Weltenwende?: Der politische Umbruch 1918/19 und die Frage nach dem Wesen der „Österreichischen Revolution“ [1 ed.] 9783737012867, 9783847112860

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Weltenwende?: Der politische Umbruch 1918/19 und die Frage nach dem Wesen der „Österreichischen Revolution“ [1 ed.]
 9783737012867, 9783847112860

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ZEITGESCHICHTE

Ehrenpräsidentin: em. Univ.-Prof. Dr. Erika Weinzierl († 2014) Herausgeber: Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb Redaktion: em. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Ardelt (Linz), ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Ingrid Bauer (Salzburg/ Wien), SSc Mag.a Dr.in Ingrid Böhler (Innsbruck), Dr.in Lucile Dreidemy (Wien), Dr.in Linda Erker (Wien), Prof. Dr. Michael Gehler (Hildesheim), ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. Robert Hoffmann (Salzburg), ao. Univ.-Prof. Dr. Michael John / Koordination (Linz), Assoz. Prof.in Dr.in Birgit Kirchmayr (Linz), Dr. Oliver Kühschelm (Wien), Univ.-Prof. Dr. Ernst Langthaler (Linz), Dr.in Ina Markova (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfgang Mueller (Wien), Univ.-Prof. Dr. Bertrand Perz (Wien), Univ.-Prof. Dr. Dieter Pohl (Klagenfurt), Univ.-Prof.in Dr.in Margit Reiter (Salzburg), Dr.in Lisa Rettl (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow (Innsbruck), Mag.a Adina Seeger (Wien), Ass.-Prof. Mag. Dr. Valentin Sima (Klagenfurt), Prof.in Dr.in Sybille Steinbacher (Frankfurt am Main), Dr. Christian H. Stifter / Rezensionsteil (Wien), Priv.-Doz.in Mag.a Dr.in Heidemarie Uhl (Wien), Gastprof. (FH) Priv.-Doz. Mag. Dr. Wolfgang Weber, MA, MAS (Vorarlberg), Mag. Dr. Florian Wenninger (Wien), Assoz.-Prof.in Mag.a Dr.in Heidrun Zettelbauer (Graz). Peer-Review Committee (2021–2023): Ass.-Prof.in Mag.a Dr.in Tina Bahovec (Institut für Geschichte, Universität Klagenfurt), Prof. Dr. Arnd Bauerkämper (Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin), Günter Bischof, Ph.D. (Center Austria, University of New Orleans), Dr.in Regina Fritz (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien/Historisches Institut, Universität Bern), ao. Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Johanna Gehmacher (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien), Univ.-Prof. i. R. Dr. Hanns Haas (Universität Salzburg), Univ.-Prof. i. R. Dr. Ernst Hanisch (Salzburg), Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Gabriella Hauch (Institut für Geschichte, Universität Wien), Univ.-Doz. Dr. Hans Heiss (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Robert G. Knight, Ph.D. (Department of Politics, History and International Relations, Loughborough University), Dr.in Jill Lewis (University of Wales, Swansea), Prof. Dr. Oto Luthar (Slowenische Akademie der Wissenschaften, Ljubljana), Hon.-Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien), Mag. Dr. Peter Pirker (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Prof. Dr. Markus Reisenleitner (Department of Humanities, York University, Toronto), Dr.in Elisabeth Röhrlich (Institut für Geschichte, Universität Wien), ao. Univ.-Prof.in Dr.in Karin M. Schmidlechner-Lienhart (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. Friedrich Stadler (Wien), Prof. Dr. Gerald J. Steinacher (University of Nebraska-Lincoln), Assoz.-Prof. DDr. Werner Suppanz (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. Dr. Philipp Ther, MA (Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien), Prof. Dr. Stefan Troebst (Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Universität Leipzig), Prof. Dr. Michael Wildt (Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin).

zeitgeschichte 48. Jg., Heft 4 (2021)

Weltenwende? Der politische Umbruch 1918/19 und die Frage nach dem Wesen der „Österreichischen Revolution“ Herausgegeben von Florian Wenninger

V&R unipress Vienna University Press

Inhalt

Florian Wenninger Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

Artikel Maria Mesner Unruhe im Land. Die Transformation zur Ersten österreichischen Republik außerhalb der Hauptstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Veronika Helfert „Ja, wir machten damals im Arbeiterrat hohe Politik!“ Vom Versprechen des Rätesystems: ein Instrument für Selbstorganisation und Selbstermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Li Gerhalter / Ina Markova Geschlechterspezifische Un_Ordnungen in Österreich 1914–1920. Die „Österreichische Revolution“ in Tagebüchern und Briefen . . . . . . 481 Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

Rezensionen Lisa Gottschall Margit Berner, Letzte Bilder. Die „rassenkundliche“ Untersuchung jüdischer Familien im Ghetto Tarnów 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Maximilian Graf Peter Svik, Civil Aviation and the Globalization of the Cold War

. . . . . 512

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Inhalt

Robert Kriechbaumer Oliver Rathkolb, Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 Thomas Riegler Philippe Sands, The Ratline: Love, Lies and Justice on the Trail of a Nazi Fugitive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Autor/inn/en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

Florian Wenninger

Editorial

Die Historiografie der soziopolitischen Transformation im Spätherbst 1918 und der Entstehung der Ersten Österreichischen Republik, jenes Prozesses also, den Otto Bauer die „Österreichische Revolution“ nannte, zeichnet bisher meist das Bild eines zentralistischen Top-Down-Prozesses: Geografisch liegt der Fokus auf der Residenz- und nunmehrigen Bundeshauptstadt Wien; Politische Analysen widmen sich den drei zentralen politischen Institutionen, mithin dem im Abgang begriffenen Kaiser, dessen Regierung und der zeitweise parallel tätigen Provisorischen Nationalversammlung. An Akteuren kommt vor allem eine kleine Schar von Parteiführern, die Kurzzeit-Ministerpräsidenten Max Hussarek und Heinrich Lammasch sowie Karl I. zu Ehren. Als einzige Frau findet regelmäßig Kaiserin Zita mit ihrem Versuch Erwähnung, ihren Mann vom Verzicht auf die Amtsgeschäfte abzuhalten. Atmosphärisch ist das Bild zumeist düster und vermittelt den Eindruck einer allgemeinen Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit, gleichsam ein narratives Menetekel für die folgenden fünfzehn Jahre, die selbst in der jüngeren Literatur der Konsensdemokratie der Zweiten Republik als Negativfolie dienten. Vor diesem Hintergrund nahmen Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und die Volkshochschule Ottakring den 100. Jahrestag der Republiksproklamation zum Anlass, um mit großzügiger Unterstützung des Zukunftsfonds der Republik Österreich 2018/19 unter dem Titel „Weltenwende?“ eine Veranstaltungsreihe zu organisieren. Anliegen der in diesem Rahmen gehaltenen, forschungsgeleiteten Vorträge war es, den Blickwinkel auf den Regimewechsel in der Schlussphase des Ersten Weltkrieges zu weiten. Dem Zentrum sollte die Peripherie gegenübergestellt werden, der politischen Elite die Bevölkerung als künftigem Souverän, den repräsentativ-demokratischen Einrichtungen jene direktdemokratischen Bestrebungen, die sich in Gestalt von Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten im ganzen Land bemerkbar machten. Ein wesentlicher Anspruch war darüber hinaus, die männerdominierte Tradierung der Ereignisse, in der auch fast ausschließlich Männer als Akteure in Erscheinung treten, um zeitgenössische Initiativen und Wahrnehmungen von Frauen zu erweitern. Wie die drei

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hier versammelten Beiträge zeigen, erwiesen sich diese neuen Herangehensweisen als überaus fruchtbar. Maria Mesners Beitrag veranschaulicht die Situation abseits der urbanen Zentren. Durch das Prisma des Umbruchs in der Provinz greift sie die Frage auf, inwieweit die Rätebewegung als Ausdruck einer vor sich gehenden sozialen Revolution interpretierbar ist. Im Unterschied zu Hans Hautmann, dessen Forschungsarbeit die Wahrnehmung der Räte seit den 1980ern stark geprägt hat, versteht Mesner die Räte nicht als revolutionäre Gremien, sondern im Gegenteil als Versuch, eine erodierende staatliche Ordnungsmacht provisorisch zu ersetzen. Veronika Helferts Verständnis der Rätebewegung ist stark von der Bedeutung geprägt, die den Räten als Rahmen für die politische Betätigung von Frauen zukam. Frauen waren maßgebliche Trägerinnen der sozialen Unrast gewesen, die das Fundament der Monarchie spätestens seit dem Frühjahr 1917 zunehmend erschütterten. Erst die Republik erkannte Frauen aber gleiche staatsbürgerliche Rechte zu. Während sich deren politisches Engagement in den Parteien in weiterer Folge vor allem innerhalb bestehender, von Männern geprägter Strukturen entfalten konnte, traf dies auf die neu gegründeten Räte gerade in deren Anfangsphase nur eingeschränkt zu. Auch Ina Markova und Li Gerhalter widmen sich dem Übergang von der Monarchie zur Republik aus einer Geschlechterperspektive, wobei ihr Zugang stärker alltags- und sozialgeschichtlich geprägt ist. Sie veranschaulichen, wie die veränderten Bedingungen des modernen Massenkrieges auch die Lebenswelt der „Zuhausegebliebenen“ in eine Unordnung versetzte, die sich rasch gesamtgesellschaftlich bemerkbar machte. Die Dialektik der Republik, so ließe sich ableiten, bestand weniger darin, dass sie der alten, ins Wanken geratenen Ordnung eine neue entgegensetzte, sondern dass sie einen Teil der von Gerhalter und Markova beleuchteten, multidimensionalen Un-Ordnung nicht beseitigte, sondern verstetigte.

Artikel

Maria Mesner1 Mitarbeit: Raphael Besenbäck, Romana Haslinger

Unruhe im Land. Die Transformation zur Ersten österreichischen Republik außerhalb der Hauptstadt

In den Geschichten über die „Österreichische Revolution“2 – ein Begriff, den Otto Bauer prägte, der damit allerdings die „bürgerliche Revolution“ im Marx’schen Sinne meinte3 – ist meistens von den Ereignissen in Wien, eventuell noch in Linz oder Wiener Neustadt die Rede. Die Zentren des ehemaligen Cisleithanien werden in diesen Erzählungen zu Orten der revolutionären Utopien jenseits der parlamentarischen Demokratie und der Versuche, sie zu realisieren. Der folgende Beitrag versucht einen Wechsel der Perspektive und nimmt das Land außerhalb der Hauptorte in den Blick. Das scheint umso wesentlicher, als zum Ende des Ersten Weltkriegs mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Orten bis zu 10.000 Menschen lebte, knapp die Hälfte der damaligen Bewohner und Bewohnerinnen sogar in Orten mit unter 5.000 Personen.4 Die Ergebnisse der ersten verlässlichen Volkszählung der Ersten Republik im Jahr 1934 zeigen, dass genau 45 Prozent der Wohnbevölkerung in Gemeinden unter 5.000 Personen wohnten, 50,5 Prozent in solchen unter 10.000 Gesamtbevölkerung.5 Diese Geschichte handelt also grob gesprochen von der „anderen Hälfte“, dem Österreich außerhalb der Zentren der Ersten Republik.6 In der österreichischen Historiographie ist das nicht der erste derartige Versuch, die Österreichische Revolution abseits der großen Städte zu rekonstruieren. Es gibt vereinzelte – verdienstvolle – 1 Ich bedanke mich bei Gabriella Hauch für wichtige Hinweise. 2 Zum Begriff und zum Charakter der „Österreichischen Revolution“ vgl. jüngst Veronika Helfert, „Frauen, wacht auf!“ Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924, Göttingen 2021, 35–45. 3 Otto Bauer, Die Österreichische Revolution, Wien 1923. 4 Siehe Grafik in: Ländlicher, männlicher, älter, in: Der Standard, 28. Juni 2019, 3. 5 Bundesamt für Statistik (Hg.), Statistik des Bundesstaates Österreich, Heft 1: Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Bundesstaat Textheft, Wien 1935, 30. 6 Zum komplexen Verhältnis von „Provinz“ und „Metropole“, das die Erste Republik in vielerlei Hinsicht prägte, vgl. auch Gabriella Hauch, „Ein Sprung ins Dunkle …“ Partizipation und Repräsentation von Frauen in Landtagen und Gemeinderäten in der Ersten Republik, in: Blaustrumpf ahoj! (Hg,), „Sie meinen es politisch!“ 100 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich: Geschlechterdemokratie als gesellschaftspolitische Herausforderung, Wien 2019, 143–145.

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Regionalstudien, auf die sich dieser Text stützt: Fritz Dittlbacher befasste sich Anfang der 1990er Jahre mit Oberösterreich,7 es gibt einige kürzere Texte, die sich mit revolutionären Ereignissen in einzelnen Orten, etwa Donawitz oder Vöslau, befassen.8 In einigen der Sammelbände zur österreichischen Geschichte der frühen Ersten Republik finden sich einzelne Fallstudien zu spezifischen Aspekten, etwa jenem der Sezessionsbereitschaft einzelner Bundesländer.9 Ein Überblick fehlt bisher und kann auch in diesem Text nicht umfassend geleistet werden. Vielmehr sollen – entlang von Quellen, die unten genauer beschrieben werden – einige Sonden in die Geschichte der „Österreichischen Revolution“ gelegt werden, die vor allem Antworten darauf finden sollen, wer die ProtagonistInnen der Ereignisse außerhalb der städtischen Zentren überhaupt waren und ob sie tatsächlich auf „Revolution“, welche Utopie das Schlagwort immer meinte, zielten sowie welche sozialen Verhältnisse durch eine „Revolution“ verändert werden sollten. Trotzdem sind die folgenden Thematisierungen von dem in den Quellen Vorgefundenen geleitet und müssen daher etwas fragmentarisch bleiben. Ich hoffe aber, dass sie Ausgangspunkte für jene weiteren Forschungen sein können, die notwendig sind, um ein differenziertes, ausgewogeneres Bild von den „Umbruchzeiten“ 1918/19 zu entwickeln. Aus dem unübersichtlichen Gewirr, das das Gebiet Österreichs in den letzten Wochen der Monarchie und den ersten der Republik darstellte, ziehe ich – ganz subjektiv, es handelt sich um meine Geburtsstadt – einen Faden: Die oberösterreichische Stadt Braunau am Inn war 1918/19 kein Industriestandort, sondern das traditionell „national“ dominierte Verwaltungszentrum eines bäuerlich geprägten, traditionell ebenfalls eher deutsch-nationalen politischen Bezirkes.10 In den Nationalrats- und Landtagswahlen des Jahres 1919 erhielt aber die Sozialdemokratische Arbeiterpartei eine große relative Mehrheit an Stimmen. In den Jahren 1919 bis 1923 war daher ein Sozialdemokrat, der allerdings zuvor „Nationaler“ gewesen war, Bürgermeister. Die Stadt beherbergte eine Garnison, während des Ersten Weltkriegs auch eine Marineakademie, ein Flüchtlings- und ein Kriegsgefangenenlager.11 Der Ort ist als Fallbeispiel für die unruhige Tran7 Fritz Dittlbacher, Die Revolution am Lande. Russische Revolutionäre Ideen in der österreichischen Novemberrevolution. Am Beispiel oberösterreichischer Landgemeinden und Kleinstädte, phil Diss. Univ. Wien o. J. [1992]. 8 Siehe z. B. Heimo Halbrainer, April 1919: die Sozialistische Republik Donawitz, in: Alfred Klahr Gesellschaft. Mitteilungen, Jg. 26/1 (März 2019), 1–5. 9 Siehe etwa Christian Koller, „… der Wiener Judenstaat, von dem wir uns unter allen Umständen trennen wollen.“ Die Vorarlberger Anschlussbewegung an die Schweiz, in: Helmut Konrad / Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik, Band 1, Wien 2008, 83–102. 10 Siehe Erwägungen zur Landtagswahl, in: Neue Warte am Inn, 24. Mai 1919, 2. 11 Max Eitzlmayr, Braunauer Album. Bilder und Texte aus Vergangenheit und Gegenwart, I. Teil, Braunau 1985, o. S. [6].

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sitionsphase von der Monarchie in die Republik geeignet, verfügt er doch über ein Stadtarchiv mit Gemeinderats- und Gemeindeausschussprotokollen für den fraglichen Zeitraum sowie ein regelmäßig erscheinendes Wochenblatt, die christlich-sozial orientierte „Neue Warte am Inn“.12 Der Ort hatte zum damaligen Zeitpunkt etwa 6.500 Einwohner und Einwohnerinnen13 und verfügte als Bezirkszentrum über ein Krankenhaus, Schulen sowie einige Gewerbebetriebe, war keinesfalls urban, sondern eher rural geprägt. Begibt man sich ins Stadtarchiv auf Suche nach den Spuren der „Österreichischen Revolution“, so findet sich in den Gemeinderatsprotokollen im Frühjahr 1919 – neben Überlegungen über Anoder Verkauf eines kleinen Elektrizitätswerkes oder zum Umgang mit dem im Ort gelegenen Kriegsgefangenenlager – Folgendes: Am 20. Februar beschloss der Gemeinderat, „Fachlehrer Flir […], Oberverschieber Wiener […], Hermadinger […], Gärtner Schachinger [… ] und Werkmann Kotzian im Gemeinde-Ausschuss“ zu ergänzen.14 Es ist davon auszugehen, dass sich hinter den etwas dürren Zeilen die örtliche Umsetzung des §10 des Gesetzes vom 11. 11. 1918 über die zukünftige Staatsform Österreichs verbarg: Vorgesehen war dort die Ergänzung der Gemeindevertretung durch eine „angemessene Zahl von Arbeitern“.15 Zwar war der „Fachlehrer“ kaum ein „Arbeiter“, aber wohl ein Vertreter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die durch das Gemeindewahlrecht nach Kurien bisher benachteiligt gewesen war.16 Über diese Anmerkung hinaus gibt es in den Braunauer Gemeinderats- und Gemeindeausschussprotokollen nur noch eine weitere Spur der „Österreichischen Revolution“: Für den 24. Mai 1919 hält das Protokoll fest, dass „die Kaiser-Büste und die auf die vormalige Monarchie und Dynastie bezüglichen Bilder“ „dem Museal-Verein Braunau in das Heimat-Haus Braunau übergeben“ würden.17 Damit wurde offenbar auch die Monarchie als Staatsform ins Museum verfrachtet. In der Folgezeit war der Alltag der neuen – nun republikanischen – Gemeindevertretung geprägt von Versuchen, den Nachkriegsmangel administrativ in den Griff zu bekommen und die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen. Das war nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine sicherheitspolitische Aufgabe. Am 11. November 1918, also am Tag vor 12 Dass die Autorin in dem Ort geboren und aufgewachsen ist, kann als Modus der Zufallsauswahl gelten. 13 Die Volkszählung von 1910 weist eine Bevölkerungszahl von 6.340 aus, jene von 1923 eine von 6.678. Siehe Statistik Austria (Hg.), Volkszählung. Wohnbevölkerung nach Gemeinden (mit der Bevölkerungsentwicklung seit 1869), Wien 2002, 61. 14 Gemeinderats – Sitzungsprotokoll Stadtgemeinde Braunau am Inn, Ober-Oesterreich, Band 12.X.1912–14. 4. 1922. 15 Siehe Dittlbacher, Revolution am Lande, 124. 16 Siehe H. [Harry] Slapnicka/G. [Gerhart] Marckhgott, Aufbau der Demokratie Politik und Verwaltung Oberösterreichs 1861–1918, Linz 1987 (= Quellen zur Geschichte Oberösterreichs im 19. und 20. Jahrhundert 1), 50, 57. 17 Gemeinderats-Sitzungsprotokoll.

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der Ausrufung der Republik, aber ohne irgendeinen erkennbaren Zusammenhang damit, war es zu größeren Plünderungen gekommen, weil in der Marineakademie Stoffe und Bekleidungsstücke gelagert waren, deren Herausgabe die Bevölkerung forderte. Es war nicht untypisch für die Übergangszeit von der Monarchie in die Republik, dass sich – angesichts der nicht mehr funktionierenden Staatsmacht – ein Bürgerkomitee bildete, das die gerechte Verteilung der Lebensmittel übernehmen wollte. Die offensichtlich angesichts der kaum funktionierenden Staatsmacht rasch aufgestellte Bürgerwehr konnte aber die ungeregelten Plünderungen nicht verhindern.18 Tatsächlich hatte das k. u. k. Kriegsministerium in einem Schreiben an das k. k. Ministerium des Inneren vom 1. November 1918 genau die Bildung von Bürgerwehren, wenn auch nur in „sprachlich einheitlichen Städten“ – als solche kann Braunau zu diesem Zeitpunkt gelten –, angeregt, ihr Zweck sei die „Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit“. Sie sollten allerdings nicht „selbständig“ gebildet werden, sondern „in Anlehnung und im Rahmen bereits bestehender Sicherheitsvorkehrungen (Gendarmerie, Polizei)“.19 Ob diese Bürgerwehr ganz oder teilweise mit dem „Ortsarbeiterrat“ identisch ist, den Hans Hautmann in seiner Studie erwähnt,20 muss letztlich unklar bleiben, ist aber unwahrscheinlich, weil Hautmann Braunau nicht unter den Orten listet, an denen vor dem März 1919 ein Arbeiterrat existiert habe.21 Weder in den Unterlagen des Stadtarchivs noch in der örtlichen Presse findet sich eine Erwähnung dieses „Arbeiterrates“, auch nicht für die Zeit nach dem März 1919. Meinen Ausführungen liegen – außer den Materialien des Stadtarchivs in Braunau – jene Akten im Staatsarchiv zugrunde, die von Unruhen und Demonstrationen berichten, außerdem lokale Zeitungen, so sie für den Zeitraum durchgängig erhalten sind, sowie bereits publizierte historiographische Literatur, die allerdings, sieht man von Hans Hautmanns grundlegendem Werk22 ab, eher 18 Der Sturm auf das Monturmagazin der Marine-Akademie, in: Neue Warte am Inn, 16. 11. 1918. 6. 19 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Inneres, Präsidium, 22 (Sicherheit), K. u. k. Kriegsministerium, Abt. 5, an das k. k. Ministerium des Inneren, 1. November 1918, Nr. 12.933. 20 Hans Hautmann, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1920, Habilitationsschrift Univ. Linz, Linz 1981, Bd. 3, 962; und Hans Hautmann, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924, Wien – Zürich 1987, 755. Hautmann äußert sich zu den Quellen, die die Grundlage für das von ihm erstellte „Verzeichnis der Landes-, Kreis-, Bezirks- und Ortsarbeiterräte in Österreich“ bilden, nicht, sondern führt nur aus: „Die Aufstellung zählt, geordnet nach Ländern, Kreisen und Bezirken, jene Städte und Orte auf, wo Arbeiterräte über kürzere oder längere Zeit hinweg nachweislich existierten.“ (753). Zur Art dieses „Nachweises“ gibt es leider keine Informationen. 21 Siehe Hautmann, Geschichte der Rätebewegung 1918–1924, 277. 22 Hautmann, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1920, 3 Bde., überarbeitet erschienen als Hautmann, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924.

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lokal fokussiert ist. Auf dieser Grundlage lässt sich die These formulieren, dass die Braunauer Ereignisse eines der möglichen Muster waren, wie die „Österreichische Revolution“ in nicht-urbanen Gegenden vor sich ging: Der Wechsel der Systeme war von Unruhe und Unsicherheit gekennzeichnet, die vor allem daraus entstanden, dass einerseits die bisherige Ordnungsmacht nicht mehr in ausreichendem Maß funktionierte und andererseits der allgegenwärtige Mangel, der durch die Kriegsjahre entstanden war, nur schwer in den Griff zu bekommen war: Die Bürger und Bürgerinnen griffen also zur Selbsthilfe, bildeten Räte und Komitees. Die so entstandenen Volks- oder Bauernräte erinnern zwar semantisch an die „Räte“ der russischen Revolution, an die späteren Räterepubliken Ungarns oder Bayerns. Ob damit aber in gleicher Weise eine Überwindung der bestehenden politischen Ordnung und nicht nur die Wiederherstellung irgendeiner Ordnung angestrebt wurde, lässt sich nicht immer ganz klar entscheiden, muss aber eher verneint werden. Verhandlungsprozesse, die darauf verweisen, dass die künftige politische Ordnung lokal explizit zur Debatte gestanden wäre, lassen sich bis auf einige Ausnahmen, auf die ich zurückkommen werde, nicht finden. Meinem Ordnungsversuch lege ich ein chronologisches Schema zu Grunde, das auf der Basis der vorhandenen historischen Quellen sowie entlang der wesentlichen Daten der historischen Entwicklung generiert wurde. Aus arbeitsökonomischen Gründen habe ich mich entschlossen, nicht mit dem Jännerstreik des Jahres 1918 einzusetzen, sondern mit den letzten Kriegsmonaten ab dem Sommer des Jahres 1918 als erstem zeitlichem Cluster. Davon ausgehend habe ich drei weitere chronologische Untersuchungsräume gebildet: die Phase um die Ausrufung der Republik, also den November 1918; die Ereignisse rund um die erste Wahl nach dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht am 16. Februar 1919 sowie Frühling und Sommer 1919, als es, wohl unter dem Einfluss der Ausrufung von Räterepubliken in Bayern und Ungarn zu weiterer Eskalation kam. In einem fünften Cluster werde ich das Gesamtbild durch einen Blick auf die nationalistisch unterlegten Unruhen in mehreren österreichischen Grenzregionen ergänzen.

Die letzten Kriegsmonate Versorgungsmängel waren während des Ersten Weltkriegs spätestens im zweiten Kriegswinter in eklatanter Weise aufgetaucht. Mit Dauer des Krieges wurde die Lage immer dramatischer.23 Ein deutliches Bild aus Perspektive der Sicherheitsbehörden gibt beispielsweise ein Bericht an das Präsidium des k. k. Minis23 Vgl. Hannes Leidinger, Der Untergang der Habsburgermonarchie, Innsbruck – Wien 2017, 213–216.

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terium des Inneren vom 14. Oktober 1918. Dort ist von Befürchtungen in Bezug auf die im Zug der Demobilisierung zurückströmenden Heimkehrer die Rede, die weder ernährt noch untergebracht werden könnten, sodass Hunger, Arbeitsund Obdachlosigkeit drohten, was „direkte Erschütterungen der jetzigen Gesellschaftsordnung zur Folge haben“ könnte.24 Dementsprechend finden sich in den Akten und in den lokalen Tages- und Wochenzeitungen ständig die Spuren von Versorgungsmängeln, Protesten dagegen und Versuchen, die Mängel zu lindern. Ich habe diese Spuren ab dem Sommer 1918 aufgenommen: Die Behörden in den Bundesländern bemühten sich bei den Zentralstellen vor allem um Nahrungsmittelzuteilungen, weil immer offensichtlicher wurde, dass nur so größere Aufstände vermieden werden konnten. Der k. k. Statthalter in Niederösterreich berichtete beispielswiese am 30. August 1918 an das Präsidium des k.k. Innenministeriums, dass sich am 21. August in Wöllersdorf anlässlich der „Menageverteilung“ eine „größere Menschenmenge“ angesammelt habe, „die gewaltsam in die Küche eindrang.“ Fenster seien eingeschlagen, die Angestellten in der Küche bedrängt worden. Die zur Hilfe gerufene Gendarmerie sei mit Steinen beworfen worden, habe die Lage aber schließlich unter Kontrolle gebracht und einige Verhaftungen vorgenommen. Auf den ersten Blick fällt auf, dass nur die Namen von Frauen unter den Protestierenden aufscheinen. Die hohe Beteiligung von Frauen bestätigt die Ergebnisse der internationalen Geschlechtergeschichte, die Hungerproteste als typisch weibliche Protestform charakterisiert, die häufig an als weiblich konnotierten Orten – hier in der Küche – stattfindet.25 Die Munitionsarbeiterinnen wurden wegen „öffentlicher Gewalttätigkeit“ verhaftet und ins Kreisgericht Wiener Neustadt gebracht.26 Über die Tatsache, dass ausschließlich Frauen verhaftet wurden, verliert der Bericht übrigens kein Wort des Erstaunens, während gewalttätige Frauen in unserer Gegenwart doch besondere Aufmerksamkeit hervorrufen. In den Berichten über Hungerunruhen und -krawalle der letzten Kriegsmonate tauchen Frauen allerdings nicht nur im ländlichen Bereich, sondern generell häufiger auf. Viele 24 AVA, Inneres und Justiz/Ministerium des Inneren, Präsidiale, 20, 1912/1918, Schreiben der Polizeidirektion Wien an das Präsidium des k. k. Ministerium des Inneren vom 14. Oktober 1918, Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Zl. 23375. 25 Veronika Helfert, Verzweiflung, Empörung und Wut: Intersektionale Perspektiven auf Geschlecht, Politik und Gewalt in und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Maria Mesner / Sushila Mesquita, Eine emotionale Geschichte. Geschlecht im Zentrum der Politik der Affekte, Wien 2018, 55; Karen Hagemann, Men’s Demonstrations and Women’s Protest: Gender in Collective Action in the Urban Working-Class Milieu during the Weimar Republic, in: Fiona Montgomery / Christine Collette (Hg.), The European Women’s History Reader, London et al. 2002, 314–328; Lynne Taylor, Food Riots Revisited, in: Journal of Social History 1996/2, 483–496. 26 AVA, Inneres, Präsidium, 22 (Unruhen), NÖ, Der k. k. Statthalter an das Präsidium des k. k. Ministeriums des Inneren, 30. August 1918, Pr. Z. 3166/P.

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Frauennamen, deutlich mehr als die Hälfte, sind z. B. in den Listen von Personen enthalten, die (in Linz und Umgebung) der Plünderung verdächtigt wurden, die das Linzer Tagblatt im Februar 1919 veröffentlichte.27 Frauen waren es, die für die Ernährung zuständig waren, und die sogenannte Heimatfront war, angesichts des verbreiteten Kriegsdienstes der Männer, auch „weiblicher“ als in Friedenszeiten; Frauen waren, in Abwesenheit der Männer, in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen zu finden, es ist also im Grunde nicht verwunderlich, wenn sie auch in vielen Hungerkrawallen und illegalen Aktionen zur Ressourcenbeschaffung aktiv waren. Der Nahrungsmittelmangel und die behördlichen Versuche, ihn in den Griff zu bekommen, ließen eine deutliche Konfliktlinie entstehen bzw. stärker hervortreten, nämlich jene zwischen Nahrungsmittelproduzierenden und denen, die die Nahrung dringend brauchten. Der Versuch, Bauern stärker in die Pflicht der Kriegswirtschaft zu bringen, brachte schließlich diese Gruppe gegen die Monarchie, die Dynastie und ihre Behörden auf: weil „der Bauer nicht verstehen kann, wenn Feiertage zu Gunsten einer höheren Produktion aufgelassen werden,“ wie es in einem Lagebericht aus Salzburg hieß.28 Aufgrund der wesentlichen Rolle der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ist es nicht verwunderlich, dass in den Polizeiberichten sozialdemokratische Lokalpolitiker häufig erwähnt wurden, weil sie beispielsweise offizielle Delegationen, die bei den Behörden vorstellig wurden, anführten. Es scheint aber wesentlich, dass, so ist aus den Akten zu schließen, sich diese Anführer-Rolle nicht auf (männliche) Sozialdemokraten beschränkte. Auch dem deutschnationalen Spektrum zugehörige Politiker engagierten sich an vielen Orten, vor allem in Oberösterreich und Salzburg, vehement für die Anliegen der gegen die Versorgungslage Demonstrierenden29 – ein Aspekt, der in den Darstellungen des Deutschnationalismus in Österreich bisher unterbelichtet ist, aber andererseits nicht verwundert: Viele Gebiete Salzburgs und Oberösterreich waren von deutsch-nationaler politischer Dominanz geprägt. Die Deutsch-Nationalen wiederum hatten kein politisches Interesse am Erhalt der Monarchie. Durch die Unterstützung der Demonstrierenden wurde aber eine Volksnähe hergestellt, die dem Machterhalt lokaler politischer Eliten gerade in Umbruchszeiten dienlich sein konnte.

27 Dittlbacher, Revolution am Lande, 291; siehe z. B. auch Tagblatt. Organ für die Interessen des werktätigen Volkes (Linz), 13. Februar 1919, 4. 28 AVA, Inneres, Präsidium 22 (Unruhen), OÖ, Sbg., Ministerium für Landesverteidigung an das Präsidium des k. k. Ministeriums des Inneren: Stimmung der Bevölkerung in Oberösterreich, 16. Juni 1918, Z. 18856/XX Präs. 29 Siehe z. B. AVA, Inneres, Präsidium, 22 (Unruhen), OÖ, Sbg., k. k. Landespräsident an das Ministerium des Inneren, 22. Juni 1918, Präs. Zl. 14.501.

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Obwohl sich in ihren Berichten an das Innenministerium keine Hinweise auf einen systemtranszendenten Charakter der beobachteten Unruhen und Demonstrationen finden, fürchteten die Sicherheitsbehörden doch, dass staatsfeindliche, genauer: monarchiefeindliche Stimmungen die Oberhand gewinnen könnten. Vor allem Heimkehrer aus dem nachrevolutionären Russland dienten als Projektionsfläche für diese Ängste: Die Niederösterreichische Statthalterei warnte z. B. im August 1918 das Innenministerium vor einem Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft, der in Krems „sich wiederholt achtungswidrig gegen unsere Regierung geäussert, die Verhältnisse in Russland gut geheißen und auch die bolschewikischen Ideen in der Heimat zu verbreiten versucht habe“.30 Gleichzeitig diskutierten die Behörden verschiedene Strategien gegen den befürchteten „Umsturz“, die die Ambivalenz der Verhältnisse zwischen dem Verhaftet-Sein in der Monarchie und dem Hinausweisen auf eine andere politische Ordnung deutlich zeigen: Das Ministerium für soziale Fürsorge überlegte die Einführung von Ausbildungen für Vertrauensmänner und eines Wahlsystems, das eine „den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Vertretung der Arbeiterschaft“ gewährleisten würde.31 Auch der stellvertretende Militärkommandant auf dem Steinfelde regte in einem Schreiben an das Ministerium für Landesverteidigung vom 18. Mai 1918 an, geregelte Wahlen von Vertrauensmännern in den Militärbetrieben durchzuführen, weil er dabei auf gemäßigtere Elemente hoffte, die so mehr Gewicht gewinnen könnten. Er habe außerdem beobachtet, dass der „radikale Flügel innerhalb der [sozialdemokratischen] Partei die Oberhand gewinne“, warnte er seine Vorgesetzten. Diese informierte der Offizier auch über einen aus heutiger Sicht interessanten, wiederum auf die Ambivalenz der Transition und ihrer Akteure verweisenden Schritt. Er habe „Vorarbeiten zur Schaffung bzw. Stärkung einer dynastie- und staatstreuen Partei vorgenommen“. Das Militärkommando erwog also, eine Partei für seine Zwecke einzusetzen. Parlamentarisch-demokratische Konzepte hatten offenbar in einem Bereich, der sich nicht durch demokratie-affine Strukturen und Prozesse auszeichnete, soweit Legitimität gewonnen, dass ein Militärkommandant eine, wenn auch monarchistische Parteiengründung erwägen und an seine Vorgesetzten melden konnte – diese lehnten den Plan übrigens ab, und zwar weil sie fürchteten, dass eine solche Partei, wegen ihres offiziösen Charakters, manche von „einer Betätigung

30 AVA, Inneres, Präsidium, 22 (Unruhen), NÖ, Der k. k. Statthalter an das Präsidium des k. k. Ministeriums des Inneren, 9. August 1918, Pr. Z. 2595 P. 31 AVA, Inneres, Präsidium, 22 (Unruhen), NÖ, Präsidium des k. k. Ministeriums des Inneren, 8. August 1918, Arbeiterbewegung auf dem Steinfelde, Einflussnahme auf die zu wählenden Vertrauensmänner, Z. 15370/XVIIa.

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im patriotischen Sinne [also für die Monarchie]“ abhalten könne, daher kontraproduktiv sei.32 Bereits das oben zitierte Wöllersdorfer Beispiel zeigt, dass sich besonders in Fabriken die Unzufriedenheit mit der Fortdauer des Krieges manifestierte. Angesichts der herrschenden Rahmenbedingungen verwundert es nicht, dass gerade Großbetriebe Orte der Unruhe waren: Schon bei Kriegsbeginn waren viele Industriebetriebe einer strikten militärischen Disziplin unterworfen worden. Die Rechte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die ohnehin nicht sehr ausgeprägt waren, wurde rigide eingeschränkt. Ende Juli 1914 war die Kategorie der „staatlich geschützten Unternehmen“ geschaffen worden, dort war das Koalitionsrecht, das das Recht der ArbeitnehmerInnen gewährleistete, sich zur Wahrung ihrer Interessen zusammenzuschließen, praktisch aufgehoben.33 Durch die militärische Leitung der Betriebe nach dem Kriegsleistungsgesetz34 wurden die Fabriken – so sahen es viele Zeitgenossen und vor allem wohl die betroffenen Arbeiter – in Kasernen mit entsprechendem disziplinierenden Durchgriff umgewandelt. Es kam häufig zu Konflikten zwischen Fabrikarbeitern sowie immer mehr Fabrikarbeiterinnen und militärischem Leitungspersonal. Die Ausweitung der Arbeitszeiten und die rasch prekär werdende Ernährungssituation bald nach Kriegsbeginn verschlechterten die Stimmung in den Fabriken bis 1918 drastisch.35 Außerdem konzentrierte die Kriegsproduktion große Menschenmassen außerhalb der großen Städte, z. B. bei Wiener Neustadt. Dort lebten 1913 ca. 37.000 Menschen, 1918 64.000 sowie ca. 9.000 Militärangehörige. Der größte Betrieb in der Gegend war die Munitionsfabrik in Wöllersdorf, wo im Juni 1914 3.500 Menschen und 1917 mehr als 40.000 Menschen beschäftigt waren, die 70 Arbeitsstunden pro Woche zu leisten hatten.36 Es scheint nicht verwunderlich, dass unter diesen Bedingungen auch die Streikneigung wuchs und „die dort beschäftigte Arbeiterschaft sich in einem latenten Zustande der Erregung“ befand.37 Häufig berichteten die Statthaltereien an das Innenministerium über Arbeitsniederlegungen. Die Arbeiter kämen zwar pünktlich an ihre Arbeitsplätze, „rotteten“ sich dann aber zusammen und nähmen die Arbeit nicht auf.

32 AVA, Inneres, Präsidium, 22 (Unruhen), NÖ, Präsidium des k. k. Ministeriums des Inneren, 8. August 1918, Arbeiterbewegung auf dem Steinfelde, Einflussnahme auf die zu wählenden Vertrauensmänner, Z. 15370/XVIIa. 33 RGBl. 155/1914 vom 25. 7. 1914. 34 RGBl. 236/1912 vom 26. 12. 1912. 35 Leidinger, Untergang der Habsburgermonarchie, 213–216. 36 Eintrag Wöllersdorfer Werke, in Wikipedia; https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%B6llersdo rfer_Werke [Zugriff: 10. 9. 2019]. 37 AVA, Inneres, Präsidium, 22 (Unruhen), NÖ, k. k. Statthalter an das Präsidium des k. k. Ministeriums des Inneren, 23. Juli 1918, Pr. Z. 2733 P.

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Etwas hilflos reagierten die Sicherheitsbehörden dann beispielsweise mit der Überwachung von einzelnen Arbeitern, die ihnen als Rädelsführer erschienen.38 Bei vielen Streiks des Jahres 191839 wird auch ein Moment sichtbar, das außerhalb der unmittelbaren ökonomischen Sphäre angesiedelt war. Schon zeitgenössische Beobachter nahmen wahr, dass es bei manchen Streiks nicht nur um die Verbesserung der unmittelbaren Lebensbedingungen ging. Der Direktor der Munitionsfabrik in Wöllersdorf hielt z. B. fest, dass die Arbeiter „nicht aus einem bestimmten – sie betreffenden – Grund, sondern aus allgemeinem Solidaritätsgefühl […]“ streikten. Das besorgte auch die Beamten des k. u. k. Kriegsministeriums, die ihren Kollegen im Innenministerium im September 1918 Folgendes mitteilten: „Die Vorkommnisse letzter Zeit haben mehrfach die Erscheinung aufkommen lassen, dass im Anschluss an die Arbeitsverweigerung in einem Betriebe, in dem der Streik vielleicht auf ungünstige Approvisionierungsverhältnisse, Mangel an Bekleidung und Beschuhung etc. zurückzuführen war auch die Arbeiterschaft der Nachbarbetriebe in Ausstand getreten ist, obwohl in denselben sie [sic!] erwähnten misslichen Verhältnisse entweder überhaupt nicht vorlagen oder wenigstens nicht in jenem drückenden Masse [sic!], um einen direkten Anlass zur Arbeitsniederlegung zu geben.“ Tatsächlich hätten die Führer der Arbeiter in diesen Betrieben auch erklärt, es handle sich um „Sympathiestreiks“, um die in Ausstand getretenen Arbeiter zu unterstützen. „Reine Mutwillenstreiks“ nannten die Beamten des Kriegsministeriums diese Protestform. Es müsse daher mit allen „vorgesehenen Repressivmassnahmen sobald als möglich“ vorgegangen werden. Diese müssten „mit aller Energie“ durchgeführt werden.40 Zum Abschluss dieses Zeitclusters sei versucht, ein quantitatives Bild im Hinblick auf das Gebiet des heutigen Österreich zu zeichnen, das sich an verschiedenen Protestformen orientiert, „Demonstration“, „Exzess“, „Revolution“ und „Streik“. Das sind jene Begriffe, mit denen die Beamten des Innenministeriums die Unruhe erfassten und rubrizierten. Die folgenden beiden Karten enthalten all jene Orte innerhalb des heutigen Österreich, die die Indizes des k. k. Ministeriums für Inneres unter diesen Schlagwörtern im Jahr 1918 anführen. Ausschließlich um die Übersichtlichkeit zu wahren, wurde für die Streiks eine eigene Karte (Karte 2) angefertigt, die übrigen Schlagwörter auf einer Karte (Karte 1) zusammengefasst. Die Beschlagwortung der mit den Begriffen be38 AVA, Inneres, Präsidium, 22 (Unruhen), k. k. Statthalter an das Präsidium des k. k. Ministerium des Inneren, 22. August 1918, Pr.Z. 2487/49 P: Bericht über die Arbeiterbewegung der letzten Tage. 39 Vgl. auch Berthold Unfried, Arbeiterprotest und Arbeiterbewegung in Österreich während des Ersten Weltkrieges, phil. Diss. Univ. Wien, Wien 1990. 40 AVA, Inneres, Präsidium, 22 (Unruhen), 2079, K. u. k. Kriegsministerium, Abt. 10, an k. k. Ministerium des Inneren, 12, September 1918, Nr. 157000 res.

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zeichneten Ereignisse wurde von den Beamten des Ministeriums nach Regeln durchgeführt, die nicht mehr zu rekonstruieren sind. Daher ist die Grafik zwar mit Unschärfen und Zufällen behaftet, vermittelt aber einen Eindruck, wie diese Ereignisse in Österreich verteilt waren. Als Quelle sind die Indizes des Ministeriums für Inneres jedenfalls verlässlicher als die Alternative, nämlich die in der Österreichischen Nationalbibliothek erhaltenen Lokalzeitungen und deren Berichterstattung. Diese sind sehr unvollständig vorhanden, was die Darstellung sehr zufällig machen würde, während die Indizes eine Art Gesamtheit aus der Perspektive des Ministeriums und somit der Staatsmacht darstellen. Während die auf Karte 1 abgebildeten Ereignisse nicht notwendigerweise mit Arbeitsstätten in Zusammenhang stehen, war die Inzidenz von „Streiks“, die auf Karte 2 abgebildet sind, an größere Fabrikstandorte gebunden: „Streiks“ häuften sich im Industriegebiet südlich von Wien sowie in den steirischen Industrieorten. Sichtbar werden auf der Karte auch industrielle Enklaven wie das oberösterreichische Steyr. Es bräuchte allerdings Lokalstudien, um beispielsweise zu klären, warum ein Streik in Freistadt im Mühlviertel, wo es allerdings verbreitet Textilerzeugung gab, verzeichnet ist. Die Verteilung der Inzidenzen über das Gebiet des heutigen Österreich (ohne das Burgenland) hinweg ist aber auf beiden Karten im Großen und Ganzen ähnlich. Wesentlich von Salzburg werden nur mehr kann vereinzelte „Ereignisse“ sichtbar, im niederösterreichischen Industriegebiet südlich von Wien über die Mur-Mürzfurche häufen sich Unruheherde. Über die Gründe, warum im Westen weniger Unruhe verzeichnet wurde, kann hier nur spekuliert werden: Es ist z. B. davon auszugehen, dass der Einfluss der katholischen Kirche auf die Bevölkerung in den ruhigeren Regionen größer war. Auch sind diese Regionen großteils dünner besiedelt und landwirtschaftlich geprägt, was den Nahrungsmittelmangel weniger drückend machte. Hunger war in den Industriegebieten einer der wesentlichen Auslöser für Proteste aller Art.

Republik!: der November 1918 Überraschenderweise findet sich der Tag der Ausrufung der Republik nicht in den Akten der Sicherheitspolizei, genauso wenig wie in den Gemeinderatsprotokollen der oberösterreichischen Kleinstadt Braunau, die am Anfang dieser Überlegungen standen. Die Wiener Turbulenzen, die in den Ereignissen auf der Rampe des Wiener Parlaments – dort wurde eine sozialistische Republik ausgerufen, während das Parlament sich für eine demokratische Republik DeutschÖsterreich entschied, Tumulte, die Todesopfer und Schwerverletzte forderten, waren die Folge – spiegelten sich also nicht in den Gebieten außerhalb der Hauptstadt. Eine detailliertere Analyse, wie sie Fritz Dittlbacher anhand von

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Karte 1: Demonstrationen, Exzesse und Revolutionen im Jahr 1918 im Gebiet des heutigen Österreich (ohne Burgenland). Grafik: Raphael Besenbäck

Karte 2: „Streiks“ im Jahr 1918 auf dem Gebiet des heutigen Österreich (ohne Burgenland). Grafik: Raphael Besenbäck

ortsbezogenen Akten und Interviews mit Zeitzeugen durchgeführt hat,41 verweist aber darauf, dass im November 1918 nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch außerhalb Wiens einiges unklar war, z. B. war offenbar für manche AkteurInnen die Frage offen, welche Rolle die Ortsräte, die Volksräte und ähnliche Formen der Selbstorganisation in Zukunft haben sollten. Die Räte waren im Allgemeinen Vertretungskörperschaften, die basisdemokratisch organisiert waren und legislative und exekutive Aufgaben in einem wahrnahmen. In der historiographischen Literatur wird diesen Räten häufig zumindest implizit systemtranszendentes 41 Dittlbacher, Revolution am Lande, 20.

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Potenzial zugeschrieben.42 In Bezug auf das Selbstverständnis der historischen Akteure ist aber ein Schreiben interessant und aussagekräftig, das der Welser Orts-Volksrat am 3. November 1918, also noch vor Ausrufung der Republik, an den 3. Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung Franz Dinghofer richtete: „Wir bitten um möglichst rasche Beantwortung folgender Fragen: 1. Ist der Orts-Volksrat eine Behörde, und ist er den lokalen Behörden, insbesondere Gemeinde, Bezirkshauptmannschaft, Justiz, Post und Stationskommando übergeordnet, beigeordnet oder untergeordnet. [sic!] Wir bemerken, daß bisher der Orts-Volksrat den Standpunkt vertritt, daß derselbe den lokalen Behörden in der Weise beigeordnet ist, als er denselben allgemeine Vorschläge zu geben hat. Die Exekutive bleibt nach wie vor den lokalen Behörden, Funktionären und Organen gewahrt.“43 Der Orts-Volksrat wandte sich an eine aus seiner Sicht zuständige Instanz, die Nationalversammlung, und verblieb mit seinen Fragen in der Logik des Aufbaus der staatlichen Verwaltung, wollte letztlich wissen, welchen Platz die Obrigkeit in der Hauptstadt dem Rat zuweisen wollte. Als die dann schon unter sozialdemokratischem Einfluss stehende zentrale Wiener Regierung deutlich machte, dass die Einheit der Verwaltung gewahrt bleiben musste, löste sich der Welser Volksrat widerspruchslos auf und hielt in seinem abschließenden Schreiben fest, es sei ihm nur um den Schutz des Lebens und des Eigentums der Welser Bevölkerung gegangen.44 Ganz Ähnliches sagte der Vorsitzende des oberösterreichischen Soldatenrates über die Rolle der Soldatenräte: „Und so wankte das Notgebäude des deutschösterreichischen Freistaates vor dem heiligen Zorne der zurückkehrenden Armeen und der Raubgier des Lumpengesindels des alten Staates. Schutz war notwendig. […] Und in der Not wehrte sich der neue Staat so gut er konnte. Niemand aber war da, der das Vertrauen der Soldaten gehabt hätte. Niemand war da, der dem zurückgebliebenen Pöbel des Habsburgerreichs Widerstand geleistet hätte. Autorität und Recht fehlten. Und wie zu jeder Zeit, war es auch wieder das wirkliche Volk, das sich selbst half. Die Volkswehr entstand. Männer von Besonnenheit und Energie ersetzten die Autorität und gaben der neuerstandenen Wehrmacht die vernünftige Form. Diese Männer waren die Soldatenräte.“45 Wiewohl die Ausrufung der Republik die Vertreter der alten Ordnung offenbar kaum auf den Plan rief, zeigt sich in den Berichten der Sicherheitsbehörden doch eine vereinzelte Spur, die aus Wiener Neustadt, einem industriellstädtischen Umfeld, stammt, aber doch wegen ihrer Singularität Erwähnung finden soll. Ein Beamter des Polizeikommissariats hatte während eines „In42 Siehe z. B. Anna Leder/Mario Memoli/Andreas Pavlic (Hg.), Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie, Wien – Berlin 2019. 43 Zitiert nach Dittlbacher, Revolution am Lande, 100. 44 Dittlbacher, Revolution am Lande, 107. 45 Zitiert nach Dittlbacher, Revolution am Lande, 120.

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spektionsdienstes“ in einem Café drei Offiziere belauscht, die über die Gründung einer „Weißen Garde“ – nach Wiener Vorbild, wie sie gesagt haben sollen – berieten. „Gegenwärtig soll sich die Garde untätig verhalten und ihre Aufgabe hauptsächlich darin bestehen, recht viele Anhänger anzuwerben, um im günstigsten Moment positiv vorgehen zu können“, werden die Konspiranten zitiert.46 Wie so viele sicherheitsdienstliche Einzelbeobachtungen in den unruhigen Monaten im Übergang von Monarchie zur Republik verliert sich allerdings auch diese Spur schnell – allerdings war, wie die Geschichte der Ersten Republik zeigt, auch die weitverbreitete Zustimmung zur Republik nicht von langer Dauer: Ernst Hanisch nannte katholische Kirche und Christlich-Soziale jüngst „Vernunftrepublikaner“,47 die im Lauf der 1920er Jahre immer stärker zu autoritären Lösungen tendieren sollten. Ob und inwiefern katholische bzw. christlich-soziale regionale Dominanz in der Übergangsphase zur Republik tatsächlich beruhigende Wirkung hatte – wie sich das aus der kartographischen Darstellung ableiten ließe –, müssen weitere detailliertere Regionalstudien beantworten.

Die ersten Wahlen im Fokus: der Februar 1919 Auch wenn der Übergang zur Republik ohne bemerkenswerten Widerstand vor sich ging, scheinen die bevorstehenden ersten tatsächlich die Bezeichnung „allgemein“ rechtfertigenden Wahlen im Februar 1919 unter den Sicherheitsbehörden eine spezifische Form der Unruhe und Nervosität hervorgerufen zu haben. Sie warnten eindringlich vor „Wahlterror“ und gingen in ihren Sicherheitsberichten allen diesbezüglich nur irgend möglichen Spuren nach. Das Wort vom „Wahlterror“ taucht in den Akten auch deswegen wiederholt auf, weil am 20. Jänner 1919 seitens des Deutschösterreichischen Staatsamts des Inneren an die Landesgendarmeriekommandos die Aufforderung ergangen war, Äußerungen von „Wahlterror“ mit großer Achtsamkeit zu begegnen und solche nach Wien zu melden.48 Dieser Auftrag zeugt jedenfalls von der Erwartungshaltung bzw. den Befürchtungen der Zentralbehörde in Wien.

46 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (Inneres), 22, 3035/18, Meldung des Polizeikommissariats Wiener Neustadt vom 30. November 1918, Zl. 409/res.: Bildung einer weißen Garde in Wr. Neustadt mit monarchistischen Bestrebungen. 47 Ernst Hanisch, Die „große Angst“ der Katholischen Kirche und die Akkomodation an die Repubilk 1918–1920, in: Maria Mesner/Robert Kriechbaumer/Michaela Maier/Helmuth Wohnout (Hg.), Die junge Republik. Österreich 1918/19, Wien – Köln – Weimar 2018, 190. 48 Das diesbezügliche Schreiben konnte im Archiv der Republik nicht aufgefunden werden, allerdings vereinzelt Antworten der Landesgendarmeriekommandos.

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Tatsächlich gingen einige Meldungen aus den Bundesländern ein: Die Sozialdemokratische Partei wurde beispielsweise im Bundesland Salzburg des „Wahlterrors“ verdächtigt, sollten die Wahlen nicht nach ihren Wünschen ausgehen.49 Auch kommunistische Agitation wurde penibel verzeichnet, wobei die KPDÖ nicht zu den Wahlen 1919 antrat und das von außerhalb Wiens an das nunmehrige Bundeskanzleramt, Abteilung Inneres, zu Vermeldende äußerst dürftig war. In Kemmelbach-Ybbs in Niederösterreich wurden im Jänner 1919 Volkswehr-Angehörige beobachtet, die allen gedroht haben sollen, die bei den bevorstehenden Wahlen nicht für die Sozialdemokratie votieren wollten.50 Schließlich sind sich aber alle aus den verschiedenen Ländern erhaltenen Berichte sowie die Berichterstattung der Zeitungen darüber einig, dass es eigentlich kaum Zeichen von „Wahlterror“ gegeben habe, oder in der Sprache des Amtes: „daß positive Wahrnehmungen in dieser Hinsicht nicht gemacht werden konnten“.51„Nur in einigen Orten Tirols wird eine lebhafte Wahlagitation von der Kanzel betrieben“, fügte das Landesgendarmeriekommando für Tirol und Vorarlberg seinem Bericht „ad Wahlterror“ vom 7. Februar 1919 hinzu.52 Tatsächlich gingen die ersten Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 dann in weitverbreiteter Ruhe vor sich, wiewohl die Sicherheitsbehörden Unruhe antizipiert hatten und jede mögliche Bewegung penibel registriert hatten.

Vereinzelte Eskalationen: Frühling und Sommer 1919 Schon am 14. März hatte der lokale Arbeiterrat im oberösterreichischen Ort Molln für einige Tage, bis zur Neukonstitution des Gemeindeausschusses, die Macht übernommen, weil dieser seine Funktionen aus Protest zurückgelegt hatte. Ursache des Konflikts war Widerstand aus der Bevölkerung gegen die Gendarmerie: Fünf verhaftete Wilderer, die von Grünberg nach Steyr überstellt werden sollten, waren von ca. 20 Menschen befreit und nach Molln zurückgebracht worden. Daraufhin war eine Gendarmerieabteilung in den Ort eingerückt, um die Wilderer wieder festzusetzen, war aber auf heftige Gegenwehr gestoßen. Die Gendarmerie hatte in die Menge geschossen, zwei Menschen getötet und 49 AdR, Inneres (BKA), 4860, Landesgendarmeriekommando für Salzburg an das deutschösterreichische Staatsamt des Inneren, Abt 15, vom 11. Februar 1919. 50 AdR, Inneres (BKA), 22, 4860, Deutschösterreichisches Staatsamt des Innern: Kemmelbach Ybbs Androhung des Wahlterrors, 22. Jänner 1919, Eingangs-Nr. 2141. 51 AdR, Inneres (BKA), 4860, Landesgendarmeriekommando für Salzburg an das deutschösterreichische Staatsamt des Inneren, Abt 15, vom 11. Februar 1919. 52 AdR, Bundeskanzleramt, Inneres 1918/19, 22-4860, Landesgendarmeriekommando für Tirol und Vorarlberg an das d. ö. Staatsamt des Inneren, 7. Februar 1919, 5297.

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mehrere schwer verletzt (von denen zwei später ebenfalls starben).53 Aus Protest gegen das Vorgehen der Exekutive kam es zu Streiks und eben zum Rücktritt des Mollner Gemeindeausschusses. Die Ruhe in Molln wurde durch das Eingreifen der Volkswehr, die den für das Vorgehen der Gendarmerie Verantwortlichen vor dem Zorn der Bevölkerung in Gewahrsam nahm, wiederhergestellt.54 Der Mollner Arbeiterrat gab seine Position nach der Rekonstitution des Gemeindeausschusses sofort wieder ab: Er hatte vor allem bewahrend gewirkt, Ziel war offenbar die Wiederherstellung der Ordnung und die Verhinderung von größerem Chaos gewesen, es gibt, wie in einigen ähnlich gelagerten Fällen, keine Hinweise auf systemtranszendierende Intentionen der Handelnden. Es ließe sich als These formulieren, dass die Unruhe abseits der städtischen Zentren unter spezifischen Bedingungen aber auch eine andere Dynamik entfalten konnte: Am 21. März bzw. am 7. April 1919 waren in Ungarn bzw. in München Räterepubliken ausgerufen worden. In dieser Situation hatte die KPDÖ begonnen, in ihren Versammlungen auf die Ausrufung einer Räterepublik zu drängen, mit dem Argument, das Proletariat der Nachbarländer der nunmehrigen Räterepubliken hätte die Verpflichtung, durch den Anschluss an Ungarn und München einen kommunistischen Block in Mitteleuropa zu bilden.55 Zur gleichen Zeit erreichte die Nachkriegsarbeitslosigkeit in Österreich ihren Höhepunkt. Die Hoffnungslosigkeit der wirtschaftlichen Situation und der für manche offenbar vielversprechende Ansatz zur Realisierung einer Utopie im benachbarten Ausland führten in einigen Orten zu beträchtlicher Unruhe. Spuren davon fanden sich zwar nicht in den Berichten der Sicherheitsbehörden an das Innenministerium. Peter Haumer und Heimo Halbrainer haben aber zwei Kristallisationspunkte von Konflikten, nämlich Vöslau in Niederösterreich56 und Donawitz in der Steiermark57, untersucht und den Ablauf der Ereignisse rekonstruiert. Weil die Konfliktverläufe deutliche Unterschiede aufweisen, seien sie hier kurz skizziert. Auslöser für den Konflikt in Donawitz waren die hohen, für die meisten Arbeiterfamilien unbezahlbaren Preise für Mehl und Schmalz bei der Abgabe von Lebensmitteln im Hüttenwerk der Alpine-Montan-Gesellschaft am 7. April 1919. Die auf Lebensmittel wartenden Frauen verlangten eine Intervention der Vertrauensmänner beim Fabriksdirektor, der seinerseits nur versprach, sich an die Generaldirektion zu wenden. Als das den Wartenden mitgeteilt wurde, be53 54 55 56

Kampf zwischen Bauern und Gendarmen, in: Arbeiterzeitung, 16. 3.1919, 7. Hautmann, Geschichte der Rätebewegung 1918–1924, 350. Hans Hautmann, Die verlorene Räterepublik, Wien – Frankfurt – Zürich 1971, 148. Peter Haumer, Selbstorganisierung und soziale Veränderung, in: Anna Leder/Mario Memoli/ Andreas Pavlic (Hg.), Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie, Wien – Berlin 2019, 141–143. 57 Heimo Halbrainer, April 1919: die Sozialistische Republik Donawitz, in: Mitteilungen der Alfred-Klahr-Gesellschaft 26/1 (März 2019), 1–5.

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mächtigte sich die Menschenmenge des Direktors und brachte ihn in seine Villa, um nach Lebensmitteln zu suchen. In einer Versammlung – an der laut Meldung des Gendarmeriepostens 3.000 Personen teilnahmen58 – wurde beschlossen, den Werksdirektor abzusetzen. Statt ihm sollte ein provisorisches Direktorium, das aus zwei Angestellten sowie je einem kommunistischen und einem sozialdemokratischen Arbeiter bestand, die Leitung des Werks übernehmen. Die Generaldirektion der Alpine-Montan verweigerte das Gespräch und teilte mit, die Weiterführung des Betriebes sei unsicher. Daraufhin wollte das Direktorium den Betrieb selbstständig fortführen und nahm Kontakt zu den streikenden Bergarbeitern in Seegraben auf, die schließlich am 8. April ebenfalls ein eigenes Direktorium zur Vorbereitung der Sozialisierung des Betriebes wählten. Am selben Tag schalteten sich sozialdemokratische Vertrauensmänner und Gewerkschaftsvertreter aus Graz und Wien ein, eine Vertrauensmännerversammlung verurteilte am 10. April das „Vorgehen[…] kommunistischer und anderer gewissenloser Elemente“, wie der sozialdemokratische „Arbeiterwille“ formulierte.59 Als schließlich eine Abordnung des Direktoriums, der keine kommunistischen Vertreter angehörten, in Wien mit Regierung und Vertretern der Alpine-Montan verhandelte, setzte sich Otto Bauer für eine Verschiebung der Sozialisierung und einen Abbruch des Donawitzer Alleinganges ein. Das Experiment endete schließlich damit, dass der abgesetzte Fabriksdirektor zurückkehrte und jedem Arbeiter ein einmaliger Betrag von 500 Kronen gewährt wurde.60 In Vöslau und im benachbarten Gainfarn (heute ein Ortsteil von Bad Vöslau), wo wie im gesamten Wiener Becken die Linksradikalen seit dem Jännerstreik des Jahres 1918 verhältnismäßig einflussreich geblieben waren,61 hatten im April 1919 Arbeitslosenräte durchgesetzt, dass Arbeitslose von den ansässigen Großunternehmen – neben der staatlichen Unterstützung – zusätzliche Zahlungen erhielten. Auch in Berndorf, einem Krupp-Standort, hatten protestierende ArbeiterInnen erreicht, dass missliebige Vorgesetzte abgesetzt und ArbeiterInnen, die zuvor wegen „kommunistischer Agitation“ entlassen worden waren, wieder eingestellt wurden. Einen Monat, nachdem die KPDÖ zur Kundgebung für die Errichtung einer Räterepublik aufgerufen hatte, was am 15. Juni in Wien zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei und 12 Todesopfern unter den DemonstrantInnen geführt hatte,62 verlautbarte der Vöslauer Arbeiterrat am 13. Juli 1919, er habe die Macht übernommen: Bei den Gemeinderatswahlen im 58 Zit. n. Halbrainer, April 1919, 3. 59 Die Arbeiter und Angestellten über die Vorfälle in Donawitz, in: Arbeiterwille. Organ des arbeitenden Volkes für Steiermark und Kärnten, 13. April 1919, 2. 60 Halbrainer, April 1919, 4. 61 Haumer, Selbstorganisierung, 133. 62 Hautmann, Die verlorene Räterepublik, 179–184.

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Juni hatten Sozialdemokraten und „Bürgerliche“ gleich viele Mandate erhalten. Es war ihnen daraufhin nicht gelungen, sich auf einen Bürgermeister zu einigen. Diese Lücke wollte der Arbeiterrat nun füllen. Nach der Proklamation des Vöslauer Arbeiterrates drohten die Wiener Neustädter Sozialdemokraten mit dem Abschneiden der Lebensmittelzufuhr, sollte der Arbeiterrat tatsächlich die Macht in der Gemeinde übernehmen. Die Sprecherin des Arbeiterrates, Berta Pölz, hielt dagegen, dass die ungarische Räterepublik die Lebensmittelversorgung übernehmen würde. Daraufhin reisten führende niederösterreichische Sozialdemokraten wie Oskar Helmer und Felix Stika nach Vöslau und erreichten, dass die Versammlung der Arbeiter die Ausrufung der Räterepublik in Vöslau ablehnte.63 Sowohl Donawitz als auch Vöslau liegen in Industriegebieten, also in Gegenden mit geringer bäuerlicher Prägung. In beiden Fällen gab es eine deutliche Organisierung der ArbeiterInnenschaft, und in beiden Fällen spielten überregionale Organisationen bzw. deren VertreterInnen eine wesentliche Rolle im Konfliktverlauf, sozialdemokratische ebenso wie kommunistische, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen: Während AgitatorInnen aus dem Umfeld der KPDÖ die politische Transformation voranzutreiben versuchten, setzten die Sozialdemokraten auf die Einhaltung der parlamentarisch-demokratischen Regeln und die Aufrechterhaltung der Wirtschaftsordnung. Lokale Alleingänge bzw. Präzedenzfälle sollten jedenfalls vermieden werden. In beiden Fällen wirkten die Sozialdemokraten kalmierend und versuchten, Zeit zu gewinnen sowie zu deeskalieren, um die „Räterevolution“ zu verhindern. Es kann vermutet werden, dass vor allem das ungarische Beispiel die politische Fantasie im Hinblick auf nicht-parlamentarisch-demokratische Optionen inspirierte. Im Unterschied dazu ist nichts darüber bekannt, dass die Münchner Räterepublik, die allerdings nur etwa vier Wochen, nämlich bis 2. Mai 1919 gedauert hatte, in den nordwestlichen Teilen Österreichs ähnliche Ausstrahlung gehabt hätte.64

63 Haumer, Selbstorganisierung, 143. 64 Allerdings begleiteten die militanten Auseinandersetzungen in Linz im Frühjahr 1919 Gerüchte, nach denen ein Münchner Revolutionär namens Täubler die Konflikte angeheizt habe. Vgl. dazu Gabriella Hauch, Frauen. Leben. Linz. Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Linz 2013, 205.

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Nationalistische Unruhe Festgehalten kann also werden, dass die Einführung der parlamentarisch-demokratischen Republik, die „Österreichische Revolution“ im Bauer’schen Sinne, auf breite Zustimmung und kaum Widerstand65 stieß. Wesentlich umstrittener und umkämpfter als die Staatsform war hingegen offenbar das Staatsgebiet. Die diesbezüglichen Verunsicherungen waren nach der Ausrufung der Republik im November 1918 nicht zu Ende, im Gegenteil: Diese bildete keinen wahrnehmbaren Einschnitt in den Ereignissen in manchen gemischtsprachigen Gebieten, an den Grenzen zu den zukünftigen Nachfolgestaaten, vor allem zur Tschechoslowakei und zum entstehenden SHS-Staat. Die Unruhen dort waren stärker als anderswo auch von national unterfütterten Verwerfungen und nationalistischen Topoi getragen (auch wenn soziale Faktoren im Detail eine wichtige Rolle gespielt haben mögen). Eine immer noch bedingte Sicherheit über das Staatsgebiet stellte erst der Abschluss des Friedensvertrages von Saint Germain im September 1919 her. Trotz Sezessionsbewegungen in Vorarlberg, Tirol und Salzburg, die unter anderem zu Volksabstimmungen über die Staatszugehörigkeit führen sollten, scheint die Situation in Kärnten und in der Steiermark am stärksten emotional aufgeladen gewesen zu sein, wenn man den Berichten der Sicherheitsbehörden folgt. Die regionalen Zeitungen spiegeln die heftigen Auseinandersetzungen über den zukünftigen ethnischen Charakter und die staatliche Zugehörigkeit des Landes wider.66 In den Lageberichten des Staatsamtes für Heerwesen ist oft davon die Rede, dass beispielsweise in Klagenfurt die „Stimmung der Bevölkerung […] eine sehr erregte [sei]“, weil die Angst vor einer jugoslawischen Invasion der Stadt umgehe.67 Misstrauen beherrschte auch die Berichte aus den anderen grenznahen Regionen: Einzelne Orte in der Gegend von Radkersburg in der Steiermark seien „überhaupt slavisch gesinnt“.68 In den Beobachtungen einer anderen „slawischen“ Grenze, jener zur CSR, klingen neben ethnischen Zuschreibungen auch Revolutionsängste der Behörden dann, wenn es hieß, dass Hohenau an der March „rein bolschewistisch“ sei.69 Und außerdem: „[A]uf die Unzuverlässlich65 Differenziert zur Position von katholischer Kirche und Christlich-Sozialen, also den wesentlichen bisherigen Stützen der Monarchie, zu Beginn der Republik vgl. Hanisch, „Große Angst“. 66 Siehe beispielsweise Lavanthaler Bote. 67 AdR, Ministerium für Landesverteidigung(LV), 1. Republik, 1–N, 55-Lageberichte. Lagebericht des Evidenzbüros des deutsch-österreichischen Staatsamtes für Heerwesen vom 3. Dezember 1918, Nr. 251/1. 68 AdR, LV, 1. Republik, 1–N, 55-Lageberichte. Lagebericht des Evidenzbüros des deutschösterreichischen Staatsamtes für Heerwesen vom 13. Dezember 1918, Nr. 379/2. 69 AdR, LV, 1. Republik, 1–N, 55, Lagebericht vom 23. November 1918.

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keit der in den deutsch. Gebieten lebenden tsch. Geistlichkeit wird erneut hingewiesen.“70 Das Staatsamt für Heerwesen fürchtete, die Bauern auf österreichischer Seite könnten versuchen, ihre nationale Position gewalttätig durchzusetzen: Im April 1919 berichtete die Abteilung 1 an Staatssekretär Julius Deutsch von Agitatoren in der Südsteiermark, die die Bauern veranlassen wollten, die von Jugoslawien besetzten Gebiete zurückzugewinnen.71 Weiters finden sich Berichte darüber, dass slowenische Geschäftsschilder in Klagenfurt abmontiert worden wären.72 Die Bahnbediensteten streikten Ende November 1918 in der Südsteiermark, und zwar nach ethnischer Zugehörigkeit getrennt, weswegen die Behörden versuchten, jeden Kontakt zwischen den beiden streikenden Gruppen zu vermeiden, und die Bahnlinie kurzerhand bei Ehrenhausen unterbrachen.73 Die nationalen Kräfte sammelten sich spätestens im Sommer 1918 auch in den Grenzgebieten zu Deutschland, allerdings scheint dort die Lage weniger prekär gewesen zu sein: Beauftragt, „angeblich bevorstehende nationale Putschversuche“ zu vereiteln, hatte der k. k. Landespräsident von Salzburg im September 1918 vermeldet, dass „keinerlei Wahrnehmungen“ gemacht worden seien.74 Etwa gleichzeitig meldete hingegen das Militärkommando in Innsbruck, dass es „ein[en] nicht zu verkennenden Zug nach dem Deutschen Reiche [wahrnehme]. Man verlang[e] deutsche Beamte, deutsche militärische, wirtschaftliche und soziale Organisationen.“75 Etwas weiter westlich, in Vorarlberg, waren breite Bevölkerungsgruppen für einen Anschluss an die Schweiz: Das Motiv der Sezessionsbewegung war ausgeprägtes Ressentiment gegen die Hauptstadt Wien – „weil es verjudet ist“,76 wie der Landbote von Vorarlberg, einen in katholischen und nationalen Kreisen verbreiteten antisemitischen Topos aufgreifend, begründete. Diese Qualifizierung der Hauptstadt ist auch einer der ganz wenigen der in den hier zugrunde gelegten historischen Quellen auffindbaren Hinweise darauf, welche Reaktionen die Entwicklungen in der Hauptstadt außerhalb Wiens hervorriefen. Das antisemitische Wien-Klischee war in der Vorarlberger Sezessionsbewegung weit verbreitet.77 Aber auch in anderen österreichischen 70 AdR, LV, 1. Republik, 1–N, 55-Lageberichte. Lagebericht des Evidenzbüros des deutschösterreichischen Staatsamtes für Heerwesen vom 2. Dezember 1918, Nr. 238/1. 71 AdR, Inneres (BKA), 22, 4860, Deutschösterreichisches Staatsamt für Heerwesen, Abteilung 1/[unleserlich], Zahl 2761 an Staatssekretär Dr. Deutsch, Oberbefehlshaber vom 3. April 1919. 72 AdR, LV, 1. Republik, 1–N, 39, Lagebericht vom 30. November 1918, Nr. 226/1. 73 AdR, LV, 1. Republik, 1–N, 39, Evidenzbüro des deutsch-österr. Staatsamtes für Heerwesen, Lagebericht vom 30. November 1918, Nr. 926/2. 74 AVA, Inneres, Präsidium 22 (Unruhen), 2070, k. k. Landespräsident an das Präsidium des k. k. Ministerium des Inneren, 20. September 1918, Präs.-Zl. 18.534. 75 AVA, Inneres, Präsidium 20, Sicherheit, Stimmungsbericht: k. u. k. Militärkommando Innsbruck, 22. August 1918, Protokoll Nr. 20341 ex 1918. 76 Landbote von Vorarlberg, 14. 12. 1918, 5. 77 Siehe Koller, „… der Wiener Judenstaat […]“.

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Regionen war es ein wesentliches Differenzierungsmerkmal gegenüber der Hauptstadt, das die Folie für die Behauptung des eigenen Landesbewusstseins hinterlegte.78 In den unzähligen Berichten über nationalistisch konnotierte Konflikte an den österreichischen Grenzen finden sich aber keine Hinweise darauf, dass die republikanische Staatsform als solche zur Debatte gestanden wäre: Auch auf einem Flugblatt, das „Kärnten den Kärntnern! Nicht den Laibachern Und nicht den Wienern, Nicht den Serben Und nicht den Berlinern!“ fordert, wird „eine selbständige […] Republik“ angestrebt, durchaus verbunden mit Elementen einer politischen Utopie: Die „Deutschen und Slowenen“ sollten dort gleichberechtigt sein.79

Unruhe im Land: von der Suche nach Sicherheit und politischer Utopie Um den Blick noch einmal auf die gesamtösterreichische Ebene zu richten: Zweifellos handelte es sich bei der „Österreichischen Revolution“ um einen Umbruch, der mit vielfältigen Unsicherheiten und Verunsicherungen einherging. In der Transformationsphase existierten Elemente der alten und einer zukünftigen Ordnung oft in eigensinnigen Mischverhältnissen nebeneinander. Die hier untersuchten Quellen legen nahe, dass der Wille zu politischen Experimenten jenseits der parlamentarischen Demokratie vor allem von im Wiener Zentrum angesiedelten Akteuren und Akteurinnen ausging. In ruralen Landstrichen war er so wenig ausgeprägt, dass er in den untersuchten Zeitungen und in den Berichten der Sicherheitsbehörden, sieht man von antizipierenden Ängsten ab, kaum Spuren hinterließ. Revolutionäre Bestrebungen, die auf Sozialismus und Räterepublik zielten, tauchten in den hier untersuchten Materialien kaum auf. Stattdessen wird deutlich, wie das alte und das neue Regime gleichzeitig in den Strukturen und in den Köpfen der Menschen steckten. Oft scheint es unmöglich, Phänomene, Handlungen, Organisationen der Monarchie, der alten Ordnung oder einer neuen, von der viele noch nicht genau wussten, was sie werden würde, zuzuordnen. Ausdruck des raschen Wandels ist eine Bemerkung des k. k. Landespräsidenten von Salzburg anlässlich einer Demonstration von mehreren tausend Menschen gegen die Lebensmittelnot: „Die Aufforderung, der neuesten demokratischen Richtung folgend, einige Worte an die Menge zu richten, habe

78 Vgl. Hauch, „Ein Sprung ins Dunkle …“, 144. 79 AdR, LV, 1. Republik, 1-N, 39, Militärkommando in Kärnten, Na. Stelle an das Staatsamt für Heerwesen, 3. Jänner 1919, Z. 844.

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ich selbstverständlich auf das Entschiedenste abgelehnt“, schrieb er am 20. September 1918, nur einige Wochen vor Ausrufung der Republik, nach Wien.80 Die unentwirrbare Gemengelage zeigt sich auch in den meisten Arbeiter-, Bürger- und Soldatenräten. Dittlbacher formuliert, dass die österreichischen Räte eher „Räte der Ordnung“, keine „Räte der Revolution“ waren.81 Räte waren grundsätzlich Organisationsformen, die außerhalb parlamentarischer Prozeduren existierten und agierten. Viele der Räte, die in Akten und Zeitschriften auftauchen, verstehen sich aber, wie auch das Braunauer Beispiel zeigt, als Wahrer bzw. Wiederhersteller von Ordnung in einem grundsätzlichen Sinn: die Verhinderung von Plünderungen, die Sicherung von Leib und Leben inklusive der Nahrungsmittelversorgung. Die große Zahl von Arbeiterräten, die Hautmann auflistet und die in Karte 3 dargestellt wird, verweist nicht darauf, dass überall dort, wo sie bestanden, der Ruf nach Rätedemokratie laut wurde, zeigt aber auch, wie bereits die beiden vorherigen Karten, kaum Einträge im Westen Österreichs, aber deutlich stärkere Aktivitäten im oberösterreichischen Zentralraum, wo die beiden übrigen Karten eine wesentlich geringere Dichte aufwiesen. Dort waren Räte also sehr verbreitet, die Behörden verzeichneten aber kaum öffentliche Widerstandshandlungen wie „Exzesse“ oder gar „Revolution“. Meine Interpretation der untersuchten Quellen legt nahe, dass die österreichischen Räte eben nicht, wie Hautmann meinte, allerorten versuchten, „[die bürgerliche Ordnung] entweder zu stürzen oder in entscheidender Weise zu verändern“.82 Sie waren auch nicht „durchgehend antikapitalistisch“,83 im Gegenteil: Die herrschende Wirtschaftsordnung wurde von den allermeisten Räten nicht in Frage gestellt, oft war die Wahrung bisheriger Besitzverhältnisse eine ihre wesentlichen selbstgestellten Aufgaben. Die hier herangezogenen Quellen belegen einmal mehr, dass es der Staatsgewalt auf dem Gebiet des heutigen Österreich (ohne das Burgenland) während der Monate vor und nach dem Kriegsende großflächig kaum gelang, Ordnung und Sicherheit für die Bewohner und Bewohnerinnen herzustellen sowie die Verteilung der ohnehin äußerst knappen Ressourcen zu gewährleisten. Nicht jene, die Kritik an der Monarchie übten und für eine andere Gesellschaftsform eintraten, führten die Transition herbei, sondern die Monarchie war durch die materielle Erschöpfung in sich zusammengefallen.84 Die hier herangezogenen Akten machen vielfach Spuren der Schwäche und der Hilflosigkeit staatlicher Organe sichtbar. Dadurch 80 AVA, Inneres, Präsidium, 22 (Unruhen), OÖ, Sbg., k. k. Landespräsident in Salzburg an das k. k. Ministerium des Inneren, 20. September 1918, Präs. Z. 18667. 81 Dittlbacher, Revolution am Lande, 11. 82 Hautmann, Geschichte der Rätebewegung 1918–1924, 17. 83 Ebd. 84 Vgl. Hannes Leidinger, Der Untergang der Habsburgermonarchie, Innsbruck – Wien 2017, 324.

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Karte 3: Arbeiterräte in Österreich (ohne das Burgenland). Quelle: Hautmann, Geschichte der Rätebewegung, Bd. 3, 957–964. Grafik: Raphael Besenbäck

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entstand wohl eine Art unbestimmter, wenig strukturierter Möglichkeitsraum, in dem in eher seltenen Fällen – die oben zitierte Forderung nach einer Kärntner Republik mit Gleichberechtigung von slowenischer und deutschsprachiger Bevölkerung ist so eine Spur – auch gesellschaftliche Utopien jenseits der parlamentarischen Demokratie auf marktwirtschaftlich-kapitalistischer Basis sichtbar wurden. Meist füllten aber die verschiedenen Räte die durch den Zerfall der Staatsmacht entstandene Lücke bei der Sicherstellung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Für die meisten Räte, denen häufig Mitglieder der lokalen Behörden angehörten, gilt, so konnte gezeigt werden, dass die Herstellung von Sicherheit ihr zentrales Ziel war. Mit der Rekonstruktion der staatlichen Strukturen stellten diese Räte ihre Aktivitäten in der Regel wieder ein. Um ein differenzierteres Bild von Kontinuität und Brüchen unter den politischen Eliten im Übergang von der Monarchie in die Republik zu gewinnen, wäre eine Untersuchung der Frage wünschenswert, ob und in welcher Weise es personelle Kontinuitäten gab zwischen den AkteurInnen in den Räten und jenen der lokalen Parteienpolitik. Nur in wenigen Orten außerhalb Wiens – hier stehen dafür vor allem Vöslau und Donawitz – wurden 1918/19 utopische Momente deutlicher sichtbar: Sozialisierung von Betrieben und die Errichtung einer Rätedemokratie waren dort tatsächlich öffentlich diskutierte Optionen. Die Verhältnisse, in denen den Akteuren und Akteurinnen solche Konzepte attraktiv und realistisch erschienen, waren – im österreichischen, vielerorts von extremem Mangel geprägten Kontext – spezielle. Dieser Kontext war gekennzeichnet von der lokalen Existenz einer IndustriearbeiterInnenschaft und überregionalen politischen Organisationen der radikalen Linken. Den Rahmen bildete die ungarische Räterepublik als auch geographisch naheliegendes Modell und potenzielle Bündnispartnerin. Mit ihrem Zusammenbruch verlieren sich im Nachkriegsösterreich, auch unter dem Einfluss einer weitergehenden gesellschaftlichen Experimenten gegenüber skeptisch gestimmten Sozialdemokratie, die Spuren linker Systemtranszendenz abseits der sich als politische Kleingruppe in Wien und einigen industriellen Zentren etablierenden KP(D)Ö. Die Überwindung der parlamentarischen Demokratie wurde so im Lauf der 1920er Jahre immer mehr zum Aktionsfeld der politischen Rechten.

Veronika Helfert

„Ja, wir machten damals im Arbeiterrat hohe Politik!“ Vom Versprechen des Rätesystems: ein Instrument für Selbstorganisation und Selbstermächtigung

Nach dem Ersten Weltkrieg trat Lotte Pirker, geb. Karoline Barbara Schneider und eine Bürgerliche aus Böhmen, die seit ihrer Jugend ihren Interessen als Malerin, Schauspielerin und Reisejournalistin folgen konnte, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) bei und wurde in der Bezirksorganisation Hietzing tätig.1 Sie berichtete in ihren Erinnerungen, dass sie – trotz ihrer bürgerlichen Herkunft – mit „offenen Armen in der Sektion“ aufgenommen und in den Bezirksarbeiterrat gewählt wurde. Vermutlich im Jahr 1919 präsentierte Pirker gemeinsam mit dem „Genossen Mitis“ ein Papier: einen „Aufbauplan für Österreich“, der sich vor allem landwirtschaftlichen Fragen widmete. Der „Antrag Pirker-Mitis“ wurde abgelehnt – nur die kommunistischen Delegierten und der „linke Flügel“ der SozialdemokratInnen hatten im Arbeiterrat für ihn gestimmt. Da der Antrag gegen die sozialdemokratische Parteilinie verstoßen habe, zog sich Pirker dafür auch eine Rüge zu. Selbstbewusst notierte sie Jahrzehnte später in ihren autobiographischen Aufzeichnungen: „Ja, wir machten damals im Arbeiterrat hohe Politik!“2 Was war passiert? Wie kam es dazu, dass Lotte Pirker, eine zwar progressive und politisch interessierte, aber bis zum Ende des Krieges unorganisierte Frau, auf einer Sitzung des Hietzinger Arbeiterrates ein Grundsatzpapier zur Zukunft der neuen Republik präsentierte, das ihren Namen trug, den „Antrag PirkerMitis“? Einen „hochpolitischen“ Antrag noch dazu, was Frauen in der Habs1 Zur Person von Lotte Pirker siehe den Lexikonbeitrag auf der Seite der Theodor Kramer Gesellschaft. Online: http://theodorkramer.at/projekte/exenberger/mitglieder/lotte-pirker (abgerufen zuletzt am 26. 08. 2019). Ich danke Stephanie Marx für ihre genaue Lektüre und kritischen Kommentare. 2 Lotte Pirker (1877–1963), „So wurde ich eine der vielen Novembersozialistinnen“, in: Peter Eigner/Günter Müller (Hg.), Hungern – Hamstern – Heimkehren. Erinnerungen an die Jahre 1918 bis 1921 (Damit es nicht verloren geht… 69), Wien/Köln/Weimar 2017, 93–106, 97–98. Das autobiographische Manuskript ist in der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien aufbewahrt. Den Hinweis auf Lotte Pirker verdanke ich Gabriella Hauch, der ich hiermit herzlich danke.

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burgermonarchie noch bis ein Jahr zuvor untersagt gewesen war. Das allgemeine Wahlrecht ohne Unterschied des Geschlechts wurde erst mit der Gründung der Republik eingeführt und das Verbot für Frauen, sich in politischen Vereinen zu organisieren, aufgehoben.3 Der Hietzinger Arbeiterrat bot 1919 für Lotte Pirker schließlich ein Forum, einen solchen Plan zu präsentieren.

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Lauter NovembersozialistInnen? Eine Einleitung „Da kam ein Ereignis, so groß, so überwältigend, daß alle kleinlichen Sorgen schwiegen und die fortschrittlichen Menschen wieder an die Zukunft glaubten, Österreich wurde Republik. Ich hatte für ein monarchistisches System nie viel übrig und die Monarchie im eigenen Land sterben zu sehen, war mir ein freudiges Ereignis, das mich jauchzen und frohlocken ließ.“4

Die unmittelbare Nachkriegszeit bedeutete für viele Menschen in der (nun bald ehemaligen) Habsburgermonarchie einen Moment des Neuanfangs, der von ihnen durchaus freudig und hoffnungsvoll begrüßt wurde, wie von Lotte Pirker. Sie, die ihren eigenen Erinnerungen zufolge schon in ihrer Studienzeit in Karlsbad/Karlovy Vary von einem Vortrag Rosa Luxemburgs beeindruckt war, trat nach dem Ersten Weltkrieg der SDAP bei.5 Der Zusammenbruch der Monarchie, die Gründung der Republik und mit ihr neue Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren, hatten sie also wie so viele andere politisiert: „Gleich nach dem Umsturz hatte ich mich brieflich an Dr. Renner gewendet, und ihn gebeten, mir die Wege zu zeigen, um der Sozialistischen Partei beitreten zu können. Postwendend bekam ich ein sehr nettes Antwortschreiben mit einer Empfehlung an die Bezirksleitung des XIII. Bezirkes in der Missindorfstraße. So wurde ich dann eine der vielen Novembersozialistinnen […].“6

Das Jahr 1918 bedeutete nicht nur das Ende eines desaströsen Krieges,7 der immense Opfer auf den Schlachtfeldern, in den Kriegsgefangenenlagern und in 3 Vgl. zum Verbot im Vereinsrecht und zur Einführung des Frauenwahlrechts etwa Birgitta Bader-Zaar, Die Forderung des Frauenwahlrechts. Akteur_innen, Strategien, Diskurse in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie (1848–1918), in: Blaustrumpf ahoi! (Hg.), „Sie meinen es politisch!“. 100 Jahre Frauenwahlrecht. Geschlechterdemokratie als gesellschaftspolitische Herausforderung, Wien 2019, 37–60, bes. 39–40 u. 57–60. 4 Pirker, „So wurde ich […]“, 96. 5 Vgl. http://theodorkramer.at/projekte/exenberger/mitglieder/lotte-pirker (abgerufen zuletzt am 26. 08. 2019). 6 Pirker, „So wurde ich […]“, 96. 7 1918 kann freilich nicht davon gesprochen werden, dass in Europa Frieden herrschte, was einige HistorikerInnen von einer Periode eines Bürgerkrieges in einer europäischen Dimen-

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den Städten der sogenannten Heimatfront aller beteiligten Staaten gefordert hatte. Es brachte auch das Ende vierer großer Imperien in Europa. Bereits der Zusammenbruch des Zarenreiches, ausgelöst durch eine Revolution im Frühjahr 1917, hatte bei vielen linken und sich als fortschrittlich begreifenden und fühlenden Menschen einen tiefen Eindruck hinterlassen.8 Das Ende der Habsburgermonarchie war daher für viele ZeitgenossInnen das Signal einer neuen Zukunft, an der sie mitarbeiten wollten. Interessant ist, dass der lokale Arbeiterrat dabei für viele Menschen eine mögliche – niederschwellige – Anlaufstelle wurde.9 Ähnlich wie Lotte Pirker wurde auch Therese Lindenberg im Frühjahr 1919 in einen Arbeiterrat in Wien gewählt, nachdem sie sich bei Friedrich Adler brieflich nach Möglichkeiten der politischen Tätigkeit erkundigt hatte.10 Es scheint kein Zufall zu sein, dass beide Frauen von hochstehenden Funktionären der Partei auf diese neuen Gremien hingewiesen wurden, um sich zu engagieren. Im Gegenteil: Die beiden Beispiele zeigen, wie der Zusammenbruch der Monarchie und die darauffolgenden Monate einen Raum entstehen ließen, der politische Utopien für viele greifbar machte. Gerade auch bis dato unorganisierte Personen sahen nicht zuletzt innerhalb der Arbeiterräte, deren Faszination mit den Russischen Revolutionen aktualisiert worden war,11 eine Möglichkeit, sich nicht nur politisch

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sion bis 1945 sprechen lässt. Vgl. etwa Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999, 21–78. Siehe dazu auch: Verena Moritz, 1917. Österreichische Stimmen zur Russischen Revolution, Salzburg/Wien 2017. Dennoch: Um in den Arbeiterrat gewählt zu werden, musste man laut dem bei der 2. Reichskonferenz der Arbeiterräte Deutschösterreichs beschlossenem Statut „mindestens ein halbes Jahr einer sozialistischen Partei und ihrer Berufsorganisation angehören und das achtzehnte Lebensjahr überschritten haben“. Siehe: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA), Parteiarchiv vor 1934 (PAv1934), Mappe (M.) 22/I, Reichskonferenz der Arbeiterräte (RKdAR) Deutschösterreichs, 30.6.–3.7. 1919, Wien, Stenographisches Protokoll der RKdAR Deutschösterreichs (DÖ), 2. Sitzungstag, 1. 7. 1919, 50. Als sozialistische Parteien galt neben der SDAP auch die Kommunistische Partei Deutschösterreichs (KP) oder eine derer Vorfeld- bzw. Gewerkschaftsorganisationen. Siehe VGA, Adler-Archiv, M. 198, Umschlag (U.) 1, Brief von Therese Lindenberg an Friedrich Adler, 3. 4. 1919. Zur Biographie von Therese Lindenberg siehe Christa Hämmerle, Trost und Erinnerung. Kontexte und Funktionen des Tagebuchschreibens von Therese Lindenberg (März 1938 bis Juli 1946), in: dies./Li Gerhalter (Hg.), Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg 1938 bis 1946. Unter Mitarbeit von Ingrid Brommer u. Christine Karner (=L’Homme Archiv 2), Köln et al. 2010, 1–60. Ich danke Li Gerhalter für den Hinweis. Vgl. Sabine Dullin/Brigitte Studer, Introduction. Communisme + transnational. L’équation retrouvée de l’internationalisme (premier xxe siècle), in: monde(s). histoire espaces relations (Nov. 2016) 10, 9–32, 16. Auch Birte Förster strich in ihrem Buch zu 1919 diesen Moment der neuen Möglichkeiten heraus. Birte Förster, 1919. Ein Kontinent erfindet sich neu, Ditzingen 2018, 15–85. Ein Gedanke, den auch schon Reinhart Koselleck angesichts der Französischen Revolution formuliert und in den Zusammenhang von Erfahrungs- und Erwartungshorizont der ZeitgenossInnen gesetzt hatte. Siehe: Reinhart Koselleck, Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in

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zu betätigen bzw. sich für bestimmte Anliegen zu engagieren, sondern nicht weniger zu tun, als die Zukunft des Staates selbst in die Hand zu nehmen wie eben auch Lotte Pirkers Antrag zur Gestaltung der neuen Republik. Im folgenden Beitrag widme ich mich daher der Frage, welche Handlungsspielräume die Rätebewegung in Österreich öffnete und welche Konfliktlinien dabei aufbrachen. Welche demokratischen Aushandlungsprozesse traten dabei zutage? Die amerikanische Historikerin Kathleen Canning betont in ihren aktuellen Arbeiten zum Nachkriegsdeutschland, dass die Novemberrevolution in Deutschland – sowie in Zentraleuropa – vor allem auch als ein Anfangsmoment für eine Demokratisierung der Gesellschaft gesehen werden müsse.12 Während in Russland 1918 bereits die bolschewistische Partei die Oberhand gewonnen hatte, präsentierte sich die Rätebewegung hierzulande noch als divers. Als linksradikale und linke Gruppierungen in Österreich können mehrere Gruppen ausgemacht werden: Die Kommunistische Partei Deutschösterreichs, als Kind der Revolution im November 1918 gegründet,13 die Föderation Revolutionärer Sozialisten (Internationale),14 die Poale Zion,15 und eine Linksströmung in der SDAP, die bald in zwei Gruppen zerfiel: die Sozialdemokratische

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Deutschland. Bd. 2, E – G, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, 593–717, 702–706. Siehe: Kathleen Canning, Introduction. Weimar Subjects/Weimar Publics. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920s, in: Dies./Kerstin Barndt/Kristin McGuire (Hg.), Weimar Subjects/Weimar Publics. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920s (Spektrum. Publications of the German Studies Association 2), New York/Oxford 2010, 1–30; oder auch mit Fokus auf Geschlechterverhältnisse: Dies., Gender and the Imaginary of Revolution in Germany, in: Klaus Weinhauer/Anthony McElligott/Kirsten Heinsohn (Hg.), Germany 1916–1923. A Revolution in Context (Histoire 60), Bielefeld 2015, 103–126. Zur Geschichte der KP siehe Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs 1918–1955. Kurzer Abriss. Von einem Autorenkollektiv der Historischen Kommission beim ZK der KPÖ unter Leitung von Friedl Fürnberg, Wien 1977; dazu kritisch: Manfred Mugrauer, Die Historiographie der KPÖ über ihre eigene Geschichte, in: Claudia Kuretsidis-Haider/Ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als herrschaftskritische Aufgabe. Beiträge zur ArbeiterInnenbewegung, Justizgeschichte und österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Hautmann zum 70. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2013, 205–222. Die Geschichte der F.R.S.(I). hat vor allem Peter Haumer ausführlich bearbeitet und dargestellt, aktuell: Peter Haumer, Geschichte der F.R.S.I. Die Föderation Revolutionärer Sozialisten – Internationale und die österreichische Revolution 1918/19 (kritik&utopie), Wien 2018. An der Universität Wien entsteht zurzeit eine Masterarbeit von Mario Memoli zur Poale Zion in den Arbeiterräten, siehe dazu auch sein Beitrag: Mario Memoli, „… unser Los ist mit dem des internationalen Proletariats aufs engste verknüpft!“ Die Poale Zion in der österreichischen Rätebewegung, in: Anna Leder/Mario Memoli/Andreas Pavlic (Hg.), Die Rätebewegung in Österreich, Wien 2018, 145–165. Jan Rybak hat in seiner Dissertation zionistische Bewegungen in Ost- und Zentraleuropa untersucht, in der auch die Rolle der Arbeiterräte behandelt wird: Jan Rybak, Everyday Zionism in East-Central Europe, 1914–1920. NationBuilding in War and Revolution, phil. Diss., European University Institute Florenz 2019, bes. 312–325.

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Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Arbeiterräte (Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Sozialdemokraten Österreichs), die 1920 aus der SDAP ausgeschlossen wurde und sich der KP anschloss, und die Neuen Linken, die in der SDAP verblieben.16 VertreterInnen dieser Fraktionen waren auch in Arbeiterräten organisiert, die dennoch Zeit ihres Bestehens sozialdemokratisch dominiert blieben.17 Publikationen und Versammlungen diverser linker Gruppierungen kommentierten seit dem Krieg die Ereignisse in Russland und versuchten Gegenmodelle zum Gesellschaftssystem in Österreich anzubieten. Die Rätebewegung war keine homogene Angelegenheit, sondern bot zumindest bis zu ihrer Schwächung 1920/21 eine Bühne für Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung einer sozialistischen Gesellschaft. Ähnliches hatte im Übrigen Brigitte Studer in ihrer Studie zur Komintern auch zu kommunistischen Bewegungen in ihrer Frühphase außerhalb Russlands festgestellt.18 Lotte Pirkers Antrag im Wiener Bezirk Hietzing etwa wurde vor allem von den linksradikalen Delegierten unterstützt – dennoch blieb sie trotz Versuchen der KPÖ, sie für sich zu gewinnen, SDAP-Mitglied und übernahm für diese den Posten einer Bezirksrätin. Ich interessiere mich für diese Möglichkeit für AkteurInnen, im Rahmen der Räte teils Anliegen zu verfolgen, die unter Umständen von parteipolitischen Linien abwichen und immer wieder auch experimentellen Charakter hatten. Ich werde daher im Folgenden die Geschichte der Arbeiterräte auch als eine Geschichte der Ausverhandlungen erzählen. Zunächst wird der Attraktion der Räteidee in Österreich nachgegangen (Kapitel 2 und 3), dann nach ihrer Bedeutung gefragt (Kapitel 4) und schließlich anhand unterschiedlicher Fallbeispiele der Arbeiterrat als Instrument der Selbstermächtigung dargestellt (Kapitel 5). Bei einem genauen Blick auf die Quellen werden Konflikte zwischen unterschiedlichen AkteurInnen sichtbar, die sich immer wieder auch in unterschiedlichen Konstellationen gegenüberstanden: ArbeiterInnen und Arbeiterräte, staatliche Organe wie Polizisten und BeamtInnen und beschwerdeführende Teile der Bevölkerung sowie in Partei und Gewerkschaft organisierte SozialdemokratInnen.

16 Vgl. Karin M. Schmidlechner, Arbeiterbewegung und revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkrieges: Die Situation in Österreich, in: Helmut Konrad/Dies. (Hg.), Revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkrieges. Die Rolle von Strukturen, Konjunkturen und Massenbewegungen (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 16), Wien/Köln 1991, 17–26, 20–25. 17 Ab Frühling 1919 war auch die Mitgliedschaft bei bestimmten anderen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung für das passive und aktive Wahlrecht in den Arbeiterräten möglich. Die kommunistische Fraktion im Arbeiterrat trat allerdings im Frühjahr 1922 aus. 18 Vgl. Brigitte Studer, The Transnational World of the Cominternians, Basingstoke 2015.

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Damit erweitere ich die momentan wieder vermehrt in den Fokus gerückte Forschung zur Rätebewegung um einen wichtigen Aspekt. Eine erste Auseinandersetzung fand bereits unmittelbar mit der Rätebewegung statt.19 Mittlerweile kann die Geschichte der Arbeiterräte in Österreich in ihrer institutionellen Dimension (und mit dem Fokus auf Wien) sicherlich mit Fug und Recht als gut beforscht beschrieben werden. Das ist vor allem ein Verdienst des unlängst verstorbenen Historikers Hans Hautmann.20 Nicht zuletzt kam es rund um das Hundertjahrjubiläum der Russischen Revolution, des Endes des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Republik (Deutsch-)Österreich zu einer vermehrten Auseinandersetzung.21 In diesem Beitrag stelle ich nicht Debatten und Aktionen der Reichskonferenz der Arbeiterräte dar, sondern werde zeigen, warum sich viele Hausfrauen und Beamtinnen, Metallarbeiter und Kellner in und als Arbeiterräte organisiert hatten. Das ist auch aus einer demokratiehistorischen Perspektive interessant: Aus UntertanInnen einer Monarchie wurden StaatsbürgerInnen. Die Ausweitung des Wahlrechts auf allen Ebenen und die Erfahrungen des Krieges reformulierten das Verhältnis der BürgerInnen zum Staat und etablierte Formen politischer Organisation, aber auch Agitation, änderten sich grundlegend.22 Hans Hautmann strich dazu in seiner umfangreichen Studie heraus: 19 Arbeiterrat Oberösterreich: Zur Geschichte des Arbeiterrates Oberösterreich, mit einem Begleitschreiben von Robert Bernaschek an Friedrich Adler vom 17. 5. 1924. VGA, PAv1934, M. 27. Arbeiterrat Oberösterreich 1917–1919; sowie: Geschichte der österreichischen Arbeiterräte. Typoskript Karl Heinz – Nachlass K. Seitz. VGA, PAv1934, M. 21a–c; und Geschichte der österreichischen Arbeiterräte. International Institute for Social History, Amsterdam (IISH), Karl Heinz Papers. 20 Verwiesen sei hier nur neben seinen anderen zahlreichen Beiträgen nur auf seine publizierte Habilitationsschrift: Hans Hautmann, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918– 1924, Wien/Zürich 1987. Für einen Überblick über die ab den 1960er Jahren beginnende Forschung siehe: Veronika Helfert, Frauen, wacht auf! Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924, (=L’Homme Schriften 28), Göttingen 2021, 40–46. 21 Siehe zum Beispiel folgende 2018 erschienenen Sammelbände: Christian Koller/Matthias Marschik (Hg.), Die ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen, Wien 2018; und Leder/Memoli/Pavlic (Hg.), Rätebewegung. Auch in Deutschland werden die Ereignisse 1918/1919 vermehrt in Forschungsarbeiten und Publikationen erarbeitet (vgl. dazu: Marcel Bois, Zurück ins Bewusstsein. Ein kurzer Ausblick auf hundert Jahre Revolution und Kriegsende, in: Axel Weipert/Salvador Oberhaus/Detlef Nakath/Bernd Hütter (Hg.), „Maschine zur Brutalisierung der Welt“. Der Erste Weltkrieg – Deutungen und Haltungen 1914 bis heute, Münster 2017, 76–94.). Von einer vergessenen Revolution, wie ein Sammelband noch vor zehn Jahren titelte [Alexander Gallus (Hg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010], kann nicht mehr gesprochen werden. 22 Hier kann nicht weiter auf die umfangreiche Forschung und Theorieentwicklung zu Citizenship bzw. StaatsbürgerInnenschaft eingegangen werden. Spätestens seit den 1990er-Jahren ist dies ein Schlüsselkonzept der Politik- und Geschichtswissenschaft, das die Arbeit von Thomas H. Marshall weiterentwickelt, kritisiert und erweitert hat (Thomas H. Marshall, Class,

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„Für sie [die Arbeiterräte; Anm. VH] und für die Arbeiterschaft war nämlich die Republik unvergleichlich mehr als für jede andere Gesellschaftsklasse ‚ihr‘ Staat und jenes Gemeinwesen, dessen Aufgabe es ihrer Überzeugung nach sein mußte, die feierliche Verkündung der Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz Wirklichkeit werden zu lassen und die sich aus den Besitzunterschieden ergebenden Auswüchse entschlossen zu bekämpfen.“23

Diesen Gedanken weiterführend wird es nachvollziehbar, dass auf Sitzungen eines Bezirksarbeiterrates „hohe Politik“ gemacht wurde. Trotz der prinzipiellen Offenheit der Arbeiterräte waren aber auch hier strukturelle Ausschlussmechanismen wirksam, da diese gesellschaftliche bzw. politisch-ökonomische Teilhabe auf bestimmte Weise organisierten, die gerade Frauen, Arbeitslose oder prekär Beschäftigte benachteiligte.24 Neben institutionellem Quellenmaterial aus der Rätebewegung greife ich auf Erinnerungen an Tätigkeiten in ihnen zurück.25 Gerade in den hier versammelten wiedergegeben Erfahrungen unterschiedlicher AkteurInnen mit der Rätebewegung zeigt sich mit Ute Planert, dass Erfahrung „mitnichten ein spezifischer Ausdruck von unmittelbar-individualistischem Erleben“, sondern kontext- und situationsabhängig sowie sozial vermittelt ist und zusätzlich „durch eine semiotische Struktur organisiert“26. Die Art und Weise wie AkteurInnen von ihren Aktivitäten innerhalb der Arbeiterräte berichteten, war damit auch immer mit der zeitgenössischen und späteren Einschätzung der Rätebewegung und der revolutionären Ereignisse in Österreich und Russland verbunden.

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Citizenship, and Social Development, New York 1965). Es lässt sich gut dafür verwenden, um die Beziehungen des Einzelnen zum Staat zu konzeptionalisieren. Vgl. zum Konzept einführend: Richard Bellamy, Citizenship. A very short introduction, Oxford 2008. Hautmann, Geschichte der Rätebewegung, 400. Siehe dazu: Veronika Helfert, Schwestern im „Bund der Brüder“? Zum Verschwinden (und Wiederfinden) der Frauen in der österreichischen Rätebewegung, in: Leder/Memoli/Pavlic (Hg.), Rätebewegung, 105–124. Bei der Verwendung von Selbstzeugnissen sind immer auch der historische Kontext der Entstehung genauso einzubeziehen wie, soweit bekannt, Schreibanlässe der AutorInnen, ihre AdressatInnen und mögliche Publikationskontexte und nicht zuletzt gerade im vorliegenden Fall parteipolitische Tradierungen der Ereignisse. Für die Lektüre von Selbstzeugnissen und Egodokumenten hilfreich waren folgende Texte: Andreas Bähr/Peter Burschel/Gabriele Jancke, Räume des Selbst. Eine Einleitung, in: Andreas Bähr/Peter Burschel/Gabriele Jancke. (Hg.), Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, Köln/Weimar/Wien 2007, 1– 12; sowie Gabriele Jancke, Zur Diskussion gestellt: Leben texten, Lebensgeschichten, das eigene Leben schreiben – ein Plädoyer für Unterscheidungen. Auf Grundlage und anhand von frühneuzeitlichen autobiographischen Schriften, in: L’Homme. Z. F. G. 14/2 (2003), 386– 395. Ute Planert, Zwischen Alltag, Mentalität und Erinnerungskultur. Erfahrungsgeschichte an der Schwelle zum nationalen Zeitalter, in: Nikolaus Buschmann/Horst Carl, Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn et al. 2001, 51–66, 53f.

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2.

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Russisch sprechen? Die Rezeption der Räteidee in Österreich

1918 erschien in der Schweiz eine Broschüre über den Jännerstreik in der Habsburgermonarchie, in dem die ungenannten AutorInnen resümierten: „Die Arbeiter Österreichs blickten mit Enthusiasmus auf die Räte in Rußland, die die Arbeiterschaft zum Kampf gegen die Bourgeoisie errichtet hat und unter deren Leitung sie die Bourgeoisie besiegte.“27 Zweifellos waren die Ereignisse in Russland und die Etablierung von sowjets – Räten – einflussreich. Christian Koller geht in seiner Einschätzung der globalen Faszination Räte noch weiter: „Die Räteidee war integraler Bestandteil einer großen Zahl von Umbrüchen und Rebellionen ab 1916. Diese reichten von Irland bis Japan, von Angola bis Finnland und verlängerten den Ersten Weltkrieg in die frühen 1920er-Jahren hinein.“28 Die Räteidee war allerdings nicht neu: Vorläuferformen bildeten sich in revolutionären Situationen des 19. Jahrhunderts. Vor allem in der Pariser Commune (1871) hatte das Modell einen praktischen Bezugspunkt,29 das nicht zuletzt durch Karl Marx’ Analyse unter deutschsprachigen SozialistInnen rezipiert wurde.30 Marx beschrieb ein politisches System von gewählten Stadträten, die „verantwortlich und jederzeit absetzbar“ waren. Darüber hinaus betonte er, dass die Stadträte Arbeiter waren – oder „anerkannte Vertreter der Arbeiterklasse“ – und sich dieses damit von bestehenden parlamentarischen Systemen unterschied.31 1905 bildeten sich in der gescheiterten Russischen Revolution ebenfalls Räte und Arbeiterausschüsse, auf die sich berufen wurde. 1917 tauchte das Schlagwort der Arbeiterräte bzw. Sowjets in der österreichischen Presselandschaft auf.32 Damit wurde nicht nur für linksradikale AkteurInnen das Schlagwort der Arbeiter- und Soldatenräte sowie das (russische) Rätemodell ein Synonym für eine revolutionäre, neue Gesellschaft. Dazu trugen unter anderem heimkehrende Soldaten aus russischer Kriegsgefangenschaft und russische Kriegsgefangene bei, die als Wissens- und Mythentransporteure auf27 Der Januarausstand der österreichischen Arbeiterschaft und der Verrat der sozial-patriotischen Führer, Zürich 1918, 3. 28 Christian Koller, Räte auf drei Kontinenten. Die ungarische Räterepublik als Teil einer transnationalen Bewegung?, in: Koller/Marschik (Hg.), Räterepublik, 47–68, 47. 29 Siehe z. B. Förster, 1919, 31. 30 Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW). Bd. 17, Berlin 1962, 313–365. 31 Ebd., 339. 32 Eine einfache Schlagwortsuche des Begriffes auf der digitalisierten Zeitungs- und Zeitschriftendatenbank Anno der Österreichischen Nationalbibliothek ergibt lediglich zwei Treffer des Begriffes Arbeiterrat für die Jahre 1914 bis 1916, das ändert sich 1917 mit 1.311 Treffern. Die weiteren Jahre: 1918 462, 1919 2.025, 1920 1.244, 1921 577, 1922 383, 1923 254, 1924 95. Daran lässt sich nachvollziehen, dass in den Jahren revolutionärer Verdichtung wie 1917 und 1919 besonders intensiv davon berichtet wurde, die Bedeutung ab 1922 aber deutlich abnahm.

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traten.33 Es kursierten Broschüren und Zeitungsberichte, die auch gegnerische Standpunkte einnahmen, wie etwa ein 1918 in der Druckerei Steyrermühl produziertes kleines Heft mit dem Titel „Rußland unter der Herrschaft der Bolschewiken“.34 In dieser als antibolschewistisch35 einzuschätzenden Broschüre wurden russische Arbeiterräte bzw. die Sozialisierung von Fabriken sowie das eigenmächtige Handeln der ArbeiterInnen beschrieben. ArbeiterInnen „verlangten die Kontrolle über den Ein- und Verkauf, die Korrespondenz, Geldgebarung etc. und versuchten es, oft unter Gewaltanwendung, eine Art Nebenregierung in Form der sogenannten Arbeiterdirektorien, in den Fabriken einzurichten.“36 Diese Schreckensvision konnte – so deuten es die Bezüge auf ein Heft an, das Otto Bauer 1917 unter Pseudonym verfasst hatte –37 auch in Österreich drohen. Daneben beschäftigten sich Linke mit dem (russischen) Modell: Vor allem die kommunistische Parteipresse legte ab ihrer Gründung Schriften auf.38 Aber auch in der Sozialdemokratie wurde – oft interessiert-distanziert bis ablehnend – diskutiert: Karl Renner besprach beispielsweise in seinem langen Artikel Demokratie und Rätesystem das russische Modell ausführlich.39 Mit folgender Einschätzung bzw. Kritik lässt sich die in der Sozialdemokratie zu den Arbeiterräten dominierenden Haltung treffend beschreiben: „Manche Genossen sehen aus den Arbeiterräten eine neue, demokratischere Form der Partei entstehen. Das ist sicher ein Irrtum. Die Arbeiter- und Soldatenräte sind für den

33 Vgl. Hannes Leidinger/Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920, Wien/Köln/Weimar 2003. Otto Bauer etwa – auch ein Kriegsheimkehrer – verfasste einen Bericht zur Lage in Russland unter dem Pseudonym Heinrich Weber. Siehe: Heinrich Weber, Die russische Revolution und das europäische Proletariat, Wien 1917. 34 Siehe zur Geschichte der Druckerei: Peter Eigner/Andreas Resch, Steyrermühl und Vernay: Die zwei größten Wiener Zeitungskonzerne der Zwischenkriegszeit, in: Herbert Matis/Andreas Resch/Dieter Stiefel (Hg.), Unternehmertum im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Unternehmerische Aktivitäten in historischer Perspektive. Beiträge gesammelt zu Ehren von Alice Teichova (Veröffentlichungen der Österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, 28), Wien et al. 2010, 171–184. 35 Möglicherweise wurde diese Publikation auch für Propagandazwecke in der Armee verwendet. Auf der von mir eingesehenen Ausgabe in der Österreichischen Nationalbibliothek befindet sich ein Stempel „Front-Propaganda-Gruppe / Referent für Frontvorträge“. 36 Rußland unter der Herrschaft der Bolschewiken, Wien 1918, 12–13. 37 Weber, Revolution. 38 Siehe die Werbung für Titel wie die Verfassung der russischen Räterepublik oder Rätekorrespondenz der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs zum Beispiel in: Kommunismus 1/ 1–2 (1. 2. 1920) 57. 39 Karl Renner, Demokratie und Rätesystem, in: Der Kampf 14 (Februar/März 1921) 2/3, 54–67. Auch andere beschäftigten sich mit dem russischen Modell z. B.: Alexander Täubler, Die Rechtsbildung in der Revolution und die Mission der Arbeiterräte. Den Arbeiter-, Kleinbauern- und Soldatenräten gewidmet (Revolutionäre sozialistische Bücherei 2), Wien 1919.

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Klassenkampf des Proletariats unzweifelhaft von größter Bedeutung, selbst dort, wo ihr revolutionärer Charakter nur mehr schwer zu erkennen ist. Aber sie sind gleichfalls nur ein Arm des Proletariats, nicht der Kopf, höchst geeignet für rasche Handlungen, aber nicht für dauernde Willensbildungen.“40

Darüber hinaus lässt eine Sichtung zeitgenössischer deutschsprachiger Zeitungen feststellen, dass der Arbeiterrat als selbstbewusste Institution der ArbeiterInnen, die Forderungen stellte und in der Politik mitmischte, präsent war. Seit Anfang April 1917 berichteten Zeitungen von Tätigkeiten des Petersburger Arbeiterrates und vor allem von seinen Friedensforderungen. Für Schlagzeilen sorgte etwa, dass gar die Leibgarde des Zaren dem Arbeiterrat ihren Eid leistete und damit seine Stellung als politisch entscheidende Institution festigte.41 Nachvollziehbar wird dadurch, dass seit ihrem Entstehen in den Russischen Revolutionen die Arbeiterräte auch als Institutionen der Selbstermächtigung von ArbeiterInnen präsentiert wurden.

3.

Friede, Freiheit und Brot

Seit dem Jahresende 1917 waren die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk in allen Zeitungen. Zwischen Dezember 1917 und März 1918 verhandelte die neue bolschewistische russische Regierung mit den Mittelmächten über einen möglichen Frieden. Begleitet wurden die Verhandlungen durch Friedensversammlungen im Habsburgerreich. Bei Demonstrationen und Streiks tauchten Flugblätter auf, die auch in Österreich zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten aufriefen.42 Im Jänner kam es zu einer Verhandlungspause und die Habsburgermonarchie wurde von einer Streikbewegung erfasst, die die Massenstreiks im Mai des Vorjahres in den Schatten stellte. Die Stimmung ist an Flugblättern wie jenem gut abzulesen, in dem zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten aufgerufen wurde: „Nur der russischen Revolution verdanken wir es, daß es zu Friedensverhandlungen gekommen ist“43, hieß es etwa darin. Bei Friedensversammlungen der SDAP in Wien und Niederösterreich wurde am 13. Jänner 1918 nach „leidenschaftlichen Diskussionen“ Beschlüsse gefasst, in denen sofortiger 40 V. Stern, Zur Frage der Parteidemokratisierung, in: Der Kampf 12, Nr. 3 (1919) 154–163, 163. 41 Siehe: Das Leibregiment des Zaren – sozialistisch, Böhmerwald Volksbote. Sozialdemokratisches Organ für Südböhmen, 15. 4. 1917, 6. Freilich war die Berichterstattung auch voll von satirischen Texten und Karikaturen, wie etwa in den Wiener Caricaturen, wo dem Petersburger Arbeiterrat „der R a t “ erteilt wurde „besser zu a r b e i t e n “ als Friedensforderungen aufzustellen. Wiener Caricaturen, 1. 11. 1917, 2. 42 Siehe etwa: Flugblatt „Ein Flugblatt zur Lage. Jänner 1918. Arbeitendes Volk“. IISH, COLL 00205. Austria. Social and Political Developments Collection, Karton (K.) 1, M. 1C. 43 IISH, COLL00205. Austria. Social and Political Developments Collection, K. 1, M. 1C, Flugblatt „Ein Flugblatt zur Lage. Jänner 1918. Arbeitendes Volk“, 1f.

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Frieden gefordert und gegen den Ausschluss der Bevölkerung aus den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk protestiert wurde.44 Zwischen 14. und 21. (mancherorts 25.) Jänner traten schließlich ArbeiterInnen in der Monarchie in den Ausstand. Es ging um nicht weniger als „Frieden, Freiheit und Brot“45. Die Forderungen des Streiks waren eine gerechte Verteilung der Lebensmittel, Aufhebung der „Militarisierung“ der Arbeiter*innen, die Freilassung Friedrich Adlers, Frieden – ohne Eroberungen und Gebietsannexionen und unter Wahrung des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ – sowie gleiches Wahlrecht für Frauen und Männer auf Gemeindeebene.46 Das Anliegen des Frauenwahlrechts wurde wohl von SozialdemokratInnen in die Liste aufgenommen. In einem Aufruf aus dem Jännerstreik, der in der linken Zeitschrift Die Wage abgedruckt wurde, findet sie sich beispielsweise nicht.47 Interessant für die Fragestellung dieses Artikels ist aber nicht nur, dass sich bereits 1917 wie auch während des Jännerstreiks teils von unten Arbeiterausschüsse gebildet haben, die Streik- und Protestmaßnahmen organisiert hatten. Sondern dass sich dieses Mittel als Instrument der „hochpolitischen“ Selbstermächtigung präsentiert hat. So forderten beispielsweise ArbeiterInnen in einer Resolution Ende Jänner, der sich auch Arbeiter der k.k. Staatsbahnen in Gmünd, Niederösterreich, angeschlossen hatten, unter anderem die Entsendung von eigenen Arbeiter-Delegierten nach Brest-Litwosk.48

44 Vgl. Um Friede, Freiheit und Recht! Der Jännerausstand des innerösterreichischen Proletariats (Wien 1918) 3–5. Der Autor dieser Broschüre sei Karl Renner gewesen, wie Hans Hautmann berichtet. (Vgl. Hans Hautmann, Dokumente zum Jännerstreik 1918, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, 4 (Dezember 2007) 7–12, 10.) 45 So der Slogan, der in zahlreichen Berichten und Publikationen zum Jännerstreik auftaucht. Vgl. etwa: Nach der Ausstandsbewegung, Arbeiterwille. Organ des arbeitenden Volkes für Steiermark und Kärnten, 27. 1. 1918, 3–4, 4. Zum Jännerstreik z. B. Karl Flanner, Nieder mit dem Krieg! Für sofortigen Frieden! Der große Jännerstreik 1918 in Wiener Neustadt, Wiener Neustadt 1997, 15; oder Koller, Streikkultur, 292–300. 46 Vgl. Um Friede, Freiheit und Recht!, 10–13. 47 Vgl. Aufruf vom Januar-Streik 1918, in: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift 22, Nr. 42 (24. 10. 1919) 856f. Die Frage nach dem Stellenwert von unterschiedlichen Forderungen ist ohnehin interessant und in den vor allem auch im Nachhinein verfassten Berichten fällt auf, dass frauenspezifische Anliegen – wie eben das Frauenwahlrecht – als der Bewegung „fremd“ markiert wurden, wie etwa im Bericht des Kommunisten Friedrich Hexmanns der aus einer Versammlung während des Jännerstreiks berichtete, dass ein Arbeiter die Rede einer Sozialdemokratin mit den Worten störte: „Das, was die Genossin geredet hat, ist Quatsch. Was wir verlangen ist Brot und Frieden, und nicht Frauenwahlrecht.“ (Friedrich Hexmann, Episoden aus dem Jännerstreik 1918, in: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift 23, Nr. 1/2 (16. 1. 1920) 9–12, 9f.) 48 ÖStA, AVA, MdI, Präs. 15/3, K. 2001, k.k. Statthalter in Österreich u.d. Enns, Politischer Bezirk Gmünd Streikbewegung, Wien am 25. Jänner 1918, Pr.Z.596 P; Gz. 2210/M.I.

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Wenn aber auch in der ganzen Habsburgermonarchie bis zu 750.000 Menschen gestreikt haben,49 gab es auch jene, die den Ausstand als Verrat an den Kriegsbemühungen und den „an allem Nötigen darbenden Truppe an den Fronten“50 sahen. Der Wiener Kraftwagenfahrer Albert Lang berichtete etwa von einer Versammlung in Wien, in der ein Vertrauensmann der Semperit-Gummiwerke sprach und die ArbeiterInnen zu Streiks aufforderte, obwohl aufgrund eines strengen militärischen Leiters in den Semperit-Werken selber nicht gestreikt wurde. Dieser machte „alle, welche nicht richtig arbeiten wollen, sofort einrückend […], weil er auf dem Standpunkt steht, dass, wer im Hinterland unzufrieden ist, es unbedingt zum Vergleich an der Front zu leben versuchen soll. Das ist wirklich ein vollkommen richtiger Standpunkt, der auch der meine ist, und darum arbeite und tu ich, was ich nur kann, um auch im Hinterland meine Pflicht gegenüber dem Vaterland zu erfüllen.“51

Am 19. Jänner 1918 wurde auf einer Sitzung des Wiener Arbeiterrates52 mit 308 gegen zwei Stimmen der Abbruch des Streiks beschlossen, wenn auch unter Tumult – und erst um halb vier in der Früh, wie Anna Hornik, geb. Strömer, später berichtete. Hornik hatte zu jener Gruppe gehört, die im Winter 1915/16 das Aktionskomitee der Linksradikalen gegründet hatte und war im Jännerstreik aktiv gewesen.53 In einer Wiener Neustädter Versammlung wurden der Streikabbruch mit Wut und Enttäuschung aufgefasst.54 Wenn auch die Schilderung Horniks sicherlich im Kontext der konkurrierenden kommunistischen Erinnerungspolitik gelesen werden muss, ist sie eindrücklich. Sie lässt eine Arbeiterin sprechen, die nach der Verkündung des Abbruchs rief: „‚Wir sind verraten. Wir sollen wieder in die Betriebe zurückgehen und weiter Granaten drehen, weiter zu Helfershelfern der Mörder werden! Wenn ich meine Hände ansehe‘ – und sie streckte ihre beiden Arme der Versammlung entgegen –, dann sehe ich daran Blut. Das Blut der Söhne und Männer, die durch die Granaten, die ich gedreht habe, 49 Vgl. Hans Hautmann, Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs (Europäische Perspektiven), Wien 21971, 52. 50 Eintrag vom 5. August 1918 aus dem edierten Tagebuch von Albert Lang (1892–1972), „… um auch im Hinterland meine Pflicht gegenüber dem Vaterland zu erfüllen“, in: Eigner/Müller (Hg.), Hungern, 133–158, 140. 51 Lang, 140f. 52 Der Wiener Arbeiterrat war von hohen sozialdemokratischen Parteifunktionären dominiert. Vgl. Koller, Streikkultur, 299. 53 Vgl. Anna Hornik, 40 Jahre Jännerstreik, in: Weg und Ziel. Monatsschrift für Fragen der Demokratie und des wissenschaftlichen Sozialismus 16, Nr. 1 (Jänner 1958) 46–51, 49. 54 Der Wiener Neustädter Arbeiterrat war vor allem von Leuten aus Betrieben besetzt und damit nicht in demselben Maße auf die Parteileitung ausgerichtet wie der Wiener. Vgl. Berthold Unfried, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung im 1. Weltkrieg. Wien und Niederösterreich, in: Wolfgang Maderthaner (Hg.), Sozialdemokratie und Habsburgerstaat (Sozialistische Bibliothek. Abteilung 1: Die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie 1) Wien 1988, 131–165, 146f.

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getötet wurden! […] ‚Wir wollen so handeln, wie unsere russischen Schwestern gehandelt haben! Wir wollen Frieden!‘“55

In der Erinnerung der Linksradikalen wurden die Verhandlungen mit dem Ministerrat und der Abbruch des Streiks aufgrund wertloser Versprechen als Verrat interpretiert. Ein Verrat, der damit begründet wurde, dass die SozialdemokratInnen „geschworene Feinde der Massenbewegung“56 seien und in ähnlicher Weise schon in der Streikbewegung vom Mai 1917 agiert hätten.

4.

Das Parlament der Arbeiterklasse

Was waren die Arbeiterräte in Österreich nun? Es lässt sich feststellen, dass Arbeiterräte teils geplant, teils spontan entstanden und ihr Bestehen bzw. die Verfasstheit des österreichischen Rätemodells laufend ausverhandelt wurden, was durchaus den unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen der involvierten AkteurInnen entsprach. Wichtige Eckpunkte des Rätesystems waren die fehlende Gewaltentrennung und eine persönliche Verantwortlichkeit der Delegierten ihren WählerInnen gegenüber. Die Räte waren nicht nur für den Beschluss von Gesetzen, sondern auch für deren Umsetzung zuständig.57 Delegierte waren jederzeit absetzbar und wurden in Wahlgängen gewählt, die häufig abgehalten wurden (etwa alle sechs Monate). Die Wahlberechtigung war mit einer bestimmten Vorstellung von Arbeit und oftmals mit einer Mitgliedschaft in proletarischen Organisationen verbunden.58 Abgesehen von diesem vor allem russisch geprägten Modell der Arbeiterräte orga nisierten sich in Österreich unmittelbar zu Kriegsende alle möglichen Gruppen, die sich selbst als Räte bezeichneten: Das waren überparteiliche „Volksräte“ im Herbst 1918 oder auch christlichsoziale Bauern- und Landar55 Archiv der Alfred Klahr-Gesellschaft, Wien, M. Anna Hornik-Strömer, Anna Hornik, Die Oktoberrevolution und die österreichischen Frauen, Manuskript, 5 S., o.D. 3f. 56 Der Januarausstand der österreichischen Arbeiterschaft, 2. 57 Peter Hallstein, Die österreichischen Arbeiterräte in der zeitgenössischen staatstheoretischen Diskussion, phil. Diss., Universität Wien 1973, 16–18; für einen weiteren, internationalen Vergleich siehe neben Koller, Räte; auch: Förster, 1919, 31f. 58 Vgl. z. B. hierfür: M. Philips Price, Das Räte-System in Rußland, Wien 1919, 3–7. Wer wählbar war und wählen durfte war einerseits Gegenstand theoretischer Debatten, andererseits auch oft Resultat von strategischen und tagespolitischen Überlegungen. In meiner auf der Dissertation beruhenden Publikation habe ich mich ausführlich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Vgl. Helfert, Frauen, wacht auf!, 225–262. Auch wenn es schwierig war, gerade jene zu Wahlgängen zu mobilisieren, die nicht in den großen Fabriken arbeiteten, war die Wahlbeteiligung zu Beginn groß: Im Herbst 1919 hatten in Wien 403.732 Menschen an den Wahlen teilgenommen, wie Friedrich Adler ausführte: Ders., Die Ergebnisse der Wiener Kreisarbeiterratswahlen, in: Der Kampf 13, Nr. 2 (Februar 1920) 97–101, 100.

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beiterräte 1919. Fritz Dittlbacher strich hier hervor, dass letztere als Ergebnis des Systemzusammenbruchs verstanden werden müssten,59 was sich bis zu einem gewissen Grad auch für Arbeiter- und Soldatenräte sagen lässt, die revolutionären Anspruch mit der (interimistischen) Übernahme von staatlichen Aufgaben verbanden. Neben Wien und dem Wiener Industriegebiet wurde vor allem Oberösterreich zur „Hochburg der österreichischen Rätebewegung“60. In Kärnten und Salzburg gab es lediglich vereinzelte Arbeiterräte vor allem in den größeren Orten – wie etwa in der Stadt Hallein –; der Tiroler Arbeiterrat wurde vom Vollzugsausschuss der Reichskonferenz der Arbeiterräte nie anerkannt. Vorarlberg war insofern interessant, als es zu Demonstrationen für die bayrische Räterepublik im Frühjahr 1919 kam, mit der Forderung nach einem Anschluss an das revolutionäre Bayern durch einige ArbeiterInnen.61 Hans Hautmann gibt an, dass sich in 84 Gemeinden Arbeiterräte gebildet hätten.62 Nach dem ersten Auftauchen im Jännerstreik wurden Arbeiterräte vor allem ab dem Frühjahr 1919 aktiv. Ein Soldatenrat der Volkswehr in Wien gründete sich zum Beispiel am 30. Oktober 1918, in Linz ein Tag später.63 Diese spielten in den Tagen der Österreichischen Revolution im Herbst 1918 eine größere Rolle als die Arbeiterräte, folgt man den Erinnerungstexten etwa von Julius Deutsch oder Otto Bauer, beides ehemalige Offiziere. Die Lebenserinnerungen der Kommunistin und Arbeiterrätin Hanna Sturm aus Blumau in der Oststeiermark, an der Grenze zum heutigen Burgenland, erlaubt einen differenzierten Blick. Sie war in den Novembertagen noch Sozialdemokratin und beschrieb als Aufgabe des Arbeiterrates im Herbst und Winter 1918/19 vor allem, „die Republik vor den Zugriffen des raubgierigen fremden Kapitals, das mit den Kommissionen der Alliierten den Einzug hielt und nach billiger Beute Ausschau hielt, zu schützen.“64 Der Schutz der Republik und die „Weiterführung der Revolution“, die die Arbeiterräte laut Sturm verlangten, waren offenbar für manche Linksradikale kein Widerspruch. Sie fuhr fort: „Die Arbeiter drohten, ‚russisch‘ zu sprechen!“65 Mit dieser Formulierung zeigt sich 59 Fritz Dittlbacher, Die Revolution am Lande. Russische revolutionäre Ideen in der österreichischen Novemberrevolution, am Beispiel oberösterreichischer Landgemeinden und Kleinstädte, phil. Diss., Universität Wien 1992, 12. 60 Gabriella Hauch, Frauen.Leben.Linz. Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Linz 2013, 221. 61 Vgl. Hautmann, Geschichte der Rätebewegung, 347–358. Die Anschlussbewegung in Vorarlberg richtete sich ansonsten in Richtung Schweiz. 62 Siehe dazu die entsprechende Grafik im Beitrag von Maria Mesner in diesem Band. 63 Vgl. Die Geburtsstunde des Soldatenrats, in: Oberösterreich und die November Revolution. Für seine Landsleute zusammengestellt von einem Oberösterreicher, Linz 1928, 62–65. 64 Hanna Sturm, Die Lebensgeschichte einer Arbeiterin. Vom Burgenland nach Ravensbrück (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 8), Wien 1982, 185f. 65 Ebd., 186.

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nicht nur die Revolutionsdrohung, es verweist auf ein Moment der Selbstermächtigung: politische Partizipation nicht nur als Mitsprache, sondern auch als für sich selbst Sprechen,66 eine Möglichkeit, für die der Arbeiterrat in dieser Zeit ein Forum sein konnte. Die Bedeutung, die die Arbeiterräte im Sommer 1919 erhielten, ließ sich schließlich auch daran erkennen, dass die Reichskonferenz der Arbeiterräte Deutschösterreichs im Hohen Haus selbst abgehalten wurden. Sie sind damit zu der Zeit, als in München und Budapest Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte die Macht übernommen hatten, in Wien ganz symbolisch zum „Parlament der Arbeiterklasse“67 geworden. Ihre Relevanz allerdings nahm unter geänderten außen- und innenpolitischen Umständen bis zu ihrer offiziellen Auflösung 1924 beständig ab.

5.

Arbeiter- und Betriebsräte als Instrumente der Selbstermächtigung

Die österreichischen Arbeiterräte waren partiell eine erfolgreiche Organisationsform, um Massenbewegungen zu initiieren wie Solidaritätsstreiks und Demonstrationen. In bestimmten Bereichen konnten sie durchaus auch politischen Druck auf die Nationalversammlung ausüben und so als „Organe der Doppelherrschaft“68 fungieren. In diesem Kapitel sollen anhand mehrerer Quellenbeispiele auf unterschiedlichen Ebenen die Heterogenität der Arbeiterräte und deren unterschiedlichen Konfliktlinien gezeigt werden. Es wurden, wie das Beispiel von Lotte Pirker zu Beginn gezeigt hat, explizit politische Fragen verhandelt. Viele davon fielen ohnehin in die Interessen von ArbeiterInnen wie die Steuergesetzgebung. Am 10. Jänner 1921 richteten beispielsweise die Betriebsversammlung und der Betriebsrat der Papierwaren-Firma Freundel & Co im in Wien-Margareten eine Resolution an den Kreisarbeiterrat in Wien, in der sie sich gegen eine Steuererhöhung aussprachen. Unterzeichnet 66 Ben Gidley wies darauf hin, dass citizenship untrennbar mit Sprechen und Gehört-Werden zusammenhängt. Vgl. Ders., Speaking of the Working Class, in: Bridget Anderson/Vanessa Hughes (Hg.), Citizenship and its Others (Migration, Diasporas and Citizenship), Basingstoke 2015, 177–183. 67 VGA, PAv1934, M. 23/I. Protokoll der Reichskonferenz der Arbeiterräte 31.5.–2. 6. 1920, Wien, 1. Sitzungstag, 75. 68 Hallstein, Die österreichischen Arbeiterräte, 27f. Hallstein schlägt drei Phasen vor, um Rätebewegungen zu klassifizieren: Arbeiterräte als Organisationen von Massenprotest, Arbeiterräte in regierungsähnlichen bzw. sozialpartnerschaftlichen Funktionen und Arbeiterräte, die die Staatsgewalt übernommen haben. Die letzte Phase wurde in Österreich bis auf eine kleine Episode in Vöslau nie erreicht. Zu Vöslau siehe Peter Haumer, Die Geschichte des F.R.S.I. Die Föderation Revolutionärer Sozialisten „Internationale“ und die österreichische Revolution 1918/19, Wien 2018, 245–264

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wurde diese Resolution von drei Betriebsrätinnen – Anna Tauchmann, Barbara Cech und Therese Prasinger (?) – sowie zwei Betriebsräten – Karl Foukal und Poldi Söbel.69 Auch der Betriebsrat der Lebensmittel- und Kaffeeröstereikette Julius Meinl AG hatte auf seiner Vollversammlung am 7. Jänner 1921 eine Resolution gegen das Steuergesetz verfasst und wies darin darauf hin, dass die ArbeiterInnenschaft „bis zum heutigen Tage mit gutem Beispiel vorangegangen [ist], die gesamte kapitalistische Klasse zur Einsicht zu bekehren; doch hat sie mit ihrer Geduld nur erreicht, daß […] bei der buergerlichen Klasse ohne Einschreiten der Behörden Preisanarchie herrscht“.70 Andere Belegschaften übermittelten ähnliche Schreiben. Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich einige Betriebsräte dezidiert als politische Institutionen verstanden, ganz in dem Sinne, wie Otto Bauer das am 15. Mai 1919 beschlossene Betriebsrätegesetz interpretiert hatte: als ein Gesetz, das ohne weitere Einschränkungen das Recht einräumte, die Interessen der ArbeiterInnen und Angestellten inner- und außerhalb des Betriebs zu vertreten,71 auch wenn das Gesetz hinter radikaleren Überlegungen wie Enteignungen zurückblieb. Es wurden hauptsächlich sozialpolitische Regelungen umgesetzt.72 Auch in Wien, wo seit der Gemeinderatswahl am 4. Mai 1919 eine sozialdemokratische Mehrheit die Kommunalpolitik bestimmte, kam die Sozialisierung nicht in Gang. Überlegt wurde zwar, die Brotfabrikation, die Biererzeugung oder die Kinos zu sozialisieren, also die ArbeiterInnen im Sinne der „wirtschaftlichen Demokratie“ (Emmy Freundlich) umfassend in die Betriebsführung miteinzubeziehen;73 diese Form der Demokratisierung von Gemeindeunternehmen misslang aber.74 Die Arbeiterräte waren Instrumente von Selbstermächtigung und Selbstverwaltung. Als „Resultat unmittelbarer Überlebenserfordernisse“75 reklamierten 69 Resolution der Betriebsversammlung der Firma Freundel u. Ko, 10. 01. 1921. VGA, PAv1934, M. 26, U. 6. Diverse Unterlagen Kreisarbeiterrat 1921. 70 Resolution der Vollversammlung der Arbeiterschaft der Firma Julius Meinl A.G., 07. 1. 1921. VGA, PAv1934, M. 26, U. 6. 71 Vgl. Bauer, Österreichische Revolution, 161–182. 72 So z. B. die Mitverhandlung von Kollektivverträgen, Akkordlöhnen, Überwachung des Arbeitsschutzes, Miteinbezug bei Fragen von Kündigungen, Kündigungsschutz von BetriebsrätInnen und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten etc. Wichtig ist allerdings, dass die Betriebsräte als eigenständige Organe vom Gesetz definiert wurden und nicht als gewerkschaftliche Teilorgane, wenn auch Gewerkschaften als zentrale Organisationen nicht angetastet wurden. Vgl. Hans Floretta, Die Rätebewegung und die österreichische Betriebsverfassung, in: Oswin Martinek/Gustav Wachter (Hg.), Arbeitsleben und Rechtsordnung. Festschrift für Gerhard Schnorr zum 65. Geburtstag, Wien 1988, 97–116, 108–115. 73 Emmy Freundlich, Wege zur Gemeinwirtschaft, Jena 1928, 3. 74 Vgl. Maren Seliger, Zur sozialdemokratischen Gemeindepolitik in Wien in der Zwischenkriegszeit, Dissertation Univ. Wien 1979, 133–140. 75 Floretta, Rätebewegung, 99.

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sich ArbeiterInnen, Angestellte und BeamtInnen in Bereiche der öffentlichen Verwaltung hinein. Diese hatten oftmals mit Lebensmittel- oder Wohnungsverteilungsfragen zu tun – mit Fragen also, die ganz nah am eigenen (Über-) Leben waren, deren zufriedenstellende Lösung der Staat im Krieg allerdings nur unzulänglich bewerkstelligen konnte. Marianne Pollak formulierte dies 1919 so: „Der große Gedanke der Räteordnung ist die Intensivierung des Vertretungswesens. Sie besteht darin, daß das Volk in ungleich lebendigerer Weise seine Angelegenheiten selbst verwaltet, entscheidet, überwacht.“76 Im Jahr 1919 versuchten SozialdemokratInnen mit dieser Organisationsform umzugehen, die offenbar potentiell breite Bevölkerungsschichten ansprechen konnte: „Das Rätesystem aber“, schrieb Therese Schlesinger, „ist dazu berufen, dieses stürmisch anwachsende sozialistische Wollen wirksam zum Ausdruck zu bringen und dadurch die Nationalversammlung unwiderstehlich vorwärts zu treiben.“77 Gerade im Licht der außenpolitischen Entwicklungen – der Blick war vor allem auf Budapest und München gerichtet – müsste und sollte der bürgerliche Parlamentarismus mit der Rätebewegung verbunden werden.78 Die Versorgungskrise hielt 1918 und in den ersten Nachkriegsjahren an und beeinflusste das Verhältnis der BürgerInnen zum Staat.79 Es nimmt nicht wunder, dass für einige – vor allem ArbeiterInnen und andere sozial „Deklassierte“ – Selbsthilfe und -organisation eine große Rolle spielten.

5.1

Wohnen als Betätigungsfeld

Eine der auch symbolisch wichtigen Fragen betraf den Umgang mit den Repräsentationsbauten aus der Habsburgermonarchie – hier hatten sich die R die neuen Machtverhältnisse zu zeigen, wie die Vollversammlung des Bezirksarbeiterrates Hietzing im Juli 1919 forderte: „Schloss Schönbrunn ist den Kindern des

76 Marianne Pollak, Die Bedeutung der Elternräte, in: Der Kampf 12, Nr. 19 (9. 8. 1919) 526f., 526. 77 Therese Schlesinger, Das Rätesystem in Deutschösterreich, in: Der Kampf 12, Nr. 4 (April 1919) 177–182, 181. 78 Vgl. Schlesinger, Rätesystem. Auch andere sozialdemokratische DenkerInnen gingen in dieselbe Richtung wie etwa Emmy Freundlich [VGA, PAv1934, M. 28 A Arbeiterräte Österreich 1919/1921. Nachträglich Gefundenes, Material zum Einordnen 1919/21. Schreiben von Emmy Freundlich am 7. März 1919, mit einem Entwurf „Die Arbeiterräte und die Nationalversammlungen“] oder Max Adler [Ders., Demokratie und Rätesystem, (Sozialistische Bücherei 8) Wien 1919], um nur zwei Beispiele herauszugreifen. 79 Vgl. dazu die Überlegungen in: Veronika Helfert, Verzweiflung, Empörung und Wut. Intersektionale Perspektiven auf Geschlecht, Politik und Gewalt in und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Maria Mesner/Sushila Mesquita (Hg.), Eine emotionale Geschichte. Geschlecht im Zentrum der Politik der Affekte, Wien 2018, 48–81.

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Proletariats zu sichern“80. Im August wurden im Schloss Schönbrunn unter Befürwortung eben jenes Bezirksarbeiterrates von der sozialdemokratischen Organisation Kinderfreunde ein Kinderheim und eine Schule eingerichtet, an der reformpädagogische Ansätze gelehrt wurden;81 auch das Schloss Neulengbach wurde zu einem Erholungsheim umgewidmet.82 Aber abgesehen von der symbolhaften Bedeutung dieser Neubesetzung monarchischer Orte, war Wohnen ein dem eigenen Lebensbereich nahestehender Bedarf und ein Gut, das sich viele in der Rätebewegung Aktive aneignen wollten: Es wurden Ausschüsse von Orts- und Bezirksarbeiterräten gebildet, Resolutionen sowie Forderungen verabschiedet. Einige Arbeiterräte griffen sogar bei Delogierungen und vergleichbaren Maßnahmen ein.83 Dabei stießen Arbeiterräte auf Revolutionsängste von anderen Teilen der Bevölkerung. Ein Fall, der vom Polizeikommissariat Hietzing aufgenommen wurde, macht dies deutlich: Am 10. September 1919 suchte ein Volkswehrsoldat – angeblich mit „aufgepflanztem Bajonett“ – Franziska Baweletz auf und forderte sie auf, mit ihm zu einem Haus in der Hütteldorferstraße im 13. Bezirk zu gehen, welches sie gemeinsam mit ihrem Bruder besaß. Der Bruder hatte zuvor einem Mieter gekündigt. Vor dem Haus in der Hütteldorferstraße traf sie auf fünf weitere Soldaten und drei Arbeiterräte, die sie dazu zwangen, die Möbel wieder in die Wohnung des delogierten Mieters Fiedler zu bringen, und sie davor warnten, die Delogierung noch einmal durchzuführen. Als offizielles Schreiben übergaben die Arbeiterräte einen namentlich unterschriebenen Beschluss der Aussetzung der

80 VGA, PAv1934, M. 21 A, U. 3. Beschluss, einstimmig gefasst am 14.VII.1919 von der Vollversammlung des Bezirksarbeiterrates Wien XIII. 81 Vgl. Heinz Weiss, Das rote Schönbrunn. Der Schönbrunner Kreis und die Reformpädagogik der Schönbrunner Schule, Wien 2008, bes. 8–44. 82 Vgl. 40. „Umgestaltung des Schlosses Neulengbach“, Bericht des GR Speiser (Zahl 8075, Post 42). Gemeinderat. Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung am 4. Juni 1919, in: Amtsblatt der Stadt Wien 28, Nr. 48 (14. 6. 1919) 1395. 83 Praxen, die auch bei der Lebensmittelversorgung, ergriffen wurden. Arbeiterräte in Wien, Nieder- oder Oberösterreich spielten eine wichtige Rolle bei der Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung: Sie gingen gegen Schleichhandel und Schwarzmarkt vor und führten Requirierungen durch. Das ist etwa für Oberösterreich von Anton Staudinger dargestellt worden: Ders., Rätebewegung und Approvisierungswesen in Oberösterreich. Zur Einbindung der oberösterreichischen Arbeiter- und Soldatenräte in den behördlichen Ernährungsdienst in der Anfangsphase der österreichischen Republik, in: Isabella Ackerl/Walter Hummelbeger/Hans Mommsen (Hg.), Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag, Bd. 2, Wien 1981, 66–82. Arbeiterräte nahmen sich auch als Interessensvertretung für ArbeiterInnen und als Anlaufstelle bei Beschwerden über reale oder wahrgenommene Misshandlungen und Übergriffe von Seiten der Polizei und staatlichen Autoritäten wahr, wie etwa im Archivmaterial gesehen werden kann, das im VGA aufbewahrt wurde. Siehe dazu auch: Helfert, Frauen wacht auf!, 273–281.

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Delogierung durch den Bezirksarbeiterrat. Die Arbeiterräte wurden in Folge angezeigt.84 Daneben mischten sich unterschiedliche Arbeiterräte mittels Policy-Papieren und Einsätzen vor Ort konkret in die Frage „Wohnungsvermittlung“ ein – auch wenn diese eigentlich Sache der Gemeinde war. Der Bezirksarbeiterrat des 9. Bezirks in Wien, Alsergrund, schlug etwa vor, dass Arbeitslose [Männer] je nach Familienstand in der Wohnraumfrage behandelt werden sollten: „Verheirateten, mittellosen Familienerhaltern ist der Mitzins [sic!] ganz oder teilweise“ zu erlassen, während jenen ohne Familie kostenlose Unterkünfte in Form von „Kasernen-Stundenhotels“85 zur Verfügung gestellt werden sollten. Die Delegierten des Alsergrunder Bezirksarbeiterrates überlegten Gemeindestellen unter die eigene Aufsicht zu stellen. Das mag überraschen, war aber durchaus in der Logik der Zeit: Schon in der Lebensmittelversorgung konnten Arbeiterräte mit Legitimationsausweisen ausgestattet öffentliche Dienste versehen. Auch in der Wohnungsfrage wurden sie unmittelbar in die Verwaltung miteinbezogen. Und dies war mitnichten ein kleines Feld: Die Versorgung mit dringend benötigtem Wohnraum war eines der wichtigsten Betätigungsfelder der sozialdemokratischen Wiener Kommunalpolitik der 1920er Jahre.86 Dies blieb nicht ohne Konflikte, insbesondere zwischen der seit Mai 1919 regierenden Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der nun abgewählten Christlichsozialen Partei, die seit Karl Lueger die Geschicke der Stadt Wien bestimmt hatte. Im Herbst 1919 brach zwischen den beiden Parteien geradezu ein Kleinkrieg in der Stadtverwaltung aus: Arbeiterräte wurden in der Wohnungsaufnahmekommission der Gemeinde Wien zugezogen, die evaluierte, welche Wohnungen konfisziert werden sollten. Der Klub der christlichsozialen Gemeinderäte befand, „daß die Beiziehung der Arbeiterräte ein schwerer und höchst bedenklicher Eingriff in die Selbstverwaltung der Gemeinde“87 sei. Die SozialdemokratInnen wurden sogar als „Sklaven des Arbeiterrates“ bezeichnet.88 In Folge boykottierten sie Gemeinderats- und Stadtratssitzungen bis sie mit ihrer Taktik Erfolg hatten und ihnen zugesagt wurde, dass sie bei zukünftigen Ent84 Vgl. VGA, PAv1934, M. 26, U. 1 1919/1920 Diverse Beschwerden gegen „Unzukömmlichkeiten“ der Organe der Arbeiterräte. Abschrift „Arbeiterräte: Wedam Peter, Wanek Johann, Prokopp Karl, Erpressung“. Bericht des Bezirkspolizeikommissariats Hietzing, Z. 19931, Wien, 14. 9. 1919. 85 VGA, PAv1934, M. 21 A, U. 3. Antrag des Bezirksarbeiterrats IX an den Kreisarbeiterrat, o.D. 86 Vgl. Seliger, Gemeindepolitik, 165–171. 87 Karl von Vogelsang Institut (KVVI), Christlichsoziale Partei-Wien, K. 37, M. BürgerklubProtokolle 1919, Verhandlungsschrift über die Sitzung des Klubs der christlichsozialen Wiener Gemeinderäte vom 17. Oktober 1919, 2. 88 KVVI, Christlichsoziale Partei-Wien, K. 37, M. Bürgerklub-Protokolle 1919, Verhandlungsschrift über die Sitzung des Klubs der christlichsozialen Wiener Gemeinderäte vom 13. November 1919.

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scheidungen, „außeramtliche Organe“ beizuzuziehen, konsultiert werden würden.89 FunktionärInnen der SDAP standen also – vor allem auf der lokalen Ebene – immer wieder zwischen Anliegen von Arbeiterräten und der anderer Parteien und mussten so Ansprüche unterschiedlicherer demokratischer Verständnisse ausverhandelt werden.

5.2

„Eine neue, demokratischere Form“? Organisation und Arbeitskampf

Ein anderer Aspekt wird nun im letzten Fall deutlich: In der unmittelbaren Nachkriegszeit bot sich die Räteidee an, um ArbeiterInnen bzw. Angehörige unterschiedlicher Berufsgruppen und Arbeitslose zu organisieren. Im Juli 1919 veröffentlichte das kleine Zeitschriftenprojekt von Otto Kaus, „Sowjet. Kommunistische Monatsschrift“,90 den Bericht eines Arbeiterrates zum Lohnkampf von Beschäftigten im Gastgewerbe. Darin schilderte ein Wilhelm Bass die Lohnkämpfe im Frühjahr 1919 und, allgemeiner, die Schwierigkeiten, sich gerade in diesem Berufsfeld zu organisieren. Im März fanden Betriebsversammlungen statt, am 31. März und 1. April eine Konferenz der Zentralorganisation der Hotel-, Gast- und Kaffeehausangestellten im Arbeiterheim Favoriten, der offenbar 960 Delegierte beiwohnten. Die Forderungen waren die Festsetzung eines fixen Lohnes bei Abschaffung von Trinkgeld und der Achtstundentag.91 In einem Bericht zwei Tage nach der Deklarierung der Ungarischen Räterepublik wurden die Forderungen der Wiener GastgewerblerInnen auf einen Erfolg der Budapester KollegInnen in ähnlichen Fragen zurückgeführt.92 Offenbar wurde in 89 KVVI, Christlichsoziale Partei-Wien, K. 37, M. Bürgerklub-Protokolle 1919, Verhandlungsschrift über die Sitzung des Klubs der christlichsozialen Wiener Gemeinderäte vom 21. November 1919, 1–4. Siehe dazu auch: Therese Garstenauer/Veronika Helfert, From Imperial City to Red Vienna. The Transformations of the Municipal Administration in Vienna, 1918– 1920, in: Peter Becker et al. (Hg.), Hofratsdämmerung? Transformation, Demokratisierung und Nationalisierung der Verwaltung und ihres Personals in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie 1918 bis 1920 (=Veröffentlichung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 75), Wien 2020, 93–111. 90 Zur Gründungsgeschichte dieser Monatsschrift siehe Andreas Knoll/Eva Schörkhuber, Schreiben für die Revolution, in: Leder/Memoli/Pavlic (Hg.), Rätebewegung, 184–206, 189f. Otto Kaus, der vielen eher als Ehemann der Schriftstellerin Gina Kaus bekannt sein dürfte, nahm 1920 diese Zeitschrift quasi mit nach Berlin, wo er sie gemeinsam mit Paul Levi weiter herausgab. Ab Juli 1920 wurde sie in einem neuen Verlag unter dem Namen „Unser Weg“ weitergeführt. 91 Vgl. Wilhelm Bass, Die Lohnbewegung der gastgewerblichen Arbeiter, in: Sowjet. Kommunistische Monatsschrift, Nr. 2 (Juli 1919) 27–34. Siehe auch die Berichterstattung in anderen Zeitungen wie der Arbeiter-Zeitung. Lohnbewegung unter der gastgewerblichen Arbeiterschaft, in: Arbeiter-Zeitung 31. Jg., Nr. 88 (30. 3. 1919) 6. 92 Vgl. Die Forderungen der Gast-, Hotel- und Kaffeehausangestellten, in: Der neue Tag 1. Jg., Nr. 1 (23. 3. 1919 Morgenausgabe) 6.

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Folgeversammlungen sogar beschlossen, dass etliche private und städtische Gastbetriebe sozialisiert werden sollten.93 Der – einseitigen – Schilderung Bass’ zufolge wären die breit geteilten Forderungen von der gewerkschaftlichen Organisation unterstützt worden, wurden dann aber von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei unterlaufen. Der ausgehandelte Kollektivvertrag sah dennoch weiterhin Trinkgeld vor, das „die Ehre der gesamten Kellnerschaft korrumpierte und ihnen den Charakter der niedrigsten Sklaven der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung aufdrückte“94. In der Folge streikten ab dem 22. Mai einige der Gastgewerbeangestellten (zum Beispiel in den Kaffeehäusern Zentral und Herrenhof in der Wiener Inneren Stadt).95 In der Arbeiterzeitung wurden Bass zufolge sogar deren Namen abgedruckt.96 Mit Befriedigung weist der Autor am Ende darauf hin, dass die Sozialdemokratie nach den blutigen Juliereignissen 1927 von ihren eigenen ehemaligen Delegierten im Wiener Kreisarbeiterrat gerichtet worden sei, wie etwa durch Käthe Leichter, geb. Pick, oder Rudolf Goldscheid.97 Für eine Betrachtung der Konfliktlinien zwischen etablierten Gewerkschaftsfunktionären und neu politisierten AkteurInnen ist diese Episode von besonderem Interesse: Eine Berufsgruppe, die nicht nur prekarisiert, sondern auch schwer zu organisieren war, begann im Frühjahr 1919 eine Lohnbewegung – wie viele andere auch.98 Als bemerkenswert wurde in den Zeitungsartikeln der sprunghafte Anstieg der Mitglieder im Zentralverband der Hotel-, Gast- und Kaffeehausangestellten beschrieben, die Forderungen waren radikal, wurden aber im neuen Kollektivvertrag nur unzureichend erfüllt. Dennoch stimmten die Delegierten und die Generalversammlung des Zentralverbandes schließlich gegen einen Streik, wogegen sich eine nicht ganz kleine Minderheit auflehnte. Es ist eine Episode, wie sie auch in andere Quellen der Zeit zutage tritt: Die sozialdemokratische Mehrheit in den Gewerkschaften agierte kompromissbereiter als es einige ArbeiterInnen sich wünschten und warf allen anderen im Gegenzug vor, sich nicht an die gemeinsamen Beschlüsse zu halten. Das zielte unter an93 Vgl. Die Lohnbewegung im Schankgewerbe, in: Arbeiter-Zeitung 31. Jg., Nr. 100 (11. 4. 1919) 6f. 94 Bass, Die Lohnbewegung der gastgewerblichen Arbeiter, 31. 95 Siehe dazu auch (Abstimmung der arbeitenden Kaffeehausangestellten über den Streik.), Neues Wiener Journal. Unparteiisches Tagblatt, 11. 5. 1919, 12; sowie (Kein Streik der Kaffeehausgehilfen.), Neues Wiener Journal, 15. 5. 1919, 8; Streik von Kaffeehausangestellten, Arbeiter-Zeitung, 23. 5. 1919, 6. 96 Dieser Vorwurf des Autors ist nicht aus der Luft gegriffen, wie entsprechende Artikel in der Arbeiter-Zeitung nahelegen: Die Quertreibereien unter den Kaffeehausangestellten, ArbeiterZeitung, 24. 5. 1919, 6. 97 Vgl. Bass, Die Lohnbewegung der gastgewerblichen Arbeiter. 98 Christian Koller, Streikkultur. Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950) (Österreichische Kulturforschung 9), Wien/ Berlin 2009, 381–385.

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derem auf jene Streikende an, die sich nicht mit dem Mehrheitsbeschluss des gewerkschaftlichen Zentralverbandes einverstanden erklärten. Dieses als in einem Zeitungsbericht bezeichnete „Comité“99 hatte sich offenbar arbeiterratsförmig organisiert. In welcher Form es Tätigkeiten entwickeln konnte, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Sichtbar wird nur mehr, dass sich die Opposition zur gewerkschaftlichen Führung selber als Arbeiterrat bezeichnete und in der Monatsschrift „Sowjet“ die Öffentlichkeit suchte – in einer Zeitung, die selber vielfältigen unterschiedlichen linken AkteurInnen eine Stimme gab.

6.

Zusammenfassung

2018/2019 rückte die Gründung der Republik in den Fokus der Geschichtsforschung und während etwa die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu Recht als ein wichtiger Moment der Demokratisierung beforscht wurde, blieb die Frage der politischen Partizipation abseits der parlamentarischen Demokratie im Hintergrund. Dabei war einerseits der Moment der Republiksproklamation für viele ZeitgenossInnen ein Anlass sich – erstmals – politisch zu engagieren, zum anderen hatten sich ArbeiterInnen unter der Sogwirkung der Russischen Revolutionen seit der Schlussphase des Weltkrieges in Ausschüssen und Arbeiterräten organisiert. Auch wenn die Bedeutung der Arbeiterräte nach dem Sommer 1919 sukzessive abnahm und sich auf Wien und Industrie-Zentren konzentrierte, so stellten sie doch bedeutende Versuche der Selbstorganisation und -verwaltung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen dar, die vorher nur unzureichend partizipieren konnten.

99 Streik von Kaffeehausangestellten, Arbeiter-Zeitung, 23. 5. 1919, 6.

Li Gerhalter / Ina Markova

Geschlechterspezifische Un_Ordnungen in Österreich 1914– 1920. Die „Österreichische Revolution“ in Tagebüchern und Briefen

Einleitung: 1918/19: Eine Revolution?! Und wenn ja, wessen Partizipation? „Frauen und Mädchen des Proletariats! In ernster Stunde sprechen wir zu euch, um euch aufzufordern, die Notwendigkeit der Zeit zu erkennen. Alles Alte wankt und stürzt, Einrichtungen, die im Sinne des Volkes als ewig feststehend, als unabänderlich galten, versinken, Neues entsteht und wächst heran.“1

Dieser Aufruf des sozialdemokratischen Frauenkomitees vom 22. Oktober 1918 fasste die Erwartungslage vieler ÖsterreicherInnen rund um das Ende des Ersten Weltkriegs gut zusammen. Der abrupte Zerfall der seit Jahrhunderten bestehenden Monarchie, der turbulente Übergang zu einer neuen politischen Ordnung und die Bewegungen, die diese Transformationsphase begleiteten, wurden von ZeitgenossInnen wie dem austromarxistischen Theoretiker Otto Bauer mit dem – positiv verstandenen – Etikett „Österreichische Revolution“ versehen.2 Für die Sozialdemokratin Therese Schlesinger oder die Kommunistin Elfriede EislerFriedländer war damit gerade auch eine soziale Revolution gemeint, worauf Veronika Helfert hingewiesen hat.3 Für andere markierte der Begriff „Revolution“ etwas Bedrohliches: So notierte Marianne Hainisch, eine der bekanntesten Aktivistinnen der Ersten Bürgerlichen Frauenbewegung, am 4. November 1918 in 1 Arbeiterinnen-Zeitung, 22. Oktober 1918, 1, zit. nach: Gernot Trausmuth, „Ich fürchte niemanden“. Adelheid Popp und der Kampf für das Frauenwahlrecht, Wien/Berlin 2019, 272. 2 Vgl. Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Wien 1923; dazu u. a. Helmut Konrad, Das Rote Wien. Ein Konzept für eine moderne Großstadt?, in: ders./Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik. … der Rest ist Österreich, Bd. 1, Wien 2008, 223–240, hier 228. 3 Veronika Helfert, Auf dem Boden des Klassenkampfes! Revolutionäre Bewegungen in Österreich 1918/19, in: Robert Kriechbaumer et al. (Hg.), Die junge Republik. Österreich 1918/19, Wien/Köln/Weimar 2018, 47–56, hier 49. Siehe dazu weiterführend: Veronika Helfert, Frauen, wacht auf! Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924 (L’Homme Schriften, Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft 28), Göttingen 2021.

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ihrem Tagebuch: „Friedensverhandlungen mit dem Feind und gleichzeitig im Inneren Revolution. Ob der Nationalrat die Situation wird beherrschen können? Oder der Pöbel die Oberhand gewinnen?“4 Insgesamt scheint der Begriff „Revolution“ spätestens seit Frühling 1917 selbst Kindern geläufig gewesen zu sein. So hielt die 12-jährige Schülerin Ella Reichel aus der niederösterreichischen Kleinstadt Neulengbach in ihrem Tagebuch fest: „In Rußland (Petersburg) ist Revolution ausgebrochen. Zar Nikolaus hat abgedankt. […] Die Revolution ist für den Frieden, da in Rußland Hungersnot herrscht.“5 Im Folgenden wird es vor allem um geschlechter-, aber auch um alters- und klassenspezifische Aspekte dieser als revolutionär wahrgenommenen Veränderungen gehen.6 Am Beispiel der Themenfelder Versorgung, Protestbewegungen, Wahlrecht und (Erwerbs-)Arbeit werden Formen der Partizipation, insbesondere von Frauen, untersucht. Wir folgen damit Matthew Stibbe, Olga Shnyrova und Veronika Helfert, die sich kritisch mit der von Benjamin Ziemann 2010 publizierten These auseinandergesetzt haben, die Revolution von 1918 wäre eine „männliche“ gewesen [„its gender was male“].7 Auf Grundlage von Briefen und Tagebüchern wird exemplarisch dargestellt, wie Frauen, aber auch Männer und Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Überzeugung, diese Themen zeitgenössisch dargestellt haben.8 An verschiedenen Stellen werden zudem Aussagen aus Zeitungsartikeln, Polizeiberichten oder retrospektiv verfassten Erinnerungen, die in politischen Publikationsorganen veröffentlicht wurden, zitiert. Mit dieser vielfältigen Quellenbasis wird ein möglichst breites Meinungsspektrum wiedergegeben. Die in diesem Artikel in den Vordergrund gestellte individuelle Ebene ist klarerweise in einem untrennbaren Wechselverhältnis mit den politischen, so4 Marianne Hainisch (geb. 1839), Tagebuch, 4. November 1918, Originale in Privatbesitz. Digitalisate sind in der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien (SFN) vorhanden (SFN NL 280). Die Digitalisate wurden angefertigt vom Dr. Karl Renner-Museum für Zeitgeschichte Gloggnitz. Alle Quellenzitate werden in diesem Beitrag entsprechend der Orthografie in den originalen Handschriften wiedergegeben. 5 Ella Reichel (geb. 1905), Tagebuch, 26. März 1917, SFN NL 38 V. 6 Dazu als Überblick: Christa Hämmerle, Der Erste Weltkrieg aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Forschungsthemen und -desiderate in Österreich, in: Österreich in Geschichte und Literatur (ÖGL) 56 (2012) 3, 218–230; dies., Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn. Eine Einführung, in: dies., Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, Wien/Köln/Weimar 2014, 9–25. 7 Matthew Stibbe/Olga Shnyrova/Veronika Helfert, Women and Socialist Revolution, 1917–23, in: Ingrid Sharp/Matthew Stibbe (Hg.), Women Activists between War and Peace, London et al. 2017, 123–172, hier 125f. 8 Der Großteil der Archivquellen kommt aus dem Bestand der Sammlung Frauennachlässe. Mehrere davon wurden zwischen 2014 und 2019 im Weblog „Der Erste Weltkrieg in Nachlässen von Frauen“ veröffentlicht: https://www.univie.ac.at/Geschichte/salon21/?p=17464 [Letzter Zugriff: 12. Juni 2021].

Li Gerhalter / Ina Markova, Geschlechterspezifische Un_Ordnungen in Österreich

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zialen, wirtschaftlichen, juristischen und territorialen Rahmenbedingungen zu sehen. Die Denkweisen der zitierten historischen AkteurInnen waren selbstverständlich von ihren ideologischen Grundhaltungen bestimmt. Die Jahre von 1914 bis 1920 erscheinen als eine Zeit, die als Periode der Un_Ordnungen wahrgenommen wurde, die bisher ungeahnte Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten mit sich brachten. Auf den teilweise fluiden, nicht immer greifbaren Charakter dieser Veränderungen weist die Schreibweise „Un_Ordnung“ hin. Wir wollen damit ein breites und auch widersprüchliches Feld sprachlich markieren, das auf Handlungsspielräume, Ausverhandlungsprozesse und Unerwartetes einerseits, geschlechter-, alters- und klassenspezifische Rollenkonventionen andererseits, also auf Mögliches und Unmögliches gleichermaßen hinweist.

1.)

Un_Ordnungen: Versorgung

Die Österreichische wäre wie die Russische Revolution ohne den Ersten Weltkrieg nicht denkbar gewesen. Der Euphorie weiter Teile der Bevölkerung 1914 folgte rasch die Ernüchterung, die mit zunehmender Dauer des Kriegs alle zivilen Lebensbereiche erfasste. Die Einberufung der Männer hatte Folgen für die gesamte Gesellschaft. Es fehlten Arbeitskräfte in den Familienbetrieben, die bisherigen Lebensgewohnheiten wurden durch die ausbleibenden Einkommen eingeschränkt – vor allem herrschte eine ständige Sorge um die Eingerückten, Todesfälle und Invalidität hatten persönliche Katastrophen zur Folge.9 Die Trennung von nahestehenden Personen ist entsprechend eines der bestimmenden Themen in zeitgenössischen Selbstzeugnissen. Gleichzeitig wurde in allen kriegstreibenden sowie den besetzten Staaten die Versorgung der Zivilbevölkerung zum Problem.10 In Österreich-Ungarn führten Mehraufwendungen für die Armee bei gleichzeitig eingeschränkten Importen durch Seeblockaden bereits im ersten Kriegswinter zu Engpässen. Um die Verfügbarkeit von Lebensmitteln zu steuern, wurden daraufhin im Frühling 1915 die „Kriegsgetreideverkehrsanstalt“ eingerichtet, Ende 1916 das „k. u. k. Amt für Volksernährung“. Die konkreten Maßnahmen bedeuteten zum einen die zwangs9 Für den Ersten Weltkrieg wird insgesamt von mehr als neun Millionen getöteten Soldaten ausgegangen, davon 1,2–1,46 aus der k. u. k. Armee, sowie von mehr als sieben Millionen zivilen Toten, davon 400.000 in Österreich-Ungarn. Hämmerle, Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, 11–12. 10 Dazu u. a. Ernst Langthaler, Vom transnationalen zum regionalen Hinterland – und retour. Wiens Nahrungsmittelversorgung, vor, in und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Stefan Karner/ Philipp Lesiak (Hg.), Erster Weltkrieg. Globaler Konflikt – lokale Folgen, Neue Perspektiven, Innsbruck/Wien/Bozen 2014, 307–318; Matthias König, Ernährungslage und Hunger, in: Hermann J. W. Kuprian/Oswald Überegger (Hg.), Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol, Innsbruck 2014, 135–151.

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weise Requirierung von Getreide auf den Bauernhöfen durch „Lebensmittelkommissionen“, auf der Seite der KonsumentInnen zum anderen eine Rationierung der Nahrung. Die Einteilung unterschied die Bezugsberechtigten in „Schwerarbeiter“, „Selbstversorger“ oder „Nichtselbstversorger“ – und war zudem noch nach Alter und Geschlecht gestaffelt. Die 13-jährige Grazer Gastwirtstochter Anna Hörmann hat diese Rationierungsbestimmungen in ihrem Tagebuch detailliert festgehalten: „Wir haben jetzt Brot-, Zucker-, Kaffee- und Fettkarten. Brot muß jede Partei selbst holen, und zw. bei einem bestimmten Bäcker. Für eine Person kommt im Tage nur um 10 h Brot (225 g). Für eine Person kommt im Monat 1 1/4 kg Zucker, 3/16 kg Kaffee und 12 dag Fett.“11 Auch Gebrauchsgüter wie Seife, Stoffe, Kleider oder Schuhe wurden auf Ration ausgegeben. Wer Produkte zurückhielt oder wer Lebensmittel in anderen als den vorgesehenen Mengen bzw. an nicht dafür zugeteilten Stellen kaufte, machte sich strafbar. Problematisch war insbesondere die nicht gesicherte Verfügbarkeit der Nahrung: „Man muß stundenlang stehen und warten und bekommt zum Schluße garnichts.“12 Dazu kamen noch Missernten. Nachdem der Ertrag an Kartoffeln 1916 miserabel ausgefallen war, wurde auf die bis dahin vornehmlich als Viehfutter verwendete Steckrübe zurückgegriffen, für Brot wurde auch Mehl aus Kukuruz (Mais) oder Hafer verwendet.13 Diese bisher ungewohnten Nahrungsmittel konnten zu Unverträglichkeiten oder Krankheiten führen, wie es die Lehrerin und Frauenrechtsaktivistin Mathilde Hanzel-Hübner aus Wien in einem Brief an ihren eingerückten Ehemann schilderte: „Nachts hatte Dietl [ihre knapp 4-jährige Tochter] infolge einer Verdauungsstörung (Maisbrot) stark gefiebert. Jetzt ist alles wieder gut. Wir müssen für einige Tage Hausbrot backen, damit der arme kleine Magen sich an den Mais langsam gewöhnen kann.“14 Das Thema Hunger ist eine der Leitlinien in Briefen und Tagebüchern wie auch in retrospektiven Erinnerungen an diese Jahre.15 Dabei ist festzustellen, dass in zeitgenössischen Selbstzeugnissen der Begriff „Hunger“ kaum direkt verwendet wurde. Stattdessen wurden mitunter minutiös die Mengen der ausgegebenen Rationen verzeichnet oder die verwendeten Ersatzprodukte wie die Steckrübe genannt. Ein weiterer Topos ist das bereits erwähnte lange und oft 11 Anna Hörmann (geb. 1903), Tagebuch, 7. Oktober 1916, SFN NL 53. 12 Ebd. 13 Andrea Brenner, Das Maisgespenst im Stacheldraht. Improvisation und Ersatz in der Wiener Lebensmittelversorgung des Ersten Weltkriegs, in: Alfred Pfoser/Andreas Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, 140–149, hier 143. 14 Mathilde Hanzel-Hübner (geb. 1884), Brief an Ottokar Hanzel (geb. 1879), 19. Februar 1918, SFN NL 1. 15 Dazu zuletzt u. a. Peter Eigner, Zwischen Umbruch und Aufbruch. Die Jahre 1918 bis 1921 in Selbstzeugnissen, in: ders./Günter Müller (Hg.), Hungern – Hamstern – Heimkehren. Erinnerungen an die Jahre 1918 bis 1921 (Damit es nicht verloren geht 69), Wien/Köln/Weimar 2017, 271–312.

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vergebliche Anstellen um Nahrung und Heizmaterial, wie die 20-jährige Wienerin Bernhardine Alma im Mai 1915 berichtete: „Morgen muß ich um Kohle gehen, was öd ist.“16 Alma wohnte mit ihren Eltern, drei Geschwistern und einem Dienstmädchen an der zeitgenössisch noblen Adresse Wiener Lände. Sie war nicht erwerbstätig, sondern in die Organisation des Familienhaushalts eingebunden. Ihr Vater war höherer Angestellter, Geld wäre also nicht das Problem gewesen. Anstellen musste sie sich trotzdem. In den folgenden Jahren führten die Besorgungstouren Bernhardine Alma durch die ganze Stadt: „Sonntag mit Erfolg Kohlenostbahnhof.“ – „Nachmittag war ich am Nordbahnhof wegen Kohlen erfolglos. Mir ist die Kohlenwirtschaft so eklig. Am Nordbahnhof sind eine Menge Soldaten, auch viele Russen.“17 Durch die Versorgungslage hatte sich der Bewegungsradius junger bürgerlicher Frauen geändert, sie kamen an Orte, die sie sonst (alleine) womöglich nicht betreten hätten. Insbesondere das „Hamstern“ im Umland der Städte setzte neue Flexibilitäten voraus. So berichtete Mathilde Hanzel-Hübner vom unbestimmten Aufenthalt ihres Dienstmädchens: „Tini hätte heute{gestern} früh kommen sollen. – Da sie bisher nicht eingetroffen ist, meine ich, daß sie noch Zeit brauchte, mehr zu hamstern.“18 Ein Netzwerk von Bekannten und Verwandten war für den Tauschbzw. Schleichhandel von Vorteil, dafür notwendig waren jedenfalls Kontakte sowie Organisationsvermögen und Mut. Mit den Rationierungsbestimmungen war das „Hamstern“ illegalisiert worden, entsprechend wurde es auch in den Selbstzeugnissen diskutiert. Dabei wurde versucht, das eigene Tun zu legitimieren: „[D]as Wort [Hamstern] ist hier nicht angebracht, denn wir häufen nicht an, wir verschaffen uns bloß das Allernötigste“.19 Gleichzeitig wurden die LandwirtInnen bezichtigt, abgabepflichtige Lebensmittel zurückzuhalten – oder unter der Hand zu Wucherpreisen zu verkaufen: „Mir wurde erzählt, dass die Bauern [im Marchfeld] nur mehr Gold und Brillanten zum Tausch annehmen, weil die Wiener immer einer den anderen überbieten, damit sie nur ja etwas bekommen.“20 Die Seite der VerkäuferInnen ist wenig belegt. Tagebucheinträge der 12-jährigen Niederösterreicherin Ella Reichel dokumentieren aber, dass selbst Kinder über die Schwarzmarktgeschäfte ihrer Eltern informiert gewesen sind: „Nachmittag kam die Getreidekommission. Wir hatten große Angst daß wir verraten wurden, den nächsten Tag wurde ich krank.“ – „Vorgestern hat Mutter mit Marie [dem 16 Bernhardine Alma (geb. 1895), Tagebuch, 20. Mai 1915, SFN NL 9 I. 17 Ebd., 11. und 21. November 1916, SFN NL 9 I. 18 Mathilde Hanzel-Hübner (geb. 1884), Brief an Ottokar Hanzel (geb. 1879), 31. März 1918, SFN NL 1. Die geschwungenen Klammern {} im Zitat kennzeichnen Einfügungen. 19 Ebd. 20 Albert Lang (geb. 1892), Tagebuch, 15. September 1918, zit. nach: Eigner/Müller (Hg.), Hungern – Hamstern – Heimkehren, 143–144.

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Dienstmädchen] einen furchtbaren Streit gehabt, Marie hat gesagt, sie wird die ganze Familie anzeigen, wegen Preistreiberei sind wir so schon angezeigt, wir sollten das Holz zu teuer […] verkauft haben, wir müssen 2000 Kr. Strafe zahlen.“ – „Am 15. Jänner kam die freudige Botschaft, daß unsere Straffe auf 300K herabgegangen sei.“21

Diese Schilderungen geben die angespannte Stimmung in der Bevölkerung wieder, die sich gegenseitig übervorteilte, kontrollierte und denunzierte. Sie machen zudem sichtbar, dass sich im Zuge dessen gegebenenfalls auch Machtverhältnisse innerhalb von hierarchischen Beziehungen wie jenen von DiensgeberInnen und Hausangestellten verschieben konnten. Zumindest wurde „geredet“ – und alles konnte verdächtig erscheinen, selbst das Herstellen von Himbeermarmelade, wie Pia Seidensacher aus Pola/Pula in Istrien an ihre drei jungen Töchter in der Steiermark schrieb: „Mit dem Einkochen des Zuckers bin ich ganz einverstanden, aber wird die alte Hexe [die Vermieterin] nicht vielleicht auch das wieder erzählen, dass wir Zucker hatten und ihn verbrauchten?“22 Ein wichtiger Beitrag in der Versorgung war der Austausch von Nahrung zwischen „Heimatfront“ und Front, wobei die Militärangehörigen der höheren Ränge auch Lebensmittel aus den besetzten Gebieten nach Hause schickten.23 Der in der Verwaltung in Galizien eingesetzte Wiener Adolf Müller spannte dazu auch andere, ihm möglicherweise unterstellte Soldaten ein, wie er seiner Ehefrau ankündigte: „Der das schwarze Mehl und die Bohnen brachte, war der B., das meiste dürftest du im Laufe dieser Woche von G. bekommen. Soll ich Hülsenfrüchte auch hineinbringen, die kosten auch schon 8 K und mehr per kg, aber wenn man sie drinnen vielleicht gar nicht bekommt, zahle ich lieber hier diese Wucherpreise. Die Säcke in denen G. Mehl bringt, schicke mir umgehend wieder heraus.“24

Bevor er auf Fronturlaub ging, wollte er sich noch „genügend voraus ernähren, dass ich’s dann 14 Tage in Wien bei 20 dkg Fleischwochenmenge & Mangel aller übrigen Nahrungsmittel aushalte!“25 Der höherrangige Soldat hatte im Fronteinsatz mehr zu essen als seine bürgerliche Familie in Wien. Untersuchungen aus dem Jahr 1918 ergaben, dass hier 14-Jährige im Vergleich zu den Vorkriegsverhältnissen ein durchschnittliches Untergewicht von acht bis elf Kilogramm 21 Ella Reichel (geb. 1905), Tagebuch, 5. März und 7. Oktober 1917, 24. Jänner 1918, SFN NL 38 V. 22 Pia von Seidensacher (geb. 1872), Brief an Elisabeth, Maria Anna und Erika von Seidensacher (geb. 1901, 1903 und 1909), 22. Juli 1917, SFN NL 261. 23 Dazu zuletzt: Christa Hämmerle, Genuss als Unrecht. Gedanken- und Quellensplitter zur (Geschlechter-)Geschichte des Ersten Weltkrieges, in: Theresa Adamski et al. (Hg.), Geschlechtergeschichten vom Genuss. Zum 60. Geburtstag von Gabriella Hauch, Wien 2019, 133–143. 24 Adolf Müller (geb. um 1880), Brief an Louise Müller (geb. 1886), 12. Juni 1918, SFN NL 14 III. Die Namen dritter Personen werden hier aus Datenschutzgründen abgekürzt wiedergegeben. 25 Ebd., 13. April 1918, SFN NL 14 III.

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hatten.26 Die körperlichen Veränderungen einer Erwachsenen hat Maria Lienhart beispielhaft belegt. Die gutbürgerlich situierte Frau aus der Wiener Innenstadt hielt über Jahrzehnte hinweg regelmäßig ihr Gewicht in einer Tabelle fest: Im Mai 1914 hatte sie hier 62,9 kg eingetragen, im Oktober 1918 nur noch 47,4.27

2.)

Un_Ordnungen: Protestbewegungen

Vor dem Hintergrund der Lebensmittelsituation sowie der langen Kriegsdauer formierte sich Widerstand. Bereits ab dem zweiten Kriegsjahr kam es zu sogenannten Hungerkrawallen, zu mehr oder weniger spontanen Tumulten und Plünderungen auf Märkten oder in Geschäften sowie parallel dazu zu Streiks in Betrieben. Die Breite der beteiligten Bevölkerungsschichten konnten selbst als progressiv kategorisierte PolitikerInnen nicht fassen: Otto Bauer sprach diesbezüglich von „wild erregten Heimkehrern, verzweifelten Arbeitslosen, Invaliden des Kriegs“, aber auch von „krankhaft erregten Frauen, deren Männer seit Jahren in Kriegsgefangenschaft schmachteten“.28 Diese Sichtweise ist exemplarisch. Trotz der starken Beteiligung von Frauen an den Massendemonstrationen wurde ihnen die eigenständige politische agency abgesprochen – die sie formalrechtlich auch gar nicht besaßen.29 Als in der Gußstahlfabrik der Gebrüder Böhler in Kapfenberg in der Steiermark im März 1917 gestreikt wurde, verlautbarte die Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Mur jedenfalls, dass die „eigentlichen Hetzer“ beim Streik nicht zu eruieren seien, „da sie im Verborgenen arbeiten und Weiber ins Vordertreffen schickten“.30 Die Vorstellung, dass die „Weiber“ aus eigenem Antrieb handelten, erschien unrealistisch. Dies ist insofern bemerkenswert, da Frauen entsprechend der Polizeiberichte seit Beginn an als „Kata26 Andreas Weigl, Eine Stadt stirbt nicht so schnell. Demographische Fieberkurven am Rande des Abgrunds, in: Pfoser/Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 62–71, hier 68. 27 Maria Lienhart (geb. 1873), Gewichtstabelle, SFN NL 16 II. 28 Bauer, Die österreichische Revolution, 121, zit. nach: Wolfgang Maderthaner, Die eigenartige Größe der Beschränkung. Österreichs Revolution im mitteleuropäischen Spannungsfeld, in: Konrad/Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich, Bd. 1, 187–206, hier 197. 29 Der § 30 des Vereinsgesetzes beinhaltete ein politisches Vereins- und Versammlungsverbot für Frauen, die auch kein Wahlrecht hatten. Dazu u. a. Veronika Helfert, Wilde Wahlweiber? Bemerkungen zur Geschichte des Kampfes um das Frauenwahlrecht, in: Elena Messner/Eva Schörkhuber/Petra Sturm (Hg.), Warum feiern. Beiträge zu 100 Jahren Frauenwahlrecht, Wien 2018, 13–30, hier 22. 30 Bericht des Bezirkshauptmanns in Bruck an die Statthalterei in Graz, zit. nach: Rudolf Neck (Red.), Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg 1914–1918, A. Quellen. I. Der Staat, Bd. 1 (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich 3), Wien 1964, 239f., siehe auch: Sigrid Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich (Materialien zur Arbeiterbewegung 46), Wien 1987, 195.

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lysatorinnen der Massenproteste“ diese angeführt hatten.31 Wie Gabriella Hauch ausgeführt hat, reicht die Existenz „rebellischer Weiber“ bis in die Vormoderne und kann bereits für die Hungerunruhen im Zuge der Kartoffelfäule 1846/47 nachgewiesen werden.32 Eine „Innenansicht“ von Demonstrierenden auf der Grundlage von Selbstzeugnissen liegt der Forschung bisher nicht vor. Stattdessen steht die folgende ablehnende Schilderung der 13-jährigen Anna Hörmann aus Graz zur Verfügung: „12. Oktober [1916] Ach, welche Tage des Schreckens sind jetzt! Alles in Aufruhr! Gestern in der Nacht ging es in der Stadt um! Fensterscheiben von Café Kaiserhof und v. anderen Cafés und Hotels wurden eingestossen. […] Um 11 h sollte das Militär ausgerückt sein. Heute waren die Kasernen schon um 5 h geschlossen. Alles {Militär} mußte in den Kasernen schlafen. Alles, Landsturm, Landwehr, kurz alles, was an Militär hier ist, bereitet zum Ausmarsch. […] In den Schulen ist nachgefragt worden, ob jemand von den Kindern dabei war. Nämlich jene, welche dabei waren, werden im Rathause angemeldet, und deren Eltern bekommen weder eine Ausweiskarte von Brot, noch vom Mehl, noch von anderen Lebensmitteln. Hoffendlich bleibt heute das angesagte Wüten aus, hoffendlich! Gestern besorgte dieses Schreien u. Wüten eine Menge von 5.000 Weibern und eine Menge von ehrlosen Buben. Hoffentlich hat der Krieg bald ein Ende, und mit ihm diese Greuel und Wirrnis. Möge es Gott geben! Amen.“33

Dieses Zitat belegt die patriotische Funktionalisierung des Tagebuchschreibens von Kindern, die auch in der Schule dazu angehalten wurden.34 In Bezug auf die Darstellung der Demonstrierenden zeigen sich zudem geschlechterspezifische Zuschreibungen: Neben „Weibern“ wären das nach Schilderung der Schülerin „ehrlose Buben“ gewesen. Das könnte sich auf die beteiligten Jugendlichen und Kinder beziehen. Wahrscheinlich ist es aber (auch) als Abwertung der beteiligten Männer zu lesen, denen damit sowohl jede „Ehre“ (eine der wichtigsten bürgerlichen Tugenden) als auch der Erwachsenenstatus abgesprochen wurde. Im Eintrag vom nächsten Tag präzisierte die Schülerin ihre Vorwürfe: „Während diese ehrlosen Buben und Weiber es hier, im Hinterlande, es so treiben, vergießen tapfere Männer ihr Blut, um das Vaterland zu retten.“35 Hier wird die Hierarchie

31 Gabriella Hauch, Welche Welt? Welche Politik? Zum Geschlecht in Revolte, Rätebewegung, Parteien und Parlament, in: Konrad/Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik, 317–338, hier 319. 32 Gabriella Hauch, Zur Geschichtsmächtigkeit von Gefühlen in der Wiener Revolution von 1848. Liebe, Vertrauen, Rache und Hass, in: Maria Mesner/Sushila Mesquita (Hg.), Eine emotionale Geschichte. Geschlecht im Zentrum der Politik der Affekte, Wien 2018, 17–48, hier 26. 33 Anna Hörmann (geb. 1903), Tagebuch, 12. Oktober 1916, SFN NL 53. 34 Petra Putz, „Die heldenmutigen Truppen kämpfen siegreich an allen Fronten …“ Die Wirkung der Propaganda im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Mädchentagebuchs von Anna H. (1916/17), unveröff. Dipl., Univ. Wien 2008. 35 Anna Hörmann (geb. 1903), Tagebuch, 12. Oktober 1916, SFN NL 53.

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des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses deutlich, dessen Ideal der an der Front kämpfende Mann war. Männer, die „im Hinterland“ gegen bestehende Missstände kämpften, hatten sich disqualifiziert,36 „Weiber“ sowieso. Die bei den Demonstrationen und Streiks vorgebrachten Forderungen bezogen sich auf die Ausgabe bestimmter Lebensmittel, auf eine allgemeine Verbesserung der Verteilungsorganisation oder auf Arbeitsbedingungen in einzelnen Betrieben. Vermehrt wurde auch der Friedensschluss gefordert.37 Die Teilhabe von Frauen an den verschiedenen Protestformen war Gegenstand vielschichtiger Diskussionen und Reaktionen seitens der Behörden, der Gewerkschaften und der politischen Parteien: Im Mai 1917 war es nach einem Schwächeanfall eines übermüdeten Arbeiters im Wiener Arsenal, dem mit 15.000 Beschäftigten größten Rüstungsbetrieb der Monarchie, zu einem Streik gekommen, der sich rasch ausweitete. Zuerst legten hier Frauen die Arbeit nieder. Sie marschierten in Demonstrationszügen zu anderen Betrieben und ermunterten die dortigen Belegschaften zum Ausstand. 42.000 ArbeiterInnen vor allem in Metall- und Maschinenfabriken folgten diesem Aufruf.38 Als Reaktion wies das Kriegsministerium staatliche Unternehmen an, Frauen nur mehr dort in „größerer Zahl“ einzusetzen, wo es unerlässlich sei, da sie „stets dasjenige Element darstellen, welches die Ruhe und Ordnung der Betriebe durch ihre zumeist angeborene schürende Tätigkeit stört und wiederholt die Ursache von Streiks bildet“.39 Eineinhalb Jahre zuvor, im Dezember 1915, hatte dasselbe Kriegsministerium einen Aufruf an Frauen gerichtet, sich für die Arbeit in der Rüstungsproduktion zu melden: „Die Verwendbarkeit der Frauen im praktischen Leben ist eine der großen Erfahrungen des Krieges. […] Kein Zweifel, die für das Heer arbeitende Frau ist der Soldat des Hinterlandes.“40 Die starke Präsenz von Frauen in den Protestbewegungen kann auf verschiedenen Ebenen erklärt werden. Augenscheinlich traf sie aufgrund der geschlechterspezifischen (Zu-)Teilung in der Reproduktionsarbeit die mangelnde Versorgung besonders bald. Und während Männer wegen der Teilnahme an Demonstrationen strafweise an die Front versetzt werden konnten, kam das für Frauen (und Jugendliche) nicht in Frage. Zudem waren Frauen seltener gewerkschaftlich organisiert und daher weniger empfänglich für Beschwichti36 Dazu einleitend Hämmerle, Der Erste Weltkrieg aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, 226–227. 37 Dazu u. a. Veronika Helfert, Verzweiflung, Empörung und Wut. Intersektionale Perspektiven auf Geschlecht, Politik und Gewalt in und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Mesner/Mesquita (Hg.), Eine emotionale Geschichte, 49–82, 59–60. 38 Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg, 197. 39 Erlass Kriegsministerium (1917), zit. nach: Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg, 195. 40 Zit. nach: Trausmuth, „Ich fürchte niemanden“, 226.

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gungsbemühungen der Interessenvertretungen, die vor allem in den letzten beiden Kriegsjahren die „Burgfriedenpolitik“ der Sozialdemokratie mittrugen.41 Am 5. Jänner 1917 streikte die Belegschaft der Stahl- und Eisenwerke in Ternitz in Niederösterreich wegen des hohen Zusatzes von Hafermehl im ausgegebenen Brot. Die um Streikbeendigung bemühten sozialdemokratischen Betriebsvertrauensmänner betonten, dass die Arbeitsniederlegungen nur durch das „zügellose“ Verhalten der weiblichen und jugendlichen Arbeitskräfte zustande gekommen seien.42 „Zügeln“ ließen sich die Frauen tatsächlich nicht (mehr), zumindest nicht in ihren Forderungen: Als am 14. Jänner 1918 in Wiener Neustadt ebenfalls in Niederösterreich mehrere Betriebe in Streik gingen, sprach eine Frauendelegation in der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten vor und forderte Ersatz für die verkürzte Mehlquote durch Rollgerste, Polenta oder andere Mehlprodukte innerhalb von drei Tagen. Andernfalls drohten die Abgesandten „mit der Demolierung der Mehlladen und Lebensmittelgeschäfte“.43 Frauen, die mit Gewalt drohten: In der zeitgenössischen Wahrnehmung der protestierenden Frauen spielte nicht zuletzt die „Transgression der dem weiblichen bürgerlichen Geschlechtscharakter“ eingeschriebenen Verhaltensweisen eine zentrale Rolle.44 Nach Hanna Hacker signalisiert(e) Gewaltbereitschaft in vielen sozialen Kontexten Männlichkeit.45 Frauen, die Wachmänner als „Gfraster“ beschimpften, Fensterscheiben einschlugen oder die bei Raufhändeln selbst verletzt wurden, bewegten sich außerhalb jeglicher Normen.46 Wie Veronika Helfert herausgearbeitet hat, ist die auf Emotionen fokussierte Darstellung in vielen Polizeiberichten als geschlechterspezifische Diffamierung zu lesen. Wut oder lautes Schreien wurden „lächerlich gemacht, der Protest gegen die gesellschaftlichen Zustände damit in den Bereich unpolitischer (weiblicher) Emotionalität verschoben“.47 Wie in der oben beschriebenen Diffamierung der protestierenden Männer als „Buben“ wurde damit den Akteurinnen eine ernstzunehmende Agency abgesprochen.

41 Hauch, Welche Welt? Welche Politik?, 319–320. Peter Haumer, Wer kennt schon Berta Pölz? Eine Reportage, in: Adamski et al. (Hg.), Geschlechtergeschichten, 222–236, hier 222–229. 42 Auszug aus dem Bericht des k. u. k. Kriegsministeriums, zit. nach Neck (Red.), Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg, 231f., siehe auch: Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg, 195. 43 Sammelakt des Ministeriums des Inneren, zit. nach: Neck (Red.), Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg, 196f., siehe auch: Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg, 209. 44 Veronika Helfert, „Unter Anführung eines 13jährigen Mädchens“. Gewalt und Geschlecht in unorganisierten Protestformen in Wien während des Ersten Weltkriegs, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2014/II, 66–82, hier 76f. 45 Hanna Hacker, Gewalt ist: keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgressionen, Königstein am Taunus 1998, 18–20. 46 Helfert, „Unter Anführung eines 13jährigen Mädchens“, 77. 47 Helfert, Verzweiflung, Empörung und Wut, 68.

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Der Höhepunkt der Streikbewegung war am 18. Jänner 1918 erreicht, als sich in Wien 110.000 Menschen im Ausstand befanden. Auf dem gesamten Gebiet des heutigen Österreich waren es rund 370.000.48 Geendet hat die Streikbewegung, in der die Rätebewegung eine wesentliche Rolle spielte,49 mit einem Abbruch. Dieser wurde auch von sozialdemokratischen Funktionären forciert, was Otto Bauer 1923 zu erklären versuchte: Durch den Abbruch des Streiks sei ein Assistenzeinsatz der Armee und damit ein Blutvergießen vermieden worden.50 Wie die Soldaten indes reagiert hätten, bleibt historiografisches Planspiel. Denn neben der ArbeiterInnenschaft radikalisierten sich inzwischen auch Teile der Truppen. Im Februar 1918 kam es bei der Kriegsmarine in der Bucht von Cattaro – je nach Sichtweise – zu einem revolutionären Aufstand bzw. einer Meuterei.51 Ende April 1918 streikten Teile des Landheers, zuerst in Galizien, dann in der Slowakei. Teilweise solidarisierten sich die Soldaten, die gegen streikende ArbeiterInnen vorgehen sollten, stattdessen mit diesen.52 Der 26-jährige Oberleutnant Leopold Wolf aus Wien zeigte in einem Brief an seine Ehefrau zumindest Verständnis für die ArbeiterInnen: „Ich höre auch zu meiner größten Überraschung, was sich in Wien alles tut, oder besser gesagt, was sich alles nicht tut. Und wenn man bedenkt, was für eine Ungeheuerlichkeit hier geschehen ist, (ich meine meinen Fall!) wie man hier das Material schindet, und wie man einen gewissenhaften Offizier, der noch echt österreichisch denkt und handelt, […] der in den Kriegsjahren die beste Zeit seines Lebens verbracht hat, da möchte man gern vergessen, daß man auch ein guter Soldat ist, und mit den Wiener Arbeitern rufen: Genug! Ich halte mit!“53

Der höherrangige Soldat war im zivilen Beruf Architekt. Der Grund für die Solidarität, die er hier den ArbeiterInnen entgegenbrachte, war der Umstand, dass er sich selbst durch einen militärischen Vorgesetzten schlecht behandelt sah. Er ging schließlich aber nicht so weit wie viele andere, die desertierten. Das konkrete Ausmaß der Fahnenflucht ist kaum zu ermitteln, die kolportierten

48 Maderthaner, Die eigenartige Größe der Beschränkung, 191. 49 Zur Rätebewegung im Allgemeinen und der Position von Frauen dabei im Speziellen siehe den Beitrag von Veronika Helfert in diesem Band. 50 Bauer, Die österreichische Revolution, zit. nach: Robert Foltin, Revolution und Rätebewegung in Österreich 1918/1919, in: Anna Leder/Mario Memoli/Andreas Pavlic (Hg.), Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie, Wien/Berlin 2019, 12–34, hier 17. 51 Manfried Rauchensteiner, „Das neue Jahr machte bei uns einen traurigen Einzug“. Das Ende des Großen Krieges, in: Konrad/Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik, 21–44, hier 22–28, v. a. 26. 52 Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz/Wien/Köln, 2. Aufl., 1994, 476f. 53 Leopold Wolf (geb. 1891), Brief an Christl Wolf (geb. 1891), 18. Jänner 1918, SFN NL 14 I.

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Zahlen schwanken zwischen 100.000 bis 1.000.000 Abgängigen.54 Im Verlauf der soldatischen Unruhen der ersten Monate des Jahres 1918 verdoppelte sich jedenfalls die Zahl der militärgerichtlichen Verfahren, wobei Entzugs- und Verweigerungsdelikte den größten Anteil ausmachten. Alleine im Mai 1918 wurden 133.040 Soldaten als straffällig verzeichnet.55 Im Spätherbst 1918 war der von Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich vom Zaun gebrochene brutale Krieg zu Ende. Die Versorgung der Bevölkerung war damit aber nicht gesichert. Jene Regionen der ehemaligen Doppelmonarchie, aus denen etwa Wien und die alpinen Regionen zuvor Getreide und Kohle bezogen hatten, waren nicht mehr Teil des neuen Staats. Dieser war jetzt auf internationale Hilfslieferungen angewiesen. So wurden etwa bis zu 200.000 Kinder vorübergehend in neutralen Staaten in Skandinavien oder in der Schweiz aufgenommen.56 Eines von ihnen war die circa 10-jährige Wienerin Elisabeth B., die sich längere Zeit in Schweden aufhielt. In einem Brief aus Oktober 1920 schilderten deren Eltern unterschiedliche Hilfsangebote, wobei hier einmal mehr die zeitgenössische Involviertheit auch von Kindern in die Versorgung deutlich wird: „Es ist sehr schön und lieb von Dir dass Du auch so viel auf uns denkst und fragst, dass wir Lebensmittel vom schwed. Roten Kreuz bekommen könnten. Da wir aber von Georg B. aus Amerika Liebesgaben bekommen und gerade heute wieder eine Kiste avisiert wurde so ist dies nicht nötig. Wir wollen lieber daß Du liebe Dicke Deine Ersparnisse für Dich behälst.“57 Neben international organisierten Hilfsaktionen spielten in der Unterstützung der Grundversorgung der Bevölkerung auch wieder individuelle Netzwerke eine große Rolle, die möglicherweise auch Kontinente umspannten. Ein aussagekräftiges Beispiel sind die Zuwendungen, die Thekla Scholz über Jahre hinweg geleistet hat.58 Sie hatte in Oberschlesien als Dienstmädchen gearbeitet, ehe sie als 23-Jährige 1911 nach Missouri in den USA auswanderte, wo sie weiter als Hausangestellte beschäftigt war. Sobald es nach dem Kriegsende wieder möglich war, sandte die junge Migrantin regelmäßig Geld, Kleidung, Schuhe und Lebensmittel postalisch über den At54 Hannes Leidinger/Verena Moritz, Der Erste Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2011, 64. 55 Rauchensteiner, „Das neue Jahr machte bei uns einen traurigen Einzug“, 22–28. 56 Dazu Isabella Matauschek, Lokales Leid – Globale Herausforderung. Die Verschickung österreichischer Kinder nach Dänemark und in die Niederlande im Anschluss an den Ersten Weltkrieg, Wien/Weimar/Köln 2018. 57 Eltern (pers. Daten unbekannt) an Elisabeth B. (geb. um 1910) in Schweden, Brief, 22. Oktober 1920, SFN NL 264. 58 Dazu im Detail Karen Johnson/Maria Prchal/Maren Sacherer/Zehua Yin, The Supply Situation in Silesia after World War I. Illustrated through Letters from the Kiefer-Scholz Collection, in: Andrew Stuart Bergerson/Li Gerhalter/Thorsten Logge (Hg.), From Langenbrück to Kansas City. The Kiefer-Scholz Family, Hamburg 2021, 99–118. Der diesem Text zugrundeliegende Briefnachlass von Thekla E. Scholz, verh. Kiefer (geb. 1888), wurde 2021 der Sammlung Frauennachlässe übergeben.

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lantik nach Hause. AdressatInnen waren ihre betagte Mutter, ihre Geschwister und deren Familien, ihr Verlobter und eine enge Jugendfreundin. Aber auch ihre ehemaligen ArbeitgeberInnen erhielten Sendungen. Der frühere Dienstherr, ein Schlachthausdirektor, fragte dabei direkt nach Reis, Kakao und Kaffee sowie nach Zigarren, die Thekla Scholz in den Paketen unter den anderen Waren versteckte. Die Kosten wurden refundiert. Hier fanden wieder Verschiebungen innerhalb hierarchischer Verhältnisse statt, die dabei in der (Nicht-)Verfügbarkeit von Konsumgütern begründet waren.

3.)

Un_Ordnungen: Frauen als Staatsbürgerinnen

Am 30. Oktober 1918 formierte sich in Wien unter dem sozialdemokratischen Staatsrat Karl Renner eine Provisorische Nationalversammlung für den deutschsprachigen Teil der ehemaligen Monarchie.59 Am 12. November wurde Deutschösterreich als demokratische Republik ausgerufen. Der geplante Zusammenschluss mit der Deutschen Republik wurde von der Entente abgelehnt. Die mit der Staatsgründung einhergehende Fixierung der neuen Territorialgrenzen wurde von der Bevölkerung entsprechend aufmerksam verfolgt und je nach politischer Einstellung kommentiert: „Für uns Deutsche scheint überhaupt so eine düstere Zeit zu kommen. […] Die Tschechen & Slowaken nehmen immer mehr Land von den Ungarn weg“, schrieb die 35-jährige Wienerin Else Lux aus Wien-Hietzing.60 Rosa Mayreder, wie Marianne Hainisch ebenfalls prominente bürgerliche Frauenrechtlerin, schätzte die Situation aus anderen Gründen pessimistisch ein: „Heftige politische Debatte über den Anschluß an Deutschland […] Was mich bestimmt, sind aber weniger politische Gründe als die Vorstellung, wie mißlich es ist, sich als schwaches, mißachtetes Glied einem überlegenen Gegner aufzudrängen.“61 Ungewiss war die Situation insbesondere für die deutschsprachige Bevölkerung in den neuen Nachfolgestaaten: Als am 16. Februar 1919 im Gebiet des nunmehrigen Deutschösterreich gewählt wurde, hielt Paula F. aus Mährisch-Schönberg (heute Sˇumperk in Tschechien) dazu fest: „Politisch schaut es eine Idee besser aus, der Bolschewismus wird sich, wenn Lebensmittel kommen, hoffentlich wieder besänftigen u. wir haben auch noch immer Hoffnung Deutsch zu werden. […] Auf das Wahlergebnis sind wir schon sehr gespannt.“62 Ricci Fiedler lebte ihrerseits in Triest/Trieste. In ihrem Tagebuch richtete sie sich Anfang 1920 an ihren Sohn, der hier ein Gymnasium 59 Maderthaner, Die eigenartige Größe der Beschränkung, 196. 60 Elsa Lux (geb. 1883), Tagebuch, 9. November 1918, SFN NL 241 IV. 61 Rosa Mayreder (geb. 1858), Tagebuch, 17. Februar 1919, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, ZPH 264/1. 62 Paula F. (geb. 1894), Tagebuch, 16. Februar 1919, SFN NL 95.

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besuchte: „Dass Du so leicht u. gedankenlos mit den Italienern Italien verherrlichst kränkt uns eigentlich, doch sind wir selbst schuld, da wir nie Patrioten waren. Du aber tust das, was die Professoren freut.“63 Trotz der Ungewissheit um die politische Zukunft sowie jener um den Verbleib von circa 125.000 in Kriegsgefangenschaft befindlichen Soldaten der ehemaligen k. u. k. Armee64 war die Ausrufung der parlamentarischen Demokratie eine wichtige Zäsur für die Bevölkerung. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts ohne Unterschied des Geschlechts ist als einer der demokratiepolitischen Meilensteine der österreichischen Geschichte zu sehen. Frauen wurden dadurch als Staatsbürgerinnen formalrechtlich Männern gleichgestellt.65 Die sozialdemokratische Arbeiterpartei hatte das von den bürgerlich-liberalen und den proletarischen Frauenbewegungen seit Ende des 19. Jahrhunderts geforderte „uneingeschränkte Wahlrecht ‚ohne Unterschied des Geschlechts‘“ 1892 in ihrem Parteiprogramm verankert; das Parlament setzte es nun um.66 Wie Birgitta Bader-Zaar dargestellt hat, gab es innerhalb der Partei zwar auch Bedenken gegen das Frauenwahlrecht, das allerdings vor allem vom einflussreichen Karl Renner forciert wurde. Christlichsoziale wie Wilhelm Miklas oder Deutschnationale wie Oskar Teufel drängten vor den Wahlen erfolglos auf einen „dritten Weg“ (Miklas) oder eine „gewisse Eindämmung“ (Teufel) des Wahlrechts.67 Die ersten demokratischen Wahlen der Deutsch-Österreichischen Republik fanden am 16. Februar 1919 statt. Erstmals waren Frauen allgemein wahlberechtigt – und stellten mit 52,16 Prozent die Mehrheit der Wahlberechtigten.68 Nicht nur deshalb war ihre Teilhabe verschiedenen Seiten suspekt und entspre63 Ricci Fiedler (geb. 1883), Tagebuch, 2. Jänner 1920, SFN NL 260. Die Familie übersiedelte wenig später in die Steiermark. 64 Es wird von insgesamt 7 bis 9 Millionen Kriegsgefangenen ausgegangen, davon geschätzte 2,77 Millionen aus den Nachfolgestaaten der k. u. k. Monarchie. Von ihnen starben geschätzt 453.000. Die letzten Kriegsgefangenen wurden 1922 entlassen. Siehe dazu: Hämmerle, Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, 12; Hannes Leidinger/ Verena Moritz, Die Repatriierung der k. u. k. Kriegsgefangenen 1918 bis 1922, in: Politicum 28 (2007) 102, 53–56. 65 Bis 1923 blieben jene Frauen weiterhin ausgeschlossen, die als Prostituierte arbeiteten (oder dessen bezichtigt wurden) sowie Männer, denen gerichtlich die Erziehungsgewalt über ihre Kinder abgesprochen worden war. Veronika Helfert, Die Sittlichkeit der Staatsbürgerin. Zum Zusammenhang von Sittlichkeit und Geschlecht im Wahlrecht für die Konstituierende Nationalversammlung, in: Blaustrumpf ahoi (Hg.), „Sie meinen es politisch!“. 100 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich, Wien 2019, 125–137, hier 131–135; Brigitta Bader-Zaar, Die Demokratisierung des Wahlrechts, in: Kriechbaumer et al. (Hg.), Die junge Republik, 101–112, hier 108. 66 Dazu u. a. zuletzt Birgitta Bader-Zaar, Die Forderung des Frauenwahlrechts. Akteur_innen, Strategien, Diskurse in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie, in: Blaustrumpf ahoi (Hg.), „Sie meinen es politisch!“, 37–60. 67 Bader-Zaar, Die Demokratisierung des Wahlrechts, 106. 68 Helfert, Wilde Wahlweiber?, 22.

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chend fragten sich alle politischen Lager, wie die Erstwählerinnen wohl abstimmen würden. In der Wahlwerbung und in verschiedenen Publikationsorganen wurden explizit verschiedene Gruppen von Frauen direkt und vehement angesprochen.69 Während weite Teile der Sozialdemokratie und KommunistInnen das Frauenwahlrecht begrüßt oder eingefordert hatten, gab es von konservativer Seite diverse Einschätzungen diesbezüglich. Diese ambivalente Haltung lässt sich durch Schlaglichter auf die konservative bzw. rechte Presse darstellen: So mahnte etwa die Illustrierte Mädchenzeitung ihre Leserinnen in stark antisemitischen Worten: „[…] es handelt sich bei diesen Wahlen nicht bloß um diesen oder jenen Abgeordneten, sondern auch vorzüglich darum, ob wir eine echte christliche, verläßliche, für und mit dem Volke fürsorgende Demokratie (Volksherrschaft) oder eine jüdisch-sozialistische, kirchenfeindliche, volksbedrückende Gewaltherrschaft bekommen, ob wir ein freies katholisches Volk bleiben können oder ob wir ein von Juden und Kirchenfeinden kommandiertes Sklavenreich bilden müssen.“70 Die Zeitschrift Frau und Volk erinnerte ihrerseits die „katholischen Hausfrauen“ an ihre „Gewissenspflicht“, ihre Hausbediensteten zum „christlichen Wählen“ anzuleiten, denn jede „Stimme sei kostbar“, wolle man nicht „völlig zugrunde gehen an Leib und Seele“.71 In Anbetracht der Tatsache, dass der schon in der Monarchie geltende Usus, selbst angefertigte, zuhause ausgefüllte Stimmzettel zu verwenden weiterbestand, wurde fremder Einflussnahme, etwa durch den oder die ArbeitgeberIn, Tür und Tor geöffnet.72 Die in Selbstzeugnissen dokumentierten Positionen einzelner Wählerinnen variieren von Euphorie bis zum blanken Entsetzen:73 Die 26-jährige Musikerin Therese Lindenberg aus Wien notierte am 30. Oktober 1918 begeistert: „[…] ich grüße dich, mein Vaterland, die deutsche-öster. Republik, die heute geboren wurde!“ Die Mutter einer dreijährigen Tochter sympathisierte mit der Sozialdemokratie, die politischen Ereignisse interpretierte sie international und durchaus geschlechterspezifisch: „O meine Völker möchte [ich] sagen, werdet der Freiheit würdig! […] Und wir Frauen! Raffen wir uns doch ganz auf – und lehren unsere Kinder das Recht auf Menschlichkeit, das Recht, ein Mensch den andern zu achten ohne Unterschied der Nation und der 69 Helfert, Die Sittlichkeit der Staatsbürgerin, 125–131; Gabriella Hauch, Im Parlament! Akteurinnen, Themen und politische Kultur in der Ersten Republik, in: Blaustrumpf Ahoi! (Hg.), „Sie meinen es politisch!“, 97–121, 98. 70 Johann Hiebl, Briefe eines Seelsorgers, in: Illustrierte Mädchenzeitung 13 (1919) 2, 23–26, hier 24; die Zeitung erschien zwischen 1907 und 1925 in Klagenfurt. 71 [o. A.], Eine Gewissenspflicht der katholischen Hausfrauen, in: Frau und Volk (1919) 2, 4; die Zeitung erschien 1919 in Wien. 72 Baader-Zaar, Die Demokratisierung des Wahlrechts, 108. 73 Dazu auch Li Gerhalter, Der „denkwürdige Tag“. Die Wahlen 1919 in Tagebüchern von Wiener Frauen und die Aus/Wahl von Erinnerung in Selbstzeugnissen in Sammlungen und Archiven, in: Messner/Schörkhuber/Sturm (Hg.), Warum feiern, 71–92, hier 80–87.

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Konfession! […] O laßt uns Mütter sein und laßt uns gute Menschen gebären! Und die Natur, laßt sie (uns) als Erzieherin wirken!“74

Die Proklamation der Republik fand auf der Rampe des Parlamentsgebäudes statt, wo sich eine Menschenmenge versammelt hatte. Während Lindenberg dies als „feierliches“ Ereignis erlebte, blieb Bernhardine Alma an dem Tag lieber zu Hause. Die Eltern hatten ihr wegen des „Umzuges der Arbeiter etz.“ verboten, auszugehen. Betreffend ihre politischen Wünsche war die junge Frau noch unschlüssig. Sie war in den letzten vier Jahren im Kriegshilfsdienst eingesetzt gewesen, wofür sie 1915 die „silberne Ehrenmedaille mit der Kriegsdekoration“ verliehen bekommen hatte. Am 11. November 1918 wünschte sie sich dementsprechend, die Entente möge den „armen Kaiser Karl“ doch wieder einsetzen. Gleichzeitig war sie „neugierig“ auf das, was sich nun ändern könnte.75 Diese Zuversicht konnte Elsa Lux nicht teilen. „Ganz Europa ist verrückt geworden.“ – „Traurige, häßliche Zeiten!“ – „In Berlin wurden überall rote Fahnen gehißt & so sind die Sozialisten obenauf! Garstige Zustände!“76 Neben der politischen Ungewissheit belastete sie v. a. die Unsicherheit um den Verbleib ihres kriegsgefangenen Bruders. In den der Forschung bisher bekannten Tagebüchern ist das Wählen an sich nicht ausführlich beschrieben. Marianne Hainisch hat zumindest eine längere Schilderung des Tages festgehalten: „Ich ging um 1/2 8 zur Wahl. Mein Wahllokal: Sechskrüglgasse II. Vorwiegend Frauen der niederen Ständen, [Dienstbotinnen, Nonnen], zu einem Drittel kleinbürgerliche Männer reihten sich vor den verschiedenen Klassenzimmern. […] Es wird sich morgen erweisen, daß viele Frauen wählten […] Als ob sie von jeher das Wahlrecht besessen hätten kamen und gingen sie. […] Außergewöhnlich still ist es auf den Straßen, es ist als ob die Bevölkerung den Atem anhielte.“77

Hainisch war als 80-Jährige als Kandidatin für eine der vielen bürgerlichen Splitterparteien angetreten. Damit war sie eine von 115 Frauen, die das neue Wahlrecht auch passiv wahrgenommen haben.78 In das Parlament zogen acht von ihnen ein, davon sieben Sozialdemokratinnen.79 Die einzige Nicht-Wienerin war die Kärntner Tabakarbeiterin und Gewerkschafterin Maria Tusch. Die Konstituierende Nationalversammlung bestand aus 170 Abgeordneten, womit der Frauenanteil 4,7 Prozent betrug.80 Obwohl die Sozialdemokratie sich als erste 74 75 76 77 78 79 80

Therese Lindenberg (geb. 1892), Tagebuch, 30. Oktober und 4. November 1918, SNF NL 3 I. Bernhardine Alma (geb. 1895), Tagebuch, 11. und 12. November 1918, SFN NL 9 I. Elsa Lux (geb. 1883), 8. bis 14. November 1918, SFN NL 241 IV. Marianne Hainisch (geb. 1839), 16. Februar 1919, SFN NL 280. Helfert, Die Sittlichkeit der Staatsbürgerin, 130. Hauch, Im Parlament!, 101. Hauch, Welche Welt? Welche Politik?, 324.

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Großpartei für das Frauenwahlrecht eingesetzt hatte, kreuzten Frauen 1919 überdurchschnittlich oft die Christlich-Sozialen an.

4.)

Un_Ordnungen: Erwerbsarbeiten

Ein weiteres Feld kriegsbedingter Un_Ordnung waren die geänderten Verhältnisse in der geschlechterspezifisch organisierten Erwerbsarbeit, die retrospektiv mitunter als „Emanzipierungsschub“ für Frauen gedeutet wurden.81 Die bis März 1918 in die k. u. k. Armee einberufenen 4,36 Millionen Soldaten machten jedenfalls 60 Prozent der 18- bis 35-jährigen in der Monarchie gemeldeten Männer und somit der potenziellen Arbeitskräfte aus.82 In ihrer Abwesenheit mussten die von ihnen ausgeführten Tätigkeiten neu verteilt werden. In der Versorgung, der Industrie und der Landwirtschaft übernahmen Frauen nun Aufgaben, die bisher als „Männerarbeit“ gegolten hatten. Dazu gehörte auch Schwerstarbeit wie Pflügen, Fuhrwerken oder Holzarbeit.83 Das blieb ebenso in Erinnerung wie die neu eingestellten circa 4.000 Schaffnerinnen bei der Wiener Straßenbahn.84 Wie Christa Hämmerle festgehalten hat, ergibt eine längerfristige Perspektive „jedoch weniger eine sensationelle Zunahme, sondern vielmehr eine auffallende Verschiebung der Frauenarbeit hin zu kriegswichtigen Bereichen, insbesondere zur stark expandierenden Rüstungsindustrie“.85 Hier wurden situationsbedingt neue Arbeitsplätze geschaffen, die Frauen annehmen konnten. Nach Antje Strahl war eine Anstellung in diesen Großbetrieben insbesondere für bisher in der Landarbeit oder im häuslichen Dienst Beschäftigte attraktiv, da sie verhältnismäßig geregelte

81 Eine differenzierte Sichtweise auf diese These lieferte Antje Strahl, Krise als Emanzipationsschub? Beschäftigungen für Arbeiterinnen am Beispiel mecklenburgischer Rüstungsbetriebe, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2014/II, 83–105. 82 Sabine Schmitner, Sabotage?! Passive Resistenz von Rüstungsarbeiterinnen in der k. u. k. Munitionsfabrik Wöllersdorf während des Ersten Weltkriegs, in: ÖGL 56 (2012) 3, 259–271, hier 260. 83 Zum Teil wurde versucht, diese Arbeiten in der Landwirtschaft und der Industrie durch Kriegsgefangene zu kompensieren. 1916 sollen allein im Land Tirol 50.000 Kriegsgefangene verzeichnet worden sein. Insgesamt geht die Forschung von 1,86 bis 2,3 Millionen Kriegsgefangenen aus, die sich im Ersten Weltkrieg „im Gewahrsam der Habsburgermonarchie befunden haben“. Corinna Zangerl, Gefangen, begehrt und gebraucht. Russlands Männer im Tirol der Kriegsjahre, in: Südtiroler Landesmuseum für Volkskunde (Hg.), Höfe ohne Männer. Frauenalltag im Ersten Weltkrieg, Dietenheim 2014, 60–77, hier 61–62; Verena Moritz, Kriegsgefangene in Wien im Ersten Weltkrieg, in: Pfoser/Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 104–113, hier 105. 84 Hämmerle, Der Erste Weltkrieg aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, 223; Klaralinda Ma-Kircher: Die Frauen, der Krieg und die Stadt, in: Pfoser/Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 72–81, hier 75. 85 Hämmerle, Der Erste Weltkrieg aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, 224.

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Arbeitsbedingungen bedeutete.86 Für Frauen mit einer gewissen Schulbildung konnte die veränderte Arbeitsmarktsituation tatsächlich neue Möglichkeiten bieten, im öffentlichen Dienst stellten Frauen ab 1917 die Mehrheit.87 Frauen arbeiteten auch auf verschiedene Weisen im oder für den Krieg. Eine Sparte war die sogenannte „Wohltätigkeit“, die von Kriegsbeginn an unter staatlicher Instrumentalisierung von verschiedenen Frauenvereinen organisiert und im ehrenamtlichen, also unbezahlten Engagement durch tausende (bürgerliche) Frauen und Kinder besorgt worden ist.88 Bereits 1914 wurde in Wien der „Frauenbeirat“ gegründet, dem 17 Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung angehörten, u. a. Marianne Hainisch. Der in die kommunale Verwaltung eingegliederte Beirat hatte die Aufgabe, den unentgeltlich geleisteten Kriegshilfsdienst zu koordinieren.89 Die inhaltlichen Ausrichtungen der zuvor international vernetzten Bürgerlichen sowie sozialdemokratischen Frauen- und Friedensbewegung konnten in der Kriegssituation kaum mehr weitverfolgt werden, vielmehr war sie nun via „(Selbst-)Mobilisierung“90 in den patriotischen Dienst getreten. Im August 1914 wurde dazu die „Frauenhilfsaktion im Kriege“ gegründet, der alle Vereine der Ersten Bürgerlichen Frauenbewegung beitraten, unabhängig der religiösen und politischen Ausrichtung. Nur der als „radikal“ geltende Allgemeine Österreichische Frauenverein (AÖFV) trat nicht bei, sondern gründete 1917 eine „Friedenspartei“ als Sektion.91 Mathilde Hanzel-Hübner, die von 1910 bis 1914 AÖFV-Vizepräsidentin war, beschrieb 1917 in einem Brief an ihren Ehemann, wie sie ein Abzeichen ihrer Friedensarbeit offen und ganz „selbstverständlich“ trug: „In der Trambahn wurde es schweigend und nachdenklich betrachtet.“92 Die Aufgabenfelder der „Wohltätigkeit“ waren vielfältig: Neben Krankenpflege- oder Fürsorgeeinrichtungen wurden „Labedienste“ oder „LiebesgabenAktionen“ organisiert, die die Moral der eingerückten Männer befördern sollte. Der als Oberleutnant eingezogene Heinrich Marek beschrieb das im Sommer 1914, als er auf dem Weg an die Front war: „In Hatván hat uns ein Zivilist emp86 Strahl, Krise als Emanzipationsschub?, 95–96. 87 Karin Maria Schmidlechner, Die neue Frau? Zur soziökonomischen Position und kulturellen Lage, in: Konrad/Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich, Bd. 2, 87–102, hier 88–90. 88 Christa Hämmerle, „Die Frauenhilfsaktion im Krieg“. Weibliche (Selbst-)Mobilisierung und die Wiener Arbeitsstuben, in: dies., Heimat/Front, 85–103. 89 Michaela Königshofer, „Ich arbeite, suche zu helfen, zu lindern …“ Diaristische und journalistische Texte Marianne Hainischs während des Ersten Weltkrieges, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, 10 (2010) 2, 36–52, hier 44–45. 90 Hämmerle, Der Erste Weltkrieg aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, 221. 91 Dazu u. a. Ines Rebhan-Glück, Die österreichische Frauenbewegung und der Krieg, in: Pfoser/ Weigel (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs, 82–87, hier 85. 92 Mathilde Hanzel-Hübner (geb. 1884), Brief an Ottokar Hanzel (geb. 1879), 23. Jänner 1917, SFN NL 1.

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fangen mit einer Fahne, die uns die Ehrenjungfrauen von dort weihten. Jeder bekam auch noch Bänder und Blumen etc. Weiter ging es. […] Wir marschierten durch Lemberg. Dort jubelte uns die Bevölkerung zu ‚Auf nach Moskau‘, bewarf und behängte uns mit Blumen, Bändern, Zuckerln, Zigaretten etc.“93 Die Geschenke waren von Frauen und Mädchen genäht, gekauft oder hergerichtet worden, was u. a. die 16-jährige Christine Stephani aus Chemnitz ihrem als Oberst eingerückten Vater brieflich berichtete: „Wir hatten Zigarren, Zeitungen, Schokolade und Pfefferminz en masse mit. Die Züge fuhren ganz langsam vorbei, so daß man bequem hineinreichen konnte. Auf Tafeln Schokolade und Zeitungen habe ich meine Adresse und viele Grüße und Glückwünsche geschrieben. Hoffentlich schreibt mir jemand mal.“94 Ebenfalls ehrenamtlich waren Frauen auch an der konkreten Kriegsorganisation beteiligt. Sie erledigten z. B. Schreibarbeiten, wie Bernhardine Alma, die seit Februar 1915 fünfmal in der Woche für das Rote Kreuz Listen von Kriegsgefangenen abgeschrieben hat: „Die Totenliste schreibe ich sehr ungern. Bei den Gefangenen freut mich immer, daß sie nicht gefallen sind. Aber die Toten sind so traurig zu schreiben.“95 Christa Hämmerle hat „das stete Ineinandergreifen von ‚Front‘ und ‚Heimatfront‘“ betont. Gleichzeitig hat sie auf die zahlreichen bezahlten Tätigkeitsfelder verwiesen, die Frauen in der oder für die k. u. k. Armee ausübten. Geschätzt 33.000 bis 50.000 Frauen waren direkt im militärischen Feld tätig, etwa als Krankenschwestern.96 Bernhardine Alma kommentierte das 1915 folgendermaßen: „Es sollen 700 Pflegerinnen zurückgeschickt worden sein, weil sie frohen Ereignissen entgegen sehen. Das sind Pflegerinnen! – Wenn nur Frieden wäre!“97 Woher Alma diese Informationen hatte, wies sie nicht aus, womöglich war sie aufgebaut auf einer medialen Falschmeldung. Indem Alma die Verantwortung für die behaupteten Schwangerschaften einzig den Frauen zuschrieb, reproduzierte sie klar sexistische und sexualisierte Vorurteile. Von ehemaligen Krankenschwestern liegen einzelne auto/biografische Aufzeichnungen vor, die sie zum Teil im Selbstverlag veröffentlicht haben, manche Auszüge erschienen auch in Zeitschriften.98 Die Darstellungen sind – wie bei allen retrospektiv verfassten oder bearbeiteten Texten – je nach Adressiertheit entsprechend tendenziös. In einer dem zehnten Jubiläum der Republiksgründung gewidmeten Ausgabe der Zeitung Die Unzufriedenen beschrieb Karoline L. 1928 ihren Dienst bei der 93 Heinrich Marek (geb. 1880), Tagebuch, o. D. [Sommer/Herbst 1914], SFN NL 172. 94 Christine Stephani (geb. 1898), Brief an Hermann Stephani (geb. 1864), 13. August 1914, SFN NL 177. 95 Bernhardine Alma (geb. 1895), Tagebuch, 8. Mai 1915, SFN NL 9 I. 96 Hämmerle, Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, 20–21. 97 Bernhardine Alma (geb. 1895), Tagebuch, 25. April 1915, SFN NL 9 I. 98 Christa Hämmerle, Seelisch gebrochen, körperlich ein Wrack … Gewalterfahrungen von Kriegskrankenschwestern, in: dies. (Hg.), Heimat/Front, 27–53, hier 29–30.

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Feldpostverwaltung, der sie Anfang 1918 von Galizien über Südtirol nach Frankreich führte. Sie berichtete von Schlechterstellungen der Frauen gegenüber Soldaten beim Transport, aber auch von der Sexualisierung ihrer Anwesenheit in der Etappe. So habe sie ein „Oberoffizial“ „zur Rede“ gestellt: „ich solle ja nicht vielleicht eine Liebschaft mit so einem [gewöhnlichen Soldaten] anfangen; ich solle mich lieber an die Offiziere halten.“ Ein Offizier verübte schließlich einen sexuellen Übergriff auf sie. Karoline L. konnte sich wehren, meldete aber nichts, da sie annahm, dass ihr niemand glauben würde.99 Entsprechend der oben geschilderten Vorurteile lag sie hier wahrscheinlich auch richtig. Der „Frauenbeirat“ organisierte die kriegsbedingte „Wohltätigkeitsarbeit“. Als sein Mitglied trat Marianne Hainisch aber auch dezidiert für die Nachbesetzung von vakanten Stellen durch Frauen ein, womit sie die Erwerbsarbeitsmöglichkeiten bürgerlicher Frauen förderte. Dabei betonte sie seit 1915 die Notwendigkeit berufsorientierter Ausbildungen, die Frauen den Zugang zu besser qualifizierten Positionen eröffnen würden.100 Von anderen offiziellen Seiten wurde bald die Wiedereingliederung von rückgekehrten Männern als zukünftiges Problem identifiziert. Schon im März 1917 wurde das „Generalkommissariat für Kriegs- und Übergangswirtschaft“ zur Regelung des Arbeitsmarkts eingerichtet, das den Soldaten ein Anrecht auf ihre früheren Arbeitsplätze zusprach. Nur Kriegerwitwen und Frauen bzw. Töchter von Kriegsinvaliden sollten auf ihren Posten bleiben, alle anderen Frauen sollten in die ihnen zugewiesene Land- und Hauswirtschaft zurückkehren. Kriegsheimkehrer wurden jedenfalls vorgezogen. Diese Position vertrat auch die im Jänner 1918 als Teil des 1917 neu eingerichteten „k. k. Ministeriums für soziale Fürsorge“ geschaffene „Kommission für Frauenarbeit“. Zwar auf Initiative von katholischen und deutschnationalen Frauenpolitikerinnen entstanden, waren unter den zwölf ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen Frauen aus dem gesamten politischen Spektrum vertreten, darunter drei Sozialdemokratinnen.101 Geschlechterspezifische Ausschlüsse aus der Erwerbsarbeit wurden durch sozialpolitische Maßnahmen befeuert, die Frauen von Leistungen der Arbeitslosenfürsorge und -versicherung ausnahmen.102 Das Blatt der Hausfrau kommentierte die Verdrängung der „weiblichen Hilfskräfte“ im Februar 1919 so: „Daß das Ende kommen mußte, war 99 Karoline L., Die Frau im Trommelfeuer, in: Die Unzufriedene (1928) 45, 12f. 100 Königshofer, „Ich arbeite, suche zu helfen, zu lindern …“, 45. 101 Dazu u. a. Andrea Lösch, Staatliche Arbeitsmarktpolitik nach dem Ersten Weltkrieg als Instrument der Verdrängung von Frauen aus der Erwerbsarbeit, in: zeitgeschichte 14 (1986/ 87) 8, 313–329; Schmidlechner, Die neue Frau?, 90f.; Gabriella Hauch, Ambivalenzen in Transformation und Kontinuität. Zur Frage der Geschlechterverhältnisse in der „jungen“ Republik Österreich 1918ff., in: Kriechbaumer et al. (Hg.), Die junge Republik, 153–165, hier 160. 102 Lösch, Staatliche Arbeitsmarktpolitik nach dem Ersten Weltkrieg, 325.

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unausbleiblich“, denn keine der Frauen, „die jetzt brotlos geworden, […] wird wünschen, daß um ihretwillen ein Mann, der im Felde gekämpft und gelitten, […] nun auch noch seine bürgerliche Stellung verliere“. Dennoch wurde vorsichtig Kritik an der überstürzten „Demobilisierung“ geübt, welche „notgedrungen bitteres Elend zur Folge hatte“. Die Frauen müssten durch „saure Arbeit das tägliche Brot“ nun eben „stolz“ in anderen Sparten verdienen. Davon betroffen wären Beamtinnen aus Banken und Versicherungsgesellschaften, „die Briefträgerinnen ziehen ihre Uniform aus, die Schaffnerinnen der Straßenbahn werden immer seltener, Fahrerinnen legen Kuppe und Zügel nieder. Bald werden Gasuhrkontrollieren und Wassernachfüllen wieder männliche Beschäftigungen sein“, zeichnete das Blatt der Hausfrau ein betont neutral gehaltenes Bild.103 Doppelt benachteiligt waren Frauen, die für die Kriegsindustrie des Kaiserhauses gearbeitet hatten, nun aber aufgrund der neu gezogenen Staatsgrenzen plötzlich als „Ausländerinnen“ galten. Ida Wallesch, die zuvor in der Munitionsfabrik Wöllersdorf in Niederösterreich gearbeitet hat, beschrieb diese Situation in der KPÖ-Zeitschrift Die Arbeiterin folgendermaßen: „Da tagtäglich von der Front zurückkehrende Deutschösterreicher in der Fabrik aufgenommen werden mußten, war es notwendig, die nunmehrigen Ausländer zu entlassen. Das waren größtenteils Frauen. So bekamen wir denn 100 Kronen Abfertigung für unsere zugrundegerichteten Nerven und viele mit zerschmetterten Gliedern wurden abgeschickt. Was ging es die Herren noch an, ob wir Arbeit fanden oder nicht. So traurig der Kriegsbeginn, der Krieg überhaupt, so traurig war auch das Kriegsende.“104

Viele Frauen waren aufgrund der gezielt geschlechterspezifischen Regulierung des Arbeitsmarktes nun auf die prekäre Heimarbeit angewiesen, zahlreiche von ihnen auch auf die Sexarbeit.105 Insgesamt hatten die Erfahrungen mit der Streikbewegung der vergangenen Jahre aber durchaus Auswirkungen auf die Arbeitskämpfe von Frauen nach 1918. Als die sozialdemokratische Stadtverwaltung in Wien nach Kriegsende kolportierten 3.000 Schaffnerinnen die „freiwillige“ Kündigung empfahl, womit sie ihren Anspruch auf Abfertigungen und Arbeitslosenunterstützung verloren hätten, kam es zu weitreichenden Protesten. Die Stadt Wien sah sich zu Zugeständnissen gezwungen und die Frauen erhielten immerhin die genannten Versicherungsleistungen.106 Für bürgerliche Frauen war nach Ende des Ersten Weltkriegs durch die gänzlich geänderten formalen Bildungs- und damit Berufsmöglichkeiten allerdings auch ein neuer Möglichkeitsraum entstanden: 1919 wurden Mädchen in Österreich regulär zum Besuch von öffentlichen Gymnasien 103 104 105 106

Regine Ulmann, Neue Erwerbsmöglichkeiten, in: Blatt der Hausfrau (1919) 18, 10. Ida Wallesch, Kriegserinnerungen einer Arbeiterin, in: Die Arbeiterin (1928) 8/9, 3. Ma-Kircher, Die Frauen, der Krieg und die Stadt, 79. Hannes Hofbauer/Andrea Komlosy, Das andere Österreich. Vom Aufbegehren der kleinen Leute. Geschichten aus vier Jahrhunderten, Wien 1987, 160.

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zugelassen und zum ordentlichen Studium an den (meisten) Universitäten und Hochschulen. Damit war eine der zentralen Forderung der Bürgerlichen Frauenbewegungen erfüllt. Frauen arbeiteten in der Zwischenkriegszeit vermehrt im öffentlichen Dienst, als Büroangestellte, im Sozialbereich oder als Krankenschwestern. Dass sie sich dabei zumeist am unteren Ende der Berufshierarchie bewegten, ist jener Umstand, den Karin Maria Schmidlechner treffend als „Paradoxon von Fortschritt und Rückschritt“ charakterisiert hat.107

5.)

Ausblick: Welche Un_Ordnung durch welche Partizipation?

Diskussionen rund um die Frauenerwerbsarbeit rekurrierten oft auf die geschlechtsspezifisch konstruierte Idee eines männlichen Familienernährers und Haushaltsvorstands, die bedroht schien. In Feldpostbriefen wurde versucht, dieses bisherige Verhältnis schriftlich aufrechterhalten. Bauern schrieben an ihre Frauen, was am Hof zu tun sei: „Schreib mir […] wie es wachst und ob du auch das Vieh in die Alpe bringst“,108 Investoren wiesen sie aus der Ferne in Geschäftsgebaren ein.109 Mütter berichteten ihrerseits von der Entwicklung der Kinder. Beide Seiten versicherten sich postalisch ihre Liebe und Sehnsucht. Die Forschung hat plausibel herausgearbeitet, dass mittels dieser schriftlichen Bestätigungen eine „Normalität“ aufrechterhalten werden sollte. Da das die Durchhaltekraft stärkte, konnte dadurch paradoxerweise die Kriegssituation und damit die ungewünschte Trennung aber auch verlängert werden.110 Dass Frauen während der Abwesenheit der eingerückten Männer de facto die Familienvorständinnen waren, blieb in den Korrespondenzen ausgespart, solange sie diese Position nicht aktiv beanspruchten. Die Brüchigkeit dieses Konstrukts wird in den Quellen sichtbar, wenn es doch zu Konflikten kam, wie im Fall von Mathilde Hanzel-Hübner, die Anfang 1918 offenbar eine finanzielle Entscheidung getroffen hat, ohne zuvor ihren Ehemann deswegen zu fragen. Die Folge war ein Streit, der über mehrere Briefe hinweg ausgetragen wurde, wobei Hanzel-

107 Schmidlechner, Die neue Frau?, 97f. 108 Alois R. (geb. 1869), Brief an Maria R. (geb. 1881), 31. Mai 1916, zit. nach Brigitte Strauß, „Ich weiß nicht mehr was anfangen“. Das Ehepaar Maria und Alois R. aus Trens, in: Südtiroler Landesmuseum für Volkskunde (Hg.), Höfe ohne Männer, 78–94, hier 84. 109 Adolf Müller (geb. um 1880), Brief an Louise Müller (geb. 1886), 8. September 1917, SFN NL 14 III. 110 Dazu u. a. Christa Hämmerle, Gewalt und Liebe – ineinander verschränkt. Paarkorrespondenzen aus zwei Weltkriegen: 1914/18 und 1939/45, in: Ingrid Bauer/Christa Hämmerle (Hg.), Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017, 171–203.

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Hübner am Ende feststellte, „eine gleichberechtigte, also nicht untertane Frau“ zu sein.111 Es sind schließlich zahlreiche Beispiele belegt, was Frauen alleine entschieden oder unternommen haben, um ihre persönliche Situation zu verbessern. Sie traten u. a. eigeninitiativ an Ämter, Behörden und Vorgesetzte heran, um Vorteile für sich, ihre Männer oder ihre Familie zu erreichen. Die Weinbäuerin Elisabeth W. aus Temes Szepafaln im Banat richtete per Brief eine Bitte an den Kommandanten ihres Ehemanns, ihm Urlaub zu gewähren, damit er zuhause dringende Arbeiten verrichten könne: „Mein Man W. Johan ist seith voriches Jar noch nicht zuhause gewesen, u. ich habe mich im Weidenrutten weiß Schellen [Abschälen von Weiden] verkült, […] u jetz sol im Weingarten gehackt u geschprizt werden u ich bin für die Arbeit zu Schwach.“112 „Mehrere Reservistenfrauen samt Kinder in Ottakring“ schrieben im Juni 1917 direkt an den Kaiser mit der Nachfrage „warum bis Heute wir noch keinen Unterhalts-Erhöhungsbeitrag noch nicht erhielten, der doch schon seit 1. April das ist heute bereits 2 Monaten derselbe fällig ist?“113 Die Modistin Christl Wolf plante ihrerseits, gleich selbst im Kriegsministerium vorzusprechen, um eine Versetzung ihres Ehemannes von der Front in eine weniger lebensgefährliche Umgebung zu erwirken.114 Bei diesen Petitionen handelte es sich einerseits um Strategien zur Verbesserung oder Absicherung des Familieneinkommens, andererseits aber auch um Protest- oder Widerstandsformen, die dieser Beitrag beleuchtet hat. Frauen, die sich zusammenschlossen, um den Kaiser aufzufordern, die ihnen zustehenden Sozialleistungen auszuzahlen, haben jedenfalls konventionelle Grenzen überschritten. Grenzüberschreitungen fanden auch von Seiten der Männer statt. Väter wie der Wiener Finanzverwaltungsbeamte Adolf Müller haben sich ausführlich mit der Organisation von Lebensmitteln beschäftigt, Preise verglichen und sich gegebenenfalls brieflich in Abläufe des Familienalltags eingemischt, die sie unter anderen Umständen vermutlich weniger beschäftigt hätten: „Otto [der ältere Sohn im Volksschulalter] [hat] so schwarze Ringe um die Augen […]. Dem hätte es nicht geschadet, wenn er recht viel Milch getrunken hätte.“115 Die mit einem Rechtsanwalt verheiratete 31-jährige Wienerin Julie Söllner brachte diese Un_Ordnung auf den Punkt: „Wie sonderbar mutet es uns doch an, wenn 111 Ines Rebhan-Glück, Liebe in Zeiten des Krieges. Die Feldpostkorrespondenz eines Wiener Ehepaares (1917/18), in: ÖGL 56 (2012) 3, 231–247, hier 241. 112 Elisabeth W. (persönliche Daten unbekannt), Bittbrief an Friedrich Weber (geb. 1886), 5. September 1917, SFN NL 21 II. 113 Manuela Hauptmann, Frauenprotest und Beamtenwillkür. Die Unterhaltsbeitragszahlungen im Ersten Weltkrieg in Norm und Praxis, in: ÖGL 56 (2012) 3, 247–258, hier 254. 114 Christa Hämmerle, „Schau, daß Du fort kommst! Feldpostbriefe eines Ehepaares, in: dies., Heimat/Front, 55–83. 115 Adolf Müller (geb. um 1880), Brief an Louise Müller (geb. 1886), 18. September 1918, SFN NL 14 III.

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Männer anfangen über die verschiedenen Mehl- und Brotsorten zu dozieren, jetzt ist Mais- oder Roggenbrot den meisten wichtiger als Schiller und Goethe.“116 Die detaillierten Erläuterungen zu Themen der Ernährung, aber auch zu den Abläufen politischer Ereignisse in Tagebüchern von Kindern und Jugendlichen zeigen wiederum, dass im Ersten Weltkrieg auch generations- bzw. altersbedingte Grenzen aufgehoben wurden. Diese Aspekte noch weiterführend zu analysieren, wäre lohnenswert. Die als solche benannten „Notwendigkeiten der Zeit“,117 die im eingangs wiedergegebenen Zitat der Arbeiterinnen-Zeitung beschworen wurden, brachten stereotype Vorstellungen der Rolle von Frauen ebenso in Un_Ordnung wie jene der Männer – und schließlich auch jene von Jugendlichen und Kindern. Am Beispiel der Themenfelder Versorgung, Protestbewegungen, Wahlrecht und (Erwerbs-)Arbeit skizziert dieser Beitrag teilweise grundlegende Verschiebungen. Die historischen AkteurInnen sind dabei selbst zu Wort gekommen. In ihren Selbstzeugnissen zeigt sich, dass die „Österreichische Revolution“ nicht nur staatspolitische Dimensionen hatte, sondern auch maßgebliche Auswirkungen auf das gesellschaftliche Gefüge und in der Folge auf die individuellen Verhältnisse der Einzelnen. Zumindest in der Zeit hatten sich verschiedene Handlungsspielräume für Frauen geöffnet, ob freiwillig, erwünscht und erkämpft – oder nicht.

116 Julie Söllner (geb. 1874), Tagebuch, 8. April 1915, SFN NL 52. 117 Arbeiterinnen-Zeitung, 22. Oktober 1918, 1.

Abstracts

World Turning Point? The political upheaval of 1918/19 and the question of the nature of the “Austrian Revolution” Maria Mesner Unrest in the Country: The Austrian transition to democracy after World War I outside of Vienna On the basis of archival material produced by state authorities in charge of internal security and contemporary local newspapers this paper focuses on events taking place in Austria during the “Austrian revolution” (Otto Bauer) outside its urban centers. It reconstructs local actors, their political views and aims and asks for potentials of profound social change towards socialisms, workers’ councils and a soviet republic. The author shows that the dissolution of the monarchy created a void which was filled by various “councils” of workers, citizens or peasants which mainly stepped in in order to uphold local internal security and food supply. Plans for further social transformation following the model of the Bavarian and the Hungarian Soviet Republics only emerged if members of political organizations like the Communist Party of Austria became involved in local unrest. Key words: Social Unrest, Rural Communities, Austrian Revolution

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Veronika Helfert “Yes, we made high politics in the workers’ council back then!” On the promise of the council system: an instrument for self-organisation and self-empowerment The end of the First World War and the collapse of the Habsburg Monarchy meant a new beginning for many people in the newly founded Republic of (German) Austria, which they not only welcomed with joy, but also wanted to participate in. This article examines the council movement in the first post-war years from a democracy-historical perspective. Subjects of a monarchy became citizens. The extension of the right to vote at all levels and the experiences of the war reformulated the relationship of citizens to the state and established forms of political organisation, but also agitation, changed profoundly. What opportunities for activism did the workers’ councils open for previously unorganised people and what democratic negotiation processes emerged in the process? The attractiveness of the idea of workers’ councils in Austria and their function as an instrument of self-organisation and self-empowerment is explored on the basis of different examples. Key words: Workers Councils, Austrian Revolution, Female Experience

Li Gerhalter / Ina Markova Genderspecific Dis_Order in Austria 1914–1920: The “Austrian Revolution” in Diaries and Letters Focusing on letters and diaries, this article examines how contemporaries tried to make sense of changes that occurred in the course of the “Austrian revolution” around 1918. These changes were often perceived of as revolutionary and related to aspects specific to categories such as gender, age and class. We examine different forms of possible participation in said revolutionary context, focusing on the topics of care, protest movements, the right to vote and (gainful) work. Women, men and children of different social backgrounds and political convictions described these years as a period of disorder, bearing in themselves previously unimaginable challenges but also opportunities. Personal papers show that the “Austrian Revolution” not only had dimensions of state politics, but also had an impact on the individual level. Key words: First Republic, Female Experience, Austrian Revolution

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Margit Berner, Letzte Bilder. Die „rassenkundliche“ Untersuchung jüdischer Familien im Ghetto Tarnów 1942, hg. v. Stiftung Topographie des Terrors, Berlin/Leipzig: Hentrich & Hentrich 2020, 292 Seiten. Tarnów, Frühjahr 1942. Wenige Wochen bevor die deutsche Okkupationsverwaltung die vollständige Abriegelung des örtlichen Ghettos anordnete, fotografierten und vermaßen die beiden Wiener Anthropologinnen Elfriede Fliethmann (1915–1987, später verh. Henseling) und Dorothea ,Dora‘ Maria Kahlich (1905– 1970, Geburtsname Könner) mehr als 100 jüdische Familien. Die Stadt des ehemals österreichischen Kronlandes Galizien galt als maßgebliche Herkunftsregion jener Jüdinnen und Juden, die um die Jahrhundertwende infolge von wirtschaftlicher Not und Pogromen in den Westen emigriert waren. Viele dieser (unter dem vorurteilsbehafteten Sammelbegriff „Ostjuden“1 subsumierten) Menschen wurden in Wien in den späten 1930er-Jahren „rassenkundlich“ untersucht.2 In Tarnów wollten die Absolventinnen der Wiener Universität Vergleichsdaten erheben – im augenscheinlichen Wissen um die herannahende „Endlösung“, wie eine amikale Korrespondenz zwischen den beiden Frauen belegt.3 Empathie mit ihren todgeweihten Probandinnen und Probanden sucht man in den erhalten gebliebenen Briefen vergeblich. Kurz nach der „rassenkundlichen“ Aufnahme wurden tausende Jüdinnen und Juden in den Straßen Tarnóws erschossen, tausende weitere in Arbeits- und Vernichtungslager verschleppt und ermordet. Die Überreste der unter Zwang erfolgten anthropometrischen Erfassung, darunter mehr als 500 Porträtfotografien, gelangten in den 1980er-Jahren aus dem Nachlass Kahlichs an das Naturhistorische Museum, wo sie in die Hände der wissenschaftlichen Mitarbeiterin und Kuratorin Margit Berner fielen. Die Humanbiologin und Anthropologin hat – neben zahlreichen Veröffentlichungen zu anthropologischen Themengebieten – kontinuierlich zur „sensiblen Samm-

1 Wie die Verunglimpfung dieser sogenannten „Ostjuden“ als vermeintliche Gefahr die Errichtung von Ghettos durch die Nationalsozialisten beeinflusste, zeigte Dan Michman auf. Dan Michman, Angst vor den „Ostjuden“. Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust, Frankfurt am Main 2011. 2 Vgl. Brigitte Fuchs/Dora Maria Kahlich-Könner, in: Brigitta Keintzel/Ilse Korotin (Hg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien (u. a.) 2002, 339– 342, hier 341; Maria Teschler-Nicola/Margit Berner, Die Anthropologische Abteilung des Naturhistorischen Museums in der NS-Zeit. Berichte und Dokumentation von Forschungsund Sammlungsaktivitäten 1938–1945. Senatsbericht, 21f., URL: https://www.nhm-wien.ac .at/jart/prj3/nhm-resp/data/uploads/mitarbeiter_dokumente/berner/Senatsber.pdf (abgerufen am 30. 3. 2021). 3 Unter anderem zitiert in: Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991.

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lung“4 des anthropologischen Depots sowie allgemein zur Geschichte ihrer Disziplin publiziert. Das nun vorliegende Werk, erschienen als dritter Teil der Reihe „Notizen Visuell“ der Stiftung „Topographie des Terrors“, ist das eindrucksvolle Resultat von knapp zwei Jahrzehnten nebenberuflich (!) betriebener, akribischer Recherchen. Stiftungsdirektorin Andrea Riedle hat das Vorwort verfasst, Götz Aly fungierte als Fachlektor. Reich bebildert und mit integrierter englischer Übersetzung von Jefferson Chase, dient das Buch zugleich als Begleitband zur Wanderausstellung „Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów“.5 Kleinere formale Monita6 sind in Gesamtschau dieses wichtigen und überaus gelungenen Werkes unerheblich und können bei einer allfälligen Neuauflage nachgebessert werden. Die erhobenen Daten und Fotos aus dem Jahr 1942 dienten Margit Berner als Ausgangspunkt. Trotz der überaus dürftigen Aktenlagen – von Tarnów sind weder namentliche Aufzeichnungen noch andere Dokumente der jüdischen Gemeinde erhalten geblieben – gelang es ihr, ergänzendes Archivmaterial von Opfern sowie mündliche und schriftliche Zeugnisse von Überlebenden in Polen, Israel, Deutschland und den USA zu erschließen. Das Herzstück des Buchs sind die über hundert auf diese Weise rekonstruierten Familienporträts, welche die „Todeswege der vielen und die Überlebenspfade der wenigen“ (S. 17) nachzeichnen. Einer der wenigen Überlebenden, die von der Autorin identifiziert werden konnten, war Victor (Wiktor) Dorman (1923–2010). Sein Vater Szyja und seine Mutter Pessla wurden bei der ersten „Aktion“ der Nationalsozialisten im Juni 1942 ermordet, er und seine Geschwister Sala und Teodor wurden ins Tarnówer Ghetto verbracht. Victor Dorman überstand weitere Verlegungen nach Plaszow und Mauthausen, 1945 wurde er in Ebensee befreit. Teodor wurde erschossen, über Salas weiteres Schicksal ist nichts bekannt – nach seiner Befreiung suchte ihr Bruder vergeblich nach ihr. In Bad Nauheim traf er seine spätere Gattin Ellen Wiener, die er bereits in Plaszow kennengelernt hatte. Die beiden emigrierten in die USA, wo Victor Dorman seinen lang gehegten Berufswunsch erfüllte und als Designer und Modellschneider arbeitete. Im Jahr 1989 hinterlegte Victor Dorman für seine Familie Gedenkblätter in Yad Vashem (S. 68–71).

4 Margit Berner/Anette Hoffmann/Britta Lange, Sensible Sammlungen: Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011. 5 Die Ausstellung residiert(e) planmäßig von Oktober 2020 bis April 2021 in Berlin (Stiftung Topographie des Terrors) und von Mai bis November 2021 im Wiener Haus der Geschichte Österreich. 6 Beispielsweise wird Elfriede Fliethmann im Vorwort fälschlich als „Elisabeth“ bezeichnet; weiters stimmen die Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis nicht mit den tatsächlichen Seitenzahlen überein.

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Rachela Hinda Engelhardt, geborene Goldstein (1922–2017), hatte noch Jahrzehnte später vage, aber nichtsdestotrotz grauenhafte Erinnerungen an die anthropologischen Untersuchungen der Wissenschaftlerinnen, die sie als 20Jährige über sich hatte ergehen lassen müssen: „Eines Tages mussten wir zu den Deutschen zum Fotografieren gehen. Ich kann mich nicht genau erinnern. Sie nahmen uns alle nackt auf. Wir mussten nackt sein. Meine Mutter, auch eine Schwester mussten sich nackt fotografieren lassen. Das war ein schreckliches Erlebnis für uns. Aber was dir die Deutschen befahlen, musstest du tun.“7

Rachela war, wie ihre 13 Geschwister, in Krakau als Tochter des Kaufmanns Berisch Jakob Goldstein und seiner Gattin Tauba zur Welt gekommen. Kurz vor der Errichtung des Krakauer Ghettos musste die Familie die Stadt verlassen. Beinahe mittellos wohnten sie in Tarnów zusammen in einem Zimmer. Als die Deportationen begannen, wurde die Familie auseinandergerissen. Rachela verblieb zunächst im örtlichen Ghetto, wurde dann aber nach Plaszow und später nach Leipzig zur Zwangsarbeit deportiert. Nach ihrer Befreiung suchte Rachela in Krakau vergeblich nach ihren Familienmitgliedern. 1951 emigrierte sie in die USA, wo sie Chaim Engelhardt heiratete. An den Ort ihrer Geburt kehrte sie nie mehr zurück, die Erinnerungen daran waren „zu schmerzhaft“ (S. 109–113). Die zahlreichen Familienporträts sind in Blöcken gesammelt und werden von informativen kontextuellen Abschnitten durchbrochen. Die „rassenkundliche Typisierung“ galizischer Jüdinnen und Juden, mittels derer Vorurteile „in angeblich empirisch belegbare ,Wissenschaft‘“ (S. 221) transformiert wurden, wird ebenso thematisiert wie die desaströsen Folgen der Nazi-Ideologie für die rund 30.000 Tarnówer Jüdinnen und Juden. Ein Abschnitt über das jüdische Leben in Tarnów vor der NS-Okkupation basiert auf einem historischen Abriss, den Mitglieder des örtlichen Judenrats für die Forscherinnen aus Wien verfassen mussten; diesen unter Zwang entstandenen Ausführungen stellte die Autorin Schilderungen von Überlebenden über ihre „lebendige Stadt“ (S. 62) vor dem Naziterror gegenüber. Einen weiteren Einblick in die Zeit vor 1939 bietet die Transkription eines jiddischen Originaltexts, den der überlebende Rabbiner Yehuda Arie Leib Geffen 1954 in einem Erinnerungsbuch für die zerstörte jüdische Gemeinde von Tarnów niedergeschrieben hatte. Dem Postulat nach einer „integrierten“ Erzählung von Opfer- und Tätergeschichten8 ist mit dieser Darstellung überzeugend Rechnung getragen. Was den 7 Rachela Engelhardt (1996), USC Shoah Foundation, VHA, Interview 11624 zit. nach: Margit Berner, Letzte Bilder. Die »rassenkundliche« Untersuchung jüdischer Familien im Ghetto Tarnów 1942, hg. v. Stiftung Topographie des Terrors, Berlin/Leipzig 2020, 187. 8 Saul Friedländer, Eine integrierte Geschichte des Holocaust, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2007), 14–15, 7–14; Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007.

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visuellen Zugriff betrifft, so wäre eine analytische Auseinandersetzung hinsichtlich der Debatte zur Repräsentation von Archivfotos aus Täterdokumenten der NS-Zeit und deren Ausstellung9 doch interessant gewesen. Berners klug gewählter Weg der Dekonstruktion liegt darin, diesen „kalten“ anthropometrischen Frontal- und Profilporträts, die kriminalpolizeilich-erkennungsdienstlichen Fotos ähneln10 und als „Verbrecherfotos“ somit eine negative Konnotation transportieren, nach Möglichkeit freiwillig aufgenommene Familienbilder oder Passfotos als „Gegengewicht“ (S. 16) gegenüberzustellen. Von zahlreichen der im Buch porträtierten Menschen sind diese Fotos die letzten erhalten gebliebenen Lebenszeugnisse, was ihre Darstellung nicht nur gerechtfertigt, sondern vielmehr unerlässlich erscheinen lässt. Lisa Gottschall

Peter Svik, Civil Aviation and the Globalization of the Cold War, Cham/Switzerland: Palgrave Macmillan 2020, 245 Seiten. Trotz negativer Folgen für das Klima waren kontinuierlich wachsende Passagierund Flugzahlen bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie fester Bestandteil der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts. Nicht zuletzt für international aktive HistorikerInnen gehörte es zur Normalität, regelmäßig zu Konferenzen, Meetings und natürlich auch in den Urlaub zu fliegen. Um zu verstehen, wie die Zivilluftfahrt unserer Tage zur Selbstverständlichkeit werden konnte, muss man ihre Entwicklung während des Kalten Kriegs studieren. Peter Svik ist der erste Historiker, der sich des Themas aus globaler und transnationaler Perspektive angenommen hat. Den Titel seines Buches „Civil Aviation and the Globalization of the Cold War“ könnte man durchaus variieren: „The Cold War and the Globalization of Civil Aviation“ wäre ebenso treffend gewesen. Svik macht deutlich, wie essenziell die Rivalität zwischen Ost und West für die Globalisierung der Zivilluftfahrt seit den 1990er-Jahren war. Damit ist auch gesagt, dass seine Studie weit über einen Beitrag zur Technologiegeschichte des Kalten Kriegs hinausgeht. Das Buch fußt auf einem breiten Spektrum östlicher und westlicher Quellen. Ausgehend von zentralen Debatten der gegenwärtigen Forschung zum Kalten 9 Bekanntermaßen lehnte etwa Claude Lanzmann Aufnahmen aus der Täterperspektive kategorisch ab. 10 Susanne Regener (u. a.) hat sich in ihrer Habilitation „Fotografische Erfassung: Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen“ (1999) mit dieser Thematik befasst.

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Krieg, wählt der Autor einen multiperspektivischen Zugang, der auf eine Zusammenführung verschiedener Forschungsstränge abzielt. Die der Luftfahrt inhärente Transnationalität eignet sich besonders gut, um zwischen der Makround der Mikroebene zu wechseln und Entwicklungen und Interaktionen über den Ost-West-Gegensatz hinweg zu erläutern. Die zugrundeliegende Hochtechnologie erlebte im Kalten Krieg einen enormen Schub, der es ermöglichte, Diskussionen über „hard“ und „soft power“ zusammenzuführen. Wie auch im Falle des Internets veränderte die zivile Nutzung ursprünglich militärischer Entwicklungen die Welt nachhaltig. Bereits in der Einleitung wird deutlich, wie prestigeträchtig weltweit sichtbare Errungenschaften bei der Entwicklung des Flugzeugbaus waren. Daraus konnten auch skurrile Situationen resultieren: So musste sich Nikita Chruschtschow bei seinem USA-Besuch 1959 über eine Zusatzleiter aus dem Flugzeug hinab hanteln, da keine gängige Gangway mit der Ausstiegshöhe der gigantischen Tupolew Tu-114 kompatibel war. Die Teilung der Welt im frühen Kalten Krieg machte auch vor der Zivilluftfahrt nicht halt, ja sie erfolgte bereits in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Dies lag primär an der Nichtteilnahme der Sowjetunion an der Ordnung der internationalen Luftfahrt durch Abkommen. Svik illustriert die Frühphase auf der Mikroebene am Beispiel der Tschechoslowakei, die bereits in der Zwischenkriegszeit ein ambitionierter Zivilluftfahrtakteur war. Nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 wurden die internationalen Rahmenbedingungen für die ˇ eskoslovenské státní aerolinie (C ˇ SA) schwieriger, sie verlor zusehends ihre C Landerechte in Westeuropa. Ihre Geschichte begleitet durch das Buch und macht zahlreiche globale Entwicklungen im Kleinen anschaulich. Immer wieder wurde sie von der seit Mitte der 1950er-Jahre von der (um den Ausbau des Liniennetzes der Aeroflot im Westen und im globalen Süden bemühten) Sowjetunion vorgeschickt – nicht zuletzt auch bei der Etablierung von Flügen nach Kuba. Parallel dazu engagierten sich die sozialistischen Staaten beim Aufbau nationaler Fluglinien in Entwicklungsländern. Beispiele von Problemen bei Finanzierung und Technik zeugen, trotz großem Engagement, von einer im Vergleich zur westlichen Luftfahrtindustrie zumindest auf längere Sicht geringeren Konkurrenzfähigkeit. Die damals weltweit führende Luftfahrtnation USA sah in den sowjetischen Aktivitäten zunächst eine Gefährdung ihrer nationalen Sicherheit, konnte diesen aber nicht immer etwas entgegensetzen. Beispielsweise lag die Erteilung von Überflug- und Landerechten (die nach der kubanischen Revolution an globaler Bedeutung gewonnen hatte) im Ermessensspielraum souveräner Staaten. Erst nach überstandener Kuba-Krise lockerte sich die US-ContainmentPolitik im Bereich der Zivilluftfahrt. Die Geschichte der Luftfahrtbeziehungen zwischen den USA und der UdSSR ist jedoch vielschichtiger, als es der Blick auf die heißen Phasen des Kalten Kriegs vermuten ließe. In der Zwischenkriegszeit gab es unter den sowjetischen Ex-

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perten durchaus eine gewisse Faszination für US-Technik. Die folgende Phase der Nichtteilnahme an der internationalen Kooperation am Ende des Zweiten Weltkriegs war primär sicherheitspolitischen Bedenken geschuldet (militärtechnische Überlegungen und Luftraumüberwachung). Danach verzögerten die sowjetischen Abschüsse von US-Spionageflugzeugen (am bekanntesten jener der U-2 im Jahr 1960) während der schwelenden zweiten Berlin-Krise und schließlich der Mauerbau die bilateralen Verhandlungen über ein Zivilluftfahrtabkommen. Erst nach 13 Jahre dauernden Gesprächen wurde 1968 ein Direktflug zwischen Moskau und New York etabliert. Während auf östlicher Seite das Bemühen um transatlantische Verbindungen im Vordergrund stand, war auf westlicher Seite das Bestreben, globale Flugrouten (beispielsweise zwischen Japan und Europa) zu verkürzen, eine zentrale Triebkraft für die sich intensivierenden Ost-West-Verhandlungen im Bereich der Zivilluftfahrt. Dabei kam dem sowjetischen Luftraum über Sibirien eine zentrale Rolle zu. Dass die Verhandlungen nur langsam vorankamen, war sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Reziprozität und Konditionalität geschuldet. Das Patt lockerte sich erst in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre auf, nicht zuletzt, da auch die Verbündeten der beiden Supermächte ihre eigenen Zivilluftfahrtinteressen verfolgten und dementsprechend eigene Wege gingen. Hier liegen auch die Wurzeln des Airbus-Projekts, das sich zu einer der wenigen EU-europäischen Erfolgsgeschichten im Technologiesektor entwickelte. In den frühen 1970er-Jahren wurden schließlich die langersehnten neuen globalen Routen etabliert, auf denen die Zivilluftfahrt bis heute abgewickelt wird. Svik macht deutlich, dass nicht nur Sicherheitsbedenken, sondern auch technische Inkompatibilitäten bei den Bordinstrumenten für die lange Vorlaufzeit verantwortlich waren und schließlich eine Anpassung an westliche Standards erfolgte. Nun dürstete die im Sputnik-Zeitalter auch bei der Entwicklung der Luftfahrt große Fortschritte verbuchende Sowjetunion nach westlicher, insbesondere nach US-Technologie. Nachdem die langwierigen Verhandlungen der Supermächte über ihre Luftfahrtbeziehungen im Kontext der Détente der 1970er-Jahre vorangekommen waren, trübte sich die internationale Lage bereits bald wieder ein und Sicherheitsbedenken gewannen erneut die Oberhand. Die Nachrüstungsdebatte, der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979 und die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 hatten massive Rückwirkungen auf die zivile Luftfahrt zwischen den USA und der UdSSR. Anfang 1982 wurden die Landerechte der Aeroflot in den USA suspendiert. Doch der schwerste Zwischenfall stand erst bevor. Svik zeigt auf, dass die Sowjetunion in jenen Jahren wiederholt zivile Flüge durch vorsätzliches Abweichen von vereinbarten Flugrouten zu Spionagezwecken missbrauchte – ein Vorgehen, das sie in ihrem Luftraum nicht duldete.

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Bereits im Jahr 1978 hatte sie ein Flugzeug der Korean Airlines mit Waffengewalt vom Himmel geholt. Dieser Zwischenfall wurde der Fahrlässigkeit der Crew zugeschrieben und als solcher anerkannt. 1983 kam es zum weitaus bekannteren Abschuss von Flug KAL 007 den Svik detailliert nachzeichnet und dessen Ablauf durchaus das Potenzial für einen Kurzfilm im Stil der 2019 ausgestrahlten Erfolgsserie über den Reaktorunfall in Tschernobyl hat. Weder atomare Katastrophen (Fukushima 2011) noch Flugzeugabschüsse vergleichbarer Art (Ukraine 2014, Iran 2020) haben ihre Aktualität eingebüßt. Der Abschuss und die nachweislich (teil)unwahre sowjetische Rechtfertigung ließen international die Wogen hochgehen und sorgten für eine Eiszeit in den Luftfahrtbeziehungen der Supermächte. Eine einheitliche (gemeinsame Sanktionen umfassende) Reaktion konnten die USA unter ihren Verbündeten aber nicht (oder nur bedingt) durchsetzen. Eine positive Langzeitfolge des Abschusses war Ronald Reagans umgehend getroffene Entscheidung, das (seit 1993 voll operative und aus der heutigen Welt nicht mehr wegzudenkende) GPS für die globale zivile Luftfahrt verfügbar zu machen, um derartigen Tragödien vorzubeugen. ˇ SA profitierten anfangs vom resultierenden Kleinere Fluglinien wie die C Geschäftsentfall der Aeroflot während der letzten Hochphase des Kalten Kriegs, jedoch zeigten sich bald noch viel gravierendere Schwierigkeiten, die den generellen ökonomischen Niedergang der Mitglieder des Warschauer Pakts widerspiegeln. Die Priorisierung des militärischen Sektors ging in fataler Weise zu Lasten der Zivilluftfahrt. Die Sowjetunion war nicht in der Lage, ihre Verbündeten mit Flugzeugen und Ausrüstungen auf Höhe der Zeit zu versorgen. Steigende Rohstoffpreise und unzureichende Treibstoffproduktion erschwerten das Luftfahrtgeschäft und machten es immer defizitärer. Dies befeuerte den ökonomischen Nationalismus der RGW-Staaten und verstärkte protektionistische Praktiken in den Zivilluftfahrtsektoren. Hinzu kamen schwere Mängel bei der Wartung, die den fatalen Absturz einer polnischen LOT-Maschine 1987 zur Folge hatten. Nicht nur die politischen Regime, sondern auch deren staatliche Zivilluftfahrt standen Ende der 1980er-Jahre am Abgrund. Es erfolgte eine Hinwendung zu Erzeugnissen der westlichen Flugzeugproduktion. Der bedeutendste Unterschied lag in den Antrieben, wo die Sowjetunion bei der Entwicklung der heute dominierenden Turbofanwerke seit den späten 1960er-Jahren (nach ihren davor beeindruckenden Erfolgen bei den Propellerantrieben) zurückgeblieben war. Technische Details müssen hier nicht referiert werden; um potenzielle LeserInnen nicht abzuschrecken ist aber zu betonen, dass die Lesbarkeit des Buchs unter der Komplexität des präsentierten Fachwissens über die (Zivil)Luftfahrt kaum leidet. Natürlich kann man heute parallel zur Lektüre auf dem Smartphone nach Bildern der eindrucksvoll beschriebenen Flugzeugtypen suchen und mit Hilfe von Google Maps die zentralen Entwick-

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lungen der globalen Flugrouten nachvollziehen. Dennoch ist es bedauerlich, dass keine fachkundig ausgewählten Abbildungen und Karten in das Buch aufgenommen wurden – sie hätten es vermocht, diesen Aspekt der Vorgeschichte unserer Gegenwart einem breiteren Publikum leichter verständlich zu machen. Während die klassischen Cold War Studies in der Regel vor allem die Supermächte und ihre „hard power“ im Blick hatten, legen die neuen Cold War Studies ihren Fokus oft auf kleinere Akteure und Themen aus dem Bereich der „soft power“. Peter Svik hat die verschiedenen Ansätze in überzeugender Manier verknüpft und an einem zentralen Kapitel der Technologiegeschichte des Kalten Kriegs (das an den Wurzeln der gegenwärtigen Globalisierungsentwicklung steht) quellengesättigt erprobt. Der permanente Perspektivenwechsel zwischen der Mikro- und Makro-Ebene gelingt, weil das Buch die Supermächtekonstellation und die „hard power“ im Kalten Krieg in ihrer globalen Dimension in angemessener Tiefe analysiert, gleichzeitig aber die „soft power“ nicht vernachlässig und Spielräume sowie Diversität kleinerer Akteure in Ost und West aufzeigt. Maximilian Graf

Oliver Rathkolb, Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler, Wien: Molden Verlag 2020, 352 Seiten. Von der „größten Nachwuchshoffnung des NS-Terror-Regimes“ zum „Schwächling“, „Schwätzer“ und politischen „Dummkopf“ Die erste zitierte Charakteristik stammt aus Oliver Rathkolbs 2020 erschienener Biografie Baldur von Schirachs, die zweite aus einer Tagebucheintragung von Joseph Goebbels am 21. August 1943. Sie werfen ein Licht auf die Stationen einer Persönlichkeit, die, aus einer herrschaftlichen Familie mit starken Verbindungen zur US-amerikanischen Grundbesitzer- und Finanzaristokratie stammend und in Weimar aufgewachsen, zum jugendlich begeisterten Paladin Hitlers wurde. Mit 18 Jahren bereits Mitglied der NSDAP, mit 21 Jahren Reichsführer des NS-Studentenbundes, mit 26 Jahren Jugendführer des Dritten Reiches, mit 33 Jahren als Nachfolger von Josef Bürckel Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien. Als solcher fiel er, der schon in frühen Jahren zum inneren Kreis der Macht gehörte, zunehmend in Ungnade, die negative Meinung über den zunehmend ungeliebten Gauleiter von Wien fand in der oben zitierten GoebbelsTagebuch-Eintragung ihren vorläufigen Höhepunkt. 1946 wurde er im Nürnberger Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt, 1966 aus dem Gefängnis BerlinSpandau entlassen, ein Jahr später erschienen seine (Rechtfertigungs-)Memoiren

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unter dem Titel „Ich glaubte an Hitler“, 1975 jene seiner geschiedenen Frau Henriette unter dem Titel „Der Preis der Herrlichkeit“, 1988 die auf InterviewTranskripten beruhende Studie Jochen von Langs „Der Hitler-Junge. Baldur von Schirach. Der Mann, der Deutschlands Jugend erzog“ und 2005 die Vergangenheitsbewältigung seines Sohnes Richard unter dem Titel „Der Schatten meines Vaters“. Eine wissenschaftliche Biografie lag bisher nicht vor. Lediglich die äußerst verdienstvolle Arbeit von Radomír Luzˇa über „Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit“ widmete dem Wiener Wirken Schirachs ein größeres Kapitel. Die nunmehr vorliegende Biografie Oliver Rathkolbs unter dem bezeichnenden Titel „Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“ schließt diese Lücke. In insgesamt 14 Kapiteln begibt sich der Vorstand des Wiener Instituts für Zeitgeschichte akribisch auf die Spuren Schirachs. Dabei lassen sich vier Abschnitte verorten: Familiengeschichte und Sozialisation (Kapitel 1 bis 3), Karriere in der NSDAP (Kapitel 4 bis 6), Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien (Kapitel 7 bis 12), Nürnberg und das „Weben am Mythos“ (Kapitel 13 und 14). Der Bogen der Familiengeschichte wird von der Emigration der Schirachs in die USA 1855, ihren Dienst in der US-Armee, über die Ehe von Baldur von Schirachs Vater, Carl Baily Norris von Schirach, mit der aus einer reichen Südstaatenfamilie stammenden Emma Middleton, die Übersiedlung des Paares nach Berlin, bis zur Ernennung von Carl Baily Norris von Schirach zum Generalintendanten des Großherzoglichen Hoftheaters in Weimar gespannt. Auch nach seiner Entlassung als Generalintendant im Jänner 1919 blieb Carl von Schirach ein prominentes Mitglied des der kulturellen Moderne und der Weimarer Republik ablehnend bis feindlich gegenüberstehenden Weimarer Bildungsbürgertums, dessen Milieu auch den heranwachsenden Baldur von Schirach, den zweiten Sohn von Carl und Emma von Schirach, prägte. Rathkolb weist auf die Bedeutung des Selbstmordes von Baldurs älterem Bruder Karl 1919 und dessen Interpretation durch den damals Zwölfjährigen hin, die aus dem DreiviertelAmerikaner einen radikalen Nationalisten werden ließ, der die in Weimar aus der Taufe gehobene Republik ablehnte und zum begeisterten Jünger Hitlers wurde, der in der Stadt Goethes und Schillers im März 1925 als Redner auftrat und im folgenden Jahr Weimar zum Ort des zweiten Parteitages der NSDAP wählte. Es war kein isolierter jugendlicher Enthusiasmus, der Baldur von Schirach zum Eintritt in die SA 1925 veranlasste, sondern dieser erfolgte in einer Art familiärem Schulterschluss, denn auch Carl von Schirach trat der NSDAP bei. Die Familie Schirach demonstrierte, so Rathkolb, dass auch konservative politische und kulturelle Eliten mit dem kulturellen Deutungsanspruch der NSDAP, einer völkisch-nationalen Kultur, nicht nur sympathisierten, sondern diesen auch aktiv unterstützten.

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Die Karriere des jungen Baldur von Schirach in der NSDAP war atemberaubend und führte den zum Reichsjugendführer avancierten in das Zentrum der Macht, aus dem er jedoch in den späten Dreißigerjahren allmählich verdrängt wurde. Nach einem kurzen Militäreinsatz 1939/40 ernannte ihn Hitler als Nachfolger von Josef Bürckel zum Gauleiter und Reichsstatthalter von Wien. Ob Schirach seine neue Aufgabe in Wien als „politische Zurücksetzung“ betrachtete, wie Rathkolb behauptet, darf bezweifelt werden, da Hitler ihm gegenüber bei seiner Ernennung betonte, dass Bürckel es nicht verstanden habe, die Wiener für das Dritte Reich zu gewinnen. Er müsse daher durch jemanden wie Schirach ersetzt werden, der den notwendigen psychologischen Takt besitze. Außerdem werde er weitgehende kulturelle Handlungsfreiheit haben. Für den in Weimar sozialisierten Aristokraten eröffneten sich damit Möglichkeiten, die er entsprechend auszunutzen gedachte. Einerseits rügte er öffentlich am 5. Oktober 1941 das Betragen mancher „Altreichsdeutscher“ in der Donaumetropole und bezeichnete dieses als „widerwärtig und schlecht“, andererseits förderte er die – auch von vielen österreichischen Nationalsozialisten betonte – kulturelle Autonomie und Identität Österreichs, beides Schwerpunkte seines Handelns, die ihm viel Zustimmung in Wien brachten, jedoch in Berlin, vor allem bei Hitler, 1942/43 zunehmend auf Kritik stießen. Überzeugend weist Rathkolb die Rolle Schirachs bei den Judendeportationen nach – von einer Besprechung am 2. Oktober 1940 in Berlin bis zur bekannten Rede am 6. Juni 1942 vor der Ratsherrnsitzung, in der er betonte, dass spätestens bis zum Herbst alle Juden aus der Stadt entfernt werden müssten. Von Schirach immer wieder erwähnte Interventionen zugunsten von Juden erfolgten nur in einem einzigen Fall mit Nachdruck und Erfolg – bei Alice Strauss, der jüdischen Schwiegertochter von Richard Strauss. Von besonderem Interesse ist Kapitel 13, das sich dem Verhalten Schirachs im Nürnberger Prozess widmet und seiner von seinem Verteidiger Dr. Fritz Sauter wesentlich mitgestalteten Verteidigungsstrategie der „radikalen“ Stellungnahme, charakterisiert durch ein teilweises Geständnis, exklusive Schuldzuweisung an Hitler und teilweise Himmler unter Ausblendung (oder Verdrängung) wichtiger Fakten. Rathkolb weist schlüssig darauf hin, dass es Schirach sehr geschickt gelang, den amerikanischen Psychiater Douglas M. Kelley durch falsche Behauptungen für sich einzunehmen. Das Urteil des Psychiaters: „Schirach war nicht schlecht, nur irregeleitet.“ Rathkolb gelingt hier eine dichte Studie über ein letztlich erfolgreiches taktisches Verhalten, das zu einem zu milden Urteil führte, wie manche US-Rechtsexperten kritisch bemerkten. Robert Kriechbaumer

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Philippe Sands, The Ratline: Love, Lies and Justice on the Trail of a Nazi Fugitive, London: Orion Publishing Group 2020, 432 Seiten. Philippe Sands, ein britisch-französischer Jurist und Schriftsteller, hat mit „The Ratline“ ein ebenso ungewöhnliches wie fesselndes Buch über den NS-Verbrecher Otto Wächter (1901–1949) vorgelegt. Wächter, in Wien geboren, wurde 1939 Gouverneur des Distrikts Krakau im besetzten Polen. Von Jänner 1942 bis August 1944 übte er dieselbe Funktion im Distrikt Galizien mit Sitz in Lemberg aus. Als Befehlshaber über die Zivilverwaltung war Wächter damit mitverantwortlich für die Ermordung von mehreren Hunderttausend Juden und Polen, die in seinem Einfluss- und Machtbereich zu Tode kamen. Unter den Opfern waren Familienangehörige von Sands Großvater, der ihre Schicksale schon 2016 in dem Buch „East West Street“ mitverarbeitet hat. Insofern knüpft „The Ratline“ an dieses Vorgängerbuch an. Auch wenn der Fall von Otto Wächter bereits bekannt ist,1 eröffnet Sands durch einen besonderen Quellenzugang neue Perspektiven. Denn er hatte im Zuge seiner Recherchen für „East West Street“ Wächters Sohn Horst kennengelernt, der ihm mit der Zeit Einblick in die umfangreiche Korrespondenz seiner Eltern sowie in den Nachlass der Mutter Charlotte gewährte. Motiviert wurde Horst Wächter durch ein tiefes Bedürfnis, seinen Vater zu rehabilitieren. Sands Buch ist im Wesentlichen eine Spurensuche, die der Sohn als Protagonist begleitet und in deren Verlauf immer mehr Beweise für die Schuld und Täterschaft von Horst Wächter zu Tage gefördert werden. Insofern ist der scheinbar unbeirrbare Glaube des Sohns an die Unschuld des Vaters auch eine passende Metapher für den jahrzehntelangen ambivalenten Umgang mit der NS-Vergangenheit in Österreich. Das Buch selbst profitiert von dieser Dramaturgie, weil so ein Spannungsbogen mit überraschenden Wendungen aufgebaut wird, der vergleichbarer Fachliteratur verständlicherweise oft fehlt. Darüber hinaus ist Sands Erzählstil journalistisch und essayhaft, was aber den großen Gewinn für die zeitgeschichtliche Forschung in keiner Weise schmälert. „The Ratline“ folgt dem Aufstieg und Fall von Otto Wächter: Jurist, aus adeligem Haus und seit 1932 SS-Mitglied. Ab demselben Jahr gehörte er auch dem Vorstand des Deutschen Klubs2 an, eines mächtigen Netzwerks österreichischer Nationalsozialisten, das an der Unterwanderung der Ersten Republik beteiligt war (S. 31). Wegen Wächters Verwicklung in den Putsch gegen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß 1934 musste er Österreich verlassen und bekam 1 Vgl. Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht. Wie NS-Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen, Frankfurt am Main 2010; Johannes Sachslehner, Hitlers Mann im Vatikan. Bischof Alois Hudal. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Kirche, Wien 2019. 2 Vgl. Klaus Taschwer/Andreas Huber/Linda Erker, Der Deutsche Klub. Austro-Nazis in der Hofburg, Wien 2020.

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eine Anstellung im Sicherheitsdienst, dem SS-Geheimdienst in Berlin (S. 50). Nach dem „Anschluss“ 1938 war Wächter als Leiter der Abteilung für innere Verwaltung an der „Säuberungsaktion“ im Beamtenapparat federführend beteiligt. Mindestens 16.237 Beamte, von denen 5.963 hochrangig waren, wurden von Wächter entweder entlassen oder erhielten Verweise (S. 71). Es folgte die bereits erwähnte Tätigkeit in Krakau und Galizien, ehe Wächter 1944 als Verbindungsmann zu Mussolinis Republik von Salò nach Norditalien gesandt wurde (S. 114). Der atmosphärisch und faktisch dichteste Teil von „The Ratline“ beginnt nach Kriegsende 1945: Zu diesem Zeitpunkt wurde bereits nach Wächter gefahndet. Es gelang ihm jedoch, sich gemeinsam mit einem SS-Kameraden bis zum Sommer 1948 auf Salzburger und Tiroler Almen zu verstecken. Das wäre freilich nicht ohne die Unterstützung von Wächters Frau Charlotte möglich gewesen, die in regelmäßigen Abständen Proviant herbeischaffte (S. 145). Zu Wächters wenigen Besuchern, bevor er sich schließlich 1948 über die sogenannte „Rattenlinie“ über Südtirol nach Rom aufmachte, zählte interessanterweise ein Kriegskamerad, der ehemalige Wehrmachtsoffizier und spätere Bundeswehr-Generalleutnant Albert Schnez (S. 155). Dieser war 1949 führend in die Aufstellung einer „Geheimarmee“ aus Veteranen der Wehrmacht und der SS involviert.3 Ende April 1949 traf Wächter in Rom ein und verbarg sich in einer Mönchszelle eines Klosters am südlichen Rand der Stadt. Denselben Raum hatte zuvor schon der frühere SS-Standartenführer Walter Rauff bewohnt. Rauff, maßgeblich am Einsatz von Gaswagen im Holocaust beteiligt, war weiter nach Damaskus und später nach Chile emigriert (S. 170–171). Auch Wächter hatte ursprünglich an eine Ausreise nach Argentinien gedacht, doch aus diesen Plänen wurde nichts. Er verstarb nach kurzer Krankheit am 13. Juli 1949. Während sein Sohn noch heute an ein Mordkomplott des sowjetischen Geheimdiensts glaubt, ist die These, die Sands präsentiert, überzeugend: Der passionierte Schwimmer Wächter dürfte sich im schmutzigen Wasser des Tibers eine Infektion geholt haben (S. 312). In den Monaten vor seinem Tod war Wächter aber noch in die geheimdienstlichen Ränkespiele des frühen Kalten Krieges hineingeraten: Seine wichtigste Unterstützerin vor Ort, die Deutsche Hedi Dupré, hatte während des Zweiten Weltkrieges mit der deutschen Abwehr zusammengearbeitet. Quartiergeber und Beistand am Totenbett wiederum war der österreichische Bischof Alois Hudal, der als eine Schlüsselfigur der vatikanischen Fluchthilfe für NS-Verbrecher gilt. Wie Sands nachweist, war Hudal darüber hinaus für 50 Dollar monatlich als Informant für das US-amerikanische Counterintelligence Corps (CIC) tätig (S. 250). Offenbar über Hudal erfuhr das CIC auch, dass Wächter noch Ende April 3 Klaus Wiegrefe, Adenauer und die Geheimarmee, in: Der Spiegel (2014) 20, 47–49.

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1949 einem italienischen Nachrichtendienstoffizier seine Dienste angeboten hatte – mit dem Hinweis, dass er in der Lage wäre, Guerillawiderstandsgruppen gegen eine mögliche Invasion der Roten Armee aufzustellen (S. 325–327). Wie eng die Verstrickungen des CIC mit ehemaligen NS-Verbrechern waren, erzählt Sands noch in einem Seitenstrang: Der CIC-Offizier Thomas C. Lucid, der auch in Österreich eine wichtige Rolle spielte, war mit seinem wichtigsten Agenten in Italien, dem früheren SS-Mann Karl Hass, auch familiär verbunden: Lucids Sohn hatte die Tochter von Hass geheiratet (S. 280–281). Am Ende von Sands Spurensuche steht noch eine Begegnung mit Wächters Urenkelin, die im Gegensatz zu ihrem Vater Horst ein eindeutiges Urteil fällt: „My grandfather was a mass murderer.“ (S. 333). Thomas Riegler

Autor/inn/en

Li Gerhalter, Mag.a Dr.in Historikerin, Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, [email protected] Lisa Gottschall, Mag.a, BA MA Kultur- und Sozialanthropologin, Historikerin, Wien, [email protected] Maximilian Graf, Dr. Historiker, Masaryk Institute and Archives of the Czech Academy of Sciences, Prague, Czech Republic, [email protected] Veronika Helfert, MMag.a Dr.in Postdoctoral Fellow an der Central European University im ERC-Projekt ZARAH: Women’s labour activism in Eastern Europe and transnationally, from the age of empires to the late 20th century, [email protected] Robert Kriechbaumer, a.o. Univ.-Prof. Dr. Historiker und Politologe, Salzburg, [email protected] Ina Markova, Mag.a Dr.in Wissenschaftliche Mitarbeiterin Österreichisches Volkshochschularchiv, wissenschaftliche Projektmitarbeiterin Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, [email protected] Maria Mesner, Univ.-Doz.in Mag.a Dr.in Stv. Vorständin des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, maria.mes [email protected] Thomas Riegler, Dr. Historiker, Wien/Graz, [email protected]

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Florian Wenninger, Mag. Dr. Leiter des Instituts für Historische Sozialforschung Wien und Senior Research Fellow an der Universität Wien, [email protected]

Zitierregeln Bei der Einreichung von Manuskripten, über deren Veröffentlichung im Laufe eines doppelt anonymisierten Peer Review Verfahrens entschieden wird, sind unbedingt die Zitierregeln einzuhalten. Unverbindliche Zusendungen von Manuskripten als word-Datei an: [email protected]

I.

Allgemeines

Abgabe: elektronisch in Microsoft Word DOC oder DOCX. Textlänge: 60.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen und Fußnoten), Times New Roman, 12 Punkt, 1 12-zeilig. Zeichenzahl für Rezensionen 6.000–8.200 Zeichen (inklusive Leerzeichen). Rechtschreibung: Grundsätzlich gilt die Verwendung der neuen Rechtschreibung mit Ausnahme von Zitaten.

II.

Format und Gliederung

Kapitelüberschriften und – falls gewünscht – Unterkapiteltitel deutlich hervorheben mittels Nummerierung. Kapitel mit römischen Ziffern [I. Literatur], Unterkapitel mit arabischen Ziffern [1.1 Dissertationen] nummerieren, maximal bis in die dritte Ebene untergliedern [1.1.1 Philologische Dissertationen]. Keine Interpunktion am Ende der Gliederungstitel. Keine Silbentrennung, linksbündig, Flattersatz, keine Leerzeilen zwischen Absätzen, keine Einrückungen; direkte Zitate, die länger als vier Zeilen sind, in einem eigenen Absatz (ohne Einrückung, mit Gänsefüßchen am Beginn und Ende). Zahlen von null bis zwölf ausschreiben, ab 13 in Ziffern. Tausender mit Interpunktion: 1.000. Wenn runde Zahlen wie zwanzig, hundert oder dreitausend nicht in unmittelbarer Nähe zu anderen Zahlenangaben in einer Textpassage aufscheinen, können diese ausgeschrieben werden. Daten ausschreiben: „1930er“ oder „1960er-Jahre“ statt „30er“ oder „60er Jahre“. Datumsangaben: In den Fußnoten: 4. 3. 2011 [keine Leerzeichen nach den Punkten, auch nicht 04. 03. 2011 oder 4. März 2011]; im Text das Monat ausschreiben [4. März 2011]. Personennamen im Fließtext bei der Erstnennung immer mit Vor- und Nachnamen. Namen von Organisationen im Fließtext: Wenn eindeutig erkennbar ist, dass eine Organisation, Vereinigung o. Ä. vorliegt, können die Anführungszeichen weggelassen werden: „Die Gründung des Öesterreichischen Alpenvereins erfolgte 1862.“ „Als Mitglied im

Womens Alpine Club war ihr die Teilnahme gestattet.“ Namen von Zeitungen/Zeitschriften etc. siehe unter „Anführungszeichen“. Anführungszeichen im Fall von Zitaten, Hervorhebungen und bei Erwähnung von Zeitungen/Zeitschriften, Werken und Veranstaltungstiteln im Fließtext immer doppelt: „“ Einfache Anführungszeichen nur im Fall eines Zitats im Zitat: „Er sagte zu mir : ,….‘“ Klammern: Gebrauchen Sie bitte generell runde Klammern, außer in Zitaten für Auslassungen: […] und Anmerkungen: [Anm. d. A.]. Formulieren Sie bitte geschlechtsneutral bzw. geschlechtergerecht. Verwenden Sie im ersteren Fall bei Substantiven das Binnen-I („ZeitzeugInnen“), nicht jedoch in Komposita („Bürgerversammlung“ statt „BürgerInnenversammlung“). Darstellungen und Fotos als eigene Datei im jpg-Format (mind. 300 dpi) einsenden. Bilder werden schwarz-weiß abgedruckt; die Rechte an den abgedruckten Bildern sind vom Autor/von der Autorin einzuholen. Bildunterschriften bitte kenntlich machen: Abb.: Spanische Reiter auf der Ringstraße (Quelle: Bildarchiv, ÖNB). Abkürzungen: Bitte Leerzeichen einfügen: vor % oder E/zum Beispiel z. B./unter anderem u. a. Im Text sind möglichst wenige allgemeine Abkürzungen zu verwenden.

III.

Zitation

Generell keine Zitation im Fließtext, auch keine Kurzverweise. Fußnoten immer mit einem Punkt abschließen. Die nachfolgenden Hinweise beziehen sich auf das Erstzitat von Publikationen. Bei weiteren Erwähnungen sind Kurzzitate zu verwenden. – Wird hintereinander aus demselben Werk zitiert, bitte den Verweis Ebd./ebd. bzw. mit anderer Seitenangabe Ebd., 12./ebd., 12. gebrauchen (kein Ders./Dies.), analog: Vgl. ebd.; vgl. ebd., 12. – Zwei Belege in einer Fußnote mit einem Strichpunkt; trennen: Gehmacher, Jugend, 311; Dreidemy, Kanzlerschaft, 29. – Bei Übernahme von direkten Zitaten aus der Fachliteratur Zit. n./zit. n. verwenden. – Indirekte Zitate werden durch Vgl./vgl. gekennzeichnet. Monografien: Vorname und Nachname, Titel, Ort und Jahr, Seitenangabe [ohne „S.“]. Beispiel Erstzitat: Johanna Gehmacher, Jugend ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994, 311. Beispiel Kurzzitat: Gehmacher, Jugend, 311. Bei mehreren AutorInnen/HerausgeberInnen: Dachs/Gerlich/Müller (Hg.), Politiker, 14. Reihentitel: Claudia Hoerschelmann, Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938 bis 1945 (Veröffentlichungen des Ludwig-

Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 27), Innsbruck/Wien [bei mehreren Ortsangaben Schrägstrich ohne Leerzeichen] 1997, 45. Dissertation: Thomas Angerer, Frankreich und die Österreichfrage. Historische Grundlagen und Leitlinien 1945–1955, phil. Diss., Universität Wien 1996, 18–21 [keine ff. und f. für Seitenangaben, von–bis mit Gedankenstich ohne Leerzeichen]. Diplomarbeit: Lucile Dreidemy, Die Kanzlerschaft Engelbert Dollfuß’ 1932–1934, Dipl. Arb., Universit8 de Strasbourg 2007, 29. Ohne AutorIn, nur HerausgeberIn: Beiträge zur Geschichte und Vorgeschichte der Julirevolte, hg. im Selbstverlag des Bundeskommissariates für Heimatdienst, Wien 1934, 13. Unveröffentlichtes Manuskript: Günter Bischof, Lost Momentum. The Militarization of the Cold War and the Demise of Austrian Treaty Negotiations, 1950–1952 (unveröffentlichtes Manuskript), 54–55. Kopie im Besitz des Verfassers. Quellenbände: Foreign Relations of the United States, 1941, vol. II, hg. v. United States Department of States, Washington 1958. [nach Erstzitation mit der gängigen Abkürzung: FRUS fortfahren]. Sammelwerke: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Politiker. Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik, Wien 1995. Beitrag in Sammelwerken: Michael Gehler, Die österreichische Außenpolitik unter der Alleinregierung Josef Klaus 1966–1970, in: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger/ Hubert Weinberger (Hg.), Die Transformation der österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung Klaus (Veröffentlichung der Dr.-Wilfried Haslauer-Bibliothek, Forschungsinstitut für politisch-historische Studien 1), Salzburg 1995, 251–271, 255–257. [bei Beiträgen grundsätzlich immer die Gesamtseitenangabe zuerst, dann die spezifisch zitierten Seiten]. Beiträge in Zeitschriften: Florian Weiß, Die schwierige Balance. Österreich und die Anfänge der westeuropäischen Integration 1947–1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994) 1, 71–94. [Zeitschrift Jahrgang/Bandangabe ohne Beistrichtrennung und die Angabe der Heftnummer oder der Folge hinter die Klammer ohne Komma]. Presseartikel: Titel des Artikels, Zeitung, Datum, Seite. Der Ständestaat in Diskussion, Wiener Zeitung, 5. 9. 1946, 2. Archivalien: Bericht der Österr. Delegation bei der Hohen Behörde der EGKS, Zl. 2/pol/57, Fritz Kolb an Leopold Figl, 19. 2. 1957. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA)/AA, II-pol, International 2 c, Zl. 217.301-pol/ 57 (GZl. 215.155-pol/57); Major General Coleman an Kirkpatrick, 27. 6. 1953. The National Archives (TNA), Public Record Office (PRO), Foreign Office (FO) 371/103845, CS 1016/205 [prinzipiell zuerst das Dokument mit möglichst genauer Bezeichnung, dann das Archiv, mit Unterarchiven, -verzeichnissen und Beständen; bei weiterer Nennung der Archive bzw. Unterarchive können die Abkürzungen verwendet werden].

Internetquellen: Autor so vorhanden, Titel des Beitrags, Institution, URL: (abgerufen Datum). Bitte mit rechter Maustaste den Hyperlink entfernen, so dass der Link nicht mehr blau unterstrichen ist. Yehuda Bauer, How vast was the crime, Yad Vashem, URL: http://www1.yadvashem.org/ yv/en/holocaust/about/index.asp (abgerufen 28. 2. 2011). Film: Vorname und Nachname des Regisseurs, Vollständiger Titel, Format [z. B. 8 mm, VHS, DVD], Spieldauer [Film ohne Extras in Minuten], Produktionsort/-land Jahr, Zeit [Minutenangabe der zitierten Passage]. Luis BuÇuel, Belle de jour, DVD, 96 min., Barcelona 2001, 26:00–26:10 min. Interview: InterviewpartnerIn, InterviewerIn, Datum des Interviews, Provenienz der Aufzeichnung. Interview mit Paul Broda, geführt von Maria Wirth, 26. 10. 2014, Aufnahme bei der Autorin. Die englischsprachigen Zitierregeln sind online verfügbar unter : https://www.verein-zeit geschichte.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_verein_zeitgeschichte/zg_Zitierregeln_ engl_2018.pdf Es können nur jene eingesandten Aufsätze Berücksichtigung finden, die sich an die Zitierregeln halten!