ihre geschlechts- und ethnischspezifische Kodierung hat Richard Dyer in einer tief wurzelnden Bild- und Mediengeschichte aufgezeigt.43 Sie bedienen auch heute noch das Starwesen einer alternden Popkultur (Abb. 44).

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43  Raffael: Portrait einer jungen Frau (La Fornarina),1520, Öl auf Leinwand, Rom, Galleria Nazionale d'Arte Antica

44  Madonna recreates Marilyn Monroe in "Material Girl", 1984

Das Selbst als Bildentwurf

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Das Selbst als Bildentwurf „Day after day I look in the mirror and I still see something – a new pimple. If the pimple on my upper right cheek is gone, a new one turns up on my lower left cheek, on my jawline, near my ear, in the middle of my nose, under the hair on my eyebrows, right between my eyes. I think it’s the same pimple, moving from place to place. I was telling the truth. If someone asked me, ‚What’s your problem?‘, I’d have to say, ,Skin.‘”44 Der Kontrast von perfekter Haut im Medium fotografischer Fiktion, den das Starbild transportiert, und Andy Warhols Leiden an einer chronisch entzündeten Problemhaut könnte nicht größer sein. Gleich auf den ersten Seiten seiner Philosophy informiert Warhol schonungslos über das Bild, das ihm aus dem Spiegel täglich entgegenblickt. Teils ironisch, teils betroffen charakterisiert er dabei vor allem seine Haut. Sie ist kränklich blass – mit acht Jahren verlor er die Pigmentierung –, er nennt sie eine „kreideweiße Gnomenmaske“, „albinoweiß“, „pergamentartig“, „reptilhaft“, „fast blau“.45 Gegen die Gesichtsfalten nahm er nach eigenen Angaben täglich fünf Straffungspflaster: je eines unter den Augen, an den Mundwinkeln und eines auf der Stirn. Gegen die ständig gerötete, großporige Nase half ein Intensivpeeling: „They don’t put you to sleep but they spray frozen stuff all over your face from a spray can. Then they take a sandpaper and spin it around all over your face. It’s very painful afterwards. You stay in for two weeks waiting for the scab to fall off. I did all that and it actually made my pores bigger. I was really disappointed.”46 Für eine schöne, glatte und reine Gesichtshaut nimmt er starke Schmerzen in Kauf und unternahm auch sonst alles Mögliche, um seine körperlichen Mängel zu beheben oder zu kaschieren.47 1953 erwarb er sein erstes Toupet, Ende der 1950er-Jahre ließ er seine Nase verkleinern, später seine Haut mit Collagen unterspritzen. Er beneidete die Frauen, die ihr Äußeres mit Make-up, Lidschatten, Wimperntusche und Lippenstift verschönerten. Er selbst verwendete ebenfalls Make-up, obwohl er darüber Widersprüchliches äußert: „I don’t really use makeup but I buy it and I think about it a lot. Makeup is so well-advertised you can’t ignore it completely. [...] After makeup, clothes make the man.”48 In Warhols Selbstwahrnehmung ist natürliche Gesichtshaut der unberechenbare, unkontrollierbare, ja unästhetische Teil seiner Körperoberfläche. Da sie sichtbar ist, muss sie künstlich oder künstlerisch bearbeitet werden, damit ihre Makel beseitigt oder kaschiert werden. Daher benutzt er sie als ein natürliches, künstlerisches Material, das modelliert und bemalt werden kann, um dem Bild eines imaginären Schönheitsideals zu entsprechen. Die Behandlungen seines Gesichts gehören wie das Tragen der wirren Perücke in Platinblond zur Inszenierung eines zum Kunstwerk mutierten Körpers. Da Warhol – wie ihm stets bewusst ist – sein Ideal makelloser Schönheit am eigenen Körper nicht befriedigend realisieren kann, kompensiert er dies durch die Exzentrik seiner persönlichen und künstlerischen Ausdrucksweisen. Auch Warhols Gestalt hat sich im kollektiven Gedächtnis festgesetzt. Die zerzauste Perücke und das hagere Gesicht mit der knolligen Nase sind weit über den Kunstkontext und noch über seinen Tod hinaus auch heute bekannt. Seine Provokationen der etablierten Kunstbegriffe sind legendär und haben ihm bis in die 1980er-Jahre den Ruhm eines Stars der Kunstszene eingebracht.49 Er sammelte Massen von privaten und semi-öffentlichen Schnappschüssen der

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45  Otto Fenn: Andy Warhol mit retuschierter Nase, um 1952, Schwarzweißfotografie, Pittsburgh, The Archives of The Andy Warhol Museum

Glamourwelt und ließ sich gern als Figur der Kunstprominenz von professionellen Fotografen ablichten.50 Viele Fotografien zeigen Warhol im Dialog mit der Kamera, wie er im fotografischen Akt das Bild antizipierte. Seine Selbstentwürfe entstanden stets als Bildentwürfe. In Fotos aus den 1950er-Jahren demonstriert er eine Unzufriedenheit mit seinem Gesicht, vor allem der Nase, und den Versuch, durch nachträgliche Bildbearbeitung eine Korrektur der beanstandeten Körperteile zu erreichen.51 In einer Fotografie, die er nachträglich im Bereich der Nase retuschierte, ging es ihm um die Korrektur seines Profils, dem er durch die Retusche mit schwarzer Farbe eine Ideallinie verleihen wollte (Abb. 45). Mit dem Kauf eines Toupets und einer chirurgischen Nasenkorrektur realisierte Warhol später sein Selbst als Bild.52 In seinen frühen Bildexperimenten betrachtet er den eigenen Körper als künstlerisches Oberflächen-Problem („Just look at the surface ... there I am“). Seine Identität ist an der Bildoberfläche gewonnen. Damit initiiert er Selbstdarstellungen, die im digitalen Zeitalter massenmedial verwirklicht werden. Das am Massengeschmack gebildete Selfie, von einer Idealbildsoftware programmiert und über die sozialen Medien in die Welt gepostet, bringt jetzt ein kollektiv geteiltes Selbstbild, das gelikt werden soll, hervor: „Selfies stellen keine Menschen dar, sondern Modalitäten des weiten Felds von Verbindungen, das das Netzwerk bestimmt [...]; Aspekte einer kollektiven Identität, die sich durch Artikulationsakte ausbildet, die das Selfie wechselweise jeglichen Sinns entleeren, während sie die Subjektivität des Nutzers wiederherstellen“, so Adam Levin in Das vernetzte Selbst.53 „Die Selfie-Sucht verweist auf die innere Leere des Ich. […] Angesichts der inneren Leere versucht das Selfie-Subjekt vergeblich, sich zu produzieren. Sie reproduzieren das Leere“54, kommentiert Byung-Chul Han diese Bildpraxis. Die Frage nach der Bildwirkung des eigenen Gesichts beschäftigte Warhol seit den 1970er-Jahren in unzähligen Polaroidfotos. Wie für die Vorlagen seiner Siebdruckporträts, die

Das Selbst als Bildentwurf

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46  Andy Warhol: Self-Portrait in Drag, 1981, Polaroid, Pittsburgh, The Archives of the Andy Warhol Museum

47  Christopher Makos: Altered Image. Detail aus dem Kontaktbogen für "Altered Image", Photosession, 1981, Schwarweißfotografie

er insbesondere von der amerikanischen Filmprominenz machte, verwendete er auch für seine mit Selfportrait betitelten Fotos das Standardformat des Brustbildes. Vincent Fremont berichtet von den Porträtsitzungen der vorwiegend weiblichen Filmstars, in denen auf Gesicht, Hals und Schultern der Modelle zunächst weißes Make-up aufgetragen wurde, das das Blitzlicht reflektieren sollte, damit Hautunreinheiten und Falten verschwinden und der Teint der Frauen weich und ebenmäßig wurde.55 So machten es bereits die Damen im Rokoko. Auch Warhol experimentierte in seinen Selbstporträt­­-Polaroids mit der die Haut glättenden Wirkung des kalkweißen, dickflüssigen Make-ups (Abb. 46). Das weiße Make-up kaschiert jedes Makel und macht aus der zerklüfteten ‚Gesichtslandschaft‘ eine glatte und homogene hellbeige Fläche, die das Gesicht transparent, ja beinah zart wirken lässt. Auch die Nase wirkt nun durch die Make-up-Behandlung dezenter. Die Bildwirkung weist jetzt die Starqualität auf, die Warhol durch die Prozedur erreichen wollte, wohl wissend, dass der Zugewinn an Schönheit künstlich herbeigeführt, gewissermaßen eine medial transportierte Fiktion ist. Digitale Selfies sind an dieser Starqualität des Bildes orientiert, denn jeder Like bringt Follower hervor und bestätigt

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48  Candy Darling, Cosmopolitan, Nov. 1972, Farbfotografie (Foto: Francesco Scavullo)

das Selbst als Bild. Jeder ist der Produzent seines Selfies, was den Vorteil hat, Kontrolle über das eigene Bild zu behalten, es solange nachzubearbeiten und dadurch umzugestalten, bis es dem Ideal vom eigenen Image entspricht. Wenn es passend erscheint für den sozialen Kontext, in den hinein es gepostet wird, wenn es seine Botschaft optimal entfaltet, indem es gesehen und gemocht wird, dann hat es sein Ziel erreicht: Der Selfie-Nutzer fühlt sich durch das Bild geliebt.56 Warhols Passion für Marilyn Monroe, die Verkörperung des amerikanischen Stars, geht bis zur Imitation. Eine Videostillsequenz zum Shooting der Fotoserie Altered Image des Fotografen Christopher Makos zeigt seine Verwandlung zur ‚Dragqueen‘ à la Monroe nach dem Vorbild des Fotos von Bert Stern (Abb. 47).57 Die geschminkte Weiblichkeit manifestiert sich als ein Triumph von Kunst und Künstlichkeit über die Natur des realen Körpers. Dies kann nirgendwo so perfekt realisiert werden wie im Foto, das als Spur und als ein distanziertes, rein visuelles Medium die Maskierung fast unsichtbar macht. Mit einem Gewaltakt am Körper haben Transvestiten der 1970er-Jahre die idealen weiblichen Schönheitscodes am realen männlichen Körper realisiert.58 Candy Darling, die vollkommene Dragqueen aus Andy Warhols Factory, starb an dem Medikament, das sie zur Vorbereitung auf die Operation einnahm, in der die

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Geschlechtsumwandlung stattfinden sollte (Abb. 48). Dragqueens treten an die Stelle der Hollywoodstars der 1950er-Jahre, die ihres göttlichen Glanzes und Glamours beraubt wurden, als Frauen in Filmrollen nur mehr Durchschnittsmenschen verkörpern sollten. Dragqueens à la Candy Darling sind transsexuelle Fiktionen vom weiblichen Idealkörper. Der geschminkte, maskierte und durch Hormongaben zum lebenden Bild einer Frau gewordene Männerkörper findet in der Rolle des Superstars seine einzige Bestimmung. Die Dragqueens der 1970er-Jahre sind materialisierte Erinnerungsbilder einer massenmedial präsentierten Fiktion weiblichen Sexappeals.59 In der Serie Altered Image erprobt Warhol seine Bildlichkeit als Transvestit (Abb. 47). Er verwandelt sein Gesicht im Stil der Monroe, aber das übermalte Gesicht ist nur Maske, es ist ein Bild, das über den natürlichen Körper hinwegtäuschen soll, der im männlichen Dresscode mit Schlips und Kragen über die ‚wahre Natur‘ des Bildes und des sich hinter der Maske verbergenden, realen Körpers aufklärt. Altered Image bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es letztlich gar keiner Geschlechtsumwandlung bedarf, sondern dass es reicht, wenn die Metamorphose auf der Körperoberfläche, die zur Bildoberfläche wird, geschieht. Auch hier antizipiert das Fotomedium das im Zeitalter digitaler Bildproduktion von Photoshop und anderen Softwareprogrammen produzierte Oberflächenphänomen. Im Unterschied dazu ist Warhols Cross-Dressing ein Bildexperiment und führt nicht zum Fetisch à la Monroe und Selfie. Die Bildserie ist ein Kommentar zur Bildwerdung des Stars: Das Make-up täuscht Idealschönheit nur vor. Das Foto als Spur der Wirklichkeit täuscht über die Täuschung hinweg und macht aus dem falschen Körper ein wahres Bild der Schönheit, das nun hilft, die Illusion realer Schönheit zu verbreiten. Die Wirklichkeitsreferenz, die man fotografischen Bildern nachsagt, wird auf diese Weise konterkariert. Das Foto verhält sich in Bezug auf die wahre Natur des geschminkten Gesichts und des verkleideten Körpers distanziert und völlig neutral. Es transportiert nur, was die Kamera sieht, auch wenn dies eine Maske ist. Das Cross-Dressing in Warhols und Makos Fotoserie liefert einen Kommentar des Starwesens als einer grandiosen Fiktion, die das Foto als Medium des schönen Scheins massenhaft verbreitete. Im Zeitalter der Bilder ist der Star nicht mehr ein exklusives Phänomen aus Hollywood. Jeder kann sein eigener Star sein.

Ein Star wird Kunst Am 5. August 1962, als Norma Jean Baker alias Marilyn Monroe in Los Angeles unter bis heute nicht eindeutig geklärten Umständen, vermutlich Selbstmord, ums Leben kam, schloss Andy Warhols erste Kunstausstellung mit den 32 Campbell-Suppendosen bei Irving Blum in der Ferus Gallery in Los Angeles. „As soon as he heard the news, Andy decided to paint a portrait series using a black-and-white publicity photograph taken by Gene Korman for the 1953 film Niagara.”60 schreibt Victor Bockris in seiner Warhol-Biografie. Bis zum Frühherbst des Jahres entstanden 23 Marilyn-Porträts unter erstmaliger Verwendung der Foto-Siebdruck-Technik, Einzelporträts in grellen Pop-Farben, Diptychen, die Gold Marilyn auf „byzantinischen Goldgrund“, die Hundred Marilyns und viele andere Bilder mehr (Abb. 49).61 Für die gerade erst

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49  Andy Warhol: Lavender Marilyn, 1962, Siebdruck, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

geborene Pop Art bedeutete der Herbst 1962 den Durchbruch, der als Triumph über Esoterik und Intellektualismus des Abstrakten Expressionismus gefeiert wurde, dem die Künstler mit einer Ästhetisierung der Waren- und Medienwelt begegneten.62 Warhol hatte seine erste Einzelausstellung in New York, auf welche die Kunstkritik erwartungsgemäß mit gemischten Kommentaren reagierte: „The show was a controversial smash. Many of those who saw it joked about how terrible it was, but it almost sold out. Typical was the reaction of William Seitz, who bought a Marilyn for the Museum of Modern Art for $ 250. When Seitz’s colleague Peter Selz called him and said, ‘Isn’t it the most ghastly thing you’ve ever seen in your life?’ Seitz replied, ‘Yes, isn’t it? I bought one.’”63 Es bedurfte ihres spektakulären Todes, um aus dem Star ein Kunstwerk zu machen. Die Marilyn-Serie war die erste von mehreren Siebdruckserien, die Warhol später mit Death in America betitelte.64 Sie trat an die Stelle des realen Starkörpers, der seines Bildes beraubt tot und daher unsichtbar im Grab lag. Dies war die Chance für die Kunst. Die durch den Tod versiegte (aktuelle) Bilderflut, die das Starimage der lebenden Monroe massenmedial transportiert hatte, sollte nun durch Kunst ersetzt und in ihrer (Bild-)Wirkung noch überboten werden. Posthum verhalf Warhol dem Star noch einmal zu Glanz und Glamour, indem er ihr Bild mit seiner Kunst reinkarnierte. Überdies brachte der Wechsel von Massemedium zur Kunst dem schnelllebigen, höchst vergänglichen Starruhm kulturelle Weihe ein. Er verschaffte dem Star Eintritt

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50  Andy Warhol: Marilyn Monroe in Niagara (Pressefoto zum Film Niagara), 1953, Schwarzweißfotografie, Pittsburgh, The Archives of the Andy Warhol Museum

in einen Ort, zu dem er bisher keinen Zutritt hatte, da sein Warencharakter dem Anspruch auf Hochkultur widersprach. Warhol war der erste, der Populärkultur in die Museen als Archive der Hochkultur gebracht hat. Sein Werk der Monroe sollte hier auf Dauer bildlich präsent gemacht werden. Mit dem Eintritt der ersten Marilyn in das Museum of Modern Art ging, wie oben zitiert, diese Rechnung auf. Warhols künstlerische Auseinandersetzung mit dem Bildphänomen des Hollywoodstars begann mit der Suche nach einem geeigneten Bild, das das bereits beschriebene Image der Monroe transportierte.65 Er fand dieses Bild in dem 20 × 25 cm großen Pressefoto von Gene Kornman, das 1953 für den Film Niagara warb (Abb. 50). Das Foto im Brustbildformat zeigt die Schauspielerin en face im tiefdekolletierten, ärmellosen Kleid, mit stirnfreier Lockenfrisur, dunkelrot geschminktem, kussbereitem Mund, dezentem Rouge, Schönheitsmal auf der rechten Wange und dem lasziven Blick aus halbgeöffneten Augen, von Lidstrichen und falschen Wimpern wirkungsvoll inszeniert. Fast perfekt verkörpert das Foto, das Warhol als Vorlage für die Siebdrucke wählte, den Sexappeal der Monroe. Doch störte das biedere Passbildformat die intendierte Bildwirkung einer Ikone, weshalb Warhol den Bildausschnitt enger setzte, um die aufdringliche Erotik des Gesichts zu intensivieren. Warhol besaß mindestens zwei Abzüge des Fotos, an denen er die Wirkungsweisen seiner Bildformate erprobte. Er entschied sich schließlich gegen das Quadrat und für ein Hochformat, das den Kopf samt Hals in einen engen Rahmen spannte. Diesen Ausschnitt des Fotos ließ er auf ein Sieb mit dem Bildformat von 50 × 40 cm belichten, das ihm fortan für das Siebdruckverfahren seiner Serie diente (Abb.  49).66

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Der Siebdruck war nun der letzte Schritt in einem zweigeteilten Bildverfahren.67 Zuerst malte er mit breitem Pinsel einen Hintergrund auf die Leinwand, der Kopf und Schultern frei ließ, dann trug er die gelbe Fläche für das Haar auf, Pink für die Haut, den mandelförmigen Lidschatten in jeweils anderen Popfarben, das Lippenrot sowie den Kragen ebenfalls in leichten Farbvariationen. Das so gewonnene erste Bild zeigte nichts als bunte Farbflächen, die Reduktion eines weiblichen Kopfes auf eine anonyme Schablone, die mit Niemanden identifiziert werden konnte. Diese grellbunte und flächige Schablone, die malerische Komponente des hybriden Bildverfahrens, war darauf angelegt, jede klassische Farbharmonie zu verhöhnen und jedes mimetische Kunstkonzept zu ironisieren. Haut in Pink oder ‚Bonbonrosa‘ und leuchtend gelbe Haare werden zum Logo der ganzen Bildserie. Die ideale Whiteness der Starikone Monroe mutiert zum Pink der Popikone, das die Starqualität des Glamours im Kunstkontext als Bildqualität sichtbar machen soll, die Künstlichkeit, Maskenhaftigkeit und Aufdringlichkeit seiner Bilder. Flächiges Bonbonrosa ist eine Anspielung auf Make-up, Bildinszenierung und nachträgliche Retusche als Bildverfahren, die aus dem natürlichen Körper das Bild eines Starkörpers werden lassen. Deshalb ist gemalte Haut in Warhols Kunst nie geschlechtsspezifisch, sondern bezeichnet ganz allgemein die Bildqualität weiblicher wie männlicher Stars. In einem zweiten Schritt machte die mit dem Rakel über dem Sieb aufgetragene schwarze Farbe aus der Schablone eine Staridentität. Das halbautomatische Siebdruckverfahren setzte die Schatten aus der Fotovorlage als grau-schwarzen Abdruck über die gemalten Farbflächen, sodass sich im Bild der Marilyn eine Illusion von Bildtiefe einstellte. Die halbmechanische Bildtechnik gab dem anonymen Bild des bunten Starglamours plötzlich ein Gesicht. Der Siebdruck machte die gelben Haare, den bunten Lidschatten und den roten Mund zu einer bestimmten Person, die aus Hollywoodfilmen bekannt war. Aus einer Schablone wurde eine identifizierbare Person. Der grauschwarze Schattenabdruck über der pinken Farbfläche machte das Gesicht einer weiblichen Identität überhaupt erst lesbar, ordnete die individuellen Merkmale dieses Gesichts so auf der Bildfläche an, dass sie Punkt für Punkt als Bildzeichenraster auf den Filmstar Marilyn Monroe verweisen. Auf die mechanischen Bildpunkte des Siebdrucks antwortet die seit den 1960er-Jahren am MIT entwickelte Rastergrafik, die mit elektronisch erzeugten Pixeln (picture elements) Bilder auf dem Computerbildschirm erzeugt. Das aus den ersten Massenmedien geborene Starbegehren des Selfies entsteht nicht mehr mechanisch, sondern folgt einem in der Kamera eingebauten Algorithmus, der alle Gesichter und alle Körper gleich macht: „Der Dataismus löst den Körper in Daten auf, macht ihn datenkonform.“68 An der vorgespiegelten Gleichheit der Körper bildet der Selfie-Betrachter seine Identität. Identität bedeutet ihm zunächst Zugehörigkeit zur Masse durch Vernetzung qua Bild. Anderssein ist nicht intendiert, sondern stört den stillschweigenden Konsens der Follower. „Identität und Subjektivität verschwinden zwar nicht durch die Logik des Selfies, aber sie verlieren ihre Beständigkeit und Tiefe. Das Selbst ist nicht dauerhaft und beständig, sondern eher daran gebunden, sich ständig neu zu erfinden und anzupassen.“69 Wer ein anderes Bild ins Netz stellt, lebt riskant, ist ein Outsider oder aber eine Stilikone. Wer sein Bild gar nicht ins Netz einspeist, ist auch nicht vorhanden. In der ersten, durch den Tod des Stars motivierten Marilyn-Serie machte Warhol auch eine schwarze Marilyn auf weißem Grund, die White Marilyn, ein Schatten der popfarbenen

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51  Andy Warhol: White Marilyn, 1962, Siebdruck , unbekannter Privatbesitz

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52  Andy Warhol: Marilyn Six-Pack, 1962, Siebdruck , New York, Collec­ tion of Jerry and Emily Spiegel

Marilyn, transparent und blass (Abb. 51). Der Star ist seiner Strahlkraft beraubt. Die ideale Whiteness des Stars wird zu einer ‚Paleness‘ der Haut, gerät zur Karikatur der durch Make-up zurechtgemachten Haut des Stars. Nach all den künstlerischen Evokationen des Starruhms, den die Monroe zu Lebzeiten auf ihre Person zog, kommt der Verlust der Farbe dem Verlust ihrer bildmedial erzeugten Aura gleich. Im Zeitalter der massenmedialen Bilder, die mit der Bildgeschichte Marilyn Monroes einen ersten Höhepunkt erreicht, muss das Bedeutungsspektrum von Benjamins Aura-Begriff, den er an das Original eines Kunstwerks band, erweitert werden.70 „Aura“ im Zeitalter der Massenmedien bedeutet Omnipräsenz und/oder visuelle Penetranz des massenhaft verbreiteten Bildes. Mit der White Marilyn gedenkt Warhol des toten Stars, dessen Körper nur mehr in Bildern erinnert werden kann und als Lebender für eine bildmediale Repräsentation nicht mehr zur Verfügung steht. Mit der Lebens- und Glamourfarbe nimmt Warhol dem Bild auch die körperliche Substanz. Das Gesicht ist nur mehr verblasst, ein Schatten, ein Hauch. Die White Marilyn ist Warhols Epitaph für den verstorbenen Star. Im digitalen Zeitalter der Bilder gibt es keine Gewissheit mehr über den Tod, denn das gepostete

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Bild kursiert auf ewig im Netz.71 Man ertappt sich dabei, Lebende für tot zu erklären und Tote wieder lebendig zu machen. Was aber lebt, ist die Bildpräsenz. Während in der Version der Marilyn Six-Pack (Abb. 52) bereits der Bildtitel den Konsumund Warencharakter der Monroe-Starfotos auf den Kunstkontext der sechs sich gleichenden Marilyn-Bilder überträgt, kulminiert der Epitaph-Charakter in der schlechten Bildqualität der blasser werdenden Drucke: Mit dem Tod eines Stars wird sich auch sein Bild abnutzen, es droht zu verblassen und schließlich ganz aus dem kulturellen Gedächtnis zu verschwinden. Diese Aussage provozieren auch diejenigen Marilyns, die zwar popfarbig grundiert sind, aber deren Siebdruck in Folge der Verwendung eines mit Farbresten verstopften Siebs eine bewusst schlechte Druckqualität aufweisen. Der konturlose und fleckige Druck kehrt die Leinwandstruktur des Bildes hervor und betont damit seine Flächigkeit. Statt der Tiefenillusion eines scharfgestellten, fotomechanischen Bildes legen sich grauschwarze Flecken über die bunte Gesichtsfläche und drohen damit, das Bild nicht nur unlesbar, sondern vor allem den Star unattraktiv und hässlich zu machen. Die in schlechter Bildqualität schlampig hergestellten Marilyns erinnern an verschmiertes Make-up und enthüllen den Starkult als Bildphänomen, dessen Wirkung an den Grad der Perfektion einer Bildästhetik gekoppelt ist und der auf zwei Dimensionen nichts mehr als eine schöne Illusion transportiert. Die Flecken und Schlieren auf dem Gesicht des Stars erinnern nun auch an Warhols Hautprobleme, die Poren, Pickel und Rötungen auf seinem eigenen Gesicht, sie kommen wie ein verstopftes Rakel oder ein verrutschtes Sieb einer Bildstörung gleich. Im Kontext der Starindustrie ist jede Entstellung, jeder Bildfehler unerwünscht – in Warhols Siebdrucken dagegen sind Farbflecken und verschmierte Farbe gewollt. Sie brechen mit dem überkommenen Kunstverständnis des handwerklichen Virtuosentums und machen im Gegenzug das halbautomatische, massenhafte Bildverfahren bewusst. Die zufällig entstandenen Farbflecken sind gewollt. Sie erheben das Einzelbild einer Serie in den Stand eines Bildoriginals, das nach westlicher Bildtradition den Status des Traditionskunstbildes genießt, und gedenken sogar des Individuums, dass sich hinter der Maske der Starikone verbirgt. Im digitalen Zeitalter der Bilder ist alles Kunst, aber nichts mehr Original. Mit dem Individuum, das sich als Person äußert, ist auch das Originalbild verschwunden, beide haben sich an ihre Bilderserien entäußert, welche die Illusion der Gleichheit qua Bild nähren. Jeder ist ein Star.

Alte Meister, neue Masken, Selbstunterwerfung Andy Warhol demonstrierte das reine Oberflächenphänomen des Stars, den mit geeigneten Bildtechniken für den Massenkonsum zurechtgemachten Körper und das Gesicht, die im Starkult als Fetisch oder Idol fungieren und im Kunstkontext als Ikone rezipiert werden – was beides das Gleiche meint.72 Die an der Schwelle zum Zeitalter der Bilder, in der Post-Pop-Ära der Postmoderne arbeitende Fotokünstlerin Cindy Sherman kommentiert mit ihrer Fotoserie History Portraits westliche Traditionskunst ebenfalls als Oberflächenphänomen.73 Die seit 1990 als großformatige Kodak C-Prints edierte Serie gibt bereits auf den ersten Blick zu erkennen,

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53  Cindy Sherman: History Portraits. Ausstellungsansicht New York, Metro Pictures, 1990

dass sie sich auf kunsthistorische Vorbilder bezieht (Abb. 53). Obschon die History Portraits Kunstgeschichte erinnern, wird dem Liebhaber der alten Meister der Umgang mit denselben eher despektierlich erscheinen. Ob Botticelli, Raffael oder Rembrandt: Der Eindruck von feierlichem Ernst, Kostbarkeit und unantastbarer Würde, mit der das kulturelle Bild-Erbe in den großen Museen der westlichen Welt inszeniert wird, erscheint angesichts der History Portraits gestört. Auf den hohen kulturellen Rang der Traditionskunst beziehen sich die goldenen Rahmen und die stark vergrößerten Formate, die den Bildern eine aufdringliche Präsenz verleihen. In Untitled #212 mit dem Brustbild einer jungen Frau, das in seiner Profilstellung, dem Kostüm und der antiken Säule im Hintergrund auf das gängige Porträtschema der Renaissancemalerei in Italien verweist, tritt das Profil der Nase der Frau prononciert hervor, bildet an der Spitze eine unschöne Knolle und gibt sich überdies klar als Attrappe aus Plastik oder Pappmaché zu erkennen (Abb. 54). Als altmeisterliches Vorbild für Untitled #212 ist das sogenannte Porträt einer Frau mit Perlenhaarnetz von einem Maler aus dem Umkreis Leonardos identifiziert worden (Abb. 55). Es ist aber nicht unbedingt notwendig und oft auch gar nicht möglich, die Vorbilder aus der Kunstgeschichte genau zu bestimmen, um die Veränderungen wahrzunehmen, die Sherman an der Renaissance- und Barockmalerei vorgenommen hat. Der Ausdruck von Schönheit, Klugheit, Adel und Tugend, gepaart mit materiellem Reichtum, den die Frauen der Renaissance in ihren Porträts zur Schau stellen, ist ironisch gebrochen. Das sich in einem

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54  Cindy Sherman: History Portraits, Untitleted #212, 1989, C-Print

55  Leonardo Umkreis: Porträt einer Frau, Ende 15. Jh., Mailand, Pinacoteca Ambrosiana

heute noch verständlichen, aber nicht mehr praktikablen Schönheitskanon äußernde ethische Ideal der Frau, das die meisten Renaissanceporträts transportieren sollen, pendelt in Shermans Bearbeitung in die andere Richtung. Die übertriebene, bis ins Groteske gesteigerte Entstellung des Modells verkehrt das Idealbild in sein Gegenteil. Damit demontiert Sherman ästhetische Strategien der Selbstdarstellung historischer Epochen, die bis heute als Kunst verehrt werden. Angesichts der History Portraits verändert sich der Blick auf die Schönheit und Sittsamkeit der Renaissancefrauen, die mit Hilfe einer perfektionierten Kunst nun nicht mehr natürlich schön, sondern künstlich und hochgradig inszeniert erscheinen. Die ‚Wirklichkeit‘ der historischen weiblichen Individuen, deren Ehemänner ihre Porträts bei den Malern in Auftrag gaben und bezahlten, liegen irgendwo zwischen dem Idealbild, das die Porträts verkörpern sollen, und ihrer postmodernen Dekonstruktion. Sherman demontiert die Bildwelt der alten Meister nach dem Grad der im Vorbild vorgeführten Idealisierung. Untitled #205 nimmt sich das Porträt von Raffaels Geliebter La Fornarina vor (Abb. 56 und 43). Jedes Bilddetail, das im Vorbild die erotischen Reize des Modells in aller jugendlichen Reinheit und Unschuldigkeit des nackt dargebotenen Oberkörpers vorführt, wird in der Bearbeitung ins Hässliche und Lächerliche pervertiert. Sherman legt es hier auf einen direkten Vergleich mit einem der Großmeister der italienischen Renaissance an. Ihre Bearbeitung zerstört nicht nur den sinnlichen Ausdruck des Mädchenkörpers, indem sie das Modell

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56  Cindy Sherman: History Portraits, Untiteled #205, 1989, C-Print

als verbiestert dreinblickende Frau inszeniert, die ihren, wie es scheint, ungewollt schwangeren Bauch hinter einer Gardine auf einem überlebensgroßen Foto präsentiert. Mit der inhaltlichen Demontage des Vorbildes geht zwangsweise die Zerstörung der von der Malerei bewirkten ästhetischen Wirkung einher. Die glatte Oberfläche und die Chromatik des goldschimmernden Inkarnats, mit der Raffael, die Natur übertreffend, die glatte Haut seines Modells simuliert, ist in Shermans Bearbeitung ein Fake: vorgezeigte Maske und missgestaltete Prothese, die sich die Künstlerin, wie man deutlich sieht, vor Brust und Bauch gebunden hat. Shermans Umgang mit der Kunstgeschichte ist keineswegs nur despektierlich und schon gar nicht grob, sondern zeugt vor allem von einer profunden Kenntnis der alten Malerei, die sie bis in die Details des Chiaroscuro studiert hat. Im Gegensatz zu den Vorbildern, die das Geheimnis ihrer Kunsttechnik für sich behielten, gibt Sherman ihre Kunstmittel offen preis. Aus ihrem Fundus wählt sie Kleider, Requisiten, Prothesen und schlüpft in die Rolle der Por­ trätierten. Mit einem Arsenal an Pudern, Farb- und Lippenstiften aller Art, Quasten und Pinseln schminkt sie Gesicht und Körper, behandelt die Haut wie eine lebendige Leinwand und bemalt sie im Stil der alten Meister.74 Eine exakt ausgearbeitete Lichtregie und die richtige Wahl des Filters vor dem Kameraobjektiv tun ein Übriges, um in den Fotos die gewünschte malerische Wirkung hervorzurufen. Dabei ist es für den erzielten Bildeffekt völlig unerheblich, dass Sherman es selbst ist, die sich verkleidet und schminkt und in ihren Fotos in immer neuen Masken die Verfahrensweisen der altmeisterlichen Malerei analysiert, um sie mit ihren eigenen Stilmitteln zu entlarven. Diese maskierten Porträts läuten das Zeitalter der Bilder ein, indem

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57  History Portraits, Untitleted #228, 1990, C-Print

jedoch keine Verkleidung des Körpers mehr nötig sein wird. Auch auf das Make-up kann man jetzt verzichten, denn alles erledigt das Idealbildprogramm des Smartphones oder Photoshop. Zuweilen benutzt Sherman die Geschichten ihrer Vorbilder für eine Umerzählung der Mythen. Der triumphale Ausdruck, mit dem Judith in dem Gemälde von Botticelli den Kopf des Holofernes aus dem Zelt trägt, wird in Shermans Interpretation zur Pose des Degout. Eine karnevaleske Judith präsentiert den Plastikkopf einer greisen Horrorgestalt (Abb. 57). Die Idealgestalt einer heroischen Frau, die ihr Volk von einem Widersacher befreit, ist angesichts der grausamen Tat des Köpfens in der Abkehr der Frau von ihrer Trophäe zunächst einmal nachvollziehbar. Doch auch hier ist vor allem Ironie im Spiel, denn die wirklichkeitsnahe Einstellung des Themas ist für Sherman nur eine Durchgangsstation und wird in der plumpen, dickbäuchigen Karikatur einer Judith gebrochen, die mit viel zu großen Plattfüßen dasteht, das blutige Messer in der einen, den am Schopf ergriffenen Plastikkopf in der anderen, als ob sie in einer Geisterbahn als Schreckgespenst figurieren würde. Sherman enthüllt hier das über den biblischen Mythos transportierte Idealbild einer Frau als Heroine, die zur Selbstdarstellung einer von Männern beherrschten Welt auf einer Bühne agiert, die ihr die Malerei der Renaissance zur Verfügung gestellt hat. Auch Sherman stellt ihre Judith auf eine Bühne und weist ihr in der Karikatur der Renaissance-Judith die neue Rolle einer grotesk gezeichneten Anti-Heldin zu. Im Zeitalter der Bilder heißen HeldInnen Influencer. Ihre Videobilder sind Vorbilder für Millionen

Alte Meister, neue Masken, Selbstunterwerfung

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Follower, die so sein wollen wie diese Bilder. Sie erzählen von idealer Schminke und Kleidung, bieten Beautyprodukte mit ihrem Namen zum Kauf an und führen ein Pseudoleben auf, das jeder nachahmen soll. Mit jedem Klick gehen Tantiemen derjenigen Firmen, deren Produkte in den Bildern platziert sind, auf ein Konto. Der Influencer gehört einem Konto. In den History Portraits geht es nur vordergründig um eine kritische Distanz zur historischen Malerei und der Übertreibung in ihren Idealbildern (Abb. 53, 54, 56 und 57). Im Zentrum der Fotoserie steht die Klarlegung bildkünstlerischer Absichten und Verfahrensweisen. Sherman operiert mit einer zweifachen Strategie: Zum einen werden die Bildinhalte der alten Meister demontiert. Die grotesken Prothesen und Masken demaskieren das Idealbild einer vergangenen Kultur. Die zweite Strategie wendet Sherman auf der Ebene der Medienkritik an. Dabei gerät die Malerei, der hiermit zum wiederholten Male abgesprochen wird, Wirklichkeit abzubilden, zunächst ins Schussfeld der Fotografie. Sherman legt durch das Vorzeigen der Verkleidung die Fotografie als Spur fest, welche das Objekt vor der Kamera mit Hilfe der physikalisch-chemisch verfahrenden Bildtechnik auf dem Bild hinterlässt. Die altmeisterliche Malerei, so lässt sie ihre Bilder durch die Maske sagen, maskiert die in ihr erscheinenden Menschen so sehr, dass ihre Identität als historische Individuen nicht mehr erschlossen werden kann. Die Gemälde zeigen fiktive Identitäten von Identitätsfiguren oder Personen, wie eben der legendären Geliebten von Raffael, die dem kollektiven Ideal einer Kultur ein einheitlich schönes Gesicht verliehen hat. Dieses Ideal-Gesicht der Menschen ist, wie Sherman zeigt, eine Maske, die eine anders geartete Wirklichkeit verdeckt. Die schöne Welt der historischen Malerei existierte nirgendwo anders als in diesem Medium, das sie der Nachwelt überliefert hat. Hierin trifft sich die Bildkultur der Renaissance mit der im Zeitalter der Bilder. Es gibt jedoch einen Unterschied. Während vormals das Subjekt durch Kunstanwendung eines Subjekts (Künstler) zum idealen Bildobjekt wurde, macht sich heute das Subjekt in einer Art Selbstunterwerfung durch Anwendung einer vorprogrammierten Technik zum idealen Bild. Es bedarf jetzt keiner Kunst mehr und auch keiner Künstlerin. Sherman weist der Bildwelt der alten Meister eine rein mediale Existenz ohne Wirklichkeitsbezug zu und verstrickt ihre Strategie der Entlarvung ganz bewusst in Widersprüche. Um der alten Malerei die Maskierung der Wirklichkeit nachzuweisen, bedarf es wiederum der Maskierung eines Individuums, nämlich der Künstlerin selbst, die in immer neuen Rollen den Figuren aus der Kunstgeschichte eine neue und ebenfalls künstlich zurechtgemachte Identität leiht. Damit verfahren beide, die alten Meister mit ihrer Malerei und Cindy Sherman mit ihren Fotos, nach dem Prinzip des bildlichen Doppelsinns, der in der Dialektik des Zeigens und Verbergens besteht. Die jeweiligen Bildverfahren, Malerei und Fotografie, unterscheiden sich auf dieser Ebene des Vergleichs nur hinsichtlich des aus der jeweiligen Bildtechnik resultierenden Maskierungsverfahrens. Während die Malerei ihre aus der Wirklichkeit sowie den Mythen und Legenden genommenen Modelle auf der Bildoberfläche erfindet, muss Sherman die vor dem Kameraobjektiv befindlichen Bildobjekte, sich selbst, verkleiden, um den gewünschten Bildeffekt zu erzielen. Sherman ist sich darüber im Klaren, dass ihre Strategie der bildmedialen Demaskierung durch Maskierung auf einen Zirkelschluss hinausliefe, in dem sich Medien und Masken in ihren jeweiligen Bildfindungsprozessen gegenseitig bestätigten. Um dem zu

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entgehen und eine grundsätzliche Kritik der Bildmedien sinnfällig zu machen, zeigt sie die Maske vor. Mit ihrer analogen Kameratechnik schreibt sie den Referenten in das fotografisch erzeugte Bild ein und folgt noch einmal dem Barthes’schen Es-ist-so-gewesen. Doch in den History Portraits ist das fotografische Zeichen, der gemeinsame Referent aller Fotos, die Maske. Die Fotoserie beweist lediglich die verschiedenen Masken, hinter der sich ein menschliches Individuum verbirgt. Die multiple Identität, die Sherman in den Fotos annimmt, gehört zum Werkkonzept und erhält mit der Referenz auf die Kunstgeschichte eine medienkritische Zuspitzung. Indem sie selbst in verschiedene Rollen schlüpft, sich maskiert, aber trotzdem identifizieren lässt, gelingt es ihr, die fingierte Identität der Individuen in den historischen Porträts bloßzustellen. Fotografie ist unter diesem Aspekt genauso wie die Malerei eine mediale Strategie der Weltinszenierung. Das fotografische lässt sich vom gemalten Zeichen nicht unterscheiden. Hier trifft sich Traditionskunst mit dem Zeitalter der Bilder. Es gibt aber auch hier einen Unterschied. Durch den Akt der Selbstunterwerfung des Subjekts, das nur noch Bild ist, gerät Weltinszenierung zur reinen Bildinszenierung, mit der Intention, dass Welt auf die Gleichung Bild gebracht wird. Es bedarf keiner Welt und keines Menschen mehr, wenn Welt und Mensch gleich Bild ist. Der Rückgriff auf die alten Meister geschieht bei Sherman nicht, um historische Malerei als Fiktionen idealer Menschenbilder zu entlarven, was letztlich trivial wäre. Es geht um die Offenlegung des fotografischen Zeichens und den Beweis, dass jedes Bildmedium in letzter Konsequenz immer eine eigene, gemachte, künstliche arrangierte, inszenierte Welt zeigt. Wie Andy Warhol gelingt es Sherman, in das kulturelle Archiv Kunstmuseum einzuziehen, dies zu einer Zeit, als die Autoren-Fotografie nach einem langewährenden Legitimationsprozess endgültig die Weihen der Traditionskunst erhielt. Im Zeitalter der Bilder ist der Weg ins Kunstarchiv nicht mehr intendiert, weil alles bereits Kunst oder gar nichts mehr Kunst ist.

Endnoten

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Endnoten 1 Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründung eines Bildmediums, München 2003. 2 Lorraine Daston / Peter Galison: Objektivität, aus dem Amerik. v. Christa Krüger, Frankfurt a. M. 2007, S. 121–200. 3 Henry Fox Talbot: Der Stift der Natur (1844), in: Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie I, München 1999, S. 62. 4 Daston / Gallison: Objektivität, S. 133–147. 5 Charles Baudelaire: Der Salon 1859, in: Sämtliche Werke / Briefe, hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois, Bd. 5, München/Wien 1989, S. 139; siehe die folgenden Zitate ebd., S. 133–140; Timothy Bell Raser: Baudelaire and photography, Leeds 2015; Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, S. 50–55. 6 Baudelaire: Der Salon 1859, S. 137. 7 Ebd. 8 Jeff Rosen: Julia Margaret Cameron’s ‘fancy subjects’. Photographic allegories of Victorian identity and empire, Machester 2016, S. 2. 9 Mirjam Brusius: Unschärfe als frühe Fotokritik. Julia Margaret Camerons Frage nach dem Maß der Fotografie im 19. Jahrhundert, in: Ingeborg Reichle / Steffen Siegel (Hg.): Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression, München 2009, S. 341–388. 10 Rosen: Cameron’s ‘fancy subjets’. 11 Zitat eines anonymen Kritikers, nach: Ulrich Pohlmann: Präraffaelitische Fotografie, in: ders. / Johann Georg Prinz von Hohenzollern (Hg.): Eine neue Kunst? Eine andere Natur?, AK Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, München 2004, S. 271–286, hier S. 272. 12 Michael Bartram: The Pre-Raphaelite Camera. Aspects of Victorian Photography, Boston 1985. 13 Pohlmann: Präraffaelitische Fotografie, S. 272. 14 Baudelaire: Der Salon 1859, S. 138. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 138–139. 17 Siehe den AK Eine neue Kunst? Eine andere Natur! Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert. 18 Peter Wollen: Fotografie und Ästhetik (1978), in: Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie 1980–1995, Bd. 4, München 2000, S. 210–222. 19 Baudelaire: Der Salon 1859, S. 140. 20 Pohlmann: Präraffaelitische Fotografie, S. 273. 21 Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, in: Friedhelm Kemp / Claude Pichois (Hg.): Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 249–250. 22 Ebd., S. 247. 23 Ebd., S. 250. 24 Ebd., S. 248. 25 Ebd., S. 215. 26 Ebd., S. 216. 27 Thomas Macho: Vorbilder, München 2011, S. 263–289; Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013. 28 Gisela von Wysocki: Fremde Bühnen. Mitteilungen über das Gesicht, Hamburg 1995, S. 15. 29 Belting: Faces. 30 Ervin Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, aus dem Amerik. v. Peter Weber-Schäfer, München/Zürich 2003 (New York 1959). 31 Selley Rice: The Grass is Always Greener: Self-Portraiture in the Age of Facebook, in: Suzanne Anker / Sabine Flach (Hg.): Embodied Fantasies: From Awe to Artifice, Bern u. a.O. 2013, S. 229–240. 32 Michael Hutter: Ernste Spiele. Geschichten vom Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus, München 2015, S. 123–156. 33 Elisabeth Bronfen / Barbara Straumann: Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002. 34 Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. 2015, S. 9. 35 Patricia L. Reilly: The Taming of the Blue. Writing Out Color in Italian Renaissance Theory, in: Norma Broude / Mary D. Garrard (Hg.): The Expanding Discourse. Feminism and Art History, New York 1992, S. 87–99, hier S. 94–96.

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36 Alfred Schäfer / Michael Wimmer (Hg.): Masken und Maskierungen, Opladen 2000; Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M. 1994. 37 Richard Dyer: Stars, London 1998 (London 1987); Werner Faulstich / Helmut Korte (Hg.): Der Star. Geschichte, Rezeption, Bedeutung, München 1997. 38 Sigmund Freud: Psychologie des Unbewußten, in: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Strachey, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1975, S. 381–388, hier S. 383–384. „Man überblickt jetzt, was der Fetisch leistet und wodurch er gehalten wird. Er bleibt das Zeichen des Triumphes über die Kastrationsdrohung und der Schutz gegen sie, er erspart es dem Fetischisten auch, ein Homosexueller zu werden, indem er dem Weib jenen Charakter verleiht, durch den es als Sexualobjekt erträglich wird.“ Ebd., S. 385. Zur Theorie „der Frau als Bild, der Mann als Träger des Blicks“ sowie der Fetisch-Funktion des Bildes siehe Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino, in: Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, S. 48–64, hier: S. 55–59. 39 „Als Traumbild, imaginierte Phantasie, Fetisch, Deckerinnerung bringen diese Repräsentationen [der Frau, C.K] seine Macht, seine Kreativität und seine Kulturprodukte stellvertretend zum Ausdruck.“ Elisabeth Bronfen: Weiblichkeit und Repräsentation – aus der Perspektive von Semiotik, Ästhetik und Psychoanalyse, in: Hadumod Bußmann / Renate Hof (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in der Kulturwissenschaft, Stuttgart 1995, S. 408–445, hier S. 412. 40 Bert Stern: Marilyn Monroe. The Complete Last Sitting, München 2002 (München 1982), S. 9–28. 41 „Sie [die Haut, C. K.] war champagnerfarben, alabasterfarben ... ganz und gar köstlich. Man hätte den Finger in sie eintauchen können, so als koste man von frischgeschlagenem Eischnee.“ Ebd., S. 16. 42 „Mir war klar, ich wollte nichts, was ihr in Zeit und Raum irgendwelche Grenzen gesetzt hätte. Ich wollte Marilyn pur, und ich wollte sie in einem Raum aus Licht – einem reinen Nirgendwo.“ Ebd., S. 12. 43 Richard Dyer: White, London/New York 1997. 44 Andy Warhol: The Philosophy of Andy Warhol. From A to B and Back again, New York 1975, S. 8. 45 Ebd., S. 10. 46 Ebd., S. 64. 47 Karin Schick: „The red lobsters’s beauty“. Korrektur und Schmerz bei Warhol, in: Andy Warhol. Photography, AK Hamburger Kunsthalle und The Andy Warhol Museum Pittsburgh, Zürich/New York 1999, S. 203–208. 48 Warhol: The Philosophy, S. 10, 12. 49 Barbara Straumann: Andy Warhol – Die selbstreflexive Diva, in: Bronfen / Straumann: Die Diva, S. 169–179. 50 Andy Warhol. Photography. 51 Vincent Fremont: Um 1970 kaufte Andy Warhol sich eine Polaroid Big Shot, in: ebd., S. 157–160. 52 Philip Pocock: Andy Warhol (von Andy Warhol nachträglich retuschiert) siehe die Abbildung in Andy Warhol. Photography, S. 257. 53 Adam Levin: Das vernetzte Selbst – Codes, Knoten und Rhizome, in: Ego Update, hg. v. Alain Bieber, AK NRW-Forum Düsseldorf, Düsseldorf 2015, S. 98–132. 54 Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, S. 22. 55 Fremont / Schick, in: Andy Warhol. Photography, S. 159, 205. 56 Theresa M. Senft: Die Haut des Selfies, in: Ego Update, S. 136–160. 57 Andy Warhol: Factory Diary, 1981. 58 Straumann: Andy Warhol – Die selbstreflexive Diva, in: Bronfen / Straumann: Die Diva, S. 174. 59 Judith Butler: Körper und Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. 1999; Majorie Garber: Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt a. M. 1993. 60 Victor Bockris: The Life and Death of Andy Warhol, New York u. a. 1989, S. 112. 61 The Andy Warhol catalogue raisonné, hg. v. George Frei und Neil Printz, Bd. 1: Paintings and Sculptures 1961–1963, London 2002. 62 Benjamin H. D. Buchloh: Andy Warhols eindimensionale Kunst. 1956–1966, in: Andy Warhol Retrospektive, AK Museum Ludwig Köln, hg. v. Kynaston McShine, München 1989, S. 37–59. 63 Bockris: The Life and Death, S. 117. 64 Hal Foster: Death in America, in: October, 75 (1996), S. 36–58. 65 Michael Lüthy: Andy Warhol. Thirty are better than one, Frankfurt a. M./Basel 1995. 66 Marco Livingstone: Do It Yourself. Anmerkungen zu Warhols Arbeitstechniken, in: Andy Warhol Retro­ spektive, S. 59–74. 67 Andy Warhol: Two Marilyns, 1962, in: Andy Warhol catalogue raisonné, Kat. 277. 68 Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, S. 24.

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69 Daniel Rubinstein: Das Geschenk des Selfies, in: Ego Update, S. 164–176, hier S. 168. 70 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I. 2, Frankfurt a. M. 1974, S. 474–508, hier S. 477; Lüthy: Thirty are better, S. 59–64. Zum Aura-Begriff siehe auch Kapitel 7 in diesem Buch: Was verloren geht. 71 Siehe die Beiträge in Christopher M. Moreman / A. David Lewis (Hg.): Digital Death – Mortality and Beyond in the Online Age, Santa Barbara, Cal. 2014. 72 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, besonders S. 352–372. 73 Zu Shermans Fotoserie siehe Arthur C. Danto: Cindy Sherman: History Portraits, New York 1991; Rosalind Krauss: Cindy Sherman: Arbeiten von 1975 bis 1993, München 1993. 74 Elisabeth Bronfen: Das andere Selbst der Einbildungskraft: Cindy Shermans hysterische Performanz, in: Z. Felix / M. Schwander (Hg.): Cindy Sherman. Photoarbeiten 1975-1995, München, Paris u. London 1995, S. 13-26.

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„Nat Tates Leiche wurde nie gefunden.“ William Boyd: Nat Tate. Ein amerikanischer Künstler (1928–1960), 2010 Als um 1980 in den USA Prototypen digitaler Kameras entwickelt wurden und fotoähnliche Bilder erzeugten, stellte der amerikanische Philosoph Nelson Goodman in Weisen der Welterzeugung eine Reihe von Fragen, die auch für den Umgang mit Bildern interessant sind: „Was unterscheidet echte von unechten Welten? Woraus bestehen sie? Wie werden sie erzeugt? Welche Rolle spielen Symbole bei der Erzeugung? Und wie ist das Erschaffen von Welten auf das Erkennen bezogen?“1 Eine der Antworten lautet: Welten werden aus Welten erzeugt, „jedenfalls nicht aus nichts, sondern aus anderen Welten. Das uns bekannte Welterzeugen geht stets von bereits vorhandenen Welten aus; das Erschaffen ist ein Umschaffen“.2 Goodman interessiert die Vielfalt der Prozesse, die beim Bau einer Welt aus anderen Welten eine Rolle spielen: Komposition und Dekomposition, Gewichtung, Ordnung, Tilgung und Ergänzung, Deformation. Es geht in dem Text um eine allgemeine Theorie der Symbolisierung, und Goodman widmete seine Überlegungen auch der Kunst und dem Bildermachen, was für einen Vertreter der Analytischen Philosophie nicht selbstverständlich ist. Eine nächste Frage lautet: „Welche Kriterien entscheiden, ob die Schöpfung einer Welt erfolgreich ist?“3 Wenn sie für wahr gehalten wird! Für wahr werde sie gehalten, wenn sie keinen Überzeugungen widerspreche. Aber auch unerschütterlich scheinende Überzeugungen können mit der Zeit umgestoßen werden. Wahrheit ist kein absoluter Wert, und der Wissenschaftler, der nach Wahrheit sucht, täuscht sich selbst: „Die Gesetze, die er aufstellt, verordnet er ebensosehr, wie er sie entdeckt, und die Strukturen, die er umreißt, entwirft er ebensosehr, wie er sie herausarbeitet.“4 Wahrheit bezieht sich nach Goodman nur auf das buchstäblich Gesagte, auf Bilder trifft dies nicht zu, denn ein „nicht-darstellendes Bild [...] sagt nichts, denotiert nichts, bildet nichts ab und ist weder wahr noch falsch, doch zeigt es sehr viel“.5 Das Zeigen, Exemplifizieren und Denotieren der Bilder sind zwar Referenzfunktionen, Goodman schlägt jedoch vor, in Abgrenzung zu Begriffen oder Prädikaten in Bezug auf Bilder von „Richtigkeit“ zu sprechen. Wir befinden uns um 1980 an der Schwelle zum Zeitalter der Bilder. Der Philosoph beobachtet sehr genau die „Weltvermehrung“ seiner Zeit und schließt auch die Bildvermehrung in diese Bobachtung mit ein. Da jeder seine eigene Welt aus der einen vorgefundenen Welt erbaut, stehen die vielen Welten in Relation zueinander und zu anderen Weisen und Zwecken der Welterzeugung. Daraus folgt die These, die als „Konstruktivismus“ bekannt ist, dass nämlich

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Tatsachen nicht gefunden, sondern erfunden werden und Wissen darin besteht, an die Tatsachen zu glauben: „Welche Welten nun genau als wirklich [actual] anerkannt werden müssen, ist dann eine ganz andere Frage.“6 Und wie kommt es, dass auch Fiktionen aus Poesie, Malerei und anderen Künsten als „Modi der Entdeckung, Erschaffung und Erweiterung des Wissens – im umfassenden Sinne des Verstehensfortschritts – ebenso ernst genommen werden müssen [bei der Welterzeugung, C. K.] wie die Wissenschaften“?7 Da Bilder wie Wörter (wenn auch anders) denotieren, können sie Tatsachen erzeugen und präsentieren. Das ,Weltbild‘ ist ein Produkt von Beschreibung und Abbildung. Wie aber können fiktionale Bilder, die ja keinen Abbildbezug zur vorgefundenen Welt haben, gleichwohl an der Erzeugung wirklicher Welten beteiligt sein? Sie können das, weil mögliche Welten der Fiktion innerhalb von wirklichen Welten liegen. „Die Fiktion operiert in wirklichen Welten [actual worlds] sehr ähnlich wie die Nicht-Fiktion. [Die Kunstwerke eines, C. K.] Cervantes, Bosch und Goya [...] nehmen und zerlegen uns vertraute Welten, schaffen sie neu, greifen sie wieder auf, formen sie in bemerkenswerten und manchmal schwer verständlichen, schließlich aber doch erkennbaren – d. h. wieder-erkennbaren Weisen um.“8 Das Gleiche gilt für abstrakte Kunst, die uns auf Formen, Farben und Gefühle lenkt und damit eine Reorganisation unserer gewohnten Welt induziert. Goodmans Konstruktivismus begleitete den Eintritt in das Zeitalter der Bilder argumentativ. Gleichwohl kann man sagen, dass über Weltreferenz der Bilder nie soviel gestritten wurde wie seither. Die Rede vom Postfaktischen bezieht sich auch und vor allem auf Bilder, die jetzt lügen, obwohl sie nie ‚die‘ Wahrheit gezeigt haben. Beispiele aus der digitalen Kunstpraxis werden im Folgenden zeigen, wie mit digitalen Bildern Weltbilder entstehen.

Der Beobachter macht das Bild Der größer werdenden Diskrepanz von de/konstruktivistischer Bildtheorie und sozialer Praxis der Bildverwendung begegnet Hans Dieter Huber mit einer „systemischen Bildtheorie“, die Bild, Betrachter und Milieu in eine interdependente Beziehung stellt. Hubers 2004 publizierte Studie lieferte auf der Basis konstruktivistischer Erkenntnistheorien eine längst fällige Aufklärungsschrift. Das Bild-Kapitel seiner Studie endet mit der Einsicht, dass Bilder, obgleich „physische Gegenstände“ und als solche definierbar, „als Resultate kognitiver Konstruktionen eines bestimmten historischen Bildbetrachters verstanden werden. In diesem Sinne existieren sie nur in seinem kognitiven System. Dieses funktioniert aber aus bestimmten Gründen so, als würden diese Bilder in der Realität existieren und als hätten sie beobachterunabhängige Eigenschaften“.9 Anders gesagt, Bilder, gleich in welchem Medium sie erscheinen, wären nicht so erfolgreich, wenn sie sich nicht auf eine außerbildliche Realität beziehen würden – das können wiederum auch Bilder sein –, die als faktisch gegeben angenommen wird. „Bezugnahme oder Referenz“, so ist mit Huber zu betonen, „entsteht erst durch den tatsächlichen Gebrauch. Daher ist die Referenz eines Bildes ontologisch relativ und historisch kontingent“. Was ein Beobachter als Weltreferenz im Bild erkennt, sind Stellvertreter oder Repräsentanten aus dem Bereich seiner eigenen Erfahrungen, seines Wissens, seines sozialen Kontextes. Huber bezeichnet den

Der Beobachter macht das Bild

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Repräsentanten als „Nichts und Niemand. Er ist ein No-Body, einer, der keinen Körper hat. Er ist nur jemand, weil er etwas anderes oder jemanden anderen vertritt. Das macht den Repräsentanten so mächtig“.10 Dies ist ein fundamentaler Satz, dessen Gültigkeit in der Ära der Bilder so weit reicht, dass der Repräsentant durch das Bild zwar wertlos, keineswegs aber bedeutungslos wird. Die noch zu besprechenden Beispiele aus der Kunst werden zeigen, dass es im Bildermachen und Bildgebrauch nicht um Weltreferenz im Sinne einer als faktisch angenommenen Realität geht, sondern die digitale Bildtechnik eigens erfunden wurde, um Welt aus Bildern neu zu bauen. Auch dies ist ja nichts Neues, denn jedes Traditionskunstwerk, jeder Roman, jede Fiktion ist eine Welterzeugung in diesem und Goodmans Sinne. Was aber den digitalen Weltaufbau problematisch macht, ist die Suggestivkraft der gezeigten Bildwelt, die vorgibt, dass sie sich auf eine faktisch gegebene Realität bezieht und gern verschweigt, dass sie ihre Bausteine bearbeitet bzw. neu erfindet, um sie für die Konstruktion einer Bildwelt einzusetzen, die, um mit Goodman zu sprechen, „für wahr gehalten werden soll“. In Wahrheit handelt es sich bei den digitalen Bildwelten um Fiktionen, deren Referenzbezug nur dann überzeugt, wenn er innerhalb von wirklichen Welten liegen könnte. ProduzentInnen digitaler Bilder verfahren wie KünstlerInnen, „nehmen und zerlegen uns vertraute Welten, schaffen sie neu, greifen sie wieder auf, formen sie in bemerkenswerten und manchmal schwerverständlichen, schließlich aber doch erkennbaren – d. h. wieder-erkennbaren Weisen um“.11 Anders als mit ‚analogem‘ Bildmaterial arbeitende KünstlerInnen erfinden viele ,DigitalbildweltproduzentInnen‘ keine neue Ästhetik, sondern sie verwenden eine elektronische Technik zur Erzeugung von Bildern, die unter anderem den Zweck verfolgt, eine ältere Ästhetik zu simulieren, eine Bildästhetik, die in dem Ruf stand Index, Spur, Lichtabdruck zu sein. Die Simulation der Fotografieästhetik ist eine Sache der Bildoberfläche, die eine Wirkungsästhetik zum Zweck der Bildverwendung und Bildrezeption intendiert. Das digitale Bild soll für wahr gehalten werden. Das aber ist eine Sache des Vertrauens auf und des Glaubens an Bilder. Der Glaube an das Bild, den Hans Belting in seiner Studie Das echte Bild aus den Anfängen des christlichen Bildes historisch erklärt, nährte sich aus dem Wunder der Vera Icon, gewissermaßen dem Urknall des westlichen Bilderglaubens, der aus dem Index, dem Gesichtsabdruck Christi auf einem Leinentuch resultiert.12 Dieser Abdruck, ursprünglich ein Fleck und daher nicht nur ästhetisch, sondern für die Verwendung als Erinnerungsbild unbefriedigend, musste kunsttechnisch so bearbeitet werden, dass ein lebendiges Gesicht darauf zu sehen war: das Gesicht Christi. Das ,wahre Bild‘ war nun beides: Beweis durch Index/Abdruck (Vera) und Gesicht mit Hilfe der Malerei (Icon). Die Fotografie baute auf diese Beweisbehauptung ihren Erfolg, wie wir in Kapitel 5 gezeigt haben, doch sie war nur ein Interim in der Geschichte der Bildmedien. In der Ära der Bilder ist der Glaube an das Bild abermals auf dem Index gebaut, den das digitale Bild simuliert, und der technischen Perfektion, die programmierte Codes elektronisch bereitstellt, um das Bild ästhetisch so aufzuwerten, dass jeder Weltbezug, der bei der Fotografie als Index, Spur oder Lichtabdruck charakterisiert wurde, verblasst. „Der Repräsentant der abwesenden Welt“, so Hans Dieter Huber mit Bezug auf alle Bilder, „ruht auf der Präsenz der

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bildlichen Darstellung, auf ihrem Hier und Jetzt, ihrer Anwesenheit an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit für einen bestimmten Betrachter“.13

Fotografierte Weltbilder Wider besseres Wissen speist sich der Bildgebrauch aus dem Bildvertrauen der BenutzerInnen, an dessen Bekräftigung eine lange Fotografiegeschichte unermüdlich gearbeitet hat. Am Übergang von Analog- zu Digitalfotografie spitzen FotografInnen, die im Kunstkontext arbeiten, das Problem des Glaubens und Vertrauens spannungsvoll zu. Im Ravensburgprojekt fotografierte Peter Hendricks vom erhöhten Standpunkt das Treiben auf mehreren Plätzen einer Stadt (Abb. 58).14 Auf mehrteiligen Bildfolgen sind Menschen zu sehen, die offensichtlich nicht wissen, dass sie gerade fotografiert werden. Wie bei einer Überwachungskamera kommt der Blick von oben herab und liefert extrem scharfe Bilder von ahnungslosen Individuen, die von einer Kamera aufgezeichnet werden, während sie den Platz passieren. Die Bildschärfe vertieft den dunklen Schatten, der jeder Person wie ein Doppelgänger an den Fersen heftet – zugleich bestätigt sie den Index, den die Fotografien behaupten. Wer diese Bilder betrachtet, wird misstrauisch, denn wer beobachtet hier – ein Fotograf oder eine automatische Kamera – und zu welchem Zweck? Offensichtlich handelt es sich um Bildausschnitte aus Fotografien, denn einzelne Individuen oder Menschengruppen geraten in der Bildserie in den Fokus der Aufmerksamkeit. Warum wird diese oder jene Person beobachtet? Schließlich werden die Bildausschnitte immer enger gesetzt, Porträts einzelner Personen scheinen gezielt von einem Zoom aufgenommen worden zu sein (Abb. 59). Dabei irritiert die Reihenfolge der Bilder den Blick der Betrachtenden: hier eine Person aus einiger Distanz, im nächsten Bild dieselbe Person gezoomt, dort ein fragmentierter Körper, der im nächsten Bild ergänzt wird. Wer noch genauer hinschaut, wird bemerken, dass einige Bilder komponiert sind, wenn etwa ein Männerarm, der in einem anderen Bild nicht da war, die Hand einer Frau ergreift. Der Blick der Kamera folgt einer undurchschaubaren Logik, zunächst schweifend, sich einen Überblick verschaffend, wird er zunehmend konkreter, beobachtet Details in verschiedenen Zusammenhängen und Distanzen, sucht schließlich gezielt nach etwas: Wir wissen nicht, was. Eines wird dabei klar: Die Bilder sind Teile eines größeren Ganzen, es gibt pro Serie mehrere, größere Ursprungsbilder, aus denen Personen ausgeschnitten und in aufeinanderfolgenden Momenten gezeigt werden. Bildinformationen werden fragmentiert, neu kombiniert bzw. gezielt zurückgehalten. Aus dem anfänglichen Anschein anonymer Bilderurheberschaft einer Kamera konturiert sich ein Autor, der mit gezieltem Blick Bilder produziert. Das Bildmaterial ist umfangreicher, wie umfangreich, wissen wir nicht, das weiß nur derjenige, der Macht über die Kamera hat, der Fotograf, der an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit anwesend war, um Menschen zu fotografieren, die wahrscheinlich zufällig an jenem Ort zu jener Zeit vom Blick der Kamera getroffen wurden. Das Ravensburgprojekt macht die Konstruktion von Weltbildern aus Bildausschnitten zum Thema von mehreren Bildserien und zeigt, wie Welt in fragmentarischen Bildern gestaltet und wahrgenommen wird. Fotografische Weltbilder, die in allen verfügbaren Medien kursieren,

Fotografierte Weltbilder

58  Peter Hendricks: Das Ravensburgprojekt. Grüner Platz im Juli 2003, II.3–II.5, 2004, Lambda-Prints

59  Peter Hendricks: Das Ravensburgprojekt. Marienplatz im Mai 2003, II.3–II.5., 2004, Lambda-Prints

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sind von Kontingenz bestimmt, sie sind in sich stimmig, aber die Welt sieht nicht notwendig so aus, wie sie die Bilder zeigen. Der Prozess der Weltbilderzeugung verläuft in drei Stufen. Es gibt erstens eine Kamera, die an einem Ort zu einer Zeit Bilder macht. Es gibt zweitens jemanden, der die Kamera bedient, wir wissen nicht immer, wer das ist. Da es kaum möglich ist, das Bild während der Belichtung zu kontrollieren, vor allem, wenn es eine Fülle von Informationen beinhaltet, wird es drittens bearbeitet. Es gibt Instanzen, die Macht über Bilder haben und sie in der Weise bearbeiten, dass sie den Blick auf eine Welt lenken, wie sie sein soll. Wer das Bild kontrolliert, will es mit einem interessegeleiteten Blick beherrschen. Wir wissen oft nicht, welche Intentionen verfolgt werden. Damit sind einerseits die Grenzen des fotografischen Dispositivs benannt (der Fleck auf dem Schweißtuch der Veronika), die andererseits die Voraussetzung sind, um aus Bildern Weltbilder zu machen. Peter Hendricks versichert, dass er im Mai 2003 den Marienplatz in Ravensburg fotografiert hat.15 Er schreibt in einem Text über das Projekt, dass er eine 13 x 18 cm Großformatkamera verwendet, einen Film entwickelt und Bilder im Format 50 x 60 cm vergrößert hat. Damit endet die analoge Arbeit am Bild, denn die Fotografien werden gescannt: „Von nun an war ich nur noch an Ausschnitten interessiert.“16 Hendricks reflektiert sehr genau den Anteil des Apparats am fotografischen Akt und spricht von der „geteilten Autorschaft“ mit der Kamera als Koautor, der nicht selbstständig handelt, aber weitgehend unabhängig vom Fotografen funktioniert. Die Kamera ist in der Lage, einen konkreten Moment in Bruchteilen einer Sekunde mit der „physischen Realitätsfülle“ der Gleichzeitigkeit zu repräsentieren, die keine menschliche Wahrnehmung imstande ist zu leisten. In der Gleichzeitigkeit der Aufzeichnung verschränken sich „Bild und physische Realität miteinander“ und kommen sich so nah wie in keinem anderen Medium. Belichtungen dieser Momente der Gegenwart bezeichnet Hendricks als „Einbildungen einmaliger Gegenwarten“, welche der apparative Prozess mit der Kamera als Koautor unabhängig vom Fotografen gestaltet und fixiert: „Fotografien müssen deshalb als ein vom Autor weitgehend unbeeinflusstes Rohmaterial, als etwas Fremdes und Äußeres angesehen werden.“ Aus diesem Rohmaterial hat der Fotograf Hendricks eine Welt in einem anderen Medium gestaltet – eingebildet – und zeigt damit, dass sie trotz gleichen Rohmaterials immer wieder neu und anders aussehen kann. Er betont auch, dass der Computer nur ein technisches Hilfsmittel ist, das ihm die Arbeit erleichtert: „Alles wäre genauso, allerdings mit erheblichem Mehraufwand auch im Labor möglich gewesen.“ Fotografische Weltbilder sind Angebote, die Welt so zu sehen, wie sie Kamera und Fotograf im Bild gestaltet haben.

Unheimlich vertraut Thomas Demands Fotografien nehmen Bilder aus den Printmedien als Rohmaterial für Fotografien mit komplizierten Wirklichkeitsreferenzen. Bei dem Rohmaterial handelt es sich um Bildkommentare zu spektakulären politischen Ereignissen, wie dem Foto von Uwe Barschels Leiche im Badezimmer eines Genfer Hotels, das das Magazin Stern wenige Tage nach dem Tod des Politikers im Oktober 1987 u. a. als Titelbild veröffentlicht hat. Die Küche, in der der

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ehemalige Diktator Saddam Hussein gekocht hat, bevor er im Dezember 2013 von amerikanischen Soldaten gefangen genommen wurde, und Pressebilder der „Tosa-Klause“ in Burbach, in der Gäste im Jahr 2001 mutmaßlich einen Fünfjährigen vergewaltigt haben, gehören ebenfalls zu dem Bildmaterial. Die von Demand verwendeten Fotografien haben in den Medien die Funktion, die Öffentlichkeit mit Tatortbildern von Ereignissen zu versorgen, die aus allgemein politischen, historischen oder aber rein voyeuristischen Interessen Aufsehen erregen sollen. Die meisten dieser Bilder dienen in den Printmedien dazu, ‚harte‘, d. h. sichtbare, Fakten zu schaffen. Sie werden als Augenzeugen für ein unfassbares Geschehen herangeschafft, das sich an einem Ort ereignet haben soll, der ohne die in ihm vorgenommenen Handlungen nichts weiter als alltägliche Banalität ausstrahlen würde und schon gar nicht würdig wäre, die Gemüter der Massen zu erregen. Dem Abgrund, der sich zwischen einem banalen Ort und einem dort mutmaßlich stattgefundenen ungeheuerlichen Geschehen bzw. den vorgeblichen Handlungen monströser Personen auftut, gilt das primäre Interesse von Demand bei der Suche nach Bildern von Orten, die seiner Kunst dienlich sind. Sobald dieses Material recherchiert und gefunden wurde, macht sich Demand an die Arbeit und baut diese Orte maßstabsgerecht aus Pappe und Papier in seinem Atelier nach.17 Wenn alles getreu rekonstruiert ist, werden die Architektur- oder Innenraummodelle vor einer Großbildkamera mit immensem lichttechnischem Aufwand inszeniert und analog fotografiert. Es werden dann Negative belichtet, maßstabsgetreue C-Prints/Diasecs vergrößert, die Premiumklasse zur Präsentation von Fotokunst, die aus Computerprint, Silicon und Acrylglas ein Bildobjekt von maximaler Tiefenschärfe und Farb­ brillanz hervorbringt (Abb. 59-61). Demand handhabt die Papierbauten und den fotografischen Akt derart virtuos, dass die abgebildeten Dinge die BetrachterInnen nach Art des Trompe-l’œils über ihre Papiernatur hinwegtäuschen. Die Papierbauten werden nach dem Fotografieren vollständig vernichtet, d. h., es gibt keinen Fundus und auch kein Archiv. Die abgelichteten Dinge, die als Spur auf dem Foto die Realitätsreferenz erzeugen, sind dann nicht mehr da. Jeder Bild­ raum ist ein nach seiner Bestimmung vernichteter Zweck- und Neubau. Die Ausstellung der Fotografien folgt einem genau kalkulierten Konzept, das den Betrachtenden bei tiefer Hängung der Großformate einen möglichst leichten, fast physischen Einstieg ins Bild ermöglichen könnte, wenn dies die Spiegelung der Acrylglasoberfläche nicht erschwerte (Abb. 60). Der Bildraum erscheint wie durch eine Membran zu den BetrachterInnen hin verriegelt. Die Fotografien spielen mit der Beweisfunktion, die dem indexikalischen Medium Fotografie zugeschrieben wird. Der Referent, der vor der Kamera die Spur von Wirklichkeit im Bild erzeugt, ist ein Trompe-l’œil und überdies nicht (mehr) vorhanden. Es geht um Orte in diesen Bildern und nicht um Menschen, die sich darin aufhalten, denn keiner der Protagonisten ist am Tatort zu sehen. In den menschenleeren Räumen steht jedes Möbelstück, jeder Gegenstand an seinem rechten Platz, als handele es sich um ein noch nicht bespieltes Bühnenbild oder das zum Dreh vorbereitete Setting eines Films bzw. einer TV-Serie (Abb. 61). Zuweilen wirken die Räume nicht nur inszeniert, sondern unwirklich, als gebe es sie gar nicht. Das Trompe-l’œil wird also von mehreren Irritationsmaßnahmen gestört. Dies kann eine Kameraperspektive sein, die in einem realen Raum nicht eingenommen werden kann.18 Die größte Irritation resultiert aus der Oberfläche der abgebildeten Gegenstände: Sie sind einerseits zu clean, zu glatt und

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60  Thomas Demand, Ausstellungsansicht, 2009, Wien, Museum moderne Kunst Stiftung Ludwig

wirken dadurch unnatürlich, errechnet und in den Formen reduktiv (Abb. 62). Bei genauer Betrachtung bemerkt man offensichtliche Falzkanten und Klebereste als Makel, welche die Raum- und Ding-Illusion ebenso stören wie die mangelnden Gebrauchsspuren. Die Bildräume sind ohne Atmosphäre, luft- und menschenleer und wirken daher leblos, wie tot. Die Reduktion von Leben lässt die Dinge scharf konturiert hervortreten, man sieht sie im übernatürlich klaren Licht. Das macht sie unbehaglich und auch unheimlich, besonders dann, wenn BetrachterInnen bemerken, dass es sich um Bilder von realen Orten handelt, wie etwa das Oval Office des amerikanischen Präsidenten in Washington, dessen Bild fast jedem aus den Medien vertraut ist (Abb. 61). Eigentlich möchte man diese Räume nicht betreten, doch die Perspektive der Kamera ist oft so ausgerichtet, dass man schon mitten im Raum zu stehen glaubt, im Fall des Oval Office in einem Raum, in dem sich Macht verdichtet. Jeder Gegenstand, jedes Ding erscheint dort überscharf und daher einzeln wahrnehmbar: das griffbereite Telefon auf dem Resolute Desk, ein leeres Blatt Papier, auf dem ein Stift schreibbereit abgelegt ist, ein Kästchen mit einem – dem – roten Knopf, der einen Atomangriff auslösen kann (Abb. 62).19 In diesem Kontext erscheinen die alltäglichen Dinge mit weltumspannender Bedeutung symbolisch aufgeladen und wegen ihrer Vertrautheit befremdend, weil sie ja jeder kennt und (bis auf den roten Knopf) benutzt. Es gehört zu Demands Kunst, Dinge zu zeigen, die man überall in der Welt vorfindet, Locher zum Beispiel.20 Zugleich macht die gebrauchsspurenlose Oberfläche diese Dinge alterslos und damit geschichtslos, ein Wachsfigurenkabinett ohne Figuren, die Erinnerung an einen vertrauten Ort, der sich doch entfernt und fremd anfühlt.

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61  Thomas Demand: Presidency I, 2008, C-Print/Diasec

62  Thomas Demand: Presidency IV, 2008, C-Print/Diasec

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Die abgebildeten Räume konfrontieren die Betrachtenden mit sich selbst (Abb. 61). Wer sie aus den Medien kennt, sieht die Fotografien durch die Brille der Medieninformationen, die diese Orte als real und die in ihnen stattgehabten Ereignisse als authentisch vermitteln wollen. Demands ‚Nachbilder‘ stimulieren die Erinnerung und rufen die Medien-Vorbilder aus der Erinnerung ab.21 Die menschenleeren Kulissen bekommen einen Spielraum, in dem die Imagination der BetrachterInnen das selbstgemachte Drehbuch übernehmen und die physischen Leerstellen der Bilder mit Handlung beleben, die der Frage folgt, wie es sich denn damals an so einem Ort wirklich zugetragen haben mag, was die Menschen dort tun oder getan haben mögen.22 Im Fall des Oval Office stellt sich die Frage, wie wohl der amerikanische Präsident hier tagtäglich seine bedeutenden Handlungsgeschäfte vollzieht. Doch die Bilder wollen diese Fragen ausdrücklich nicht beantworten. Sie halten die Spannung zwischen unheimlich vertrauten Bildräumen und der durch subjektive Imagination hinzugefügten Menschen, die in den Räumen Handlungen vorzunehmen beginnen, seien sie staatstragend, gewalttätig oder einfach nur alltäglich. Am Ende kann man erkennen, dass mehr eigene Fantasie im Spiel ist bei der Rekonstruktion von Wirklichkeit, als die viel beschworenen ‚harten Fakten‘ aus den Medien, welche man zu wissen vermeint.

Fiktive Porträts Die digitale Ära der Kunstfotografie wurde 1996 mit der Ausstellung Fotografie nach der Fotografie eingeläutet. Das Titelbild des Ausstellungskatalogs zeigt ein Bild aus Keith Cottinghams dreiteiliger Serie Fictitious Portraits (Abb. 63).23 In ihrem ersten, mit Single betitelten Bild sehen wir die Halbfigur eines etwa 15-jährigen Jungen südländischer Herkunft mit nacktem Oberkörper, dem sich im zweiten, mit Double untertitelten Bild sein Zwillings- und im dritten Teil, Triple genannt, ein Drillingsbruder zugesellt. Die Modelle erscheinen trotz heller Beleuchtung jeweils in einem pechschwarzen, atmosphärelosen Bildraum. In Single wird der Hosenbund des Knaben optisch zum Teil des Hintergrunds, so dass der Oberkörper auf der Bildfläche zu schweben scheint. Dieser Effekt wiederholt sich im zweiten Teil der Arbeit, wo der Junge mit seinem Double erscheint. Auch hier stört die schwarze Umgebung den Eindruck der raumgreifenden Körper. Verfolgt man die Licht- und Schatteneffekte im dritten Teil der Arbeit, so verstärkt sich der Eindruck, dass die Figuren nur in der künstlichen Einstellung von Licht und Schatten, den ein Körper auf den anderen wirft, existieren. Wer sich in Gedanken die Situation im Fotostudio vorstellt und imaginär das von links oben die Figuren beleuchtende Licht ausschaltet, wird feststellen, dass dort nichts ist außer einer schwarzen, opaken Folie, die Bildfläche. Cottinghams Fictitious Portraits sind, wie der Titel nahelegt, computergenerierte Bilder, und die Individuen, die darauf zu sehen sind, sind künstlich erzeugt. Sie existieren auf der Welt nicht als reale, sondern als virtuelle Körper, als ein digitaler Datensatz. Der Künstler hat ein paar Einblicke in seine Werkstatt gegeben, damit die Entstehung dieser Bilder in etwa nachvollziehbar wird (Abb. 64). Es ist übrigens kein Anachronismus, von einer Künstler-Werkstatt zu sprechen, denn Cottingham sitzt nicht nur mit der Computermaus unter der Hand

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63  Keith Cottingham: o.T. (Triple) aus der Serie Fictitious Portraits, 1992, digitale Farbfotografie

64  Studien zur Serie Ficititious Portraits, 1992

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am PC. Zunächst gab es analoge Fotos eines realen Individuums und eine Maske aus Gips. Die Maske setzt das zweidimensionale Gesicht des Jungen auf dem Foto in einen dreidimensionalen Bildkörper um, wobei Cottingham Schönheitsfehler des Originals zugunsten einer perfekt-ebenmäßig geformten Physiognomie mit einem makellos glatten Inkarnat korrigiert hat. Mit der Maske geht Cottingham wie ein Bildhauer vor, der sein lebendes Modell nach den Idealmaßen einer als schön kanonisierten Form bildet, die jedoch Merkmale von Individualität tragen soll. Er verfährt wie die Traditionskunst (etwa Renaissance oder Klassizismus), die sich auf die als Ideal empfundene Antike rückbezieht. In einem nächsten Schritt verlässt das Werk den Raum der Werkstatt, seine Materie wird in elektronische Daten transformiert und betritt damit den virtuellen Raum des Computers. Foto und Maske werden zu diesem Zweck gescannt und für die digitale Weiterverarbeitung am Bildschirm verfügbar gemacht, wobei beide zu einem Datensatz miteinander verrechnet werden. Die gescannten Foto- und Maskendateien werden in einer Bilddatei vereint, in der zunächst die Oberflächen der gescannten Bilder miteinander harmonisiert werden müssen. Als nächstes spielt Cottingham die Möglichkeiten der Physiognomie am Bildschirm durch und legt sie schließlich fest. All dies geschieht noch im Schwarzweiß-Modus des Bildes. Ein weiterer Schritt ist nun die Simulation des Inkarnats, der Augen, und der Haare. Die Digitalisierung des Inkarnats auf der grauen Gesichtshülle wird Pixel für Pixel vorgenommen als eine Art elektronische Form des Malens nach Zahlen. Nach Abschluss der digitalen Bildgenerierung werden die Bilder mit einem Laserprinter gedruckt, dann mit einer Fotokamera auf einem Diafilm belichtet, entwickelt und auf 120 x 100 cm vergrößert. Mit diesem letzten Teil der Bildherstellung wird aus dem digitalen Bild ein analoges Diapositiv, das von nun an paradoxerweise als das Unikat eines digitalen Bildes existiert. Im Foto-Medium soll der Beweis geführt werden, dass die Drillinge nach Roland Barthes’ Diktum ,da gewesen sind‘. Die Einbeziehung des Foto-Mediums am Ende einer komplexen Werkgenese täuscht darüber hinweg, dass die Bilder keine Abbilder menschlicher Individuen sind. Die Bildserie verdankt ihre mediale Existenz im Durchgang durch fotografische, handwerkliche, digitale und schließlich noch einmal fotografische Bildtechniken einem hybriden Bildprozess. Die Hybridität des Bildprozesses kennzeichnet die paradoxe Vereinigung von digitaler und fotografischer Bildtechnik. Während die digitale Technik bildliche Klone generiert, die sich unendlich identisch reproduzieren ließen, produziert die fotografische Technik Unikate auf dem belichteten Film, der sich durch Abzüge mehr oder wenig identisch vervielfältigen lässt. Nach Angaben des Künstlers kritisieren die Fictitious Portraits eine der wichtigsten Erfindungen der Moderne: das Subjekt und den Begriff von Persönlichkeit. Wie Cindy Sherman in ihren History Portraits die historische Porträtmalerei als nach einem Schönheits- und Tugendkanon entworfene Konstruktionen eines idealen Menschenbildes ausstellt, so kreiert Cottingham unter der Maske der Fotografie digitale Klone, die alle visuellen Merkmale von menschlicher Individualität und Persönlichkeit tragen, ohne jedoch Abbilder realer Individuen zu repräsentieren. Da die Knaben eine rein bildliche Existenz führen, bezeichne ich sie im Folgenden als Bildperson. Die Bildpersonen präsentieren sich in kalkulierten Posen, die Blickeinstellungen der BetrachterInnen, ihr Begehren am Bild bedienen. In Single posiert der Knabe seinen Oberkörper

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65  Andrea Mantegna: Heiliger Sebastian, 1480, Öl auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre

für einen begehrenden Blick. In den gesenkten Augen mischt sich Scham mit dem Selbstbewusstsein der eigenen körperlichen Schönheit. Der verweigerte Blick des Jungen kehrt die Objekthaftigkeit des zur Betrachtung ausgestellten Körpers hervor. In Double gleichen sich die Bildpersonen wie Zwillinge. Während die Bildperson links in einer aufrechten Körperhaltung und einem gelassenen Blick kühle Arroganz ausdrückt, stellt die rechte Bildperson Blasiertheit und Androgynität zur Schau. Die Komposition der verdreifachten Bildperson in Triple (Abb.  63) bedient sich der Pyramide als Bildformel für Macht, Überlegenheit und Spitzenstellung, die in der melancholischen Haltung der Profilfigur rechts gebrochen ist. Was Cottingham unter dem Deckmantel der Repräsentation von Individualität und geistig-seelischer Verfasstheit am Computer kreiert, sind nichts anderes als historisch eingeführte, technisch aktualisierte Bildforme(l)n, die schon aus der Traditionskunst bekannt sind. Das ästhetische Ideal des schlanken, muskulösen Körpers in seiner jugendlichen Blüte, den die Renaissance der Antike entnahm und im Humanismus zum Leitbild einer politischen, christlich-antik fundierten Identität gemacht hat (Abb. 65), wird hier in einem klassischen Idealbild des jugendlichen, männlichen und weißen Menschen aktualisiert. Formelhaft transportieren die Bilder Schönheit, Macht, Überlegenheit und seelische Empfindsamkeit in der Maske einer individuellen Existenz, womit sie den Helden der auf antike Kunst rekurrierenden Renaissance-Kunst gleichkommen.

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Doch die Gemeinsamkeiten enden auf der Bildoberfläche. Im Gegensatz zu ihren kunsthistorischen Vorbildern erzählen die Fictitious Portraits keine Geschichte, die das Bild von Schönheit, Charakter und Überlegenheit mit Inhalt und Bedeutung anfüllen würden. Sie sind Bilder nach Vorbildern, aber ohne Ikonografie und deshalb Simulakren im Sinne Baudrillards.24 Sie machen historisch-kanonisierte Bildformen zu leeren Bildformeln, zu Schablonen, die die Betrachtenden mit eigenen, erfundenen Geschichten, mit eigenen Begehren und Wünschen ausfüllen können. Die Bildpersonen sind mit nichts als ihrem eigenen Bild identisch, fiktive Identitäten, die ästhetische Reize um des Reizes Willen aussenden. Daher gehören sie ins Zeitalter der Bilder. Die BetrachterInnen schauen wie ein Narziss in ein virtuelles Spiegelbild: „Das bin ich!“ Was die Betrachtenden identifizieren, ist ein Wunschbild, das ewige Jugend, Schönheit, Überlegenheit und Unsterblichkeit verspricht. Die Renaissance-Bilder überleben in den Fictitious Portraits nur mehr als reine Oberfläche, denn ihre Geschichten von Mut, Tugend, Moral, Stärke, Lehrstücke und Vorbilder des Humanismus in der Renaissance, haben sie verloren. Wer weiß denn heute noch, wer David, der Heilige Sebastian oder Johannes der Täufer waren?

Bilder, posthuman, postfaktisch Keith Cottinghams Fictitious Portraits sind eine Antwort auf die Errungenschaften der Gentechnik, die diese Bildträume lebendig werden lassen wollen. Das hybride Dispositiv in Cottinghams Arbeit nimmt auf das Paradox einer kollektiven Sehnsucht nach der Realität eines virtuellen Körpers Bezug. Während digitale Bildtechnik für den Wunsch nach einem ideal­schönen, virtuellen Körper steht, gedenkt die analoge Fototechnik des Individuums, des Unikalen der menschlichen Existenz. In der Verdopplung und Verdreifachung der zunächst als Single eingeführten Bildperson wird die prätendierte Individualität zunehmend zweifelhaft. Die Antwort auf die Frage, wer die Bildperson sei, wird durch die sukzessive Vervielfachung, das weltlose Ambiente und das künstliche Arrangement der Figuren zu einer Pyramide irritiert. In der Sukzession der Bildfolge entpuppt sich das reine Bildsein des Jungen, der nicht auf biologischem Weg gezeugt, sondern unter elektrotechnischen Bedingungen erzeugt wurde. In dem Moment, wo sich der ontologische Zweifel an der Bildperson eingestellt hat, kommt die Frage nach der Bildgenese und der Medialität ins Spiel. Die als Fotos maskierten Fictitious Portraits verbinden dasselbe bildkritische Argument, das Cindy Sherman ihren History Portraits unterlegt. Auch Cottingham benennt die Malerei als Referenzmedium. Was die Bildtechnik seiner Arbeit betrifft, spricht er von „digitaler Malerei“, die mit Hilfe einer komputierten Montage nicht einfach nur Subjekte abbildet, sondern – wie die Renaissance-Kunst mit ihren Heiligen und antiken Helden – ideale Menschenkörper allgemeiner und individueller Natur erfindet. Die als Postfotografie bezeichneten Bilder entstehen auf dem Bildschirm als einer neuen Art von Leinwand, die im Fluss der Daten Bildpunkte (Pixel) als unendlich viele Bildmöglichkeiten bereitstellt. Eine Softwareindustrie, die ständig an der Entwicklung immer leistungsfähigerer Programme arbeitet, erlaubt es – nicht mehr nur den KünstlerInnen – eine neue Welt am Computer zu erschaffen. Was die Bildästhetik dieser

Wahrheit in Zeiten des Postfaktischen

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digitalen Welten betrifft, so orientiert sich diese an der Fotografie, die für viele ComputerkünstlerInnen ästhetisch wie bildtheoretisch das adäquate Referenzmedium darstellt. Cottinghams digitalen Klone sehen aus wie Fotos und prätendieren in dieser Maske, wie ein Index Realität als Spur in einem Bild einzufangen. Die digitale Bildtechnik verabschiedet mit der Realitätsreferenz zugleich ein humanistisches Welt- und Menschenbild. Übrig bleiben leere Schablonen einer an den Kunstbegriff gekoppelten, über die Jahrhunderte tradierten Ikonografie. Das kurze Zeitalter der Fotografie hat mit der beharrlichen Kritik am fotografischen Index den Bruch mit den humanen ,Bildwerten‘ eingeläutet. Allein die soziale Praxis, die Einschreibung des Glaubens an Objektivität in das Medium der Fotografie, konnte den Traditionsbruch aufhalten.25 Die Realismus-Debatte der Fotografie-Kritik kommt im Zeitalter der digitalen Bilder an ein Ende. Wir betreten die Ära des Posthumanen und Postfaktischen, das Zeitalter der Bilder.

Wahrheit in Zeiten des Postfaktischen „Natürlich verbinden wir weiterhin mit [der Fotografie] einen indexikalischen Bezug zum Realen, dem tatsächlichen Gewesensein des Körpers vor der Kamera, aber in unsere Vorstellung hat sich ein Zweifel, eine Sorge, eine Angst eingeschlichen, und diese Angst bricht in unser Selbstverständnis von Darstellen und Vergegenwärtigen ein. [...] Der Zweifel, daß ‚es vielleicht nicht gewesen ist‘, daß es Stellen auf der Bildfläche – dem materiellen Träger – geben könnte, die niemals durch Photonen eingeschwärzt wurden, dieser Zweifel führt weiter zum Eindruck des Entsetzens. Nicht das Dargestellte bedingt das Entsetzen, sondern die Möglichkeit der Darstellung, die Potentialität einer digitalen Welt, die eine Unterscheidung eines realen Eindrucks von einer im Dunkel des Rechners erzeugten ‚Darstellung‘ nicht mehr zuläßt.“26 Was Hubertus von Amelunxen 1996 angesichts des hereinbrechenden digitalen Zeitalters als Schock empfindet, ist Weltverlust, den er als Verlust des Glaubens an das einst objektive Bild formuliert. Eine verunsicherte Übergangsgeneration lebt in der ständigen Angst vor der Auslöschung des Faktischen, des ,natürlichen‘ Menschen, ,der Natur‘ – der ganzen (von Gott) geschaffenen Welt –, die durch eine unaufhaltsame, von ökonomischer und politischer Macht ausgestatten Technik betrieben wird. Das Ungeheuerliche in dieser Entwicklung, so von Amelunxen, ist die Unsichtbarkeit und der Schein: Im „Dunkel des Rechners“ wird eine neue, vermeintlich perfekte, rein künstliche Welt erschaffen, welche die gewohnte, von der Natur (des Menschen) geschaffene Welt vernichtet. Dies ist die Welt des Artificial Life, der Cyborgs, der Biotechnologie (Klone), wie sie zu Beginn des dritten Jahrtausends Francis Fukuyama in Our Posthuman Future entwirft. Auch Fukuyama befürchtet die Abschaffung des Menschen durch den Menschen und sucht wenigstens noch nach einer Definition der „Natur des Menschen“, bevor die moderne Naturwissenschaft die Überzeugung durchsetzt, dass „in der Zukunft der Mensch nicht länger mehr Sklave seiner Gene, sondern deren Herr [sein wird]“.27 Im enger gefassten Kunstsystem führte eine digitale Bildtechnik dazu, die soziale Praxis der Kameraarbeit in Kunstfotografie und angewandte Fotografie zu spalten. Analog arbeitende

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KunstfotografInnen waren bzw. sind an der Realismus-Debatte nicht interessiert, da sie im autonomen Kunst-Kontext keine Rolle spielt. Nur eine postanaloge, angewandte Fotografie hängt noch, zuweilen hartnäckig und oft mit unlauteren Absichten, an der Realitätsreferenz ihrer Bilder, vor allem dann, wenn sie zur Unterstützung machtpolitischer Absichten verwendet werden. Heike Kanter hat die manipulativen Techniken der digitalen Bildgestaltung analysiert und spricht in diesem Zusammenhang von „ikonischer Macht“, die sich als „latentes Bestreben [äußert] mit dem publizierten Bild eine eigene Weltauslegung durchzusetzen“.28 Dies war aber auch schon vor der digitalen Bildära der Fall, wie die Fotografiegeschichte mit spektakulären Beispielen gezeigt hat.29 Verändert hat sich nur die Bildtechnik, die schneller und perfekter geworden ist. Nehmen wir Goodmans eingangs zitierten Überlegungen der Welterzeugung wieder auf, so ist es erstaunlich, wie sehr die Fotografie einen Abbildbegriff von objektiv gegebener Realität der einen vorgefundenen Welt geprägt hat und immer noch prägt.30 Goodmans Frage, nach welchen Kriterien entschieden wird, ob die Schöpfung einer Welt erfolgreich ist, hatte zur Antwort: wenn sie für wahr gehalten wird. Da Wahrheit ein Wert ist, der den Gesetzen folgt, die sie hervorbringt, können auch Tatsachen erfunden sein. Das Wissen, das postfaktisch erzeugt und kommuniziert wird, ist folglich eine Sache des Glaubens bzw. Vertrauens. Beide haben aber nichts mit Wahrheitsnähe zu tun, da, so Goodman, „die glaubwürdigsten Aussagen sich oft als falsch und die am wenigsten glaubwürdigen sich als wahr erweisen“.31 Der permanente Glaube an eine Falschheit bzw. an die Abweichung von Wahrheit ist solange uninteressant, wie „Glaube oder die Glaubwürdigkeit tatsächlich vollständig und permanent ist“.32 Permanenz im Glauben wird erreicht, wenn z. B. durch maßgebende Testverfahren Proben miteinander in Einklang stehen. Ob ein Bild im Sinne Goodmans „richtig“ ist, testet man, „indem man das Bild [...] sowie das, worauf [es] in irgendeiner Weise Bezug [nimmt], prüft und nachprüft, ob es auf verschiedene Fälle anwendbar ist oder mit anderen Gestaltmustern zusammenpasst“. In der gesellschaftlichen Praxis hat Fotografie trotz gegenteiliger Testergebnisse „hohe Akzeptabilität“ und Konsens in Bezug auf die Zuschreibung von Realitätsabbildung erreicht. Es bedarf im digitalen Zeitalter jedoch, wie das Beispiel der USA und des Präsidenten Donald Trump zeigt, eines Machtapparats, um sogenannte ‚fotografische Fakten‘ als „alternative Fakten“ zu propagieren, d. h. glaubhaft machen zu wollen. Dies verbreitete die Trump-Beraterin Kellyanne Conways angesichts der diskrepanten Aussagen und Bilder über die Anwesenheit von Trump-Anhängern während der Amtseinführung am 20.01.2017.33 Aus Sicht einer jahrtausendealten Bildgeschichte ist die Fotografie als Spur oder Index nur eine kurze Episode, die zwischen dem Äon der Malerei und dem Zeitalter der (digitalen) Bilder liegt. Wie andere Bilder, die der Kategorie Index zuzuordnen sind – das Schweißtuch der Veronika, das Grabtuch Christi, jede Totenmaske oder das legendäre ,erste‘ Bild des an der Wand fixierten Schattenbilds des Geliebten der Dibutades-Tochter – hat sie vor allem den Glauben an Bilder bis zur Gewissheit gestärkt.34 Das episodische Auftreten von indexikalischen Bildern als quasi-ontologische Beweisstücke für eine Realität außerhalb des Bildes zeigt die Pole auf, zwischen denen sich Bildermachen und Bildverwendung bewegen: Wer die Welt oder sich selbst im Bild verdoppelt sehen will, glaubt an das Äußere des Bildes und betrachtet es wie ein

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Spiegelbild oder ein Fenster. Wer die Welt oder sich selbst neu erfunden oder entdeckt sehen will, glaubt an das Innere des Bildes, an eine fiktive Bildwirklichkeit. Das fotografische Bild hat mit der Erfindung evidenter Tatsachen diese beiden Bildzugänge zur Deckung gebracht. Baudelaire hasste die Fotografie dafür, dass sie, wie auch er glaubte, die Natur ganz ungeschminkt wiedergibt, und bekannte mit dem Diktum, „wie die Einbildungskraft die Welt geschaffen hat, so regiert sie diese auch“, dass eine Neuschöpfung von Welt nur die Kunst vermag.35 Dies trifft gleichermaßen auf alle Bilder – und eben nicht nur auf die Kunst – zu, auch auf die Fotografie. Im Zeitalter der Bilder zeigt sich, wie fundamental Baudelaires Diktum ist: Die Welt wird von den globalen Technikkonzernen geschaffen und auch regiert.

Digital/postidigital: Abbildung 66 zeigt einen jungen Mann namens Aaron Brown. Er wurde 1984 geboren, ist 182 cm groß, wiegt 72 Kilo, hat einen Leberfleck am Hals und lebt in Cleveland im Bundesstaat Ohio. Sein Schöpfer heißt Curtis Wallen, lebt in New York im Stadtteil Brooklyn und ist Künstler. Wallen beschäftigte sich mit der Frage der Identität im digitalen Zeitalter, das es (fast) jedem ermöglicht, sich neu zu erfinden, d. h., sich unter anderem Namen und anderem Aussehen eine mediale Existenz als Avatar zu verschaffen.36 Online-Überwachung und Terrorismus-Fahndung, Geschäftsgebaren von Facebook und Google, brachten ihn darauf, seine reale Existenz abzuschaffen und sich eine virtuelle Existenz zu erfinden. Wie schwer das ist, zeigt der Weg des Künstlers. Er richtete sich eine neue E-Mail-Adresse ein, kaufte sich einen gebrauchten Laptop, löschte alle Daten auf dem Rechner und installierte eine Verschlüsselungssoftware. Seine neue Existenz begann mit einem Foto, das er aus den Gesichtern seiner Mitbewohner mit Hilfe von Photoshop zu einem Passfoto von Aaron Brown verrechnete. Doch das Foto reichte nicht aus für eine Existenz, Brown brauchte ein Leben, eigene Interessen, Spuren, die er in der Welt hinterließ, und einen Ausweis. Mit Hilfe des Netzwerks Tor, das zur Anonymisierung von Verbindungsdaten verwendet wird, fand er im Deep Web, in dem alle Daten verschlüsselt oder durch Passwörter geschützt sind, eine Adresse, die ihm gegen eine Zahlung in Form der digitalen Kryptowährung Bitcoin Ausweispapiere machte, einen Studentenausweis, eine Autoversicherungskarte, einen Bootsführerschein u. a. Es sei leicht, sich eine neue Person im Internet zu erschaffen, aber es ist nicht leicht, es richtig zu machen. Das Schwierigste seien die richtigen Programme, Netzwerke und Deep-Web-Marktplätze zu verwenden, die es den Spezialisten erschweren, einen Weg zurück zur realen Existenz des Schöpfers von Brown zu finden. Der sicherste Weg, die virtuelle Existenz zu wahren und ihren Schöpfer nicht preiszugeben, war das Notieren der diversen Passwörter in einem Notizbuch. An diesem Punkt kreuzen sich die digital-virtuelle und die analog-reale Existenz. Im April 2013 warf der Briefträger einen Brief aus Ohio mit Aaron Browns Führerschein in den Briefkasten. Die pinke Plastikkarte mit der Unterschrift des Gouverneurs, die in den USA wie ein Personalausweis funktioniert, legitimierte Browns Existenz. Er hat seinen Twitter-Account @aaronbrown216 mit einem Programm verbunden, sodass jeder in seinem Namen twittern kann. Am 14.11.2016 schrieb jemand: „I am

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66  Curtis Wallen schuf Aaron Brown, 2014, online

still here“. Das Spiel mit den Identitäten mündet unter anderem in eine reale Kunstgalerie, die man aber nur im Internet aufspüren kann. Die Intention des Projekts ist politisch und fällt nicht zufällig in das gleiche Jahr, in dem der amerikanische Geheimagent Edward Snowden seine Informationen über die weltweiten Überwachungs- und Spionagetätigkeiten des NSA enthüllte. Wie Edward Snowden zählt Curtis Wallen die Sicherung von Anonymität in privaten Räumen zu den Grundrechten der BürgerInnen und hält sie für wesentlich für den Fortschritt der Gesellschaft. Es hat seinen Preis, sich vor Datenspionage zu schützen: Wallen verkaufte sein Handy, hat sich bei Facebook abgemeldet, die Kamera seines Laptops zugeklebt, arbeite mit Linux, verschlüsselt seine E-Mails und benutzt Sicherheitsfilter beim Surfen im Internet. Aaron Browns virtuelle Existenz ist ein Kunstprojekt unter vielen, die sich mit Konsequenzen des Digitalen in der Alltagspraxis auseinandersetzen. Nicholas Negroponte, Informatiker am MIT, gab aber bereits 1998 in einem Interview die folgende Prognose für ein Zeitalter Beyond Digital: „The decades ahead will be a period of comprehending biotech, mastering nature, and realizing extraterrestrial travel, with DNA computers, microrobots, and nanotechnologies the main characters on the technological stage. Computers as we know them today

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will a) be boring, and b) disappear into things that are first and foremost something else: smart nails, self-cleaning shirts, driverless cars, therapeutic Barbie dolls, intelligent doorknobs that let the Federal Express man in and Fido out, but not 10 other dogs back in. Computers will be a sweeping yet invisible part of our everyday lives: We’ll live in them, wear them, even eat them. A computer a day will keep the doctor away.“37 Negropontes Visionen sind in 2020 so aktuell wie konkret, allerdings noch nicht in Gänze und für jeden verwirklicht. InformatikerInnen, die im Verein mit den Großkonzernen der Digitalwirtschaft an einer KI-Offensive arbeiten und PolitikerInnen mit Zukunftsszenarien ihrer als disruptiv bezeichneten Technologien vor sich hertreiben, arbeiten daran, dass beispielsweise das autonome Fahrzeug im Verkehr der Städte wahr wird. Welterzeugung im Sinne Goodmans ist auch im Digitalzeitalter eine Sache eines Umbaus des bereits Vorhandenen. Die digitale Technik verlagert sich jetzt aber weg vom Bildschirm in die vom 3D-Drucker erzeugten und digital vernetzten, gesteuerten Dinge, d. h., BildbetrachterInnen werden zu DingbenutzerInnen, die eine unsichtbare und für die meisten nach wie vor unverständliche Technik steuert. Der Weg, so sieht es aus, geht weg von den flachen Bildschirmbildern hinein in die greifbare Welt im „Internet der Dinge“, welche die von Großkonzernen gesteuerte Politik den Bürgern zur Daseinsbewältigung aufzwingen wollen. Negropontes Vision eines Internets der Dinge hatte eine politische Intention, die er als eine radikale Gesellschaftstransformation beschreibt, eine totale, globale Programmierung der Menschheit mit einer Technologie, die in den Händen einiger weniger Internetkonzerne liegt. Jaron Lanier, Computerwissenschaftler und -kritiker, analysiert die Ökonomie des Internets und warnt in seinem Buch Wem gehört die Zukunft? vor den von ihm so genannten „Sirenenservern“, die „Daten im Netzwerk [sammeln], für die sie meist nichts bezahlen müssen. Die Daten werden mit den leistungsfähigen Computern analysiert, die von Spitzenkräften gewartet werden. Die Ergebnisse der Analysen werden geheim gehalten, aber dazu genutzt, die übrige Welt zum eigenen Vorteil zu manipulieren“.38 Gesucht werden nun Wege aus diesem Missbrauch von Big Data. Lanier sieht sie kurz gesagt darin, dass all diejenigen, die wertvolle Daten im Internet produzieren, dafür bezahlt werden, damit die Digitalwirtschaft demokratisiert wird. Was aber folgt aus diesen Visionen für die Zukunft der Traditionskunst?

Digitale Museen Das Metropolitan Museum in New York ist seit 2017 damit beschäftigt, seine rund 1,5 Millionen Kunstobjekte zu digitalisieren und damit allen Menschen zugänglich zu machen, die Internetzugang haben. Microsoft ist damit beauftragt, KI-Software zu entwickeln, hat bereits 406.000 Kunstwerke in Datensätze von Highresolution-Qualität umgewandelt und in die Datenbank des Museums eingespeist, wo sie jeder nicht nur am Bildschirm bewundern, sondern auch für eigene Zwecke downloaden kann. Das Metropolitan Museum zeigt sich auf seiner Website ferner erfreut und dankbar, mit Google zusammenzuarbeiten. Der Internetkonzern verbreitet die Kunst in der BigQuery-Datenbank via Artstor, Wikimedia, Creative Commons Search und GitHub im Open Access: „Whether you’re an artist or a designer, an educator or a student, a

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professional or a hobbyist, you now have more than 406,000 images of artworks from The Met collection to use, share, and remix – without restriction. This policy change to Open Access is an important statement about The Met’s commitment to increasing access to the collection in a digital age.“39 Kunst im Museum – bis dato ein exklusiver Teil der westlichen Hochkultur, dem sich eine gebildete Mittelschicht widmete –, ist nun universal verfügbar, jedenfalls als Big Data am Bildschirm. Auf seiner Homepage quantifiziert das Museum 2019 den wachsenden Onlineverkehr (17%) und den Download der Bilder (64%) und sieht sich in der Open-Access-Initiative bestätigt, denn: „Users who download an image have a significantly stronger engagement with the collection: they spend five times longer on the site, and visit five times more pages. “40 Das Museum fördert den spielerischen Gebrauch der digitalen Bilder, etwa auf Twitters Face-Swap the Met, wo man Gemälde in der Weise verändern kann, dass beispielsweise das Gemälde einer Dame mit Hündchen auf dem Arm von Fragonard zu einer hundegesichtigen Dame mit damengesichtigem Hund auf dem Arm mutiert (Abb. 67).41 Richard Kniple, als Wikimedian-in-Residence des Metropolitan Museum bestellt, postet seine Begegnungen mit der Kunst in einem Blog, denkt ausschließlich in Problemen, die Kunst-Big-Data für einen Open Access auf Wikimedia betreffen, und verwendet eine Formulierung, die vielleicht IT-SpezialistInnen adressiert, deren Diktion sich von der über Traditionskunst reflektierenden KunsthistorikerInnen bereits meilenweit entfernt hat: „For example, there is no standard way to upload such large image batches to Commons. After going through several options, each valuable but imperfect in their own way, the tool I chose for the task was GWToolset, which is able to relatively easily convert the CSV metadata of the Met Open Access release, providing relevant categories and descriptions for fields on the Information template on Commons. At the same time, we sought to expand the range of Met artworks available with distinct Wikidata items, adding and importing data for all of the collection highlights from the museum website, including the non-paintings and three-dimensional works that were often missing. All of this was immensely assisted by supporters from WikiProject Sum of All Paintings, which has been active in creating Wikidata items for paintings in particular from all museums, and is now helping us with the Met project in all artwork genres.“42 Der Wikimedian avanciert zum IT-Chefkurator der Sammlung, ein nur mehr gigantischer, zu managender Datensatz. Die kunstwissenschaftliche Seite des Projekts wird, wie wir erfahren, dem hochauflösenden Digitalbild eines Kunstwerks subordiniert: „I’ve found that a Wikimedia-compatible high-quality image is a powerful spur to start or im­ prove an article on an artwork, making the writer’s text more meaningful and appreciated. We worked with curators to help select artwork articles, including with the Department of Arms and Armor to start Armor of Emperor Ferdinand I, which is one of only a handful of articles on historical suits of armor. This had some interest as an underdeveloped genre of works on Wikipedia, and connected also to a number of new articles written within the scope of Wiki Project Fashion. In addition to the spontaneous efforts prompted by the availability of new images, we also encouraged editors to contribute in structured ways. At the museum itself, an edit-a-thon was hosted by the Thomas J. Watson Library, a pioneer of Wikimedia projects at the

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67  Face-Swap the Met: Fragonard, Dame mit Hündchen

Met predating the Open Access initiative, and participants at the event benefited greatly from the librarian expertise present. “43 Eine stille Revolution hat stattgefunden, an der alle großen Museen dieser Welt teilhaben wollen, wie Hubertus Kohle in Museum digital ausführt.44 Die Aufmerksamkeit der Kunstinteressierten soll vom Original ab- und zum Digitalisat am Bildschirm hingelenkt werden. Das Projekt wird als ,Demokratisierung von Kunst‘ deklariert, es geht um die Erweiterung des Ausstellungsraumes ins Digitale, um Vermittlung, Kommunikation und Präsentation von Kunst – wohlgemerkt im digitalen Raum.45 Die Exklusivität des Kunstoriginals, das haben Museumsleute und IT-Experten gemeinsam erkannt, ist Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg der Digitalkultur: „Most of the people who are interested in art aren’t going to get on a plane and come here. [...] It would be great if they came. But it’s O. K. if what we’re doing is reaching them in just a digital way“, meint Sree Sreenivasan, ehemaliger Chief Digital Officer des Metropolitan Museum of Art.46 Das Metropolitan Museum beschäftigte 2019 circa 80 IT-MitarbeiterInnen, ein Vielfaches mehr als das für Erforschung und Präsentation der Originalkunst zuständige kunstwissenschaftliche Personal.

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Digital Humanities Auch die Kunstwissenschaft wendet sich vom Original ab hin zu den Big-Data-Projekten der Digital Humanities.47 2015 hat das Harvard Computercenter metaLAB eine Lightbox Gallery in den Museumsraum gestellt, um Besucher dazu zu bringen, ihre eigene Fragen an die ausgestellten Objekte zu stellen, wie Angela Dressen ausführt: „Mit Hilfe von Text Mining und Data Mining, Netzwerkanalyse und Mapping können Objekte unterschiedlich betrachtet und kombiniert werden. Für die Lightbox wurde technisch gesehen jedes Kunstobjekt als Medium digital aufgenommen und indexiert. Wenn ein Museumsbesucher ein physisches Objekt ausgesucht hatte, konnte er dies auf einer elektronischen Objektkarte anzeigen lassen, in welcher alle Museumsgegenstände als ,thumbnail images‘ mit Daten eingespeist waren. Ihm wurde nicht nur das Objekt selbst mit seinen Daten angezeigt (Lokalisierung im Museum, Herstellung, Datierung,etc.), sondern auch Farbkompositionen und -inhalte des gewählten Objektes (Farb­ histogramm) sowie farb- oder formverwandte Objekte. Die Lightbox gebraucht dabei computergestützte und algorithmische Methoden, die es ermöglichen, nicht nur neu über Objekte nachzudenken, sondern sie bezieht auch die BetrachterInnenperspektive ein, die unterschiedliche Wahrnehmungen und Gefühle auslösen kann. Außerdem konnten die BetrachterInnen innerhalb der Lightbox Ausstellungsgegenstände neu ordnen und eine andere Ausstellungsanordnung vorschlagen und so mit den Exponaten experimentieren und sie neu erleben.“48 Mit Hilfe der Lightbox Gallery wird im Havard Museum die Aufmerksamkeit vom Kunstoriginal abgezogen, um MuseumsbesucherInnen zum Spiel mit den Digitalreproduktionen einzuladen, etwa die Sammlung digital neu zu arrangieren. Digitale Kunsterfahrung, so sieht es auch das Metropolitan Museum, ermöglicht einen persönlichen, subjektiven, unhistorischen, emotionalen Zugang zur Kunst, der über die Bereitstellung von Zugriffsprogrammen auf die Datenbank des Museums ermöglicht wird, die einen dezidiert nicht-akademischen Kunstzugang favorisieren.49 Die Software, so erfahren wir, ist in der Lage, Ähnlichkeiten herauszufinden und auf dem Bildschirm anzuzeigen. Farbvergleiche können am Digitalisat angestellt werden. Wahrnehmungen, Gefühle, Experimente, Erlebnisse sollen auf diese Weise erzeugt werden oder, wie es die digitalen Museen betonen, das Kunstwerk soll verlebendigt werden – und zwar am Bildschirm mit und durch das Digitalisat. Gibt es jetzt noch einen Grund sich dem Original zuzuwenden? In den Digital Humanities ist Big Data in der Lage, Erkenntnisse der noch analog, d. h. per Autopsie, verfahrenden KunsthistorikerInnen ex post zu bestätigen, beispielsweise, wenn die These des Künstlers David Hockney widerlegt wurde, dass Jan van Eyck seine Gemälde mit Hilfe von Spiegelprojektionen auf der Leinwand konstruiert hat. Ein – wie ich es nenne – radikaler Positivismus des 21. Jahrhunderts ist hier am Werk. Man glaubt der Maschine und vernichtet den erkennenden Geist des ExpertInnen, wenn das Fazit wie folgt lautet: „Mit der computergestützten Methode wurde bestätigt, was vorher in der Kunstgeschichte schon vermutet wurde, nämlich dass es um 1500 derartige Mittel zur optischen Reproduktion noch nicht gab.“50 Die hier als Erkenntnisse der Digital-Humanities-Methoden gepriesenen Ex-Post-Bestätigungen der Traditionskunstgeschichte, sind, was die hochgestimmten Erwartungen der KI befürwor-

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tenden KunstwissenschaftlerInnen leicht vergessen machen, Erkenntnisse, die physisch völlig losgelöst vom Kunstwerk gewonnen werden, das nun unbeachtet an der Museumswand hängt. Das Originalkunstwerk ist in Gefahr. Es war immer in Gefahr, wenn man bedenkt, wie es durch Kriege, Naturkatastrophen oder andere Gewaltakte vernichtet wurde. Im Zeitalter der Bilder setzen von reichen Auftraggebern bezahlte IT-Ingenieure auf die virtuelle Wiederherstellung von untergegangenen Kunstwerken, wie etwa die 2001 von den Taliban zerstörten Buddha-Skulpturen von Bamiyan, die als Hologramm wiederauferstehen, da ihre materielle Rekonstruktion zu aufwendig und zu teuer ist. „Manche von Kriegen heimgesuchten Gegenden der Welt werden vielleicht nur noch als digitale Scheingebilde zurückkehren, vorausgesetzt Pläne, Photographien oder Ähnliches sind überliefert.“51

Unhuman Art Am 25. Oktober 2018 wurde das sogenannte Porträt Edmond de Belamy bei Christie’s in New York für 432.500 US-Dollar versteigert (Abb. 68).52 Das Gemälde ist das Produkt eines GAN-Algorithmus (Generative Adversial Network), in dem Programmcodes trainiert werden, immense Datenmengen nicht nur zu verarbeiten, sondern sich in der Verarbeitung von Daten gegenseitig zu überbieten, um voneinander zu lernen. Das Leinwandbild ist nicht von Menschenhand gemacht, sondern das Produkt einer Künstlichen Intelligenz und mit einer Zeile des Programmiercodes signiert. Eine Pariser Künstlergruppe namens Obvious ist es nun erstmalig gelungen, ein Stück „Unhuman Art in the Age of AI“53 als Kunst zu verkaufen. Die versteigerte Leinwand provozierte einen Skandal – nicht etwa wegen ihres hohen Preises in Bezug auf die bescheiden zu nennende ästhetische Qualität des Bildes, sondern als publik wurde, dass Obvious einen Algorithmus verwendet hat, den der sich selbst als „artist working with artificial intelligence“ nennende Robbie Barrat aus West Virginia entwickelt hat. Barrat hatte damit bereits eine Reihe von Pseudo-Gemälden, die er im Stil des Belamy auf seinen GAN-Code trainiert hat, produziert und ins Netz gestellt. Den eigentlichen Skandal sahen der KI-Künstler Barrat und mit ihm viele Kritiker nicht nur darin, dass die Pariser Künstlergruppe Obvious sich den als Open-Source-Lizenz von Barrat selbst veröffentlichten Code angeeignet hatte, um damit am Kunstmarkt Geschäfte zu machen.54 Die Künstlergruppe Obvious informierte mit dem Post eines Screenshots auf Twitter, dass sie Barrats GAN-Algorithmus verwenden wolle, um „KI-Kunst zu demokratisieren“, und fragte, ob Barrat damit einverstanden sei: Ja, er war es. Als Kern des Skandals wird aber seit der Christies-Auktion diskutiert, dass Barrat als Urheber des Gemälde-Codes nicht genannt wurde – denn darum hatte er im Chat mit Obvious ausdrücklich gebeten. Es geht um die Frage von Werk und Urheberschaft, und der Programmierkünstler Barrat zeigt sich nach der Auktion sichtlich gekränkt darüber, dass „nun trotz der wirklich beeindruckenden Arbeit auf allen Feldern der KI-Kunst ausgerechnet diese uninspirierte, unterkomplexe GAN-Generation [also Obvious, C. K.] und die Vermarkter [das Auktionshaus Christie’s, C. K.] dahinter die ganze Publicity absahnen. Es ist einfach unfair denen gegenüber, die wesentlich mehr leisten als nur einen mundgerecht servierten Algorithmus mit einer Tonne

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68  Obvious / Robbie Barrat: Edmond de Belamy, GAN-Painting, 2018, Tinte auf Leinwand

Beispielbildern zu füttern und dessen Ergebnisse auszudrucken“.55 Barrat spielt darauf an, dass auch er nicht der eigentliche Urheber des Bildes ist, sondern im Grunde diejenigen Programmierer, die die GAN-Code-Technologie entwickelt haben, namentlich jener KI-Forscher Ian Goodfellow, auf den der Titel des Gemäldes Belamy anspielt. Wochen nach der Versteigerung dankten schließlich die Pariser Künstler dem Pionier des Codes und auch dem KI-Künstler Robbie Barrat. Im Zeitalter der KI-generierten Bilder werden die harten Kerne des westlichen Traditionskunstbegriffs verabschiedet: Autorschaft/Genialität, Bilderfindung/Imagination, Eigenhändigkeit, Original/Originalität, die bereits Marcel Duchamp vor 100 Jahren mit seinen Readymades geknackt hatte. Infolgedessen konnte der Traditionskunstbegriff zum „Alles kann Kunst sein“ des 20. Jahrhunderts gedehnt werden, wie im Kapitel 2 skizziert. Wer im Fall des Edmond de Belamy Urheber des Werkes ist, lässt sich nicht einfach sagen. Im strengen Sinn der Werkgenese ist es der Algorithmus, der hier in annähernd ,genialer‘ Weise Datenmengen zu einer neuen, originellen Schöpfung komponiert, die im Ergebnis wohl nicht jeden Kunstfreund überzeugen wird. Vermutlich ist es eine Frage der Zeit, bis wir uns an diese Kunstprodukte gewöhnt haben. Zurückbleiben werden dann Nostalgiker, d. h. TraditionskunstliebhaberInnen. Nicht jeder wird von Algorithmen generierte Bilder als Kunst akzeptieren, doch ist zu prognostizieren, dass Digital Natives ihre Sicht auf Kunst bereits der digitalen Ästhetik angepasst haben. Der am Traditionskunstwerk geschulte Blick wird aussterben. Am Art and Artificial Intelligence Lab (AAIL) der Rutgers University in New Jersey arbeitet Professor Ahmed Elgammal seit 2012 an der Erfindung von Kunst-Algorithmen. Elgammal programmierte ein Creative Adversial Network (AICAN), in das er 80.000 Digitalisate von Gemälden des 15. bis 20. Jahrhunderts einspeiste (Abb. 69). Im Unterschied zum GAN, der emulativ-nachahmend verfährt, soll das AICAN nicht Stile imitieren, sondern Abweichungen von Kunststilen erler-

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69  Ahmed Elgammal: Example of AICAN generations, 2016

nen.56 In der AICAN-Entwicklung stecken viele Stunden harter Programmierarbeit, denn es kommt nicht sofort zu befriedigenden Ergebnissen. Doch schließlich wird die Arbeit belohnt: „The machine developed an aesthetic sense. [...] It learned how to paint. “57 Das Bild sieht jetzt so aus, als hätte es ein Mensch gemalt, womit das Ziel der GAN- oder AICAN-produzierten Digitalästhetik benannt ist. Die Programmierung von „stilistischer Ambiguität“ und „Abweichung von Stilnormen“ soll digitale Kreativität erzeugen oder emotionaler ausgedrückt: „Wow! If this was in a museum, you would love it.“ Interessant ist auch die kunstwissenschaftliche Expertise des Computers, die der KI-Küns­ tler prägnant formuliert. Danach führt KI den Beweis, dass die Kunstgeschichte auf Abstraktion hinauslaufen musste: „Since the algorithm works by trying to deviate from style norms, it seems that it found the answer in more and more abstraction. That’s quite interesting, because that

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tells us that the algorithm successfully catches the progression in art history and chose to generate more abstract works as the solution. So abstraction is the natural progress in art history.”58 Stilabweichungen, so bringt Elgammal das ihn befriedigende Output seines Algorithmus mit Martindals The Clockwork Muse: The Predictability of Artistic Change (New York 1990) auf eine Kurzformel, wurde von KünstlerInnen erfunden, um das „Erregungspotenzial“ der SammlerInnen und GaleristInnen zu steigern. Der Triumph über die in den 1960er-Jahren mit Desmond Paul Henrys Drawing Machines beginnende Computerkunst wird jedoch darin gesehen, dass mit AICAN-Bildern zum ersten Mal „[humans] has been completely expunged [...] from the real-time creative loop“.59 Zu fragen ist noch, wer denn hier Menschen aus dem kreativen Prozess verbannt hat. Manchem Skeptiker aus der digitalen Kunstwelt, wie Michael Connor, der die Digital-Art-Plattform Rhizome betreibt, sind Elgammals Imitationsversuche nicht kreativ genug. Sie bringen Kunst hervor wie jeder Kunstfälscher: „This kind of algorithm art is like a counterfeit. It’s a weird copy of the human culture that the machine is learning about.”60 Doch Elgammal meint, dass die Codes besser werden in der Zukunft: „By digging deep into art history, we will be able to write a code that pushes the algorithm to explore new elements of art. [...] We will refine the formulations and emphasize the most important arousal-raising properties for aesthetics: novelty, surprisingness, complexity, and puzzlingness.”61 Wir sind im Zeitalter der Bilder, das Traditionskunst verabschiedet.

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1 Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1990 (Cambridge 1978), S. 13. 2 Ebd., S. 19. 3 Ebd., S. 31. 4 Ebd., S. 32. 5 Ebd., S. 33. 6 Ebd., S. 118. 7 Ebd., S. 127. 8 Ebd., S. 130. 9 Hans Dieter Huber: Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfildern-Ruit 2004, S. 64. 10 Ebd., S. 66. 11 Ebd., S. 130. 12 Belting: Das echte Bild. Bilderfragen als Glaubensfragen, München 2005, S. 81–85. 13 Huber: Bild Beobachter Milieu, S. 66–67. 14 Peter Hendricks. Das Ravensburgprojekt, hg. v. Claudio Hils und Thomans Knubben, Köln 2004. 15 Peter Hendricks: Das Ravensburgprojekt, unveröffentlichtes Manuskript, S. 1. 16 Ebd. auch die folgenden Zitate. 17 Christina Pack: Dinge. Alltagsgegenstände in der Fotografie der Gegenwartskunst, Berlin 2008, S. 166–188. 18 Bart Lootsma: Türen, Ovale, Skulpturen. Ein Interview mit Thomas Demand anlässlich seiner Arbeiten Presidency und Embassy, in: Thomas Demand. Executive. Von Poll zu Presidency, hg. v. Museum moderne Kunst Stiftung Ludwig Wien, Wien 2012, S. 67–105, hier S. 88. 19 Karl Schlögel: Arcana Imperii, in: Thomas Demand. Executive, S. 11–27, hier S. 21–24. 20 Lootsma: Interview mit Thomas Demand, S. 96. 21 Michael Diers: War Cuts. Über das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Pressefotografie, in: ders.: Fotografie, Film Video. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg 2006, S. 83–110. 22 Zum hirnphysiologischen Konstruktivismus der Bilderfahrung siehe Huber: Bild Beobachter Milieu, S. 136– 143. 23 Fotografie nach der Fotografie, hg. v. Hubertus von Amelunxen / Stefan Iglhaut / Florian Rötzer, AK München u. a.O., München 1996; zu Cottinghams Fictitious Portraits, ebd. S. 160–165; Christiane Kruse: Bilder, Medien und Masken. Zum anthropologischen Doppelsinn des Bildermachens, in: Norbert Bolz / Andreas Münkel (Hg.): Was ist der Mensch?, München 2003, S. 153–177, hier S. 176–176. 24 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982 (Paris 1976). 25 Pierre Bourdieu: Eine illegitime Kunst, Frankfurt a. M. 1983, S. 85; vgl. auch Steffen Siegel: Belichtungen. Zur fotografischen Gegenwart, München 2014, S. 40. Siegel schreibt von einem „besonderen Verhältnis zwischen Medium und Wirklichkeit, das als theoretische Modellierung von Nähe und Authentizität ernstgenommen werden [kann]“. 26 Hubertus von Amelunxen: Fotografie nach der Fotografie. Das Entsetzten des Körpers im digitalen Raum, in: Amelunxen / Iglhaut / Rötzer (Hg.): Fotografie nach der Fotografie, S. 116–123, hier S. 123. 27 Francis Fukuyama: Das Ende des Menschen, Stuttgart/München 2002 (New York 1992), S. 214. 28 Heike Kanter: Ikonische Macht – zur sozialen Gestaltung von Pressebildern, Leverkusen-Opladen 2015. 29 Andreas Schreitmüller: Alle Bilder lügen: Foto, Film, Fernsehen, Fälschung, Konstanz 2005; Rainer Fabian: Die Fotografie als Dokument und Fälschung, München 1976. 30 Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, hg. mit einem Vorwort von Herta Wolf, Amsterdam und Dresden 1998 (Paris 1990), S. 27–57. 31 Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 150–151. Die Wahrheit dieser Aussage haben 2016 die Meinungsumfragen zum Austritt Englands aus der Europäischen Union bestätigt. 32 Ebd., S. 151. 33 http://edition.cnn.com/2017/01/22/politics/kellyanne-conway-alternative-facts/index.html (letzter Zugriff 03.03.2017). 34 Hans Belting: Das echte Bild. 35 Baudelaire: Der Salon 1859, S. 144. 36 https://www.theatlantic.com/technology/archive/2014/07/how-to-invent-a-person-online/374837/ (letzter Zugriff 08.02.2017).

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37 https://www.wired.com/1998/12/negroponte-55/ (letzter Zugriff 09.11.2018). 38 Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft?, Hamburg 2014 (New York 2013), S. 88. 39 https://www.metmuseum.org/about-the-met/policies-and-documents/open-access (letzter Zugriff 25.02.2019). 40 museum.org/blogs/digital-underground/2017/six-months-of-open-access-plus-google-bigquery (letzter Zugriff 25.02.2019). 41 https://twitter.com/artfaceswaps?lang=en (letzter Zugriff 25.02.2019). 42 https://www.metmuseum.org/blogs/collection-insights/2017/wikimedian-in-residence (letzter Zugriff 27.02.2019). 43 https://blog.wikimedia.org/2017/07/25/met-open-access-initiative/ (letzter Zugriff 25.02.2019). 44 Hubertus Kohle: Museum digital. Eine Gedächtnisinstitution sucht Anschluss an die Zukunft, Heidelberg 2018. 45 Zusammenfassung eines Zitats von Holger Simon, Geschäftsführer einer Agentur für digitale Kulturkommunikation; ebd., S. 14-15. 46 Hubertus Kohle: Museum digital, S. 13. 47 Angela Dressen: Grenzen und Möglichkeiten der digitalen Kunstgeschichte und der Digital Humanities – eine kritische Betrachtung der Methoden, in: Critical Approaches to Digital Art History, hg. v. Angela Dressen und Lia Markey, in: kunsttexte.de, 4/2017. Kritisch äußern sich dazu z. B. Claire Bishop: Against Digital Art History, in: Digital Art History, 3/2018, https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/dah/article/ view/49915/43450 (letzter Zugriff 27.02.2019). 48 Ebd., S.  7; siehe zur Lightbox Gallery den Film auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=01yvoE72obA (letzter Zugriff 27.02.2019). 49 Kohle: Museum digital, S. 56–59. 50 Dressen: Grenzen und Möglichkeiten, S. 10. 51 Kohle: Museum digital, S. 69–70. 52 Siehe dazu den Bericht von Bernd Graff in Süddeutsche Zeitung vom 02.01.2019, https://www.sueddeutsche. de/kultur/kuenstliche-intelligenz-kunst-urheberrecht-1.4269906 (letzter Zugriff 28.02.2019). 53 So lautet der Titel der von der Kunsthistorikerin Emily L. Spratt kuratierten Ausstellung in Los Angeles und Frankfurt am Main (2017) mit Bildern aus dem Art and Artificial Intelligence Lab (AAIL) der Rutgers University. 54 Oder wie Barrat es am Tag der Auktion twitterte: „Am I crazy for thinking that they really just used my network and are selling the results?“, https://twitter.com/drbeef_/status/1055285640420483073?lang=de (letzter Zugriff 28.02.2019). 55 Bernd Graff in Süddeutsche Zeitung vom 02.01.2019. 56 Ahmad Elgammal u. a.: CAN: Creative Adversial Networks Generating „Art“ by Learning About Styles and Deviating from Style Norms, 2017 , https://arxiv.org/pdf/1706.07068.pdf (letzter Zugriff 28.02.2019). 57 Siehe die folgenden Zitate bei Rene Chun: It’s Getting Hard to Tell If a Painting was Made by a Computer or a Human, https://www.artsy.net/article/artsy-editorial-hard-painting-made-computer-human (letzter Zugriff 28.02.2019). 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd.

7  WAS VERLOREN GEHT

„Can the great master be brought back to generate a new painting?“ thenextrembrandt.com „It’s been almost four centuries since the world lost the talent of one of its most influential classical painters, Rembrandt van Rijn. To bring him back, we distilled the artistic DNA from his work and used it to create The Next Rembrandt. We examined the entire collection of Rembrandt’s work, studying the contents of his paintings pixel by pixel. To get this data, we analyzed a broad range of materials like high resolution 3D scans and digital files, which were upscaled by deep learning algorithms to maximize resolution and quality. This extensive database was then used as the foundation for creating The Next Rembrandt.“1 Mit einer Software und einem Scanner hat ein niederländisches IT-Team 346 Rembrandt-Porträts in einem Datensatz von 148 Millionen Pixel vereint, der aus den vielen Rembrandts ein neues Rembrandt-Porträt errechnet hat. Ein 3D-Drucker generierte in 13 Schichten UV-Tinte ein Gemälde auf einer Kunststoffleinwand, das aussieht wie ein ,echter‘ Rembrandt: ein Herr mit Hut und Kragen nach rechts blickend (Abb. 70 siehe linke Seite). Die Welt besitzt einen „neuen Rembrandt“, wenngleich dieser nicht echt zu nennen ist. Es handelt sich um einen Rembrandt ohne Geschichte, ohne einen Künstler, der vor der Staffelei Farbe mit dem Pinsel auf eine Leinwand aufträgt. Und: Der Mann auf dem Bild wurde nie geboren, d. h., er wurde als Bild geboren.

Bild oder Medium In der langen Geschichte der Bildproduktion nimmt die Fotografie eine herausragende Stellung ein – medientheoretisch ist sie ein Sonderfall. Eine herausragende Stellung wird ihr sofort nach ihrer Erfindung bzw. Entdeckung bescheinigt. Sie betrifft zum einen das neue Bildproduktionsverfahren, das man anfangs noch gar nicht richtig verstand.2 Vor allem ist es die als „präzise“ beschriebene Abbildqualität des neuen Mediums, die den BetrachterInnen magisch anmutete und mit quasi-religiöser Verehrung beschrieben wurde. Dass die Bildqualität eine Folge der neuen Bildtechnik ist, war den Kritikern der ersten Stunde bewusst. Dass sich die Ästhetik des fotografischen Bildes bis ins gegenwärtige digitale Zeitalter hinein als leitend erweisen wird, davon konnten ihre Erfinder nur träumen.

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7  Was verloren geht

Aus der als Spielgelbild charakterisierten Bildqualität und -ästhetik der Fotografie folgte im Fotodiskurs die Rede von Wahrheit, Echtheit, Authentizität und Wirklichkeitstreue der Fotografie. Die Abbildqualität des Bildes wurde in den historischen Diskursen seit der Renaissance immer wichtiger und leitete die Weiterentwicklung einer spiegelbildlich operierenden Bildtechnik, die schließlich 1839 mit der Veröffentlichung der Fotografie vorläufig kulminiert. Einen Beweis für Wirklichkeitstreue zieht die Fotografie fortan aus der Ontologie ihrer physikalisch-chemischen, mechanischen Bildtechnik, einer „disparaten Kopräsenz zweier Techniken (Chemie/ Optik)“, wie Wolfgang Hagen ausführt, die zunächst „nicht nur Licht abbilden, sondern Licht (als chemisches Agens) messen“ sollte.3 Der Astronom John Herschel profilierte „Fotografie als ontologisches Medium einer Physik des Lichts. Nicht mit dem, was sie zeigt, sondern mit dem, ‚was sie ist‘, soll die Fotografie die Wahrheit über das Licht enthüllen“. Ihre „überzogene, phantasmatische Ontologie [...] und die präzise, experimentelle Entdeckung“ überlappen sich zu einer doppeldeutigen, epistemischen Spur, die sie im weiteren Verlauf ihrer Geschichte verfolgt.4 Als Medium wurde die Fotografie entdeckt – als Bild wurde sie hingegen erfunden. Das anfängliche Konzept der Erfinder, Medium und Bild mit Hilfe der Fototechnik zu vereinen, wurde diskurstheoretisch sehr schnell verabschiedet. Eine Theorie der Fotografie, die sich mit dem medialen Aspekt befasst, und die soziale Praxis der Fotografie, die den Umgang mit dem Bild betrifft, gingen fortan getrennte Wege, wie wir schon bei Baudelaire beobachtet haben. Ende des 19. Jahrhunderts verfolgte Charles Sanders Peirce die ontologische Spur und bestimmte die Fotografie zeichentheoretisch als Index, was die medientheoretische Debatte um die Echtheit des fotografischen Bildes bestätigen half.5 KonstruktivistInnen, StrukturalistInnen und PoststrukturalistInnen brachten dagegen hinreichend Argumente gegen die Wirklichkeitsreferenz der Fotografie, die als Diskurskonstruktion entlarvt wurde.6 Es bedurfte dann einer neuen, der digitalen Bildtechnik, um den fotografischen Index, die damit verbundene ontologische Bestimmung der Fotografie und die daraus resultierende Wahrheitsvermutung fotomediendiskurstheoretisch endgültig zu verabschieden. Seit 1990 lassen sich digitale Bilder mit Hilfe von Kameras machen, die das durch ein Objektiv einfallende Licht auf einen Lichtsensor lenken, der Lichtwellen in digitale Signale verwandelt, die als Pixel auf ein Speichermedium übertragen werden. Aus einem digitalen Datensatz lässt sich ein Bild auf einem Screen oder Display sichtbar machen, das in der Postproduktion Pixel für Pixel beliebig verändert werden kann. Mit dieser Technik, darüber herrscht Einigkeit, hat sich die Rede von Wahrheit, Echtheit, Authentizität und Wirklichkeitsreferenz des Bildes, die sich wie ein roter Faden durch über 150 Jahre Fotografiediskurs gezogen hat, theoretisch, aber nur theoretisch erledigt: „Digitale Fotografie ist Messung des Lichts, auf Quantenraumgröße verdichtet, deren Meßwerte sich zu einem Puzzle namens Bild fügen lassen oder zu etwas anderem. Eine Messung ergibt niemals das Zeichen des Dings, sondern nur sein Maß, einen Signalwert, eine Zahl. Deswegen kann digitale Fotografie auch keinen Zeichenprozeß [...] generieren.“7 Wolfgang Hagen konnte das im Jahr 2016 als „postfaktisch“ ausgerufene Zeitalter voraussehen, denn er gab den BildverwenderInnen den folgenden Rat: „Für moderne Zivilisationen, die sich nahezu ausschließlich auf digitale Kommunikations- und Wahrnehmungstechnologien gründen, ist deshalb nichts wichtiger als eine gut begründete, strikt verabredete Medienpolitik. Auf Erinnerung, Dokumentation und

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Wahrheit der Bilder ist nicht mehr zu bauen.“8 Ihre Selbstreferenzialität tilgt alles, sogar die eigene Geschichte, wie eingangs am Bespiel von The Next Rembrandt ausgeführt. „Halten wir, um uns zu sehen, weiterhin an Bildern fest“, mahnt Hagen abschließend, „so werden wir irren. Wollen wir aber irren, so wäre zu wissen, dass das nur Nicht-Betrogene besser können.“9 Aus diesen Worten spricht die Bildskepsis, die aus der ontologischen Bestimmung des Mediums folgt. Oder anders gesagt: Spätestens jetzt ist es sinnvoll, zwischen Medium und Bild kategorisch zu unterscheiden. Den anderen Weg des „epistemischen Dings“ (Hans-Jörg Rheinberger) namens Fotografie ging die Bildästhetik digitaler Bilderzeugnisse, die fest an die Tradition der Fotografie geklammert die gegenwärtige Bildkultur rein quantitativ beherrscht. Aus ihr folgte eine soziale Praxis, die so tut, als ob im Fotografieeffekt des digitalen Bildes sich eine dem Index gleiche Ontologie bzw. Referenz verberge. Dem theoretischen Verlust des fotografischen Index und dem damit verbundenen ontologischen Phantasma des Mediums steht eine Verwendung digitaler Bilder gegenüber, die im Anschluss an die Fotografie den Glauben an die Wirklichkeitsreferenz von Bildern nicht wirklich verloren hat, obwohl, wie Wolfgang Hagen meint, diese Bilder in die Irre führen. Während dem Medium Fotografie, insbesondere in der digitalen Spielart, misstraut werden muss, lebt der Glaube an das Bild munter weiter und die (digitale) Fotografie reiht sich in den langen Bilddiskurs vor ihrer Erfindung ein, in dem ihr nur eine medientheoretische Sonderstellung zukommt. Der Dekonstruktion des fotografischen Index in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgt am Beginn des 21. Jahrhunderts der Wahrheitsentzug des digitalen Bildes – als hätte es jemals einen Wahrheitsbeweis für Bilder gegeben. Im Rückblick auf eine Bildgeschichte als Mediengeschichte lässt sich mit Hans Belting sagen: „Medien waren einmal Werkzeuge der Religion und sind immer noch Streitthemen eines rechthaberischen Glaubens, der sich dort etabliert, wo wir immer neue Medien erfinden, aber nie mit ihnen fertig werden.“10 Der Streit um die Glaubwürdigkeit der Bilder hat sich mit der Erfindung der Fotografie verschärft und er eskaliert in der gegenwärtigen Rede vom „Postfaktischen“, an dem die Bilder einen erheblichen Anteil haben.11 Im Anschluss an die als paradoxal gekennzeichnete Bild-Mediengeschichte lassen sich noch folgende Fragen stellen: Was geht verloren, wenn niemand mehr mit einem mechanischen Apparat fotografiert und Bilder macht, und: Was bleibt von der Fotografie im digitalen Zeitalter? Einige Stationen durch die Bild- und Mediengeschichte der Fotografie werden mögliche Antworten vorbereiten.

Spiegelbild als Leitästhetik „Er [Daguerre, C. K.] hat einen bestimmten schwarzen Firnis entwickelt, der auf irgendeine Platte aufgetragen wird. Wenn diese Platte dem hellen Tageslicht ausgesetzt wird, dann bildet sich sofort auf ihr jeder Schatten ab, der sie erreicht, die Erde oder der Himmel, das fließende Wasser, die Kathedrale, die sich in den Wolken verliert, der Stein, das Pflaster, das unsichtbare Sandkorn, das auf der Oberfläche liegt, alle diese Dinge, groß oder klein, die vor der Sonne

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gleich sind, sie bilden sich in dieser Camera obscura ab, die alle Eindrücke auffängt. Niemals hat die Zeichenkunst der großen Meister eine solche Zeichnung hervorgebracht. [...] Es gibt in der Bibel die schöne Stelle: ‚Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht.‘ Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: ,Werdet Bild!‘ und die Türme gehorchen. So wie sie Daguerre gehorcht haben, der sie eines schönen Tages zur Gänze mit sich fortgetragen hat.“12 Der französische Kunstkritiker und Romancier Jules Janin begrüßte 1839 in der Zeitschrift L’Artiste als Erster den Daguerreotyp und seinen Erfinder (Abb. 71). Die Bildwirkung des neuen Mediums erlebten die Zeitgenossen als eine ungeheure Sensation. Sie kam vielleicht den ersten nach der Fluchtpunktperspektive konstruierten Gemälden oder Grafiken in der Renaissance gut 400 Jahre vor der Erfindung der Fotografie gleich. Auch damals wurden ein neues Bildproduktionsverfahren und seine neuartige Bildqualität triumphal gefeiert.13 Aus dem nach der Planperspektive konstruierten Bild leiteten die Künstler den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Kunst ab – genau das gleiche taten auch die Fotografen. Die Maler, die nach der auf der Mathematik fußenden „prospettiva“ malten, ließen sich als „alter deus“ (L. B. Alberti), als zweiten Gott feiern. Es war die Ästhetik des Spiegelbildes, nach der sowohl die neue Perspektivmalerei um 1430 als auch die Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts strebte. Leon Battista Alberti ernannte 1432 in seinem Malereitraktat De pictura den mythischen Narziss zum Erfinder der Malkunst. Beim Malen gehe es darum, mit Kunst die Oberfläche des Quellteichs zu umarmen.14 In der westlichen Bildgeschichte wird Narziss, der sich irrtümlich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, zum Paradigma der BildbetrachterIn (Abb. 72). Die Bildqualität des Quellspiegels suggeriert Narziss so überzeugend Wirklichkeit, dass er, der keine Spiegelbilder kennt, der optischen Täuschung erliegt. Narziss ist also nicht etwa naiv und unwissend, sondern so etwas wie der Prototyp der westlichen BildbetrachterIn, der/die der Faszinationskraft des Bildes verfällt. Ob Perspektivgemälde, Camera obscura, Fotografie, Film oder 3D: Jedes neue Bildmedium, das die Wirklichkeit spiegelbildlich abzubilden oder gar nachzubilden vorgibt, wird von einem Narziss leidenschaftlich begrüßt. Auch Janin beschreibt die Bildästhetik des Daguerreotyp nach Maßgabe der Spiegelbildqualität: „Sie kennen die Wirkungsweise der Camera obscura“, erklärt er dem Leser, der noch nie eine Daguerreotypie gesehen hat, das neue Bildmedium. „In der Camera obscura bilden sich Gegenstände der Außenwelt mit einer Wahrheit ohne Vergleich ab. Aber die Camera obscura tut nichts selbst, sie ist kein Bild, sie ist ein Spiegel, in dem nichts stehen bleibt. Stellen Sie sich jetzt vor, daß der Spiegel die Eindrücke der Objekte bewahrt hat, die sich in ihm spiegeln, und Sie haben eine beinahe komplette Vorstellung des Daguerreotyp.“15 Wer verstehen will, weshalb bis heute das Spiegelbild leitästhetische Funktion in der Medienwelt hat, sollte sich an die Uranfänge des Bildes erinnern. Im Mythos erliegt Narziss dem Spiegelbild, weil es ein erotisches Begehren in ihm weckt. Er entdeckt in dem Bild einen schönen Knaben, ohne zu wissen, dass er es selbst ist, den er dort sieht. Jahrhunderte später sprechen Jules Janin und viele andere, die sich für das neue Bildmedium begeistern, von dem (erotischen) Begehren, das von der Fotografie geweckt und befriedigt wird: „Von nun an wird der Daguerreotyp alle künstlerischen Bedürfnisse, alle Launen des Lebens erfüllen. Ohne daß sie es merkt, werden Sie das weiße Haus davontragen, in dem ihre Geliebte lebt. [...] Schon

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71  Louis-Jacques-Mandé Daguerre: Der Louvre. Ansicht vom rechten Seine-Ufer, 1839, Daguerreotypie, Paris, Musée nationales des Techniques

angesichts der einfachsten und süßesten Leidenschaften des alltäglichen Lebens entfaltet der Daguerreotyp seinen Sinn und seine Reize. Er wird augenblicklich all die geliebten Gegenstände aufnehmen: den Sessel des Großvaters, die Wiege des Kindes, das Grab des alten Mannes.“16 Die lange, konstante Geschichte der Bilder, die ausgehend vom natürlichen Quellspiegel über die Perspektivmalerei zur Camera obscura, schließlich zur Fotografie führt, erscheint in der Rückschau als der technische Optimierungsversuch des (erotischen) Begehrens der BildermacherInnen wie der Bildbetrachtenden, das durch Bilder befriedigt wird. Während sich die Technik in Richtung Optimierung weiterentwickelt, bleibt das Begehren am Bild unverändert. Es geht grundsätzlich um Weltverdopplung, d. h., die Welt soll noch einmal in Bildern erschaffen werden. Der CAVE (Cave authomatic virtual environment) und VR-Brillen sind die vorerst letzten technischen Errungenschaften, die den BetrachterInnen die Illusion eines körperlichen Eindringens in eine als dreidimensional empfundene Bildwelt suggerieren. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Daguerre, Talbot u. a. die Fotografie erfanden und weiterentwickelten, glaubte man sich diesem Ziel schon sehr nah. Im Enthusiasmus ihrer Erfinder trägt Bildschöpfung die magisch-religiöse Dimension von Weltschöpfung. So gehorchen die Türme von Notre-Dame dem biblischen Schöpfungswort: „Werdet Bild! [..] Jetzt ist es an uns, an den Daguerreotyp zu glauben. Denn keine Hand könnte

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72  Caravaggio: Narziss an der Quelle, um 1609, Öl auf Leinwand, Rom, Galleria Nazionale d'arte antica

so zeichnen, wie die Sonne zeichnet; kein menschlicher Blick könnte so tief in diese Massen von Schatten und Licht eindringen. Wir haben die großen Denkmäler von Paris auf diese Weise reproduziert gesehen, von Paris, das nun wirklich die Ewige Stadt werden wird. [...] es handelt sich um die zarteste, feinste und vollkommenste Reproduktion, die göttliches und menschliches Vermögen nur erreichen können.“17 Aus dem Wunsch, die Welt in Bildern zu verdoppeln, spricht am Beginn des fotografischen Zeitalters wiederum das Begehren nach Macht über Dinge und Menschen, die im Bildmedium präsent, mobil und verfügbar werden: „Man wird nach Rom schreiben: Schicken Sie mir mit dem nächsten Kurier die Kuppel von St. Peter, und die Kuppel von St. Peter wird sie postwendend erreichen“, schreibt Janin.18 Der Bildbesitz suggeriert die Macht des Besitzes von wertvollen Dinge und geliebten Menschen. Man kann sogar „das weiße Haus davontragen, in dem die Geliebte lebt“ und mehr noch: „ Er [der Daguerreotyp] ist eine Graphik in der Hand Aller; [...] er ist ein Spiegel, der alle Reflexe bewahrt; er ist das treue Gedächtnis aller Denkmäler, aller Landstriche des Universums; er ist die unablässige, spontane, unersättliche Reproduktion der hunderttausend Meisterwerke, die die Geschichte auf der Oberfläche der Erde errichtet bzw. umgestürzt hat.“19 Alles aber kulminiert in dem Wunsch, nach dem Vorbild des Narziss, sich selbst als Bild zu verdoppeln: „Denn so groß ist die Kraft dieses unbeirrbaren Bildners, daß er sogar das Blinzeln des Auges, das Runzeln der Stirn, die geringste Falte des Gesichts, die leiseste Bewegung einer Haarlocke aufzeichnet.“20

Wahrheit, Echtheit, Wirklichkeitstreue

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Wahrheit, Echtheit, Wirklichkeitstreue Ein Wort fällt im frühen Fotodiskurs immer wieder: Wahrheit. Wahrheit beansprucht das neue Bildmedium jedoch erst, nachdem die Kritik die Medientechnik genauer erfasst hatten. Eduard Koloff, Pariser Korrespondent des Kunstblatt, Beiblatt zu Cottas Morgenblatt für gebildete Stände, charakterisierte den Daguerreotyp im Jahr seiner Erfindung wie folgt: „Diese ganz einzigen Kopien zeichnen sich durch Nettigkeit, Bestimmtheit, Relief und unerhört treue Wahrheit aus.“21 Ludwig Schorn, Herausgeber des Morgenblatt, nimmt einen Einwand vorweg, den Kritiker wie Baudelaire ausmalen werden, der Daguerreotyp „werde der Kunst der Malerei großen Schaden zufügen. Er schreibt die leblose Natur ab; die Beobachtung der lebenden und der Geist sie zu fassen ist ihm fremd; noch weniger weiß er von Erfindung und freier Darstellung dessen, was unsere Phantasie und unser Gemüt bewegt“.22 Es sei eben doch „mehr die Kraft der Phantasie und der Beobachtung, als die ängstlich nachgeschriebene Wahrheit des Äußeren, die auf uns wirkt“.23 Wahrhaftigkeit, so meint Schorn, beziehe das neue Bild aus seiner physikalischen Erzeugung, seinem Medium, und genau dort, so prophezeit er hellsichtig, wird es sich bewähren. Das geistlose Nachzeichnen und Nachpinseln von Statuen werde deshalb aufhören. Die wahre Kunst der Fantasie werde sich von der Kopie befreien, die nun der neuen physikalisch-chemischen Bilderzeugung obliegt. Hier spricht erneut die Geburtsstunde einer von Zwecken befreiten Kunst. Bereits im Jahr seiner Erfindung tritt der Fotografiediskurs in das Reich des Index. Aus der indexikalischen Weltbeziehung, die Charles Sanders Peirce am Ende des 19. Jahrhunderts formulieren wird, begründet sich fortan der Anspruch auf Wahrheit, Authentizität und Echtheit des fotografischen Bildes. Erinnert sei zunächst an die Definition der Fotografie von Peirce, der sie 1893 unter die „Similes“ und zur Zeichenklasse der „Indizes“ rechnete: „Photographien [...] sind sehr lehrreich, denn wir wissen, daß sie in gewisser Hinsicht den von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen. Aber diese Ähnlichkeit ist davon abhängig, daß Photographien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen. In dieser Hinsicht gehören sie also zu der zweiten Zeichenklasse, den Indizes, die Zeichen aufgrund ihrer physischen Verbindung sind.“24 Der Index, diejenige Zeichenklasse, die durch die physische Verbindung mit ihrem referenziellen Objekt bestimmt ist – wie Rauch mit dem Feuer, der Fuß mit dem Fußabdruck oder das Objekt mit seinem Schatten –, erzeugt nun wie der Spiegel ein vollkommen ähnliches Bild. Aus genau dieser ontologischen Definition leitete die Kunsthistorikerin Rosalind Krauss 1976/77 eine Wesensbestimmung des Fotografischen ab: „Jede Fotografie ist das Ergebnis eines physikalischen Abdrucks, der durch Lichtreflexion auf eine lichtempfindliche Oberfläche übertragen wird.“25 Krauss bezieht sich auf den Filmtheoretiker André Bazin, der in der Fotografie das Objektiv als eine in unserem Unterbewusstsein verankerte „Sehnsucht nach mehr als nur einer annähernden Abbildung des Objekts [...]: nach dem Objekt selbst“ vermutet.26 Benannt ist abermals das narzisstische Begehren, das auf dem Urgrund der Bilder liegt. Bildmedien werden dazu gemacht, um es von dort an die Oberfläche zu befördern und zu befriedigen.

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Der Sonderfall der Fotografie betrifft dabei nur die mediale Seite der Fotografie, die vom Index evozierte Bildqualität. Ob „verschwommen, verzerrt, farblos“, ist nämlich nicht entscheidend, meint André Bazin, denn „das Bild wirkt durch seine Entstehung durch die Ontologie des Modells, es ist das Modell“.27 Das indexikalische Bild kann ein Abbild seines Referenten sein oder aber nicht. In der forciert ontologischen Lesart wird Ähnlichkeit ein Nebeneffekt der Fotografie, wenn man ihre mediale Seite beleuchtet. In der fotografischen Praxis, dem Umgang mit dem Bild, aber ist Ähnlichkeit zweifelsfrei der Haupteffekt. Die Spaltung der Geschichte in Bild und Medium wird somit erst in der sozialen Praxis vollzogen. Aus der von den BetrachterInnen wahrgenommenen Ähnlichkeit und einer Ästhetik der immer schärfer werdenden Bildschärfe zieht die Fotografie den Status eines Leitmediums in der massenmedialen Bildkultur bis zur Hyperrealität im digitalen Zeitalter, die qua Bild beweisen will, was nie so gewesen ist bzw. gar nicht da ist.28 Das als elektronischer Datensatz vorliegende digitale Bild, das so viele Formen und Farben annehmen kann, wie es die Anzahl der Pixel auf dem Lichtsensor und die Kapazität des Speichermediums ermöglichen, dissimuliert Elektronik, zieht sich die Maske der Fotoästhetik an und macht sie zur Leitästhetik des digitalen Bildes, um von der Wirklichkeitsreferenz, welche den theoretischen Diskurs und die soziale Praxis der Fotografien prägten, zu profitieren.29

Fetisch Fotografie Das fotografische Bild wurde als ein perfekter Fetisch erfunden.30 Von Beginn an ist das Foto ein Objekt starken Begehrens. Als ein Stück käufliches, industriell hergestelltes Papier ist es jedoch nicht elitär wie die Kunst, sondern bald für jeden machbar und erschwinglich. Hartmut Böhme untersucht in seiner Studie Fetischismus und Kultur eine facettenreiche Geschichte und klärt die Omnipräsenz des Fetischismus dort, wo er als negativ und ausgrenzend definiert wurde, in der bis dato dauernden europäischen Moderne.31 Er zeigt auch die immense, Kultur schaffende Bedeutung von Fetischen. Ob Idol, Reliquie, Kultbild, Talisman, Handy oder Kunst, all diese Dinge sind in allen historischen Kulturen nachweisbar potenziell empfänglich für einen fetischisierenden Umgang.32 Wie das Kunstwerk fällt die Fotografie in die von Hartmut Böhme definierte Kategorie „Kulturfetisch“ mit dem Unterschied, dass Fotografien in einer ersten Bestimmung nicht dafür gemacht werden, um in Museen, Kirchen, Archiven als unveräußerliche, der kulturellen Identität dienende Objekte abgesondert zu werden – dies kann in einer zweiten Bestimmung geschehen. Die Fotografie wurde genau zu dem Zeitpunkt erfunden, als im Zuge der industriellen Revolution der Austausch von Waren gesteigert wurde und der moderne Kapitalismus begann. Im Anschluss an Karl Marx, der den Warenfetischismus aus dem Geist des Kapitals entdeckte, definiert Hartmut Böhme Warenfetische wie folgt: „Die Dinge erhalten die Physiognomie des Fetischs, indem sie durch die kapitalistische Produktionsweise und den Warentausch von Produkten zu Waren transformiert werden und ihr Gebrauchswert im Tauschwert verschwindet.“33 Innerhalb der Warenökonomie hat die Fotografie den Vorzug, dass schon bald nach ihrer Erfin-

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dung (fast) jeder in einem ersten Schritt ein Foto machen kann. Erst im zweiten Schritt entfernt sich das Produkt vom Produzenten, wenn der Film zum Entwickeln der Bilder ins Fotolabor gegeben wird. Diese Entfremdung von Produktion und Produkt „kreiert undurchsichtige Abhängigkeiten“ und Beziehungen, die das Bild zur Ware werden lassen, die Kunden kaufen. Der Tauschwert der industriell gefertigten Fotografie ist gering, d. h. Fotografien der „Knipser“, ein Begriff von Timm Starl für Amateurfotografe, sind keine Luxusprodukte und haben kaum einen Tauschwert: Wer begehrt schon die privaten Fotos von anderen?34 Was aber macht das Foto zum Warenfetisch? Entfremdung und Warentausch, so Böhme, erzeugen den Warenfetischismus, der von einer verkannten oder entstellten Beziehung zum Ding geprägt ist. Es geht um eine weit verbreitete soziale Praxis: „Der Fetisch ist der Schein eines Gebrauchswert-Versprechens [...]. Dieser Schein macht die Faszinationsmacht der Ware aus. [...] Er vertritt das Bild einer Welt, die unsere Bedürfnisse erfüllt, einer Welt, die immer ,voll‘, ,reich‘, ,großartig‘ und ,schön‘ ist (und wir sind Teil von ihr).“35 Für den Warenfetisch „Fotografie“ trifft diese Definition sogar in einem potenzierten Maße zu, wenn das Foto dazu dient, seinem Betrachter qua Abbildung zu bestätigen, Teil einer Welt zu sein, der er zugehören möchte; es bezeugt seine kulturelle Identität. „Das macht die Aura des Warenfetischs aus: Der Warenfetisch winkt mit der Partizipation am Schlaraffenland (in allen Varianten). Die Ware ist also der Code einer Utopie. Das ist ihre systematisch erzeugte Illusion.“36 Ein doppelter Fetisch ist ein Foto dann, wenn es gemacht wird, um einen Fetisch zu zeigen: Der Eigentümer des neuen Autos lässt sich mit seinem Auto fotografieren, um das Foto als Beweis vorzuzeigen oder in das Fotoalbum einzukleben („Schaut mal her, liebe Kinder, schon damals habe ich dieses teure Auto kaufen können!“). Das Foto bestätigt die durch das schöne, teure Auto gewonnene Identität seines Eigentümers, den Fetisch Auto, und wird damit selbst zum Fetisch, der die Partizipation am „Schlaraffenland“ sogar dann noch beweist, wenn das Auto längst auf dem Schrott gelandet ist. Der Umgang mit dem Foto zeugt hier nicht nur von dem Wunsch, Teil des kollektiven, identitätsstiftenden Begehrens einer Ware (Auto) zu sein. Das Foto bezeugt, dass sich der Autobesitzer diesen Wunsch erfüllen kann. Im Vorzeigen des Fotos will er oder sie dafür noch Jahre später bewundert werden, d. h. Selbstbestätigung erlangen. Das Foto ist somit Dienerin des Fetischs, es hat Teil an der Aura des Fetischs. Dies betrifft die Amateurfotografie. In der Werbung weckt das Foto Begehren durch Identifikation, im privaten Album des „Knipsers“ bestätigt es das Begehrte und den Begehrenden. Zugleich verleugnet es die „systematisch erzeugte Illusion“, die Anstrengung, Demütigung, die Enttäuschung oder den Schmerz, den der Fetisch bereiten kann: „die Prosa der Wirklichkeit“.37 Das Foto des zu Schrott gefahrenen Autos geht an die Versicherung und nicht ins Familienalbum, um bei dem Beispiel zu bleiben. Während der Warenwert einer Fotografie mit der Zunahme des kollektiven Begehrens nach Fotografien ständig gesunken ist, stieg der Lustgewinn am fotografischen Bild exponentiell und gipfelt heute in der Möglichkeit, zu jeder Zeit mit der eingebauten Kamera des Smartphones, ebenfalls ein Fetisch, zu fotografieren, um das Bild sofort betrachten zu können. Bereits Baudelaire mokierte sich über „die schmutzige Gesellschaft [die herbeigelaufen kam], um, wie ein einziger Narziß, ihr triviales Abbild auf einer Metallplatte zu betrachten“38 und ließ sich dann in anmutiger Pose von Nadar fotografieren. Als Kulturfetische bedienen Fotografien Lüste, Ge-

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fühle und Fantasien des Selbst, die ökonomisch nicht bewertet werden können. Am Foto kann man seine Identität kreieren und überprüfen, wer man ist. Das „schöne Bildnis [ist] nichts anderes als die schöne Sache“, charakterisiert Pierre Bourdieu das ästhetische Urteil über die „wirklichkeitstreue Reproduktionstechnik“, welche die Massen beeindruckt.39 Bin ich zu dick, zu dünn, schlecht angezogen, falsch geschminkt, all dies wird seit dem Einsatz von Fotografien in der Werbung auch vor dem Knipserfoto diskutiert. „Das Porträt ist die Objektivierung des Selbstbildes“, dieser fundamentale Satz, 1965 von Bourdieu geäußert, gilt nach wie vor, nur die Scham oder das Unbehagen über das Fotografiertwerden von damals ist weitgehend verschwunden. Jemanden (verstohlen) zu betrachten, ohne als BetrachterIn gesehen zu werden, jemanden gar zu fotografieren, ohne dabei bemerkt zu werden, bedeutet, so Bourdieu, „ihm das Selbstbild rauben“.40 Die gestellten Posen in den Fotos der Nachkriegszeit zeigen, dass die Fotografierten Haltung annahmen, um das Risiko zu mindern, unbeholfen oder linkisch zu wirken. Das Fotografieren war Teil der Etikette, einer Konvention der Posen, die von einer „hierarchischen wie statischen Gesellschaft“, in denen die Individuen nach ihrer Herkunft, ihrer sozialen Zugehörigkeit definiert werden. Ein Moralkodex von Anstand und Würde bestimmte die Bildkomposition, sah man sich in der Öffentlichkeit, wozu die Fotografie gehört, dem strengen Urteil seiner Mitmenschen ausgesetzt. Das Foto ist zu dieser Zeit noch ein Kontrollinstrument. Seitdem Fotografie über die Popkultur den öffentlichen Raum erobert hat, um immer mehr Begehren und Lüste zu wecken, ist sie der kommunikative Teil der Fetischkultur. Die Fotografie ist Agentin des Warenfetischs, sie wirkt als Katalysator des Warenstroms und macht den Fetisch erst zum Fetisch, was Hartmut Böhme in seiner luziden Analyse nicht bedenkt. Das „Madonna-Geschäft“ und die „Madonna-Kultur“ stehen in gegenseitiger Abhängigkeit und heizen sich auf durch gezielte Selbstinszenierung und theatralen Narzissmus, die mit einer klaren Bildsprache und Strategie die Botschaft des Stars überbringen: „Was ein Idol der Moderne ist, wie ein durch und durch festischisiertes Setting funktioniert“, so Böhme, „konnte man kaum eindrucksvoller als an Madonna studieren.“41 Unter dem Aspekt des Bildkonsums ist die Madonna-Figur vor allem eines: die Summe ihrer Bilder (siehe Abb. 44, S. 122). Dass diese Bilder sehr wohl eine sozialpolitisch kritische, insbesondere feministische Aussage in die Welt transportieren, ist die Kehrseite der Madonna Bild- und Musikkultur. Die höchst provokante Madonna-Ikonografie lässt keinen Zweifel darüber, dass der Star seine Bilder nach einer genau kalkulierten Strategie ediert und den medialen Bilderstrom instrumentalisiert, um seine gender-kritischen Botschaften möglichst effektiv zu platzieren.42 Diese sich aus der Massenbegeisterung für Pop ableitende Bildkultur motivierte die technische Entwicklung von Kameras, die immer mehr, immer schneller und vor allem immer schönere Bilder nach Maßgabe einer eigens dafür programmierten Ästhetik produziert, die Leuchtkraft und Glätte bevorzugt und vor allem Spiegelbildlichkeit suggeriert. Der perfekte Fetischcharakter, dies betrifft die Bildseite des Fotomediums, liegt von Beginn an in der Spiegelästhetik, die das begehrte Ding, sei es die oben zitierte „Geliebte“ oder „den Sessel des Großvaters“, durch bildliche Verdoppelung, durch Imagination ersetzt. Nach dem Willen seiner Erfinder sollte das fotografische Bild jedem Kunstwerk ebenbürtig sein, auch was seine herausragende Qualität, die Spiegelästhetik, betraf, die technisch perfektioniert wurde. Es übertraf die

Nachruf auf den fotografischen Index

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Kunst, denn es sollte sogar die „umgestürzten Meisterwerke“ wiedererrichten. Wie der Kunst von ihren Anhängern magische Bedeutung zugewiesen wurde, so sprachen die Erfinder und ersten BetrachterInnen bzw. BenutzerInnen dem fotografischen Bild dieselben Fähigkeiten zu und noch viel mehr, allem voran seine Mobilität und die individuelle, sogar private Verfügbarkeit. Wie die Kunst sollten nun auch Fotos zu einer soziokulturellen Identitätsfindung beitragen: Sie brachten die kulturellen Dinge sogar in jedes Haus, statt sie im Museum anzuhäufen. Gegen die eingeschränkte Unverfügbarkeit des Kunstbildes im Museum setzte die Fotografie sehr bald die Verfügbarkeit kultureller Objekte durch bildliche Verdoppelung. Im digitalen Zeitalter sind alle magischen Eigenschaften des Bildfetisches nicht nur noch einmal gesteigert, sondern miteinander verbunden, wenn Kunstbetrachter im „Museums-Selfie“ während des Museumsbesuchs ihre Identität mit dem Kunstwerk bildlich dokumentieren und der Welt über Facebook oder Instagram posten: Auch ich bin Der Schrei, gemeint ist die Praxis, sich in Oslo im Munch Museum vor dem Gemälde in der Pose des Schreienden selbst zu fotografieren.

Nachruf auf den fotografischen Index Bilder, die Fotografie simulieren, bestimmen die gegenwärtige, globale Bildkultur. Wer noch ‚analog‘ fotografiert, ist entweder KünstlerIn oder NostalgikerIn. Die Verdrängung eines alten Mediums durch ein technisch neues Medium ist zwar nicht neu, ebenso nicht die Einbettung des einen in das andere Medium. Was früher analog war, ist jetzt digital, dies betrifft alle Medien, Film, Musik, Buch, Kunst, Museen und auch die Malerei, wie das Projekt The Next Rembrandt zeigt. Gleichwohl sei die Frage erlaubt, was verlorengeht, wenn niemand mehr mit Hilfe eines Fotoapparats auf einem Negativ oder Diapositiv einen Film belichtet und in die Dunkelkammer geht, um den Film zu entwickeln, das Bild sichtbar zu machen und auf einem Bildträger zu fixieren – eine Technik, die, wenn sie manuell ausgeübt wird, entscheidenden Einfluss auf das Bildergebnis hat und maßgeblich den Kunststatus der Fotografie befördert hat? Die Frage nach der Verdrängung einer Bildtechnik lässt sich beantworten, wenn die Ontologie der Fotografie als „Lichtabdruck“, als „physische Spur des Wirklichen“, als „physischer Abdruck eines wirklichen Objekts“ oder als „Berührung“ noch einmal in Betracht gezogen und mit dem daraus resultierenden Bild zusammengebracht wird.43 In der Rückschau erscheint der fotografische Index als ein Intermezzo der Kunstgeschichte – einen Kunststatus wurde der Fotografie spät, nämlich erst mit der Autorenfotografie der 1980er-Jahre zuerkannt. Ihre Bildtechnik kann zwar als Verlust verzeichnet werden – die oben beschriebene Bildästhetik, die ihr anfangs noch den Kunstcharakter abspenstig machte, fungiert jedoch als ein Brückenschlag in das Zeitalter der Bilder. In der Studie und Ausstellung L’Empreinte (Ähnlichkeit und Berührung) zeichnet Georges Didi-Huberman die Bildgeschichte des Abdrucks als eine uralte anthropologische Technik nach, die mit den Handabdrücken und Gravuren in den Steinzeithöhlen vor mehr als 35.000 Jahren begann.44 Betrachtet man den Abdruck wie Didi-Huberman als „Paradigma“ mit Modellcharakter, dann reiht sich der fotografische Index in diese lange Bildgeschichte ein. Fotogra-

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fie erscheint dann nicht mehr isoliert als Ergebnis einer mechanischen Bildproduktion im industriellen Zeitalter, sondern kann im Kontext einer anthropologischen Bildpraxis verstanden werden, die zu den Anfängen des Bildermachens führt. Erst in diesem Kontext zeigt sich, was verloren geht, wenn niemand mehr fotografiert.45 Es wird nun Zeit, dem fotografischen Index mit Didi-Huberman und Jean Baudrillard, der den Verlust der Fotografie in einem Requiem beklagt, einen Nachruf zu widmen.46

1. Verlust von Unvorhersehbarkeit, Offenheit und Experimentalcharakter Man hört häufig von KünstlerInnen, so Didi-Huberman in Ähnlichkeit und Berührung, dass sie auf das Abdruckverfahren zurückgreifen, wenn ihnen eine Idee fehlt. Einen Abdruck machen, heißt eine „technische Hypothese“ aufstellen, um zu sehen, was sich daraus ergibt.47 Einen Abdruck machen, ist demnach eine Methode der Inspiration, die verspricht, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das Resultat des Abdrucks ist voller Überraschungen, übertroffener Erwartungen und sich plötzlich eröffnender Horizonte – zuweilen natürlich auch eine herbe Enttäuschung. Ein Abdruck, so lässt sich sicher sagen, ist ein Experiment mit offenem Ausgang. Der Preis der heuristischen Offenheit des Abdrucks ist eine gewisse „prozedurale Unreinheit“, die damit zusammenhängt, dass jeder Abdruck eine Begegnung von Zufall und Technik verkörpert.48 Das Prinzip des Abdrucks lautet: Man weiß nicht genau, was sich daraus ergibt, denn die sich ergebende Form ist im Prozess des Abdrucks nie vorher-sehbar: Sie ist immer problematisch, unerwartet, unsicher, offen.49 Das fotografische Dispositiv charakterisiert eine Unvorhersehbarkeit, die dem technischen Ablauf des Bildprozesses zu verdanken ist, an dem der Zufall als Schöpfer des Bildes immer mitwirkt. Daraus folgt eine Unkontrollierbarkeit des Bildes, den FotografInnen entweder aushalten müssen oder als Chance des glücklichen Augenblicks begreifen. Diesen Kontrollverlust über das Bild, das in seiner Nicht-Vorher-Sehbarkeit gründet, diesen Kairos des Bildes, will das digitale Bild vollkommen ausschalten. Die Digitalkamera folgt einer Programmierung, deren Code das Bild vorbestimmt: „Denn die Welt des Digitalen ist eine auf vorprogrammierte Maschinen gebaute Welt.“50 Das Bild folgt zwingend diesem Programm und lässt sich in der Postproduktion kontrolliert Pixel für Pixel nachbearbeiten: morphen, skalieren, kolorieren etc. Es geht folglich die Offenheit, der Experimentalcharakter, der Zufall des Bildes verloren, wenn niemand mehr einen Film in einer Dunkelkammer entwickelt. Jean Baudrillard beklagt, dass nichts mehr verschwindet: „Es kommt noch schlimmer. Das analoge Bild unterscheidet sich dadurch, daß sich in ihm eine Art Verschwinden, Distanz oder Stillstellen der Welt abspielt. [...] Wohingegen es im Digitalen oder, allgemein gesagt, beim synthetischen, computergenerierten Bild kein Negativ, nichts ‚Aufgeschobenes‘ mehr gibt. Dort stirbt nichts, und dort verschwindet nichts.“51

Nachruf auf den fotografischen Index

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73  Handabdruck, Grotte de Chauvet, über 30.000 Jahre alt

2. Der Verlust von Ähnlichkeit durch Berührung Im Abdruck, so Didi-Huberman, trifft das Gewesene mit dem Jetzt zusammen. Dieses Zusammentreffen der Zeiten an einem Ort ist ein visuelles Zusammentreffen, ein Zusammentreffen von verschiedenen Arten des Ähnlichseins, die einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben: die Berührung. Berührungen, die Bilder erzeugen, haben ihren Ursprung an den Wänden der Steinzeithöhlen, die zugleich Markierungen einer Anwesenheit und autonomes Phänomen, zugleich Abdruck und Zeichnungen, Spuren und Linien sind. Bis heute weiß man nicht, was die Linien und Handabdrücke in der Grotte von Gargas von vor mehr als 30.000 Jahren darstellen (Abb. 73). Was sie vorstellen, so Didi-Huberman, ist eine phänomenologische Tatsache. Es handelt sich um etwas, das durch eine Berührung ein visuelles Ergebnis hervorbringt. „Eine Geste des Anfassens, des Aufdrückens oder des Greifens, die zu einem figuralen System wird und zur Herstellung exakter Ähnlichkeiten taugt – nicht minder exakt als die Scherenschnitte des 18. Jahrhunderts oder das Negativ des Fensters, das Fox Talbot 1835 photographierte.“52 Hier ist die Verbindungslinie vom Abdruck als Urgeste menschlicher Bildproduktion zum Lichtabdruck in der Fotografie gezogen, eine Verbindung die den Zweck verfolgt, durch Berührung Ähnlichkeit zu erzeugen. Die ersten Handabdrücke aus der Jungsteinzeit waren Negative, und die Technik dieser Abdrücke äußerst differenziert, da sie sich den unterschiedlichen Untergründen anpassten. Die Form einer Hand auf einer gewölbten Fläche konnte korrigiert werden, um eine Ähnlichkeit herzustellen. Die Technik des Handabdrucks artikuliert „ein Dispositiv der Komplementarität auf Distanz“,53 d. h., wenn die Hand nach dem Versprühen der Farbe fortgezogen ist und der Abdruck erscheint, dann erinnert die Form der Hand an eine Abwesen-

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heit: hier die Wand, rot eingefärbt bis auf eine deutlich markierte Stelle, wo die Hand lag. Eine Paradoxie, die in den Abdrücken angelegt ist, wird sichtbar: das Zusammentreffen eines ‚da‘ und eines ‚nicht da‘ einer Berührung zu einer Zeit an einem Ort und einer Abwesenheit, was bleibt, ist das Bild an dem Ort. Hieraus erklärt sich die Spannung von Körper und Zeit, die im materiellen Abdruck – und der Fotografie als einer Spezialtechnik des Abdrucks – als Paradox sichtbar wird: Etwas ist fortgegangen und bleibt doch da, um ein Zeichen seiner Abwesenheit zu geben. Das „dort lag eine Hand“ der Steinzeitabdrücke findet in dem Barthes’schen Noema der Fotografie seine Vollendung: „Es ist so gewesen.“54 Wir beklagen im Zeitalter der digitalen Bilder das völlige Verschwinden von Bildprozessen, die auf Ähnlichkeit durch Berührung beruhen, denn das Raum-Zeit-Kontinuum der Fotografie geht beim digitalen Bild verloren.55 Zwar treffen Photonen durch eine Kameralinse, doch werden sie zu elektronischen Lichtimpulsen, die im „Image-Processing on chip“ algorithmisch zugeordnet werden. Ein Raum-Zeit-Kontinuum wird zu einer „logischen Indexikalität“ errechnet. Das Bild kann aussehen wie eine Fotografie – was es zeigt, ist eine Illusion – die Illusion des „es-ist-so-gewesen“ –, was es verbirgt, ist seine rein mediale Referenz. Jean Baudrillard beklagt das Ende der Darstellung: „Wenn aber mit dem Virtuellen der Referent verschwindet und sich in der technischen Programmierung des Bildes verflüchtigt, wenn es nicht mehr um eine reale Welt im Gegenüber zu einem empfindlichen Film geht (dasselbe gilt für Sprache, die ihrerseits einem Film gleicht, der den Ideen gegenüber empfindlich ist), dann ist im Grunde auch keine Darstellung mehr möglich.“56

3. Verlust der Matrix Didi-Huberman geht noch tiefer, um den Abdruck anthropologisch, d. h. in seiner Beziehung mit der Natur und Kultur der Menschen, zu bestimmen und formuliert „Ähnlichkeit“ als ein anthropologisches Paradigma.57 Ähnlichkeit wird durch geschlechtliche Reproduktion erzeugt, die eine visuelle Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern stiftet. In vielen Kulturen gründet auf Genealogie das soziale Ordnungsprinzip, die symbolische Ordnung der Gesellschaft. Aus diesem Ordnungsprinzip instituiert die westliche Kultur Objekte – Bilder –, die Ähnlichkeit vergegenständlichen sollen. Ahnengalerien der Adelshäuser oder familiäre Fotoalben im 20. Jahrhundert zeigen Genealogie durch Ähnlichkeiten auf. Der Abdruck ist prädestiniert für eine genealogische Repräsentation, überträgt er doch physisch und nicht nur optisch die Ähnlichkeit einer Person oder Sache, von der der Abdruck genommen wurde. Die Analogie zwischen Abdruck und geschlechtlicher Reproduktion ist durch die enge Berührung und das Eindringen in das Substrat physisch gegeben. Das Resultat dieser Berührung verschwindet nicht, wie ein Spiegelbild, in das nichts eindringt, das sich mit nichts verbindet. Die Reproduktion oder Kopie durch Abdruck ist somit, metaphorisch gesprochen, ein leibliches Kind seines Modells und unterscheidet sich damit von der rein optischen Kopie der Nachahmung (etwa im gemalten Porträt), bei der das Modell körperlich und hierarchisch von seinem Bild getrennt ist. Ist diese Form konvex, dann nennt man sie Siegel oder Patrize, ist sie konkav, wird sie Matrize genannt, ist sie flach und mit Hilfe des Lichteinfalls durch ein Objektiv auf einen

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74  Totenmaske aus Gold, Mykene, Grab IV, 1600-1500 v.Chr., Athen, Nationalmuseum

lichtempfindlichen Bildträger erzeugt, dann nennt man sie Fotografie. Die Matrix (lat. Gebärmutter) nennt den Ort, wo sich durch physischen Abdruck Ähnlichkeit formt. Von der Antike bis zum Mittelalter garantiert der Abdruck zwischen Form und Gegenform den genealogischen Zusammenhalt, ist er die formgebende Kraft der Reproduktion und des Fortbestands der Lebewesen und Dinge. Bereits in der Jungsteinzeit, ca. 5.000 Jahre v. Chr., sind Totenmasken aus Ton bekannt, die den Gesichtern der Verstorbenen ein plastisches, zeitbeständiges Material aufdrücken. In den Gräbern von Varna (Bulgarien) fand man tönerne Masken mit Goldapplikationen, die auf die Masken gepresst waren. Aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. stammt eine goldene Maske, die das Gesicht vollständig bedeckte (Abb. 74). Die Maske ist offenbar unmittelbar auf dem Gesicht gearbeitet, sodass nicht nur die Dreidimensionalität des Kopfes, sondern eine Ähnlichkeit durch Berührung erzeugt wurde, die dem Gesicht ein Leben jenseits des Grabes verspricht. Das Gesicht des Königs wurde durch Treibarbeit nachgearbeitet, die einen Willen zum Stil äußert und zugleich die individuelle Ähnlichkeit mit dem Modell zugunsten eines Schematismus zurücknimmt. Körperliche Berührung und Stil, die durch die gezielte Wahl des Goldblechs erreicht werden, zeugen von einer hybriden oder polyvalenten Bildtechnik, die wiederum den offenen Charakter des Abdruckverfahrens betonen, wie Didi-Huberman ausführt. In der Fotografie ist der lichtempfindliche Bildträger die Matrix. Auf ihm löst das einfallende Licht als ,Pater‘ den chemischen Prozess der Formwerdung aus. In der anschließenden Dunkelkammerarbeit formen FotografInnen gleich der Treibarbeit an der Maske des Agamemnon nach Maßgabe des historischen Stilwillens den Charakter des Bildes.

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Es ist der Verlust der Matrix zu beklagen, des Orts, an dem sich Ähnlichkeit durch Abdruck reproduziert, wenn niemand mehr ein fotomechanisches Lichtbild herstellt. Das digitale Bildmedium vermag mit Hilfe des ,paternalen‘ Lichts durch unendliche Reduplikation der Daten identische Kopien zu erzeugen, Klone, die beliebig vermehrbar sind. Er- und nicht gezeugt werden Nachkommen, die keine ‚Mutter‘ haben, die keinen physischen Körper haben, sondern sich einen Körper, Screen oder Display, leihen, und keinem sichtbaren Alterungsprozess unterliegen. Weil der Klon eines Datensatzes nicht aus vergänglicher Materie besteht, vermag er auf allen Bildschirmen gleichzeitig, global präsent zu sein und kann nicht vernichtet werden. Es wird auch weiterhin Bilder geben, die eine Genealogie durch Ähnlichkeit beweisen sollen, nicht wie in der Malerei, wo ein Maler oder eine Malerin auf der Leinwand Ähnlichkeit mit dem Modell visuell erfassen und mit der Hand nachbilden  – es wird eine elektronisch erzeugte und keine physisch gebildete Genealogie sein. Jean Baudrillard beklagt den Verlust von Imagination: „Die äußere Gewalt, die dem Bild angetan wird, ist die des synthetischen, computergenerierten Bildes, das ex nihilo aus dem digitalen Kalkül und dem Computer hervorgeht. Damit ist Schluß mit der Imagination des Bildes (image), mit seiner grundsätzlichen ‚Illusion‘, denn in der synthetischen Operation gibt es keine Referenz mehr, das Reale hat keinen Anlaß und keinen Ort mehr, um stattzuhaben, weil es unmittelbar als virtuelle Realität produziert wird.“58

4. Verlust der Reproduktion mit Hilfe eines Negativs Die abendländische Kunstgeschichte beginnt bei Plinius d. Ä. mit dem privaten Bilderkult der Römer. „Die aus Wachs modellierten Gesichter [expressi cera vultus] waren in einzelnen Schränken verteilt, um Bilder [imagines] zu haben, welche die Leichenbegängnisse edler Geschlechter begleiten, und bei jedem Verstorbenen war stets die ganze Schar der Familie, so groß sie jemals war, zugegen.“59 War ein Familienmitglied gestorben, so führten die römischen Adelsfamilien die Büsten in einer Leichenprozession mit sich (Abb. 75). Der Abdruck wurde gemacht, um die Wachsbüsten zu vervielfältigen. Verheiratete sich ein Familienmitglied, so fertigte man neue Abgüsse, die dann in das Haus der Jungvermählten einzogen. Didi-Huberman spricht hier von der „Macht des Negativen“, der Gegenform, welche die Reproduktion ermöglicht.60 In der römischen Bildniskunst, so folgert er, war der Abdruck, das Negativ, vielleicht das Kostbarste, da es ermöglichte, neue Wachsabgüsse als identische Reproduktionen herzustellen. In dieser Bildpraxis wird die Koinzidenz von Bildtechnik und Bildfunktion sichtbar, die aus der Garantie einer unverfälschten Übertragung von Ähnlichkeit resultiert. Noch beinahe 2.000 Jahre später ist das Gesetz der unverfälschten Reproduktion im Lichtabdruck der Fotografie verankert. Die Macht des Negativs liegt hier im Status des einzigen Originals, das, abhängig von einem materiell bedingten Alterungsprozess, beliebig oft reproduzierbar ist: Wenn niemand mehr fotografiert, verstummt die Rede vom Original, von einem Bildnegativ als Urbild, das potenziell unendlich viele Positivbilder hervorbringen kann. Didi-Huberman schließt daraus, dass das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, von dem Walter Benjamin spricht, nichts anderes ist, „als das Kunstwerk schlechthin, als das Kunstwerk, seit

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75  Togastatue eines Römers mit Ahnenporträts, Rom, Konservatorenpalast

es eine Kunstgeschichte gibt“.61 Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit beginnt also bereits lange vor der Erfindung der Fotografie. Baudrillard beklagt den Verlust des dualen Prinzips der menschlichen Existenz: „So ist die von der Arbeit des Negativen, vom Motor des Widerspruchs angetriebene moderne Welt, die Marx vor Augen hatte, durch das Übermaß ihrer Erfüllung zu einer anderen Welt geworden, in der die Dinge zu ihrer Existenz nicht einmal mehr ihres Gegenteils bedürfen, in der das Licht nicht mehr des Schattens, das Weibliche nicht mehr des Männlichen (oder umgekehrt?), das Gute nicht mehr des Bösen bedarf – in der die Welt uns nicht mehr braucht.“62

5. Machtverlust Aus der technischen Voraussetzung des Lichtabdrucks, aus der unmittelbaren Berührung, die Singularität garantiert, beruht die Macht des Einmaligen.63 Das Negativ gewährleistet die Herstellung unzähliger Reproduktionen, so dass sich Macht durch Dissemination potenzieren lässt, vor allem dann, wenn es sich um autorisierte Bilder handelt. Die gängige Bildpraxis der

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76  Larry W. Smith: Barack Obama - Election 2008

politischen Fotografie, in der jedes Foto eines Staatsoberhauptes autorisiert wird, widerspricht daher Benjamins These, dass Aura durch Reproduktion zerstört wird (Abb. 76).64 Im Gegenteil verspricht die Fotografie im Rückblick auf die Mediengeschichte als Abdruck auf einem Bildträger Einmaligkeit, Authentizität und Macht, die durch Reproduktion vervielfältigt wird.65 Aura wird demnach zerstört, wenn es keine Berührung, kein Negativ, keinen Abzug mehr gibt. Vom Standpunkt des Bilderzeitalters betrachtet erscheint auch die Fotografie als ein Medium mit Aura, was in Roland Barthes’ Die helle Kammer bestätigt wird. Das digitale Bild bedient sich der Fotografie als Maske und zieht seinen eigenen Profit daraus, indem es Berührung und Singularität durch Nachahmung der Fotoästhetik behauptet. Die große Macht des Abdrucks, seine wesenhafte Magie, so Didi-Huberman, ist eine Berührung, die Dissemination erlaubt. Somit steht die Fotografie in der Tradition des Siegels, der Prägung von Münzen, des Gaufrierens von Hostien. Die Fotografie hat damit Teil an der fundamentalen Ökonomie der Transsubstantiation, so Didi-Huberman, der Verwandlung von Fleisch und Blut in ein materielles Bildobjekt. Das digitale Bild erzeugt eine andere, machtvolle Ökonomie durch das Potenzial ihrer omnipräsenten, identischen Kopie, dem Klon. Der in ein Bildobjekt verwandelte Datensatz verbirgt, wenn er sich als Fotografie maskiert, seine digital errechnete, elektronisch erzeugte Herkunft. Die Magie des digitalen Bildes liegt in der Perfektion seiner Maske, die dazu dient, den Glauben an den fotografischen Index aufrecht zu erhalten. Baudrillard beklagt die Unsterblichkeit des Menschen im Virtuellen: „Am Ende der Machtergreifung dieser Maschine, die die gesamte menschliche Intelligenz in sich zusammenfaßt und sich von nun an völliger Autonomie gewiß ist, wird deutlich, daß der Mensch nur um den Preis

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seines eigenen Todes existiert. Unsterblich wird er nur um den Preis seines technologischen Verschwindens, seiner Einschreibung in die Ordnung des Digitalen (die mentale Diaspora der Netze).“66

6. Verlust der Aura Der Abdruck ist ambivalent und dialektisch hinsichtlich des Raums und der Zeit von Dingen und Personen, die er abbildet.67 Er ist daher die bevorzugte Form, mit der sich die Götter den Menschen zeigen. Ob die Fußspuren Buddhas oder das wahre Bild Christi (Vera Icon), stets repräsentiert der Abdruck eine subtile Vereinigung von Nähe und Ferne, die Aura (Abb. 77). Am Ursprung der christlichen Bildtradition steht die Vera Icon, der Gesichtsabdruck Christi auf einem Leinentuch, oder das Turiner Grabtuch, in dem die menschliche Person Gottes nicht nur sichtbar, sondern vor allem präsent – anwesend – ist. Die faktische Unsichtbarkeit kompensiert die Berührung mit dem Körper Christi, der sich als Spur manifestiert. Didi-Huberman gibt die folgende Definition dieser Bildlichkeit: „In der Dialektik dieser beiden Ähnlichkeiten [der spurhaften und der bildhaften Ähnlichkeit, C. K.] präsentiert es sich [das Antlitz Christi] abwechselnd als weniger als ein Bild, als Matrix des Bildbegriffs und als mehr als ein Bild: weniger als ein Bild, weil es ein Feld unbeschreibbarer, kaum sichtbarer Spuren ist, die aus einer einfachen materiellen impressio hervorgegangen sind; Matrix des Bildes, weil es dem Bild seine Legitimität verleiht, der ,Prototyp‘ seiner Erzeugung ist [...]; mehr als ein Bild schließlich, weil es über die ,künstlerische‘ Nachahmung hinausgeht, über das ,von Menschenhand‘ Gemachte – weil es weniger von etwas Sichtbarem an sich hat als von einer Vision.“68 Das durch Abdruck gewonnene Bild Christi ist formal ein „face“, bildtheoretisch aber ein „interface“, das „das Beinahe-Nichts der Spur (trace) in das Beinahe-Alles [der Gottesschau, C. K.] umwandeln kann“.69 Didi-Huberman sieht in dieser Umwandlung die fundamentalen bildanthropologischen Bedingungen des Abdrucks. Die Transformation geht von der materiellen, sinnlichen Spur zur Gottesschau von Angesicht zu Angesicht. Hierin, so Didi-Huberman, erhebt sich die Frage der Aura. Voraussetzung ist die Säkularisation des Aura-Begriffs, da man die Wirkung der Bilder nur mit säkularisierten Interpretationskategorien begreifen wird. Walter Benjamin ist der erste, der die Eigenschaften der Aura als phänomenologische Bedingung beschreibt, die das Verhältnis zwischen Blickendem und Angeblicktem definiert.70 Die erste Eigenschaft der Aura ist der räumliche Bezug. Aura ist demnach in der klassischen Definition Benjamins die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“.71 Didi-Huberman kritisiert die allzu voreilige Gleichsetzung von technischer Reproduzierbarkeit und Verlust der Aura, die Benjamin an der fotografischen Reproduktion von Kunstwerken exemplifizierte. Der zweite Kritikpunkt betrifft Benjamins Bestimmung eines Gegensatzes von Spur und Aura. Das wahre Bild Christi zieht seine Wirkung gerade aus der Auratisierung der Spur. Das, was im Antlitz Christi anblickt, bleibt für uns unsichtbar und erweist sich gerade deshalb als Macht der Dis­tanz, eine Distanz, die durch Berührung eines weißen Leinentuchs mit einem lebendigen Körper zustande gekommen ist. Bildtheoretisch zieht das auratische Objekt seine Wirkung aus dieser Dialektik von Nähe und Ferne. Und genau hier wird der Begriff „Aura“ auf die Fotografie übertragbar. Auratische

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77  Albrecht Dürer: Kleine Passion, Holzschnitt 23: Veronica mit dem Schweißtuch, um 1510

Bilderfahrung speist sich aus dem Blick auf das Objekt, das dem Unbelebten die magische Kraft des Lebendigen verleiht. Für Roland Barthes war der Blickwechsel mit dem Foto seiner Mutter als Kind Anlass zur Frage nach dem „Wesen der Fotografie“.72 Im Abdruck wie der Fotografie kulminiert auratische Bilderfahrung, da das Moment der Berührung hinzukommt, dem das Bild seine Existenz verdankt. Die Spannung zwischen Berührung und Distanz wird als Kraft oder Magie des Bildes erfahren, die sich zwischen der Berührung, in der der Abdruck sich bildet, und der Distanz, in der er, von dem verlassen, was ihn zuvor erzeugt hat, zeigt. Digitale Bilder treiben die auratische Bilderfahrung, welche die Pioniere der Fotografie beschrieben haben, noch einmal hervor, indem der Verlust von Wirklichkeitsreferenz, welche die Fotografie versprach, so vehement beklagt wird. Diejenigen, die mit Barthes das „es-ist-so-gewesen“ als Denkinhalt (Noema) der Fotografie verstehen, werden dem digitalen Bildmedium nur eine ,geraubte‘ Aura zugestehen. Im Zeitalter der Bilder gibt es jedoch weiterhin auratische Bilderfahrungen, denn die BildbetrachterInnen sind gern bereit, den medialen Aspekt des digitalen Bildes, seine Spurlosigkeit, auszublenden. Das digitale Bild raubt sich die auratisierten Spur, welche die Fotografie versprach, und setzt sie sich als Maske auf. Es erzeugt Aura qua Dis/ simulation.

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Jean Baudrillard beklagt den Verlust von Ironie: „Wenn die subjektive Ironie verschwindet – und sie verschwindet im Spiel des Digitalen –, dann wird die Ironie objektiv. Oder sie verschwindet. Im Anfang war das Wort. Das Schweigen kam erst nachher. Das Ende selbst ist verschwunden ...“73

Was bleibt Was aber bleibt von der Fotografie, wenn ihr „eigentümliches Wesen“ (Barthes) wenn nicht zu Grabe getragen, so doch von der digitalen Bildtechnik überlebt wird? Ist es dann überhaupt noch relevant zu wissen, ob ein Bild mechanisch-technisch oder elektronisch produziert wurde, zumal für die Kunst? Ist die Differenz analog – digital, die nicht nur in Bezug auf die Fotografie eine Zeitwende markieren soll, auch Kennzeichen für einen Paradigmenwechsel der Bilderfahrung? Die Bildtradition haftet an elektronischen Bildern als ‚look‘, der die Ästhetik des alten Mediums prägt. Dieser Look ist perfekter im Sinne der Eliminierung von Bildstörungen und der Erzeugung von formalen Reduktionen oder er kann effektvoller sein in der Erzeugung von formaler Komplexität und überwältigender in der Überforderung der BetrachterInnen.74 Der Umgang mit den neuen, digital erzeugten Bildern ist ebenfalls traditionsverhaftet, ob sie als ,Beweise‘ für das Weltgeschehen in der Tageszeitung herhalten müssen oder als Kunst in den Museen bewundert werden, ob sie als Wahrheit oder als Fiktion betrachtet werden. Die soziale Praxis haben digitale Bilder von ihren analogen Vorbildern geerbt. Auch auf Instagram werden Bilder hochgeladen, um Freunden zu zeigen, wer man ist und was man hat. Was im Umgang mit Bildern zählt, ist also nicht so sehr das technische Bildverfahren, als vielmehr der Glaube an die Bilder.75 Dieser Glaube ist über die Jahrhunderte kulturell eingeübt und tradiert und wird im (digitalen) Zeitalter der Bilder von immer mehr Menschen auf der ganzen Welt ausgeübt. Es kann also weder Abdruck, Spur noch Index sein, denen die Fotografie den leitästhetischen Charakter in unserer Bildkultur verdankt; all dies ist im digitalen Bildmedium restlos getilgt. Was bleibt, ist der Schein des ,als ob‘ aller Bilder, die sich auf Welt beziehen, gleich in welchem Medium sie erscheinen. Der Schein, dies haben die bisherigen Überlegungen bestätigt, scheint wahrer zu sein als die Wirklichkeit, die das Bild abzubilden prätendiert.

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Endnoten 1 https://www.nextrembrandt.com/ (letzter Zugriff 10.8.2018). 2 Peter Geimer: Fotografie und was sie nicht gewesen ist: fotografic drawings 1834–1844, in: Gabriele Dürbeck (Hg.): Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung, Dresden 2001, S. 135–149. 3 Wolfgang Hagen: Die Entropie der Fotografie. Skizzen zu einer Genealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung, in: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2002, S. 195–235, hier S. 203. 4 Ebd. 5 Charles Sanders Peirce: Die Kunst des Räsonierens. Kapitel II (1893), in: ders.: Semiotische Schriften, hg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Bd.1, Frankfurt a. M. 1986, S. 193. 6 Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, hg. v. Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 1998 (Paris 1990), S. 27–57. 7 Hagen: Die Entropie der Fotografie, S. 234–235. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Hans Belting: Das echte Bild. Bilderfragen als Glaubensfragen, München 2005, S. 7–44, hier S. 8. 11 Ralph Keynes: The Post-Truth Era: Dishonesty and Deception in Contemporary Life, New York 2004, prägte den Begriff, der 2016 zum „Wort des Jahres“ der Gesellschaft für deutsche Sprache ausgerufen wurde. 12 Jules Janin: Der Daguerreotyp (1839), in: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I (1839–1912), Bd. 1, München 1999, S. 46–51, hier S. 47. 13 Zu Narziss als Paradigma des Bildbetrachters siehe Christiane Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums, München 2003, S. 307–343. 14 Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, lat.-dt., hg. u. übers. v. O. Bä­ tschmann und C. Schäublin, Darmstadt 2000, S. 237. 15 Janin: Der Daguerreotyp, S. 49. 16 Ebd., S. 49–50. 17 Ebd., S. 47–48. 18 Ebd., S. 49. 19 Ebd., S. 49. 20 Ebd., S. 50. 21 Ludwig Schorn / Eduard Koloff: Der Daguerreotyp, in: Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I (1839–1912), S. 56–59, hier S. 56. 22 Ebd., S. 59. 23 Ebd. 24 Peirce: Die Kunst des Räsonierens, S. 193. 25 Rosalind Krauss: Anmerkungen zum Index Teil 1, in: Herta Wolf (Hg.): Paradigma der Fotografie, S. 140–157, hier S. 149. 26 André Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes, in: ders.: Was ist Kino?, hg. v. H. Bitomsky u. a., Köln 1975, S. 24. 27 Ebd., S. 25. 28 Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978. 29 Jay David Bolter / Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge, Mass. 1999, S. 115– 129. 30 Christian Metz: Foto, Fetisch, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie, S. 215–225. 31 Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006; siehe auch grundlegend Daniel Miller: Material Culture and Mass Consumption, Oxford 1987, hier S. 204–206. 32 Vgl. für Ghana Birgit Meyer: Sensational Movies. Video, Vision, and Christianity in Ghana, Oakland 2015, besonders Kap. 6: Animation. 33 Ebd., S. 319. 34 Timm Starl: Knipser. Die Bildgeschichte der Fotografie in Österreich und Deutschland von 1880–1980, München 1995. 35 Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 333. 36 Ebd.

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37 Ebd., S. 334. 38 Charles Baudelaire: Der Salon 1859, in: Sämtliche Werke / Briefe, hg. v. F. Kemp und C. Pichois, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860, München 1989, S. 127–212, S. 137. 39 Pierre Bourdieu: Die gesellschaftliche Definition der Photographie, in: ders. / Luc Boltanski u. a. (Hg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Hamburg 2006 (Paris 1965), S. 85–109, hier S. 90. 40 Ebd., S. 94. 41 Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 346. 42 Siehe zu Madonnas Confessions Tour (2006) Anne Marie Korte: Blasphemous Art in Post-Secular and Gender-Critical Perspektive, in: Christiane Kruse / Birgit Meyer / Anne Marie Korte (Hg.): Taking Offense. Religion Art, and Visual Culture in Plural Configurations, Leiden u. a.O. 2018, S. 113–139. 43 Siehe die Mediengeschichte der Fotografie bei Dubois: Der fotografische Akt. 44 Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie. Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999. 45 Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, aus dem Frz. v. Peter Geimer, München 2007; in seinem Buch über Fotografien von Häftlingen aus dem Konzentrationslager Ausschwitz überträgt Didi-Huberman seine Überlegungen zum Abdruck auf die Fotografie. 46 Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, S. 403–422, postuliert ein Leben der Fotografie nach ihrem Tod. 47 Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 17. 48 Ebd., S. 18. 49 Peter Geimer: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010. 50 Wofgang Hagen: „Being There!“ Epistemologische Skizzen zur Smartphone-Fotografie, in: Gudolf S. Freyermuth / Lisa Gotto (Hg.): Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur, Bielefeld 2013, S. 103–131, hier S. 116. 51 Jean Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, aus dem Franz. v. Markus Sedlaczek, Berlin 2008 (Paris 2007), S. 35. 52 Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 24. 53 Ebd., S. 26. 54 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1989. 55 Hagen: „Being There!“, S. 117. 56 Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, S. 34. 57 Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 30–38. 58 Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, S. 33. 59 C. Plinius Secundus d. Ä: Naturkunde. Buch XXXV, lat.-dt., hg. u. übers. v. R. König, München 1978, S. 17. 60 Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 38–42. 61 Ebd., S. 42. 62 Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, S. 10–11; vgl. auch ebd., S. 49–51. 63 Ebd., S. 43–46. 64 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1,2, hg. v. F. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977, S. 435–508. Zum Aspekt der Autorisierung des politischen Bildes siehe mein Kapitel 11: „Kunst und Bildakte“. 65 Ich folge hier der aktuellen Aura-Forschung, die darauf hinweist, dass der „Aura-Begriff möglicherweise nur auf zeitlich ferne Gegenstände angewendet werden kann, zum Beispiel auf Kultobjekte, die man, aus moderner, ,naher‘ Perspektive, zur Kunst erklärt und in die man auf diese Weise eine Differenz einschreibt“. Demnach bedingen sich „Beobachtungen eines Auraverlusts und ein Aurapostulat aus zeitlicher sowie medialer Distanz“ immer schon wechselseitig. Ulrich Johannes Beil / Cornelia Herberichs / Marcus Sandl: Benjamins Aura-Konzept und die historische Mediologie. Ansätze, Kontexte, Perspektiven, in: dies. (Hg.): Aura und Auratisierung. Mediologische Perspektiven im Anschluss an Walter Benjamin, Zürich 2014, S. 11–23, hier S. 18. 66 Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, S. 45–46. 67 Ebd., S. 46–54. 68 Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 47–48. 69 Ebd., S. 48.

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70 Werner Fuld: Die Aura. Zur Geschichte eines Begriffs bei Benjamin, in: Akzente, 26/3 (1979), S. 352–370, hat Alfred Schuler als Quelle für Benjamins Aura-Begriff ausgemacht, nach dem Aura ein „Fluidum“ist, das alle antiken Gegenstände haben, und Kunst „durch den feurigen Flor der Aura“ geschaffen worden sei. Schuler hat Aura als antimodernistisches Konzept verbreitet und ihren Verlust im Fortschritt der Moderne beschrieben. Benjamin kennzeichnet den Aura-Verlust wie folgt: „Aus den Dingen schwindet die Wärme.“ 71 Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, zit. Walter Benjamin, ebd., S. 48. 72 Siehe mein Kapitel 8 „Bildbetrachtung als Kulturtechnik“. 73 Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, S. 53. 74 Siehe Bolter / Grusin: Remediation. 75 Belting: Das echte Bild.

8  BILDBETRACHTUNG ALS KULTURTECHNIK „Abelone, ich bilde mir ein, du bist da. Begreifst du, Abelone? Ich denke, du mußt begreifen.“ Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 1910 Die Frage: „Warum lösen Bilder so viel Leidenschaft aus?“, die Bruno Latour 2002 in der Ausstellung Iconoclash stellte, ist nicht einfach zu beantworten.1 Fragen wir daher, wie es Bildern gelingt, so viel Leidenschaften in ihren BetrachterInnen auszulösen. Was passiert, wenn Bilder betrachtet werden, welche Gefühle, welche Denkprozesse kann die Bildbetrachtung auslösen? Ein Kunstbetrachter, das lyrische Ich in Giambattista Marinos Gedichtzyklus La Galeria (Venedig 1620), und Roland Barthes, der die Fotografie seiner Mutter betrachtet, werden diese Fragen beantworten.2 Zwei Psychologen und ein Kulturwissenschaftler werden dabei helfen, das Phänomen leidenschaftlicher Bildbetrachtung zu erklären. Kunst im 17. Jahrhundert wurde gemacht, die Gefühle ihrer Betrachter nicht nur heftig zu erregen, sondern die Betrachter zum Nachdenken – auch über Bild- bzw. Kunstbetrachtung – zu bringen.3 Das Ich, das der Leser in La Galeria durch den Gang einer fiktiven Sammlung von mehreren hundert Kunstwerken begleitet, beschreibt sehr genau nicht nur das, ‚was‘ es auf den Bildern sieht, sondern vor allem, was es beim Sehen denkt und fühlt, was es hört, was das Gesehene in ihm bewirkt, welche Gedanken es freisetzt. Wir haben es zuerst mit einem exemp­ larischen Bildbetrachter aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts in Italien zu tun, der bereits vor Fotografie und Kino in Worte fasst, was es ist, das beim Umgang mit Bildern Leidenschaft auslöst.

Bildbetrachtung, eine Kulturtechnik ohne Regeln Bildbetrachtung ist wie Lesen, Schreiben und Rechnen eine Kulturtechnik. Anders als Lesen, Schreiben und Rechnen unterliegt das Betrachten von Bildern keinen festen, geschweige denn kodifizierten Regeln: Auch wenn täglich in allen Medien Bilder und immer mehr Bilder angeschaut werden, so gibt es dafür keine der Orthografie, Grammatik, Algebra, Geometrie etc. vergleichbaren, erlernbaren Methoden. Bildbetrachtung ist vielmehr eine Praktik, die von klein auf geübt und in der angesichts ihrer Regellosigkeit eine erstaunliche Routine und Sicherheit entwickelt werden kann. Noch bevor ein Kind ein Wort lesen oder schreiben kann, hat es bereits den Umgang mit einer Vielzahl von Bildern erlernt, in Bilderbüchern die Welt entdeckt, über

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Bilder gestaunt und aus einer Bilderfolge erste Geschichten erschlossen. Doch verglichen mit den hochentwickelten und ausgearbeiteten Methoden der Kulturtechniken, die in der Schule unterrichtet werden, ist Bildbetrachtung quasi Analphabetismus bzw. Anikonismus,4 der sich durch alle soziale Schichten zieht. Wenn überhaupt Bildkompetenz unterrichet wird, geschieht dies im Fach Kunst, das oft episodisch erteilt wird und in der gymnasialen Oberstufe nur noch von wenigen SchülerInnen besucht wird. Es hapert somit gewaltig an der durch den globalen Wandel der Medienkultur erforderlichen Erlangung von Bild- und Medienkompetenz. Es gibt jedoch auch professionelle BildbetrachterInnen und BildproduzentInnen aus verschiedenen kulturellen Teilbereichen, etwa Kunst, Design, Fotografie, Film und Kunstwissenschaft, die sich zum Teil schon seit Jahrhunderten für ihre spezifischen Tätigkeiten jeweils eigene Regeln der Bildkompetenz geschaffen haben. Diese Profis im Umgang mit Bildern haben (oft auf hohem Niveau) das Bildermachen, die Bildbetrachtung, die visuelle Kultur bis dato geprägt. Dieser Minderheit steht eine ständig wachsende Mehrheit von amateurhaften BildproduzentInnen gegenüber, die seit der Erfindung der in ein Telefon integrierten digitalen Kamera (Smartphone) massenhaft Bilder machen, über sogenannte Soziale Netzwerke verbreiten und damit ebenfalls auf die visuelle Kultur einwirken bzw. diese prägen. Einer Minderheit von professionellen, oft akademisch ausgebildeten Bildprofis steht eine Mehrheit von Bildamateuren gegenüber, die mit Spaß und Intuition die Bildermenge stetig vermehren. Diese Mehrheit charakterisiert vorwiegend eine Regel- und Methodenlosigkeit im Umgang mit Bildern. Die Frage, warum sich in unseren hochspezialisierten Wissenskulturen nur ein verschwindend geringer Teilbereich, z. B. in Kunstakademien, der Aufgabe widmet, das Bildermachen zu unterrichten oder in kunsthistorischen Seminaren eine kritische Bildbetrachtung zu erlernen, ist interessant zu stellen. Angesichts des quantitativen, globalen Anstiegs von Bildern wird man sich dieser nicht einfachen, aber dringenden Aufgabe im größeren Kontext einer umfassenden Bild- und Medienkompetenz widmen müssen. Die sich seit den 1990-er Jahren hier und dort etablierenden Bildwissenschaften oder Visual Culture Studies haben damit begonnen und auch Grundprobleme, wie etwa das folgende, benannt: „[...] die Intelligenz der Bilder liegt in ihrer jeweiligen visuellen Ordnung, die offene Frage bleibt, wie sich diese Ordnung verstehen lässt, welchen Regeln sie folgt und wie viel konkrete Eigenart sie enthält“.5 Gewiss scheint vorerst, dass sich Bilder allen Regeln widersetzen und dass sich die meisten Menschen im täglichen Umgang mit Bildern nicht bewusst sind, wie sie dem visuellen Kommunikationsangebot der Bilder begegnen.6 Für die Mehrzahl der nicht-professionellen BildbetrachterInnen gilt ein hochgradig habitualisierter, weitgehend unreflektierter und vor allem unbewusster, d. h. intuitiver, Umgang mit Bildern. Kann man denn Bildbetrachtung überhaupt als eine Technik bezeichen im Sinne einer ausgebildeten Fähigkeit oder Fertigkeit, die zur Ausübung einer Sache notwendig ist? Legt man den Kulturbegriff der interdisziplinären Forscherguppe Bild, Schrift, Zahl am Berliner Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik (2001–2007) zugrunde, so fällt Bildbetrachtung unter die Kulturtechniken im engeren Sinne. Unter Kultur wird nicht mehr länger das verstanden, „was in Werken, Monumenten und Dokumenten sich zu stabiler Form auskristallisiert“.7 Die Signifikanz von Kultur liegt vielmehr in „Handlungen, Vollzügen, Ritualen und Routinen“,

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in alltäglichen Lebensformen.8 In diesem Kulturkonzept „gilt das Augenmerk verstärkt den nicht-propositionalen Wissensformen, also dem impliziten, verkörperten Wissen, das sich im Umgang mit Dingen und Instrumenten zeigt und bewährt“ und der „Erkenntnisdimension von Bildlichkeit“.9 Thomas Macho definiert Kulturtechnik als „Verrichtung symbolischer Arbeit“ und betont die notwendige Bedingung der Rekursivität, die sie von allen anderen Techniken unterscheidet. So wie man das Malen malen, das Schreiben schreiben und das Lesen lesen kann, so lässt sich auch das Bildbetrachten betrachten. Als „second order techniques“, so Macho, „brauchen und generieren sie Medien ihrer Operation“ und, so möchte man hinzufügen, ihrer Selbstreflexion.10 In diesen Kulturbegriff lässt sich die bewusste, die aktive Form von Bildbetrachtung ganz allgemein als eine performative Handlung beschreiben, in deren Verlauf BetrachterInnen mit Bildern kommunizieren, um über den Visus durch Beboachtung und Interaktion zur Erkenntnis von Bild und Medium zu gelangen. Das Beispiel des barocken Bildbetrachters, der Kunstbetrachtung zum Thema seines Gedichtzyklus macht, wird exemplarisch zeigen, wie sich Bilderkenntnis als eine leibseelische Erfahrung vollzieht. Wer Bildbetrachtung als eine kulturspezifische, symbolische Handlung zum Zweck der Erkenntnis durch und mit Bildern untersucht, wird außer dem Bild vor allem Bildbetrachter­ Innen in den Blick nehmen müssen. Bildbetrachtung als Kulturtechnik ist Teil der Rezeptionsästhetik, und zwar gerade in historischen Bildkontexten, in denen sich der Betrachter nur mehr in Texten greifen lässt. Für Wolfgang Kemp, der die ursprünglich literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik in die Kunstwissenschaft eingeführt hat, ist der Bildbetrachter jedoch explizit kein Untersuchungsgegenstand. Es geht ihm um eine intendierte Wirkungsästhetik, die Betrachterreaktionen in (historischen) Bildern und aus kodifizierten Bildkonzepten rekonstruiert.11 Bildbetrachtung als Kulturtechnik verfolgt hingegen die Frage, was Bilder an kognitiven und emotionalen Prozessen auslösen, welche psychischen Vermögen und Fakultäten die Betrachtung von Bildern stimuliert, welche Erkenntnisse über die Betrachtung von Bild und Medium gewonnen werden und wie sich Bildbetrachtung als performativer Akt und als eine symbolische Handlung in den historischen Bilddiskursen, die Diskurse über Kunst sind, kontextualisiert.12 Dies sind Fragen einer „allgemeinen Bildwissenschaft“, die sich in unterschiedlichen Fachrichtungen etabliert hat.13 Im 17. Jahrhundert werden bereits grundlegende Antworten auf diese Fragen vor Bildern gefunden, die im Kunstkontext entstehen. In der folgenden Analyse werden historische Kunstbilder nicht etwa als ein elitärer, Minderheiten zugänglicher kultureller Teilbereich behandelt. Der barocke Kunstbetrachter zeigt, wie sehr sein Umgang mit Bildern kulturprägend ist – und vor allem, dass er sich von heutigen BildbetrachterInnen nur insofern unterscheidet, als ihm die Art und Weise seines Umgangs mit Bildern bewusst ist.

Techniken der Bildbetrachtung In La Galeria von Giambattista Marino ist Bildbetrachtung in der rekursiven oder selbstreferenziellen Form auch eine Psychologie sui generis.14 Ungeachtet einer auf die Kunst bezogenen, historischen Topik, die die Überlegenheit der Kunst über die Natur und ihre Lebendigkeit in

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allen Variationen zur Sprache bringt,15 thematisieren die Gedichte insbesondere die Wahrnehmung von Bildern.16 Bildbetrachtung involviert den Körper, die Gefühle, die Vorstellungen, die Gedanken, das Verhalten: den ganzen oder die ganze BildbetrachterIn. Indem der Leser den Bildbetrachter beobachtet, wird er vor allem die emotionalen und irrationalen Wirkungsweisen der Bilder verstehen lernen, wie sie ihn betören, verführen, beherrschen, wie sie ihm unheimlich sind oder gar abstoßen. Das betrachtende Ich sieht angesichts des Bildes Gefühle der Liebe, Bewunderung, Faszination, aber auch der Wut, Enttäuschung und Depression in sich aufsteigen, und es versucht zu ergründen, wie es dazu kommt, wie etwa ein Stück bemalter Leinwand derartiges in ihm zu bewirken vermag. Irrationale Bilderfahrung und rationale Bilderkenntnis – das wird in der folgenden Textanalyse zu zeigen sein – alternieren in La Galeria, werden miteinander verwoben, ohne dass das Wunder der Bildwirkung letztlich zu ergründen ist: Die Wirkung eines Kunstwerks – und dies ist die Prävalenz der Kunst des 17. Jahrhunderts gegenüber Bildern, die nicht Kunst sind, – bleibt im Reich der Magie, bleibt ein Geheimnis der Kunst. Die beiden Formen der durch Bildwirkung evozierten Bildbetrachtung, die leidenschaftlich-irrationale und die nach Erkenntnis von Bild und Medium strebende rationale, gehören zu den Grund- oder Basisformen jeder Bildkommunikation. Der leidenschaftlich-irrationale Umgang mit Bildern ist eine aus der Bildwirkung resultierende Kommunikationsform, die in den Kapiteln diese Studie immer wieder zur Sprache kamen. Auch oder gerade professionelle BildbetrachterInnen können einen leidenschaftlichen oder naiven Zugang zu Bildern haben und betrachten nicht jedes Bild sofort oder ausschließlich mit analytischer Distanz. Es gilt deshalb beide Kommunikationsformen mit Bildern und ihre Mischformen in den Blick zu nehmen: „Die Logik des Zeigens und damit die des Bildes operiert [...] mit Übergängen, Unbestimmtheiten, mit Ambiguitäten und erzeugt auf diesem Wege ihre anschauliche Evidenz. Ohne dieses Mannigfaltige, Singuläre, Sinnliche, Schwankende, Energetische oder Affektive lässt sich über Bilder [...] nicht wirklich nachdenken.“17 Dies erfordert, so Gottfried Boehm, eine Revision des Begriffs vom Logos.18 Der italienische Lyriker Giambattista Marino führt uns die affektiven Bildwirkungen besonders eindringlich an den Bildern der eigenen Geliebten vor Augen. Und es ist sicher kein Zufall, dass er den stärksten menschlichen Leidenschaften, der Liebe und dem Liebesbegehren, die längsten und auch zentralen Gedichte von La Galeria widmet.19 Die Bildbetrachtungen, deren Zeuge wir bei der Lektüre quasi als einen Gang durch die sprachlich evozierte Bildergalerie werden, sind keine Bildbeschreibungen im Sinne der klassischen Ekphrasis.20 Die Gedichte verweilen oft nur sehr kurz bei der Beschreibung dessen, was es auf den Bildern überhaupt zu sehen gibt und wie dies dargestellt ist. Sobald das Bildthema eingeführt ist, schildert das Ich, wie es mit dem vom Bildgegenstand ausgehenden visuellen Impulsen und Reizen sehr intensiv, zuweilen heftig kommuniziert. Die Illusion, die die Gedichte mit den rhetorischen Mitteln der „evidentia“ aufbauen, betrifft folglich nicht so sehr das Bild, sondern das Betrachter-Ich, näherhin das Zustandekommen von zuweilen leidenschaftlichen Affekten, die die LeserInnen mit- und nachempfinden sollen. Zunächst einige Bemerkungen zur Kommunikationsstruktur des Textes, um einer ‚naiven‘ Lektüre von La Galeria vorzubeugen. Das Ich macht dem Leser zwei Rezeptionsangebote. Es

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schafft zum einen Nähe und suggeriert ihm, dass er die Bildbetrachtung ganz unmittelbar als Augenzeuge miterlebt. Der Leser soll sich in seine Situation einfühlen, das Betrachter-Ich verlangt Empathie. Es bietet aber auch die Möglichkeit einer doppelten Distanznahme an: einmal vom Gemälde, der Statue etc., dessen Bild den LeserInnen vorenthalten wird – wir ‚sehen‘ das Kunstwerk ja nur als sprachlich Vermitteltes und dann auch noch mit den Augen eines Anderen. Ferner auch Distanznahme von dem Ich: Wir können die Urteile über das, was das Ich sieht, und die zum Teil recht emphatisch vorgetragenen Affekte, die das Gesehene in ihm auslösen, gerade weil sie uns sprachlich vermittelt werden und nicht unmittelbar betreffen, auch ganz nüchtern betrachten. Das bildbetrachtende Ich macht die LeserInnen zu Komplizen, indem es sie durch sprachlich vermittelte, erfahrbare Imaginationsangebote affiziert: visuell, auditiv, im weitesten Sinne sensuell. Es zieht die LeserInnen dadurch in das Drama seiner Bildbetrachtung hinein. Es lässt aber auch Raum für die rationale Distanznahme und Durchdringung der sprachlich vermittelten Visualität, denn wir sind LeserInnen eines Textes und stehen nicht wirklich vor dem Kunstwerk, was einen ganz wesentlichen Unterschied macht. Die LeserInnen haben die Wahl, sich ganz naiv in das Drama der Bildbetrachtung hineinzubegeben oder das Ganze als eine höchst gelungene Vorführung starker seelischer Affekte zu betrachten, die ein kleines Stück bemalter Leinwand oder ein kunstvoll behauener Stein hier in einem Subjekt männlichen Geschlechts auslöst. Die Spannung, die sich zwischen der einen, der naiven oder unmittelbaren Rezeption und der auf die Reflexion von Bild und Medium bezogenen Rezeptionshaltung auftut, ist das eigentliche, das metafiktionale Thema von La Galeria wie überhaupt ein Merkmal der Rezeption barocker Kunstwerke.21

Das grausame Bild Am Ende des Gedichts L’imagine crudele, mit seinen 18 Strophen zu je 8 Versen eines der längsten Gedichte der Galeria, fühlt das Betrachter-Ich, dass es angesichts des Porträts der Geliebten sterben wird.22 Dem Gefühl des nahen Todes geht die ausführliche Betrachtung des Porträts einer Frau voraus, das ein anonymer, hochbegabter, vom Ich als „weiser Meister“ gepriesener Maler gemalt hat. Das Fazit der Betrachtung artikuliert sich in der 16. Strophe wie folgt: „Alles, was in mir fehlt, ist in dir im Überfluss, ich entdecke wohl in deinem Überfluss meinen Mangel. In deinem Schatten verdunkelt sich meine Hoffnung, in deinem Licht erblindet mein Vergnügen: angesichts deiner Farben erbleiche ich, du atmest und lebst, ich seufze und sterbe.“ (Vers 123–128) Welch eine katastrophale Wirkung eines Gemäldes, das seinem Betrachter alles nimmt, Hoffnung, Vergnügen und schließlich das Leben. Wie konnte es nur dazu kommen? Offensichtlich ist das Ich ein gedemütigter und enttäuschter Liebhaber. Die Frau, die er als gemalte betrachtet,

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ist im wirklichen Leben eine „donna crudele“, schön und grausam, sie ist hart, hochmütig, ein Raubtier.23 Bereits im Titel beweist Marino seinen Witz, indem er das in der lyrischen Tradition hochemotional besetzte Motiv der „donna crudele“ nun programmatisch auf die Reflexions­ ebene des Bildes, des „imagine crudele“, hebt. Das Bild kommt, wie sich zeigen wird, der Frau in Schönheit und Grausamkeit gleich. Obwohl der Maler des Porträts sich darum bemühte, die Makel der Natur zu tilgen und den Gesichtsausdruck der Frau mit vorgetäuschtem Mitleid zu zieren, hat die wirkliche Frau ihre Macht an die gemalte übertragen, denn: „Dein grausames Ebenbild vermag / den Geist der Grausamkeit sogar der Leinwand zu geben.“ (Vers 23–24) Statt einen erhofften Trost in dem Bildnis zu finden, evoziert das Gemälde die Grausamkeit der Frau, die sich in der Leinwand, in den Farben materialisiert und von dort ihren „Geist der Grausamkeit“ auf den Betrachter überträgt. Trotzdem bewundert das Ich das faszinierende Bild: „Und doch, den Schatten meiner Sonne, obwohl erlogen, betrachte und bewundere ich trunken vor größtem Gefallen. Mit ihm spreche ich, ihn bitte ich um Beistand, mit ihm weine ich zuweilen, mit ihm seufze ich. Wenn ich dann die Hoffnung verhöhnt sehe, beklage ich mich über ihn und erzürne mich. Aber während ich der Bewunderung hingegeben träume, ist die Täuschung so süß, dass ich nichts anderes ersehne.“ (Vers 25–32) Das Ich spricht, weint, seufzt mit der im Bild anwesenden Frau, es hört sie auch selbst sprechen, weinen, seufzen. Der – selbst erzeugten – Illusion, die das Bild zur Kommunikation mit dem Ich befähigt, folgt die enttäuschte Hoffnung, die Erkenntnis, dass es sich doch nur um ein Gemälde handelt, das eben gar nicht sprechen und weinen kann. Die Erkenntnis, dass die Frau nur gemalt ist, macht das Ich zornig: Es klagt das Bild an, dass es ihm nicht das gibt, was es sich erhofft hat. Zugleich beschuldigt es sich selbst, dass es der Faszination eines Bildes erliegt. Aber die Illusion vermag sich bald, wegen der betörenden Schönheit der gemalten Frau, an der die Kunst des Malers eine besondere Schuld trägt, wieder einzustellen. Das Bild ist schön, wie ein Traum, seine Täuschung vermag das Liebesbegehren des Ich jedenfalls zeitweise zu stillen. Das Gedicht artikuliert bis zur 4. Strophe bereits drei Bildkategorien und eine Vielzahl von Bildbegriffen. Es kommen im Verlauf der Betrachtung noch eine Reihe weiterer Bildbegriffe hinzu: das Gemälde als Trägermedium (Leinwand, schöne Zeichnung, Schleier, Gemälde etc.), das Gemälde als Ebenbild der Geliebten (engelhaftes Porträt, schönes Gesicht, liebliches Werk, Ähnlichkeit, Bild, das dir ähnelt, süße Reliquie etc.), das Gemälde als Vorstellungsbild, Illusion oder Täuschung (süßer Irrtum, liebliche Täuschung, Wunder, Schatten meiner Sonne, Simulakrum etc.) In der 5. Strophe hält das Ich mit der Betrachtung inne und reflektiert über das, was ihm bei der Bildbetrachtung widerfuhr. Im vollen Bewusstsein, sich in ein gemaltes Gesicht verliebt

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zu haben und damit sogar willentlich der Idolatrie verfallen zu sein, erkennt es sein abwegiges Verhalten: „In einen falschen Traum war Endymion verliebt, für eine gespiegeltes Ebenbild entbrannte Narziss, Pygmalion liebte ein anmutiges Bildwerk aus Elfenbein, von gelehrter Hand geschnitzt. Ich, der sich nicht weniger Eitelkeiten hingibt, bete den Schatten eines gemalten Gesichts an, und stets von gewollten Irrtümern geleitet folge ich meiner tollen und flüchtigen Liebe.“ (Vers 33–40) Und in der 6. Strophe heißt es: „Ein Knabe scheine ich, der abgebildet in opakem Kristall das eigene Gesicht sieht, das rechte Händchen ausstreckt und meint, das Ding zu greifen, das im schönen Glas enthalten ist, und scherzend und lachend vergebens das Ziel seines einfältigen und törichten Begehrens erbittet. Das vergebliche Spiel bemerkt er jedoch und all sein Scherzen endet in Tränen.“ (Vers 41–48) Hin und her gerissen zwischen der Illusion des schönen Gesichts, das sich dem begehrenden Betrachter greifbar nahe und lebendig zeigt, und der Enttäuschung, das Begehrte nicht zu erlangen, fühlt sich das Betrachter-Ich wie ein Kind, das das Spiegelbild für Wirklichkeit nimmt. Mit dem vom Spiegelbild frustrierten Knaben ist der naive Bildbetrachter charakterisiert, der, wie das Ich vor dem Bildnis der Geliebten, zeitweise auch nicht in der Lage ist, zwischen Bild und Wirklichkeit zu unterscheiden.24 Das Spiel des unwissenden, kindlichen Bildbetrachters endet bei Marino in einer Frustration und in Tränen: Er bekommt nicht, was er will. Das Gedicht ist voll von Anspielungen und Rückbezügen auf die antike Mythologie, Erzählungen von antiken Künstlern, Bildbetrachtern und Amor als Personifikation der Liebe, die hier die Funktion der historischen Exempla oder Vorbilder übernehmen und somit die Reflexion über Bildwirkung und -wahrnehmung des Ich unterstützen. In dem Bildnis der Geliebten kreist „Amors Geist“ in den Augen der Gemalten. Amor verwirrt die Sinne des Betrachters, trägt also eine gehörige Portion Mitschuld daran, dass das verliebte Ich seiner Sinne nicht mehr mächtig ist, die Fähigkeit des rationalen Urteils zeitweise verliert, zu Fantasievorstellungen verleitet wird oder gar halluziniert. So hört das Ich die Frau in der 7. Strophe süße Wort reden und gibt sich vergnügt dieser Illusion hin. Der Visus lässt sich derart von dem Bild verführen, dass das Ich, auch wenn es die Rede nicht hört, sie doch zu sehen vermeint: „Das Ohr tritt dem Auge sein eigenes Amt ab, / jenes hört die Rede nicht, doch dieses sieht sie.“ (Vers 55–56)

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Der Gesichtssinn, dem schon immer eine Vorrangstellung unter den Sinnen eingeräumt wurde, wird so machtvoll, dass er das Gehör zur Täuschung zwingt.25 Und immer wieder wird die vom Liebesbegehren gespeiste Illusion jäh enttäuscht, wenn der Körper des Ich auf die Realität des Gemäldes trifft, wenn der sensible Tastsinn die Täuschung erkennt: „Oh, wie oft streckt mit törichter Kühnheit, nachdem er lange das taube Orakel angefleht hat, der verliebte Mund die gierige Lippe zur lieblichen Täuschung! Aber ach, außer Leinwand berührt er nichts anderes, und ich Elender umarme den Schatten und beiße den Wind; und in enttäuschten Küssen findet mein Geist in der vorgetäuschten Farbe den wahren Schmerz.“ (Vers 57–64) Der Tastsinn ist der Antagonist des Visus, wie auch sonst in der barocken Traktatliteratur. In der aristotelischen Psychologie gründen alle Sinne auf den Tastsinn, der als einziger Sinn den Wahrnehmungsgegenstand ohne Vermittlung, unmittelbar mit der Haut, berührt (Aristoteles. Über die Seele, II, 11). Federico Zuccaro lässt sogar einen Künstler, Tizian, auf eine Leiter steigen, damit er sich tastend davon überzeuge, dass die Putten des Baldassare Peruzzi in der Villa Farnesina gemalt sind.26 Der zum rationalen, zum zweifellosen Urteil befähigte Tastsinn ist hier der Gegenspieler des leicht verführbaren, sich gern verführen lassenden Gesichtssinns, der sich den schönen Bildern und Träumen hingibt. Immer wieder bricht die ertastete Realität jäh in die visuelle Traumwelt des Betrachters, der die Desillusion als Frustration empfindet. In der dem Gedicht L’imagine crudele vorausgehenden Canzonetta über ein weiteres Bildnis, das der Maler Domenico Passignano von der Geliebten gemalt hat, ist die „gefühllose Leinwand“ der Gipfel der Desillusion, welche die Bilderkenntnis des Betrachters begrifflich fixiert.27 Der Konflikt, den der Bildbetrachter schildert, ist hier wie dort ganz offensichtlich eine vom Gemälde ausgehende Stimulation der Imagination, auf die der Betrachter mit seinen leidenschaftlichen Emotionen antwortet, da er die gemalte als wirkliche Geliebte begehrt. Dies nun weckt den Wunsch nach verbaler Kommunikation und dann nach körperlicher Vereinigung, – die an der Schnittstelle von Körper und Bild scheitern muss. Der Kuss auf Leinwand statt auf Lippen bringt die jähe Erkenntnis der Täuschung und reißt den Betrachter aus seinen Liebesträumen. Amors Geist, der sich in den gemalten Augen regt, ist die Energie, die das Bildnis der Frau beseelt, quasi lebendig macht, genauer: die Illusion der Lebendigkeit im Bildbetrachter entstehen lässt.28

Der Künstler als Seelenspender

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Der Künstler als Seelenspender Dass Amor sich in den gemalten Augen regt, ist nun vor allem das ‚Verdienst‘ des ausführenden Künstlers: „Du, eifriger Seelenspender der Leinwände, weiser Meister, und ebenso kühn wie weise, der das ruhmreiche Objekt so großer Schönheit als ein lebendiges Schauspiel gemalt hat: wie konntest du ohne zu erblinden, Sumpfvogel, es wagen, ein unendliches Licht anzuschauen?“ (Vers 65–70) Mit „Seelenspender“ wird dem Künstler eine neue, bisher so in der antiken und frühneuzeitlichen Kunsttraktatistik nicht formulierte Fähigkeit zugesprochen.29 Strophe 10 entfaltet nun die Vermessenheit dieses Namenlosen, der es wagt, die göttliche Schönheit der Frau in Farben auf die Leinwand zu bringen: Mit diesem Porträt riskiert er – durch einen einzigen Blick der Frau – nicht weniger, als seinen langjährig erworbenen Ruhm zu verlieren. Eine stattliche Reihe mythologischer ‚Künstler‘, die einst ebenfalls Großes wagten, Prometheus, Phaeton, Ikarus, werden als Beweis herbeizitiert, dass beim Vorhaben des Porträts die Selbstüberschätzung des Malers im Spiel und das Projekt deshalb zum Scheitern verurteilt war. Die Kunst ist in Strophe 11 sodann eine vergebliche Mühe. Da nämlich die Schönheit der Frau täglich zunimmt, muss der Maler, um ihr Ebenbild zu gestalten, täglich eine neue Gestalt finden. Angesichts derart hehrer Schönheit erreicht die Kunst der Mimesis – zumindest auf dem Papier des Dichters – eine neue Qualitätsstufe. Da es gelingt, die täglich anschwellende Schönheit der Frau auf die Leinwand zu bringen, ein Wunder der Kunst schlechthin, muss göttliches Wirken im Spiel gewesen sein.30 Die Kunst des irdischen Malers, der sich auf ein unmögliches Projekt einlässt, bedurfte, so besagen es die 12. und 13. Strophe, des Zutuns Amors. Dieser Gott, so vermutet das von der Kunst des Gemäldes überwältigte Ich, war wohl der Künstler, der, nach platonischer Lehre, das Abbild von der Idee nahm. Er verwendete seinen Pfeil als Pinsel, machte den Schleier zur Leinwand und rieb die Farben für das Gemälde mit dem lebendigen Stein eines harten Herzens. Da auch die Parze (Strophe 14) den Faden der Leinwand mit dem Lebensfaden des verliebten Ich verwoben und Amor Leben und Tod des Ich damit verbunden hat, bestimmen die gezeichneten Linien des Porträts das Ende seiner Lebenslinie. Bild, Frau, Leben und Tod des verliebten Ich sind auf diese Weise schicksalhaft miteinander verschlungen. Das Gedicht lässt die Autorschaft des Gemäldes letztlich unentschieden. Ein irdischer Künstler, der als primus inter pares alle großen, an Selbstüberschätzung wie Größenwahn leidenden Künstler vertritt, und das Zutun des ebenso listig wie machtvoll agierenden göttlichen Künstlers Amor, beide sind mit ihren jeweiligen Künsten an der magischen Wirkung des Gemäldes beteiligt. Als Koautoren des Port­ räts haben sie nur eines im Sinn, das Bild so lebendig wie das Leben selbst zu malen, damit es die Sinne des Betrachters verwirre und sein Urteil über seine Wahrnehmungen außer Kraft

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setze. Diese höchst vermessene Intention einer Bildwirkung ist bis dato in der Literatur über Kunst nicht formuliert worden. Sie kulminiert in Strophe 15, in der der Betrachter sich mit seinen Fragen direkt an die gemalte Frau wendet: „Sag mir, bist du eine gemalte oder lebende Schönheit? Ich möchte wissen, bist du ein Gemälde oder Feuer? Wenn du ein Gemälde bist, woher kommt jene Hitze, die mich nach und nach zerstört? [...] Wenn du ein Feuer bist, ach, mit welcher Kraft greifst du an, dass du die Leinwand nicht verbrennst, aber die Seele entflammst?“ (Vers 113–120) Die kritische rationale Instanz des Ich, die die Bildhaftigkeit des Wahrgenommenen zuvor noch bewusst gemacht hat, kommt angesichts der vom Porträt ausgehenden, stärker werdenden Illusion immer mehr zum Erliegen. Gleich einer Halluzination nimmt das Ich die gemalte Geliebte als wirklich Anwesende wahr, mit der man reden, der man Fragen stellen kann.31 Das Porträt tritt seinem Betrachter fortan als Du gegenüber und wird über vier Strophen bis zum Ende des Gedichts zunächst mit Fragen, dann mit Beschuldigungen überschüttet. Zuletzt gesteht das Ich dem Bild zu, doch nur ein schwacher Trost für die nicht anwesende Geliebte zu sein.

Finale Bilderkenntnis Die Bildbetrachtung endet mit der Bilderkenntnis, nachdem das Ich das paradoxe Sein des Gemäldes, das sich den Sinnen zugleich als Fiktion und Leben, Kunst und Natur, Gemälde und Geliebte präsentiert, leibseelisch erfahren hat. Die Vernunft des nach Wahrheit und Erkenntnis strebenden Betrachter-Ichs wurde vor größte Probleme gestellt: Wenn das eine ist, kann das andere nicht sein. Das sich im Zwiespalt zwischen Vernunft und Gefühl befindende Ich ist zu keiner Entscheidung fähig: Ob Werk der Kunst oder der Natur, ob Gemälde oder Einbildung, bleibt bis zur letzten Strophe unentschieden. Es ist gerade das Fehlen klarer Differenzkriterien für das ‚wahre Sein‘ des Wahrgenommenen, das die immer heftiger werdenden Affekte bewirkt. Starke Empfindungen zunächst von Hitze und Feuer, dann Dunkelheit und Blindheit kündigen, wie eingangs zitiert, das Gefühl des nahenden Todes an: „du atmest und lebst, und ich seufze und sterbe“. In der höchsten Stufe der Erregung kehren sich die realen Verhältnisse um: Das Ich gibt sein Leben an das tote Bild ab. Die Bildbetrachtung endet in Tränen der Enttäuschung, denn das grausame Bild vermag die starken Affekte, die ihm sein Betrachter entgegenbringt, immer noch zu steigern: „Oft wasche ich dich mit meinem bitteren Weinen, doch ich lösche keinen Funken des Feuers, das mich verbrennt.

Psychologie des Bildbegehrens

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Denn mit den Tränen, die ich auf dich vergieße, wächst mit deiner Schönheit mein Brennen.“ (Vers 133–136) Die Erfahrung des nahen Todes bringt in der letzten Strophe die Bilderkenntnis. In der Nicht­ erfüllung des Begehrens ist das „imagine crudele“ dem Konzept der „donna crudele“, die das männliche Liebesbegehren zurückweist, nah verwandt und folgt einer einfachen Triebpsychologie: Wie die Frau zieht das Bild die Augen auf sich, und die Augenlust reizt den Tastsinn, das Begehrte zu berühren. Wie die Frau ist auch das Bild ein Objekt der Begierde, die sich, weil sie nicht gestillt wird, umso heftiger äußert.32 Versagt die Frau strikt die Berührung des Mannes, so trifft die Hand oder der Mund des Bildbetrachters nicht auf das begehrte Objekt, die Geliebte, sondern die Leinwand. Daraus folgt die ernüchternde Erkenntnis, einer Täuschung aufgesessen zu sein, die im Falle des Bildes von der Kunst hervorgerufen wurde. Am Ende des Gedichts ist das Ich nur noch in der Lage, die geringen, tatsächlichen Vorzüge des Bildes zu benennen. Da das Bild starr ist, kann die Geliebte nicht fliehen, da es sichtbar ist, kann sie sich nicht verstecken (Strophe 18). Am Ende fühlt das Ich den Trost, den ihm das Bild der Geliebten spendet, wenn sie abwesend ist. Das Bild wird ihm ein tröstender Ersatz – zu dem, was es wirklich ist: ein Fetisch.33

Psychologie des Bildbegehrens Da sich das Drama der Bildbetrachtung vor den Augen der LeserInnen als ein hochaffektives, von Halluzinationen herbeigeführtes, tödlich endendes Seelendrama entfaltet, soll nun ein zeitgenössicher Psychologe hinzugezogen werden, der den hier vorgetragenen Konflikt zwischen dem Bild, der Frau und seinem Betrachter, dem verliebten Ich, klären soll. Gibt der naturphilosophische Diskurs der Frühneuzeit für die durch starke Imagination hervorgerufene Illusion eine Erklärung? Gibt es Untersuchungen, die mit rationaler Distanz das Irrationale von Emotionen, Illusionen und Halluzination zu erklären versuchen? Der Traktat De anima et vita (Basel 1538) des spanischen Humanisten Juan Luis Vives, der vor Descartes’ Les passions de l’âme das Wissen seiner Zeit in einer Seelenlehre zusammengestellt hat, hält gleich eine ganze Reihe Antworten auf diese Fragen bereit. Vives behandelt im dritten Buch die menschlichen Leidenschaften (passiones).34 Emotionen können demnach so mächtig sein, dass sie die Seele aufrütteln und das rationale Urteil verunsichern, es verwirren, ohnmächtig machen, die Selbstkontrolle außer Kraft setzen, sodass die Seele völlig blind und unfähig wird, irgendetwas zu sehen. Die stärksten Emotionen, die „passiones“, sind mit dem „sündigen Fleisch“ verbunden. Je stärker sie sich körperlich auswirken, desto mehr erschüttern und zerstören sie nicht nur den Geist, sondern auch die äußeren Sinne der Seele.35 Vor allem das Liebesgefühl könne zu Täuschungen und Halluzinationen führen: „Diejenigen, die lieben, [...] denken, dass sie etwas sehen oder hören, das nirgendwo eine wirkliche Existenz hat. Wie der Dichter sagt: ‚Liebende erschaffen sich ihre eigenen Träume.‘“36

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Im zweiten Kapitel, mit dem Titel „De amore“, geht es um die Emotion der wahren Liebe und ihre verschiedenen Formen. Liebende, so Vives, tragen in ihrer Seele das Gesicht und das Bild ihrer Geliebten eingraviert. Ihre Seelen werden zum Spiegel, in dem sich die Gestalt des Geliebten widerspiegelt.37 Das 4. Kapitel handelt über die Mischformen der Liebe, die Ursachen und Symptome der „Liebe im allgemeinen, nämlich der falschen und eingebildeten Liebe des Begehrens, die den Handlungen der wahren Liebe oft gleicht und sich wie diese äußert“.38 Die Macht des Liebesgefühls ist so stark, dass es verführen und verwirren kann und im Gegensatz zur wahren Liebe das Verlangen der Seele nicht stillt. Man könnte meinen, dass dieses Kapitel Marino zu seiner poetischen Ausdeutung inspiriert habe, so viele übereinstimmende Beobachtungen zur Liebespsychologie sind darin enthalten. Die Liebe handelt und übt nun wie folgt Macht aus: Der Wille ist die Kontrollinstanz der ganzen Seele, aber die Liebe herrscht über den Willen, indem sie ihn zum Guten zieht. Liebe ist ferner die mächtigste und schnellste Emotion des Willens. Liebe entsteht aus dem Urteil über das Gute und Schöne, doch wenn sie stark wird, dann beeinflusst sie das Urteil so sehr, dass eine neue Meinung über das Gute oder die Schönheit des Objekts unmöglich wird. Nachdem die Liebe ihre Hoheit über die ganze Seele ausgebreitet hat, geht die Einschätzung über das Geliebte auch auf dessen andere guten und schönen Eigenschaften über, die vorher nicht bemerkt wurden. Deshalb nennt man die Liebe blind, auch weil der Liebhaber in seiner Vorstellung das Gute übertreibt und die Laster und Makel unterbewertet. Das Liebesgefühl beherrscht nicht nur den Willen, sondern kann das Urteil über den Geliebten (oder die Geliebte) so sehr beeinflussen, dass es zu objektiven Fehleinschätzungen und Fantasievorstellungen kommen kann.39 Wenn die Liebe einmal die Führung über unseren Willen erlangt hat, so fährt Vives fort, lässt sich das Liebesgefühl nicht mehr so einfach vertreiben. Vives weiß auch um deren Qualen. Die Liebe, die Vergnügen begehrt, ist eine Folter, da das Begehren unsere Seele so lange plagt, bis es befriedigt wird. Oft reicht allein die Hoffnung auf Erfüllung des Begehrens, um den Verliebten Erleichterung und auch Vergnügen zu verschaffen. So wie die Liebe ihre höchste Freude in der Befriedigung ihres Begehrens findet, findet sie nicht minder Vergnügen, indem sie sich das als gegenwärtig vorstellt, was sie zu genießen erhofft.40 Wenn der Liebende völlig selbstvergessen und ganz außer sich, in seiner Vorstellung in der Geliebten lebt, erlebt er das Gefühl der Ekstase. All diese Symptome, die Vives als Liebesbegehren beschreibt, werden in Marinos lyrischer Beschreibung der Bildbetrachtung aktiv – doch ist das Begehrte ein kunstvoll, lebendig gemaltes Porträt. Vives weiß auch, dass es Dinge gibt, die die Erinnerung an die geliebten Person auffrischen, Kleidungsstücke, Taschentücher, Bilder (!), Orte etc. Doch wenn die Liebe mit Trauer gemischt ist, dann machen den Liebenden die Erinnerungsstücke auch traurig.41 Der Liebhaber benötigt Objekte aus dem Besitz der Geliebten, um die Erinnerung an die abwesende Geliebte zu stimulieren. Diese Einsicht gewinnt das Ich in Marinos Gedicht am Ende des Gedichts: Das Gemälde fungiert als Ersatz, als Trost, als Fetisch. Schließlich erklärt Vives die Symptome der Liebe physiologisch, wie das Liebesgefühl im Körper entsteht und wie es sich äußert. Wenn der Liebhaber sich ständig um die Geliebte sorgt und an sie denkt, wird Hitze vom Herz zum Gehirn geleitet. Die Dickflüssigkeit und Erschöpfung des Blutes, die Blässe von Gesicht und Körper, der schwe-

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re Atem und das Seufzen werden von dem großen Verlangen der Seele verursacht. Wenn der Liebhaber die Geliebte sieht, aber auch, wenn sie nur erwähnt wird, scheint der Geist von einer starken Last befreit. Dazu kommen die Tränen, die, von der Hitze des Kopfes verursacht, die Säfte des Gehirns flüssig machen und aus den Augen fließen. Manchmal singen die Liebhaber einfach los, um die Anspannung ihrer aufgewühlten Fantasie zu lindern, manchmal starren sie auf die geliebte Person mit großer Intensität und wenig Anstand, unfähig auf etwas anderes zu schauen oder an etwas anderes zu denken. Ihre Gesichter werden rot oder blaß, wenn das Blut sich staut oder zurückfließt, und es wird ihnen abwechselnd heiß und kalt. Ihre Klagen sind ausschweifend und andauernd, ihre Lobesworte sind wirr oder unbeholfen.42 Eine besondere Bedeutung für das emotionale Seelenleben des Menschen hat die Imagination. Das Begehren von konkreten Dingen hat Grenzen, doch das Begehren von vorgestellten Dingen kennt weder ein Ende noch ein Maß. Nichtig und oberflächlich wie solche Dinge sind, können sie die tiefen Sehnsüchte der Seele nicht stillen. Sie sind weit davon entfernt, glücklich zu machen, und die Seele leidet bereits furchtbar, wenn sie sich nur vorstellt, sie zu bekommen und zu behalten. Die meisten Leute bemerken gar nicht, dass diese Dinge ihnen nicht das geben können, was sie versprechen.43 Hier trifft die Seelenlehre auf Marinos Bildbetrachter und den Wunsch nach dem Besitz der auf dem Gemälde abgebildeten Frau. Ihr hat das Ich alle seine Liebesgefühle gegeben – und nichts dafür zurückbekommen.

Reflexion der Illusion Im Kapitel über das Vergnügen (delectatio) thematisiert der frühneuzeitliche Psychologe die Macht der Fantasie, die sich Dinge vorstellt, die real nicht da sind. Es gibt Leute, so Vives, die erfolgreich ausschließlich mit Hilfe der Fantasie in der Illusion des Genusses vorgestellter Dinge leben, wie Horaz in einer berühmten Erzählung über einen Adligen aus Argos berichtet, der „glücklich in einem leeren Theater saß und die ganze Zeit aus Überzeugung, er höre wunderbare tragische Schauspieler, applaudierte“ (Epistolae Horaz, II, 2). Dies, setzt Vives hinzu, kann man von allen Gefühlen sagen.44 Gefühle lassen sich durch Imagination, durch Vorstellung erzeugen. Für Bildbetrachtung als Kulturtechnik ist dies eine fundamentale Einsicht. Gefühle sind demnach körperliche Wahrnehmungen, die mental erzeugt und gesteuert werden können. Die Fantasie gehört somit zu den Geistestätigkeiten, die von der Wahrnehmung der Realität weg und bewusst hin zu den vorgestellten Dingen führt. Hiermit ist die Fähigkeit der Illusionsbildung angesprochen, die, wie beim Horaz’schen Theaterbesucher, zur Wahrnehmung von Dingen, Ereignissen etc. führen kann, die real gar nicht stattfinden. Der Theaterbesucher lässt sich gern auf die selbsterzeugte Illusion ein, bereitet sie ihm doch allergrößtes Vergnügen. Der Bildbetrachter des Gedichts ist dem Horaz’schen Theaterbesucher verwandt. In Marinos lyrischem Werk La Galeria ist die von der Kunst, den Bildern, generierte und angeleitete Illusionsbildung als Fähigkeit des Bild-/Kunstbetrachters das durchgehende Thema. Das Fürwahrnehmen der gemalten, skulptierten Dinge bereitet dem Bildbetrachter größtes Vergnügen, es sei denn, die Bilderfahrung betrifft ihn so persönlich wie vor den Bildnissen der Geliebten.

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Den leidenschaftlichen Emotionen des Betrachters kommt bei der Bildrezeption eine Schlüsselrolle zu, denn das körperliche Wahrnehmen und Fühlen des ‚als ob‘ steigert die Illusion. Indem der Leser dem Bildbetrachter über die Schulter schaut, wird er nicht nur zum Zeugen der Gefühlsäußerungen. Der Leser wird vom Ich veranlasst, mit ihm die Tränen, die Seufzer und Küsse zu fühlen und zu hören. Der Text macht das Angebot, die Bildbetrachtung imaginativ mitzuerleben. Aber es geht in La Galeria um mehr als die Übertragung der Affekte des Ich auf den Leser. Die Gedichte verfahren raffiniert, denn sie thematisieren beides, Illusionsbildung und -brechung, um die Bildbetrachtung möglichst glaubhaft zu machen.45 Marino weiß, dass die von der Kunst hervorgerufene Illusion mit Wahrnehmung äußerer, nicht zum Bild gehörender Sinnesreize konkurriert. Es die Kunst des Dichters, mit den Mitteln der suggestiven Sprache, Illusionen beim Leser hervorzurufen, zu steuern und vor allem aufrechtzuerhalten. Dem Gedicht L’imagine crudele und auch vielen anderen Gedichten der Galeria liegt folglich eine doppelte Konzeption von Illusion zugrunde: innerfiktional, in der Thematisierung des Bilderlebens des zwischen der Illusion der Geliebten und der Medialität des Gemäldes hin- und hergerissenen, verliebten Betrachters, und außerfiktional, in der Einbeziehung der LeserInnen, die als Beobachter des Bildbetrachters in die emotionalen Wechselbäder hineingezogen werden, indem sie mit ihm die Illusion und Illusionsstörung nachvollziehen. Die perfekte ästhetische Illusion, das weiß Marino, liegt in der Darstellung ihrer Brechung. Durch die Beobachtung der Bildbetrachtung, durch ihren reflexiven Nachvollzug, erlangen die LeserInnen der Galeria Bildkompetenz.

Psychologie des Im-Bild-Seins Serge Tisseron, ein Psychiater und Psychoanalytiker unserer Zeit, begründet den leidenschaftlichen Umgang mit Bildern in unserer Kultur ontogenetisch und bestätigt zugleich die Erfahrungen des frühneuzeitlichen Bildbetrachters in Marinos La Galeria.46 Demnach beruhigen sich Kleinkinder, wenn sie Hunger verspüren, mit inneren Bildern, die den Ablauf des Fütterns halluzinieren. Tisseron spricht davon, dass das Kind „im ,Bild‘ [ist]“, wo „sich seine Wahrnehmungen und Gefühle unlöslich mit visuellen Vorstellungen [mischen]“.47 Erst später lernen Kinder zwischen Vorstellungs- und Wahrnehmungsbildern zu unterscheiden. Die Bildung von Illusionen gehört demnach zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen, zum Bereich der triebhaften Emotionen, und wird in einer Kultur mit steigender Bildrezeption täglich praktiziert. Dem Imaginationsangebot, das uns Bilder machen, so Tisseron, begegnen wir aber auch mit Angst, die uns eine kritische Distanz gegenüber den Bildern einnehmen lässt. Es ist „der Versuch, mit einem gewissenen Abstand ‚vor‘ die Bilder zu treten und sie von außen zu betrachten“.48 Unsere Bildproduktion sei genau auf diese beiden Verhaltensweisen eingestellt. Die Medien – von der Malerei bis hin zu den virtuellen Räumen – nähre die Illusion der realen Präsenz des Repräsentierten, ermögliche aber auch eine Distanznahme. Die Macht, die Bilder über uns haben, liege in ihrer einhüllenden oder umhüllenden Funktion. Indem sie unsere Empathie mit emotionalen und sinnlichen Impulsen stimulieren, antworten sie auf den Wunsch,

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in eine (imaginäre) Realität einzutreten. Die polyvalente Semantik von Bildern öffne sie für Veränderungen, die wir an ihnen vornehmen, um eine – unsere – Bildrealität zu synthetisieren. Andererseits wirken Bilder modifizierend auf ihre Betrachter, indem sie ihr Wissen verändern. Jedes Bild ist Ausgangspunkt von Folge-Bildern, die sich der Kontrolle entziehen können. Die Logik der inneren, sich in einem ständigen Wandlungsprozess befindenden Bilder, so Tisseron, ist die Ursache für die Erfindung von neuen Bildmedien, die sich mit ihren Bildtechniken und -qualitäten diesen Wandlungsprozessen immer mehr annähern. Dass wir den Bildern ein eigenes ‚Leben‘ zusprechen, hat aus psychoanalytischer Sicht seine Ursache in unseren primären Erfahrungen mit Bezugspersonen wie etwa der Mutter, die für das Kind sowohl eine sehr persönliche Vorstellung als auch eine Realität ist, die sich seiner Kontrolle entzieht. In diesem Bezugsraum steht die innere Welt der Träume und Fantasien im ständigen Austausch mit der Außenwelt. Ebenso bedienen die Bilder unseren Glauben an eine Realität, sind aber auch die Projektionsfläche für einen Entwurf von Realität. Das Bildermachen und -betrachten motiviert die lebendige Beziehung, die wir zu ihnen unterhalten – ohne sie wären Bilder nur leere Hüllen. Tisseron sieht die Bilder als „,Adoptivmütter‘, die wir selbst adoptieren und doch so oft wieder verlassen, wie wir wollen [...]. Wenn sie nämlich unseren Erwartungen nicht entsprechen, sind wir gleich bereit, sie zu verdammen: es ist immer ihre Schuld!“49

Auf der Suche nach der Mutter „An einem Novemberabend, kurz nach dem Tod meiner Mutter, ordnete ich Photos. Ich hoffte nicht, sie ‚wiederzufinden‘“, beginnt Roland Barthes den zweiten Teil von La chambre claire.50 Barthes setzt die nun folgende Erzählung einer Bilderbetrachtung in die Mitte des Essays über die Fotografie – wie Marino sein Gedicht Das grausame Bild in die Mitte des Gedichtzyklus setzte. An diesem zentralen Ort wirkt sie als eine ,mise en abyme‘, die die eingangs von ihm gestellte Frage, ob es so etwas wie das „Wesen“ der Fotografie gibt, beantworten will. Während der Versenkung in die nachgelassenen Fotos steigern sich die Gefühle des Verlusts der geliebten Person, der „schrecklichste Aspekt der Trauer, [...] vergebens die Bilder zu befragen“.51 Die Versenkung in die Menge der Fotos, die die Mutter zeigen, endet in der Einsicht, dass der Wunsch nach „Wiedererwachen des geliebten Gesichts“, nicht erfüllt wird.52 Verblüffend ist für ihn die Erkenntnis, dass die Mutter eine eigene Geschichte, ein Leben vor seinem Leben hatte. Mutter und Sohn trennt die Geschichte. Fremd sind dem Sohn die ihm unbekannten, eleganten Kleider auf den Fotos ihrer Jugend, das „Beiwerk“, das „die Aufmerksamkeit von ihr ablenkt“.53 Um die Mutter in den Fotos wiederzufinden, sucht der Sohn nach Gegenständen, die er noch auf ihrer Kommode stehen sah, die Puderdose, den Kristallflakon, und findet ein Foto, das „die zerknitterte Zartheit des Crêpe de Chine und den Duft des Reispuders in mir wachrufen kann“.54 Auf den Fotos erkennt er nur „Bruchstücke wieder, das heißt, ihr Wesen entging mir, und folglich entging sie mir ganz“.55 Die Suche nach „dem Wesen ihrer Identität“ in den hinterlassenen Fotografien wird dem Sohn zur „schmerzlichen Arbeit“, denn was er

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findet, sind nur „teilweise wahre und daher ganz falsche Bilder“.56 Am qualvollsten sind ihm die Fotos, in der er sie beinahe wiederfindet: „Das Beinahe: schreckliche Herrschaft der Liebe und zugleich trügerisches Gesetz des Traums.“57 Und er gesteht, dass er oft (sogar nur) von ihr träumt, und sie sich ihm gerade im Traumbild entzieht. Das Begehren, die Mutter – die „Suche nach der Wahrheit des Gesichts, das ich geliebt hatte“58 – in ihren Bildern wiederzufinden, wird schließlich belohnt. Bild für Bild hat sich der Sohn zum „Wesen ihrer Idenität“ vorgearbeitet, hat sie in jedem Foto gesehen, aber nicht oder nur teilweise erkannt. Tiefer und tiefer führt ihn die Bildermeditation in die Abgründe seines emotionalen Gedächtnisses, schließlich in die Depression, die aus der Enttäuschung über die ‚falschen‘ Bilder resultiert: Sie sind Schuld! Wie Orpheus bewegt sich der Visus des Philosophen in der Unterwelt auf der Suche nach der Toten. Und ein einziger Blick genügt hier – nicht, wie im Mythos, die Geliebte zu verlieren –, sondern den Schmerz der Erinnerung zu lindern. Es ist das Foto der Mutter als fünfjähriges Kind, in dem der Sohn endlich das findet, was er suchte: „die Bestätigung einer Sanftmut“.59 Aus diesem Bild strömt die Erinnerung an den Wesenszug, der ihn mit der Mutter am stärksten verbindet – es war „ein Bild nur, doch ein richtiges Bild [juste une image, mais une image juste]“.60 Im Moment dieser persönlichen Entdeckung – das ist das „punctum“ – ist nicht nur der Glaube an das Medium wiederhergestellt, sondern die Theorie hat sich mit dem Leben und der Liebe des Autors verbunden.

Bild und Fetischismus Angesichts der affektiven Aufladungen der Bildbetrachtung wurde mehrfach der Fetischcharakter des betrachteten Objekts angesprochen.61 Die von Hartmut Böhme bereitgestellte, kulturübergreifende Definition des Fetischs, die wir bereits im vorherigen Kapitel auf die soziale Praxis der Fotografie bezogen haben, wird nun auch die oben analysierte Kunst- und Bildpraxis erklären helfen. Böhme definiert Fetische als Dinge, die auch „figurale Form“ haben können, mit folgenden Merkmalen: Sie haben erstens eine „geistige Potenz“, eine Wirkmacht, die als „dynamistisch, magisch, dämonistisch, spirituell, manistisch“ interpretiert werden können.62 Es handelt sich um materielle Objekte, von denen gesagt wird, dass in ihnen ‚die Macht‘ wohnt: Macht, die die Dinge aus sich selbst heraus verkörpern, oder eine Macht, die spezielle Experten dem Ding zuführen, sodass es eine magische Wirkung entfalten kann. „Der Sache nach“, so lautet Böhmes Kurzdefinition, „bezeichnet Fetischismus also die Verbindung von artifiziellen Dingen und dynamischer Kraft.“63 Im Zuge der säkularisierten Aufklärung in Europa wurden diese Dinge als eine negative – „irrationale, abergläubische oder perverse Objektbeziehung“ verstanden. Zu unterscheiden sind Kulturfetische und Warenfetische. Dinge, die sich im Kunstsystem befinden, haben unter bestimmten Voraussetzungen Fetischcharakter. Böhme definiert sie als „Fetische erster Ordnung“ oder „Kulturfetische“. Auch das Foto der eigenen Mutter, das Roland Barthes, sich liebevoll erinnernd, betrachtet, trägt Merkmale des Fetischs. Das Gemälde der Geliebten, welches das Ich in Marinos Galeria verehrt, hat Merkmale eines Dings mit Fetisch-

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charakter von symbolischem Wert. Es ist Teil einer Sammlung, die ihm einen „zeremoniellen Ausstellungswert“ verleiht, wodurch es „zum Mittelpunkt einer auratischen Strahlkraft wird“, zu einem „Objekt einer überalltäglichen Hochschätzung, Verehrung oder Devotion“.64 Bilder mit Fetischfunktion werden durch „Riten aller Art von allen anderen Dingen unterschieden, [ihnen wird ein] nahezu überwirklicher ontologischer Status zugewiesen“.65 Marino lässt seine LeserInnen immer dann den Fetischcharakter der Kunstobjekte in der Galeria entdecken, wenn das Ich die Enttäuschung der Illusion im Dingcharakter des Objekts erlebt. Der symbolische Wert der Kunstgalerie wird als ein Ort bestimmt, wo die Dinge stillgestellt sind, wo sie sich zeigen, wo sie auf Dauer verwahrt werden: „Die stillgestellten Dinge sind schön, sie sind ergreifend, sie haben einen unsagbaren, unschätzbaren Wert. Sie haben ein Geheimnis, das in nichts anderem besteht als der Resistenz, mit der sie sich aus der [Ding]-Zirkulation entziehen. Diese ‚Kraft‘ macht sie besonders, singulär. Sie verankern uns in der Tiefe der Zeit. Besonders die historischen Sammlungen haben die mythische Funktion, ein Kollektiv in der Zeit zu verankern, einer Zeit, die kommt und geht, aber selbst keinen Bestand kennt. Einer Zeit, die uns selbst mitnimmt, altern lässt, tötet.“66 Böhme beschreibt hier den dinglichen Anteil am Entstehen einer Kultur, die Produktivität von Symbolbildung durch Absondern, Sammeln und Wertschätzung (bis zur Verehrung) derjenigen Dinge, die als Kultbilder in Kirchen, als Kunst im Museum, als Foto im privaten Fotoalbum bewahrt werden. Marinos Betrachter-Ich und auch Barthes’ Suche im privaten Bildarchiv sind eine der Grundvoraussetzungen für das Entstehen von Kultur, nämlich der affektive Umgang einzelner Individuen mit diesen Dinge, die, neutral gesagt, zu ihrer Wertschätzung führen. Der Bestand einer Kultur wird u. a. dadurch bestimmt, „dass [diese Dinge] nicht hergegeben, getauscht oder veräußert werden können, ohne dass dabei das Ich oder ein Kollektiv selbst verloren zu gehen droht“.67 Ich komme darauf in Kapitel 12 über das Ausstellungskonzept der documenta 13 mit einem anderen Blickwinkel zurück. Die Erkenntnis des Fetischcharakters, die das Betrachter-Ich bei Marino vor dem Bildnis der Geliebten erfährt, macht die strukturelle Äquivalenz von Bildern der Kunst und „heiligen Dingen“ des (christlichen) Kults im 17. Jahrhundert deutlich. Die Gemälde mit christlichem Inhalt, die sich in der Abteilung „Historie“ in La Galeria befinden, betrachtet das Ich mit gleicher Faszination. Die Wirkmacht der Kunst ersetzt dabei nicht die Heiligkeit in der Darstellung, sondern potenziert sie mit den ihr eigenen ästhetischen Mitteln. Der Künstler wirkt hier als Magier und wird vom Betrachter-Ich als solcher verehrt. Er ist es, der, wie wir gesehen haben, mit seiner ganz individuellen Fähigkeit zur Kunst, die sein Geheimnis und für Außenstehende ein Rätsel ist, eine unaussprechliche Magie in die Bilder hineinmalt. Diese Magie erfährt das Betrachter-Ich mit gleicher Intensität für recht unterschiedliche Bildinhalte: Göttergeschichten, Heiligengeschichten, Porträts und sogenannte Capricci, die geistreichen Bilderfindungen der Künstler. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Bildbetrachter Roland Barthes – doch ist es hier nicht die Kunst, die wirkt, sondern die spezielle Ästhetik des Mediums, deren Beitrag zur Fetischisierung des Bildes wir bereits untersucht haben. Und noch etwas ist für das Fetischkonzept einer Kultur interessant. Die in der Galeria sprachlich evozierte Bildkunst macht heterogene Bildinhalte hinsichtlich ihrer Wirkung auf

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Betrachtende homogen. Am Beispiel der Kolonialgeschichte Afrikas erklärt Hartmut Böhme, dass bereits von europäischen Kolonialherren der frühen Neuzeit verachtet wurde, „was [seit der Aufklärung] der Struktur nach der christlichen [katholischen] Idolverehrung, der Reliquienpraxis, dem Glauben an wundertätige Statuen, den liturgischen Zeremonien mit geweihtem Gerät u. a.“ als Fetischmus abqualifiziert wurde.68 Die Bewertung von Bildermagie und Bilderzauber im 16. und 17. Jahrhundert gehörte demnach in Afrika zum Aberglaube, in Europa zum christlichen Kult und seit dem ersten autonomen Kunstbegriff in der Renaissance eben auch zum Kunstgenuss.69 Die Kulturtechnik des Bilderbetrachtens führt in die emotionalen, triebhaften Grundstrukturen des Menschen als „Ort der Bilder“ (Hans Belting), welche die westliche Bildkultur seit der frühen Neuzeit als Kunstkultur ausgeprägt hat. Bildbetrachtung ist demnach, oft in einem besonderen Maße, eine Kulturtechnik, in der Triebe, Emotionen und Projektionen an und mit Objekten ausagiert werden, die Merkmale des Fetischs haben, die – mit Kunst- und Bildtechniken – zu Lebewesen gemacht und wie solche behandelt werden. Die zerstörerische Leidenschaft, die von einem Bild ausgehen kann, ist von der Ambivalenz bestimmt, die zwischen dem Wunsch besteht, in den Bildern sein zu wollen, und der Einsicht, sie doch nur von außen betrachten zu können. Diese Aporie im Umgang mit Bildern erzeugt die psychischen Spannungen, die ein barocker Bildbetrachter mit gleicher Intensität erlebt wie ein Philosoph am Ende des 20. Jahrhunderts, der das Foto seiner Mutter zum Anlass eines Essays nahm für eine „Annäherung an den Gegenstand, der sogleich von Verlangen, Abneigung, Sehnsucht nach Vergangegenem und Euphorie durchdrungen“ war: die Fotografie.70

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Endnoten 1 Bruno Latour: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?, Berlin 2002. 2 Giambattista Marino: La Galeria, ital.-dt., ausgew. und übers. v. Christiane Kruse und Rainer Stillers unter Mitarbeit von Christine Ott, Mainz 2009. 3 Victor I. Stoichita: Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998; Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründung eines Bildmediums, München 2003. 4 Schwarze Legenden, Wucherungen, visuelle Schocks. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp im Gespräch mit Wolfgang Ullrich, in: Neue Rundschau, 114 (2003), S. 9–25, hier S. 19–20. 5 Gottfried Boehm: Iconic turn. Ein Briefwechsel, in: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 27–36, hier S. 35. 6 „Bilder gehen mit Prozessen und Potentialitäten engste Verbindungen ein, so dass man den Eindruck gewinnt, als kämen die gängigen Begriffsoppositionen, mit denen Wissenschaft und Kritik den Bildern zu Leibe rückt, [...] immer schon zu spät, als etabliere sich das Bild in einer anderen logischen Welt, die wir ihren Regeln nach noch nicht kennen.“ Ebd., S. 35. 7 Sibylle Krämer / Horst Bredekamp: Kultur, Technik, Kulturtechnik: Wider die Diskursivierung von Kultur, in: dies. (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 14. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Thomas Macho: Körper der Zukunft. Vom Vor- und Nachleben der Bilder, in: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 181–194, hier S. 181 und 182. 11 Wolfgang Kemp: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: ders. (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985, S. 7–27, hier S. 22; Oskar Bätschmann: Pygmalion als Betrachter. Die Rezeption von Plastik und Malerei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: ebd., S. 183–224. 12 Hans Dieter Huber: Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfildern-Ruit 2004, S. 79–146; Stephan Schwan / Carmen Zahn: Der Bildbetrachter als Gegenstand bildwissenschaftlicher Methodik, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bild und Medium. Kunstgeschichtliche und philosophische Grundlagen der interdisziplinären Bildwissenschaft, Köln 2006, S. 214–232. 13 Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1995; Klaus Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2003; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010. 14 Christiane Kruse: Psychologie einer Bildbetrachtung. Imagination, Affekt und die Rolle der Kunst in Sopra il ritratto della sua Donna, in: Kruse / Stillers (Hg.): Barocke Bildkulturen. Dialog der Künste in Giambattista Marinos "Galeria", Wiesbaden 2012, S. 223–250. 15 Siehe die Beiträge in Christiane Kruse / Rainer Stillers: Barocke Bildkulturen; ferner die Beiträge von Winfried Wehle, Ulrich Schulz-Buschhaus und Gerhard Regn in: Joachim Küpper / Friedrich Wolfzettel (Hg.): Diskurse des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt?, München 2000; Elizabeth Cropper: The Petrifying Art: Marino’s Poetry and Caravaggio, in: The Metropolitan Museum Journal, 26 (1991), S. 193–212. 16 Rainer Stillers: Bilder einer Ausstellung. Kunstwahrnehmung in Giovan Battista Marinos Galeria, in: Bodo Guthmüller / Berndt Hamm / Andreas Tönnesmann (Hg.): Künstler und Literat. Schrift- und Bildkultur in der europäischen Renaissance, Wiesbaden 2006, S. 231–251. 17 Gottfried Boehm: Das Paradigma Bild. Die Tragweite der ikonischen Episteme, in: Belting (Hg.): Bilderfragen, S. 77–82, hier S. 82. 18 „Will man von ‚Logos‘ weiterhin reden, dann auf eine komplexere Weise, die nicht-prädikatives, implizites, deiktisches Wissen, d. h. die Erfahrungsgehalte von Bildern einschließt.“ Zit. n. Gottfried Boehm: Das Paradigma Bild, S. 79. 19 Die elf Gedichte über Sopra il ritratto della sua donna bilden den Abschluss des vierten Teils der Galeria, den Ritratti; Giambattista Marino: La Galeria, S. 245–279. 20 Vgl. Murray Kriegers Definition der Ekphrasis als „verbale Nachahmung eines Objekts aus dem Bereich der bildenden Kunst, in erster Linie der Malerei und der Bildhauerei“, die auf Marinos Bildgedichte nicht zutrifft. Murray Krieger: Das Problem der Ekphrasis: Wort und Bild, Raum und Zeit – und das literarische Werk, in: Gottfried Boehm / Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 41–57, hier: S. 42; Eugenia Paulicelli: Parole e immagine. Sentieri della scrittura in Leonardo, Marino, Foscolo, Calvino, Fiesole 1996, S. 59.

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21 Victor Stoichita: Das selbstbewußte Bild; zur Galeria siehe Christiane Kruse: Parer viva oder die Kunst der (dis)simulazione im Barock. Ovid – Bernini – Marino, in: Gundolf Winter / Jens Schröter (Hg.): Skulptur zwischen Realität und Virtualität, München 2006, S. 155–176; Stillers: Bilder einer Ausstellung, in: Guthmüller / Hamm / Tönnesmann (Hg.): Künstler und Literat, S. 231–251. 22 Das Gedicht steht mit einer Reihe von Motiven in der Tradition der Bildgedichte, die mit Petrarcas Porträtgedichten (Canzoniere 78 und 79) beginnt. Das Thema der Kunstbetrachtung und -wahrnehmung sowie die Figur des verliebten Bildbetrachters sind jedoch mit keinem Vorbild zu vergleichen, sondern Marinos eigene Erfindung. Zum Bildgedicht siehe Marianne Albrecht-Bott: Die bildende Kunst in der italienischen Lyrik der Renaissance und des Barock, Wiesbaden 1976. 23 Viktoria von Flemming: Die böse Schöne. Eine Weiblichkeitskonstruktion in Literatur und bildender Kunst der Frühneuzeit Italiens, in: Zeitsprünge, 1 (1997), S. 279–341; Walther K. Lang: Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei, Berlin 2001, S. 66–69, Lang übersieht bei seiner Kurzdarstellung der donna crudele die Gedichte der Galeria und perpetuiert leider auch den Vorwurf des monotonen Concettismo der älteren Forschung. 24 Zum naiven Bildbetrachter im Narziss-Mythos und dem Narziss-Gemälde von Caravaggio siehe Kruse: Wozu Menschen malen, S. 312–343. 25 Winfried Holzapfel: Mundus Sensibilis. Die Analyse der menschlichen Sensualität nach dem heiligen Augustinus, Freiburg. i. Br. 1968. 26 Federico Zuccaro: L’idea de’ Pittori, Scultori ed Architetti, in: Detlef Heikamp: Scritti d’arte di Federico Zuccari, Florenz 1961, S. 248. Zur Geschichte der Sinneswahrnehmung siehe E. Ruth Harvey: The inward wits. Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance, London 1975; Harry Austryn Wolfson: The Internal Senses in Latin, Arabic, and Hebrew Philosophic Texts, in: Harvard Theological Review, 28 (1935), S. 69–133. 27 Kruse: Psychologie einer Bildbetrachtung. 28 Frank Fehrenbach: Calor nativus – Color vitale. Prologomena zu einer Ästhetik des ‚lebendigen Bildes‘ in der frühen Neuzeit, in: Ulrich Pfisterer / Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, Berlin 2003, S. 151–170; ders.: „Tra vivo e spento“. Marinos lebendige Bilder, in: Kruse / Stillers (Hg.): Barocke Bildkulturen, S. 203–222; vgl. besonders Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010. 29 Fehrenbach: Calor nativus, S. 155–156. 30 Kruse: Psychologie einer Bildbetrachtung. 31 „Fast alle Hirnrindenareale, die bei der Wahrnehmung sichtbarer Objekte aktiv werden, [werden, C. K.] auch aktiviert, wenn man sich die Objekte nur vorstellt. [...] Dies belegt, wie nahe sich Vorstellung und Wahrnehmung kommen. [...] bei halluzinatorischen Wahrnehmungen zum Beispiel, verschmelzen diese Grenzen vollständig. Halluzinierende Menschen nehmen eine selbst generierte Aktivität so wahr, als wär sie durch konkrete von außen kommende Sinnesreizungen ausgelöst.“ Wolf Singer: Das Bild in uns – Vom Bild zur Wahrnehmung, in: Christa Maar / Hubert Burda (Hg.): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder, München 2003, S. 56–76, hier S. 67–68. 32 Viktoria von Flemming: Die böse Schöne. 33 William J. Thomas Mitchell: What do Pictures want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005, S. 158– 166. 34 Lorenzo Casini: Cognitive and Moral Psychology in Renaissance Philosophy. A Study of Juan Luis Vives’ De anima et vita, Uppsala 2006; Carlos G. Noreña: Juan Vives and the Emotions, Carbondale 1989; The passions of the soul. The third Book of De Anima et Vita, in: Juan Luis Vives. hg. und ins Englische übers. v. Carlos G. Noreña, Lewiston/Queenston/Lampeter 1990; Gerhard Hoppe: Die Psychologie des Juan Luis Vives nach den ersten beiden Büchern seiner Schrift „De anima et vita”, Berlin 1901. 35 Ioannis Lodovici Vivis Valentini: De anima et vita libri tres, Valencia 1992 (Basel 1538), S. 149 und 150; die folgenden Übersetzungen ins Deutsche sind von der Autorin C. K.. 36 Ebd., S. 150. 37 Ebd., S. 160. 38 Ebd., S. 166. 39 Ebd., S. 168–169. 40 Ebd., S. 172. 41 Ebd., S. 175–176. 42 Ebd., S. 176.

Endnoten

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43 Ebd., S. 179 und 180. 44 Ebd., S. 197. 45 Alessandro Nova / Klaus Krüger (Hg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000; Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001; David Ganz: Barocke Bilderbauten. Erzählung, Illusion und Institution in römischen Kirchen 1580–1700, Petersberg 2003. 46 Serge Tisseron: Unser Umgang mit Bildern. Ein psychoanalytischer Zugang, in: Belting: Bilderfragen, S. 307– 315. 47 Ebd., S. 307. 48 Ebd., S. 308. 49 Ebd., S. 314. 50 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, aus dem Franz. v. Dietrich Leube, Frankfurt a. M. 1989 (Paris 1980), S. 73–80, hier S. 73; Katharina Sykora: Mater Matrix. Die Geburt von Die helle Kammer aus Roland Barthes Trauertagebuch, in: dies. (Hg.): Roland Barthes Revisited. 30 Jahre die Helle Kammer, Köln 2012, S. 71–98. 51 Barthes: Die helle Kammer, S. 73. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 74. 54 Ebd., S. 75. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 76. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 77. 59 Ebd., S. 78. 60 Ebd., S. 80. 61 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 17. 62 Ebd., S. 187. 63 Ebd., S. 17 und 188. 64 Ebd., S. 300. 65 Ebd., S. 302. 66 Ebd., S. 302–303. 67 Ebd., S. 304. 68 Ebd., S. 178–198, hier S. 184; siehe auch Birgit Meyer: Sensational Movies. Video, Vision, and Christianity in Ghana, Oakland 2015. 69 Böhme: Festischismus und Kultur, S. 185–186, analysiert, wie es zu so viel „Selbst- und Fremdverkennung“ im Fetischkonzept kommen konnte. 70 Barthes: Die helle Kammer, S. 30.

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9  BILDER IM KOPF „Wir wissen fast nichts darüber, wie sich Farben auf Emotionen und die ästhetische Wahrnehmung auswirken [...]“ Oliver Sacks: Eine Anthropologin auf dem Mars, 1995 Die 1990 vom amerikanischen Präsidenten George W. Bush ausgerufene „Decade of the Brain“ hat die internationale neurowissenschaftliche Forschung beflügelt und der Hirnforschung mit zahllosen Projekten neue Ausrichtungen, Profile und Erkenntnisse eingebracht. Eines dieser Profile verdankt die Neurowissenschaft Professor Semir Zeki, der bis 2008 das Laboratory of Neurobiology am University College in London leitete, dort ein Institute of Neuroesthetics gründete und ferner zu den Gründungsmitgliedern der Association of Neuroesthetics 2008 in Berlin gehörte.1 Zeki und seine Mitarbeiter erforschten in ihren Laboren die anatomischen Strukturen und Verbindungen des visuellen Gehirns, die Reaktionen der Hirnzellen auf visuelle Stimuli, die Leistungen und Grenzen der Wahrnehmung sowie Orte und Funktionen der parallelen, spezialisierten Subsysteme des Visus. Anfang der 1990er-Jahre stellte Zeki seine vierzigjährige Forschung auch in den Dienst der bildenden Kunst, Literatur und Musik mit dem Ziel, eine neurobiologische Begründung von Kunst zu formulieren. Seine Überzeugungen und Ziele formuliert er in seinem grundlegenden Buch Inner Vision. An Exploration of Art and the Brain (Oxford 1999) wie folgt: „ […] by knowing more about the workings of the brain in general and of the visual brain in particular, one might be able to develop the outlines of a theory of aesthetics that is biologically based.“2 „Wende zum Bild“ und „Gehirn-Dekade“ kreuzen sich in Zekis Neuroästhetik, d. h. Bilder, vertreten durch die hochkulturelle Spielform ,Kunst‘, werden zu Objekten einer Naturwissenschaft, die sie mit ihr eigenen Messmethoden zu erklären suchen. Einige Kernthesen aus Zekis Buch Inner Vision werden im Folgenden einen Einblick geben, wie Zeki Kunst und Neurobiologie miteinander verknüpft. In seinem Beitrag für den Band Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, der aus einer Münchner Vortragsreihe (2002/2003) hervorging, widmete sich Zeki dem Motiv der unerfüllten Liebe bei Dante, Michelangelo und Wagner, die er auf neurophysiologische Grundlagen zurückführen will.3 Zekis Erforschungen des Visus wollen einen Brückenschlag vom Gehirn zur Kunst vollziehen. Die Frage ist, ob der auf seinem Forschungsgebiet weltbekannte Neurobiologe der Kunstwissenschaft ein Angebot zum Dialog machen will und kann: Wird die Zeki-Lektüre tiefere Einsichten in den künstlerischen Schaffensprozess, die künstlerische Ideenfindung, die Ursache von Kreativität geben? Sind es die Fragestellungen und Untersuchungsmethoden der Neurobiologie, die über die Beobachtung der Hirnprozesse eine

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letzte und befriedigende Antwort auf diese Fragen geben können? Um es vorwegzunehmen: Semir Zeki ist davon zutiefst überzeugt.

Funktionen des Gehirns – Funktionen der Kunst Zekis Studie Inner Vision ist in drei Teile gegliedert: 1) „A function of the brain and of art“; 2) „The art of the receptive field“; 3) „A neurological examination of some art forms“. Das Buch beginnt mit einer fundamentalen Frage: Was ist die wichtigste Funktion des visuellen Gehirns?4 Die Antwort ist schlicht: Es ist die Funktion des Visus, Wissen über die sichtbare Welt zu erlangen. Genau dies, so Zekis zentrale These, verbindet die Funktionen des Visus mit der Kunst, die als Ausdehnung des Gehirns den Gesetzen des Gehirns gehorcht. Das Buch will nun den Beweis erbringen, dass sich die Funktionen von Kunst und visuellem Gehirn ähneln: „I think that such an attempt would result in a definition of the function of art that is very similar to the function of the brain: to represent the constant, lasting, essential and enduring features of objects, surfaces, faces, situations, and so on, and thus allow us to acquire knowledge not only about the particular object, or face, or condition represented on the canvas but to generalise from that to many other objects and thus acquire knowledge about a wide category of objects or faces.“5 Zeki beobachtet, dass Philosophen und Künstler sich oft genau in der Sprache artikuliert haben, die auch Neurobiologen verwenden, mit der Ausnahme eben, dass sie statt ,Gehirn‘ ,Künstler‘ sagen.6 Künstler seien deshalb gewissermaßen Neurologen, da sie das Gehirn und seine Organisation mit ihren eigenen Techniken studierten, dies allerdings ohne es zu wissen. Es geht Zeki darum zu verabschieden, was er für den größten Mythos der Kunstgeschichte hält, dass der Künstler mit dem Auge malt.7 Der Künstler, so Zeki, malt nicht mit dem Auge, sondern mit seinem Gehirn. Das Auge dient nur als Kabel, das visuelle Signale an das Gehirn überträgt: „Monet, like all other artists, painted with his brain, the eye acting as a conduit for transmitting visual signals to the brain.“8 Große Kunst, so Zeki, kann in neurologischen Begriffen als das definiert werden, was der Erscheinungsvielfalt der Realität so nahe wie möglich kommt und deshalb das Gehirn in seiner Suche nach dem Wesentlichen befriedigt.9 Dies will der Neurobiologe nun am Beispiel von Vermeer und Michelangelo erläutern.10 Woher kommt die psychologische Kraft eines Vermeer-Gemäldes und was überhaupt meinen wir mit psychologischer Kraft? Das Gemälde Die Musikstunde bezieht, wie Zeki meint, seine Größe von der Art und Weise, wie Vermeer seine maltechnische Virtuosität anwendet, um Ambiguität zu erzeugen (Abb. 78).11 Ambiguität im neurologischen Sinne meint die „capacity to evoke many situations, not one, all with equal validity and hence to cover a ‘whole species of situations‘“.12 Vermeers Werke, so Zeki weiter, haben die Fähigkeit, eine große Menge von vergangenen Ereignissen der im Gehirn gelagerten Erinnerungen bei ihren Betrachtern wachzurufen. Dasselbe gilt auch für Michelangelos Non-finito-Skulpturen, die den Betrachter dazu einladen, sich imaginativ zu beteiligen, das Werk in der Vorstellung aus den im Gehirn abgelagerten Erinnerungen zu vollenden.13

Funktionen des Gehirns – Funktionen der Kunst

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78  Jan Vermeer: Die Musikstunde, um 1662, Öl auf Leinwand, London, Buckingham Palast, Royal Collection of Her Majesty the Queen Elizabeth II

Auf das Vermeer- und Michelangelo-Kapitel folgt ein Exkurs zur platonischen Ideenlehre, das hier nur in seinem Ergebnis referiert sei. Demnach sei Platons Ideenlehre für den Neurobiologen nicht zufriedenstellend, da der Philosoph die Idee außerhalb des Gehirns (und nicht im Gehirn) lokalisiere. Daher, so Zeki, komme auch Platons Abneigung gegenüber der Malerei, „which he saw as a medium that can only represent one facet of one example of the truth, not perhaps realising that the Ideal has no existence without a brain“.14 Selten wurde Platon so missverstanden. Zeki unterbricht seine neuroästhetischen Interpretationen immer wieder mit Berichten aus seiner eigentlichen neurobiologischen Forschung. In Kapitel 1.7. beschreibt er ein neues Konzept des visuellen Kortex, für das er in seiner Disziplin internationale Anerkennung gewonnen hat.15 Er und sein Team haben herausgefunden, dass neuronale Zellen im höchsten Maße spezialisiert sind. Es gibt Zellen, die allein auf die Farbe Rot und nicht auf andere Farben oder gar auf Formen reagieren. Neuronale Zellen des Visus sind ferner hierarchisch organisiert, insofern Farben früher wahrgenommen werden als Bewegung. Dies impliziert, dass das Gehirn über mehrere, parallel arbeitende, spezialisierte und, wie Zeki zeigen konnte, unabhängig voneinander arbeitende Wahrnehmungssysteme verfügt, die wiederum zusammenarbeiten müssen, um bewusste Wahrnehmungsbilder zu ermöglichen. Wie das im Gehirn prozessier-

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te Wahrnehmungsbild entsteht und wie die verschiedenen neuronalen Systeme miteinander verbunden sind, ist der Hirnforschung allerdings (noch) unbekannt. Zeki betont den wesentlichen Fortschritt seiner Forschung, das Gehirn nicht als ein passives Wahrnehmungsorgan der externen Realität zu betrachten, sondern als einen aktiven Teilnehmer, der visuelle Bilder nach seinen eigenen Regeln und Programmen generiert. Dies, so schlägt Zeki die Brücke zur Kunst, sei genau die Rolle, die Künstler der Kunst zugeschrieben haben, und die Rolle, von der einige Philosophen wünschten, dass die Malerei sie habe.16 Entlang dieser neurobiologischen Befunde entwickelt Zeki im dritten Teil des Buches seine neuroästhetischen Theorien, die jetzt etwas eingehender betrachten werden müssen. Das Kapitel „Monet’s brain“ beginnt mit einer allgemeinen Feststellung, nach der sich Künstlergehirne von Nicht-Künstlergehirnen darin unterscheiden, dass Künstler viele Stunden damit verbringen, die scheinbar mühelosen Aktivitäten des Gehirns, visuelles Wissen über die Welt zu erlangen, auf der Leinwand sichtbar zu machen.17 Künstler wie Mondrian und Cézanne, deren Bilder Zeki für seine neuroästhetischen Theorien heranzieht, strebten danach, die wesentlichen Elemente aller Formen kennenzulernen. Die künstlerische Arbeit endete damit, genau die visuellen Stimuli zu betonen, die am effektivsten die einzelne, spezialisierte Zelle aktivieren. Hierin sieht Zeki seine Annahme bestätigt, dass das Gehirn im Laufe der Evolution einen Mechanismus ausgebildet habe, der es ihm erlaubt, Wissen über alle Formen zu bekommen. Ein Maler, so Zeki, der damit befasst ist, die Bestandteile aller Formen herauszufinden, tut dies innerhalb der Grenzen, die ihm die Physiologie seines Gehirns setzt. Im Gegensatz zum Nicht-Künstlergehirn, das dies passiv vollzieht, ist der Künstler aktiv daran beteiligt. Aber auch da ergeben sich Unterschiede zwischen den Künstlergehirnen: Während der eine Künstler alles malt, was die Natur ihm vor Augen hält, sind andere intellektuell mit dem Wissenserwerb der Formen beschäftigt. Monet sei für den letzteren Typ ein besonders geeignetes Beispiel, was Zeki anhand der Serie von Gemälden der Kathedrale von Rouen zeigen will (Abb. 79). Monets höhere zerebrale Zentren, so der Neuroästhetiker, spielten eine kritische Rolle in seinem Werk, und seine Bilder seien alles andere als der Versuch, flüchtige Momente einzufangen, wie er es bei Kunsthistorikern gelesen habe. Was nun folgt, so räumt Zeki ein, seien zwar nichts anderes als Spekulationen, aber „it is fun to speculate about Monet’s brain by viewing his paintings“.18 Dass Monet wie Cézanne immer wieder ein und dieselbe Ansicht unter verschiedenen Bedingungen des Lichts malte, sei ein Beweis des instinktiven Verständnisses für die Suche nach Konstanten. Beide Künstler seien auf der Suche nach dem Extrakt der wesentlichen Eigenschaften und Qualitäten einer Ansicht unter sich ändernden Bedingungen gewesen, womit sie unbewusst die Funktion des visuellen Gehirns nachgeahmt hätten. Doch schon ein flüchtiger Blick auf Monets Rouen-Serie genüge, um die Frage zu stellen, ob nicht der Maler in Folge einer Hirnläsion in einem Teilbereich von V4 eine Dyschromatopsie gehabt habe, was zu einer beschränkten Farbwahrnehmungsfähigkeit geführt habe (Abb. 80).19 Farbwahrnehmung ist neurobiologisch nichts anderes als das Errechnen von dauernden, wesentlichen und konstanten Eigenschaften der Dinge der Welt. Zeki ist der Auffassung, dass Monets Kathedralfassaden den Eindruck machen, als ob der Maler das Licht oder die Tageszeit nicht ausgleichen konnte, um die vom Visus angestrebte Konstanz zu erhalten. Neuroästhetik ist Kunstbetrachtung am

Funktionen des Gehirns – Funktionen der Kunst

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79  Claude Monet: Die Kathedrale von Rouen, in: Semir Zeki: Inner Vision, Oxford 1999, S. 211

80  Das visuelle Gehirn aufgeteilt nach den Gebieten und seinen Funktionen, in: Semir Zeki: Inner Vision, Oxford 1999, S. 16

pathologischen Gehirn, denn der Neurobiologe versucht Monet eine Abnormalität des Visus nachzuweisen. Monet litt, wie Zeki meint, an einer Störung der Farbwahrnehmung. Sähe man nämlich mehrere Gemälde der Serie nebeneinander, dann werde folgendes deutlich: ein Normalsichtiger sehe die Kathedrale nicht so, wie Monet sie gemalt habe, zu unterschiedlich seien die Farbwerte. Monets Gehirn, so schließt Zeki, war vielleicht nicht fähig eine Grundfunktion des Visus durchzuführen, nämlich alle äußeren Bedingungen der Beleuchtung so zu verarbeiten, dass er über den gesehenen Gegenstand, hier die Kathedrale von Rouen, ein sicheres Wissen erhält. Wenn man jedoch von einem normalen Ablauf der Farbwahrnehmung bei Monet ausgehe, mithin die Läsions-Theorie fallenlasse, dann bedeuteten die unterschiedlichen Farbwerte der Rouen-Serie eine bewusste Entscheidung des Künstlers, der absichtlich etwas anderes gemalt als er gesehen habe: Dann, so schließt der Neuroästhetiker, gehöre Monets

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Gemäldeserie zu den ersten fauvistischen Gemälden, weil er die Farbe von der Form befreit habe. Hiermit, so fasst Zeki seine neuroästhetischen Beobachtungen zusammen, sei jedenfalls der Beweis erbracht, Monet sei es gar nicht darum gegangen, die flüchtige Impression eines Augenblicks in seinen Bildern einzufangen.20

Neuroästhetik oder die Begründung der Kunst ex post Bevor wir uns mit einem noch komplexeren Gegenstand befassen, nämlich der neuroästhetischen Begründung des Motivs der unerfüllten Liebe, hier zunächst eine Zwischenbilanz der neuroästhetischen Forschung. Der Neurobiologe Zeki will die Grundfunktionen, das Sehen von Formen, Farben und Bewegung, verstehen, weshalb er seine neuroästhetischen Untersuchungen gern mit der sich auf Form, Farbe und Bewegung konzentrierenden Kunst Malewitschs, Mondrians, van Doesburgs oder Kellys anstellt. Unter dem Aspekt der visuellen Wahrnehmung sind komplexere Gemälde, etwa eines Vermeer, Rembrandt oder Tizian, für die Grundlagenforschung nicht geeignet und werden daher in Inner Vision nur am Rande erwähnt. Was die Feststellung einer Abweichung der Farbwerte von der Normalsichtigkeit in Monets Rouen-Serie betrifft, so zieht Zeki zwar ins Kalkül, dass es Monet nicht darum ging, Abbilder von der Wirklichkeit darzustellen, sondern seine subjektive Wahrnehmung der Welt unter den Bedingungen sich ständig ändernder Tageszeiten, Wetter- und Lichtverhältnissen. Es ist dies das Grundthema der Monet’schen Kunst, die für die neuroästhetische Forschung aber nicht von Interesse ist. Zekis Beobachtungen führen dazu, dass Kunst möglicherweise unter den Bedingungen ,abnormer‘ oder gar ,lädierter Gehirne‘ entsteht. Zweierlei wird bei der Lektüre des Buches deutlich. Es ist erstens Zekis erklärtes Ziel, die Meisterwerke der älteren Kunstgeschichte neuroästhetisch zu deuten. Was das Vermeer-Kapitel betrifft, so gelangt der Neurobiologe zu allgemeinen Erkenntnissen, die die Vieldeutigkeit, Unbestimmtheit, Vagheit oder Polysemie von visuellen Daten betreffen (Abb. 78). Es scheint ihm allerdings (noch) nicht bekannt zu sein, dass Kunst oder Literatur zu allen Zeiten ganz bewusst ihren ästhetischen Reiz genau daraus gezogen hat und seine KollegInnen aus den Geisteswissenschaften Fragestellungen und Methoden entwickelt haben, Kunstwerke zu deuten.21 So bestätigt die neuroästhetische Forschung allenfalls nachträglich, was eine philosophische und geistesgeschichtliche Tradition bereits über die Hirnleistungen der Menschen, insbesondere das Kunstschaffen, herausgefunden hat. Hirnforschung kommt der Verdienst zu, dies mit einer technologisch hochaufgerüsteten Apparatur, die harte Fakten auswirft, zu belegen. Es zeigt sich zweitens, dass Kunst sicher ein interessanter, aber nicht notwendiger Gegenstand für die Erforschung der Funktionen und Arbeitsweisen des visuellen Kortex ist. Zeki hätte seine Experimente mit gleichen Ergebnissen ebenso gut mit weniger komplexen Bildern bzw. geeigneten Grafiken machen können, wie es der Kognitionswissenschaftler Donald D. Hoffman in seinem Buch Visual Intelligence. How we create what we see ein Jahr vor Zeki getan hat.22 Ohne einen Blick in die Fachpublikationen von Zeki zu werfen, wird anhand der Lektüre von Inner Vision klar, dass Zeki und sein Team ihre Forschungen nicht im Museum veranstal-

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81  Experiment zur Demonstration der funktionalen Spezialisation des menschlichen Gehirns, in: Semir Zeki: Inner Vision, Oxford 1999, S. 64

ten, sondern ihre Forschungsergebnisse aus geeigneten, aber vergleichsweise simplen Grafiken beziehen (Abb. 81).23 Die neurobiologischen Forschungsergebnisse wurden also nachträglich auf Kunstwerke appliziert, woraus dann ‚Neuroästhetik‘ wurde: Was an Kunst kunst-spezifisch ist, vermag die neuroästhetische Forschung also weder zu klären noch zu begründen.24 Somit verfehlt Zeki sein Ziel, mit Inner Vision eine neurobiologische Begründung von Kunst vorzulegen, weil seine Behauptungen der methodischen Grundlagen entbehren.25 Inner Vision mag von allgemeinem Interesse für die Kunstwissenschaft sein, die sich ja grundsätzlich für den Visus des Künstlers und auch den eigenen Visus interessiert.26 Doch ist es für die Interpretation eines Kunstwerks unerheblich, ob ein Mondrian-Gemälde die Zellaktivität in V1 (zuständig für horizontale und vertikale Linien) stimuliert oder kinetische Kunst die Zellen in V5 aktiviert etc. Zeki erhärtet auch hier nachträglich die bereits geäußerte Vermutung, nach der Künstler auch Wahrnehmungstheoretiker sind, insofern sie die visuellen Systeme erforschen.27 Heikel wird es immer dann, wenn der Neurobiologe anfängt, seine Forschungsergebnisse zu interpretieren, um Kunstgeschichte um- oder neu zu schreiben. Dafür steht das Beispiel Monet. Die neuroästhetischen Thesen führen, ohne dass Zeki sich dessen bewusst wäre, immer dann zu reduktiven Thesen, wenn er die Funktion von Kunst mit der Reaktion einer einzelnen, hochspezialisierten Hirnzelle oder den Läsionen von Hirnarealen begründet. Das Beispiel Monet zeigt ferner, wie für den Neuroästhetiker das einzelne ,geniale‘ Gehirn völlig isoliert von der Welt im Zentrum einer Forschung steht, die Faktenwissen generieren will. Dieses eine Gehirn bringt Kunst und Kultur unter den ihm eigenen physiologischen Bedingungen hervor.28 Kunst erscheint dann, wie das Beispiel Monet zeigt, als ein zufälliges Produkt individueller neuronaler Dysfunktion, und so kommt es zu geradezu grotesk anmutenden Uminterpretationen der Geistesgeschichte, wie es auch Zekis Platon-Lektüre zeigt.

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Zeki spürt die Unzulänglichkeit seiner neuroästhetischen Theorien. Immer wieder betont er, dass die Erforschung des Visus ja noch am Anfang stehe und seine neuroästhetischen Interpretationen doch nur spekulativen Charakter hätten: „it is fun to speculate about Monet’s brain by viewing his painting.“ Der Neurologe hätte es ja auch bei seinem Hobby belassen können. Das öffentliche Interesse am Gehirn und seiner Erforschung ist immens und der Reiz, die Kunst als herausragende Manifestation der menschlichen Kultur neurobiologisch zu begründen, ist verführerisch, weil sie eine Debatte über die Überlegenheit der Natur- über die Geisteswissenschaft, die mit der „Dekade des Gehirns“ neu entfacht wurde, an ein Ende bringen könnte. Zuvor hatte man es als Neurologe vor allem mit dysfunktionalen oder kranken Gehirnen zu tun, jetzt nobilitieren der Gegenstand Kunst und das Künstlergehirn eine Wissenschaft, die mit Hilfe neuester Maschinen und Techniken (Kernspintomographen, PET etc.) neurobiologische Grundlagenforschung betreibt.29 Inner Vision endet mit einem Epilog und einem Glaubensbe­ kenntnis, in dem sich Zeki demütig vor der unfassbaren Komplexität seiner beiden Gegenstände, des Gehirns und der Kunst, verneigt: „As a believer in that greatest sentiment of all, love, which holds sway above all else, which propels us towards the heavens and impels us to achieving the highest – a view immortalised in Platos’s Symposium – my greatest regret of all is that, at my age and with my experience of the brain, I have to remain silent about the relationship between love and erotic impulses on the one hand and artistic creativity on the other, since they are both self reproductive processes.“30

Was ist Kunst? Dieses Zitat leitet über zu Zekis Beitrag im Band Iconic turn, der dieses Eingeständnis in die Grenzen der neurobiologischen Erkenntnisfähigkeit widerlegen will. Er beginnt wiederum mit einer fundamentalen Frage: Was ist Kunst und warum hat Kunst einen so hohen Stellenwert in allen Kulturen?31 Kunst, das wissen wir bereits aus der Lektüre von Inner Vision, hat ihren Ort im Gehirn: Sie hat eine biologische Grundlage und unterliegt den Gesetzen des Gehirns. Zweitens: Kunst ist Wissen. Um die biologischen Grundlagen von Kunst zu verstehen, so Zeki, müssen die biologischen Grundlagen des Wissens erforscht werden. Wiederum räumt er ein, wie schwierig es sei, die neuronalen Grundlagen von künstlerischer Kreativität, des Kunstschaffens und der Wahrnehmung zu erforschen, und dass seine Wissenschaft noch weit davon entfernt sei, diese zu verstehen. Gleichwohl werde er jetzt den Versuch des Entwurfs einer Neuroästhetik aufgrund der Erkenntnisse wagen, die die Hirnforschung über die Funktionen des visuellen Gehirns gewonnen hat. Drei, so Zeki, „titanische Gestalten“ der abendländischen Kultur – Dante, Michelangelo und Wagner – sollen aus neurobiologischer Perspektive verstanden werden. Es geht um nichts weniger als die Ursprünge der Kunst im Gehirn zurückzuverfolgen und zu zeigen, dass sie mit der fundamentalen Fähigkeit des Gehirns, Konzepte und Abstraktionen hervorzubringen, zu tun haben. Die drei Titanen verband eine Leidenschaft, die ihren künstlerischen Schaffensprozess beherrschte: Es ist die ,romantische Liebe‘, eine der überwältigenden Gefühle des Menschen, die,

Was ist Kunst?

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so lautet die erste neuroästhetische These, die Motivation ihrer Kunst gewesen sei.32 Unter romantischer Liebe versteht der Neurobiologe eine ideale Liebe, die drei männliche Künstler in ihrem Leben nicht verwirklichen konnten. Der Grundgedanke, den Zeki aus seiner Erforschung des Visus ableitet, ist der Folgende: Alles menschliche Handeln ist durch die Gesetze des Gehirns und die Art bestimmt, wie es organisiert ist. Demnach könne es keine wirkliche Theorie der Kunst und Ästhetik geben, die nicht auf den Erkenntnissen der Neurobiologie aufbaue. Kunst, so Zeki, sei eine besondere Fähigkeit zur Abstraktion, die nach Konsens der neueren Hirnforschung angeboren ist. Alle Ideen und Konzepte unterliegen demnach ähnlichen neuronalen Prozessen. „Kunst“, so beantwortet er seine Frage, „ist also im Wesentlichen ein Nebenprodukt dieses abstrahierenden, Konzept bildenden und Wissen erwerbenden neuronalen Verarbeitungssystems im Gehirn.“33 Wie nun funktioniert das visuelle Großhirn?34 Das Auffällige am visuellen Kortex, so erklärt der Neurobiologe, ist seine funktionelle Spezialisierung, die Unterteilung in unterschiedliche Bereiche für unterschiedliche Aufgaben, wie wir bereits in Inner Vision erfahren haben. Am besten erforscht ist das Farb- und das Bewegungssehen, das nicht nur diese eine Funktionen erfüllt, sondern darüber hinaus in der Lage ist, Abstraktionen von einer „gewissen Komplexität“ auszuführen. Die neuronalen Prozesse, die den Abstraktionsvorgängen zugrunde liegen, laufen automatisch ab. Wir nehmen die Prozesse selbst nicht wahr, sondern nur ihre Ergebnisse. Das Gehirn, so Zeki weiter, erwirbt mit seiner hochkomplexen Arbeitsweise Wissen über die Welt und bedarf deshalb notwendigerweise der Abstraktionsfähigkeit, die von den vielen parallel arbeitenden Systemen des zerebralen Kortex geleistet wird. Jedes hochspezialisierte Subsystem, so interpretiert Zeki seine Forschung zum Visus, entwickele Konzepte und Ideen. Diese Abstraktionsbildungen seien die Voraussetzungen zum effizienten Wissenserwerb, da sie das Gehirn von der ständigen Verarbeitung einzelner Wahrnehmungen entlasten. Abstraktionen befreien das Gehirn ferner von der Abhängigkeit vom Gedächtnis, das sich irren kann. Sie bringen Konzepte hervor, die den konkreten Erfahrungen übergeordnet werden. Da unsere Lebenserfahrungen nicht immer zufriedenstellend mit den Ideen, die unser Gehirn entwickelt hat, übereinstimmen, sei das Schaffen eines Kunstwerks, so die neuroästhetische These, eine Möglichkeit, Erfahrung und Idee in Übereinstimmung zu bringen und die vom Gehirn produzierten Ideen zu realisieren. Wie produziert das visuelle Gehirn Abstraktionen? Zeki betritt jetzt wieder das Terrain seiner Forschung, die den Nachweis der Spezialisierung des Gehirns bis zur einzelnen Zelle erbringt, indem er Gehirnzellen etwa bei der Wahrnehmung einer vertikalen Linie beobachtet.35 Die Fähigkeit zur Abstraktion ist angeboren und deshalb laufen alle neurobiologischen Verarbeitungsprozesse automatisch ab. Die Produkte dieser automatischen Prozesse gelangen nur zu einem geringen Teil ins Bewusstsein. Zeki nimmt an, dass eine Idee als das Ergebnis neuronaler Abstraktion entsteht, in der alle Sinneserfahrungen synthetisch kombiniert werden. Eine Idee ist demnach ein neuronal produziertes Konstrukt, das sich aus allen Objekten einer Kategorie zusammensetzt, die das Gehirn prozessiert hat. Ideen sind, so Zeki, sowohl von einer angeborenen neuronalen Mechanik als auch von den individuell gemachten Erfahrungen abhängig. Dies begründe den Unterschied der individuellen Gehirne: Die Ideen eines

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Gehirns müssen nicht unbedingt mit den Ideen eines anderen Gehirns übereinstimmen. Zeki nähert sich jetzt seinem eigentlichen Thema, der Begründung von Kunst aus dem Geist der neurobiologischen Forschung, von der er behauptet, sie sei die Grundlage für das Verständnis künstlerischer Kreativität.

Neuroästhetik – das ‚geniale‘ Gehirn im Zirkel der Letztbegründung An den Anfang seiner Begründungen von Kunst, der ,romantischen Liebe‘ als Motivation für ,große Kunst‘, setzt Zeki nun nochmals die Hypothese, dass Kunstwerke Produkte von nicht zur Übereinstimmung gebrachten Erfahrungen und Ideen seien.36 Prüfen wir nochmals die neuroästhetischen Thesen unter dem Aspekt ihres Erkenntniswertes für die Kunstwissenschaften. Die Einsicht, dass sich in der Kunst Ideen und Konzepte entäußern, sich in Bildern, Texten oder Tönen manifestieren, sichtbar, lesbar oder hörbar – kommuniziert – werden, dass Kunst in unserer Kultur überhaupt die Funktion hat, alternative Denk- und Lebensmodelle zu entwerfen, ist so alt wie die Reflexion über Kunst selbst und bietet an sich nichts Neues. Die Idee eines physiologischen Automatismus, die diese neuronale Konzeptbildung steuert, erinnert an das mechanistische Modell der Physiologie von Descartes oder La Mettrie.37 Zeki ist nun nicht wie andere seiner Kollegen radikaler Konstruktivist – die Vorstellung eines neuronal gesteuerten Automatismus von Kunstproduktion, die seine Hirnforschung nahelegt, erscheint ihm angesichts des ,Genialischen‘ der männlichen Gehirne, die er interpretiert, wohl doch zu gewagt.38 Er stellt deshalb sowohl individuell gemachte Erfahrungen als auch „kulturelle Einflüsse“ bei der Kunstproduktion in Rechnung. Was nun aber als neuroästhetische Begründung für Kunst anhand der „drei Titanen“ folgt, zeugt von einer reduktionistischen Sicht auf den Gegenstand.39 Ferner erklären die Beispiele aus der Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte auch hier nicht, was an Kunst neurobiologisch spezifisch ist, was Kunst im Sinne der Neuroästhetik zur Kunst macht. Und schließlich: Jedes Argument, das Zeki als Beweis seiner hirnphysiologischen Forschung auf Kunst überträgt, ist aus Sicht der Kunst- und Kulturwissenschaften bereits ausführlich diskutiert worden. Das fängt bei einem biografistischen Ansatz an, der Zekis Kunstinterpretation als Basis dient. Dante, so beginnt Zeki seine neuroästhetischen Interpretationen, war von klein auf bis an sein Lebensende inspiriert von einer Dame namens Beatrice: „Beatrice heiratete einen Bankier und starb jung. Dantes Liebe zu ihr blieb daher ewig unerfüllt. Das stürzte ihn in tiefe Depression, setzte aber andererseits auch sein kreatives Genie frei. Später heiratete Dante und gründete eine Familie, doch seltsamerweise ist seine Frau in seinen Werken nirgends erwähnt. Wir können nur vermuten, dass es sich um eine Vernunftehe handelte, die er nicht aus Leidenschaft eingegangen ist. [...] Die Erkenntnis der Vita Nuova, dass seine Liebessehnsucht niemals Erfüllung finden kann, führt den Dichter in eine andere Richtung.[...] Er widmet sich seiner Herrin, indem er sie preist in Worten wie sie ,nie über eine andere Frau gesagt wurden‘ und erschafft so durch seine unerfüllte Liebessehnsucht ein großartiges Kunstwerk.“40

Neuroästhetik – das ‚geniale‘ Gehirn im Zirkel der Letztbegründung

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Zekis Applikation seiner neurobiologischen Grundlagenforschung auf die Kunst gerät hier zur Wiedererweckung der romantischen Genieästhetik und des Positivismus aus dem Geist des 19. Jahrhunderts – jedoch in umgekehrter Richtung. Nahmen damals Literaturwissenschaftler wie Hippolyte Taine Methoden und Erkenntnisse der Naturwissenschaften auf, um die Verflechtung von Kunst und Leben auf empirische Daten zu stützen und Geschichte als eine Kette von Ursache und Wirkung zu interpretierten, so nimmt jetzt der Neurobiologe Künstlerbiografien als Fakten, um seine Forschung zu verifizieren.41 Die Trias des „Ererbten, Erlebten und Erlernten“ (W. Scherer) feiert bei Zeki seine Auferstehung.42 Die positivistische Kausalkette und Gleichsetzung von Individuum und Kunst wird wieder zur Grundlage der Literaturinterpretation, nun aus dem Geist der Neuroästhetik. Von hier aus formuliert Zeki seinen Anspruch, für Kunst eine naturwissenschaftlich fundierte, letzte Begründung zu liefern. Zugleich kann man in Zekis Ansatz eine Fortführung der von Freuds Psychoanalyse beeinflussten Literatur- bzw. Kunstwissenschaft sehen, die Kunst als Symptom des individuellen Unbewussten eines Autors deuteten.43 Das Argument für Kunst als Kompensat ungelebter Liebe erledigt sich im Falle Dantes von selbst, da die faktische Existenz Beatrices gar nicht gesichert ist.44 Angesichts dieses individuell-biografistischen Ansatzes steht nun die folgende Frage im Raum: Was interessierte uns eine jahrhundertealte Literatur, wenn sie (nur) die biografische Situation eines einzelnen, historischen Individuums widerspiegelte? Und es bleibt letztlich ein Rätsel, warum, wenn doch viele Menschen, so wie vielleicht auch Dante, das Gefühl der ,romantischen Liebe‘ erfahren haben oder erfahren, kaum einer in der Lage ist, aus unerfüllter Liebe ,große Kunst‘ zu machen. Was Zeki nicht in Rechnung stellt, ist die – man könnte sagen: titanische – Fähigkeit des KünstlerInnengehirns, über sich selbst nachzudenken und wie Dante, Michelangelo, Wagner und viele Künstler und Künstlerinnen nach ihnen Konzepte über neurophysiologisch hervorgebrachte Konzepte zu verfassen. Kunst würde dann nicht als hirnphysiologisch gesteuertes Produkt individuell-biografischer Erfahrungen mit kulturellen Einflüssen entstehen. Kunst wäre ein bewusst gestaltetes Produkt, das die Abstraktion von Lebenswirklichkeiten intendiert, das über gemachte Erfahrungen nachdenkt. Kunst entstünde als Fiktion oder poetisch gefasste Simulation von Leben, die, über individuell gemachte Lebenserfahrungen hinausgehend, exemplarische Aussagen machte über im weitesten Sinne kulturspezifische Bedingungen von Existenz und Lebensumständen und überhaupt über allgemeine Bedingungen der menschlichen Existenz. Es sind doch gerade, um in Zekis Terminologie zu bleiben, die Konzepte über Konzepte, die Meta-Konzepte, die Kunst in unserer Kultur charakterisieren. Es sind diese Meta-Konzepte, die, vorausgesetzt dass sie – ästhetisch – ausformuliert, verfasst, geformt, gebildet sind, als Kunst jahrhundertelang, sogar tausende von Jahren tradiert werden und so eine herausragende Funktion in den vielen Kulturen der Menschen haben. Bietet der Neurobiologe eine einzige Erklärung für diese kunstspezifische, selbstreflexive – ästhetische – Formung von Konzepten? Zekis neurobiologische Begründung der unerfüllten Liebe tradiert stattdessen altbekannte Vorurteile gegenüber den Hierarchien der Geschlechter: Beatrice als Inspirationsquelle für Dante, Mathilde Wesendonck, die Muse von Wagner: Die Vernunftehe, so verallgemeinert der Neurobiologe, führt nicht zur Kunst. Zeki argumentiert mit Geschlechterhierarchien, deren

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Macht-Konstruktionen, etwa das Weibliche auf die dienende Funktion der Muse zu reduzieren, dank der Genderforschung längst herausgearbeitet worden sind. Ohne es zu merken, fällt der Neurobiologe in die von der Konkurrenzwissenschaft mit aller Klarheit markierte Grube, dass Bedeutungsstiftungen in unserer Kultur oft über die Geschlechterdifferenz und kulturell organisiert wird, nämlich dass Weiblichkeit nicht nur Ausgangspunkt und Ziel männlicher Kunst sei, sondern als Uneigentliches, als Allegorie für das Kunstwerk selbst stehe.45 In allen drei Fällen (Dante, Michelangelo, Wagner) arbeitet Zeki mit Kategorien der romantischen Genieästhetik.46 Im Genie, der Ausnahmeerscheinung, waltet das Unbewusste, das sich in genialischen Momenten der Inspiration schöpferisch entäußert. Im Falle von Michelangelos Non-finito-Skulpturen unterstellt Zeki ein Übermaß an Einzelerfahrungen des Künstlerindividuums, aus denen zu viele Ideen entsprangen, die er nicht umsetzen, nicht bewältigen konnte (Abb. 82): „Viele Ideen, die Michelangelo im Laufe des Lebens aus zahllosen Einzelerfahrungen herausdestilliert hatte, konnte er nicht in Kunstwerke umsetzen. Sein ganzes Leben lang war Michelangelo von dem alles durchdringenden Wunsch beherrscht, nicht nur physische, sondern auch geistige Schönheit und göttliche Liebe darzustellen.“47 Zeki sucht eine neuroästhetische Erklärung für die unvollendeten Skulpturen Michelangelos und findet sie bei Vasari, der die außerordentliche Kreativität des Künstlers wie folgt zu erklären suchte: „Seine Vorstellungskraft war so vollkommen, daß die Dinge, die sich vor seinem geistigen Auge ausformten, von einer Beschaffenheit waren, daß er mit seinen Händen so gewaltige und ungeheure Konzepte nicht auszudrücken vermochte und er seine Arbeiten häufig aufgab, ja viele davon sogar zerstörte. Soviel ich weiß, hat er kurz vor seinem Tod eine große Zahl von Zeichnungen, Skizzen und Kartons verbrannt, damit niemand seine Mühen sehen würde und die Kraftproben, denen er sein Talent unterzog, weil er ausschließlich in seiner Vollkommenheit in Erscheinung treten wollte.“48 Zeki macht daraus die folgende Erklärung: „Ich möchte [...] behaupten, dass Michelangelo wieder und wieder feststellte, dass er sein Konzept von Liebe und Schönheit, das sich in seinem Gehirn ausgeformt hatte, nicht in einem einzelnen Kunstwerk umsetzen konnte, und dass er darauf so reagierte, dass er das Werk unvollendet ließ. Es nicht zu vollenden war für Michelangelo möglicherweise der bessere Weg als der, ein Werk aus Furcht, er könne sein geistiges Ideal daran nicht verwirklichen, erst gar nicht zu beginnen.“49 Letztlich scheiterte, folgt man Zeki, Michelangelo an seinem Werk, das er, aus Furcht sein Ideal nicht realisieren zu können, erst gar nicht begann. Es bedarf für diese Thesen keiner neurobiologischen Kompetenz, denn längst haben sich Kunsthistoriker, etwa Michael Bockemühl, auf der Grundlage von historischen Quellen und systematischen Überlegungen zum Thema des „Non-finito“ bei Michelangelo geäußert.50 Für Bockemühl stellt sich das Problem im Kontext einer normativen Ästhetik, in der die Grundstruktur, die spannungsvolle Differenz von Idee/ Ideal und sinnlicher Gestalt, als nicht erreicht gedacht wird. Das Konzept des Scheiterns am Werk resultiert aus eben dieser Normästhetik, die das Werk erst dann als vollendet beurteilt, wenn, im Falle der Skulptur, der Stein glattgeschliffen oder poliert ist. Die Gehirne, die diese Idee von Werk-Vollendung hervorgebracht haben, waren um 1500 damit erfolgreich, sodass eine ästhetische Norm auf der Basis von Konsens und Macht formuliert werden konnte. Der Erfolg war aber, wie die Kunstgeschichte beweist, nicht von Dauer: Es kamen andere Gehirne, die

Neuroästhetik – das ‚geniale‘ Gehirn im Zirkel der Letztbegründung

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82  Michelangelo Buonarroti: Sterbender Sklave, 1513–1516, Marmor, Paris, Musée du Louvre

andere Überzeugungen von Ästhetik formulierten und für verbindlich erklärten. Aus kunstwissenschaftlicher Sicht gehört das Scheitern am Werk folglich zur dialektischen Grundstruktur von Kunst bzw. dem Kunstsystem. So kann das unter dem Aspekt einer normativen Ästhetik als unvollendet definierte Werk auch als ein Hinweis auf das prinzipiell nicht durch Abbildung Erreichbare verstanden werden. Dann ist das Werk, so wie es sinnlich erscheint, vollendet, und zwar als höchste Annäherung an den der Idee entsprechenden Ausdruck. Nichts anderes formuliert Semir Zeki mit Argumenten, die er neuroästhetisch nennt. Längst ist deutlich geworden, dass Zekis Neuroästhetik Teil des hermeneutischen Zirkels ist und der Naturwissenschaftler als Kulturwissenschaftler argumentiert, obwohl er dies hartnäckig bestreitet. Die Neuroästhetik vermag, wenn wir Zekis Erkenntnissen über die Funktionsweisen des Gehirns folgen, allenfalls nachträglich und mit naturwissenschaftlicher Empirie das zu bestätigen, was Philosophen, Natur- und KulturwissenschaftlerInnen längst als Phänomene des Geistes mit ihren Ideen und Konzepte produzierenden Gehirnen beobachtet und durchdrungen haben. In Zekis Letztbegründung für Kunst ist das Gehirn auf die Erbsengröße einer Messdaten absondernden Entität geschrumpft: Weil es den Kausalitäten der Naturgesetze unterworfen ist, kann es auch nur messbare Produkte hervorbringen. Wer diese Messdaten als Konzepte und Ideen bezeichnet, markiert den Abgrund zwischen wissenschaftlicher Empirie

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und Philosophie, der durch die Hightech-Ausstattung moderner Hirnforschung noch tiefer wird. Es wird nicht in Abrede gestellt, dass das menschliche Gehirn nach den Gesetzen der Natur funktioniert, bemerkt sein darf aber, dass das einstweilen vorherrschende Nichtwissen oder Nichtverstehen dieser Naturgesetze, das die avancierte Hirnforschung und auch Zeki immer wieder betonen, eben auch der Dialektik unterworfen ist, die ,geniale‘ Gehirne motiviert, das Gehirn zu erforschen und einstweilen im unendlichen Regress der letzten Begründungen zirkulieren lässt. Einen soliden Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaft liefert Zekis Neuroästhetik nicht – nicht einmal ein Angebot zum Dialog.

Endnoten

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Endnoten 1 In diesem Kapitel wird weitgehend auf eine gendergerechte Schreibweise verzichtet, um zu markieren, dass ,das männliche Künstlergenie‘ zum Konzept des Autors der hier analysierten „neuroästhetischen“ Studien gehört. Weitere Informationen zur Person und Forschung von Zeki gibt seine homepage http:/www.vislab.ucl. ac.uk/. Die Association of Neuroesthetics hat ihre Website mittlerweile eingestellt. Über die derzeitigen Aktivitäten eines International Networks of Neuroaesthetics informiert https://neuroaesthetics.net/ (Zugriff am 31.10.2016). 2 Semir Zeki: Inner Vision. An Exploration of Art and the Brain, Oxford 1999, S. 1. 3 Semir Zeki: Dante, Michelangelo und Wagner. Das Gehirn als Konstrukteur genialer Kunstwerke, in: Christa Maar / Hubert Burda (Hg.): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 77–102; siehe auch die Fortführung der Thesen in: ders.: Splendours and Miseries of the Brain. Love, Creativity and the Quest for Human Happiness, New York 2009. 4 „The question is: what is the visual brain there for?”; Seki: Inner Vision, S. 4. 5 Ebd., S. 9–10. 6 Ebd., S. 10. 7 Ebd., S. 13–22, im Kapitel 1.3 aus „The myth of the ,seeing eye‘“. 8 Ebd., S. 13. 9 Ebd., S. 22. 10 Ebd., S. 22–36, im Kapitel „A neurobiological appraisal of Vermeer and Michelangelo“. 11 Ebd., S. 25. 12 Ebd., S. 29. 13 Ebd., S. 32. 14 Ebd., S. 42. 15 Ebd., S. 58–74, im Kapitel „The modularity of vision“. 16 Ebd., S. 68. 17 Ebd., S. 209. 18 Ebd., S. 210. 19 Die Hirnforschung teilt den visuellen Kortex in einzelne Bereiche seiner Funktionen auf (V1–5). Der Bereich V4 ist vor allem für das Sehen von Farben zuständig. Die Physiologie des Farbensehens führt Zeki im Kapitel 3.18. aus; ebd., S. 183–196. 20 Ebd., S. 213. 21 Erst in seinem Iconic-turn-Beitrag ist Zeki bewusst, dass „Mehrdeutigkeit [...] allen großen Kunstwerken zu eigen ist“. Zeki: Dante, Michelangelo und Wagner, S. 77–102, hier S. 93. 22 Donald D. Hoffman: Visuelle Intelligenz. Wie die Welt im Kopf entsteht, München 2003 (New York 1998). 23 Dies beweisen die Kapitel, in denen es um neurobiologische Forschung im engeren Sinne geht: 1.7, 2.11, 2.14, 3.18. 24 Vgl. auch die Kritik von John Hyman: Kunst und Neurowissenschaft, in: Matthias Bauer / Fabienne Liptay / Susanne Marschall (Hg.): Kunst und Kognition, München 2008, S. 281–300; Hyman weist den mit Kunst befassten Hirnforschern Zeki und Ramachandran vor allem Zirkelschlüsse aufgrund von Generalisierungen nach. 25 Um Kunst neuroästhetisch zu begründen, hätte er eine Differenz zur Wahrnehmung von nichtkünstlerischen Bildern herausarbeiten müssen. 26 Hoffman: Visuelle Intelligenz, liefert interessante Beobachtungen zum Visus und visueller Wahrnehmung, was den Beitrag Zekis zur Grundlagenforschung des visuellen Kortex nicht schmälert. 27 Hyman: Kunst und Neurowissenschaft, S. 293. 28 Huber: Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfildern-Ruit 2004. 29 Es geht hier nicht darum, die neurobiologische Forschung zu diskreditieren. Im Zuge des Jahrzehnts des Gehirns ist mit den Büchern von Oliver Sacks (um nur ein Beispiel zu nennen) eine neurobiologische Forschung publik geworden, die noch ohne die Hilfe von Hightech-Geräten – allein durch die genaue Beobachtung von Menschen – die Anatomie und die Dys-/Funktionen des Gehirns erforscht hat. Es handelt sich um philosophisch umfassend gebildete Naturwissenschaftler, die ihre Ergebnisse im Dialog mit den Humanities formuliert haben. Siehe zu der auf Hightech-Bildgebung basierenden Hirnforschung die Einschätzung von

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Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitengehirnforschung, Göttingen 2004, das Kapitel „Auf dem Weg zur Cyber-Phrenologie“, S. 303–310. 30 Zeki: Inner Vision, S. 218. 31 Zeki: Dante, Michelangelo und Wagner, S. 77. 32 Ebd., S. 78. 33 Ebd., S. 80. 34 Ebd., S. 80–86. 35 Ebd., S. 84–85. 36 Ebd., S. 87–90. 37 Siehe zur historischen Konzeption des Körpers als einem den physikalisch-chemischen Gesetzen unterliegenden Apparats, dessen Abläufe vom Herzmotor angetrieben und vom Gehirn zentral gesteuert werden (mechanistisches Modell), Thomas Fuchs: Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes. Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs, Frankfurt a. M. 1992. 38 Der von der Hirnforschung vertretene Konstruktivismus basiert darauf, dass – kurz gesagt – das Gehirn als ein operationales, geschlossenes System in seiner Funktionsweise weitgehend autonom und auf sich selbst bezogen arbeitet. Ein geschlossenes System, eine Zelle, ein Gehirn, erzeugt demnach unter der Bedingung der operativen Geschlossenheit der Systemoperation die eigenen Zustände aus seinen eigenen Zuständen. Das Gehirn besitzt nur einen selektiven Kontakt zur Außenwelt und produziert seine Eigenzustände zu einem großen Teil nur unter Bezugnahme auf vorhergehende Eigenzustände. Siehe mit Bezug auf den Hirnforscher Gerhard Roth und mögliche Konsequenzen für die (Kunst-)Wahrnehmung das Kapitel „Das visuell Unbewußte“, in Huber: Bild Beobachter Milieu, S. 98–121. 39 Zeki ist sich dessen bewusst und erklärt, sich auf Leibniz beziehend: „Dieser Gedanke ist natürlich nicht neu.“, siehe Zeki: Dante, Michelangelo, Wagner, S. 82; er ist durchaus vertraut mit der Geistestradition, die er neu begründen will, doch verdrängt oder ignoriert er deren Geschichte, um seine neurobiologischen Thesen zu exponieren. 40 Ebd., S. 87 und 90. 41 Siehe dazu die Forschungen von Michael Hagner: Geniale Gehirne. 42 Hippolyte Taine gilt als Begründer jenes auf die Literatur applizierten Biografismus, der aus der romantischen Genieästhetik kommt, sich innerhalb des Positivismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte und auch in Deutschland, vertreten etwa durch Wilhelm Scherer, in Anlehnung an die Methoden der Naturwissenschaften geistige Erkenntnis mit empirischen Daten gewinnen wollte. Das Sammeln biografischer Fakten mündete in eine Gleichsetzung von Autor und Werk, die Kenntnis der Biografie eines Autors war Voraussetzung für das Verständnis seines Werkes. Autoren, deren Biografie faktisch nicht zu belegen war, wurden, wie Shakespeare, geradezu mythologisiert. 43 Um 1900 entwickelte sich in Anschluss an Freud eine psychoanalytische Künstlerbiografik; siehe etwa Ernest Jones: Andrea del Sartos Kunst und der Einfluss seiner Gattin, in: Imago, 2 (1913), S. 468–480. 44 Die historisch beglaubigte Existenz von Dantes Beatrice ist schon lange kein Thema der Dante-Forschung mehr. Eine historische Beatrice, wenn sie denn existierte, wird als unerheblich für das Verständnis des Werkes und unabhängig von seiner ästhetischen Qualität angesehen. Siehe zu Dantes Fiktion einer Minne-Autobiografie und ihrer Funktion als Meta-Dichtung Winfried Wehle: Dichtung über Dichtung. Dantes Vita Nuova, München 1986. 45 Siehe z. B. Elisabeth Bronfen: Weiblichkeit und Repräsentation – aus der Perspektive von Semiotik, Ästhetik und Psychoanalyse, in: Hadumod Bußmann / Renate Hof (Hg.): Genus. Geschlechterdifferenz in der Kulturwissenschaft, Stuttgart 1995, S. 408–445. 46 Zur Geschichte und zu den Konzepten des Genies im Kontext der Hirnforschung im Fin de siècle siehe Hagner: Geniale Gehirne, S. 177–234. 47 Zeki: Dante, Michelangelo und Wagner, S. 91. 48 Giorgio Vasari: Das Leben des Michelangelo, ins Dt. übers. v Vittoria Lorini, bearb. v. Caroline Gabbert, hg. v. Allessandro Nova, Berlin 2009, S. 196. 49 Zeki: Dante, Michelangelo und Wagner, S. 91–92. 50 Michael Bockemühl: Vom unvollendeten zum offenen Kunstwerk: zur Diskussion des non-finito in der Plastik Michelangelos, in: Michael Hesse / Max Imdahl (Hg.): Studien zu Renaissance und Barock. Festschrift für Manfred Wundram zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1986, S. 111–133.

10  STARKE BILDER „zu den Alten Meistern muß ich gehen, um weiterexistieren zu können, genau zu diesen sogenannten Alten Meistern, [...]“ Thomas Bernhard: Alte Meister, 1985 Das Gemälde zeigt eine flächig-linear angelegte, schwarzhäutige, weibliche Figur in einem blauen Gewand mit Blattornamenten umgeben von einem goldenen Hintergrund (Abb. 83). Die schematische Linienzeichnung des Gesichts der Frau vergrößert und vergröbert die Gesichtsformen einer afrikanischen Ethnie. In Brusthöhe der Figur durchbricht ein kleines zylinderförmiges Element, das in drei konzentrischen Kreisen endet, die Bildfläche. Der goldene Grund mit dem Strahlenkranz um das Gesicht ähnelt Ikonen oder mittelalterlichen Heiligenbildern. Kleine hautfarbige, blasenförmige Bildelemente sind unregelmäßig auf der Bildfläche verteilt. Einige haben die Form von Blumen, andere erinnern an Käfer und Raupen. Erst bei naher Betrachtung sieht man, dass es sich um auf das Gemälde geklebte Fotografien von weiblichen Genitalien handelt (die meisten Reproduktionen lassen dies nicht erkennen). Das Bild ruht auf zwei Klötzen, auf denen links „Holy“ und rechts „Virgin“ zu lesen ist.

Anstößige Bilder Im Zeitalter der Bilder können Bilder zu Waffen werden. Sie haben das Potenzial von Sprengstoff in religiösen, politischen und sozialen Konflikten. Über digitale Medien verbreiten sie sich rasant über den Globus, doch über ihre Wirkung lassen sich keine Prognosen anstellen: was die einen in Rage bringt, lässt die anderen kalt. In seinem Buch mit dem provokativen Titel What do pictures want widmet William John Thomas Mitchell ein Kapitel der „nature of offending images“.1 Mitchell führt eine ganze Reihe von Kriterien an, die hinreichen, um ein Bild als anstößig zu qualifizieren. Oft sind es Bildobjekte, insbesondere Statuen, die anstößig wirken; heilige Bildobjekte seien besonders geeignet, Anstoß zu erregen. Mitchell zeigt auf, dass Bilder Macht haben, ihre Betrachter zu provozieren oder gar zu beleidigen. Die Art und Weise der Provokation ende nicht selten in einer Bildzerstörung. Einen Grund dafür sieht Mitchell darin, dass Bilder wie Pseudo-Personen behandelt werden. Bildern eigne eine magische Kraft, die Analogien mit Leben und Lebendigkeit aufweisen. Diese magische Kraft, die Bilder zu haben scheinen, so Mitchell, passt nicht in unsere aufgeklärte Welt, sondern hat ihre Ursprünge im Aberglauben, in religiösen Gemeinschaften oder in ‚primitiven Kulturen‘. Bildmagie gehöre

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daher einer früheren Stufe der Zivilisation an. Im Bild, so will Mitchell in seiner Studie zeigen, überleben längst überwunden geglaubte, archaisch anmutende, abergläubische Vorstellungen, die Betrachter dazu bringen, das Bild als Lebewesen zu behandeln. Menschen, die Bilder beseitigen, durch Entstellung bestrafen oder durch einen Gewaltakt zerstören wollen, handeln auf dieser ‚primitiven‘ Zivilisationsstufe. Anstößige Bilder, so Mitchell, werden gern an den „Frontlinien sozialer wie politischer Konfliktherde“ angesiedelt. Vom byzantinischen Bilderstreit im 9. Jahrhundert bis hin zur Zerstörung der Twin Towers oder der Tempel in Palmyra durch IS-Milizen gab und gibt es ikonoklastische Akte, die politisch bzw. religiös motiviert sind, und es wird sie auch weiterhin geben. Auch die Kunst habe oft nolens und in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts volens mit Schockbildern Anstößigkeit erregt. Mitchell nennt zwölf Beispiele aus der Kunst- und Bildgeschichte, vom antiken Porträt des Kaisers Nero bis zu Damien Hirsts The Little Piggy went to the Market, und leitet daraus vier „offensichtliche Aspekte“ des anstößigen Bildes ab, die vor allem seine These des lebendigen Bildes untermauern sollen.2 Demnach hängt die Anstößigkeit von Bildern erstens von komplexen, sozialen Kontexten ab, die, wenn sie sich ändern, das inkriminierte Bild rehabilitieren können. Zweitens können Bilder wegen ganz unterschiedlicher ‚Vergehen‘ als anstößig gelten: aus politischen, religiösen oder sonstigen moralischen Gründen. Drittens können anstößige Bilder sogar gesetzlich verboten, es können ihretwegen Prozesse geführt werden. Viertens variiert der Grad des Ikonoklasmus, der von der Verletzung bis hin zur Vernichtung oder nur des Verbergens eines Bildes reichen kann.

Voreinstellung des Betrachters Mitchells These, dass sich Anstößigkeit von Bildern aus einem primitiven Glauben an ihre Lebendigkeit ableite, erscheint mir einseitig und nicht konsequent zu Ende gedacht. Denn die komplementäre Frage, die den Bildern und dem Umgang mit ihnen näherkommt, interessiert ihn nicht: Warum wirkt ein Bild auf die einen BetrachterInnen anstößig bis zum Wunsch seiner Vernichtung, während es den anderen BetrachterInnen völlig gleichgültig ist? Nehmen wir das Beispiel des Gemäldes, das ich eingangs beschrieben habe: The Holy Virgin Mary des britischen Künstlers Chris Ofili (Abb. 83). Mitchell führt es an, um seine Lebendigkeits-These mit dem von dem Gemälde verursachten Skandal der Ausstellung Sensation im Brooklyn Museum (1997) zu begründen. Ein prominenter und einflussreicher Bildbetrachter, der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani, nannte es „sick-stuff “ und ordnete die Streichung von Subventionen für das Museum an. Der pensionierte Lehrer Dennis Heiner nutzte einen unbeobachteten Augenblick im Brooklyn Museum, um das Gemälde mit weißer Latexfarbe zu übertünchen und so das Skandalbild aus der Welt zu schaffen (Abb. 84).3 Das aus der Perspektive der Kunstautonomie argumentierende Museumspersonal entsetzte sich über den ikonoklastischen Akt und beeilte sich, den Originalzustand des Gemäldes wiederherzustellen. Die Ausstellung war in der Londoner Royal Academy gestartet, ging über Berlin (Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart) nach New York ins Brooklyn Museum of Art – und nur dort kam es zum Skandal. Auslöser, so

Voreinstellung des Betrachters

83 Chris Ofili: The Holy Virgin Mary, Öl auf Leinwand, Fotografien und Elefantendung, 1996, Privatsammlung

84 Dennis Heiner schmiert weiße Farbe über Chris Ofilis The Holy Virgin Mary während der Ausstellung im Brooklyn Museum of Art, New York, Dezember 1999

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85 Chris Ofili: The Holy Virgin Mary, Detail: Die Brust der Holy Virgin, Elefantendung

86 Chris Ofili: The Holy Virgin Mary, Detail: Fliegende Vaginen, Fotografien

Voreinstellung des Betrachters

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Mitchell, sei das für das Sujet unangemessene Kunstmaterial Elefantendung. Die zylinderförmige entblößte ,Brust‘ von The Holy Virgin Mary ist aus einem Klumpen Elefantendung mit aufgesteckter Brustwarze geformt (Abb. 85). Das ganze Bild ruht auf zwei weiteren Klumpen aus demselben Material mit oben erwähnter, aus Nadeln gesteckter Inschrift „Holy“ links und „Virgin“ rechts. Laut Aussage des in Manchester gebürtigen Künstlers mit nigerianischen Wurzeln sei Elefantendung in afrikanischen Kulturen ein Fruchtbarkeitssymbol. Mitchell hat das Gemälde vielleicht nicht genau betrachtet, denn er erwähnt nicht die Fotografien weiblicher Genitalien in Form von Käfern oder Schmetterlingen, die auf der ganzen Bildfläche verteilt und collagiert die Madonna ‚umfliegen‘(Abb. 86). Für den Tatbestand der Anstößigkeit ist jedoch unerheblich, dass, so Mitchell, der Künstler das Bildmaterial in provozierender Absicht verwendet.4 Entscheidend ist die Voreinstellung der Betrachtenden, die, wie Giuliani, als Katholik und Sohn italienischer Immigranten in New York,5 als KunstexpertIn oder mit sonst einer politischen, religiösen oder in anderer Weise kulturell geprägten Einstellung Bilder betrachten. Denn das Bildobjekt mit seinem Bildsujet verhält sich passiv: Es kann ja nicht wissen, mit welcher Einstellung BetrachterInnen ihm gegenübertreten. Interessant ist vielmehr das dialektische ,Wesen‘ des Bildes, das zugleich lebendig und tot, abstoßend, anziehend oder uninteressant sein kann. Mit einer kunstwissenschaftlichen Vorbildung ist es möglich, eine Abweichung von der ikonografischen Tradition zu bemerken: Das Christuskind, das Maria zur Heiligen Jungfrau gemacht hat, fehlt in dem Gemälde. Ferner werden KunsthistorikerInnen die Kunstautonomie respektieren und sowohl das inkriminierte Material als auch die Genitalien in Schmetterlingsform unter die eingeführten Ausweitungen der Kunstmaterialien bzw. die Provokationen der Kunst im 20. Jahrhundert rechnen. Die Vielfalt der Diskurse, die das Gemälde evoziert hat, ist aus der kunstwissenschaftlichen Warte betrachtet nicht verwunderlich, sondern vor allem interessant. Wer diese Diskurse genau analysiert, wird zu dem Ergebnis gelangen, dass die Bewertung von Bildern in heutigen pluralistischen Gesellschaften nicht ein Indiz für ihre metaphorische ‚Lebendigkeit‘, sondern ein Symptom für bestehende, gravierende ideologische Differenzen ist, seien sie religiös, politisch, genderthematisch, künstlerisch oder anderweitig motiviert. Diese Differenzen werden vor einem leblosen Objekt ausgetragen, das sich von anderen Objekten dadurch unterscheidet, dass ihm die Mitglieder der Gesellschaften die Funktion eines Symbols gegeben haben.6 Bildobjekte verkörpern und kommunizieren mit ihrem Bildkörper die pluralen politischen, religiösen und andere kulturelle Werte (z. B. Kunst), mit denen sich einzelne Gesellschaftsmitglieder, Gruppen der Gesellschaft oder die Gesellschaft als Ganze identifizieren.7 Dies meint auch Mitchell, wenn er schreibt, „dass Bilder – einschließlich der Weltbilder – immer mit und bei uns waren und dass es nicht möglich ist, Bilder – und noch viel weniger Weltbilder – hinter sich zu lassen, um eine authentischere Beziehung zum Sein, zum Realen oder zur Welt zu entwickeln“.8 Es bedarf also eines materiellen Bildkörpers, um überhaupt ein Weltbild zu formen.9 Anstößigkeit oder aber Anziehung ist daher ein Akzidens des Bildes und liegt im Auge der Betrachtenden, die ein lebloses, stummes Bild(objekt) zu einem Symbol kultureller Werte machen, mit denen er oder sie sich identifizieren. Wenn das Bild, in welcher Weise und welchem Grad auch immer, diese Werte verletzt, dann kann es Anstoß erregen, wenn es diese

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87  Conchita Wurst beim ESC 2014, Tagesspiegel, 12. Mai 2014, Farbfotografie

Werte bestätigt, dann kann es erfreuen. Die interessante Tatsache, dass das gleiche Bild seine Betrachtenden auch völlig kalt lässt, er oder sie die Wertverletzung oder Wertbestätigung nicht wahrnimmt, sondern an dem stummen, leblosen Objekt, das ihn oder sie nicht betrifft, achtlos vorüber geht – ist nicht Thema in Mitchells Studie. Ein zweites Bildbeispiel zeigt die Fotografie eines zierlichen Mannes mit dunklem, kurz rasiertem Vollbart und langen, gepflegten Haaren, in einem enganliegenden, kostbar bestickten, goldenen Kleid (Abb. 87). Der Mann hält die Arme weit ausgestreckt. Auffällig geschminkte Augen und die Langhaarfrisur betonen seine femininen Gesichtszüge. Er hält ein Mikrophon in der rechten Hand. Die jugendliche Figur, das Gesicht, die frontale Pose und das goldene Kleid wirken festlich. Es fallen dünne Goldscheiben, groß wie Taler, auf ihn herab. Der Mann erinnert an Jesus Christus, die Pose ähnelt spätmittelalterlichen Kreuzigungsdarstellungen.

Iconoclash Bruno Latour hat in einem Essay der bereits in Kapitel 8 erwähnten Karlsruher Ausstellung Iconoclash (2002) Kriterien genannt, die dem Anstoß an Bildern zugrunde liegen können, und eine Typologie der Bilderstürmer formuliert.10 Gleichgültige BildbetrachterInnen kommen darin ebenfalls nicht vor. Latour definiert den Iconoclash, ausgehend von BildproduzentInnen, „als das, was eintritt, wenn Ungewißheit über die genaue Rolle der Hand besteht, die bei der Produktion eines Mittlers am Werk ist und fragt: Ist es eine Hand mit einem Hammer, die im Begriff ist, zu denunzieren, zu entlarven, aufzudecken, bloßzustellen, zu enttäuschen zu entzaubern [...]“ oder ist es „eine achtsame und vorsichtige Hand, mit offener Handfläche, wie um Wahrheit und Heiligkeit zu ergreifen, herauszuholen [..]?“11 Der Iconoclash ist demnach die Spannung, eine im Bild angelegte Ambivalenz, wonach der eine Betrachter das Bild als heilig, der andere es als Sakrileg empfindet. Bildvernichtung ist demnach ein Stellvertreterkrieg:

Iconoclash

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Getroffen werden soll eigentlich derjenige, der die ,falschen Götzen‘ des anderen zerschlägt, damit man die eigenen Idole errichtet, die als ‚wahr‘ betrachtet werden sollen.12 Auch die Hand am Werk ist abhängig von der kulturellen Prägung, Bildung und Voreinstellung der BildproduzentInnen, die ihre jeweiligen Gründe für die eigene Bildproduktion haben. Die Kunst, und damit auch das erste Bildbeispiel, Chris Ofilis The Holy Virgin Mary (Abb. 83-86), ist eine von vielen Spielarten des Latour’schen Iconoclashs: ein Experiment an den BetrachterInnen, die aufgefordert werden, sich zum Beispiel über den Zusammenhang von Heiligkeit und Kunst, Marienbild und Elefantendung, Marienbild und weiblichen Genitalien, weißhäutige Maria und Maria mit afrikanischen Wurzeln etc. Gedanken zu machen. Das im Museum ausgestellte Gemälde führt hier noch eine Methode aufgeklärten Denkens vor Augen, wie man mit Bildern wie The Holy Virgin Mary umgehen kann. Der voreingestellte Kunstkontext markiert die historisch erstrittene, in der Folge gesetzlich verbriefte Freiheit der KünstlerInnen – die Autonomie der Kunst seit der Moderne.13 Mit dieser Freiheit bietet das Kunstwerk einen Reflexionsraum für alle BildbetrachterInnen an, die etwa über einen möglichen Zusammenhang von der aus einer afrikanischen Ethnie stammenden Maria, weiblichen Genitalien und Elefantendung nachdenken wollen, die das Bild deshalb anziehend finden oder sich darüber empören. Kunstvernichtung wird in der westlichen Welt strafrechtlich verfolgt. Das Museum – das ein Ort gelebter Demokratie sein könnte – wird in Zeiten der global verfügbaren Bilder zum Symbol für die Ausübung von Toleranz in pluralistischen Gesellschaften. Die Argumente für oder wider ein Bild sollen mit Worten ausgetragen werden und nicht, wie in New York, mit politischen Sanktionen geahndet werden. Wie aber steht es mit dem zweiten Bildbeispiel? Das Foto zeigt Thomas Neuwirth alias Conchita Wurst im Mai 2014 in der Siegerpose des European Song Contest (ESC). Es wurde zusammen mit anderen Fotos über viele Medien verbreitet und provozierte einen Iconoclash. Man charakterisierte Conchitas massenmedial verbreiteten Auftritt in Kopenhagen als „eine Mischung aus Märtyrer und Erlöser“.14 Je nach Grad sozial-politischer bzw. religiöser Voreinstellung empfing Conchita Wurst Begeisterung oder Hass der überraschten Zuschauer und Bildbetrachter. Man entdeckte in der Kunstfigur sofort die Anmutung einer Christusikone und bemängelte zugleich, dass an der (Bild-)Figur Conchita Wurst nichts zusammenpasst. Das Kleid, eine Mischung aus Ballkleid und Büßergewand, passt nicht zum androgynen Körper, die von künstlichen Wimpern gerahmten, himmelwärts gerichteten Augen nicht zum dunklen Vollbart, der Vollbart nicht zum Kleid und den langen Haaren einer Latino-Schönheit. Der visuelle Eindruck, den Conchita bei ihren Kritikern verbreitete, pendelte deutlich in Richtung einer Heils- bzw. Teufelsgestalt. „Euro-Homos, schmort in der Hölle“, befahl der russische Rechtsnationalist Wladimir Schirinowski.15 Dagegen freute sich der Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn über den Erfolg der Travestie und begründete sie mit dem „bunten Garten Gottes“, in dem es auch Menschen gebe, die sich als das jeweils andere Geschlecht fühlten, „und die verdienen natürlich unseren vollen Respekt“.16 Der TV-Auftritt von Tom Neuwirth alias Conchita Wurst verdichtete sich schnell zu einer Bildikone. Das Bild einer bärtigen Frau führte zu jener öffentlichen, über die Medien verbreiteten Debatte, in der über Homosexualität und Travestie in stark polarisierender Weise polemisiert bzw. die Freiheit jedes Individuums,

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eine Geschlechtsidentität jenseits des heterosexuellen Mainstreams zu haben, legitimiert wurde. Auch dieses Beispiel zeigt, wie Bilder als Symbole kultureller (hier: religiöser) Werte auf komplexe, soziale Kontexte antworten, unsere „Beziehungen zum Sein, zum Realen, zur Welt“ (Mitchell) nicht nur vermitteln, sondern überhaupt erst herstellen. Wer sich bisher noch keine Meinung über bärtige Frauen gemacht hatte, konnte durch dieses Bild und die von ihm ausgelöste Bilderexplosion dazu aufgefordert werden, sich an der Debatte zu beteiligen – oder sich einfach nur darüber wundern, wie ein als bärtige Frau verkleideter Schlagerstar hochrangige Politiker erregte und katholische Würdenträger Worte der Toleranz verbreiten ließ. Es ist die aus verschiedenen BetrachterInnenstandpunkten und Kontexten resultierende, Diskurse oder Iconoclashs produzierende „sensational form“, die Mehrdeutigkeit produziert und das Phänomen des anstößigen Bildes so interessant macht.17 Drei Parteien von BildbetrachterInnen sind zu benennen, die sich in bestimmter Weise zum Bild verhalten: die BildliebhaberInnen, die BildzerstörerInnen und die sich gegenüber demselben Bild indifferent verhaltenden BetrachterInnen. Die Argumente, die BetrachterInnen pro oder contra Bild bzw. gar nicht bringen, versprechen nicht nur Auskunft über den Umgang mit Bildern zu geben. Die vor dem Bild geäußerte Meinung verrät viel über akute ideologische Befindlichkeiten eines Individuums oder einer Gesellschaft. Das anstößige Bild ist in den meisten Fällen die Ursache für negative Emotionen, die BildverächterInnen gern mit harten Fakten argumentativ zu begründen versuchen. BildliebhaberInnen hingegen werden angesichts des Bildes positive Emotionen äußern: Das Bild vermag anzuregen, zu fesseln, zu erfreuen, zu erstaunen. Aus welchen Gründen diese Affektion geschieht, ist nicht immer klar. Indifferente BetrachterInnen hingegen empfinden gar nichts am Bild, er oder sie wird es entweder ganz übersehen oder sich weder angezogen noch abgestoßen fühlen. Das Bild ist ihm oder ihr egal. Der Masse von Bildern im Zeitalter der Bilder begegnet jeder mit unterschiedlichen Aufmerksamkeiten: Die meisten Bilder rauschen ohnehin vorbei, sie interessieren aus verschiedenen Gründen nicht – nur einige wenige Bilder wirken so stark, dass sie beachtet werden. Versuchen wir zu ergründen, wie es dazu kommt.

Starke Bilder Das Bild bedarf einer gewissen Stärke, damit es anstößig oder aber anziehend wirkt. Was aber macht Bilder so stark? Anstößigkeit oder Anziehung ist, wie wir gesehen haben, eine Bildwirkung, die zwar im Bild angelegt ist, aber nicht in der Weise objektiv gegeben ist, dass sie jeden betrifft. Ein Bild kann also zugleich stark und schwach wirken. Die Frage nach der Stärke des Bildes interessiert besonders angesichts der Quantität der global zirkulierenden Bilder. Welche Bilder werden in dieser unübersehbaren Masse gesehen, welche Bilder ziehen Aufmerksamkeit auf sich? Welche bildmedialen Eigenschaften, welche materielle Beschaffenheit, welche ästhetische Qualität und welche Inhalte und kulturellen Kontexte haben Bilder, die – um in einer gängigen Metapher zu sprechen – aus der Bilderflut heraustreten und, um die Metapher weiter auszumalen, nicht im Strudel untergehen und ertrinken, sondern sich ans Ufer der Sichtbarkeit retten bzw. aus dem Bilderstrom herausgezogen werden, um betrachtet, interpretiert und im

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weitesten Sinne wie auch immer kulturell wirksam zu werden? Und mit Bezug auf die Kunst im Zeitalter der massenmedialen Bilder: Welche Stärke haben Bilder aus dem Kunstkontext? In vielen Kulturen werden Bildobjekte seit Jahrhunderten gesammelt, werden vor der Vernichtung bewahrt, aus der Masse von Dingen abgesondert und in Museen verwahrt oder ausgestellt. Welche Rolle spielt die Bildtradition der verschiedenen Kunstgeschichten der Kulturen im Bilderstrom? Sind Bilder, die heute im Kunstkontext entstehen und gesehen werden, stärker als Bilder, die im Nicht-Kunstkontext zu sehen sind? Mit stark wird im Folgenden allein der Grad der Wirksamkeit von Bildern in den diversen Bilddiskursen qualifiziert: Auch ganz unscheinbare Bilder können demnach stark sein. Ganz allgemein gesprochen erregen starke Bilder Aufmerksamkeit. Sie werden über Medien verbreitet, man spricht über sie, sie werden von anderen Bildern zitiert. Ihre Wirksamkeit kann schnell verblassen oder sie bleiben sichtbar, wirken nachhaltig, gewinnen an Stärke. Anstoß bzw. Anziehung erregende Bilder und Kunstbilder gehören in die Kategorie jener starken Bilder, die aus dem Bilderstrom heraustreten. Allerdings gibt es sehr unterschiedliche Begründungen für ihre jeweilige Stärke. Anstößige bzw. anziehende Bilder werden von denjenigen aus dem bunten Bilderstrom gefischt und mit Argumenten versehen, die den Anstoß bzw. die Anziehung begründen. Auf diese Weise können sie auch diejenigen erreichen, die achtlos an ihnen vorüber gegangen wären und sich nun darüber wundern, wieso ausgerechnet dieses Bild Anstoß erregen bzw. anziehend wirken kann. Das Gemälde von Chris Ofili ist so ein Fall, wie wir gesehen haben (Abb. 83-86). Kunstbilder dagegen werden aus dem Bilderstrom gefischt, weil man Argumente finden muss, die ihre Bewahrung, etwa in einem Museum, begründen. Auch dies trifft auf Ofilis The Holy Virgin Mary zu, das in drei international renommierten Kunstmuseen als junge britische Kunst ausgestellt wurde. Es ist also aus gleich zwei Gründen ein starkes Bild, wobei der Skandal des Anstoßes im Brooklyn Museum die Stärke des Bildes potenziert haben wird. „Conchita“, so lautet das Statement ihres Erfinders, „ist eine Kunstfigur, Tom Neuwirths Alter Ego. Das, was wir Kunstfiguren machen, ist wie es der Name sagt Kunst.“ 18 Das Rollenspiel eines glamourös gekleideten Mannes als bärtige Frau im Kontext massenmedialer Unterhaltungskultur hat ihren Ursprung in den Dragqueens der Pop Art Warhol’scher Prägung (Abb. 87, vgl. 47 und 48 Kap. 5). Ob sie es ins Museum ‚schafft‘, um ihren behaupteten Kunststatus unter Beweis zu stellen, bleibt abzuwarten. Im Jahr 2014 stellt Conchita Wurst eine Aktualisierung der einstigen Pop-Transvestiten dar und ist von Neuwirth als Kunstfigur mit klarer politischer Aussage erdacht, nämlich „[...] für Menschen zu kämpfen, die täglich diskriminiert werden“.19 In ihrem Bild prallen zwei Wertvorstellungen hart aufeinander: Die Christus-Anmutung mit ihrer Reinheit, Unschuld und Heiligkeit vereint sich mit der Gestalt bärtiger Weiblichkeit, die in vielen Gesellschaften eine politisch und moralisch diskriminierte Trans- bzw. Homosexualität zur Schau stellt. Diese Unvereinbarkeit bescherte Neuwirths Rollenbild der Conchita Wurst eine visuelle Prägnanz und damit verbunden eine omnipräsente Sichtbarkeit, die sich als Iconoclash bemerkbar machten. Das Bild wurde für eine kurze Zeit heiß diskutiert, es wirkte in dem oben genannte Sinn stark.

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Sichtbarkeit Bilder mit stark anstößiger/anziehender Wirkung sind sichtbar – sie können auch denjenigen auffallen, die sich eigentlich nicht um diese Bilder kümmern würden, sondern nur auf sie aufmerksam wurden, weil es Betrachter gibt, die diese Bilder als anstößig oder aber anziehend ins Gespräch gebracht haben. Damit sind zwei Kriterien des starken Bildes benannt, die formalästhetisch bzw. phänomenologisch definiert sind: Sichtbarkeit und Wirksamkeit. „Sichtbarkeit ist die Möglichkeit gesehen zu werden“, schreibt Lambert Wiesing in seiner Studie Die Sichtbarkeit des Bildes. Doch was unterscheidet die Sichtbarkeit eines Bildes von anderen Sichtbarkeiten? Im Anschluss an den Kunsttheoretiker Konrad Fiedler (1841–1895) definiert Wiesing die Sichtbarkeit des Bildes als eine „Sonderform sui generis“, denn die Sichtbarkeit der Bildoberfläche ist mit der Sichtbarkeit der anwesenden Sache nicht identisch: „Jedes Bild muß seine Oberfläche zu einem eigenständigen Phänomen erheben, das heißt eine Differenz zwischen der Bildoberfläche und dem Bildmaterial aufbauen.“20 Jedes Bild, das einen Gegenstand zeigt, transformiert ihn in Sichtbarkeit und nimmt damit in Kauf, dass der Gegenstand nicht mehr berührt werden, nicht gerochen, gehört oder benutzt werden kann. Das Bild „entmachtet die ,Wirklichkeit‘“, es entsubstanzialisiert und zerstört die Realität, um statt ihrer eine „bildliche Wirklichkeit sui generis“ zu konstituieren. Die reine Sichtbarkeit des Bildes ist phänomenologisch als eine eigenständige Form des Seins definiert – und nicht eine vom Sein abhängige Form des Scheins, wie bei Platon. Ein Bild konstituiert somit eine autonome Wirklichkeit durch Abspaltung und Verabsolutierung der Sichtbarkeit. Fiedler entwickelte daraus den Gedanken der „bildnerischen Welterzeugung“, wonach das Bild eine eigene Welt aufbaut. Die reine Sichtbarkeit des Bildes ist an einen Bildträger gebunden. Der „Stoff des Bildes“ erzeugt durch Bearbeitung die Sichtbarkeit. Das Bildmaterial muss durch die Bearbeitung so transformiert werden, dass es unsichtbar wird – erst dann entsteht die Welt der von der Realität abgespaltenen Bilder, deren Kennzeichen reine Sichtbarkeit ist. Halten wir fest: Das Bild entmachtet Wirklichkeit, reduziert Realität, indem sie in reine Sichtbarkeit transformiert wird, und baut eine eigene Welt auf. Dies könnte für das Problem der Anstößigkeit/Anziehung von Bildern weiterführend sein. Im Fall von Ofilis Holy Virgin Mary kollidieren für den Betrachter, der sich wie Rudolph Giuliani an dem Gemälde stößt, die traditionelle, in der westlichen Kunstgeschichte geformte und gefestigte Bildform des katholischen Madonnenbildes mit der von Ofili gefundenen Bildform, die von dieser traditionellen Sichtbarkeit abweicht.21 Hinzu kommt das – auf die Tradition des Madonnenbildes bezogen – unübliche Bildmaterial, das Giuliani stört. Wer Ofilis The Holy Virgin Mary an der Wirklichkeit des von Kirche und Kunst legitimierten Heiligenbildes misst, kann diese entmachtet fühlen, denn: Ofilis Gemälde erzeugt eine eigene, von der gewohnten Sichtbarkeit des Heiligenbildes abweichende Welt. The Holy Virgin Mary hat damit das Potenzial, auf gläubige Katholiken in New York oder an anderen Orten in der Welt als ein Angriff auf religiöse Glaubensvorstellungen zu wirken, die das Heiligenbild in traditioneller Weise vermittelt. Es ist aber genauso möglich, Ofilis Mariendarstellung als Aufforderung eines Künstlers zu verstehen, den tradierten Marienbildkanon um eine schwarzhäutige, afrikanische

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Version zu bereichern. Diese neue Version kann als ein Gemälde angesehen werden, das die christliche Lehre der unbefleckten Empfängnis veranschaulicht, indem es kleine Fotografien mit fliegenden Vaginas hinzufügt, um Fruchtbarkeit zu symbolisieren. Das Gemälde einer schwarzhäutigen Madonna evoziert somit Argumente postkolonialer Aufklärung, indem es nicht-traditionelle Formen der Jungfräulichkeit zeigt.22 Wiesing beschäftigt weiterhin die Frage, „was ein formales Bildverständnis unter künstlerischen Wahrheitsansprüchen versteht“.23 Folgen wir seiner Argumentation weniger unter dem Aspekt von Kunst und Wahrheit, sondern unter dem Aspekt der Wirksamkeit, der für das Kriterium der anstößigen/anziehenden Stärke eines Bildes von Bedeutung ist. Ersetzen wir daher Wiesings Begriff „Kunst“ durch den allgemeineren Begriff „Bild“ in der folgenden Aussage: „Die Kunst [das Bild] erscheint als ein Angriff auf den Zustand des Betrachters; denn dieser muß verändert werden, soll er die Welt so sehen, wie sie dargestellt ist.“24 Wiesing geht es um eine „rhetorisch-pragmatische Dimension“ des Bildes [der Kunst], die Sichtweisen, die das Bild kommuniziert: Es veranlasst „den Betrachter [...], selbst die Welt mit einer veränderten – möglichst mit der im geplanten Sinn veränderten – Sicht zu sehen. [...] Mit der Formulierung ‚Wahrheit der Kunst [des Bildes]‘ kann man das Funktionieren einer Welterschließung beschreiben, also die Fähigkeit des Werkes [des Bildes], die Wirklichkeit in einer Weise darzustellen und zu interpretieren, die auch für andere eine Weise sein kann.“25 Für unsere beiden Bildbeispiele scheint diese Aussage zutreffend (Abb. 83 und 87). Beide haben in den Augen der BetrachterInnen, die sich an ihnen stoßen oder von ihnen angezogen sind, die Fähigkeit, eine eigene Welt zu kreieren, die sie dazu bringen kann, die Welt in der vom Bild vorgegebenen Weise zu sehen: ein katholisches Madonnenbild im Fall Ofilis The Holy Virgin Mary, eine Christusfigur im Fall Conchita Wurst. Dies betrifft die Fähigkeit des Bildes, durch Sichtbarkeit eine neue, eine andere Welt zu erzeugen: Wie aber kommt die starke Bildwirkung zustande?

Phänomene der Aufmerksamkeit Bernhard Waldenfels hat sich dazu in seinem Buch Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung geäußert. Bevor er Kriterien der Wirksamkeit des Bildes benennt, die für das Verstehen von starken Bildern hilfreich sind, beschäftigen ihn ganz allgemein Erfahrungen von Überraschungen und Neuartigem. Diese, so Waldenfels, entspringen nicht aus einem intentional gerichteten Akt auf ein bestimmtes Objekt, sondern resultierten aus einem „Ereignis des Sichtbarwerdens“. Aufmerksam werden ist aber kein subjektiver Akt und auch kein objektiver Vorgang, sondern ein „Doppelereignis“: „etwas fällt mir auf – ich merke auf “.26 Aufmerksamkeit bestimmt Waldenfels als eine Initialerfahrung, als ein Urphänomen. Das Auffallen (Widerfahrnis oder Affektion = Pathos) hat Merkmale des Widrigen, des Unerwünschten und auch des Verletzenden, es sticht hervor. Auffallen (Pathos) und Aufmerken (Response) sind als Ereignisse nicht voneinander zu trennen. Anstoß ist in diesem Sinne etwas, das negativ auffällt, Anziehung eine positive Erregung. Der Wirkung des Anstoßes/der Anziehung geht folglich eine Ursache voraus: eine Überraschung, ein Erstaunen, ein Erschrecken. „Was uns

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auffällt und überrascht, kommt stets zu früh, während unsere Antwort stets zu spät kommt.“27 Entscheidend ist die Plötzlichkeit dieser Erfahrung, eine raumzeitliche, die Gegenwart zerspaltende Verschiebung, die auf eine unmögliche Koinzidenz weist, in der sich die Wirkmacht entfaltet und Emotionen entstehen. Das Anstößige/Anziehende wirkt demnach mit einer Macht ein, der man sich nicht erwehren kann, da der Grund der Einwirkung zunächst nicht bewusst ist. Der Verstand erfasst den Grund des Anstoßes/der Anziehung nicht, das Anstößige/Anziehende wirkt zuerst auf die Emotionen, die eine Abwehr/Zuneigung auslösen. Die Erfahrung des Anstoßes/der Anziehung ist eine Einwirkung auf den Leib und bewirkt eine körperliche Abwehr, eine Zuneigung. In der Initialerfahrung des Aufmerkens wirkt das Ereignis, das aus der späteren Beobachterperspektive als anstößig/anziehend bewertet wird, als unbewusste Kraft, die sich der Kontrolle entzieht. Das Anstößige/Anziehende stört den Fluss der Gewohnheit und kann im Extremfall einer negativen Emotion traumatisierend oder als Schock wirken. Waldenfels unterscheidet zwei Formen der Aufmerksamkeit, eine primäre, innovative und kreative, und eine sekundäre, die repetitiv und reproduktiv abläuft. Zur zweiten Form gehört, dass „die Ereignisse des Auffallens sich in wiederholbaren Qualitäten sedimentieren und die Ereignisse des Aufmerkens sich körperlich habitualisieren“.28 Auf diese Weise kommt es zu dem, was ich oben als Voreinstellung bezeichnet habe, oder wie es Waldenfels formuliert: „zur Ausbildung bevorzugter Merkwelten, in denen sich kollektive und individuelle Interessen spiegeln“.29 Starke Formen des Pathos zeigen sich in der Abweichung vom Gewohnten oder Traditionellen, die den Rahmen bestehender Sinngefüge und Regelsysteme überschreitet und sich beispielsweise als etwas Unwahrscheinliches oder Unharmonisches bemerkbar macht.30 Das Aufmerksamkeitsgeschehen gleicht keinem ruhigen Fluss, es gibt Strömungen und Wirbel von verschiedener Intensität: die „Plötzlichkeit des Schocks“ am einen Ende der Skala und den „Schlummer der Gewohnheit“ am anderen Ende.

Phänomene bildlicher Aufmerksamkeit Was aber ist das Spezifische der Bilderfahrung, was lässt ein Bild im phänomenologischen Sinne so stark werden, dass es abstößt bzw. anzieht? In seiner Phänomenologie der bildlichen Aufmerksamkeit unterscheidet Waldenfels ein „Wirken von Bildern“ von einer medialen Form, „einem Wirken durch Bilder hindurch“.31 Das wirkende Bild unterscheidet sich von der Wirkung, die es hervorruft, so wie die Darstellung sich von dem Dargestellten unterscheidet. Es geht um die Wirkung des Bildes als Bild, die der Bildwahrnehmung nicht folgt, sondern „in ihr als eine permanente Beunruhigung [rumort]“.32 Das Wovon des Affiziertwerdens ist demnach weder ein sichtbares noch ein bildhaftes Etwas, es ist sinn- und regellos und im strengen Sinne sogar bildlos. Die stärksten Erfahrungen verschlagen einem die Sprache und übersteigen die Fassungskraft: Sie lassen sich nicht benennen und nicht ausmalen. In dem Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen!“ als Ausdruck des religiös motivierten Bilderverbots entdeckt Waldenfels einen Widerstand, der besagt: „Du kannst dir kein Bildnis machen.“33

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Wie aber springt ein unsichtbares Pathos ins Auge, tritt eine bildlose Wirkung ins Bild, setzt sich in Szene? „Wir haben immer schon Bilder vor uns, gesehene und geschaffene, offene und gerahmte. Das Wirken der Einbildungskraft begegnet uns einzig in jenen Bildern, die sie im verborgenen erzeugt. Das Wovon des Getroffenseins bliebe auf ewig stumm und blind [...], wenn es nicht das Worauf des Antwortens gäbe, das sich in Zeichen und Bilden artikuliert.“34 Demnach reagiert das anstößige Bild auf den individuellen, inneren Bildspeicher, der durch das äußere Bild aktiviert wird: Das Bild fällt mir auf, weil es den mir bekannten Bildern ähnelt und zugleich von ihnen abweicht. Während die Ähnlichkeit auf die Voreinstellung antwortet, macht sich die Abweichung als Anstoß bemerkbar. Das Bild sieht anders aus, als erwartet. „Die Differenz zwischen der Bildwirkung, die das Sehen in Bewegung setzt, und der Bildgestalt, in der es sich ausformt und verdichtet, tritt mit ins Bild. [...] zu unterscheiden [ist] zwischen dem sehenden Bild, das uns anblickt, und dem gesehenen Bild, das wir unsererseits sehen.“35 Waldenfels unterscheidet nach den diversen Bildformen unterschiedliche Pathosformen und Affektionsweisen, die verschiedene Responses erfahren. Ausgangspunkt einer Bilddynamik ist die Beunruhigung des Blicks, die eines „störenden Fremdlings“ bedarf: „Es ist die Unruhe, die den Spalt zwischen sehendem und gesehenem Bild offenhält. Dazu gehören jene aus Attraktion und Repulsion gemischten Bewegungen, die Kant dem Erhabenen vorbehält.“36 Waldenfels findet diese „Unruhe“ in den Grundelementen des „klassischen Bildes“ der Kunst und exemplifiziert sie an Gemälden von Malewitsch und Goya. Es sind dies Qualitäten der Linien, der Farbe, von Figur und Grund, die den „Blick des Betrachters von einer Blickbewegung erfaßt, die er nicht beherrscht“.37 Das Pathos des Bildes ist dann am größten, „wenn das Pathos sich nicht in einem leibhaften, raumbildenden Bildgeschehen realisiert“, etwa im Grün und Blau der Monet’schen Seerosen.38 Lassen wir die historische Ästhetik des klassischen Kunstbildes in der Spielart Monets hinter uns, um noch einmal vor das Gemälde Chris Ofilis, eines zeitgenössischen Künstlers zu treten, der sein Bild The Holy Virgin Mary betitelte (Abb. 83). Wir befinden uns im Kunstmuseum als einem besonderen Ort des „Aufmerksammachens“: Die Kunst lenkt den Blick von dem, was das Bild zeigt, auf das, wie es zeigt, und lenkt den Betrachter damit auf das Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsgeschehen. Chris Ofilis The Holy Virgin Mary ist ein gutes Beispiel für diese Art von Aufmerksamkeit. Das Gemälde zeigt das, was es zeigt, nicht nur in einer sowohl überraschenden als auch auffälligen Form – die westliche Bildgeschichte hat eine andere Form für die heilige Jungfrau Maria und die sie umfliegenden Putten gefunden und diese Bildform beständig tradiert (Abb. 83, 86 und 88). Der Künstler bezieht sich auf diese Ikonen-Form, indem er den die Aura der Heiligkeit symbolisierenden, ornamentierten Goldgrund byzantinischer Ikonen und mittelalterlicher Heiligenbilder zitiert. Zugleich bricht Dunkelhäutigkeit, verbunden mit Gesichtszügen einer afrikanischen Ethnie, den tradierten westlichen Schönheitskanon, nach dem das Gesicht von Maria vor allem weißhäutig und zart dargestellt wird. Die dunkle Hautfarbe von The Holy Virgin Mary rekurriert für Kenner der Marien-Ikonografie auf die Bildtradition der ‚schwarzen Madonna‘ im Hohenlied (1,5): „Nigra sum sed formosa.“ Allerdings entsprechen die Form von Mund und Nase der Holy Virgin Mary nicht dem tradierten Typus der ,schwarzen Madonna‘ und auch nicht anderen traditionellen,

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weißhäutigen Marienbildern. Auch das für die Brust der Madonna verwendete Bildmaterial, Elefantendung in Form eines Zylinders, lenkt den BetrachterInnenblick auf das Wie dieses Bilddetails. Mit der für die Kunst der Avantgarden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts stark ausgeprägten Ironie, traditionelle Bildformen zu verändern, bestätigt Ofilis Madonna die Bemerkung von Waldenfels, dass „bildende Künste stets auch Aufmerksamkeitskünste [sind], die dem Unauffälligen Raum geben“.39 Der Skandal liegt jedoch außerhalb des Gemäldes, in den beiden Sockeln mit den Begriffen „Holy“ und „Virgin“. Der in Ofilis Gemälde angelegte Iconoclash produziert Aufmerksamkeit, indem das Was des Bildes mit dem traditionellen Wie kollidiert, etwa die Bildelemente in Schmetterlingsform, die Fotografien von weiblichen Genitalien sind. Im Kunstbild, so schließen wir aus Waldenfels’ Phänomenologie der bildlichen Aufmerksamkeit, verdichten sich die wirksamsten Bildkräfte – eine „Ikonopathie, die der eingebürgerten Ikonologie eine zusätzliche Tiefendimension verleiht, […] indem sie Bilder stets auch als Ereignisbilder oder als Erregungsbilder thematisiert“.40 Waldenfels gibt nun zu bedenken, dass „die Geschichte der Bildbetrachtung und Bildverfertigung unter einer hauseigenen Bildvergessenheit [leidet]. [...] Das Wovon des Getroffenseins und das Worauf unserer Blickantwort [wird] von dem abgesondert, was wir jeweils im Bilde sehen. [...] das Sehen nähert sich einem Wiedersehen, für das alles sonnenklar ist, es verfestigt sich zu einem Gesehenhaben.“41 Die Folge ist eine Entsinnlichung des Bildes, deren Ursprung Waldenfels in Platons Bildtheorie findet. Platon habe das Sehbegehren, das Pathos und den Bildzauber, der sich im Sehen ereignet, zu einem Sehen mit den Augen des Geistes sublimiert: „Ideen sind die wahren Bilder.“42 Der Kunst weist Waldenfels eine Wirksamkeit sui generis zu, ein Aufmerksammachen, das nicht im Dienst kunstfremder Ziele wie politische Willensbildung, religiöse Glaubenserweckung, Werbung oder Unterhaltung steht. Die Kunst verfolge eine „indirekte Wirkweise“, die auf „Überschüsse des Außerordentlichen und auf Abweichungen vom Ordentlichen“ zurückgeht.43 Sie habe das Vermögen, die natürliche Erfahrung zu verfremden, indem sie den Blick von dem, was es zeigt, auf das, wie es sich zeigt, lenkt und den Betrachter aufmerksam macht auf das Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsgeschehen, indem sie die Form der Aufmerksamkeit potenziert. Ofilis Gemälde und Neuwirths Kunstfigur Conchita Wurst sind recht unterschiedliche Bildphänomene des Aufmerksammachens (Abb. 83 und 87). Beide Bilder haben Merkmale des Widrigen, des Unerwünschten und Verletzenden, da sie sich auf das Gewohnte und Traditionelle in regelwidriger Weise beziehen und deshalb emotionale Reaktionen wie Erstaunen, Erschrecken, Abstoßung oder gar Schock hervorrufen können. Im Fall von Conchita Wurst ist die Schock verursachende Wirkung des Bildes schnell benannt: Eine bärtige Frau im Glamourkostüm hat die Anmutung einer Christusikone. Das Auffällige wird hier, wie Waldenfels urteilen würde, durch das Allzuauffällige überboten, das Seh- und Bildereignis avanciert zum Bildgehalt, ein Eventbild, das eine Bildermaschinerie, hier der im TV ausgestrahlte ESC, in Gang hält.44 Auch der Zweck der Figur, Aufmerksamkeit für ein gesellschaftspolitisches Anliegen zu erregen, schließt die Bildfigur nach Waldenfels aus dem Kunstkontext aus.

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88  Unsere Liebe Frau der Ewigen Hilfe, Byzantinische Ikone aus dem 15. Jh., Rom, Esquilin

Im Fall von Ofilis The Holy Virgin Mary ist die Frage nach den Ursachen der anstößigen Wirkung komplizierter. Der Kunstkontext bestimmt die Voreinstellung, nach der am Ende des 20. Jahrhunderts ein Gemälde, das eine deformierte Frauengestalt zeigt, kaum mehr einen Schock auszulösen vermag. Es sind hier der nach der mittelalterlichen Heiligenbildtradition gemalte Goldgrund samt den hautfarbenen ,Blasen‘, die aufmerken lassen, den Blick beunruhigen und als „störende Fremdlinge“ wahrgenommen werden können. Der auf kleinen Sockeln versteckte Bildtitel eröffnet schlagartig die Absicht eines Iconoclashs, der insbesondere westliche, mit der Tradition von Mariendarstellungen vertraute BetrachterInnen betrifft. Der Bildtitel reißt das Gemälde aus dem Kunstkontext und stellt es in eine sakrosankte, religiöse Tradition, die es durch Deformation in provokativer Weise verletzt. Der zeitgenössische Kunstkontext mit seinem Dogma von größtmöglicher Freiheit und Autonomie vermag das Bild vor dem Vorwurf der Anstößigkeit nicht zu schützen. Der Iconoclash ereignet sich folglich in einem von dem Gemälde produzierten Zwischenraum, in dem Ähnlichkeit und Verschiedenheit, Tradition und Innovation, Kirche und Kunst miteinander streiten. Ein drittes Bildbeispiel zeigt im großen Plakat-Format ein vor einem Bauch zur Raute geformtes Paar Hände (Abb. 89). Ein naher Blick offenbart die Faktur des Bildes, das aus unzähligen kleinen Fotografien mosaikartig zusammengesetzt ist. Hände und Bauch auf dem Plakat gehören der 2013 amtierenden deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Das Plakat hatte seine Funktion im Wahlkampf der CDU zum deutschen Bundestag am 22. September 2013 und überraschte mit seinem riesigen Querformat von 70 × 20 m BerlinerInnen und Berlin-TouristInnen, die sich in der Nähe des Hauptbahnhofs aufhielten. Es ist aus 2.150 Fotografien von Merkelanhängern zusammengesetzt, wie man aus der Presseberichterstattung erfuhr. Auf einem zweiten Großplakat war der Claim der Wahlkampagne platziert: „Deutschlands Zukunft in guten Händen. CDU“.

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89  Blumberry GmbH: Deutschlands Zukunft in guten Händen, Wahlplakat der CDU, Berlin 2013

Im Wahlkampf der Parteien um das Amt des Kanzlers schlug das Plakat ein wie eine visuelle Bombe und zog eine Flutwelle von Kommentaren in der Tagespresse nach sich. Der Berliner SPD-Chef bemängelte den „monströsen, inhaltsleeren Personenkult. [...] Die aneinandergelegten Fingerkuppen signalisieren, wie geheimnisvoll sich die Personen der dreifaltigen Koalition zueinander verhalten“ (gemeint ist die große Koalition von CDU/SPD/FDP).45 Andere Kommentatoren konterten: „Solche sakralen Unterstellungen träfen auf die nüchterne Pastorentochter nicht zu.“ Weitere befanden, es handele sich um eine hochsymbolische Geste, die Folgendes bedeute: „Die Mutter der Nation nimmt Deutschland an die Hand und führt es aus der Krise.“ Die Geste, genannt „Merkelraute“ oder „Merkelizer“, wurde bereits 2009, als die Kanzlerin sie bei ihren Reden in der Öffentlichkeit einsetzte, Anlass vielfältiger Deutungen. Man sprach schnell von „Muttis Händen“, die man entweder als „altmütterlich-pastoral“ oder als „magisch-gefährlich“ bezeichnete, wie das britische Magazin The Economist in Anspielung auf Tolkiens Herr der Ringe: „One ring to rule them all.“46 Überwiegend einig war und ist man sich über den meditativen Habitus der in der Körpermitte platzierten, nicht handelnden Handgeste: Sie äußere Konzentration, Besonnenheit und auch die Suche nach Berührungspunkten.47 Formal verdichtet das Plakat die mit der Handgeste verbundenen Bedeutungszuschreibungen zu einer Ikone. Der enge Bildausschnitt, der die Person der Kanzlerin auf ihre Hände reduziert, und das Großformat intensivieren die Geste in ihrer Wirkung. Außer der religiös konnotierten, mystifizierenden Semantik, die den Merkelhänden unterstellt wurde, gab das Plakat Anlass zu einer Debatte über die Zulässigkeit von Riesenplakaten im öffentlichen Raum zu Wahlkampfzwecken. Die vor der Bundestagswahl geführte Plakat-Debatte oszillierte in der öffentlichen Meinung zwischen seiner Herabsetzung – es werden keine politische Inhalte transportiert –, und einer Würdigung des Bildes als „mutige Kunstinstallation“ mit hochsymbolischer Aussage.48 Es gab sogar jemanden, der vorschlug „das Plakat hängen zu lassen und einen Dom darum zu bauen“.49 Dem Team von Lutz Meyer, Leiter der Berliner Werbeagentur Blumberry und Politikwissenschaftler, gelang aus zwei Gründen eine starke Bilderfindung. Unter den politischen, überwiegend männlichen Gesten der Macht ist die Merkelraute zunächst ein Novum: Männer

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90  Rogier van der Weyden: Bladelin Altar, um 1450, Öl auf Eichenholz, Detail: betende Hände der Jungfrau Maria auf der Mitteltafel des Triptychons, Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie

ballen oft Fäuste, recken Hände oder heben Zeigefinger. Der Herausforderer der Kanzlerin, Peer Steinbrück, konterte im Magazin der Süddeutschen Zeitung mit einem ebenfalls starken Gegenbild, dem sogenannten Stinkefinger.50 Stark ist die Ikonisierung der von Merkel gewählten Handgeste, weil sie sowohl bildkulturhistorisch als auch ikonografisch bedeutsam ist.51 Als Geste der Meditation oder der religiösen Einkehr im Gebet wird sie in vielen Kulturen verwendet. Die ikonische Verdichtung der Geste zum Plakat führt ikonografisch in die Geschichte des christlichen Bildes. Die Bemerkung eines Kritikers, das Plakat sehe aus wie ein „antikes Gemälde mit Rissen im Farbauftrag“, geht in diese Richtung.52 Nicht weit vom Berliner Hauptbahnhof entfernt, in der Gemäldegalerie des Berliner Kulturforums, findet man bei den alten Meistern passende ikonografische Vorbilder für die Merkelraute, z. B. spätmittelalterliche Gemälde mit Mariens Anbetung des neugeborenen Jesuskindes (Abb. 90). Die Plakatikone, die Debatte um das Plakat und die sakrale Deutung der Merkelraute führen Merkels Hände zum spätmittelalterlichen Andachtsbild, das Maria und die „Mutter der Nation“ miteinander verbindet. Ob sich die vom Wahlplakat ikonisch verdichtete Merkelraute bewusst auf spätmittelalterliche Gemälde bezieht, ist unerheblich. Der Gebetsgestus im politischen Wahlkampf, den das Plakat im Riesenformat zugleich zeigt und verbirgt, macht das Bild bei seinen Kritikern anstößig. In

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einer Gesellschaft, die auf weltanschaulicher Neutralität beruht, sich aber mit Politikkrisen produzierenden, religiösen Fundamentalisten auseinandersetzen muss, hatte das Plakat, das unterschwellig die Vereinigung von Politik und Religion kommuniziert, ein hohes Potenzial für einen Iconoclash. Auch hier produziert das Bild einen Zwischenraum, in dem eine traditionelle Form eine inhaltliche Umdeutung erfährt. Traditionalisten, Religionsgemeinschaften, Laien und Politiker konnten sich angesichts des Plakats aus verschiedenen Gründen den Missbrauch einer Traditionsform vorwerfen.

Starke Bilder und Bildhermeneutik In allen drei Bildbeispielen ist der mehr oder weniger offen gezeigte Rekurs auf die christliche Bildtradition und der Übertritt in einen neuen Funktionsraum, der mit der Tradition in historischer oder/und aktueller Konkurrenz steht, Anlass für den Anstoß. Die Bilder treten aus dem Bilderstrom heraus, weil man sich am als falsch empfundenen Ort durch sie an diese Tradition erinnert. In der nun folgenden Argumentation der Bildhermeneutik ist dieser Rekurs auf Bildtraditionen Grund für die starke Bildwirkung und darüber hinaus für das „starke Sein“ und den Sinn des Bildes. In seinem Aufsatz Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst bestimmt der Kunst- und Bildwissenschaftler Gottfried Boehm „starke“ und „schwache“ Bilder mit Bezug auf Hans-Georg Gadamer als einen „Seinsvorgang“ eigener Art: „[D]as ,eigene Sein‘ des Bildes (WM, S. 144f.) gewinnt nur Macht, wird zu einem starken Bild, wenn sich in ihm ‚Realität‘ übereignet, ikonisch verdichtet. Starke Bilder sind solche, die Stoffwechsel mit der Wirklichkeit betreiben. Sie bilden nicht ab, sie setzten aber auch nicht nur dagegen, sondern bringen eine dichte, ‚nicht unterscheidbare‘ Einheit zustande.“53 Es folgt die Begründung, in der sich die oben zitierten phänomenologischen Kriterien mit der hermeneutischen Argumentation ergänzen: „Stark sind solche Bilder, weil sie uns an der Wirklichkeit etwas sichtbar machen, das wir ohne sie nie erführen. Das Bild verweist auf sich selbst (betont sich, anstelle sich aufzuheben), weist damit aber zugleich und in einem auf das Dargestellte. So vermag es eine gesteigerte Wahrheit sichtbar zu machen, die es über die blosse Vorhandenheit, welche Abbilder vermitteln, weit hinaushebt.“54 Wie kommt es zu dieser Macht, die das starke Bild ausübt, wie zu der Wahrheit, die es sichtbar macht? Das Bild, so Boehm mit Bezug auf Gadamer, „gehört zum Sein des Dargestellten hinzu. Deshalb ist jedes starke Bild ein Seinsvorgang, der den Seinsrang des Dargestellten mitbestimmt. Mehr noch: ,durch die Darstellung erfährt [das Dargestellte] gleichsam einen Zuwachs an Sein‘ (WM, S. 145).“55 Boehm nennt dies „ikonische Differenz“.56 Das gemalte Stillleben etwa schafft mit der Darstellung alltäglicher Dinge eine bezaubernde Welt und gibt den Dingen eine „gesteigerte Wahrheit ihres Seins“.57 Noch mehr aber gelinge es dem religiösen Bild, dem Dargestellten einen Zuwachs an Sein zu verschaffen: „Religiöse Werke, so darf man verallgemeinern, begnügen sich niemals damit, ihre Mächte lediglich abzubilden.“58 Die Bildform der Vera Icon demonstriere dies in besonderer Weise: Das wahre Bild Christi übersetze

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den Gedanken der theologischen Realpräsenz in ein legendäres Bild mit der real gedachten Einprägung der Gesichtszüge Christi in ein Tuch. Der „Seinszuwachs“, die Macht und die Wahrheit des Bildes, erklärten sich aus dieser Verschmelzung von Urbild und Abbild. Aus hermeneutischer Sicht erhält ein Bild seine Stärke aus einer Teilhabe des Dargestellten an der Darstellung. Daher kann es dazu kommen, dass die Mariendarstellung eines zeitgenössischen Künstlers nicht als ein Produkt moderner Kunst, sondern als Heiligenbild wahrgenommen wird; das Bild eines Schlagerstars kann so zur Christusikone werden und das Plakat einer weiblichen Handgeste mit Andachtsbildern in Verbindung gebracht werden (Abb. 83, 87 und 89). Boehms auf Gadamer fußende Bildhermeneutik, die das bildnerische Artefakt als Seinsvorgang versteht, fasst das Bild als „Kraftquelle“, als „Ereignis in der Welt“ auf. Entscheidend, so Boehm, ist die „hervorbringende“, die „entdeckende“, die „sinnliche Kraft“, die „geistige Energie der Bilder“, die sich mit der „Lebenswirklichkeit verbindet“. 59 Wenn diese Eigenschaften im Bild wirken, dann, spricht die Bildhermeneutik vom „starken“ Bild.

Spaltung der Bildkulturen Boehm lässt keinen Zweifel daran, dass er die Bildqualität „stark“ ausschließlich auf Werke der bildenden Kunst und Architektur angewendet wissen will. Daher markiert er eine scharfe Differenz zwischen den starken Bildern der Kunstgeschichte und den von ihm als „schwach“ charakterisierten, maschinell-technologisch hergestellten Bildern der Massenmedien. Deren „Ziel und Funktion darin besteh[t], abzuschildern, Informationen via Auge zu verbreiten. […] Die Logik dieser Bilder besteht in einer Selbstverleugnung, im Bestreben, [...], die Haltung einer Sachhaltigkeit einzunehmen, der man allein angemessene und richtige Informationen zutraut“.60 Wie Waldenfels äußerte Boehm, als er 1996 die Bildkulturen in stark und schwach spaltete, die Gefahr der Dekadenz, die von den neuen Bildübertragungstechniken und -medien verursacht werde. Die „Schwäche“ einer aufkommenden Bildkultur der Massen sah der Kunsthistoriker in der Intention dieser Bilder, „keinerlei Eigenwillen ins Spiel [zu bringen], gar nicht auf sich [zu] verweis[en], sondern sich ganz transparent auf die Sache [zu machen]. [...] Die so gearteten technischen Bilder sind mithin auch ganz schwache Bilder“.61 „Abbilder“ nennt Boehm diese schwachen Bilder und spricht damit aus, was Waldenfels als Entsinnlichung des Bildes und Byung-Chul Han noch deutlicher – mit Bezug auf digitale Bilder, die eine unmittelbare Reizbefriedigung hervorrufen – als „affectum“ charakterisiert.62 Die Mechanisierung der Bildproduktion, die mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert begann, sei, so Boehm, der Schlüssel ihres Erfolgs, doch die Produkte dieser Bildermaschinen seien eben nur „Verdoppelungen, ein Double der Realität“.63 Mit dem „rasenden Erfolg der schwachen Alltagsbilder“ steige nun auch die Zahl ihrer Urheber.64 Mitte der 1990er-Jahre war allerdings noch kaum abschätzbar, welche Menge an BildproduzentInnen mit Hilfe der digitalen Bildtechnik in der Lage sein werden, täglich aufs Neue unfassbare Bildermengen zu produzieren.

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Für einen Gipfel der trivialen, massenmedial produzierten „schwachen“ Bilder hielt Boehm das damals noch populäre Familienfotoalbum, das er der „alten Welt“ der Kunst gegenüberstellt. „Die alte Welt mit ihrer reichen, aber doch überschaubaren Ökonomie der Bilder, die an ausgezeichneten Orten, bei ausgewählten Gelegenheiten und nach der Legitimität ihrer Inhalte kultiviert wurde, liegt wie ein ferngerückter Kontinent am Horizont der Vergangenheit.“65 Die traditionellen, elitären Bilderordnungen der Kunstgeschichte weichen demnach den Unordnungen der kunstfernen Abbilder im Zeitalter der Bilder, welche die neuen Massenmedien unaufhaltsam produzieren, um Realität als ein Reservoir an Informationen in den „Informationskreislauf der Gesellschaft einzuschleusen“.66 Boehm konnte wie gesagt 1996 noch gar nicht abschätzen, was sich bildkulturell in den folgenden Jahren tiefgreifend veränderte – aber er ahnte bereits, welches Potenzial die neuen Bildmaschinen für die „alte Welt“ haben wird. Die Rede ist von den „starken“ Bildern der Kunst, der er einen starken Kunstbegriff der Moderne zu Grunde legt.67

Was Bilder stark macht Zurück zu den sehr unterschiedlichen Bildbeispielen und der Frage, was sie so stark macht, dass sie Aufmerksamkeit erregen, aus dem Bilderstrom heraustreten und Anstoß erregen bzw. einen Iconoclash produzieren konnten. Ich habe die Beispiele aus drei unterschiedlichen Kontexten der zeitgenössischen visuellen Kultur gewählt, die allerdings eines gemeinsam haben. Sie sind mit den Bildformen, -gattungen und -traditionen der alten Welt des katholischen Christentums verbunden: der Marienikone, der Christusikone und dem Andachtsbild. Diese alten Bildformen erscheinen in den Beispielen in aktualisierter Form und erweisen sich im zeitgemäßen Gewand als wirksames Bild der Kunst, eines Schlagerstars und eines Wahlkampfplakats. Die westliche Welt schenkt den in Kirchen oder Museen bewahrten Heiligenbildern eine spezielle, von gläubigen Katholiken, KunstspezialistInnen oder -liebhaberInnen praktizierte Aufmerksamkeit – oder wie Gottfried Boehm formuliert: In der „alten [christlichen] Welt“ hatten sie für diejenigen, die an sie glaubten, noch den „starken Sinn des Ikonischen“, welches das göttliche Sein „sinnvoll-sichtbar [zur] Erscheinung bringt“, indem „der ikonische Eigenwert auf das Urbild zurückwirkt“.68 Hermeneutische Kriterien für das ,stärkste‘ Bild finden sich demnach im Heiligenbild und im Herrscherbild: Gott und Herrscher haben ihr „Sein ‚wesenhaft im Sich-Zeigen‘ (WM, S. 147)“.69 Dieses in der „alten Welt“ der Kunst geborene Bildkriterium wird heute noch in den Museen als ein Andenken an die vormalige Stärke des Bildes bewahrt. Außerhalb der Museen wirkt dieses alte, kulturell eingeübte Teilhaben der Bilder am herrschaftlichen und göttlichen Sein auf paradoxe Weise in den zeitgenössischen Bildkulturen weiter. Wir wissen nicht, ob Rudolph Giuliani vor einem Bild der Madonna in seiner New Yorker Pfarrkirche betet. Er sieht jedoch in dem Gemälde des Künstlers Ofili das Bild Mariens diffamiert. Für denjenigen, der, wenn nicht an die Heiligenbilder glaubt, aber die mit ihnen verbundene kirchliche Institution verteidigt, verkörpern nun auch die drei zeitgenössischen Bildbeispiele das Göttliche, das in ihren Aktualisierungen als Bildtradition aufscheint, in der Conchita Wurst

Was Bilder stark macht

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genauso wie in Angela Merkels Wahlkampfplakat. Paradox sind diese Bildwirkungen, weil die alten, starken christlichen Bilder bei den Gläubigen Auslöser des Iconoclashs sind. Aus ihren sakralen oder musealen Kontexten herausgelöst, wirken diese Bilder der alten Welt im profanen Raum einer sich säkularisiert gebenden, westlichen Welt und vor allem dort. Sie übertragen ihre einstige Stärke auf ihre künstlerischen oder massenmedialen Aktualisierungen, durch die zeitgemäßen Verkleidungen hindurch. Anstoß erregen sie bei denjenigen, die in ihnen die Vorbilder karikiert, diffamiert oder missbraucht sehen. Begrüßt werden sie dagegen von denjenigen, die sich des Sinns der alten Heiligenbilder erinnern und in den Deformationen dessen Verzerrung durch Institutionen und Machthaber beklagen. Während sich also die einen über Deformationen empören, beglaubigen die anderen die durch sie verbreiteten, traditionellen Werte der christlichen Botschaft. In beiden Fällen bestätigen sie die These der Hermeneutik von der Teilhabe des Dargestellten am Sein der Darstellung, widerlegen aber im Gegenzug die These vom „schwachen“ Bild der Massenmedien. Kunstferne Bildqualitäten der Conchita Wurst wie Allzuauffälligkeit und Zweckdienlichkeit der Unterhaltung kollidieren in dem christomorphen Transvestitenlook eines Schlagerstars mit einem hermeneutischen Bildsinn, der ohne dieses Bild nicht freigesetzt worden wäre. Conchita Wurst benutzt folglich die „starke“ christliche Bildform, um über diese Aufmerksamkeitserregung einen Diskurs in Gang zu setzen, nicht über Christusikonen, sondern gesellschaftliche Streitthemen, z. B. christliche Tugend der Toleranz und Homosexualität. Das Wahlplakat der CDU setzt auf Ikonisierung einer ambivalenten Geste und bedient sich indirekt und anspielungsreich des über Vorbilder vermittelten Gestus, um zusammen mit dem Claim Vertrauen für die mit dem „C“ verbundenen christlichen Werte zu kommunizieren. Die Stärke dieser BildText-Botschaft provozierte den von den politischen GegnerInnen hervorgerufenen Iconclash, deren ironisch-polemische Rhetorik sich ausgerechnet in einer Schwächung des christlich konnotierten Bild- und Textsinns erschöpfte. Die drei Fallbeispiele zeigen, dass die ‚alte‘ hermeneutische Qualität der ‚Bildstärke‘ in Bezug auf Bildkulturen im Zeitalter der Bilder keine Zweiteilung der Welt in alte, starke (Kunst-) Bilder und neue, schwache Medienbilder zulässt. Längst haben sich beide Welten miteinander verwoben: die Medienbilder mit den Kunstbildern und christlichen Traditionsbildern sowie die Kunst mit den Medienbildern. Und auch die phänomenologische Wirkkraft und Wirkmacht der Bilder zeigt hinsichtlich einer klaren Unterscheidung von Kunst- und Nicht-Kunst-Wirksamkeit eine Durchlässigkeit zu beiden Seiten. Was Gottfried Boehm exklusiv für die Kunst des ausgehenden 20. Jahrhunderts bemerkt hat, gilt nun für die Bildkultur als Ganzes: „Das Spektrum moderner Kunsterfahrungen [Bilderfahrungen, C. K.] ist jedenfalls weit, enthält Exempel subtiler Spiritualität wie triebhafter Vitalität, abgründigen Tiefsinns und unverhohlener Banalität.“70 Nicht zuletzt erinnern die drei Bildexempel eine sich nach der Aufklärung säkularisiert gebende, westliche Zivilisation daran, dass Bilder als Medien der symbolischen Form nicht aufgehört haben, den Wertekanon der christlichen Ethik zu vermitteln.

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Endnoten 1 Siehe zum Folgenden das Kapitel „Offending Images“ in: W. J. T. Mitchell: What do Pictures want? The Lives and Loves of Images, Chicago/London 2005, S. 125–144, hier: S. 126. 2 Ebd., S. 131–132. 3 Siehe David R. Roediger: Colored White. Transcending the racial Past, University of California Press 2002, S. 35–39. Roediger erklärt den politischen und rassistischen Kontext des Angriffs auf Ofilis Gemälde mit Giulianis Herkunft aus einer italienischen Immigrantenfamilie. 4 Mitchell: What do pictures want?, S. 135–136. 5 Zur religiösen und politischen Voreinstellung oder Prägung Giulianis siehe ausführlich Roediger: Colored White, S. 33–35 . 6 „Die Bildproduktion ist selbst ein symbolischer Akt und verlangt deshalb eine ebenso symbolische Art der Wahrnehmung, die sich von der alltäglichen Wahrnehmung unserer natürlichen Bilder aufschlußreich unterscheidet.“, zit. n. Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 19–20. 7 Siehe ebd., S. 11–55, die Einführung „Bild – Körper – Medium“. 8 Mitchell: What do pictures want, S. XIV. 9 Mit dem Begriff „sensational form“ erfasst Birgit Meyer das komplexe Zusammenspiel von produzierenden, übermittelnden und empfangenden Körpern bei der Genese einer außerordentlichen Präsenz, etwa des Göttlichen. „Playing a key role in implementing a particular religious aesthetics through a process of religious socialization that occurs over time, sensational forms include body techniques as well as sensibilities and emotions that become embodied dispositions in the habitus.“ Birgit Meyer: Picturing the Invisible. Visual Culture and the Study of Religion, in: Method and Theory in The Study of Religion, 2015, S. 1–28, hier S. 6; siehe ferner Birgit Meyer: Mediation and the Genesis of Presence. Towards a Material Approach to Religion, Utrecht 2012, S. 26–31. 10 Bruno Latour hat eine „grobe Klassifizierung ikonoklastischer Gesten vorgenommen”, auf die ich noch zurückkommen werde: Bruno Latour: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkriegs?, hg. v. Zentrum für Medientechnologie Karlsruhe, Berlin 2002, S. 46–61. 11 Ebd., S. 19. 12 Ebd., S. 24. 13 Die angesichts von The Holy Virgin Mary diskutierte Verletzung der Kunstautonomie referiert Roediger: Colored White, Kapitel 2. 14 Gerrit Bartels in: Der Tagesspiegel, Nr. 22042 vom 12.05.2014, S. 19. 15 Der Tagesspiegel, Nr. 22043 vom 13.05.2014, S. 24. 16 Zitat aus der Kronenzeitung-online vom 16.05.2014: http://www.krone.at/Oesterreich/Kardinal_Schoenborn_ ueber_Conchita_Bete_fuer_ihn-Offene_Worte-Story-404601 (Zugriff am 08.09.2015). 17 Siehe Meyer: Mediation and the Genesis of Presence, S. 26–31. 18 Zitat aus dem Kurier-online, http://kurier.at/menschen/im-gespraech/conchita-wurst-ein-bart-alleinereicht-nicht/27.066.462 (Zugriff am 11.9.2015). 19 Neuwirth im Interview mit Die Welt vor dem ESC am 06.05.2014: http://www.welt.de/vermischtes/ prominente/article127667355/Aussehen-und-Geschlecht-sind-voellig-WURST.html (Zugriff am 09.10.2015). 20 Siehe zum Folgenden Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 160–164. 21 Dies schien Giuliani nicht zu stören, jedenfalls wird davon nichts berichtet; siehe die Diskussion bei Roediger: Colored White, Kapitel 2. 22 Zu einer von der Kirche nicht immer gern gesehenen Tradition von schwarzen Madonnen in Süditalien, ebd., S. 35–36. 23 Zum Folgenden Wiesinger: Die Sichtbarkeit, S. 193–204, hier: S. 193. 24 Ebd., S. 203. 25 Ebd. 26 Zum Folgenden siehe Kap. 4 „Wirkmacht und Wirkkraft der Bilder“ in Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a. M. 2010, S. 105–132, hier S. 110. 27 Ebd., S. 112. 28 Ebd., S. 115. 29 Ebd., S. 115–116.

Endnoten

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30 Ebd., S. 116. 31 Ebd. S. 118. 32 Ebd., S. 120. 33 Ebd., S. 120. 34 Ebd., S. 121. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 123. 37 Ebd., S. 124. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 128. 40 Ebd., S. 123. 41 Ebd., S. 125. 42 Ebd., S. 126. 43 Ebd., S. 128. 44 Ebd., S. 127; siehe auch Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. 2015, einer von vielen Apologeten, die den Verlust von Sinnlichkeit beklagen; beispielsweise in einer Ästhetik der glatten Oberfläche, in der sich der Betrachter nur noch selbst begegnet. 45 Aus dem Tagesspiegel vom 04.03.2013: http://www.tagesspiegel.de/berlin/die-merkel-raute-was-sagen-unsdiese-haende/8735882.html (Zugriff am 14.09.2015). 46 Aus Welt vom 12.09.2013: http://www.welt.de/politik/wahl/bundestagswahl/article119966030/BritischesMagazin-empfiehlt-Wiederwahl-Merkels.html (Zugriff am 14.09.2015). 47 Aus dem Spiegel vom 15.09.2013: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/silke-burmester-ueber-diemerkel-raute-a-922088.html (Zugriff am 14.09.2015). 48 Aus dem Art Kunstmagazin: http://www.art-magazin.de/div/heftarchiv/2014/3/11918454863120397786/Wasdie-Raute-bedeutet (Zugriff am 14.9.2015). 49 Auf DW vom 05.09.2013: http://www.dw.com/de/wahlkampf-mit-der-merkel-raute/a-17067023 (Zugriff am 14.09.2015). 50 Aus dem Süddeutsche Zeitung Magazin vom 12.09.2009. 51 Merkel selbst motivierte ihre zur Raute geformten Hände ergotherapeutisch als „Hilfe für eine aufrechte Körperhaltung“ und ästhetisch als „Sinn für Symmetrie“. Siehe aus sozialpsychologischer Sicht Tilman Allert: Die Raute der Angela Merkel, in: ders.: Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge, Frankfurt a. M. 2015, S. 57–72; auch Allert favorisiert den Gebetsgestus: „Die Hände, während der Tage ihrer Kindheit zum Gebet gefaltet, suchen demütig Halt in der schwebenden Balance; die Raute wird in einer Welt, hinter der Gott unsichtbar geworden ist, das Sinnbild einer Mission.“, ebd. S. 72. 52 Jens Thurau: Wahlkampf mit der „Merkel Raute“, auf DW vom 05.09.2013: http://www.dw.com/de/ wahlkampf-mit-der-merkel-raute/a-17067023 (Zugriff am 14. 9. 2015). 53 Gottfried Boehm: Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst (1996), in: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 243–267, hier S. 252; (WM) bezieht sich auf Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 254. 56 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11–38, hier S. 29–36. 57 Zitat Gadamer, WM, in Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 255. 58 Ebd., S. 256. 59 Ebd., S. 265; diese Kriterien des starken Bildes formuliert Boehm angesichts abstrakter Kunst. 60 Ebd., S. 246–247. 61 Ebd., S. 247. 62 Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 125. „Die Wahrnehmung digitaler Bilder vollzieht sich als Ansteckung, als Affektion, als unmittelbarer Kontakt zwischen Bild und Auge. [...] Das affectum schreit und erregt. Es bringt nur sprachlose Erregungen und Reize hervor, die ein unmittelbares Gefallen auslösen.“ Zit. n. Han: Die Errettung des Schönen, S. 50–51. 63 Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 248. 64 Ebd., S. 247.

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65 Ebd., S. 248. 66 Ebd., S. 248. 67 Wie Bilder Sinn erzeugen handelt daher ausschließlich von der alten Welt und den starken Bildern der Traditionskunst. 68 Ebd., S. 256–257. 69 Ebd., S. 257. 70 Ebd., S. 263.

11  KUNSTAKTE UND BILDAKTE „Du mußt dir vorstellen, daß auf diesen Bildern nicht alles unsichtbar ist: kleine Hinweise, Zeichen, Andeutungen – so Pfeilspitzen, weißt du –.“ Siegfried Lenz: Deutschstunde, 1968 Im Jahr 1963 wurde Leonardo da Vincis Gemälde der Mona Lisa in politischer Mission an die Vereinigten Staaten ausgeliehen (Abb. 91). Am 8. Januar hing das Gemälde im langen Marmorsaal der Washingtoner National Gallery und um 22 Uhr begann der feierliche Staatsakt zu Ehren des Gemäldes, vor dem sich die politische Führung der Vereinigten Staaten, darunter das gesamte Kabinett des amerikanischen Staatspräsidenten John. F. Kennedy, VertreterInnen der Armee, der Diplomatie, Persönlichkeiten der Kultur und weitere 2.000 geladene Gäste versammelt hatten.1 Die Fotografie von Robert L. Knudson, offizieller Fotograf des Weißen Hauses, zeigt von links John F. Kennedy, Mme. Malraux, den französischen Kultusminister André Malraux, Jacqueline Kennedy, den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten Lyndon B. Johnson und in der Mitte über ihnen das Gemälde der Mona Lisa als Anlass der Feierlichkeiten (Abb. 92). Kennedy und Malraux werden in ihren Ansprachen die Mona Lisa zum zentralen Symbol freiheitlich-demokratischer Werte sowie der Freundschaft Frankreichs und Amerikas erheben. Diese sind für die Kunstgeschichte bis dato einzigartige Ereignisse, in deren Zentrum ein prominentes, damals bereits 450 Jahre altes Kunstwerk steht, das politische Handlungen nicht nur passiv darstellt, sondern selbst aktiv Auslöser von Handlungen ist. Die politisch motivierten Handlungen mit einem Gemälde und die Rolle der Kunst in diesem „Bildakt“ (Horst Bredekamp) , welche die Frage nach der Identität des Kunstwerks bei seiner Verwendung zu kunstfernen Zwecken aufwirft, werden im ersten Teil dieses Kapitels analysiert. Im zweiten Teil werde ich ein zeitgenössisches Bildmotiv als eine Variante des Bildakts mit Kunst untersuchen. Das zu untersuchende Bildmotiv bedient sich nach Art eines Pasticcio gleich mehrerer Kunstgeschichten, um daraus eine starke wirkungsästhetische Präsenz, verknüpft mit geschichtspolitischen Inhalten, zu schöpfen (siehe Abb. 93 und 94). Ein derart mit Kunst und Geschichte aufgeladenes Bild, das seine Vorbilder nur indirekt zitiert, ließ der amerikanische Präsidenten Barack Obama am Ende seiner Regierungszeit in allen verfügbaren Massenmedien verbreiten, um damit ein politisches Vermächtnis zu formulieren, das ihn zugleich in das kulturelle Weltgedächtnis eingehen lassen sollte. Dieses Beispiel wird zeigen, auf welche Weise Kunstwerke und Kunstgeschichten im Zeitalter der Bilder außerhalb der traditionellen Kunstarchive im Gedächtnis gehalten und viral im Internet verbreitet werden, um als machtpolitische Bildagenten zu fungieren.

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91  Leonardo da Vinci: Mona Lisa, um 1503-06, Öl auf Pappelholz, Paris, Musée du Louvre

Staatsakt als Kunstakt Im Jahr 1963 hatte das Wettrüsten der Supermächte USA und Sowjetunion im Kalten Krieg mit der Kubakrise im Oktober 1962 einen Höhepunkt erreicht, und die Beziehung zwischen Frankreich und den USA war wegen der französischen Bestrebungen einer atomaren Aufrüstung an einem Tiefpunkt angelangt. Im selben Jahr engagierten sich die USA im nicht-kommunistisch regierten Südvietnam, das als ungeteilter Staat bis 1954 unter der Kolonialmacht Frankreich gestanden hatte. Amerikanische Truppen kämpften jetzt gegen kommunistische Guerillas in einem Stellvertreterkrieg. Im Mai trafen sich Spitzenvertreter aus Frankreich und Amerika in New York. In seiner Tischrede sprach der französische Kultusminister André Malraux von der Kultur als „mächtigster Beschützerin der freien Welt“ und als deren „wichtigste Verbündete in der Führung der Menschheit“.2 Die USA seien Vorkämpfer der Kultur, die dem Marxismus nicht mit Waffen, sondern mit der Freiheit der Schöpferkraft entgegenträten. Malraux beschließt seine Rede mit einem Toast auf die atlantische Zivilisation und die Freiheit des Geistes. Der amerikanische Vizepräsident Johnson bekräftigt dies mit der Aussage, dass die Welten der Politik und der Kultur nicht voneinander zu trennen seien. Frankreich und Amerika hätten in Stunden der Gefahr stets materiell wie geistig zusammengestanden. Die ostentative Verbindung

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Mona Lisa in Washington, Farbfotografie von Robert L. Knudson, 8.1.1963

von Politik und Kultur – wobei damals unter Kultur noch insbesondere die Künste verstanden wurden – markiert den Beginn von teils zähen Verhandlungen, an deren Ende Leonardos Gemälde in Washington und New York von einer begeisterten Öffentlichkeit als ein die Nationen verbindendes Bildobjekt gefeiert wurde. Der Hintergrund dieses politischen Staatsakts mit Gemälde war wie erwähnt die politisch angespannte Lage eines geopolitischen Kampfs um globale Machtverhältnisse. Unter der Leitung von Charles de Gaulle hatte Frankreich 1958 mit einer Force de dissuasion nucléaire (Streitmacht zur Abschreckung eines Atomkriegs) die atomare Aufrüstung beschlossen, um dem Militärpotenzial des Warschauer Pakts mit einer eigenen nuklearen Streitmacht zu begegnen und in Europa eine von den USA unabhängige Militärstrategie zu installieren, an deren Spitze Frankreich stehen sollte. Am selben Tag im Mai, als Malraux und Johnson in New York das Glas auf die kulturelle und politische Zusammenarbeit ihrer Länder erhoben, hielt Frankreichs Präsident Charles de Gaulle in Paris eine Rede, in der er eine eigene Atomstreitmacht in Frankreich und ein Sonderbündnis mit Deutschland und Großbritannien bekanntgab. Kennedy zeigte sich über diesen Plan hochverärgert und vereinbarte am 21.12.1962, kurz vor dem Eintreffen der Mona Lisa in New York, bei einem Treffen mit dem britischen Premier Harold Macmillan in Nassau auf den Bahamas, dass die USA an

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11  Kunstakte und Bildakte

Großbritannien Mittelstreckenraketen des Typs Polaris liefern, welche auf in Großbritannien gebauten Unterseebooten mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden sollten. Den Oberbefehl dieser europäischen Atomwaffen sollte aber nach wie vor die NATO haben. Am 8. Januar 1963, am Abend des Staatsempfangs für Mona Lisa, stand die Freundschaft beider Nationen auf der Probe, und man hoffte sicher auf eine von Kennedy und Macmillan angestrebte ‚kleine Lösung‘ einer Aufrüstung Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands mit Mittelstreckenraketen. De Gaulle wies jedoch kurz darauf auf einer Pressekonferenz vom 14. Januar 1963 die in Nassau quasi als Nachtrag auch ihm angebotenen Polaris-Raketen zurück und bekräftigte den französischen Alleingang zur Atommacht. Aus der Rückschau war die Reise des Kunstwerks ein diplomatischer Akt von größter Bedeutung, wobei Malraux alle Rhetorik aufwendete, die Spannungen zwischen Frankreich und den USA zu lösen. Auf expliziten Wunsch der Franzosen bereiteten die Amerikaner dem Gemälde einen mit großem Aufwand zelebrierten Staatsempfang, der dem eines Staatspräsidenten gleichkam.3 Mona Lisa reiste eskortiert von Motorradfahrern von Paris nach le Havre, schiffte dann in den Luxusdampfer France ein und fuhr begleitet von der amerikanischen Kriegsmarine am Weihnachtsabend 1962 in den New Yorker Hafen ein. Am 8. Januar wurde die Ausstellung der Mona Lisa wie ein Staatsempfang zelebriert – und es ist undenkbar, dass Charles de Gaulle zu diesem Zeitpunkt auf diese Weise in Washington hätte geehrt werden können. Das Kunstwerk fungierte hier nicht nur als Stellvertreter, sondern als ein diplomatischer Agent mit dem Auftrag, Bewegung in eine verfahrene politische Situation zu bringen. In auffälliger Weise vermischen sich daher Kunst und Politik in den kurzen Ansprachen der Staatsmänner. Für André Malraux ist das hohe Alter des Gemäldes Anlass einer Reflexion der Bedeutung von Kunst für die Kultur als Ganzer. Er erklärt die Renaissance als Wiederbelebung der Antike aus dem Geist des Christentums, das dem antiken Formideal eine Seele gegeben habe. Die sterbliche Frau, die das Gemälde darstellt, triumphiere mit dem göttlichen Blick über die blicklosen Göttinnen der Antike: „Sight, soul, spirituality – that was Christian art, and Leonardo had found this illustrious smile for the face of the Virgin. Using it to transfigure a profane countenance, Leonardo gave to woman’s soul that idealization which Greece had given to her features. The mortal being with the divine gaze triumphs over the sightless goddess.”4 Mit der Betonung, dass einem Gemälde noch nie eine solche Ehre zuteil wurde wie durch John F. und Jackie Kennedy, die die Reise der Mona Lisa ermöglicht hatten, leitete Malraux zum politischen Kontext als dem eigentlichen Grund dieser Reise über. Das konservatorische Risiko, das mit der Reise des Gemäldes verbunden sei, verglich er mit der Landung der amerikanischen Soldaten in der Normandie während der beiden Weltkriege. Diese amerikanischen Soldaten hätten das Gemälde, das hier geehrt würde, damals gerettet: „To the humblest among them who may be listening to me now, I want to say without raising my voice that the masterpiece to which you are paying historic homage this evening, Mr. President, is a painting which he has saved.”5 Mit diesem Satz, adressiert an jeden einzelnen amerikanischen Staatsbürger, der sich in den Weltkriegen um den Frieden der Welt verdient gemacht hat, leitet der französische Kulturpolitiker elegant zum Großthema der damaligen Weltpolitik über. Der Zweck kriegerischer

Weltmacht als Kunstmacht

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Auseinandersetzung sei der Schutz von Kulturgütern, deren Repräsentant die hier anwesende Mona Lisa sei. Der Subtext dieses Satzes ist diplomatisch hochbrisant, denn er spricht von der ‚historischen‘ Anerkennung der USA als Schutzmacht in den beiden Weltkriegen und konterkariert damit die jüngsten Bestrebungen des französischen Staatspräsidenten nach militärischer Unabhängigkeit von den USA und dem Anspruch einer Großmacht in Europa. Das Gemälde fungiert also im doppelten Sinne als Gegenstand einer symbolischen Aufladung, in der kulturgeschichtliche, kunsthistorische, militärhistorische und politische Werte mit den aktuellen Streitthemen der Politik in harmonisierender Weise zusammengeführt werden.

Weltmacht als Kunstmacht In seiner anschließenden Rede, die als Replik auf den französischen Kultusminister zu lesen ist, nimmt der amerikanische Staatspräsident diesen Gedanken auf und erinnert an die Kriege, in denen Frankreich und Amerika Seite an Seite miteinander gekämpft haben.6 Er betont die Bedeutungen der bürgerlichen Revolutionen für Demokratie und Freiheit, die beide Staaten durchgemacht haben und die derzeit so stark gefährdet seien. Schließlich beteuert er, indem er das Gemälde als Zeuge und Garant aufruft, die unbedingte Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Werte, die beide Nationen miteinander verbindet: „Today, here in this Gallery, in front of this great painting, we are renewing our commitment to those ideals which have proved such a strong link through so many hazards.“7 Dann aber ist Schluss mit der Rhetorik der Gemeinsamkeiten, und es folgt eine Klarlegung der Machtverhältnisse zwischen Europa und den USA, die Thema der Verhandlungen mit Macmillan in Nassau waren. Kennedy sagt wörtlich: „Mr. Minister, we in the United States are grateful for this loan from the leading artistic power in the world, France.“ Frankreich wird hier der Status der Weltmacht der Kunst zugesprochen. „In view of the recent meeting in Nassau, I must note further that this painting has been kept under careful French control, and that France has even sent along his own Commander in Chief, M. Malraux.“8 Mit Blick auf das Verhandlungsergebnis in Nassau habe Frankreich die Kontrolle über das Gemälde und Kulturminister Malraux wird metaphorisch als Oberbefehlshaber der Kunst anerkannt. Aber: Frankreich müsse auch zur Kenntnis nehmen, dass die Vereinigten Staaten eigene Anstrengungen machten, um eine von Frankreich unabhängige Kunstmacht zu werden: „And I want to make it clear that grateful as we are for this painting, we will continue to press ahead with the effort to develop an independent artistic force and power of our own.“9 Aus der als Ausstellungseröffnung getarnten Veranstaltung wird nun der hochpolitische Bildakt, als der sie intendiert war. Mit aller rhetorischer Kunst, wie sie die Diplomatie zur Anwendung bringen kann, wendet der amerikanische Staatspräsident mit einer ironisch gefärbten Allegorie die machtpolitischen Weltansprüche: Die USA erkennen Frankreich zwar als Weltmacht der Kunst an, die USA hegt jedoch nicht nur eigene Ansprüche einer Kunstmacht, sondern strebt auch nach Unabhängigkeit vom Vorrang Frankreichs in den Angelegenheiten der Kunst. Durch die Blume der Kunst adressiert Kennedy den Alleingang des französischen Staatspräsidenten mit der Botschaft, dass die USA außer der politischen Weltmacht das Ziel verfolgen, auch in

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11  Kunstakte und Bildakte

der Kunst Macht von Weltrang anzustreben. De Gaulle antwortete wie oben erwähnt einige Tage später mit der Ablehnung der Nassauer Vereinbarungen – die von der Reise der Mona Lisa erhoffte politische Mission war somit gescheitert.

Bildakt Mona Lisa Mit der Bezeichnung „Bildakt“ für die Leihgabe der Mona Lisa nach Washington zum Zweck einer Kunstausstellung mit politischer Intention beziehe ich mich auf den von Horst Bredekamp geprägten Begriff.10 Im Folgenden wird sich zeigen, dass die Ereignisse rund um die Präsentation der Mona Lisa in Washington mit Bredekamps Definitionen des Bildakts schnell zu klären sind. Welche Rolle das Gemälde übernimmt und wie es diese Rolle spielt, wurde bereits analysiert. Wieso aber ausgerechnet ein altes Gemälde für eine politisch-diplomatische Mission instrumentalisiert wurde, muss noch geklärt werden. Es stellten sich hier weitere Fragen, die Bredekamp in seiner Bildaktdefinition nicht stellt: Was bedeutet es für die Kunst, wenn sie für einen politischen Bildakt instrumentalisiert wird? Was aber ist in diesem Kontext ein Bildakt? Ein Bild ist stumm und kann nicht selbstständig agieren. Mit Bezug auf die Sprechakttheorie des Kommunikationswissenschaftlers John Austin versteht Bredekamp wie Gottfried Boehm (vgl. Kapitel 10) als Bildakt das Ausmaß an „Kraft“ eines Bildes, die es „dazu befähigt, bei Betrachtung oder Berührung aus der Latenz in die Außenwirkung des Fühlens, Denkens und Handelns zu springen“.11 Es geht um Wirkungsweisen des Bildes – Kraft seines Bildseins – auf das Empfinden, Denken und Handeln der Rezipienten, den BildbetrachterInnen oder BildbenutzerInnen. Voraussetzung für eine Rede vom Bildakt ist eine vom Bild gestiftete Kommunikationssituation zwischen Bild und Betrachter. Bredekamp unterscheidet drei Arten des Bildakts, den schematischen, substitutiven und intrinsischen Bildakt.12 Der schematische Bildakt äußert sich in der Form des Bildes oder Bildobjekts, das als etwas Lebendiges wahrgenommen wird. Der substitutive Bildakt definiert den „wechselseitigen Austausch von Körper und Bild“ in all den Teilbereichen der Kultur, in denen Bilder wirksam sind (z. B. Religion, Medien, Politik). Der intrinsische Bildakt kommt laut Bredekamp aus dem Inneren des Bildes, aus der Wirksamkeit der gestalteten Form als Form. Mit der Formulierung einer „Theorie des Bildakts“ verfolgt Bredekamp eine Gleichbehandlung von Bild und Sprache in der Theorie – entgegen einer philosophischen Tradition, die das Bild als Erkenntnis- und Kommunikationsmedium oft marginalisiert, wenn nicht abgewertet oder gar nicht ernst genommen hat. Die Frage nach dem Bildakt beinhaltet daher auch die Frage nach den von Bildern ausgelösten Sprechakten, nach der Wechselwirkung von Bildern und Sprache bzw. Texten und nach den je medienspezifischen Wirkweisen von Bild und Sprache bzw. Text. Was hier auffällt, ist der Allgemeinbegriff „Bild“, den der Kunsthistoriker verwendet und in seiner Studie unterschiedslos auf Bilder aus dem Kunstkontext und Bilder, die nicht im Kunstkontext stehen, anwendet – beide können dieselbe Wirkkraft im Bildakt entfalten: Medienbilder, die Bilder vom Terroranschlag von 9/11 genauso wie etwa das Gemälde Mona Lisa 1963 in Washington. Der Sammelbegriff „Bild“, den auch ich im Titel dieses Buches verwende,

Autonomie und Identität

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um Bildpraxen als ganze in den Blick zu nehmen und nicht nur einem als „Kunst“ bezeichneten Teilbereich, scheint gut geeignet zu sein, um bildkulturwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden zu entwickeln, um historische wie zeitgenössische Bildakte zu erforschen, wie im Kapitel 10 „Starke Bilder“ ausgeführt. Ist es also für ein umfassenderes Verständnis der kulturellen Wirksamkeit von Bildern wesentlich, wie Horst Bredekamp, Gottfried Boehm, Hans Belting und andere KunsthistorikerInnen, Bild statt Kunst zu sagen?13 Bevor der Kunstbegriff in einer Bildkulturwissenschaft untergeht, was, wie in Kapitel 2 dargelegt, einige Fachwissenschaftler­ Innen befürchten, sollte diese Frage gestellt und auch beantwortet werden.14

Autonomie und Identität Der Bildakt mit Mona Lisa am 8. Januar 1963 in Washington ist eindeutig ein Kunstakt – es ist die Kunst, die in den Rang einer Weltmacht erhoben wird: „artistic force and power“ spielt hier die Hauptrolle. Im Zentrum steht nicht irgendein Bild, auch nicht irgendein Renaissance-Gemälde, sondern ein Gemälde, das von Kunsthistorikern mal mit dem Superlativ „berühmtestes Bild der westlichen Zivilisation“, mal als „Kunstfetisch“ bezeichnet wurde.15 Die Wahl gerade dieses Gemäldes für eine politische Mission im Jahr 1963 fiel auf den Höhepunkt seiner massenmedialen Verbreitung in den 1950-er Jahren, die als „Jocondolatrie“ (Lisa del Giocondo, die Heitere, – Idolatrie) bezeichnet wurde: Mona Lisa hatte es wie die Putten in Raffaels Sixtinische Madonna bis auf Bonbonpapiere geschafft. Für Malraux war es das „berühmteste und meistbeschimpfte Werk“, die „subtilste Hommage, die das Genie Leonardo einem lebenden Gesicht erweisen konnte“.16 Der nicht zu bestreitende Kunstkontext des Gemäldes, der, im sibyllinischen Lächeln der Dame fokussiert, immer auch Streitpunkt der KünstlerInnen, LiteratenInnen und KunstliebhaberInnen war, sowie sein Wohnort im ältesten und bis dato einem der größten Kunstpaläste der Welt, dem Louvre in Paris, prädestinierte es vor anderen in Frankreich beherbergten Kunstbildern für eine durch Leihgabe an den amerikanischen Staatspräsidenten intendierte diplomatische Mission. Und: Ein Bild, das nicht im Kunstkontext entstanden war, wäre für diesen Auftrag ganz sicher nicht geeignet gewesen. Die allegorischen Reden von der Weltmacht der Kunst schließen die Verwendung eines Nicht-Kunstbildes für den politischen Zweck aus. Das Kunstsein dieses Bildes ist mithin Voraussetzung für den Bildakt, den diplomatischen Auftrag. Von dem sprichwörtlichen Lächeln der Mona Lisa, das erstmalig in der Geschichte der Kunst einem gemalten Gesicht ein „inneres Leben“ geschenkt habe, wie es der französische Kunsthistoriker Charles de Tolnay 1952 in seiner ersten umfassenden Studie über das Porträt herausgearbeitet hatte, ging seit dem 19. Jahrhundert eine Wirkkraft aus, die alle drei von Horst Bredekamp identifizierten Bildakte vereint: Lebendigkeit, Substitution und Selbstreflexion der Form als Form. Dieses gemalte Lächeln ist gleichsam das Sammelbecken der gesamten Kunstkritik seit dem 19. Jahrhundert, die dort ihre Begriffe und Konzepte von Kunst hineinwarf, um Kunst zu definieren, zu verteidigen, zu kritisieren, um- und neu zu formulieren.17 Die Avantgarde trieb ihren Schabernack mit dem Lächeln, Duchamp krönte es bekanntlich mit einem Bart.

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Doch Mona Lisa ist viel mehr als nur ein Gemälde über die Wechselfälle der Kunst. Es wird in der zweiten Kategorie des Bredekamp’schen Bildakts ein substituierendes Objekt. Napoleon hatte sich das Gemälde für sein Schlafzimmer erwählt, Freud projizierte in das Lächeln der Mona Lisa das Lächeln der Mutter des Künstlers, die dem Malergenie früh entrissen worden sei. Dem Louvre entriss 1911 ein italienischer Spiegelmacher mit einem spektakulären Raub das Gemälde, um es angeblich in seine Heimat Florenz zurückzubringen. 1914 hing es dann aber wieder an seinem angestammten Ort im Louvre. Die Prominenz des kleinen, um nicht zu sagen unscheinbaren Gemäldes steigerte sich zu einem wahren Mythos der Kunst. Im Jahr 1963 vertrat es den französischen Staatspräsidenten in Washington. Michael Lüthy, der den Kunstakt der Mona Lisa als Vorgeschichte für Warhols Thirty are better than one untersucht hat, schreibt 1995 vom Verlust „jeglicher Identität“ als Kunstwerk, die das Gemälde in all den Ehrungen, Reden und Zeremonien erleiden musste.18 Für Lüthy, der den starken Kunstbegriff des 20. Jahrhunderts vertritt, handelt es sich um eine der „Identitätsverfälschungen, die notwendig sind, damit Mona Lisa ihre politische und ideologische Mission erfüllen kann“.19 Das Gemälde ist mit seinem reinen Kunstsein nicht mehr identisch – es hat den Status der Kunstautonomie, die das 20. Jahrhundert zu seinem Credo erhoben hatte, verloren. All diese „Identitätsverfälschungen“ haben jedoch ihren Ursprung in dem besagten Kunstwerk selbst, dem über den Kunstkontext hinaus eine Wirkkraft zugesprochen wird, sei es als Briefmarke, Aschenbecher oder gar als Botschafterin in diplomatischer Mission. Jeder Blick auf die in den kunstfernen Kontexten erzeugten Substitute geht jedoch zurück auf das im Lou­vre bewahrte Original, das sie hervorgebracht hat und dessen Bekanntheit nun gerade durch die kunstfernen Indienstnahmen gestiegen ist. Insofern ist der Bildakt von 1963 ein grandioser Akt der Steigerung seiner Identität als Kunstwerk: Keinem anderen Bild, keinem Gemälde wurde je die Ehre eines Staatsempfangs zuteil! Wie aber steht es mit seiner Autonomie, der Unabhängigkeit der Kunst von jeglichen Zwecken, von gesellschaftlichen oder gar politischen Interessen? Die Dinge beginnen sich zu verkomplizieren, denn autonom ist die Mona Lisa im politischen Kunstakt von 1963 sicher nicht zu nennen. Für die Kunst, so möchte ich schließen, endet dieser Kunstakt in einem Paradox: Mona Lisas Steigerung der Identität als Kunstwerk wird mit dem Verlust der Kunstautonomie erkauft. Oder positiv ausgedrückt: Ihre außerordentliche Prominenz verdankt die Mona Lisa sowohl der Kunst als auch ihrer Indienstnahme für kunstferne Zwecke. Beide stehen in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander. Aber: Nur als Original, das im Louvre sein Zuhause hat, ist das Gemälde Kunst – als Bonbonpapier, Briefmarke, Aschenbecher oder in sonstiger reproduktiver Verwendung ist Mona Lisa als Bild zu bezeichnen. Dies ist denjenigen zu entgegnen, die das Kunstoriginal als Bild bezeichnen.

Bildakt mit Gemälden Ein zweites Beispiel wird zeigen, wie sich politische Handlungen mit und durch Kunst in Zeiten der Bilder grundlegend verändert haben. Am Montag, dem 31. August 2015 brach der ameri-

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kanische Präsident Barack Obama zu einer dreitägigen Reise nach Alaska auf, um zunächst auf der GLACIER Conference in Anchorage zu sprechen. Als Höhepunkt der Reise war der anschließende Besuch des Kenai Fjords National Park geplant. Im Angesicht der schmelzenden Gletscher startete Obama seine Kampagne zur Vorbereitung des zwei Monate später in Paris stattfindenden Klimagipfels der Vereinten Nationen in Paris, in der er die Rolle des Vorreiters in Sachen Klimaschutz einnehmen wollte. In seiner GLACIER-Rede beschwört Obama die anwesenden VertreterInnen der Industrienationen, gegen die Erderwärmung wirksame Maßnahmen zu ergreifen, indem der CO2-Ausstoß radikal gesenkt werde. Jeder Einzelne, der sich an der Negativbilanz des Klimawandels beteiligt, wird in die Verantwortung gezogen und zum dringend erforderlichen Handeln aufgefordert: „We’re not acting fast enough.“20 In seiner Rede lässt Obama die Folgen des Klimawandels als ein apokalyptisches Szenario vor seinen Zuhörern aufziehen: „[...] if we do nothing to keep the glaciers from melting faster, and oceans from rising faster, and forests from burning faster, and storms from growing stronger, we will condemn our children to a planet beyond their capacity to repair: Submerged countries. Abandoned cities. Fields no longer growing.“21 Obama skizziert ein globales Desaster für Mensch und Natur. Er unterlegt sein Katastrophenszenario mit wissenschaftlich abgesicherten Fakten, die niemand mehr leugnen kann. Zum Schluss fordert er alle ZuhörerInnen auf, die Gletscher zu besuchen oder sie aber vom Flugzeug aus zu betrachten, „to take in the God-given majesty of this place“.22 Damit ist das Stichwort gegeben, das die Bildpolitik der Alaska-Reise umschreibt. Wenn Handlungsaufrufe nicht fruchten, wenn wissenschaftliche Fakten nicht überzeugen, wenn politische Reden vor Industrie und Wirtschaft zu keinem durchschlagenden Erfolg für den Schutz von Mensch, Natur, Umwelt geführt haben – dann müssen wirkmächtige Bilder her, da die Rhetorik des politisch korrekten Euphemismus „Klimawandel“ nicht mehr in Worte zu fassen ist. Es war Obamas Plan, seiner Alaska-Reise größtmögliche Aufmerksamkeit in allen Medien zu geben. Deshalb begleiteten ihn außer ReporterInnen auch eine erhebliche Anzahl von FotografInnen und Kameraleuten, darunter die White-House-Fotografen Pete Souza und Chuck Kennedy. Aus der Menge der Bilder, welche die Stationen, Handlungen und Gespräche Obamas während der dreitägige Reise dokumentieren sollen, wird ein Bildmotiv, ich nenne es Barack Obama Crossing the Resurrection Bay in zwei Varianten exponiert, das die größte Aufmerksamkeit in allen öffentlichen Medien erzielen soll: Es zeigt den Präsidenten an Bord des in der Resurrection Bay fahrenden Schiffes Viewfinder.23 Zwei Varianten des Motivs werden im Internet, auch von Obama selbst über Twitter, verbreitet. Das von Chuck Kennedy, Officail White House Fotograf, aufgenommen Foto – ich bezeichne es im Folgenden mit Variante A – zeigt die Rückenfigur des Präsidenten, auf die Gletscherkulisse vor ihm blickend, begleitet von einem Ranger des Nationalparks ebenfalls in Rückenansicht (Abb. 93).24 In Variante B ist der Bug des Schiffes sehr viel kleiner, um der Gletscherlandschaft mehr Raum zu geben und Obama in das Blau des Himmels emporzuheben (Abb. 94). Eine Hand fest an der Reling, schreibt er mit der anderen seine Botschaft der Klimarettung in den Himmel ein. Variante B machte Mandel Ngan von Associated Press/AP.25 Dem sich in beiden Varianten in der Ferne als grauweißer Eisstrom zwischen zwei Bergketten abzeichnenden Gletscher gelten die meisten Medienkommentare der Alaska-Reise. Mehr

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93  Barack Obama Crossing the Resurrection Bay (Variante A), Official White House Foto von Chuck Kennedy, 1.9.2015

als 1,25 Meilen (über 2 km) sei der Gletscher in den letzten 200 Jahren geschmolzen, davon allein 187 Fuß (56 m) im letzten Jahr.26 Er habe in diesem Jahrhundert zweimal so viel an Masse verloren wie seit seiner ersten Messung in 1888, zitiert Obama Deborah Kurtz, Wissenschaftlerin am Kenai Fjords National Park. „The iceberg is sitting in a lake. Periodically, the icebergs break off from the glacier. Each one is the size of a Costco [Filiale der Warenhauskette Costco, C. K.]“,27 fasst Obama die Dimension der Gletscherschmelze in eine Metapher, die jedem Amerikaner verständlich sein sollte und zugleich diskret an die Mitschuld aller für die Ursachen des Klimawandels gemahnte. Doch alle Untergangsvisionen und Metaphern, die Obama bemüht, um das Ausmaß des Klimawandels zu imaginieren, sind nichts gegen das Bildmotiv des Präsidenten vor spektakulärer Naturkulisse, das gleich mehrere Fotografen schießen, um es über alle verfügbaren Medien zu senden, zu posten oder abzudrucken. Dieses in zwei Varianten als ,Titelbild‘ der Reise fungierende Bildmotiv steht in seiner die erhabene Naturschönheit der Gletscherlandschaft abbildenden Ästhetik im polaren Gegensatz zu den furchterregenden Szenarien der Klimakatastrophe, die Obama in seiner Rede ausmalt. Der am Weißen Haus akkreditierte CNN-Korrespondent Jim Accosta charakterisiert das Motiv wie folgt: „The snapshots of a president in the early evening sun in front of a threatened glacier provided the lasting image Obama’s stage-crafters had planned for several months – a ,signature‘ moment of his time in office, as one official put it. “28

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94  Barack Obama crossing the Resurrection Bay (Variante B), Fotografie von Mandel Ngan/AP, 1.9.2015

Vor allen anderen Bildmotiven von Obamas Alaska-Reise, dem Lachsfang, der Wanderung durch den National Park mit dem TV-Star Bear Grylls, dem Tanz des Präsidenten mit indigenen Kindern u. v.a., ist es das Motiv des ‚einsamen Menschen vor der weiten Natur‘, das nicht allein den politischen Willen zur Beendigung des Klimawandels durch Gegenmaßnahmen dokumentieren, sondern von seinen Bühnenarbeitern („stage-crafters“) in mehrmonatiger Arbeit erdacht zur offiziellen Ikone („lasting image“, „signature“) von Obamas zu Ende gehender Amtszeit hochstilisiert werden soll. Wie ist dieses Bild gemacht? Es besticht in beiden Varianten durch eine klare, vertikal angelegte Komposition, die von einem stahlblauen, wolkenlosen Himmel über zur Mitte des Bildes hin sanft abfallenden Bergketten der Kenai Mountains dominiert wird. Zwischen den Bergen hat sich der Gletscher in einer breiten Kurve ein Bett gegraben, darunter ein schmaler Streifen Land und am unteren Bildrand noch ein Streifen tiefblaues, von kurzen Wellen aufgelockertes Wasser der Resurrection Bay. Vor dieser in kühlen, transparenten Farben angelegten Naturkulisse sticht von rechts kommend der Bug der Viewfinder mit der Figur des Präsidenten in das Bild. Variante A kommuniziert in einer kleinen Bilderzählung, wie sehr der Präsident von der Schönheit der Naturkulisse ergriffen ist („to take in the God-given majesty of this place“, wie er in seiner Rede betont), und die Rückenfigur fordert die BildbetrachterInnen auf, genau diese Haltung einzunehmen. Der beistehende Ranger soll als Autorität in Sachen Gletscherökologie diese Aussage bekräftigen. Variante B stellt den Präsidenten nicht nur über die erhabene Naturschönheit, sondern hebt ihn in den Himmel – der Zeigegestus zeugt von seiner Handlungsentschlossenheit: Der mächtigste Mann der Welt, ein Winzling gegen die große Natur, ist so mächtig, dass er sie retten wird. Das Bild verdichtet diese Hoffnung ikonisch, was die Bildunterschrift „Obama staring down a melting glacier“ bestätigt: Obama starrt hinab zum Gletscher, als könne er, allmächtig, die Gletscherschmelze stoppen.

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95a  Caspar David Friedrich: Der Mönch am Meer, um 1808, Öl auf Leinwand, Berlin, Alte Nationalgalerie

Vorbilder Aus welchen Quellen schöpft nun diese (All-)Macht, Hoffnung und Zuversicht versprechende Ikonografie, die die Natur in vollkommener Schönheit zeigt und vor ihr einen Menschen als einsames Individuum, das dieser Schönheit und auch deren Fragilität innewird? Wer wie Obamas Leibfotograf und oberster „stage-crafter“ der Obama-Images, Pete Souza, mit der westlichen Kunstgeschichte vertraut ist, erinnert sich zuerst an Caspar David Friedrich, und zwar gleich an eine ganze Reihe seiner Gemälde, die in dem Bildmotiv verschmelzen: Es sind, um nur vier aus einer Reihe möglicher Beispiele zu nennen, Der Wanderer über dem Nebelmeer, Der Mönch am Meer, Das Eismeer, Morgen im Riesengebirge (Abb. 95a und b). Die deutsche Romantik, vertreten von ihrem bekanntesten Künstler, kommt dem Bildmotiv Obama Crossing the Resurrection Bay kompositorisch und stilistisch besonders nahe. Die Rückenfigur, Markenzeichen der romantischen Ikonografie, wird hier nicht zum ersten Mal in Bildern des Präsidenten Barack Obama zum Einsatz gebracht – es gibt mindestens ein weiteres Motiv, das sich sogar als direktes Friedrich-Zitat identifizieren lässt.29 Auch die durchkomponierten, idealen Landschaftsbilder von Friedrich, in der Natur als rein und entrückt bis zur Abstraktion dargestellt ist, führen hier ein ,Nachleben‘. Sie haben nichts von ihrer Wirkung eingebüßt, im Gegenteil potenzieren sie sich in der Synthese der möglichen Referenzen, die in einem Bildmotiv verdichtet werden, zu einer Aussage, die im Jahr 2015, kurz vor dem Pariser Klimagipfel von höchster machtpolitischer Bedeutung sein wird. Aber die Bildaussage ist nicht nur auf die Zukunft des Planeten gerichtet. In dem Bildmotiv sedimentieren sich mehrere Kunst(ge)­ schichten und eine Idealästhetik, die im Folgenden in vier Schritten freigelegt werden sollen, um die Funktion des Motivs als Bildagenten der Macht besser zu verstehen.

Deutsche Romantik

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95b  Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer, Öl auf Leinwand, 1818, Hamburg, Hamburger Kunsthalle

Deutsche Romantik Die Bildästhetik von Obama Crossing the Resurrection Bay kommt aus der deutschen Romantik, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts von US-amerikanischen Künstlern rezipiert wird.30 Die sinnliche Naturwahrnehmung, die das Subjekt in der Landschaft erfährt, wird in der Literatur thematisiert und stimuliert die Kunst zu Bildern, die, wie Friedrich es ausdrückt, „andeuten […], vor allem aber geistig aufregen und der Phantasie Spielraum geben und lassen, denn das Bild soll nicht die Natur selbst darstellen wollen, sondern nur daran erinnern. Nicht die treue Darstellung von Luft, Wasser, Felsen und Bäumen ist die Aufgabe des Bildners, sondern seine Seele, seine Empfindung soll sich darin widerspiegeln“.31 Ein Romantiker wie der Maler Franz in Ludwig Tiecks Sternbalds Wanderungen (1798) erfährt die Natur beim Wandern und auf Reisen: „Das Reisen“, sagte Sternbald zu sich selber, „ist etwas Treffliches, diese Freiheit der Natur, diese Regsamkeit aller Kreaturen, der reine weite Himmel und der Menschengeist, der all dies zusammenfassen und in einen Gedanken zusammenstellen kann [...]. Welche Welten entwickeln sich im Gemüte, wenn die freie Natur umher mit kühnen Gedanken, wenn die freie Natur umher mit kühner Sprache uns hineinredet, wenn jeder ihrer Töne unser Herz trifft und alle Empfindungen zugleich anrührt.“32 Das von Obama in seiner GLACIER-Rede apostrophierte „Innewerden der Gott gegebenen Natur“ weist zurück auf eine Sehnsucht nach ,reiner‘ Naturschönheit, die in der Romantik ihren ersten bildkünstlerischen Ausdruck fand. Der Gang in die Natur evoziert heilsgeschichtlich-religiöse Gefühle, Gefühle der Einsamkeit, Gedanken an die Endlichkeit eines Menschen-

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lebens und die Unendlichkeit des Kosmos. „Der religiös geweckte Sinn für das Universum“, so Rüdiger Safranski, „ist zugleich ein Schönheitssinn. Die Seele des religiösen Menschen sehnt sich danach, die Schönheit der Welt einzusaugen [Schleiermacher, C. K.]. So wird man zur schönen Seele, die dann auch schön zu handeln vermag, eingestimmt auf die große Harmonie und darum auch mit den anderen Seelen übereinstimmend.“33 Die subjektive Erfahrung des Ewigen im Endlichen projizieren die Romantiker in das Bild der erhabenen, schön gestalteten Natur.34

Amerikanische Landschaft Das Sehnsuchtsmotiv des Betrachtens einer schönen, erhabenen Natur, das Obama in Variante A und B ins Bild setzen lässt (Abb. 93 und 94), führt vom Bewusstsein der Gefahr des Verlusts derselben durch den Klimawandel im 21. Jahrhunderts zurück zu den Anfängen der Industrialisierung Amerikas im 19. Jahrhundert. Um Industrie anzusiedeln und Eisenbahntrassen zu bauen, müssen Bäume fallen. In The Complaint of the Forest fasste der in England geborene, nach Ohio emigrierte Landschaftsmaler Thomas Cole (1801–1848) die Rodung der Wälder in das folgende Gedicht: „All then was harmony and peace – but man / Arose – he who now vaunts antiquity – / He the destroyer – amid the shades / Of oriental realms, the destruction’s work began [...] And dissonant – the axe – the unresting axe / Incessant smote our venerable ranks [...].“35 Die Axt, deren Arbeit in Gemälden mit Baumstümpfen Zeugnis für den Kahlschlag der Wälder ablegt (Abb. 96), wird zum zweischneidigen Symbol für die sich entwickelnde Identität einer jungen Nation: Einerseits wird sie als Agentin des Fortschritts einer „civilization“ in einem riesigen, an Rohstoffen reichen Staatsgebiet betrachtet, andererseits zerstört sie die von Gott geschaffene und von Menschenhand unberührte Natur, welche die Siedler einst als „wilderness“ vorfanden. Barbara Novak beschreibt in Nature and Culture, wie Künstler, Literaten, Philosophen und Theologen den Vorstoß der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Dilemma empfanden und mit dem Verlust von Wäldern und Landschaft auch den Verlust von Ursprünglichkeit beklagten, die in ihren Augen Amerika so einzigartig machte. Novak sieht darin auch ein erwachendes ökologisches Bewusstsein und zitiert Alexis de Tocqueville, der auf seiner Amerika-Reise 1831/1832 als Zeitzeuge der beginnenden Ökonomisierung mit Gefühlen der Nostalgie beschreibt: „A gentle melancholy sense, and a vague distaste for civilization, a sort of primitive instinct that makes one think with sadness that soon this delightful solitude will have changed its looks. [...] The facts are as certain as if they had already occurred. In but few years these impenetrable forests will have fallen.“36 Im 21. Jahrhundert reicht ein Bewusstsein für das gestörte ökologische Gleichgewicht als Folge der Industrialisierung nicht aus, wie Barack Obama in seiner GLACIER-Rede deutlich macht: „Last year, for the first time in our history, the global economy grew and global carbon emissions stayed flat. So we’re making progress; we’re just not making fast enough.“37 Schon zu Beginn der Industrialisierung war also die Zerstörung von Natur und Umwelt von einem großen Paradox

Amerikanische Landschaft

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96  Thomas Cole: River in the Catskills, Öl auf Leinwand, 1843, Boston, Museum of Fine Arts

begleitet, das noch heute alle Maßnahmen, den Klimawandel zu stoppen, überschattet. Erst die Vernichtung der Wälder führte zu ihrer Wertschätzung: „appreciation of wilderness began in the cities“38 – die Furcht vor ihrer Vernichtung, so Tocqueville, macht Natur begehrenswerter. Das Gefühl von Verlust durch Zerstörung der als unberührt aufgefassten Natur im Zuge der Industrialisierung führte zum Konzept der „wilderness“, der amerikanischen Spielart des Sublimen, die zum Mythos wird und deren Erhaltung und Kultivierung in die Errichtung von Nationalparks mündet.39 Landschaftsmaler in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts reagierten, wie Thomas Cole, Begründer der Hudson River School, auf das Wüten der Äxte mit Gemälden, welche die alten Bäume in panoramatischen Landschaftsansichten wieder auferstehen ließen. In anderen Gemälden wird Wildnis als Naturgeschichte aufgerufen.40 Die uralten, von Stürmen heimgesuchten Bäume werden zum Wahrzeichen einer Urgeschichte Amerikas stilisiert und mit Baumstümpfen konfrontiert, welche die Vernichtung von Wildnis durch Rodungen der Wälder als Symbol für die Nichtung der Geschichte ausweisen. In den stillen Bildern, welche Baumstümpfe in den Vordergrund einer pastoralen Landschaft unter leichtbewölktem Himmel rücken, fand Cole zu seinem neuen, horizontal angelegten Kompositionsstil (Abb. 96). Der Kahlschlag im Vordergrund wird zur sichtbaren Wunde einer elegisch aufgefassten, weiten Naturschönheit, die das fühlende Subjekt erleidet. Im Hintergrund quert eine dampfende Lokomotive den Fluss: „they are cutting down all the trees in the beautiful valley on which I have looked so often with a loving eye“, schreibt Cole an seinen Auftraggeber. „If I live to be old enough, I may sit down under some bush, the last left in the utilitarian world [...].“41

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97  George Catlin: Zeltlager der Ojibwa, Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum

Die Nationalpark-Idee Mit der Entdeckung und Wahrnehmung der mannigfaltigen Natur konstituierte sich zugleich eine nationale Identität, die man in Wäldern und Bergformationen der Wildnis fand.42 Landschaft in Form von „wilderness“ begann die fehlende nationale Kulturgeschichte Amerikas zu ersetzen, gewissermaßen als Kompensation für die Antike, welche die europäischen Siedler­ Innen verlassen hatten. Uralte Bäume und Felsen wurden zu Monumenten, welche die nicht vorhandenen antiken Bauwerke beglichen. Die Bedrohung des unkultivierten Landes und seiner indigenen EinwohnerInnen durch die die Industrialisierung vorantreibenden SiedlerInnen gab nun auch Anlass, nach Maßnahmen zu deren Schutz und Bewahrung zu suchen. Auch wenn die blutige Geschichte der Entrechtung und Entmachtung der indigenen Bevölkerung im 19. Jahrhundert durch den Strom der aus Europa kommenden SiedlerInnen bekannter ist als das Eintreten für ihren Erhalt und ihre Rechte – es gab auch Amerikaner, wie den Maler George Catlin, der sich für die IndianerInnen, ihre angestammten Territorien und ihre kulturellen Traditionen einsetzten. Catlin war nicht nur derjenige, der die ersten Indianerporträts malte und 1837 in seiner Indian Gallery in New York ausstellte. Mit seinem Namen verbindet man auch die Idee des Nationalparks, die 1872 mit der Gründung des Yellowstone National Park erstmalig umgesetzt wurde.43

Obama Crossing the Resurrection Bay

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Für die Frage nach bildkulturellen Kontexten für Obamas Selbstdarstellung am Bear Glacier im Kenai Nationalpark ist auch der Rückblick auf diese erste Nationalpark-Idee und ihre befürwortenden Argumente von Interesse. Es begann damit, dass Catlin die von den Kolonialherren bedrohten UreinwohnerInnen Amerikas mit seinen Gemälden und Beschreibungen ihrer Kultur vor dem Vergessen bewahren wollte, ein Bildakt sui generis (Abb. 97).44 In der „lofty and noble race“ der Indigenen sah Catlin ein moralisches Vorbild, das die Aufklärung in der Figur des „edlen Wilden“ konzeptualisiert hatte. Er beklagt die Indigenen als Opfer der „weißen Männer“, die mit ihren Pflügen unbefugt ihr Land eingenommen, sie mit ihrer Habgier und ihrem vom Whiskey verwirrten Geist ausgerottet und den verbleibenden Rest in die Abhängigkeit getrieben hatten. Catlin betrauert mit ihnen den nicht mehr aufzuhaltenden Wohlstand der Zivilisation, der zugleich den Verlust der unberührten Natur bedeute, und beklagte „like Caius on the ruins of Carthage, their splendid desolation“.45 Das Dilemma der „prachtvollen Verwüstung“ des indigenen Kulturlandes lässt Catlins Plan eines National Parks reifen: „What a splendid contemplation too, when one [...] imagines them as they might in future be seen, (by some great protecting policy or government) preserved in their pristine beauty and wildness, in a magnificent park, where the world could see for ages to come, the native Indian in his classic attire [...]. A nation’s Park containing man and beast, in all the wildness and freshness of their nature’s beauty!“46 Nicht unbescheiden fügt er hinzu, dass er in das kollektive Gedächtnis als „Gründer einer solchen Institution“ einzugehen wünscht. Der erste Nationalpark, der Yellowstone National Park, wurde 1872 von dem amerikanischen Präsidenten Ulysses S. Grant (1869–1877) außer aus Gründen des Schutzes der Natur vor Goldsuchern, Siedlern und Trappern mit einem ganz anderen Anliegen gegründet: „as a public park or pleasuring ground for the benefit and enjoyment of the people“.47 Fast zweihundert Jahre nach der Erfindung des Nationalparks tritt ein amerikanischer Präsident wieder für dessen ursprüngliche Idee ein, die indigenen BewohnerInnen sowie die einzigartige Flora und Fauna Alaskas vor dem Klimawandel zu schützen. Wie Catlin möchte Barack Obama mit Naturschutz- als Kulturschutzmaßnahmen in die Geschichte Amerikas eingehen. Wie Catlin tritt er für den Erhalt des Lebensraums der indigenen Bevölkerung ein, indem er sie wörtlich vor ihrem Untergang bewahren will. Um dieses Anliegen in der Welt zu verbreiten, bedarf es eines Bildmotivs, das sich aus der Kunstgeschichte speist.

Obama Crossing the Resurrection Bay Ein Gemälde im New Yorker Metropolitan Museum, das als die Ikone der amerikanischen Nationalgeschichte gilt und einem der Mona Lisa gleichen Bekanntheitsgrad in Amerika genießt, wurde ebenfalls von den präsidialen „stage-crafters“ in das Bildmotiv Obama Crossing the Resurrection Bay eingelassen: das Monumentalgemälde Washington Crossing the Delaware, das der deutsch-amerikanische Maler Emanuel Gottlieb Leutze 1850 in Düsseldorf zu malen begann und 1851/1852 in Washington ausstellte (Abb. 93 und 98).48 Die Variante B des Bildmotivs Obama Crossing the Resurrection Bay zitiert die Figur des am Bug stehenden Präsidenten,

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98  Emanuel Leutze: Washington Crossing the Delaware, Öl auf Leinwand, 1851, New York, Metropolitan Museum

die Fahrtrichtung des Schiffes, und spielt auf die eiskalte Winterlandschaft in Leutzes Gemälde an. Dort überquert, am Bug eines Ruderboots stehend, General George Washington den Eisschollen führenden Delaware, um die kurze, aber entscheidende Schlacht von Trenton im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu führen, ein Überraschungsangriff in der Nacht auf den 26. Dezember 1776 gegen die auf Seiten der Briten kämpfenden hessischen Söldnertruppen.49 Nach monatelangen Niederlagen der amerikanischen Armee, sinkender Kampfmoral und wachsendem Zweifel an den Erfolgsaussichten, bedeutete der Sieg in Trenton die Wende im Verlauf des Krieges, der erst 1783 mit der Unterzeichnung des Friedens von Paris beendet war. Gottlieb Emanuel Leutze wanderte 1825 mit seinen Eltern nach Amerika aus und kam 1841 zurück nach Deutschland, um in Düsseldorf sein Studium der Malerei weiterzuführen. Er begann eine erste Version des Gemäldes 1849 in Düsseldorf, das im selben Jahr bei einem Atelierbrand zerstört wurde, und beendete 1851 eine zweite Version.50 In dem Boot begleiten 13 Amerikaner, die mit ihrer Kleidung auf die 13 Staaten anspielen, welche ihre Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht erklärt haben, General Washington und Lieutenant James Monroe, der die amerikanische Flagge hält. Alle Figuren äußern eine feste Entschlossenheit, trotz der widrigen Wetterumstände zügig ans andere Ufer zu gelangen, um zusammen mit ihren Kameraden, die in weiteren Booten über den Fluss rudern, den Kampf um die Freiheit Amerikas aufzunehmen und zu gewinnen. Während seiner Amtszeit hatte Barack Obama eine im Maßstab verkleinerte Kopie von Leutzes Gemälde vor Augen, wenn er im West Wing des White House die Empfangslobby betrat.

Bildvisionen von der Weltheilung

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Auf den Sieg von Trenton haben sich viele amerikanische Präsidenten berufen. Barack Obama erinnerte 2008 während der Finanzkrise an „that first American Christmas“ und Washingtons Truppen, die damals optimistisch und aktiv waren und in einer aussichtslos scheinenden Situation auf sich vertrauten: „We have crossed many rivers as a people.“51 Obama bezog sich ein weiteres Mal auf das Ereignis, in seiner Antrittsrede vom 20. Januar 2009, die mit dem Einschwören der amerikanischen Nation auf den Ursprung ihrer Geschichte endet. Um zu wissen, „who we are and how far we have traveled“, müsse man sich an „the year of Americas birth“ erinnern, als „in the coldest of months […] the father of our nation ordered these words to be read to the people: ,Let it be told to the future world … that in the depth of winter, when nothing but hope and virtue could survive … that the city and the country, alarmed at one common danger, came forth to meet [it]‘.“52 Jutta Ernst sieht in diesem Schlussteil der Rede die Verankerung von Obamas Präsidentschaft in dem Ursprungsmythos der Vereinigten Staaten, der eben mit Washingtons Überquerung des vereisten Delaware an jenem Weihnachtsmorgen des Jahres 1771 begann. Jeder Amerikaner kennt Leutzes Monumentalgemälde im Metropolitan Museum in New York. Es ist Ziel von Schulklassen, es ist wie die Mona Lisa auf Briefmarken, T-Shirts und Kaffeebechern abgebildet, ein politischer Bildagent, eine Ikone nationaler Identität, deren Bekanntheitsgrad und Präsenz in der visuellen Kultur Amerikas Präsident Obama für seinen Kampf gegen den Klimawandel nutzt und die zugleich der Ikonografie seines historischen Andenkens dienen sollte. Mit Obama Crossing the Resurrection Bay setzt der Präsident auf das Potenzial eines berühmten Vorbildes, das mit seiner Person sowohl die revolutionären Anfänge Amerikas als auch seine Leadership in einer schwierigen Mission, nämlich den Stopp des weltweiten Klimawandels zu erreichen, verbinden und in die Geschichte eingehen lassen soll.

Bildvisionen von der Weltheilung Um einen solchen Bildagenten zu kreieren und viral im Internet zu verbreiten braucht es neue Techniken der Bildkomposition und Medien mit größtmöglicher Reichweite. Das Herausgreifen von Einzelmotiven aus der Kunstgeschichte,53 das Zusammenführen dieser Motive, die Veränderung bzw. Passung auf den gegebenen politischen Kontext und das Hinzufügen von medienästhetischer Aktualität ist hier das Ergebnis einer komplexen digitalen Bildkomposition, die gleich aus mehreren Kunstgeschichten schöpft und auf eine Ästhetik zurückgreift, in der Mensch, Natur und Kunst noch das heilsgeschichtliche Ideal von Reinheit und Schönheit zur Anschauung bringen sollten: die Romantik. Obamas digital erzeugten Bildvisionen des Bear Glacier, in den Varianten A und B, ist die letzte amtspolitische Präsidialagenda als Heilsvision eingebildet: Der mächtigste Mann der Welt wird dieselbe von ihren industriell verursachten Verletzungen heilen (wollen). Der astralblaue Himmel über der Gletscherlandschaft, der Mensch und Kosmos vereint, weist auf eine Zukunft, die paradoxerweise in der Vergangenheit gesucht wird, ein nicht mehr zu erreichender Status ante. Das Schicksal wollte jedoch, dass es ganz anders kommt. Obamas Amtsnachfolger Donald Trump setzt alles in Bewegung, um die Retrovision einer heilen Natur zunichte zu machen. Am

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11  Kunstakte und Bildakte

99  Donald Trump unterzeichnet am 4.12. 2017 in Salt Lake City ein Dekret, das die Verkleinerung zweier Nationalparks im US Bundesstaat Utah zum Inhalt hat (AP Photo Rick Bowmer)

4. Dezember 2017 sieht man ihn in allen Medien, wie er in Salt Lake City ein Dekret hochhält, dass die Verkleinerung zweier National Parks im US Staat Utah um 5.000 Quadratkilometer verfügt (Abb. 99).54 Gleich über dem grinsenden Gesicht des Präsidenten wurde eine alte Frau indigener Herkunft platziert. Sie blickt ernst zur Seite und vermag nicht wie die beistehenden Politiker Beifall zu spenden. Es ist nicht bekannt, wie man sie dazu gebracht hat, auf einem Foto durch ihre Anwesenheit ein Dekret zu bezeugen, das sich nicht nur gegen den Kultur- und Naturschutz der Nationalpark-Idee aus dem 19. Jahrhundert richtet, sondern vor allem gegen die Klimaschutzziele der Welt, vertreten durch den politischen Gegner, insbesondere Barack Obama, Stellung bezieht. Das triumphale Grinsen des Präsidenten ist folglich nicht anders als eine Pose der Macht zu deuten, die der Welt zeigt, von wem sie regiert wird. Die Bilder, die seit Donald Trumps Amtseinführung viral kursieren, zeigen die in den Nationalparks bewahrte Schönheit der amerikanischen Wildnis bereits im Tempus der Vergangenheit. Die Welt lernt heute daraus, dass man sie mit Bildern nicht heilen kann und dass es auch keine Kunst braucht, um Macht auszuüben.

Kunstakt versus Bildakt

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Kunstakt versus Bildakt Vergleichen wir zum Schluss die beiden hier analysierten Bildakte. Im Fall der Mona-Lisa-Mission haben wir einen Kunstakt sui generis. Er bedarf eines in der westlichen Welt berühmten Gemäldes, das als Stellvertreter machtpolitisch instrumentalisiert wird, ein historisch singuläres Ereignis, das sich in dieser Form wohl nicht mehr wiederholen wird. Dieser Bildakt mit Kunstoriginal vereint, wie oben ausgeführt, alle drei Bredekamp’schen Kategorien in sich – und man kann hier die These wagen, dass es nur einem Bildobjekt im Rang der kanonischen Kunst (Meisterwerk) gelingt bzw. gelang, eine derartige Wirk- und Handlungsmacht zu erzielen. Im zweiten Fall haben wir es mit Bildakten ganz neuen Stils zu tun. Die wesentliche Voraussetzung für die politische Wirkkraft, welche die hier analysierten Bilder entfalten sollen, liegt in der Bildtechnik, genauer in der Möglichkeit, Bilder massenhaft zu verbreiten. Die digitale Bildtechnik stellt Distributionspotenzial und Bildästhetik bereit, die alle bis dato entwickelten Bildmedien übertreffen, jedenfalls an Form, Farbe, Schärfe und Leuchtkraft. Bilder können durch Bearbeitungsprogramme optimiert werden, und die Verbreitungskanäle von Bildern (u. a. Facebook, Google, Instagram) übertreffen andere Medien bei Weitem. Kunst und eine durch Kunst geprägte Ästhetik tritt jetzt nur noch in der Funktion eines Referenzrahmens auf, der in einer Vergangenheit liegt, über die nur wenige noch etwas wissen (wollen). Kunst wird nicht zitiert, sondern nur mehr alludiert. In der Anspielungspraxis zeitgenössischer politischer Bildakte ist Kunst als das eine Original ohne Bedeutung für die Wirkkraft des Bildes. Es ist völlig unerheblich, ob die Betrachter die Referenzen auf die verschiedenen, in der Analyse herausgearbeiteten Kunststile erkennen. Die Kenntnis der Kunstgeschichte kann in der intendierten Massenrezeption nicht Voraussetzung sein, denn ihre Kenntnis ist elitär – und genau dies widerstrebt den digitalen Bildakten. Diese Art von Bildakt verfolgt nun die folgende Strategie: Er bedient sich kunsthistorischer Stile und bearbeitet diese nach Maßgabe einer aktuellen Ästhetik, um sie für eine genau kalkulierte Bildaussage maßzuschneidern. Heraus kommt dabei ein digitales Pasticcio, das den Massengeschmack trifft und die Originale der Kunst entwertet. Kunst und ihre Geschichte sind die Wurzeln des digitalen Bildakts, die unter der leuchtenden Oberfläche der Screens begraben liegen. Kunstakt und Bildakt gehören folglich in zwei voneinander zu unterscheidende Kategorien.

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11  Kunstakte und Bildakte

Endnoten 1 Den Staatsakt mit Mona Lisa dokumentiert und kommentiert ausführlich Frank Zöllner: Leonardos Mona Lisa 1963. Kunst und Kalter Krieg, in: Thomas W. Gaethgens (Hg.): Künstlerischer Austausch / Artistic Exchange, Akten des XXVIII. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Berlin 1992, Bd. III, Berlin 1993, S. 75–88 und Michael Lüthy: Andy Warhol. Thirty are better than one, Frankfurt a. M./Leipzig 1995, hier S. 13–24. 2 Lüthy: Andy Warhol, S. 18; siehe zur politischen Situation, die dem Staatsakt vorausging, ebd., S. 16–22 und ausführlich Zöllner: Leonardos Mona Lisa 1963, S. 76–79. Ich beziehe mich im Folgenden auf die dort abgedruckten Quellen. 3 Siehe ausführlich Zöllner: Leonardos Mona Lisa 1963, S. 79. 4 Das Zitat aus Malraux’ Rede, in Le Monde vom 10.01.1963, ebd., S. 85–86, Fußnote 29. 5 Ebd., S. 86, Fußnote 32. 6 Zitate aus der Rede, ebd. S. 86, Fußnote 33 und 34. 7 Ebd., Fußnote 33. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010; aus der Perspektive der Personen und Institutionen, die Bilder für politische Zwecke instrumentalisieren siehe Annette Vowinckel: Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. 11 Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 52. 12 Ebd., S. 52–53. 13 Siehe dazu meine Argumentation in Kapitel 2: „Alles kann Kunst sein“. 14 Siehe die, wie in Kapitel 2 ausgeführt, heftig geführte Diskussion: Art vs. Image. Bild vs. Kunst, in Texte zur Kunst, 24/95 (2014) oder in: Kunstchronik, 67/7 (2014). 15 Siehe das Kapitel „Demontage eines Kunstfetischs“ in: Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998, S. 310–332. 16 Das Zitat von Malraux in Belting: Das unsichtbare Meisterwerk, S. 329. 17 Zum Folgenden siehe Lüthy: Andy Warhol; Belting: Das unsichtbare Meisterwerk, S. 310–332. 18 Lüthy: Andy Warhol, S. 22. 19 Ebd., S. 23. 20 Siehe den Wortlaut von Barack Obamas Rede am 31.08.2015 in Anchorage vor den Teilnehmern der GLACIER Conference unter https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/2015/09/01/remarkspresident-glacier-conference-anchorage-ak, ohne Paginierung (letzter Zugriff 15.12.2017). 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Siehe unter vielen anderen Websites Medium, die Website des White House, auf der die Reise nach Art eines Leporellos dokumentiert ist, unter https://medium.com/@ObamaWhiteHouse/behind-the-lensphotographing-alaska-for-real-this-time-2f466ddf8f7d (letzter Zugriff 01.10.2017). 24 https://obamawhitehouse.archives.gov/sites/default/files/microsites/ostp/09-16-2015_jph_on_potus_trip_to_ the_arctic_final.pdf (letzter Zugriff 14.8.2020) 25 https://newsela-test-files-f331e.s3.amazonaws.com/article_media/2015/09/obama-mckinley-43333280.jpg (letzter Zugriff 14.8.2020) 26 Steven Mufson: Obama visits receeding glaciers, in: The Washington Post, 01.09.2015; https:// www.washingtonpost.com/politics/obama-visits-receding-glacier-in-alaska-to-highlight-climatechange/2015/09/01/dfacfe1e-50f6-11e5-9812-92d5948a40f8_story.html?utm_term=.0ca738dbda26 (letzter Zugriff 27.09.2017). 27 Siehe Barack Obamas Glacier-Rede vom 31.8.2015. 28 Jim Acosta: Glacier, Alaska bay boat tour frame Obama’s climate change message, in: CNN Politics, vom 02.09.2015; http://edition.cnn.com/2015/09/02/politics/obama-alaska-glacier-boat-tour/index.html (letzter Zugriff 27.09.2017). 29 Siehe die Beispiele im Bildband von John Bredar: Die Macht der Bilder. Amerikanische Präsidenten und ihre Inszenierung, Hamburg 2011; das Foto auf S. 191 inszeniert Barack Obama als Rückenfigur am Fenster des Weißen Hauses nach Art von Caspar David Friedrichs Frau am Fenster, 1822, Öl auf Leinwand, Alte Nationalgalerie, Berlin.

Endnoten

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30 Barbara Novak: Nature and Culture. American Landscape and Painting 1825–1875, London 1980, S. 255–273. 31 Caspar David Friedrich: Äußerungen bei Betrachtung von Gemählden von größtenteils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern, bearb. v. Gerhard Eimer und Günther Rath, Frankfurt a. M. 1999, S. 104. Die hochkomplexe künstlerische Produktion dieser Wirkungsästhetik untersucht Joseph Leo Koerner: Caspar David Friedrich and the Subject of Landscape, London 1990. 32 Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen, hg. v. Alfred Anger, Stuttgart 1979, S. 28. 33 Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt a. M. 2003, S. 143. 34 Zur Rezeption der deutschen Romantik (Carus, Friedrich, Schelling) in der die amerikanische Landschaftsmalerei begründenden Hudson River School siehe Ortrud Westheider: Kunst und Wissenschaft. Die Hudson River School und die deutsche Romantik, in: Elizabeth Mankin Kornhauser (Hg.): Neue Welt. Die Erfindung der amerikanischen Malerei, AK Bucerius Kunst Forum, Staatsgalerie Stuttgart, München 2007, S. 67–77. 35 Das Zitat in Novak: Nature and Culture, S. 157. 36 Alexis de Tocqueville: Journey to America, zit. n. ebd., S. 159. 37 Siehe Barack Obamas Glacier-Rede vom 31.08.2015. 38 Tocqueville: Journey to America, S. 160. 39 Sabine Wilke: How German is the American West? The Legacy of Caspar David Friedrich’s Visual Poetics in American Landscape Painting, in: Thomas Patin (Hg.): The Visual Poetics of National Parks, University of Minnesota Press 2012, S. 100–118, hier S. 103–105. 40 Martin Christadler: Romantic Landscape Painting in America. History as Nature, Nature as History, in: Thomas W. Gaethgens / Heinz Ickstadt (Hg.): America Icons. Transatlantic Perspectives in Eighteenth- and Nineteenth-Century Art, Santa Monica 1992, S. 93–117. 41 Novak: Nature and Culture, S. 164. 42 Siehe die Beiträge in Patin (Hg.): The Visual Poetics, vor allem Thomas Patin: Introduction, in: ders. (Hg.): The Visual Poetics, S. ix–xxxvi und S. xxiii, Fußnote 8 mit weiterführender Literatur zur Geschichte der amerikanischen Nationalparks. 43 Albert Boime: George Catlin’s Wilderness Utopia, in: Patin (Hg.): The Visual Poetics, S. 207–228. 44 Ebd., S. 212–213; Boime zitiert aus Catlins zweibändigen Letters and Notes on the Manners, Customs, and Conditions of the North American Indians. 45 Ebd., S. 225. 46 Ebd., S. 225. 47 Lary M. Dilsaver (Hg.): America’s National Park System: The Critical Documents, Lanham/New York 2016, S. 20. 48 Zur Geschichte dieses Gemäldes siehe zuletzt Jochen Wierich: Grand Themes: Emanuel Leutze, Washington Crossing the Delaware, and American History Painting, University Park, Pa. 2012. 49 David Bonk: Trenton and Princeton 1776–1777: Washington Crosses the Delaware, New York 2009. 50 Barbara S. Groseclose: Emanuel Leutze, 1816–1868. A German-American history painter, Ann Arbor, Michigan 1973. 51 Jutta Ernst: Washington Crossing the Media: American Presidential Rhetoric and Cultural Iconography, in: European Journal of America Studies [Online], 7/2 (2012), S. 2–11, hier S. 3. https://journals.openedition.org/ ejas/9527 (letzter Zugriff 08.10.2017). 52 Ebd., S. 4. 53 Auf diese Weise bleibt Kunstgeschichte im Gedächtnis der digitalisierten Kultur: „Was nicht dauert, verwendet und erneuert wird, das verschwindet“ beziehungsweise es versinkt „in einem unendlichen Archiv, zur nichtrealisierten Potenz, bis es jemand wieder aktiviert, Lebensenergie hineinsteckt, es so aus seinem Dornröschenschlaf erweckt und in einen neuen aktuellen Sinnzusammenhang einbaut“, zit. n. Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Frankfurt a. M. 2016, S. 128. 54 https://www.nytimes.com/2017/12/04/us/trump-bears-ears.html (letzter Zugriff 06.04.2018).

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12  WIEDERHOLEN, WIEDER HOLEN „Because humanity had survived, it could not refuse to its own past the means of its survival.“ Chris Marker, La Jetée, 1962 Wer 2012 auf der documenta 13 die Eingangshalle des Fridericianums betrat, befand sich zu seiner Überraschung in einem weitgehend leeren White Cube, genauer: einem White Cube mit einer einzigen Glasvitrine, in der Kunstobjekte, drei Skulpturen des katalanischen Bildhauers Julio González, zu sehen waren (Abb. 100, siehe linke Seite).1 Hatte Roger Buergel 2007 die BesucherInnen der documenta 12 mit ihrem lebendigen Spiegelbild begrüßt, so erlebte man fünf Jahre später diese Bildaskese. Neben der Vitrine mit González’ Eisenskulpturen sah man ein gerahmtes Foto, das eben jene drei Skulpturen von González auf einem Eisensockel (ohne Glas) an demselben Ort, genau 53 Jahre früher zeigte, nämlich auf der documenta 2 von 1959. Die BesucherInnen der documenta 13 standen im Sommer 2012 in der Eingangshalle des Fridericianums, betrachteten die González-Skulpturen und das Foto derselben Skulpturen mitsamt den beiden Besuchern der documenta 2. Wer alt genug war, erlebte ein Déjà-vu. Die Installation begrüßte die BesucherInnen mit einer Geste der zweifachen Wiederholung im doppelten Wortsinn: Sie wiederholte eine historische Ausstellungssituation mit einer Wieder-Holung, einer Re-Präsentation, die Vergangenes wieder präsent machen sollte. Die documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev baute mit dieser Wieder-Holung eine zeitliche und räumliche Brücke zwischen der documenta 2 aus dem Jahr 1959 und der von ihr geleiteten documenta 13 des Jahres 2012. 53 Jahre waren vergangen und die González-Skulpturen standen nun wieder an dem Ort, an den sie Arnold Bode 1959 gestellt hatte. Diese Wieder-Holung war für viele documenta-BesucherInnen eine Provokation. Schließlich war man gekommen, um die weltweit neuesten Positionen der Kunst zu sehen. Anstatt die BesucherInnen mit Neuem und Originellem zu überraschen, wurden sie wider Erwarten mit Altem und Vertrautem konfrontiert. Nichts Neues? „Die Wiederholung ändert nichts am sich wiederholenden Objekt, sie ändert aber etwas im Geist, der sie betrachtet“, zitiert Gilles Deleuze David Hume in Differenz und Wiederholung und leitet aus diesem Satz seine Begründung ab, die jede Wiederholung als etwas Neues bestimmt: „Es gibt in der Geschichte keine Wiederholungstatsachen, die Wiederholung ist vielmehr die historische Bedingung, unter der etwas Neues wirklich entsteht. [...] Wir bringen Neues nur unter der Bedingung hervor, daß wir das eine Mal im Modus, durch den die Vergangenheit gebildet wird, wiederholen, ein anderes Mal in der Gegenwart der Metamorphose.“2

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12  Wiederholen, wieder holen

101  Fotografie der Vitrine mit Skulpturen von Julio González im Eingangsraum des Fridericinamus der von Arnold Bode kuratierten documenta 2, 1959

Die Wiederbegegnung mit alten, teilweise sehr alten Kunst- bzw. Kulturgegenständen kündigte sich am Eingang des Fridericianums bereits als Leitmotiv der documenta 13 an. Welches Motiv leitete die Geste der Wiederholung im Kontext einer gegenwärtigen Bildkultur, die unter den Begriffen Rekurse, Reinszenierungen, Reenactments und Déjà-vus diskutiert wird?3 Ein Text, den Carolyn Christov-Bakargiev im Jahr 2009, drei Jahre vor der Eröffnung der documenta, als online-Publikation für das Artmagazine Mousse geschrieben hatte, wird diese Fragen beantworten helfen. Der knapp vierseitige Text war die allererste Äußerung, eine erste Ideenskizze der im Dezember 2008 berufenen documenta-Chefin zu ihrem Großprojekt. Er trägt den Titel An Image / Un’immagine: Notes towards documenta 13, bezieht sich auf das Foto neben der Vitrine (Abb. 101) und beginnt mit den folgenden Worten: „This is an image that I found while hunting through the documenta archives.“4 Der Text trägt die Züge eines Brainstormings, er ist hochgradig assoziativ, intuitiv und zeigt die designierte documenta-Leiterin, wie sie sich auf den Weg macht, zeigt ihre Suche, Ahnungen, Fragen, Erinnerungen und ihre Referenzen als einen ersten Pfad auf dem Weg zur Weltausstellung der Kunst im Jahr 2012.

Erinnerungsbilder

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Laut Vilém Flusser ist diese „Geste des Suchens, bei der man vorher nicht weiß, was man sucht, diese tastende Geste, die ‚wissenschaftliche Methode‘ genannt wird, [...] das Paradigma aller unserer Gesten“.5 Die Wiederholung der González-Skulpturen gehört in die Reihe der Gesten, für die Flusser ein „neues Modell der Zeit“6 entworfen hat, die sich auch auf die historische Forschung auswirkt. Die kuratorische Geste verkörpert das Paradigma einer „neuen historischen Wissenschaft des In-der-Welt-Seins“,7 wie sie Flusser geplant hat.

Erinnerungsbilder Begeben wir uns also auf diese ersten Spuren der letzten documenta mit der Lektüre dieses Textes, in die ich Deleuzes’ aus einer Philosophie der drei Zeiten – Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft – abgeleiteten Wesensbestimmung der Wiederholung als Zwischenrufe einfädeln werde.8 Unter den documenta-13-Texten ist dieser Text besonders interessant, weil er, wenn auch nur kursorisch, Hinweise enthält, die von grundsätzlicher Bedeutung für das kuratorische Handeln am Anfang des 21. Jahrhunderts sind. Christov-Bakargiev nahm als Ausgangspunkt, wie erwähnt, das Foto mit den beiden Besuchern vor den González-Skulpturen und erinnert in ihrem Text zunächst an eine ganze Reihe von politischen und kulturellen Ereignissen des Jahres 1959, die sie, übrigens auf Wikipedia, unter dem Stichwort „1959“ fand.9 Am 11. Juli 1959 eröffnete die zweite documenta mit dem Schwerpunkt „Kunst nach 1945“, doch González war bereits 1942 verstorben – aber, so meint Christov-Bakargiev, es ist wichtig für das Verständnis von aktueller Kunst, dass sie immer auch Kunst der Vergangenheit enthält.10 Auch Vergangenheit war einmal Gegenwart – Deleuze: „Nun wird die frühere Gegenwart nicht in der aktuellen repräsentiert, ohne daß die aktuelle selbst in dieser Repräsentation repräsentiert ist. [...] Frühere und aktuelle Gegenwart entsprechen also nicht zwei sukzessiven Augenblicken auf der Geraden der Zeit, die aktuelle Gegenwart enthält vielmehr notwendig eine zusätzliche Dimension, in der sie die frühere re-präsentiert und in der sie auch sich selbst repräsentiert.“11 Das Foto eines unbekannten Fotografen, der die beiden Besucher vor den González-Skulpturen aufnahm, wohl ohne dass diese etwas davon bemerkten, hatte eine enorme Wirkung auf die documenta-Chefin des Jahres 2012. Je mehr sie sich mit dem Archiv-Fund beschäftigte, desto zahlreicher wurden die Assoziationen, die das Foto bei ihr auslösten, desto tiefer die Erinnerungen an Bilder, Texte und Ereignisse, die sie mit dem Bild verknüpft – Deleuze: „Die aktuelle Gegenwart wird nicht als künftiger Gegenstand einer Erinnerung behandelt, sondern als dasjenige, was sich reflektiert und dabei gleichzeitig die Erinnerung der früheren Gegenwart bildet.“12 Auf dem Foto bemerkt sie einen schmutzigen, rauen Fußboden. Die Bewegungen der Frau findet sie merkwürdig, so als ob diese sich von dem Herrn, der auf sie zugeht, ab- und zu den Kunstwerken hinwendet. Mit der Hand vor den Mund drücke die Frau Aufmerksamkeit, aber auch Ratlosigkeit oder Überraschung aus. Ferner, so liest man in dem Text, gehe von dem Foto ein Impuls aus, der zur nächsten Szene führt, in der sich der Mann und die Frau über die

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12  Wiederholen, wieder holen

102a  Chris Marker: La Jetée, 1962, Fotofilm, Erinnerungsbild des jungen Protagonisten mit dem Gesicht der Frau

102b  Chris Marker: La Jetée, 1962, Experiment in den Katakomben von Paris

Kunst von González unterhalten. Sie nennt González’ Kunstwerke ein „device“ (Instrument), das diese Begegnung, diese Unterhaltung ermöglichte.13 Das Foto erinnert sie an Chris Marker’s Fotofilm La Jetée, der Gang ins Archiv löst Blockaden – Deleuze liest Freud: „Ich wiederhole nicht, weil ich verdränge. Ich verdränge, weil ich wiederhole, ich vergesse, weil ich wiederhole. Ich verdränge, weil ich zunächst manche Dinge oder manche Erfahrung nur im Modus der Wiederholung erleben kann. [...] Von Anfang an betonte Freud, daß es zur Unterbrechung der Wiederholung nicht genügte, sich abstrakt (ohne Affekt) zu erinnern oder einen Begriff überhaupt zu bilden oder sich das verdrängte Ereignis in seiner ganzen Besonderheit vorzustellen: Man mußte vielmehr die Erinnerung an ihrer ursprünglichen Stelle aufsuchen, sich sofort in der Vergangenheit einrichten, um die lebendige Verbindung zwischen Wissen und Widerstand, Vorstellung und Blockierung herzustellen.“14 In dem Film La Jetée, so liest man weiter in dem Text der documenta-Leiterin, benutzt der Protagonist ein Bild, um in die Vergangenheit zu reisen. Christov-Bakargiev erinnert sich hier an eine Schlüsselszene in Markers Fotofilm aus dem Jahr 1962. Christian-François Bouche-Villeneuve (1921-2012), der sich Chris Marker nannte, machte mit La Jetée (Am Rande des Rollfelds) einen Film, dessen Handlung in einer Sequenz von Fotos abläuft.15 Der 1962 entstandene Fotofilm La Jetée fingiert eine Handlung, die nach der Zerstörung von Paris in einem III. Weltkrieg spielt, und nimmt damit Bezug auf eine sehr reale und durchaus begründete Furcht vor einem weiteren Weltkrieg als Folge des Kalten Krieges und der Kubakrise in demselben Jahr 1962. Es beginnt mit einer Szene auf der Aussichtsplattform La Jetée am Flughafen Orly, wohin man damals an Sonntagen Ausflüge mit den Kindern machte, um Flugzeuge zu beobachten. Das Bild eines Jungen in kurzen Hosen, es ist der Protagonist, erscheint, das Gesicht einer Frau, Bilder mit Besuchern, Flugzeugen, Stewardessen auf dem Rollfeld. Aus dem Off kommentiert die elegische Stimme eines auktorialen Erzählers die Szene: „On this particular Sunday, the child whose story we are telling was bound to remember the frozen sun, the setting at the end of the jetty, and a woman’s face. [...] That face he had seen was to be the only peacetime image to survive the war. Had he really seen it? Or had he invented that tender moment to prop up the madness to come?“16

Erinnerungsbilder

102c Chris Marker: La Jetée, 1962, Erinnerungsbild des Protagonisten: Frau auf einer Wiese

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102d Chris Marker: La Jetée, 1962, Erinnerungsbild des Protagonisten: kopflose Statue.

Das Erinnerungsbild des Jungen spielt eine wichtige Rolle in dem Fotofilm (Abb. 102a).17 Nach einer langen Einstellung auf das Gesicht der Frau wechseln die Bilder schneller, die Frau hält sich die Hände vor das Gesicht, Menschen, die sich aufgeregt umwenden, ohrenbetäubender Lärm, ein Flugzeug, das Bild verschwimmt – dann: die schwarze Leinwand. Und die Stimme aus dem Off kommentiert: „Later, he knew he had seen a man die. And sometime after came the destruction of Paris.“18 Es folgt eine Sequenz von Bildern des vom Krieg zerbombten Paris, die von den klagenden Chorälen am Ostersamstag in der Alexander-Newski Kathedrale begleitet werden. Die wenigen Überlebenden wohnen in unterirdischen Gängen und Kellern. Einige deutschsprachige Wissenschaftler führen Experimente durch, die es ermöglichen sollen, als Gefangene gehaltene Überlebende in die Zukunft reisen zu lassen, da sie dort etwas finden werden – Nahrung, Medizin, Energie –, das ihnen das Überleben nach der Katastrophe sichern hilft. Das ist ein interessantes Konzept für eine Zeitreise: Überlebende des 3. Weltkriegs sollen in die Zukunft reisen, um von dort Überlebenstechnologien in die Gegenwart zu holen19 – Deleuze: „Die Synthese der Zeit bildet die Gegenwart in der Zeit. Nicht daß die Gegenwart eine Dimension der Zeit wäre. Allein die Gegenwart existiert. Die Synthese bildet die Zeit als lebendige Gegenwart und Vergangenheit und Zukunft als Dimensionen dieser Gegenwart.“20 Wenn es eine Zukunft, d. h. nach der Katastrophe noch Leben auf der Erde gibt, dann wissen die Überlebenden, wie sie überlebt haben. Die Wissenschaftler in den Katakomben von Paris finden einen Mann, den namenlosen Protagonisten des Fotofilms, der eine besonders starke Imagination und Erinnerungsfähigkeit besitzt: „This man was selected from among a thousand for his obsession with an image from the past“,21 kommentiert der Erzähler die Wahl der Wissenschaftler. Das Experiment gelingt, und der Mann beginnt unter Injektionen und Elektroschocks zunächst Bilder der Erinnerung wie Gegenwart wahrzunehmen (Abb. 102b und c). Im schnellen Wechsel tauchen Bilder auf, die der Mann mit glücklichen Tagen verbindet, ein Boot auf einem See, ein Frauengesicht. Es erscheint das Bild einer Frau auf einer Wiese. Die Stimme kommentiert: „A girl who could be the one he seeks.“22 Das erotische Begehren nach der Frau zusammen mit den Injektionen der Wissenschaftler lässt die Imagination des Mannes so stark werden, dass er immer mehr Bilder dieser Frau sieht – Deleuze: „Die Wiedererinne-

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12 Wiederholen, wieder holen

102e Chris Marker: La Jetée, 1962, Halskette des Protagonisten.

102f Chris Marker: La Jetée, 1962, Besuch im Naturkundemuseum.

rung führt uns nicht einfach von einer aktuellen Gegenwart auf frühere Gegenwarten zurück, unsere gegenwärtigen Lieben auf Kinderlieben, unsere Geliebten auf unsere Mütter. [...] Jede Wiedererinnerung ist erotisch, ob es sich um eine Ortschaft oder eine Frau handelt. Immer ist es Eros, das Noumenon, der uns in jene reine Vergangenheit an sich, in jene jungfräuliche Wiederholung, Mnemosyne, eindringen läßt.“23 Die Bilder der lebendigen Frau gehen über in Bilder von nackten Frauenstatuen aus Stein, eine kopflose Venus, der Kopf einer Statue (Abb. 102d). „Other images appear, merge, in that museum, which is perhaps that of his memory“,24 kommentiert der Erzähler aus dem Off den Übergang von Bildern der Frau zu den Bildern der nackten Statuen im Imaginationsprozess. Das Gesicht der Statue wird schließlich mit dem von einer Augenmaske bedeckten Gesicht des Protagonisten überblendet. „So, jetzt haben wir ihn so weit“, sagt einer der deutschen Wissenschaftler, „die Hälfte von ihm ist hier, die Hälfte in der Vergangenheit.“25 Das Experiment scheint geglückt. Am 30. Tag nach der Katastrophe trifft der Protagonist die Frau. „Now he is sure he recognizes her“,26 sagt der Erzähler. Dann aber ist sie schon wieder verschwunden, weil die Imagination nachlässt. Wieder wird der Mann von den Wissenschaftlern, die seine starke emotionale Erregung bemerken, in die Erinnerung geschickt, und nun begegnet er der Frau, spricht mit ihr, geht mit ihr durch die Stadt. „They are without memories, without plans. Time builds itself painlessly around them“,27 kommentiert der Erzähler die Illusion, den Gang der beiden durch das sommerliche Paris. Eine Halskette, die der Protagonist im Krieg getragen hat, ist das Objekt, das die Gegenwart des Überlebenden mit seinen inneren Bildern verbindet (Abb. 102e). Immer länger werden die traumhaften Begegnungen, aber immer wieder lässt die Illusion nach. Schließlich sieht er die Frau in der Sonne schlafen, die Kamera beobachtet aus verschiedenen Positionen ihr Gesicht, und der Mann erkennt, dass sie in der Zeit, aus der er kommt, in seiner Gegenwart, bereits tot ist: „He knows that in this world to which he has just returned for a while, only to be sent back to her, she is dead.“28 Es folgt noch eine Reihe von traumhaften Begegnungen mit der Frau, und der Fotofilm zeigt die einzige, echte Filmsequenz, in der die schlafende Frau für wenige Sekunden die Augen öffnet.

Erinnerungsbilder

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Eine letzte Begegnung mit der Frau findet im Naturkundemuseum statt, wo die beiden „timeless animals“29 betrachten (Abb. 102f). Dies ist die Sequenz, die Carolyn Christov-Bakargiev mit dem Foto des vor den González-Skulpturen stehenden Paares von 1959 assoziierte. In einer langen Bilderfolge sieht man nun den Mann und die Frau nur mit sich und der intensiven Betrachtung der ausgestopften Tiere beschäftigt. Philippe Dubois bemerkte, dass das Museum und das Rollfeld in La Jetée zwei Orte der Erinnerung sind, zwei Orte, um in die Erinnerung zu fliehen.30 Nach der Deleuze-Lektüre ergibt sich ein anderer Sinn der Szene: Der Gang in das Museum ist die körperliche Einkehr in den mentalen Erinnerungsort, hier begegnen sich Vergangenheit und Gegenwart in der Re-Präsentation der Objekte und ihrer Aktualisierung durch den betrachtenden Geist, der die Exponate zu „timeless animals“31 macht. Nach der Rückkehr aus der Illusion bemerkt der Mann, dass die Wissenschaftler an dem nächsten Schritt des Experiments arbeiten. Er soll nun in die Zukunft geschickt werden, um von dort das zu holen, was die Menschheit nach der gerade überstandenen Katastrophe, also in der Gegenwart, zum Überleben benötigen. Das Treffen im Museum, so weiß der Mann, war das letzte Treffen mit der Frau in der das Vergangene aktualisierenden Erinnerung. Es gelingt den Wissenschaftlern, ihn in die Zukunft zu schicken/die Zukunft zu imaginieren, in ein wiederaufgebautes Paris. Der Mann begegnet den Menschen der Zukunft, die ihn zunächst als „scoriae of another time“32 zurückweisen. Er übermittelt den Zukünftigen eine Botschaft, die wie folgt lautet: „Because humanity had survived, it could not refuse to its own past the means of its survival.“33 Der Zukunftsreisende nimmt die Überlebenden in die moralische Pflicht, das zum Überleben notwendige Wissen zur Verfügung zu stellen. Und tatsächlich: Die Zukünftigen geben ihm die Macht, „all human industry“34 wieder in Bewegung zu setzen. Dann ist das Tor zur Zukunft verschlossen. Der Mann begreift, so der Erzähler, dass das Bild seiner Kindheit, als er sich auf der Aussichtsplattform des Flughafens befindet (zu Beginn des Fotofilms), ein Köder war, der ihn zum Werkzeug der Wissenschaftler machte. „Now he only waited to be liquidated with, somewhere inside him, the memory of a twice-lived fragment of time.“35 Die Zukünftigen, die leichter durch die Zeit reisen können, wollen ihn jetzt zu sich aufnehmen. Aber statt in eine befriedete Zukunft zu gehen – es wird sich herausstellen, dass die Zukünftigen Tote sind –, möchte er lieber in seine Kindheit zurückkehren, zu der Frau, die vielleicht auf ihn wartet. Und so gelangt er mit Hilfe seiner starken Erinnerungsfähigkeit wieder in die Vergangenheit, an jenen Ort, die Aussichtsplattform von Orly, und jenen Sonntagnachmittag, mit dem der Film begann. Am Ende des Fotofilms mischen sich Erinnerungsbilder aus der Kindheit des Protagonisten und traumhafte Gegenwart. Der Protagonist ist als Mann und Knabe gleichzeitig anwesend, Erinnerung und Gegenwart koinzidieren. Der Mann sucht und findet das Gesicht der Frau, er rennt über die Plattform auf sie zu, bis er den Wissenschaftler bemerkt, der ihn aus dem Untergrundlager verfolgt hatte. „He understood there was no way to escape Time, and that this moment he had been granted to watch as a child, which had never ceased to obsess him, was the moment of his own death.“36 Die jeweiligen Konzepte der drei Zeiten, Marker in La Jetée, Deleuze philosophisch und Dubois in seiner Interpretation des Fotofilms, kommen zu der folgenden Synthese. Das Be-

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wusstsein, so charakterisiert Dubois das im Dispositiv des Fotofilms dargestellte Zeiterleben des Protagonisten, erlebt erinnerte Vergangenheit wie eine von der Zukunft ausgehende Gegenwart. Erlebtes Leben kann nicht wie eine Zeitschiene erscheinen, auf der alle Momente da sind, der eine neben dem anderen, wie Abzüge, die man vor sich hinlegt und die gleichzeitig präsent sind. Das im Film dargestellte Bewusstsein wird als eine Abfolge lebendiger Bilder eines Lebens aufgefasst, das nicht-linear verläuft, ein Leben in Bildern, das der Film vertikal oder tabellarisch fortwährend als Zeitmomente gegenüberstellt, die man jederzeit in irgendeiner Reihenfolge aufrufen kann.37 Es ist genau diese nur im Bewusstsein erlebbare Koinzidenz von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart, die Christov-Bakargiev als Zeitstruktur in der documenta 13 anhand der Objekte sichtbar und erlebbar machen möchte.

Erinnern und wiederholen Kommen wir mit diesen Überlegungen zurück zur Reinstallation der González-Vitrine in Kassel 2012. Die Erinnerung an Chris Markers Fotofilm gibt der Wieder-Holung eine Dimension, die der kuratorischen Praxis, dem Umgang mit Bildobjekten, insbesondere mit Kunstobjekten, eine existenzielle Legitimation zuschreibt: Allein die Gegenwart existiert, schreibt Deleuze. Die Wieder-Holung erweist sich nach dem Wieder-Sehen des Fotofilms als eine Erinnerungsarbeit, die dadurch, dass sie Objekte der Vergangenheit mit Gedanken über deren Zukunft in der Gegenwart koinzidieren lässt, den Fortbestand einer Kultur in einer unbestimmten Zukunft reflektiert.38 Indem Christov-Bakargiev an La Jetée erinnert, stiftet sie eine existenzielle Verbindung von mentalen Erinnerungsbildern und Bildobjekten: So wie der Mann das mentale Erinnerungsbild der Frau aus Friedenszeiten über die Katastrophe des Krieges bewahrt, so dient die Bewahrung von Bild- bzw. Kunstobjekten über Kriegs- und Friedenszeiten hinweg dem gegenwärtigen und zukünftigen Fortbestand einer Kultur. Der Protagonist des Films wird so zu einer Figur des Kurators, der Kuratorin. Wie ein Kurator reist er dank seiner starken Einbildungskräfte erst in die Vergangenheit, dann in die Zukunft, um dort etwas zu finden – „food, medicine, sources of energy“,39 wie es im Film heißt –, das nicht nur das Leben in der Gegenwart, sondern auch das künftige Überleben sichern helfen soll. Voraussetzung für die kuratorische Praxis ist diese starke Imaginationsarbeit, die die im Gedächtnis bewahrten Bilder aktualisiert und zu quasi-realen, zu lebendigen Gegenwartsbildern macht. Derrida nennt die Jagd durchs Archiv, von der Christov-Bakargiev spricht, ein „mal d’archive“: „Kein Begehren, keine Leidenschaft, kein Trieb, kein Zwang, ja kein Wiederholungszwang, kein ‚Verlangen-nach‘ könnten für den hervortreten, der nicht bereits auf eine oder andere Weise dem Verlangen nach dem Archiv unterliegt.“40 Dann erst können Bildobjekte mit Erinnerungsbildern verknüpft, über die Zeitläufte hinweg bewahrt und einer offenen Zukunft zur Verfügung gestellt werden, die sich an sie erinnern kann. „This was the aim of the experiments: to send emissaries into Time, to summon the Past and Future to the aid of the Present“, heißt es in La Jetée.41 Die Wissenschaftler wollen, dass der Mann mit Hilfe seiner starken Einbildungskraft in der Vergangenheit bzw. der Zukunft ‚lebt‘.

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Das Experiment der Zeitreise gelingt allein mit Hilfe des Austauschs von mentalen und materiellen Bildern, der hier als ein Stoffwechsel der Kultur zu verstehen ist, als eine Voraussetzung für Dauer, Beständigkeit und Lebendigkeit einer Kultur. Der kuratorische Prozess ist auf die Zukunft gerichtet. Die kuratorische Geste sichert das Überleben von Dingen. Welche Bilder, so lautet eine der dringendsten Fragen im Zeitalter der Bilder, werden in Erinnerung bleiben und damit ‚überleben‘ (wenn Bildbetrachter mit den Bildern wie mit Lebewesen umgehen bzw. den Bildern quasi ein ‚Leben‘ zugesprochen wird, dann ist es nur konsequent, auch vom ‚Sterben‘ oder ‚Überleben der Bilder‘ zu sprechen)?42 Der Fotofilm von Chris Marker hat mit Deleuze darauf eine zweifache Antwort. Es sind die starken, Glück verheißenden Bilder des erotischen Begehrens. Im Film symbolisiert das männliche Begehren das Erinnerungsbild der Frau – vor allem das Gesicht der Frau (Abb. 102a). Die Erinnerung an die Frau lässt die Erinnerungsbilder des Mannes strömen. Der Fotofilm nennt dieses innere, vom Eros gesteuerte Bildarchiv des Protagonisten, in dem die Bilder auftauchen und sich vermischen, ein „museum, which is perhaps that of his memory“.43 Dieses Museum der inneren Bilder ist, wie die Erzählerstimme in La Jetée es ausdrückt, „without memories, without plans“.44 Das Leben in den inneren Bildern empfindet der Protagonist „painlessly“,45 es ist gegenwärtig präsent, im Hier und Jetzt angesiedelt und ohne ein Bewusstsein für eine Zeit, die vergeht, weil sich das Leben im „flavor of the moment they are living“46 ereignet. Es ist dies der emotionale Zustand, den der Protagonist mehr begehrt als das neue, wiederaufgebaute Paris der Zukunft mit seinen „ten thousand incomprehensible avenues“.47 Im Naturkundemuseum, wo die beiden aus vielen Perspektiven immer wieder Bilder von „timeless animals“48 betrachten (Abb. 102f), sind es diese ‚alterslosen Tiere‘, die die Zeiten überdauern werden oder die, wie die Halskette des Protagonisten, die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden. Diese Dinge überdauern, weil sie bewahrt, erhalten, konserviert werden, ein Menschenleben, die Generationen, Kriegs- und Friedenszeiten im Seinsstatus ihrer materiellen, scheinbar zeitlosen, aber immer gegenwärtigen Bildobjekthaftigkeit.49 Sie überdauern, weil sie von KuratorInnen aus dem Strom der Dinge, der Flut der Bilder, herausgenommen und abgesondert werden, um in ihrer Materialität erhalten und bewahrt zu werden. Den Zukünftigen übermittelt der zeitreisende Protagonist im Film aus der Perspektive des Überlebenden die Botschaft der Gegenwart, die sich wie ein Leitspruch der Kuratorin liest: „Because humanity had survived, it could not refuse to its own past the means of its survival.“50 Nach der paradoxen Logik dieser inneren Zeitreise – Dubois nennt sie „chronos sans logos“51 – sind die „means of its survival“ eben dasjenige Wissen und diejenigen Dinge, die den Krieg überlebt haben, die für die Zukunft, für das Überleben, für die Überlebenden von existenzieller Bedeutung sind. Ich verstehe daher die Reinstallation samt der mise en abyme des Fotos als Metageste, die die kuratorische Praxis zum Thema macht (Abb. 100, S. 288). Die mise en abyme des Fotos von 1959 zeigt die reale Ausstellungssituation von 2012 nicht nur als einen bloßen Rekurs auf Vergangenheit und Geschichte. Kuratorische Imaginationsarbeit und die daraus resultierende Geste sind Voraussetzung für das Entstehen eines Archivs oder eines Museums.52 Wiederholt werden kann hier nur das, was zuvor mental und als Folge der Erinnerung materiell bewahrt wurde. Die Wieder-Holung der González-Skulpturen ist Ausdruck eines stabilen Garanten

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einer materiellen Bildkultur, die sich neben dem schnelllebigen digitalen Bilderstrom, dem die meiste Aufmerksamkeit unserer Gegenwart gilt, behauptet und auch behaupten wird. Die Vitrine mit den Eisenskulpturen des katalanischen Bildhauers stemmt sich gegen die Bilderflut als ein ,Leitfossil‘ der materiellen Kultur. Als reale BetrachterInnen vor der Vitrine wird uns bewusst, dass wir (noch) körperlich-materiell im Analogen leben, dass unser Leben in einer definierten und begrenzten Zeit stattfindet und sich in einem definierten und begrenzten Raum ereignet, den wir mit den uns umgebenden Dingen und Menschen teilen. Es wird uns bewusst, dass es diese in Kunst- und Kulturausstellungen gezeigten und dadurch ins Bewusstsein gerückten Dinge sind, die unserem geistigen Leben als „Nahrung, Medizin und Energiequelle“53 dienen. Zusammen mit dem Text, in dem die Kuratorin an Chris Markers La Jetée erinnert, stellt sich die Frage, wie Erinnerung und starke mentale Bilder an das Wahrnehmen und Erleben – an das ‚wirkliche‘, im Analogen stattfindende Leben gebunden sind. Und: Wie verändern sich Wahrnehmung, Erinnerung und das Gedächtnis im digitalen Mahlstrom der Bilder?54 Die uralten in die documenta 13 eingestreuten Bildobjekte, wie die Baktrischen Prinzessinnen (Abb. 103) oder die in einem Video gespielte Flöte aus dem Knochen eines Gänsegeiers, die Zeugnis einer 35.000-jährigen Musikkultur ablegt, haben die Jahrtausende überdauert: Nicht (nur), weil es der Zufall so wollte, sondern weil KuratorInnen sich um diese Dinge gesorgt haben, sie abgesondert, beiseite gelegt und bewahrt haben.55 Es sind diese uralten Bildobjekte und Artefakte, die uns die Tiefendimension und die poetische Kraft der Kultur bewusst werden lassen. Angesichts unserer gegenwärtigen Kultur der digitalen Bilderflut, die alles auf der Oberfläche sichtbar macht, verschärft sich nicht nur die Frage, welche historischen Objekte und Artefakte in dem Sinne ‚überleben‘ werden, dass sie in das kulturelle Gedächtnis einer – jetzt global betrachteten – Kultur eingehen und dort bleiben. Es geht gegenwärtig auch darum, ob wir diesen Dingen auch weiterhin unsere Aufmerksamkeit schenken, sie in Museen sammeln, bewahren und sie ausstellen, damit sie betrachtet werden? Oder ziehen wir es vor, den digitalen Abbildern dieser Dinge im digitalen Raum des World Wide Web zu ‚begegnen‘, wo wir sie zuhause am Bildschirm ab- und im Gedächtnis aufrufen können? Werden die materiellen Bildobjekte im Sinne des Fortbestehens einer Kultur auch für die nächste Generation, die Digital Natives, als ‚überlebenswichtig‘ erachtet und bewahrt werden?56 Christov-Bakargiev thematisiert dies gemeinsam mit der Frage, wie die Artefakte bisher ‚überlebt‘ haben, und projiziert sie als eine der zentralen Fragen unserer Zeit – quasi als ein Leitmotiv – in den leeren White Cube und die Rotunde, das ‚Brain‘, des Fridericianums. Die Bilder und Gegenstände, die scheinbar ohne einen thematisch-inhaltlichen Zusammenhang im ‚Brain‘ der Ausstellung platziert waren, sind nicht als eine Antwort auf die Frage zu verstehen, welche Bilder und Objekte in das kulturelle Archiv eingehen werden (Abb. 104). Thema der im ‚Brain‘ versammelten Ausstellungsobjekte war vielmehr das rätselhafte Zusammenspiel von Kontingenz des Sammelns von Dingen, die der Zufall bewahrt hat, mit der Strategie der SammlerInnen, die diese Dinge absondern und an einem Ort bewahen, und der Strategie der Kuratorin, die diese Dinge zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ausstellt und damit öffentlich zugänglich und sichtbar macht.57

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103  Baktrische Prinzessinnen (ca. 2.–3. Jht. v. Chr.) im Fridericianum, documenta 13, 2012

Carolyn Christov-Bakargiev wiederholte 2012 Arnold Bode, der in der documenta 2, außer Kunst nach 1945 eben auch Kunst vor 1945 zeigte. Während ihrer Recherchen im documenta-Archiv bemerkte sie, dass Bode die González-Figuren bereits 1955 auf der ersten documenta gezeigt hatte. Die kuratorische Geste der Wiederholung hatte also bereits eine Vorgeschichte – und wird jetzt als eine sich selbst thematisierende Geste, die Erinnerungsarbeit mit Strategie und Kontingenz vereint, bewusst. Strategisch war die Suche im Archiv nach historischen Dokumenten – kontingent war die Entdeckung, dass Arnold Bode bereits zweimal die Plastiken des Bildhauers Julio González ausgestellt hatte. Die Entscheidung, die González-Skulpturen nun ein drittes Mal zu zeigen, bekräftigt die leitmotivische Thematisierung der kuratorischen Wieder-Holungs-Geste im Fridericianum der documenta des Jahres 2012. Die Wiederholung macht zum einen die Koinzidenz von Tiefendimensionen der zur Geschichte geronnenen, linearen Zeitschiene mit unserer Gegenwart bewusst, zum anderen deutet sich in der kuratorischen Metageste an, wie Tradition entsteht: durch Wieder-holung.

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104  Blick in das ‚Brain‘ im Fridericinanum der documenta 13, 2012

Übergangsobjekte In dem Text für das Kunstmagazin Mousse fährt Christov-Bakargiev mit der Ideenskizze ihrer Ausstellung in 2012 fort: „The long table, the plinth“, so schreibt sie über die Präsentation der Skulpturen in dem Foto, „provides a system for display. [...] At this stage the objects appear to refer to the ‚transitional object‘ or perhaps they act as ‚transitional objects‘.“58 Im Folgenden gibt sie eine knappe Erklärung der von dem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott Anfang der 1950er-Jahre entdeckten und erforschten, von ihm so benannten, „transitional objects“.59 Die González-Skulpturen handelten als „objects, to which a child attributes psychological content“, schreibt sie, „that defend him or her from the anxiety of absence by marking the transition between a symbiotic identity with the mother and an autonomous identity without her. It is a special object that the child will not easily relinquish. Sometimes an event occurs when the object is thrown away or forgotten, and this loss can be traumatic“.60 Christov-Bakargiev interessiert die psychologische Bedeutung von Objekt- oder Dingbeziehungen, und sie interpretiert Winicott wie folgt: „The transitional experience allows a person to connect their self-expression with the subjectivity of others. It is at this point that a child progresses from the symbiotic relationship to individualization and departs from both purely subjective and purely objective points of view.“61

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Nehmen wir die Spur der Kuratorin auf, um uns den 1953 publizierten Aufsatz Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. Eine Studie über den ersten, nicht zum Selbst gehörenden Besitz von Donald Winnicott, auf den sie sich bezieht, ins Gedächtnis zu rufen.62 Wir müssen uns fragen, was der Begriff „Übergangsobjekt“ im Kontext der Vorbereitung einer Weltkunstausstellung bedeuten könnte. Nach Winnicott, der sich auf Sigmund Freud bezieht, sind die zum ersten Besitz des Menschen gehörenden Übergangsobjekte Dinge, die in der beginnenden Individuation eine fundamentale Rolle spielen. Jedes Kleinkind macht diesen zur Ontogenese gehörenden Prozess der Dinganeignung durch. Das Übergangsobjekt ist zunächst ein Stück Stoff, später der Teddybär oder die Puppe (Abb. 105). Diese Dinge haben die Funktion, so beobachtete Winnicott, die sich entziehende Mutterbrust zu ersetzen. Sie dienen also zunächst der oralen Triebbefriedigung. Darüber hinaus markieren sie die Fähigkeit des Kindes, im ersten Lebensjahr nicht nur ein Objekt als nicht zum Selbst gehörend zu erkennen, sondern auch seinen Ort als im Außen und im Innen, der realen Welt und der Imagination, wahrzunehmen. Daraus resultiert nun die Fähigkeit des Kindes, sich dieses Objekt zu erschaffen, es sich vorzustellen, zu erdenken, zu erfinden, hervorzubringen und mit ihm einen zärtlichen Umgang zu haben. Winnicotts Überlegungen bauen auf psychologischen Forschungen auf, die ergeben haben, dass sich das Individuum, hier also der Säugling, sobald es sich als eine abgegrenzte Einheit erlebt, ein Innen und ein Außen wahrnimmt und über eine innere Realität verfügt, die arm oder reich, friedlich mit sich selbst oder aber zerfallen sein kann. In der Entwicklung des Menschen ist dies der Bereich von Erfahrungen, in der innere Realität und Außenwelt in wechselseitiger Verbindung miteinander stehen. Winnicott beobachtete die Entwicklung des Säuglings in einem ersten Stadium der völligen Unfähigkeit, die Realität der Außenwelt zu erkennen, bis hin zu einer sich entwickelnden Fähigkeit zur Realitätsprüfung. Es ist dies das Stadium, in dem der Mensch erstmalig zur Illusionsbildung befähigt wird. Der Umgang mit dem Objekt beschreibt Winnicott wie folgt. Das Objekt wird zärtlich behandelt, leidenschaftlich geliebt, aber auch misshandelt. Es darf nicht durch ein anderes ausgetauscht werden, es sei denn, das Kind nimmt diesen Austausch selbst vor. Das Objekt muss dem Kind Wärme vermitteln, eine visuelle, haptische, olfaktorische Qualität haben, die den Eindruck erweckt, es habe ein eigenes Leben, eine eigene Realität. Für die das Kind beobachtenden Erwachsenen gehört das Objekt allein der Außenwelt an, für das Kind aber – und das ist entscheidend – gehört es zu beiden Welten: Es besitzt eine äußere und eine innere Realität, es ist also keine nur eine innere Realität besitzende Halluzination. Es ist das Schicksal dieses Objekts, ob Stofftier oder Puppe, dass es allmählich seine Funktion verliert, im Laufe der Jahre zwar nicht in Vergessenheit gerät, wohl aber ganz unten in der Spielkiste landet, weil andere Objekte seine Funktion einnehmen. Diese Art von Spielzeug, ein Medium, das die innere Realität des Kleinkindes stimuliert, in seiner Fantasie agiert, in seiner Traumwelt lebt – diese Art von Objekten deutet Winnicott jetzt auch phylogenetisch. Er setzt sie – und das ist für unsere Fragestellung bemerkenswert – an den Anfang von Kultur, Kunst, Religion und Spiel.63 In der Ontogenese vollzieht das Kleinkind am Übergangsobjekt den ersten Akt der Symbolbildung, nämlich die Erfahrung, dass der Zipfel des Schmusetuchs nicht die Mutterbrust ist, sondern die mütterliche Brust bedeutet. Symbolische Funktion hat das Objekt erst, wenn das Kind

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zwischen Fantasie und Realität unterscheiden kann, d. h. eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen erster schöpferischer Tätigkeit und Wahrnehmungen vornehmen kann. Es ist die Funktion des Übergangsobjektes, so Winnicott, diese Fähigkeiten zur Symbolbildung auszubilden. Versuchen wir, diese psychoanalytische Forschung der emotionalen Entwicklung des Kleinkindes auf das von Christov-Bakargiev angeregte Thema des Wieder-Holens als kuratorische Geste zu übertragen. Es liegt nahe, die Wiederholungsgeste auf die vielleicht verdrängte triebhafte Beziehung zu Objekten zu übertragen, denen ein Wiederholungs-Wert, ein kuratorischer Wert beigemessen wird. Folgen wir Winnicott, motiviert dieser Trieb, der aus der Spannung zwischen innerer und äußerer Realität resultiert, die schöpferische Tätigkeit des Spiels, der Kunst, der Musik, der Fiktion, der Religion – kurz: all dessen, was wir Kultur nennen. Der kreative Spannungsausgleich von Innenleben und Welt im Außen gehört demnach zum Künstler und zur Künstlerin ebenso wie zu den RezipientInnen von Kunst oder zu den AnhängerInnen einer Religion. Als RezipientInnen können wir mit Hilfe der Kulturobjekte, mit Hilfe von Bildern, Literatur, Theater, Musik, Spielen etc. den Spannungsausgleich zwischen der von uns erfahrenen Außenwelt und unserer individuellen Innenwelt erleben – der faktisch gegebenen Welt, wie wir sie als äußere wahrnehmen, und der Welt, wie wir sie für uns im Inneren schaffen: die Welt, die wir haben wollen. Die Wieder-Holung der González-Skulpturen von Christov-Bakargiev auf der documenta 13 deutet die kuratorische Geste als Triebbefriedigung. Es zeigt sich jetzt auch eine Verbindung zwischen Chris Markers Fotofilm und Winnicotts Übergangsobjekt. Die kulturellen Dinge und Erfahrungen, die wir Kunst (oder Literatur, Musik, Spiel oder Religion) nennen, haben demnach die gleiche Funktion wie die Übergangsobjekte unserer Kindheit, die uns einst quasi im Spiel die Beziehung zur objektiven Welt aufbauen halfen, die uns zum Fantasieren und Träumen brachten, die uns zur Symbolbildung führten. Wie Spielzeug aus einer vergessenen Spielzeugkiste, wie die „alterslosen Tiere“ aus La Jetée, kamen die González-Skulpturen 2012 in die Eingangshalle des Fridericianums. Als „alterslose Tiere“ machen sie uns die existenzielle Bedeutung von Kunst, Literatur, Musik, Spiel, Religion für die Individuation und Selbstfindung eines jeden Individuums bewusst. Darüber hinaus aber sagen sie uns, dass die repetitive Betrachtung der Kunstdinge den Fortbestand der Kulturen sichert.

Die kuratorische Geste in Zeiten der Bilder Am Schluss ihres Textes bezieht sich Christov-Bakargiev auf Rolands Barthes’ La chambre claire. Im Zeitalter der Bilder nimmt sich der 1980 publizierte Text ebenfalls wie ein Leitfossil einer vergangenen und zugleich als Schwellentext zur digitalen Bildkultur aus. Barthes sucht darin die Antwort auf die Frage, „ob es die Photographie wirklich gab, ob sie ein ihr eigentümliches Wesen besaß“.64 Aus diesem Text löst die documenta-Kuratorin einige Sätze wie Bruchstücke heraus. Sie beginnt mit der folgenden Beobachtung von Barthes: „Was die Photographie endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existenziell

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105  Ein Übergangsobjekt nach D. Winicott: Charlie Brown von den Peanuts mit Schmusedecke

nie mehr wird wiederholen können.“65 Aus diesem Satz, bezieht man ihn auf das Foto neben der González-Vitrine in der Eingangshalle der documenta 13 (Abb. 101), offenbart sich die ganze Tragweite der Wiederholungsgeste. Das Foto wiederholt mechanisch ein Ereignis, das in der Vergangenheit stattgefunden hat. Die Mechanik eines Apparats fixiert dieses Ereignis und zeigt es auf einem Bild. Die Wiederholung der Vitrine in der Eingangshalle findet aus der Sicht der Gegenwart der documenta Kassel 2012 einhundert Tage lang statt. Heute können wir nur noch sagen, sie hat stattgefunden und wird sich so nicht mehr wiederholen können. Es ist möglich, aber durchaus nicht gewiss, dass die Vitrine auf einer documenta der Zukunft wieder ausgestellt wird. Die Wiederholungsgeste führt so den Verlust eines jeden Augenblicks in der Existenz eines lebenden Individuums zu Bewusstsein. Die bilderzeugende Mechanik des Apparats versucht gegen den Verlust anzuarbeiten, in dem sie den Augenblick bildhaft auf Dauer stellt. Im Zusammensein von reinszenierter González-Vitrine mit dem wiedergeholten Foto aus dem Jahr 1959 beschwört Christov-Bakargiev noch einmal das Noema der Fotografie nach der Definition von Roland Barthes in La chambre claire, das sie in ihrem Text zitiert: „Daher soll man eher sagen, daß das Unnachahmliche der Photographie (ihr Noema) darin besteht, daß jemand den Referenten leibhaftig oder gar in persona gesehen hat (auch wenn es sich um Gegenstände handelt). Die Photographie hat im übrigen, historisch gesehen, als Kunst der Person begonnen: ihrer Identität, ihres zivilen Standes, dessen, was man, in jeder Bedeutung des Worts das An-und-für-Sich des Körpers nennen könnte.“66

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Es folgt in dem Barthes-Text, den Christov-Bakargiev nicht mehr zitiert, aber im Sinn hat, die letzte und vielleicht eindringlichste Beschwörung des Analogen, d. h. der Augenzeugenschaft des Fotografen, des Zeitzeugnisablegens und des Beweises durch ein Bild. Beim Wiederlesen des Textes – heute, im Zeitalter der Bilder – spürt man die Dringlichkeit dieser Worte, die Vorahnung des Verlusts der Fotografie im Sinne des Barthes’schen Noemas, das da lautet: „Esist-so-gewesen.“ In unserer digitalen Bildkultur, die listig, bisweilen hinterlistig die Fotoästhetik vortäuscht, können wir nur mehr mit Gewissheit sagen: Es sieht so aus, als-ob-etwas-so-gewesen-ist (siehe Kapitel 7 „Was verloren geht“). Mit der Wiederholung eines ‚echten‘ Fotos, eines Lichtabdrucks auf einem lichtempfindlichen Kunststoffstreifen im Realraum der documenta 13, wird die Wiederholung der González-Skulpturen zum Zeit und Raum sowohl überschreitenden wie verbindenden Element. Christov-Bakargiev weiß, dass es so einen Bildbeweis eines vergangenen Ereignisses im Digitalen nicht mehr geben wird. Stattdessen, so erläutert sie im Buch zur Ausstellung, befinden wir uns im „Zustand ‚subjektiver Omnipotenz‘ des Zeitalters der fortschreitenden Digitalisierung [in dem] alle Informationen vorhanden und nach Belieben zugänglich [zu sein scheinen], doch die Erfahrung davon abgetrennt und unterbrochen [wird]. [...] Die Macht besteht heute darin, in YouTube herumzustöbern und Bilder vom distanzierten und sicheren Standpunkt des eigenen Computers aus zu ‚googeln‘“.67 Deshalb ist ihr der Zusammenhalt vom verletzlichen, lebendigen Körper ders Fotografen und der Kamera in seiner Hand wichtig: „Der Zeuge hingegen, der die Fotografie macht, ist ein Subjekt, das seinen oder ihren Körper an die Frontlinie stellt und am Leben der Dargestellten persönlich beteiligt ist“, schreibt sie mit dem Verweis auf Giorgio Agambens Homo sacer, der Auschwitz bezeugt.68 „Warum ist nicht alles schon verschwunden?“, wundert sich Jean Baudrillard 2007, kurz vor seinem Tod, noch einmal und zum letzten Mal in dem gleichnamigen Text.69 Es ist ein Vermächtnis und das Resumée seiner Simulationstheorie, die er 1976 in seinem Buch L’­échange symbolique et la mort entwickelt hat, also kurz bevor Roland Barthes La chambre claire publizierte. Noch einmal widmet sich Baudrillard in seinem Vermächtnis der „systematischen Verflüchtigung einer Realität, deren Verdämmern wir gewissermaßen auskosten“,70 und sieht dies gerade am aktuellen „Schicksal des Bildes, dem Verschwinden des Bildes im unerbittlichen Übergang vom Analogen zum Digitalen, besonders schön veranschaulich[t]“.71 Wir entnehmen diesem Text eine deutliche Genugtuung des Apokalyptikers, der süffisant den Eintritt der von ihm längst prophezeiten letzten Dinge bestätigt: „Ich möchte noch einmal die völlige Ambiguität unseres Verhältnisses zum Realen und seinem Verschwinden betonen. Hinter jedem Bild ist irgend etwas verschwunden – doch ebendies macht seine Faszination aus. Hinter der virtuellen Realität in all ihren (telematischen, informatischen, digitalen und so weiter) Formen ist das Reale verschwunden – doch ebendies fasziniert alle Welt. Der offiziellen Version folgend machen wir einen Kult um das Reale und das Realitätsprinzip – aber ist es wirklich das Reale, dem wir diesen Kult widmen, oder nicht vielmehr sein Verschwinden?“72 Eine Antwort auf diese Fragen gibt die Eingangshalle des Fridericianums der letzten documenta. Es ist die kuratorische Geste, die diesem Reflexionsraum gewidmet ist. Sie setzt sich mit Macht gegen das „Verdämmern“73 der realen Dinge im Digitalen und kündet von einem Paradigmenwechsel der historischen Forschung.

Die kuratorische Geste

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Die kuratorische Geste Vilém Flusser widmete 1991, wie eingangs erwähnt, der Geste des Suchens das letzte Kapitel seiner Phänomenologie der Gesten.74 Es beginnt mit der Feststellung, dass sich „unsere Gesten verändern“ und wir derzeit eine „Krise der Wissenschaft [...]: eine Krise des Suchens“ erleben. Die wissenschaftliche Arbeit wird sich verändern, so Flusser, weil sich die Geste des Suchens derzeit verändert. Ursache dafür ist die „technische Manipulation der Personen und der Gesellschaft“, der wir uns nicht länger aussetzen wollen. Nach einer Zeit der „rituellen Gesten“ im Mittelalter, die sich auf „Leben und Tod, auf die ‚Seele‘ richtete“, folgte ab dem 16. Jahrhundert die „Geste des Suchens des revolutionären Bourgeois“, der mit „unbelebten Objekten hantiert“ und die Natur „objektiv“ zu erkennen sucht. Die „objektive Erkenntnis“, in der der Mensch den Platz Gottes einnimmt, bestimmt Flusser als Ziel des Humanismus, den er zu Ende gehen lässt. Die „Geste des transzendenten Subjekts ist die Geste der Naturwissenschaft“, das „Modell für alle unsere Gesten“, das sich derzeit wandelt und die „Krise“ ausmacht. Während die indus­ trielle Revolution die Geste der „reinen“, naturwissenschaftlichen Forschung als angemessen für unbelebte Gegenstände betrachtete, beginnt man nun zu erkennen, dass es keinen „reinen Geist“ und die „reine Erkenntnis“ nicht gibt. Die Erkenntnis betrifft die Einsicht, dass die Wissenschaft „die Geste eines Menschen ist, der in die Welt eintaucht und daran interessiert ist, sie seinen Notwendigkeiten, seinen Wünschen und Träumen gemäß zu verändern“. Ein neuer Typus der Geste des Suchens, die vor Augen führt, dass „Subjekt und Objekt“ ineinandergreifen, lässt sich mit Flusser beobachten. Diese neue Geste des Suchens ruft das gesuchte Objekt hervor, bestimmt und verändert es. Die Wissenschaft zeigt jetzt, dass sie eine menschliche Handlung ist: „man kann nicht suchen, ohne auch zu wünschen und zu leiden: ohne ,Werte‘ zu haben.“ Es lohnt dieses kurze Kapitel über den Untergang der Forschungsideologie im Zeitalter der Technokratie und den Prozess des Wandels, den Flusser beobachtet, als Ganzes zu lesen. Die alte Geste des Suchens ist demnach epistemologisch, ethisch und existenziell zweifelhaft geworden. Stattdessen gilt das Folgende: „Wir glauben nicht mehr, dass wir Gesten machen, sondern dass wir Gesten sind.“ Es gibt einen neuen Typ von ForscherInnen – ich nenne ihn/sie KuratorIn. Der Forscher ist „in eine Umwelt eingebettet, die ihn von Nahem und aus der Ferne interessiert (angeht). [...] In der Gegenwart wird aus der Theorie eine Strategie des lebenden In-der-Welt-Seins“. Die Geste des Suchens wird wieder zu einer „Lebensgeste“. Die Forschung wird dialogisch, mit dem Ziel einer intersubjektiven Erkenntnis unserer Lebensumstände. Für diese Forschung gibt es keinen linearen Fortschritt. Diese Veränderung, so Flusser, erzwingt die Veränderung der Modelle. Im Zeitalter der Technokratie war die Zeit noch ein Strom, der von der Vergangenheit zur Gegenwart in die Zukunft fließt. Der Raum war eine leere Kiste mit festgelegten Koordinaten. Für heutige ForscherInnen – KuratorInnen – ist die Unterscheidung von Zeit und Raum gefallen. Der Mittelpunkt des neuen Modells ist die Gegenwart, die Vergangenheit ein Aspekt der Gegenwart, so Flusser, der in Form des Gedächtnisses verfügbar oder in Form des Vergessens verborgen ist. Gedächtnis und Vergessen sind raumzeitliche Begriffe: Wir befinden uns im White Cube der

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documenta 13. Die neue Geste des Suchens, ich nenne sie „kuratorische Geste“, sucht aus dem gegenwärtigen Standpunkt heraus in der Vergangenheit das, was wir zukünftig zum Leben benötigen. „Das Kunstwerk, eine mehrdeutige Entität, ein Quasi-Objekt, dessen Eigenschaften sowohl Erdung als auch Beziehung ermöglichen, erfüllt die Aufgabe des Übergangsobjekts [...] an einem Ort und nicht an einem anderen Ort, zu einer Zeit und nicht zu einer anderen Zeit, genau hier, an diesem Ort, mit dieser Nahrung, diesen Tieren, diesen – ärmeren und auch reicheren – Menschen.“75 Mit diesem Satz beschließt Carolyn Christov-Bakargiev ihren Beitrag für den Ausstellungskatalog der documenta 13. Er gedenkt dem Wert der kuratorischen Geste im Zeitalter der Bilder.

Endnoten

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Endnoten 1 Abb. 100 S. 290 Vitrine mit Skulpturen von Julio González im Eingangsraum des Fridericianums der von Carolyn Christov Bakargiev kuratierten documenta 13, 2012. Es war dort noch die Vitrine mit dem Absageschreiben von Kai Althoff aufgestellt, und die Windmaschine von Ryan Gander sorgte für einen leichten Luftzug. 2 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, aus dem Franz. v. Joseph Vogl, München 1992, S. 123–124. 3 Siehe etwa die Ausstellung: Déjà-Vu. Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube, AK Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2012, hg. v. Ariane Mensger, Bielefeld 2012; Wofgang Brückle / Uta Daur (Hg.): Authentizität und Wiederholung. Künstlerische Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2013. 4 http://moussemagazine.it/carolyn-christov-bakargiev-documenta-2012 (letzter Zugriff 13.12.2015); siehe auch die gekürzte Version dieses Textes als Teil einer längeren Erläuterung des Ausstellungskonzepts im Katalogbuch der documenta 13 von Carolyn Christov-Bakargiev: „Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit“, in: dOCUMENTA (13). Das Buch der Bücher, AK documenta Kassel 2012, Bd. 1, Ostfildern 2012, S. 30–46, hier S. 44–45. 5 Vilém Flusser: Gesten: Versuch einer Phänomenologie, 2., durchges. u. erw. Aufl., Bensheim/Düsseldorf 1993, S. 200. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ich werde die folgenden Deleuze-Zitate nicht kommentieren, sondern verstehe sie als dialogische, kontextuelle Erweiterungen des hier behandelten Themas. 9 Siehe Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, 2. Aufl., München 2014. 10 „The sculptures in this picture are by Julio González. Documenta II was focused on Art after 1945, and it is interesting to note that González had died in 1942. Therefore, these works by him were historical at the time. Indeed, the exhibition Art After 1945 included works by several artists of the earlier part of the 20th century. It is central to understand Art After 1945 as including art then, that was from the past.“ http://moussemagazine.it. 11 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 112. 12 Ebd. 13 „This picture is interesting in that there is a triangulation that leads to the next scene, in which the two people talk about the artwork. González’s work is a device that makes this meeting, this conversation, happen.“ http://moussemagazine.it/carolyn-christov-bakargiev-documenta-2012 (letzter Zugriff 15.05.2015). 14 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 35–36. 15 Marker selbst bezeichnete La Jetée im Vorspann als „photo-roman“. Die Filmgattung Fotofilm kennzeichnet eine Aneinanderreihung von Fotografien, die in La Jetée von einer einzigen kurzen Bewegtfilmsequenz unterbrochen wird. Ein Voice-over-Kommentator erzählt die Geschichte, und Musik dramatisiert die Bilderzählung. Siehe zu der von Marker erfundenen Gattung ‚Fotofilm‘ Thomas Tode: Kurze Geschichte des Stillbildes im Film, in: Gusztáv Hámos u. a. (Hg.): Viva Fotofilm – bewegt/unbewegt, Marburg 2010, S. 17–19, und andere Beiträge in dem Sammelband. 16 Ich zitiere die englische Version des Textes in meiner deutschen Übersetzung: http://www.markertext.com/ la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.05.2015). 17 Siehe zur Funktion von Erinnerung und Kindheit sowie zur Transformation von Erinnerungsbildern in die Bilder des „photo-romans“ Philippe Dubois: La Jetée de Chris Marker ou le cinématogramme de la con­ science, in: ders. (Hg.): Recherches sur Chris Marker (Théorème, Bd. 6), Paris 2012, S. 9–44. 18 http://www.markertext.com/la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.05.2015). 19 Dubois: La Jetée (ebd.), S. 20, kennzeichnet Markers Theorem der Zeit wie folgt: „il faut se mettre, se projeter, dans le futur si l’on veut bien voir, c’est-à-dire comprendre, le présent (du sujet), lequel ne s’éclaire que rétrospectivement, d’être pris dans une perspective de passé retourné, c’est-à-dire comme image.“ 20 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 107. 21 http://www.markertext.com/la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.05.2015). 22 Ebd. 23 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 118. 24 http://www.markertext.com/la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.05.2015). 25 Ebd.

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12  Wiederholen, wieder holen

26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Dubois: La Jetée, S. 33. 31 http://www.markertext.com/la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.05.2015). 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Dubois: La Jetée, S. 41. 38 Erinnerungsarbeit (Margarete Mitscherlich) ist Voraussetzung für Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung, wie Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, ausführt. 39 http://www.markertext.com/la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.05.2015). 40 Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben, in: Knut Ebeling / Stepan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 29–60, hier S. 52; wie Deleuze setzt Derrida Trieb und Begehren an den Anfang von Archivarbeit und Wiederholung, beide mit Bezug auf Freud. 41 http://www.markertext.com/la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.05.2015). 42 Siehe W. J. Thomas Mitchell: What do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005; Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010. 43 http://www.markertext.com/la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.05.2015). 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Christov-Bakargiev bemerkt zu den im ‚Brain‘ der Ausstellung gezeigten Baktrischen Prinzessinnen (2.500– 1.500 v. Chr.): „Sie existieren heute nur dank des Einsatzes und der Sorgfalt, die über Jahrtausende hinweg dem ,Zusammenhalt‘ ihrer Teile in einem prekären Miteinander gewidmet wurden.” Christov-Bakargiev: „Der Tanz“, S. 36. 50 http://www.markertext.com/la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.05.2015). 51 Dubois: La Jetée, S. 40–41. 52 Zur Geste des Beiseitelegens als Voraussetzung des Archivs siehe Michel de Certeau: Der Raum des Archivs oder die Perversion der Zeit, in: Ebeling / Günzel: Archivologie, S. 113–121; die Imaginationsleistung, die der Geste vorausgeht, thematisiert der Historiker hier nicht. 53 http://www.markertext.com/la_jetee.htm (letzter Zugriff 15.5.2015). 54 Siehe dazu Erik Meyer / Claus Leggewie (Hg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Funktion in digitalen Medien, Frankfurt a. M. 2009. 55 Dies betont Christov-Bakargiev: „Ihre Größe entspricht der unserer Smartphones und anderer technischer Geräte, obwohl sie für uns nicht das digitale Leben, sondern den bodenständigen Charakter des verkörperten Lebens definieren, ebenso wie die Gefährdung aller Körper, darunter auch die Korpusse der Kultur.“ Christov-Bakargiev: „Der Tanz“, S. 36. 56 „Im Internet-Zeitalter – eine Epoche, in der Zahlen, die Grundlage jeder Datenverarbeitung, immer ‚realer‘ geworden sind – bedeutet die Zerstörung des Symbolischen, für das die Kunst ein Paradebeispiel ist, den Menschen bisweilen mehr als die Zerstörung physischer Körper und Leben“, beantwortet die Kuratorin diese Frage. Ebd., S. 37. 57 Christov-Bakargiev bezeichnet den ‚Brain‘ als „programmatische[n], traumähnliche[n] Ort anstelle eines Konzepts“. Die dort versammelten Objekte werden „vorübergehend [...] zusammengehalten, nicht, um auf eine Geschichte oder auf ein Archiv zu verweisen, sondern als eine Gruppe von Elementen, die an widersprüchliche Verhältnisse und engagierte Positionen des In-und-mit-der-Welt-Seins erinnern“. Siehe Christov-Bakargiev: „Der Tanz“, S. 36. 58 http://moussemagazine.it/carolyn-christov-bakargiev-documenta-2012 (letzter Zugriff 15.05.2015). 59 Ebd.

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60 Ebd. Die Kuratorin verschweigt hier jedoch noch, wie sie die Verbindung von der Skulpturenpräsentation und Winnicotts Übergangsobjekten hergestellt hat – der Bezug erscheint willkürlich, mithin kontingent. Erst in ihrem Katalogbeitrag führt sie aus, wie sie die Beziehung von Übergangsobjekt und das Ausstellen von Kunst verstanden wissen will. 61 Ebd. 62 Zitiert im Folgenden nach Donald Winnicott: Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. Eine Studie über den ersten, nicht zum Selbst gehörenden Besitz, in: Psyche, 23/9 (1969), S. 666–682 (1953). 63 Siehe Winnicott: Übergangsobjekte, S. 672–673 und Donald D. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, aus dem Engl. v. Michael Ermann, 9. Aufl., Stuttgart 1997, S. 111–120. 64 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, aus dem Frz. v. Dietrich Leube, Frankfurt a. M. 1989 (Paris 1980), S. 11. 65 Ebd., S. 12; http://moussemagazine.it/carolyn-christov-bakargiev-documenta-2012 (letzter Zugriff 15.5.2015). 66 Barthes: Die helle Kammer, S. 89. 67 Christov-Bakargiev: „Der Tanz“, S. 45 und 43. 68 Ebd., S. 43. 69 Jean Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, Aus dem Franz. v. Markus Sedlaczek, Berlin 2008 (Paris 2007). 70 Ebd., S. 23. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 22. 73 Ebd., S. 23. 74 Siehe alle folgenden Zitate in Flusser: Gesten, S. 199–216. 75 Christov-Bakargiev: „Der Tanz“, S. 45.

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13  ANHANG

Dank Dieses Buch ist das Ergebnis einer langen Recherche. Sie begann 2010/2011 als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin mit dem Projekt „Die Kunst der Dis/simulation. Maske, Verstellung und Täuschung im Barock“. An diesem Ort geriet ich in den Sog kreativer Köpfe, die das Interesse am Phänomen Bilder einte, gleichwohl sie sich mit ganz unterschiedlichen Themen befassten. Die mit der Religionswissenschaftlerin Birgit Meyer initiierte „Picture Image Group“ war der Ort für einen von Sympathie getragenen intellektuellen Dialog über Bilder in allen Medien und brachte viele Disziplinen miteinander ins Gespräch. Rainer Stillers, Birgit Meyer, Jojada Verrips, Claudia Schmölders, Reinhart Meyer-Kalkus, Thomas Pavel, Jean-Claude Schmitt, Reinhard Strohm, Karl Schlögel, Michael Hutter, Iris Daermann sowie meine KollegInnen Birgit Mersmann, Charlotte Klonk, Elke Werner, Victoria von Flemming, Horst Bredekamp und Hans Belting haben mich in verschiedenen Kontexten ermutigt, den engen, disziplinär gesetzten Zeitrahmen „Barock“ zu sprengen und Kunst in Zeiten der Bilder schärfer in den Blick zu nehmen. Die Muthesius Kunsthochschule in Kiel gab mir den Raum, das in Berlin begonnene Projekt weiterzuverfolgen und zu beenden. Die Muthesius Kunsthochschule hat die Publikation ideell und finanziell großzügig unterstützt. Maike Schulken, Paula König, Viktoria Kovaleva, Wiebke Wetzker und Clara Schöttke waren engagiert an dem Zustandekommen des Buches beteiligt. Katja Richter, Arielle Thürmel und Susanne Drexler vom de Gruyter Verlag haben die Publikation umsichtig betreut. Allen an dem Projekt Beteiligten danke ich für Inspirationen, Diskussionen, Anregungen, Mitwirkung, und Kritik.

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13 Anhang

Bibliografie Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, Lat.-Dt., hg. und übers. v. O. Bätschmann und C. Schäublin, Darmstadt 2000 Marianne Albrecht-Bott: Die bildende Kunst in der italienischen Lyrik der Renaissance und des Barock, Wiesbaden 1976 Tilman Allert: Die Raute der Angela Merkel, in: Tilman Allert.: Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge, Frankfurt a. M. 2015, S. 57–72 Hubertus von Amelunxen: Fotografie nach der Fotografie. Das Entsetzen des Körpers im digitalen Raum, in: ders. / Stefan Iglhaut / Florian Rötzer (Hg.): Fotografie nach der Fotografie, S. 116–123 Christian Andree: 1000 Leichen seziert – und nie eine Seele gefunden?, in: ders. (Hg.): Neue VirchowForschungen, Essen 2015, S. 175–193 Anthologia Graeca IV, Buch XII–XVI: Figurengedichte, Zahlenspiele, Rätselspiele. Griech.-Dt., hg. und übers. v. Hermann Beckby, Freising 1958 Daniel Arasse: Cara Giulia, in: ders. (Hg.): On n’y voit rien. Descriptions, Paris 2000, S. 9–22 Aleida Assmann: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar/Wien 1999 Aleida Assmann: Der Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, 2. Aufl., München 2014 Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, 4., neu bearb. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2010 Oskar Bätschmann: Pygmalion als Betrachter. Die Rezeption von Plastik und Malerei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Wolfgang Kemp (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985, S. 183–224 Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, in: Friedhelm Kemp / Claude Pichois (Hg.): Sämtliche Werke / Briefe, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857-1860, München/Wien 1989, S. 213–258 Charles Baudelaire: Der Salon 1859, in: Friedhelm Kemp / Claude Pichois (Hg.): Sämtliche Werke / Briefe, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860, München/Wien 1989, S. 127–212 Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, aus dem Franz. übers. von Gerd Bergfleth, München 1982 (Paris 1976) Jean Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, aus dem Franz. übers. v. Markus Sedlaczek, Berlin 2008 (Paris 2007) Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 2002 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, aus dem Franz. übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a. M. 1989 (Paris 1980) Michael Bartram: The Pre-Raphaelite Camera. Aspects of Victorian Photography, Boston 1985 André Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes, in: ders.: Was ist Kino?, hg. v. H. Bitomsky u. a., Köln 1975 Ulrich Johannes Beil / Cornelia Herberichs / Marcus Sandl: Benjamins Aura-Konzept und die historische Mediologie. Ansätze, Kontexte, Perspektiven, in: dies. (Hg.): Aura und Auratisierung. Mediologische Perspektiven im Anschluss an Walter Benjamin, Zürich 2014, S. 11–23 Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte?, Berlin 1984 Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990 Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998 Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001 Hans Belting: Das echte Bild. Bilderfragen als Glaubensfragen, München 2005 Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007 Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013 Hans Belting / Andrea Buddensieg / Peter Weibel (Hg.): The Global Contemporary and the Rise of the New Art Worlds, AK ZKM, Karlsruhe 2013 Hans Belting / Andrea Buddensieg: Léopold Sédar Senghor und die Zukunft der Moderne, München 2018 Hans Belting / Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994

Bibliografie

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13 Anhang

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Bildnachweise Cover Aby Warburg. Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. von Martin Warnke, Bd. II.1., Berlin 2000, Tafel 79 https://sammlung.staedelmuseum.de/de 1 Giotto, gli afreschi della Capella degli Scrovegni, hg. von Giuseppe Basile, Mailand 2002, S. 185 2 Umberto Baldini: Giorgio Vasari. Pittore, Florenz 1994. S. 209 3 Feghelm, Dagmar / Kersting, Markus: Rubens. Bilder der Liebe, München, Berlin und London 2005, S. 40 4 Die Gemäldesammlung des Louvre, hg. von Lawrence Gowing und Magret Haase, Köln 2001, S. 456 5 Andreas Beyer: Das Porträt in der Malerei, München 2002, S. 247, Abb. 150 6 Denis Diderot, Œuvres complètes, ed. J.L.J. Brière, Paris 1821, Frontispiz 7 Meisterwerke der französischen Genremalerei im Zeitalter von Watteau, Chardin und Fragonard, AK, hg. von Colin B. Bailey, Philip Conisbee, Thomas W. Gaethgens, Berlin und Köln 2004, S. 154 8 Paintings in the Musée d’Orsay, SK, hg. von Robert Rosenblum, New York 1989, S. 39 9 Paintings in the Musée d’Orsay, SK, hg. von Robert Posenblum, New York 1989, S. 199 10 ©photo: Roby https://fr.wikipedia.org/wiki/Vierge_noire#/media/File:ViergeNoire.jpg 11 https://frieze.com/article/haus-der-kunst-sweeping-retrospective-el-anatsui 12 https://www.christies.com/img/LotImages/2018/NYR/2018_NYR_16388_0363_000(edmond_de_belamy_ from_la_famille_de_belamy).jpg 13 Foto: Christiane Kruse 14 The Andy Warhol catalogue raisonné, hg. von George Frei, Neil Printz, Bd. 2: Paintings and Sculptures 1964–1969, London 2004, S. 254 15 https://www.adsoftheworld.com/media/print/volkswagen_magritte 16 Louise Lawler: An Arragement of Pictures, New York 2000, o.P. 17 Gauguin. Metamorphosen, AK, hg. von Kyle Bentley, New York 2014, S.118, Abb. 59 18 ©Node Oslo Berlin – Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin 19 ©VG Bild Kunst, Bonn 2020, Statens Museum for Kunst (SMK), Copenhagen, Samling og Forskning (KKS) 2 0 Aby Warburg. Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. von Martin Warnke, Bd. II.1, Berlin 2000., Tafel 39 21 La Grotte Chauvet. L’art des origines, hg. von Jean Clottes Paris 2001, 175, Abb. 172 2 2 https://clubbrb.files.wordpress.com/2015/05/robot-finger.jpg 2 3 https://www.dw.com/de/der-museum-selfie-day-sorgt-f%C3%BCr-besucherandrang/a-42176075 2 4 https://sammlung.staedelmuseum.de/de 2 5 Bernard Andreae: Skulptur des Hellenismus, München 2001, Taf. 69 2 6 Venere svelata. La Venere di Urbino di Tiziano, AK, hg. v. Omar Calabrese, Mailand 2003 S. 232 2 7 Tintoretto, AK, hg. von Miguel Falomir, Madrid 2007 2 8 Sibylle Ebert-Schifferer: Caravaggio: Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk, München 2009, S. 220, Abb. 161 2 9 Originale und Kopien im Spiegel der Forschung, AK, hr. von Hubert Martin, Osftildern 2006, Kat. 2, Abb. 7 3 0 Hermann Bote: Till Eulenspiegel, hg. von H. Sichtermann, Frankfurt am Main 1978, S. 84 31 Jacques Thuillier: Georges de la Tour, Paris 2003, S. 135 3 2 Sibylle Ebert-Schifferer: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk, München 2009, S. 79, Abb. 42 3 3 Chiara d’Afflitto: Lorenzo Lippi, Florenz 2002, S. 87 3 4 Ulrich Pfisterer/Valeska von Rosen (Hr.): Der Künstler als Kunstwerk, Stuttgart 2005, S. 77 3 5 Ulrich Pfisterer/Valeska von Rosen (Hr.): Der Künstler als Kunstwerk, Stuttgart 2005, S. 95 3 6 La Toilette. Naissance de l’Intime, AK, hr. von Soline Massot, Hazan 2015 3 7 Xavier Salmon (Hr.): Madame de Pompadour, München 2002, S. 121 3 8 Chardin, AK, hg. von Pierre Rosenberg, London und New York 2000 S. 289, Abb. 80 3 9 Eine neue Kunst? Eine andere Natur! Fotografie und Malerei im 19. Jh., AK, hg. von Ulrich Pohlmann und Johann Georg Prinz von Hohenzollern, München 2004, S. 277 40 Neue Geschichte der Fotografie, hg. von Michel Frizot, Köln 1998, S. 188 41 Bert Stern: Marilyn Monroe. The Complete last Sitting, München 2002, S. 35 42 Marilyn Monroe, Cover von Life April 7, 1952 (photo: Philippe Halsman)

Bildnachweise

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Andreas Beyer: Das Porträt in der Malerei, München 2002, S. 140 https://marilyn4ever.files.wordpress.com/2014/04/madonna-madonna-284327_1024_768.jpg Andy Warhol. Photography, AK, New York und Zürich 1999, S. 292 Andy Warhol. Photography, AK, New Yor und Zürich 1999, S. 220 Andy Warhol. Photography, AK, New York und Zürich 1999, S. 373 (Foto von Francesco Scavullo) http://facesplaceslipsticktraces.blogspot.com/2015/02/candydarlingcosmopolitan-cover.html 49 The Andy Warhol catalogue raisonné, hg. von Gerorge Frei und Neil Printz, Bd. 1: Paintings and Sculptures 1961–1963, London 2002, Kat. 252 5 0 Andy Warhol. Photography, AK, New York und Zürich 1999, S. 287 51 The Andy Warhol catalogue raisonné, hg. von George Frei und Neil Printz, Bd. 1: Paintings and Sculptures 1961-1963, London 2002, Kat. 253 5 2 The Andy Warhol catalogue raisonné, hg. von George Frei und Neil Printz, Bd. 1: Paintings and Sculptures 1961-1963, London 2002, Kat. 268 5 3 Cindy Sherman: History Portraits, München, Paris und London 1991, S. 61 5 4 Cindy Sherman: History Portraits, München, Paris und London 1991, Abb. 11 5 5 Martin Kemp (Hg.): Leonardo da Vinci „La Bella Principessa“. The profile portrait of a Milanese woman, London 2010, S. 67, Abb. 32 5 6 Cindy Sherman: History Portraits, München, Paris und London 1991, S. Abb. 205 5 7 Cindy Sherman: History Portraits, München, Paris und London 1991, Abb. 19 5 8 ©Peter Hendricks: Peter Hendricks. Das Ravensburgprojekt, AK, hg. von Claudio Hills und Thomas Knubben, Köln 2004, S. 67 5 9 ©Peter Hendricks: Peter Hendricks. Das Ravensburgprojekt, AK, hg. von Claudio Hills und Thomas Knubben, Köln 2004, S. 65 6 0 ©VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Thomas Demand, Executive. Von Poll zu Presidency, AK, hg. von Museum moderne Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln 2012, S. 68 61 ©VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Thomas Demand, Executive. Von Poll zu Presidency, AK, hg. von Museum moderne Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln 2012, S. 74 6 2 ©VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Thomas Demand, Executive. Von Poll zu Presidency, AK, hg. von Musuem moderne Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln 2012, S. 54 6 3 Fotografie nach der Fotografie, AK, hg. von Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut, Florian Rötzer, München 1996, S. 165 6 4 Fotografie nach der Fotografie, AK, hg. von Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut, Florian Rötzer, München 1996, S. 164 6 5 Jacques Darriulat: Sebastien Le Renaissant. Sur le martyre de Saint Sébastien dans la deuxième moitié du Quattrocento, Paris 1998, S. 21 66 https://www.sueddeutsche.de/digital/neue-identitaet-im-internet-mein-zweites-ich-1.2121936 67 https://twitter.com/artfaceswaps/status/831637979290558464/photo/2 68 https://www.christies.com/img/LotImages/2018/NYR/2018_NYR_16388_0363_000(edmond_de_belamy_ from_la_famille_de_belamy).jpg 6 9 © Aican.io – Ahmed Elgammal 70 thenextrembrandt.com 71 Neue Geschichte der Fotografie, hg. von Michel Frizot, Köln 1998, S. 25 7 2 Caterine Rose Puglisi: Caravaggio, London 1998, S. 107, Abb. 53 7 3 Chauvet Cave. The Art of Earliest Times, hg. von Jean Clottes u.a., The University of Utah Press Salt Lake City, 2003, S. 84, Abb. 77 7 4 Henri Stierlin: Griechenland: von Mykene zum Parthenon, Köln 2001, S. 16 7 5 Bernard Andreae: Die Kunst des alten Rom, Freiburg, Basel und Wien 1989, Abb. 38 76 © EPA 7 7 Albrecht Dürer: Das druckgraphische Werk, hg. vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, bearb. von Rainer Schoch, Matthias Mende und Anna Scherbaum, Bd. 2: Holzschnitte und Holzschnittfolgen, München 2002, Nr. 208 Frontabb. Kapitel 8 Georges Vigne: Jean-Auguste-Dominique Ingres, München 1995, S. 68 S . 198  © Harvard Art Museums/Fogg Museum, Bequest of Grenville L. Winthrop; Photo © President and Fellows of Harvard College

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Vermeer. Il secolo d’oro dell’arte olandese, AK, hg. v. Sandrina Bandera u.a., Mailand 2012, S. 62, Abb. 23 Semir Zeki: Inner Vision, Oxford 1999, S. 211 Semir Zeki: Inner Vision, Oxford 1999, S. 16 Semir Zeki: Inner Vision, Oxford 1999, S. 64 Gabriele Bartz/Eberhard König: Michelangelo Buonarroti. 1475–1564, Köln 1998, S. 63 Chris Ofili: Chris Ofili, New York 2009, S. 79 Chris Ofili: Chris Ofili, New York 2009, S. 80 Chris Ofili: Chris Ofili, New York 2009, S. 80 Chris Ofili: Chris Ofili, New York 2009, S. 79 https://www.tagesspiegel.de/kultur/conchita-wurst-und-ihr-triumph-beim-esc-wie-phoenix-aus-derasche/9876472.html 8 8 https://de.wikipedia.org/wiki/Gnadenbild_Unserer_Lieben_Frau_von_der_immerw%C3%A4hrenden_ Hilfe#/media/File:Our_Mother_of_Perpetual_Help.jpg 8 9 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wahlkampf-riesenplakat-der-cdu-zeigt-haende-mit-merkelraute-a-919905.html 9 0 Stephan Kemperdieck/Jochen Sanders: Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Ostfildern 2002, S. 321 91 Andreas Beyer: Das Porträt in der Malerei, München 2002, S. 138, Abb. 90 92 http://www.tate.org.uk/context-comment/articles/jackie-jfk-and-art-diplomacy 93 https://obamawhitehouse.archives.gov/sites/default/files/microsites/ostp/09-16-2015_jph_on_potus_trip_ to_the_arctic_final.pdf 94 https://newsela-test-files-f331e.s3.amazonaws.com/article_media/2015/09/obama-mckinley-43333280.jpg 9 5a Malkunst im 19. Jahrhundert. Die Sammlung der Nationalgalerie. Band 1. A-K, hg. von Angelika Wesenberg, Birgit Verwiebe, Regina Freybeger, Petersberg 2017, S. 251 9 5b Werner Hofmann: Caspar David Friedrich, München 2000, S. 11, Abb. 1 96 http://www.mfa.org/collections/object/river-in-the-catskills-33073 97 ©bpk 9 8 Die Düsseldorfer Malerschule 1891–1918, Bd. 1, hg. von Bettina Baumgärtel, Petersberg 2011, S. 121, Abb. 2 9 9 (AP Photo Rick Bowmer) https://coloradopolitics.com/wp-content/uploads/2017/12/Trump-NationalMonume_Prat.jpg 1 00 http://asharperblur.com/2012/07/31/zwei-oder-drei-dinge-wegen-denen-ich-weiss/, Zugriff am 4.12.2015 1 01 documenta 13. Das Begleitbuch. Katalog 3/3, Ostfildern 2012, Nr. 74 1 02a DVD La Jetée, Agros Film 1983. Distributed by Optimum Releasing Ltd. Artwork 2011 1 02b DVD La Jetée, Agros Film 1983. Distributed by Optimum Releasing Ltd. Artwork 2011 1 02c DVD La Jetée, Agros Film 1983. Distributed by Optimum Releasing Ltd. Artwork 2011 1 02d DVD La Jetée, Agros Film 1983. Distributed by Optimum Releasing Ltd. Artwork 2011 1 02e DVD La Jetée, Agros Film 1983. Distributed by Optimum Releasing Ltd. Artwork 2011 1 02f DVD La Jetée, Agros Film 1983. Distributed by Optimum Releasing Ltd. Artwork 2011 103 http://p5.focus.de/img/fotos/crop277717/6252718615-w1200-h627-o-q75-p5/Kunst-Bis-zu-4000-Jahrealt-Baktrische-Prinzessinnen.jpg, Zugriff am 4.12.2015 104 [http://www.domusweb.it/content/dam/domusweb/en/art/2012/07/05/documenta-13-/ big_388030_4853_07_The_Brain_Inst__c_Roman_Maerz-1_02.jpg 105 http://unconfirmedbreakingnews.com/wp-cont