Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger [1 ed.] 9783428496907, 9783428096909

Für den heutigen Menschen ist die Auffassung vom Raum in entscheidender Weise durch einen Raumbegriff bestimmt, wie ihn

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Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger [1 ed.]
 9783428496907, 9783428096909

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GÜNTHER NEUMANN

Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger

Philosophische Schriften Band 32

Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematischnaturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger

Von

Günther Neumann

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Neumann, Günther: Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematischnaturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger / von Günther Neumann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Philosophische Schriften; Bd. 32) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09690-8

D25 Alle Rechte vorbehalten

© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-09690-8 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Für meine Mutter im Andenken an meinen Vater

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"Es scheint aber etwas Großmächtiges zu sein und schwer zu fassen, der Topos" - das heißt der Ort-Raum. Aristoteles, Physik, Buch IV 4, 212a 7 f. (Übersetzung nach M. Heidegger, Die Kunst und der Raum)

Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die geringrugig überarbeitete Fassung meiner im Sommersemester 1998 von den Philosophischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br. angenommenen Dissertation. Ich danke vor allem meinem philosophischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, der die Fragestellung angeregt und ihre Ausarbeitung fördernd begleitet hat. Herrn Professor Dr. Friedrich A. Uehlein gilt mein Dank rur die Übernahme des Korreferates. Neben den von Herrn Professor von Herrmann über viele Semester abgehaltenen Seminaren zur Phänomenologie Heideggers und Husserls bildeten die Lehrveranstaltungen zur griechischen Naturphilosophie bei Herrn Professor Uehlein eine wesentliche Grundlage dieser Arbeit. Die Genehmigung, unveröffentlichte TextsteIlen aus dem Husserl-Nachlaß zu zitieren und zu publizieren, wurde am I. September 1997 vom Direktor des Husserl-Archivs in Leuven, Herrn Professor Dr. Samuel IJsseling, erteilt. Die Einsichtnahme in den Nachlaß erfolgte im Husserl-Archiv der Universität Freiburg i. Br. Herrn Professor IJsseling danke ich rur die erteilte Genehmigung. Gleichfalls danke ich dem Leiter des Freiburger Husserl-Archivs, Herrn Professor Dr. Bernhard Rang, sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern rur die Ermöglichung der Einsichtnahme in den Nachlaß und die freundliche Hilfsbereitschaft. Für ihren persönlichen Beistand möchte ich meiner Mutter, meinen Geschwistern und Elisabeth herzlich danken. Ebenso danke ich Frau Charlotte Metzner rur ihre Unterstützung. Das vorliegende Buch ist meiner lieben Mutter in bleibender Dankbarkeit gewidmet.

Freiburg im Breisgau, im Januar 1999

Günther Neumann

Inhaltsverzeichnis Einleitung § 1.

Thema und Grenzen der Untersuchung . ............................. 13

§ 2.

Das philosophische Zwiegespräch zwischen Husserl und Heidegger ..... 15

§ 3.

Der Aufriß der Abhandlung . ...................................... 21

Teil A Lebensweltlicher und mathematisch··naturwissenschaftlicher Raum in der transzendentalen Phänomenologie Husserls I. Kapitel: Die Krisis der europäischen Wissenschaften als Ausgangspunkt in Husserls Spätwerk

§ 4.

Die Grundlagenkrisis der modernen Mathematik. Ein kurzer historischer Rückblick ...................................................... 25

§ 5.

Die Notwendigkeit einer philosophischen Besinnung auf die historischen Ursprünge unserer kritischen wissenschaftlichen und philosophischen Situation . ...................................................... 33 11. Kapitel: Galileis Urstiftung der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft auf dem Boden der Euklidischen Geometrie

§ 6.

Das endlich geschlossene Apriori der vorneuzeitlichen Wissenschaften . .. 48

§ 7.

Das unendlich geschlossene Apriori der neuzeitlichen Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft . ................................ 59

§ 8.

Die Rückfrage nach dem Ursprung der ,reinen Geometrie' raumzeit· Iicher Gestalten ................................................. 65 a) Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentional-historisches Problem ..................................................... 65 b) Die Genesis der reinen Geometrie aus der Idealisierung der vorwissenschaftlichen (anschaulichen) Lebensumwelt ......................... 77

\0

Inhaltsverzeichnis c) Die Sinnentleerung der Geometrie in der Technisierung und die notwendige Rückbesinnung auf ihren Ursprungssinn ........................ 85

§ 9.

Der Grundgedanke der Galileischen Physik: Natur als mathematisches Universum ..................................................... 96 a) Galileis Geometrisierung der materiellen Natur selbst ................. 97 b) Der verwandelte Sinneshorizont von angewandter und theoretischer Naturwissenschaft ............................................ 107 c) Die Mathematisierung der Füllen als Voraussetzung für die durchgängige Berechenbarkeit der Natur im Sinne eines geschlossenen raumzeitlichen Kausalzusammenhangs ........................................ 1 \0 d) Der instrumentale Charakter der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 e) Der unendliche Bewährungscharakter der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fundamentalhypothese .............................. 121 f) Galileis naturwissenschaftliche Fundamentalhypothese als theoretischlogische Substruktion .......................................... 123

g) Die Lebenswelt als das vergessene Sinnes- und Geltungsfundament der antiken Geometrie und neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft .. 127 111. Kapitel: Gesamtcharakteristik des Problems der LebensweIt

§ / O. Die Lebenswelt als das philosophische Universalproblem ............. 129 § //. Die invariante Wesensstruktur der Lebenswelt ...................... 131 a) Der dreifache Vorrang der Lebenswelt gegenüber der objektiven Wissenschaft ................................................ 131 b) Die kinästhetisch-leiblichen Gegebenheitsweisen der anschaulichen Lebensumwelt ............................................... 132 c) Erkennen und Handeln. Die apriorischen Strukturen der Lebenswelt im Licht der philosophischen Kritik ................................. 138 IV. Kapitel: Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum

§ /2. Die Schicht der res extensa als transzendentaler Leitfaden für das Problem der Raumkonstitution ................................... 154 § /3. Der Raum als das noematische Korrelat des kinästhetischen Systems ... 157 § /4. Die Homogenisierung der unmittelbaren Nahsphäre (Kernsphäre) zum endlos offenen Raum . ....................................... 161

Inhaltsverzeichnis

11

Teil B Die am Leitfaden des Daseins entfaltete Frage nach dem Raum und der mathematischen Wissenschaft vom reinen, homogenen Raum in der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers Erster Abschnitt Die Frage nach dem Raum in der transzendental-horizontalen Blickbahn der Fundamentalontologie I. Kapitel: Vom besorgend-vertrauten Aufgehen in der Welt zum Welterkennen § 15. Vorbemerkung: Der ontologische Vorrang der Seinsfrage in bezug auf

die positiven Wissenschaften ..................................... 164

§ 16. Die Analyse der seinsverstehenden Existenz . ........................ 179 § 17. Die kategorial-ontologische Wesensbestimmung des Zeugs als des im besorgenden Umgang nächstbegegnenden Seienden und das existenziale Phänomen der Welt ........................................ 188 § 18. Die aus der Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens mit dem nächstbegegnenden Seienden (Zeug) entspringende Möglichkeit des Welterkennens ..................................................... 202 11. Kapitel: Die Analytik der daseins mäßigen Räumlichkeit und der Raum

§ 19. Die (kategoriale) Räumlichkeit des bewandtnisbestimmten, zuhandenen Zeugs . ........................................................ 216

§ 20, Die (existenziale) Räumlichkeit des Daseins im umsichtigen, besorgendvertrauten Sein beim innerumweltlich begegnenden Seienden .......... 220 § 21. Die Räumlichkeit der Welt als erschlossener Bedeutsamkeit und die Entweltlichung der Umwelt zum reinen, homogenen Raum ............ 227 111. Kapitel: Zeitlichkeit und Räumlichkeit

§ 22. Der ekstatisch-zeitliche Sinn der Abkünftigkeit des theoretischen Erkennens vom umsichtigen Entdecken als primärer Weise des besorgenden In-der-Welt-seins. Der mathematische Entwurfder Natur als klassisches Beispiel für die Ausbildung wissenschaftlicher Erkenntnis . .. 231 § 23. Die Zeitlichkeit der daseins mäßigen Räumlichkeit ................... 245

12

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Abschnitt Die Frage nach dem Raum im ereignisgeschichtIichen Denken § 24, Von "Sein und Zeit" zum "Ereignis"""""""",.", ............ 252

§ 25, Die ereignisgeschichtliche Frage nach dem Wesen der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft und modernen Technik. , .......... 260

§ 26, Mensch und Raum im ereignisgeschichtlichen Gevierts-Denken ........ 275 a) Abhebung der griechischen Natur- und Raumerfahrung (Aristoteles) gegen die neuzeitliche .............................. , .......... 275 b) Das Verstatten einer Stätte. Der Vortrag "Bauen - Wohnen - Denken" ... 279

Literaturverzeichnis ... , .................... , ...... . ................ 299 Personenregister .............. , .................................... 331 Sachregister . ... . .............. . ................................... 336

Einleitung § 1. Thema und Grenzen der Untersuchung "Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger" lautet der Titel dieser Arbeit, die sich vor allem mit Husserls Spätwerk "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie", Heideggers Grundwerk "Sein und Zeit" sowie Schriften aus dem späteren, dem ereignisgeschichtlichen Denken Heideggers auseinandersetzt. Für das gegenwärtige Interesse an einer Besinnung auf die Grundlagen der modemen Mathematik und Naturwissenschaft haben auch die Beiträge der Phänomenologie zunehmend mehr Beachtung gefunden. Die Grundlagenprobleme der exakten Wissenschaften selbst, aber auch neuere Untersuchungen zur Geschichte, Soziologie und Denkweise der Wissenschaften haben die rein logische Analyse der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie (Wiener Kreis, Popper-Schule usw.) als fraglich oder zumindest als einseitige Verkürzung erscheinen lassen. Sowohl Husserls als auch Heideggers Beiträge zur philosophischen Grundlegung der exakten Wissenschaften haben vielfache Anerkennung gefunden, nicht zuletzt auch in wissenschaftstheoretischen Forschungsrichtungen, die dem phänomenologischen Denken an und rur sich femstehen, wie in der konstruktiven Wissenschaftstheorie der Erlanger Schule. 1 Zwar ist das Leben des heutigen europäisch-abendländischen Menschen, auch das des nicht wissenschaftlich gebildeten, mit durch die selbstverständlich gewordenen Erkenntnisse der Wissenschaften bestimmt und geprägt, aber das menschliche Leben oder Dasein ist weder primär noch notwendig ein wissenschaftliches. Vielmehr gründen die wissenschaftlichen Erkenntnisse immer schon in einer ursprünglicheren Erfahrung, die bei Husserl als die vorwissenschaftliche Lebenswelt (in Korrelation zum fungierend-leistenden Weltleben) und bei Heidegger als das vortheoretische In-der-Welt-sein des seinsverstehenden Daseins in den Blick tritt. Für ein tieferes Verständnis der Genese der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis genügt es aber nicht, die exakten Wissenschaften gegenüber einer ursprünglicheren Erfahrung nur abzugrenzen, sondern es muß auch gezeigt werden, auf welche Weise die 1 Vgl. z. B. den Sammelband: Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie, hrsg. von C. F. Gethmann, Bonn 1991.

14

Einleitung

Wissenschaften aus der vorwissenschaftlichen Erfahrung hervorgewachsen und entsprungen sind. Hierher gehört auch die Frage, weshalb die ,gemeine' Erfahrung des alltäglichen Lebens oder Daseins in der Geschichte des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens abgewertet oder überhaupt übersprungen wurde. Die modeme Physik hat bekanntlich zu einer Umwälzung der Begriffe von Raum, Zeit und Materie geruhrt. Diese Umwälzung muß jedoch als eine immanente Revolution auf dem Boden der bereits in der frühen Neuzeit entworfenen mathematischen Naturwissenschaft begriffen werden. Bestimmte, erst von der modemen Physik (und Mathematik) aufgedeckte Grundlagenprobleme (Meßproblem, Rolle des Beobachters, Satz vom ausgeschlossenen Dritten, Probleme des Unendlichen usw.) können als ein Thematischwerden der in den kühnen Idealisierungen der frühneuzeitlichen Physik unhinterfragt gebliebenen Voraussetzungen angesehen werden. Die vorliegende Untersuchung kann auf diese Probleme nicht im Detail eingehen, sondern allenfalls versuchen, einen Horizont rur ein weiteres Fragen zu erarbeiten. Der entscheidende Wandel von der mittelalterlichen scientia physica zur neuzeitlichen Physik ist, wie im Verlauf der Untersuchung noch eingehend erörtert wird, nicht etwa darin zu sehen, daß letztere experimentiert und ihre Ergebnisse experimentell beweist, sondern liegt im mathematischen Entwurf der Natur. Naturphilosophen wie Galilei, Kepler und Newton stehen daher als Begründer der neuzeitlichen (mathematischen) Naturwissenschaft im Zentrum des Interesses. Vor allem Galileis Schriften werden zur Interpretation herangezogen. Zur thematischen Eingrenzung steht der Begriff des Raumes im Vordergrund der Untersuchung. Auch läßt sich der Wandel des Naturverständnisses in der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie am Leitfaden des Raumbegriffs (man denke etwa an den cartesischen Dualismus von res cogitans und res extensa) besonders deutlich herausarbeiten. Husserls Krisis-Abhandlung und Heideggers Abhandlung "Sein und Zeit" können, wie im § 2 dieser Einleitung noch näher ausgeruhrt wird, als ein echtes philosophisches Zwiegespräch der beiden großen Phänomenologen betrachtet werden. Husserls Rückgang vom (ideal-)geometrischen oder mathematischen Raum auf die sinnlich-anschauliche Lebenswelt kann zunächst rein formal als eine Entsprechung dessen angesehen werden, was in Heideggers Welt- und Zeuganalyse, zu der auch eine Analyse der (kategorialen und existenzialen) Räumlichkeit und des Raumes (als Gegend) gehört, zur phänomenologischen Ursprungsenthüllung kommt. Viele Untersuchungen begnügen sich mit der Darlegung einer solchen Entsprechung. Ein Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt darin, eine genauere und vertiefende Gegenüberstellung des Husserlschen und Heideggerschen Welt- und Raumbegriffs zu geben. 2 Es stellt sich insbesondere 2 Einen (tUr den Verfasser wegweisenden) Einblick in das Verhältnis von "Lebenswelt und In-der-We1t-sein" gibt der gleichnamige Aufsatz von F.-W. von Herrmann (in:

§ 2. Das philosophische Zwiegespräch zwischen Husserl und Heidegger

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die Frage, welcher systematische Ort der anschaulichen Lebenswelt, deren Idealisierung (und Formalisierung) zum mathematischen Raum Husserl beschreibt, im Verhältnis zum vorerkenntnismäßigen In-der-WeIt-sein des Daseins und dem von Heidegger eingehend analysierten Umschlag vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken zukommt. Um einen solchen systematischen Vergleich geben zu können, genügt es nicht, sich auf bestimmte Textabschnitte zu beschränken, sondern müssen die phänomenologischen EinzeIanalysen zunächst immanent aus dem Gesamtzusammenhang des jeweiligen Denkens heraus verstanden und entfaltet werden. Husserls Spätwerk wird nicht als eine grundsätzliche Abkehr von seinem früheren Denken betrachtet, sondern steht in der Kontinuität seiner großen Schriften zur transzendentalen Phänomenologie. Aber auch Heideggers vielberufene "Kehre" wird nicht als eine völlig andere Phase seines Denkens begriffen, sondern als ein ,immanenter Wandel' von der fundamentalontologischen (transzendental-horizontalen) zur seinsgeschichtIichen Ausarbeitung der Seins frage auf dem Denkweg von "Sein und Zeit" zum "Ereignis".

§ 2. Das philosophische Zwiegespräch zwischen Husserl und Heidegger Husserls letztes Werk "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie" und Heideggers Grundwerk und erstes Hauptwerk "Sein und Zeit" können als ein echtes philosophisches Zwiegespräch der beiden großen Phänomenologen betrachtet werden. Die Relevanz der Husserlschen Phänomenologie, vor allem der "Logischen Untersuchungen", rur die Entfaltung des Heideggerschen Denkens ist in der Literatur eingehend dokumentiert. 3 Das, was auf Heidegger in einer überaus ders.: Subjekt und Dasein. Interpretationen zu "Sein und Zeit", Frankfurt a. M. 2 1985, S.44-65). 3 Zu Heideggers Aufnahme der "Logischen Untersuchungen" (insbesondere der VI. Untersuchung) vgl. F. Dastur: Heidegger und die "Logischen Untersuchungen", in: Heidegger Studies 7 (1991), S. 37-51; ferner 1. Taminiaux: Le regard et I'excedent, La Haye [Den Haag] 1977, S. 156-182 (Chapitre IX: Remarques sur Heidegger et les Recherches logiques de Husserl). - Für Heideggers kritische Auseinandersetzung mit dem thematischen Forschungsfeld der Husserlschen Phänomenologie kommt über die "Logischen Untersuchungen" hinaus der Frage nach dem Wie der Gegebenheitsweisen des intentionalen Gegenstands, mit der sich erst das Erste Buch der "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie" von 1913 ausdrücklich befaßt (im Rahmen des Modells Noesis-Noema), eine besondere Bedeutung zu (vgl. hierzu R. Rodriguez: Heideggers Auffassung der Intentionalität und die Phänomenologie der Logischen Untersuchungen, in: Phänomenologische Forschungen, Neue Folge 2 (1997), S. 223-244 (2. Halbband) ). - Eine ausführliche Gegenüberstellung des Begriffs der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl geben folgende Monographien von

16

Einleitung

fruchtbaren - allerdings nicht von Husserl selbst intendierten - Weise gewirkt hat, lag weder in der spezifischen Thematik der Deskription des Bewußtseins noch in der Umbildung zur transzendentalen Phänomenologie auf dem Boden der transzendentalen Epoche und Reduktion (phänomenologische Zugangsmethode), sondern allein im phänomenologischen Sehen als der phänomenologischen Behandlungsmethode. Der Ausdruck ,Phänomenologie' bedeutet rur Heidegger (wie rur Husserl) primär einen Methodenbegriff. In ihm drückt sich "eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: ,zu den Sachen selbst!' ,,4 In einer flühen Freiburger Dozenten-Vorlesung prägt Heidegger das Bild, daß Husserl es war, der ihm "die Augen eingesetzt" hat. 5 Heideggers späte Schrift "Mein Weg in die Phänomenologie,,6 vermittelt nicht nur einen Einblick in die Eigentümlichkeiten seines Zuganges zur Husserlschen Phänomenologie, sondern verdeutlicht auch, daß er sich von Anfang an in seiner thematischen Ausrichtung von dieser unterschied und (gerade deshalb) um eine kritische Auseinandersetzung und Abgrenzung bemühte. (Damit soll freilich nicht gesagt F.-w. von Herrmann: Subjekt und Dasein, S. 15 ff.; Henneneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von "Sein und Zeit", Bd 1, Frankfurt a. M. 1987, S. 277392 (Erläuterung zum § 7: Die phänomenologische Methode der Untersuchung); Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Frankfurt a. M. 2 1988; Weg und Methode. Zur henneneutischen Phänomenologie des seinsgeschichtlichen Denkens, Frankfurt a. M. 1990. Die philosophischen Differenzen werden deutlich in der gemeinsamen Redaktion des Encyclopaedia-Britannica-Artikels in der zweiten Hälfte des Jahres 1927 (nach dem Erscheinen von "Sein und Zeit") (vgl. hierzu W. Biemel: Husserls EncyclopaediaBritannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: Tijdschrift voor Philosophie (Filosofie) 12 (Leuven 1950), S. 246-280; auch in der Sammlung: Husserl, hrsg. von H. Noack, Dannstadt 1973, S. 282-315). Die verschiedenen Fassungen des EncyclopaediaBritannica-Artikels und Heideggers Anmerkungen dazu sind abgedruckt im Band IX der Husserliana (Hua), Phänomenologische Psychologie, S. 237-301 und 590-615. (Zur Zitation der Schriften Heideggers und Husserls s. Literaturverzeichnis, unten S. 299 fT.) - Eine Sichtung der Quellen zum persönlichen und öffentlichen Verhältnis der bei den Denker gibt K. Schuhmann: Zu Heideggers Spiegel-Gespräch über Husserl, in: Zeitschrift fiir philosophische Forschung 32 (1978), S. 591-612. 4 Sein und Zeit, § 7, EA S. 27/GA S. 37. (Die Seitenangabe von "Sein und Zeit" erfolgt nach der Einzelausgabe (EA), Tübingen 15 1979, 2. Druck 1984, und nach Bd 2 der Gesamtausgabe (GA).) - Die von Heidegger gesetzten Anführungszeichen verweisen auf Husserl. In dessen Einleitung (§ 2) zum zweiten Band (1901), I. Teil der "Logischen Untersuchungen" heißt es: "Wir wollen auf die ,Sachen selbst' zurückgehen. An volIentwickelten Anschauungen wollen wir uns zur Evidenz bringen [wörtlich: heraus-sehen; Hervh. v. Vf.], dies hier in aktuell vollzogener Abstraktion Gegebene sei wahrhaft und wirklich das, was die Wortbedeutungen im Gesetzesausdruck meinen [gemeint sind hier die idealen Gesetze der reinen Logik]" (Hua XIX/I, S. 10; vgl. auch Ideen I, Hua III/I, § 19, S. 41, ferner § 24). 5

Ontologie (Henneneutik der Faktizität) (Sommersemester 1923), GA 63, S. 5.

In: M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 81-90 (als Bd 14 der Gesamtausgabe vorgesehen). 6

§ 2. Das philosophische Zwiegespräch zwischen Husserl und Heidegger

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sein, daß nicht auch verschiedene von Husserl aufgewiesene Phänomene wie etwa die Intentionalität oder die Frage nach dem Wie der Gegebenheitsweisen der Dinge in gewandelter Weise bei Heidegger wiederkehren.) Nicht das intentionale Bewußtsein oder gar die transzendentale Subjektivität, sondern die ontologische Frage nach dem Sein bildete den thematischen Ausgangspunkt Heideggers. 7 Rückblickend bemerkt er einmal: Gegen diese philosophische Position [die Phänomenologie im Sinne Husserls] setzte sich die in "Sein und Zeit" entfaltete Seinsfrage ab und dies auf Grund eines, wie ich heute noch glaube, sachgerechteren Festhaltens am Prinzip der Phänomenologie. 8

Mit dem "Prinzip der Phänomenologie" ist, wie er zuvor ausfUhrt, das Prinzip "zu den Sachen selbst" gemeint. Erst mit der "Frage nach dem Sein als solchem" (Sein überhaupt) ist der Sinn des phänomenologischen Prinzips "radikal ergriffen".9 Phänomenologie ist fUr Heidegger die Methode der Ontologie. Der Titel ,Ontologie' wird von ihm in einem weiten Sinne verstanden und schließt insbesondere die in "Sein und Zeit" entfaltete Fundamentalontologie des seinsverstehenden Daseins mit ein. Das Thema der Fundamentalontologie ist das Dasein in seiner seinsverstehenden Existenz, in deren Vollzug das Dasein mit seinem eigenen Sein die Mannigfaltigkeit des Seins des nichtdaseinsmäßigen Seienden und den Sinn von Sein überhaupt versteht. Es ist daher die Aufgabe der Phänomenologie als Methode, das Dasein in seiner seinsverstehenden Existenz schrittweise als Sich-an-ihm-selbst-zeigendes von ihm selbst her sehen zu lassen, dergestalt, daß sich sein Seinsverständnis als die Erschlossenheit (Lichtung als die ursprüngliche Wahrheit) von Sein überhaupt zeigt. Vom Logos der Phänomenologie heißt es, er habe den methodischen "Charakter des EPllllVEUElV".10 Mit dieser Charakterisierung des methodischen Sinnes der Phänomenologie als Auslegung grenzt Heidegger seinen Begriff der hermeneutischen Phänomenologie ab gegen denjenigen Husserls, der die phänomenologische Deskription als Reflexion charakteri7 Die der Seinsfrage eigentümliche phänomenologische Zugangs methode entfaltet Heidegger vor allem im § 5 seiner Marburger Vorlesung "Die Grundprobleme der Phänomenologie" vom Sommersemester 1927 (GA 24). Die drei Grundstücke der phänomenologischen (Zugangs-)Methode bezeichnet er in terminologischer, nicht aber sachlicher Anlehnung an Husserl als phänomenologische Reduktion, phänomenologische Konstruktion und phänomenologische Destruktion (vgl. unten S. 191 f.).

8 M. Heidegger: Ein Vorwort. Brief an P. William 1. Richardson (1962), in: Philosophisches Jahrbuch (der Görres-Gesellschaft) 72 (1964/65), S. 397-402, hier S. 399; auch in: W. J. Richardson: Heidegger. Through Phenomenology to Thought, The Hague 1963, S. VIII-XXIII, hier S. XV. 9 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Marburger Vorlesung Sommersemester 1925), GA 20, § 14, S. 186. 10

Sein und Zeit, EA S. 37/GA S. 50.

2 Neum.nn

18

Einleitung

siert, die sich in reflektierenden Akten als intentionalen Bewußtseinsakten höherer Stufe vollzieht. 11 Wie sehr die Abhandlung "Sein und Zeit" - nicht nur die methodischen Überlegungen im § 7 - mehr oder weniger ausdrücklich von einer um der Sache der Philosophie willen geruhrten Auseinandersetzung mit der Husserlschen Phänomenologie geprägt ist, verdeutlicht eine TextsteIle aus Heideggers Brief an K. Jaspers vom 26. Dezember 1926: Wenn die Abhandlung "gegen" jemanden geschrieben ist, dann gegen Husserl, der das auch sofort sah, aber sich von Anfang an zum Positiven hielt. 12

Heidegger, der sein eigenes Denken entschieden in die Geschichte des abendländischen Denkens stellt, ist von der Intention geleitet, dem Anspruch der Philosophie, das Sein zu denken, radikaler zu entsprechen und die großen, von ihm ausdrücklich gewürdigten Leistungen seiner Vordenker (von der Antike bis zu Husserl) auf ihre bislang verborgen gebliebenen Voraussetzungen hin zu befragen.

Weniger bekannt ist, daß Husserl sich im Sommer 1929 zu einer gründlichen Durcharbeitung von "Sein und Zeit" sowie der neueren Schriften Heideggers veranlaßt sahY Das Jahr 1929 war rur Husserls geistige Situation und sein weiteres Schaffen von großer Wichtigkeit. Noch an seinem 70. Geburtstag am 8. April 1929 war sein Verhältnis zu Heidegger ungebrochen. Nachdem er sich nach Beendigung der "Cartesianischen Meditationen" (Mitte Mai) in Tremezzo am Corner See erholt und anschließend bis Ende Juni die Drucklegung der 11 Vgl. § 3 der Einleitung zum Bd 11/1 der Logischen Untersuchungen (Hua XIX/1, S. I3 tT.). - Noch in einer Randbemerkung zu dem als Beilage XXIV der KrisisAbhandlung herausgegebenen Text vom September 1934 bezeichnet Husser1 "die existenziale Selbstbesinnung", womit er auf die Heideggersche Tenninologie anspielt, als "eine höherstufige kritische Aktivität" (Hua VI, S. 486, Anm. I). 12 M. Heidegger/K. Jaspers: Briefwechsel 1920-1963, hrsg. von W. Biemel und H. Saner, Frankfurt a. M. und München/Zürich 1990, S. 71. - Eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls findet sich in Heideggers Marburger Vorlesungen, die inzwischen fast vollständig im Rahmen der Gesamtausgabe (Bde 1726) erschienen sind (vgl. Ch.-F. Cheung: Der anfängliche Boden der Phänomenologie. Heideggers Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls in seinen Marburger Vorlesungen, Frankfurt a. M./Bern/New York 1983). 13 Am 2. Dezember 1929 schrieb Malvine Husserl an R. Ingarden, daß ihr Mann im Sommerurlaub am Corner See "gründlich Heideggers Buch durchgearbeitet" hat (E. Husserl: Briefwechsel, in Verb. mit E. Schuhmann hrsg. von K. Schuhmann, DordrechtiBoston/London 1994 (Husserliana- Dokumente 111), Bd 111, S. 255, vgl. auch S. 254 (Briefteil E. Husserls); vgl. ferner Briefwechsel, Bd 11, S. 184 (E. Husserl an A. Pfänder, 6. Januar 1931».

§ 2. Das philosophische Zwiegespräch zwischen Husserl und Heidegger

19

"Fonnalen und transzendentalen Logik" abgeschlossen hatte, widmete er sich rur zwei Monate (zuerst in Freiburg, dann wieder in Tremezzo) hauptsächlich dem Studium der Werke Heideggers. In diese Monate fiel auch Heideggers Antrittsvorlesung "Was ist Metaphysik?", die er am 24. Juli in der Aula der Universität Freiburg i. Br. im Beisein Husserls gehalten hat. Für Husserls Revision seiner Stellung zu Heidegger hat sicherlich auch dessen Antrittsvorlesung einen nachhaltigen Anstoß gegeben. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß dem Anlaß einer solchen offiziellen Vorlesung entsprechend der Vortragende ein Grundanliegen seines Denkens vorgestellt hat, dann dürfte sich Husserls Verdacht bekräftigt haben, daß Heideggers philosophische Denkweise in eine ganz andere Richtung ging als seine eigene. Husserls Spätwerk "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie", insbesondere die Hinwendung zum Problem der Geschichtlichkeit und Geschichte 14, kann demnach auch als eine Antwort auf Heideggers Grundwerk "Sein und Zeit" gelesen werden 15, ohne daß freilich die Motive, die Husserls eigenem Philosophieren entsprungen sind, übersehen werden dürfen. Als Husserl nach dem Erscheinen von "Sein und Zeit" im Frühjahr 1927 bei der ersten flüchtigen Lektüre eine Preisgabe der Methode der transzendentalen Phänomenologie festzustellen glaubte, schrieb er es seinem damaligen Zweifel an seiner Fähigkeit zu, "fremde Gedankenmotive nachzuverstehen u. zu würdigen".16 Der (spätere) Hauptvorwurf Husserls gegen "Sein und Zeit" ist darin zu sehen, daß dieses Werk wegen Mißachtung der transzendental-phänomenologischen Epoche und Reduktion im Psychologischen und Anthropologischen steckenbleibe. 17 Zunächst hoffte Husserl noch, zwischen seiner und Heideggers Philosophie eine "den beiderseitigen Schülern zugängliche Brücke" schlagen zu können. 18 Einige Jahre später schrieb er dann allerdings an seinen früheren Assistenten L. Landgrebe, den er verdächtigte, seine "Lehre von den Horizonten in Heideggerschem Sinn umzugestalten und so doch eine Verbindung" herzu14 Vgl. unten § 5, S. 44 ff., ferner § 8 a, S. 65 ff. 15 Schon bald nach dem Erscheinen des zuvor weitgehend unbekannt gebliebenen Spätwerks als Band VI der Husserliana im Jahr 1954 wurde es als Antwort auf die Heideggersche Umwandlung der Phänomenologie gelesen. So schreibt H. Lübbe in seinem Aufsatz "Husserl und die europäische Krise": "Und so ist auch Husserls letztes Werk zu einem guten Teil Antwort und Reaktion auf die Heideggersche Umwandlung der klassischen Phänomenologie in eine Analytik des ,Daseins'." (In: Kant-Studien 49 (1957/58), S. 225-237, hier S. 226.) 16 E. Husserl: Briefwechsel, Bd 11, S. 182 (Brief an A. Pfltnder, 6. Januar 1931). 17 Husserl äußert diesen Vorwurf (ohne Heidegger namentlich zu erwähnen) in seinem "Nachwort" zu den "Ideen I" (1930) und seinem Vortrag "Phänomenologie und Anthropologie" (1931) (vgl. unten S. 35, Anm. 48). 18 E. Husserl: Briefwechsel, Bd 1II, S. 234 (Brief an R. Ingarden, 19. November 1927).

2*

Einleitung

20

stellen: "Ich bin ganz sicher, daß das nicht möglich ist [ ... ]" 19 Vorausgegangen war, wie oben erläutert, ein eingehendes Studium von "Sein und Zeit" sowie der neueren Schriften Heideggers im Sommer 1929. Husserls Brief an R. Ingarden vom 2. Dezember 1929 verdeutlicht seine abschließende Stellungnahme zur Heideggerschen Philosophie: Z.Z. bin ich arg müde u. freue mich bald auszuspannen, wie ich muß. Das eingehende "Studium von Heidegger"? Ich kam zum Resultat, daß ich das Werk nicht dem Rahmen meiner Phän < omenologie > einordnen kann, leider aber auch, daß ich es methodisch ganz und gar u. im Wesentlichen auch sachlich ablehnen muß. 20

Auch die in diesem Jahr entstandenen Randbemerkungen Husserls in seinem eigenen (im Husserl-Archiv aufbewahrten) Exemplar von "Sein und Zeit" verdeutlichen nicht nur eine durchgehend sehr konzentrierte Lektüre dieses Werkes, sondern ebenso die immer mehr zu Tage tretenden methodischen und sachlichen Differenzen. 21 Neben unzähligen Fragezeichen findet sich immer wieder die Randbemerkung "Einwand". An seiner "nüchtern-endgiltigen Stellung zur H schen Philosophie" 22 hielt er seitdem unwiderruflich fest. Diese späte philosophische Abwendung nicht nur von Heidegger, sondern ebenso von anderen Phänomenologen wie M. Scheler, den er nun mit Heidegger zu seinen "Antipoden" rechnete 23, hing wohl auch mit Husserls wachsendem Bewußtsein von seiner "philosophischen Mission" 24 in einer Zeit der wissenschaftlichen Vereinsamung zusammen. 25 Die Entwicklung der Philosophie sah er durch die "Pseudo-Wissenschaftlichkeit" der Heideggerschen Existenzialphilosophie, die "zur allbeherrschenden Mode" zu werden drohte, geflihrdet. 26 Es ist zu beachten, daß es nach Husserl nur eine wahre Endgestalt der Philosophie geben kann, nämlich in der "Endstiftung" als transzendentale Phänomenologie. 27 19

20

E. Husserl: Briefwechsel, Bd IV, S. 305 (Brief vom 5. Februar 1933). E. Husserl: Briefwechsel, Bd III, S. 254.

21 Husserls Randbemerkungen wurden erst 1994 verötTentlicht: Randbemerkungen

Husserls zu Heideggers Sein und Zeit und Kant und das Problem der Metaphysik, in: Husserl Studies 11 (1994), S. 3-63 (mit einer instruktiven Einleitung von R. Breeur). 22 E. Husserl: Briefwechsel, Bd 11, S. 184 (Brief an A. Pfander, 6. Januar 1931). 23 E. Husserl: Briefwechsel, Bd III, S. 274 (Brief an R. Ingarden, 19. April 1931); vgl. auch Krisis, Hua VI, S. 439. 24

E. Husserl: Briefwechsel, Bd III, S. 492 (Brief an D. Mahnke, 4./5. Mai 1933).

Vgl. auch die Einleitung von R. Breeur zu den von ihm editierten "Randbemerkungen Husserls zu Heideggers Sein und Zeit ... ", in: Husserl Studies 11 (1994), S. 5 f.; ferner die Einleitung des Herausgebers (I. Kern) zum Bd XV der Husserliana, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, S. XXI tT. 25

26 27

E. Husserl: Briefwechsel, Bd III, S. 473 (Brief an D. Mahnke, 8. Januar 1931). Vgl. unten § 5, S. 45 f.

§ 3. Der Aufriß der Abhandlung

21

Es darf abschließend nicht versäumt werden, auf den wichtigen Einfluß E. Finks hinzuweisen, der nach Husserls Emeritierung im Jahr 1928 dessen Privatassistent wurde und die Entstehung der Krisis-Abhandlung eng begleitet hat. Fink bemühte sich darum, zwischen den Positionen Husserls und Heideggers zu vermitteln.

§ 3. Der Aufriß der Abhandlung Die Krisis-Abhandlung bildet den Leitfaden fiir die im ersten Teil dieser Arbeit entfaltete Frage nach dem Verhältnis von lebensweltIichem und mathematisch-naturwissenschaftlichem Raum in der transzendentalen Phänomenologie Husserls. Husserls letztes großes Werk ist aber etwa ein Jahrzehnt nach Heideggers Grundwerk "Sein und Zeit" entstanden. Wenn Husserls Spätwerk zum Teil auch als Antwort auf "Sein und Zeit" gelesen werden kann, darf es keinesfalls als eine grundsätzliche Abwendung von seinem vorherigen Denken interpretiert werden. Für die in erster Linie systematisch ausgerichtete Gegenüberstellung der Phänomenologie Husserls und Heideggers ist es daher angebracht, die Ausfiihrungen mit dem Husserl-Teil zu beginnen. Die kritische Gegenüberstellung und Abgrenzung des Husserlschen und Heideggerschen Denkens erfolgt themenzentriert in den jeweiligen Paragraphen, wobei im Husserl-Teil (A) zunächst ein gewisser Vorblick gegeben wird, der dann im Heidegger-Teil (B) weiter vertieft wird. Die vorliegende Untersuchung ist selbst von der Intention geleitet, schrittweise zu den "Sachen selbst" vorzudringen. Die wechselseitige Beleuchtung der beiden denkerischen Entwürfe kann dazu beitragen, den Blick fiir die in Frage stehenden Phänomene zu schärfen. Der Husserl-Teil gliedert sich in vier Kapitel. Thema des ersten Kapitels ist der erste Teil der Krisis-Abhandlung. Nach einer kurzen Vergegenwärtigung der Grundlagenprobleme in der modemen Mathematik und Geometrie (§ 4) wird erörtert, inwiefern die Krisis nicht nur der positiven Wissenschaften, sondern des europäischen Menschentums selbst eine Besinnung auf die historischen Ursprünge unserer kritischen wissenschaftlichen und philosophischen Situation erforderlich macht (§ 5). Für die Frage nach den historischen Ursprüngen der gegenwärtigen Krisis kommt fiir Husserl der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft eine nicht hoch genug zu bewertende Bedeutung zu. Das zweite Kapitel befaßt sich mit Galileis Urstiftung der mathematischen Naturwissenschaft auf dem Boden der Euklidischen Geometrie. Zunächst wird über Husserls knappe Ausfiihrungen hinaus versucht, den Wandel von der Horizontgebundenheit und Endlichkeit der vorneuzeitlichen Wissenschaften (§ 6) zum unendlichen methodischen Fortschreiten der neuzeitlichen Wissen-

22

Einleitung

schaft (§ 7) zu verdeutlichen. Die Geometrisierung der materiellen Natur vollzieht Galilei auf dem unbefragten Boden der bereits in der antiken Geometrie vollzogenen Idealisierung der schlicht-anschaulich gegebenen Gestalten der Lebenswelt. Mit der Konzeption der analytischen Geometrie und der Einfiihrung algebraischer Bezeichnungsweisen hat sich die nur mehr im immanenten Methodensinn operierende Mathematik im Verlauf der Neuzeit immer weiter von ihren Sinnesquellen entfernt. Der § 8 thematisiert das methodische Problem und die Aufgabe einer historischen Rückfrage nach dem vergessenen Ursprungssinn der zur bloßen Technik herabgesunkenen Geometrie. Der § 9 wendet sich den zentralen Gedankengängen des berühmten Galilei-Paragraphen im zweiten Teil der Krisis-Abhandlung zu. Es wird versucht, die Mathematisierung der Natur selbst, die von Husserl als methodische Substruktion aufgedeckt wird, im Rückgang auf Galileis Originalschriften am Leitfaden des neuen Begriffs der Materie zu vertiefen. Die vorgegebene Lebenswelt, die im Galilei-Paragraphen als das vergessene Sinnes- und Geltungsfundament fiir die ,objektive' Wissenschaft in den Blick tritt, wird in der Sektion A des dritten Teils der Krisis-Abhandlung unter einer gewandelten Betrachtungsweise selbst als Problem thematisiert und auf die Weisen ihrer konstitutiven Bildung hin befragt. Das dritte Kapitel des Husserl-Teils gibt eine Gesamtcharakteristik des Problems der Lebenswelt und einen Ausblick auf die philosophische Kritik. In der gewandelten Betrachtungsweise tritt das Problem der Lebenswelt als das philosophische Universalproblem in den Blick, während die höherstufigen Leistungen der Wissenschaften zu einem Teilproblem innerhalb des Problems der Lebenswelt werden (§ 10). Der § 11 untersucht die invariante Wesensstruktur der Lebenswelt und erörtert insbesondere Heideggers Kritik an einem konstitutiven Aufbau der Lebenswelt, der von einer alle weiteren Bestimmungen (Gebrauchscharaktere, Wertprädikate usw.) fundierenden körperlichen Grundschicht ausgeht. Ein zentraler Begriff fiir die Frage nach den räumlichen Gegebenheitsweisen der sinnlich-anschaulichen Körperdinge ist der Begriff der Kinästhese. Im vierten Kapitel geht es darum, eine grundsätzliche Orientierung zum Problem der Ding- und Raumkonstitution zu geben. Zum Verständnis der äußerst knappen Ausfiihrungen in den §§ 28, 47 und 62 der Krisis-Abhandlung ist es erforderlich, auf weitere veröffentlichte und unveröffentlichte Texte Husserls zurückzugreifen. Im Ausgang von der apperzeptiven Schicht der res extensa als transzendentalem Leitfaden fiir das Problem der Raumkonstitution (§ 12) wird unter besonderer Berücksichtigung der Zeitstruktur im § 13 gezeigt, wie der Raum mit den ich-tätigen kinästhetischen Vollzügen korreliert ist. Der § 14 erörtert das Problem der Homogenisierung der ursprünglichen Nahsphäre zum endlos offenen Raum. Von den zwei Abschnitten des Heidegger-Teils untersucht der in drei Kapitel gegliederte erste Abschnitt die Frage nach dem Raum und der mathematischen Wissenschaft vom reinen, homogenen Raum in der transzendental-horizontalen

§ 3. Der Aufriß der Abhandlung

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Blickbahn der Fundamentalontologie. Textliche Grundlage der ersten bei den Kapitel ist vor allem der erste Abschnitt (des ersten Teils) von "Sein und Zeit". Das erste Kapitel untersucht die existenzial-ontologische Ermöglichung des Umschlags vom besorgend-vertrauten Aufgehen in der Welt zum ontologisch sekundären Seinsstand des Welterkennens. In einer Vorbemerkung, die zugleich einen Vorblick auf den gegenüber der Husserlschen Phänomenologie gewandelten Fragehorizont geben soll, wird zunächst der sachlich-wissenschaftliche Vorrang der Seinsfrage fiir die ontologische Grundlegung der positiven Wissenschaften erörtert (§ 15). Heideggers neuer Leitfaden der Philosophie als Ontologie ist das Dasein in seiner seins verstehenden Existenz. Der § 16 gibt eine Analyse der Grundexistenzialien des Daseins. Der zur Umwelt gehörende Raumcharakter kann fiir Heidegger nur aus der Struktur der Weltlichkeit expliziert werden. Bevor im zweiten Kapitel die Raumphänomene untersucht werden, wendet sich der § 17 Heideggers berühmter Zeug- und Weltanalyse zu und gibt eine kritische Gegenüberstellung zu den entsprechenden Phänomenen in der transzendentalen Phänomenologie Husserls. Der § 18 zeigt, wie aus der Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens mit dem nächstbegegnenden Seienden (Zeug) allererst die Möglichkeit des wissenschaftlichen Welterkennens entspringt. Am Leitfaden der §§ 22 bis 24 von "Sein und Zeit" gibt das zweite Kapitel eine Analytik der kategorialen Räumlichkeit des zuhandenen Seienden (§ 19), der existenzialen Räumlichkeit des besorgend-entdeckenden Daseins (§ 20) und der Räumlichkeit der erschlossenen Welt (§ 21). Die von Heidegger freigelegten Raumphänomene, aus deren Entweltlichung erst der reine, homogene Raum fiir das nur noch vorhandene Seiende entspringt, werden (neben einer Abgrenzung zu Leibniz und Kant) vor allem in ihrem Verhältnis zu den phänomenologischen Raum- und Wahrnehmungstheorien Husserls und Merleau-Pontys beleuchtet. Das dritte Kapitel wendet sich dem zweiten Abschnitt von "Sein und Zeit" zu, um nach den vorbereitenden Analysen den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu untersuchen. Zur Vertiefung werden auch Textabschnitte aus dem "Zeit und Sein" betitelten dritten Abschnitt (vgl. § 8 von "Sein und Zeit") herangezogen, dessen einzig erhaltene Ausarbeitung Heideggers Marburger Vorlesung "Die Grundprobleme der Phänomenologie" vom Sommersemester 1927 darstellt. In Anknüpfung an den § 18 wird im § 22 die Abkünftigkeit des theoretischen Erkennens vom umsichtigen Entdecken als primärer Weise des besorgenden In-der-Welt-seins auf ihren ekstatisch-zeitlichen Sinn hin befragt. Als klassisches Beispiel fiir die Ausbildung wissenschaftlicher Erkenntnis wird die ontologische Genesis der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft erörtert. Im § 23 wird der Vorrang der Zeitlichkeit gegenüber der daseinsmäßigen Räumlichkeit im Sinne einer existenzialen Fundierung aufgewiesen. Es wird gezeigt, daß der Vorrang der ursprünglichen Zeit, der auch noch Heideggers Buch "Kant und das Problem der Metaphysik" von 1929 bestimmt, mit dem immanenten Wandel von der

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Einleitung

transzendental-horizontalen zur ereignisgeschichtlichen Blick- und Fragebahn zurückgegründet wird in die Gleichursprünglichkeit des Zeit-Raumes. Nach diesem schon überleitenden Vorblick wendet sich der zweite Abschnitt des Heidegger-Teils der Frage nach dem Raum im ereignisgeschichtlichen Denken zu. Die in den Jahren 1936 bis 1938 in den "Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)", Heideggers zweitem Hauptwerk (das erst 1989 zum 100. Geburtstag des Philosophen veröffentlicht wurde), entworfenen Grundbezüge bestimmen seitdem unausdrücklich alle öffentlichen Schriften, Vorträge und Vorlesungen. In den Bahnen des hier Entworfenen bewegt sich auch noch Heideggers spätestes, das sogenannte topologische Denken. Der § 24 versucht einen Einblick in den immanenten Wandel von "Sein und Zeit" zum "Ereignis" zu geben. Zugleich wird eine Übersicht zu den sechs Fügungen der Fuge des Ereignisses gegeben, in deren Bahnen sich die in den bei den folgenden Paragraphen interpretierten Vorträge bewegen. Die Textgrundlage rur den § 25, der die ereignisgeschichtliche Frage nach dem Wesenszusammenhang von neuzeitlicher Naturwissenschaft und moderner Technik zum Inhalt hat, bildet vor allem Heideggers Vortrag "Die Frage nach der Technik" (1953). Die Untersuchung bildet gewissermaßen das Gegenstück zum § 9 d, der den instrumentalen Charakter der mathematischen Naturwissenschaft in der Deutung Husserls thematisiert. Innerhalb der Blickbahn des Ereignisses wandelt sich Heideggers Weltbegriff zu dem, was er in dem Bremer Vortrag "Das Ding" (1949) erstmals öffentlich als das Geviert bezeichnet. In Heideggers Vortrag "Bauen - Wohnen - Denken" (1951), um dessen Interpretation sich der § 26 bemüht, wird aus dem bauend-wohnenden Aufenthalt des Menschen im Geviert bei den Dingen dessen ursprünglicher Bezug zum Raum entfaltet. Das geschichtliche Wesen (Währen) des Raumes, das rur Heidegger durch einen wachsenden Entzug gekennzeichnet ist, wird deutlich in der vorausgeschickten Abhebung der griechischen Naturund Raumerfahrung gegen die neuzeitliche. Mit der Bestimmung des Verhältnisses des ursprünglichen Raumes sowohl zum lebensweltlich-anschaulichen Raum Husserls als auch zum mathematischen Raum wird zugleich eine abschließende Zusammenfassung und systematische Abgrenzung der behandelten Raumbegriffe gegeben.

Teil A Lebensweltlicher und mathematischnaturwissenschaftlicher Raum in der transzendentalen Phänomenologie Husserls I. Kapitel: Die Krisis der europäischen Wissenschaften als Ausgangspunkt in Husserls Spätwerk

§ 4. Die Grundlagenkrisis der modernen Mathematik Ein kurzer historischer Rückblick Die Mehrzahl der heutigen Mathematiker und Physiker dürfte mit der Geometrie- und Raumauffassung übereinstimmen, wie sie A. Einstein in seinem Berliner Festvortrag "Geometrie und Erfahrung" I zum Ausdruck gebracht hat. Einstein geht von folgender Frage aus: Wie ist es möglich, daß die Mathematik, die doch ein von aller Erfahrung unabhängiges Produkt des menschlichen Denkens ist, auf die Gegenstände der Wirklichkeit so vortrefflich paßt? Kann denn die menschliche Vernunft ohne Erfahrung durch bloßes Denken Eigenschaften der wirklichen Dinge ergründen? 2

Hierauf ist nach der Ansicht Einsteins kurz zu antworten: Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit. Die volle Klarheit über die Sachlage scheint mir erst durch diejenige Richtung in der Mathematik Besitz der Allgemeinheit geworden zu sein, welche unter dem Namen "Axiomatik" bekannt ist. Der von der Axiomatik erzielte Fortschritt besteht nämlich darin, daß durch sie das Logisch-Formale vom sachlichen oder anschaulichen Gehalt sauber getrennt wurde; nur das Logisch-Formale bildet gemäß der Axiomatik den Gegenstand der Mathematik, nicht aber der mit dem Logisch-Formalen verknüpfte anschauliche oder sonstige Inhalt. 3 I A. Einstein: Geometrie und Erfahrung, erw. Fassung des Festvortrages, gehalten an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 27. Januar 1921, Berlin 1921 (auch in: A. Einstein: Mein Weltbild, hrsg. von C. Seelig, Zürich/Stuttgart/Wien 1953, S. 156-166).

2 3

A. Einstein: Geometrie und Erfahrung, Berlin 1921, S. 3. A. Einstein: Geometrie und Erfahrung, S. 3 f.

A. I. Die Krisis der europäischen Wissenschaften

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Von der "rein axiomatischen Geometrie" unterscheidet Einstein (als Zweig der Physik) die von der Erfahrung abhängige "praktische Geometrie der Welt", von der allein wir Aussagen über das Verhalten wirklicher Dinge erhalten. 4 Die Beantwortung der Frage, ob die praktische Geometrie der realen Welt eine euklidische sei oder nicht, kann nur durch die Erfahrung geliefert werden. Die anfangs gestellte Frage, weshalb die inhaltsleeren Begriffsschemata der geometrischen Axiomatik auf die Gegenstände der Wirklichkeit "so vortrefflich passen", bleibt in Einsteins Vortrag aber im Grunde unbeantwortet. P. Janich ist der Ansicht, daß ein derartiges, von ihm als "formalistisch-empiristisch" bezeichnetes Geometrieverständnis (an das sich eine "logisch-empiristische Wissenschaftstheorie" angehängt hat) noch heute die in der Mathematik und Physik vorherrschende Auffassung seL 5 Die von Einstein beschriebene Axiomatisierung der Geometrie geht vor allem auf den Mathematiker D. Hilbert und dessen 1899 erschienenes Werk "Grundlagen der Geometrie" zurück. Dagegen beruht noch rur M. Pasch, der in seiner Axiomatisierung der Geometrie als Vorläufer Hilberts gilt, die erfolgreiche Anwendung der Geometrie "in den Naturwissenschaften und im praktischen Leben" darauf, "daß die geometrischen Begriffe ursprünglich genau den empirischen Objekten entsprachen, wenn sie auch allmählich mit einem Netz von künstlichen Begriffen übersponnen wurden, um die theoretische Entwicklung zu fördem".6 Das Problem des fehlenden inhaltlichen oder sachlichen Bezuges der modemen Geometrie wird aber auch in der Gegenbewegung zum Formalismus, dem Intuitionismus, nicht gelöst. 7 Die Geometrie wird auch im Intuitionismus der Arithmetik einverleibt. 8

4 A. Eins/ein: Geometrie und Erfahrung, S. 6. 5 P. Janich: Die Galileische Geometrie. Zum Verhältnis der geometrischen Idealisierung bei E. Husserl und der protophysikalischen Ideationstheorie, in: Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie, hrsg. von C. F. Gethmann, Bonn 1991, S. 164-179, hier S. 164 f. (zur konstruktiven Wissenschaftstheorie der Erlanger Schule vgI. auch unten S. 104 f.). 6 M. Pasch: Vorlesungen über neuere Geometrie, mit einem Anhang von M. Dehn, Berlin 2 1926, S. V (Vorwort zur I. Auflage, Leipzig 1882). 7

Zum Gegensatz von Intuitionismus und Formalismus (und Logizismus) vgI.

0. Becker: Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Freiburg/München 2 1964, S. 317 ff.; S. Körner: Philosophie der Mathematik. Eine Einführung, München 1968, S. 61 ff. - Die überwiegende Mehrheit der heutigen Mathematiker ist nach Einschätzung H. Meschkowskis und P. Lorenzens am Formalismus orientiert (vgl. H. Meschkowski: Richtigkeit und Wahrheit in der Mathematik, Mannheim/Wienl Zürich 1976, S. 89; ders.: Einführung in die modeme Mathematik, Mannheim/Wienl Zürich 3 1971 , S. 15, Anm. 3). 8 Vgl. z. B. L. E. J. Brouwers Antrittsvorlesung "Intuitionisme en formalisme" an der Universität Amsterdam am 14. Oktober 1912, in englischer Übersetzung von A. Dresden unter dem Titel "Intuitionism and Formalism" abgedruckt in: L. E. 1. Brouwer: Collected Works, Vol. 1: Philosophy and Foundations of Mathematics, ed. by A.

§ 4. Die Grundlagenkrisis der modernen Mathematik

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Der Versuch einer intuitionistischen Neubegründung der Mathematik (u. a. durch L. E. J. Brouwer, H. Weyl) ist im Zusammenhang mit einer, wie Husserl in einem Brief schreibt, "sie in den tiefsten Tiefen erschütternden ,Grundlagenkrisis' ,,9 zu sehen. Die von B. Russell entdeckten Antinomien der (Cantorsehen) Mengenlehre, hat erstmals G. Frege im Nachwort des 1903 erschienenen zweiten Bandes seines Hauptwerks "Grundgesetze der Arithmetik" öffentlich bekanntgemacht. IO Die aufgetretenen Antinomien konnten zwar mit Hilfe von Ad-hoc-Verfahren vermieden werden, aber dadurch war nicht prinzipiell die Möglichkeit ausgeräumt, daß eines Tages ungeahnte neue Antinomien entdeckt werden könnten. I I Die Arithmetisierung der Geometrie setzt einen hochentwikkelten Zahlbegriff voraus, insbesondere den Begriff der reellen Zahl. Im Sinne der auf G. Cantor 12 zurückgehenden Mengenlehre setzen die reellen Zahlen ihrerseits den Begriff abzähl barer und nicht-abzählbarer aktualer Unendlichkeiten voraus. Demgegenüber hat noch C. F. Gauß 13, der "Mathematicorum princeps" (wie er auf einer Medaille des Königs Georg V. von Hannover genannt wird), an dem scholastischen Grundsatz infinitum actu non datur festgehalten. In seinem berühmten Brief an H. Ch. Schumacher vom 12. Juli 1831 heißt es: Heyting, Amsterdam/Oxford and New York 1975, S. 123-138, bes. S. 128 (vgl. hier auch Points and Spaces (1954), S. 522-538). - Zur intuitionistischen Vorzugsstellung der Arithmetik vgl. auch K. Mainzer: Geschichte der Geometrie, Mannheim/Wienl Zürich 1980, S. 189 ff., bes. S. 192. 9 E. Husser/: Briefwechsel (Husserliana - Dokumente III), Bd VIII, S.40 (an S. Coit, 18. September 1927). - Auch H. Weyl wendet sich in seinem Aufsatz "Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik" (1921) entschieden dagegen, die Antinomien der Mengenlehre einfach als "Unzuträglichkeiten in den Grenzbezirken der Mathematik" abzutun. Vielmehr kommt in ihnen "an den Tag, was der äußerlich glänzende und reibungslose Betrieb im Zentrum verbirgt: die innere Haltlosigkeit der Grundlagen, auf denen der Aufbau des Reiches ruht" (abgedruckt in: Selecta Hermann Wey/, hrsg. zu seinem 70. Geburtstag von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich und vom Institute for Advanced Study in Princeton, Basel I Stuttgart 1956, S. 211-248, hier S. 211; auch in: H. Wey/: Gesammelte Abhandlungen, hrsg. von K. Chandrasekharan, Berlin/Heidelberg/New York 1968, Bd 11, S. 143-180, hier S. 143). 10 G. Frege: Grundgesetze der Arithmetik. Begriffsgeschichtlich abgeleitet, Bd 11, Jena 1903 (Nachdruck: Darmstadt 1962), S. 253 ff. 11 V gl. 0. Hecker: Größe und Grenze der mathematischen Denkweise, Freiburgl München 1959, S. 121 f.; W Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, Berlinl Heidelberg/New York 2 1969, S. 304. 12 Vgl. J. W Dauben: Georg Cantor. His Mathematics and Philosophy of the Infinite, Princeton, New Jersey 1990, bes. S. 120 ff.

13 Auch Husserl beruft sich auf den von ihm sehr geschätzten Mathematiker (vgl. die Vorrede zur Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S.8; ferner Husserls Brief an P. Natorp vom 7. September 1901, in: Studien zur Arithmetik und Geometrie, Hua XXI, S. 396; auch in: E. Husser/: Briefwechsel, Bd V, S. 80).

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A. I. Die Krisis der europäischen Wissenschaften

Was nun aber Ihren Beweis [ ... ] betrifft, so protestire ich zuvörderst gegen den Gebrauch einer unendlichen Grösse als einer Vollendeten, welcher in der Mathematik niemals erlaubt ist. Das Unendliche ist nur eine fa~on de parler, indem man eigentlich von Grenzen spricht, denen gewisse Verhältnisse so nahe kommen als man will, während andem ohne Einschränkung zu wachsen verstattet ist. 14 Ein wesentlicher Punkt des intuitionistischen Programms liegt in der Ablehnung des Aktual-Unendlichen. 15 Ein mathematischer Gegenstand existiert nur, wenn ein finites Rechenverfahren angegeben werden kann, durch das er erzeugt wird. Auf diese Weise läßt sich schrittweise prüfen, ob Widersprüche oder zirkelhafte Begriffsbildungen auftreten können. Formale Widerspruchsfreiheit wurde erst in der modemen Mathematik zum alleinigen Kriterium mathematischer Wahrheit und Existenz. In einem Briefwechsel mit G. Frege erläutert Hilbert die formalistische Konzeption seines gerade erschienenen Werkes "Grundlagen der Geometrie": Wenn sich die willkürlich gesetzten Axiome nicht einander widersprechen mit sämtlichen Folgen, so sind sie wahr, so existieren die durch die Axiome definirten Dinge. Das ist für mich das Criterium der Wahrheit und der Existenz. 16 Der Formalismus wurde in den dreißiger Jahren durch Untersuchungen K. Gödeis erneut erschüttert. Er konnte nachweisen, daß sogar ein formales System, das nichts weiter als die elementare Arithmetik formalisiert, diese nicht vollständig formalisiert. 17 14 earl Friedrich Gauß: Werke, hrsg. von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Bd VIII, Leipzig 1900, S. 216. 15 VgI. H. Meschkowski: Wandlungen des mathematischen Denkens. Eine Einführung in die Grundlagenprobleme der Mathematik, München/Zürich 5 1985, S. 53 ff.; ders.: Problemgeschichte der Mathematik IlI, Mannheim/Wien/Zürich 1986 (Neuaufl.), S. 275 fT. 16 Hilbert an Frege, 29. Dezember 1899, in: G. Frege: Wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. von G. Gabriel [u. a.], Hamburg 1976 (= Nachgelassene Schriften und Wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. von H. Hermes [u. a.], Bd 11), S. 66. - Dagegen haben für Frege die geometrischen Axiome ihren Ursprung in unserer Raumanschauung. In seinem Brief an Hilbert vom 27. Dezember 1899 heißt es: "Axiome nenne ich Sätze, die wahr sind, die aber nicht bewiesen werden, weil ihre Erkenntnis aus einer von der logischen ganz verschiedenen Erkenntnisquelle fliesst, die man Raumanschauung nennen kann." (G. Frege: Wissenschaftlicher Briefwechsel, S. 63.) Es ist anzumerken, daß Frege in seinem fragmentarisch gebliebenen "Neuen Versuch der Grundlegung der Arithmetik" (1924/25) seine frühere Ansicht revidierte, "daß die Arithmetik auch der Anschauung keinen Beweisgrund zu entnehmen brauche" (G. Frege: Nachgelassene Schriften, bearb. von H. Hermes [u. a.], Hamburg 1969 (= Nachgelassene Schriften und Wissenschaftlicher Briefwechsel, Bd I), S. 298-302, hier S. 298). 17 K. Gödel: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia mathematica und verwandter Systeme I (1931), in: ders.: Collected Works, VoI. 1, ed. by S. Feferman, New York and Oxford 1986, S. 144-195 (deutsch-englisch). - Zwar konnte erstmals

§ 4. Die Grundlagenkrisis der modernen Mathematik

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Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts war Widerspruchsfreiheit eher eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit als ein methodisches Ideal. In der Geometrie ist die Frage nach der Widerspruchsfreiheit vor allem im Hinblick auf die seit der Antike umstrittene Rolle des auf Euklid zurückgehenden Parallelen-Postulates in das Zentrum des Interesses gerückt. Gerade die vergeblichen Versuche, das Parallelen-Postulat aus den übrigen Grundsätzen abzuleiten, fiihrte schließlich zur Aufstellung widerspruchsfreier nichteuklidischer Geometrien. Schon im 18. Jahrhundert nahmen die Beweisversuche G. Saccheris und J. H. Lamberts, ohne es zu wissen, eine Reihe von Sätzen der nichteuklidischen Geometrie vorweg. In Anlehnung an arabische Mathematiker geht der Beweis dabei den indirekten Weg der reductio ad absurdum. Es wird versucht, aus der Negation des Parallelen-Postulates, das mit dem Satz über die Winkelsumme im Dreieck äquivalent ist, einen Widerspruch zu den übrigen Grundsätzen abzuleiten. 18 Lambert entfernte sich erstmals von der Ausrichtung auf die Beweisbarkeit des Parallelen-Postulates selbst. Es ist fortan nicht mehr entscheidend, ob oder wie ein geometrischer Grundsatz bewiesen oder begründet werden kann. Vielmehr entscheidet die Auswahl der Axiome über die Gestalt einer Geometrie. Diesen entscheidenden Wandel der Fragestellung bezeichnet der amerikanische Mathematikhistoriker E. T. Bell als "one of the major revolutions in all thought", weil er nicht nur spezifische Bereiche der Wissenschaft und Mathematik betrifft: For non-Euclidean geometry and abstract algebra were to change the whole outlook on deductive reasoning, and not merely enlarge or modify particular divisions of science and mathematics. To the abstract algebra ofthe 1830's and the bold creations von G. Gentzen die Widerspruchsfreiheit der reinen Zahlentheorie bewiesen werden, aber nur unter Verwendung des Prinzips der transfiniten Induktion (bis zur ersten EZahl), das in dem formalen System selbst nicht enthalten ist (G. Gen/zen: Die Widerspruchsfreiheit der reinen Zahlentheorie, in: Mathematische Annalen 112 (1936), S. 493-565; englische Übersetzung unter dem Titel "The Consistency of Elementary Number Theory" in: The Collected Works of Gerhard Gen/zen, ed. by M. E. Szabo, Amsterdaml London 1969, S. 132-213). Gentzens Beweis der Widerspruchsfreiheit der reinen Zahlentheorie steht demnach nicht im Widerspruch zu GödeIs Theorem, daß die Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit der (formalisierten) Zahlentheorie mit den Mitteln des formalen Systems selbst nicht bewiesen werden kann (vgl. hierzu H. Meschkowski: Richtigkeit und Wahrheit in der Mathematik, S. 76 f.; W S/egmüller: Unvollständigkeit und Unentscheidbarkeit. Die metamathematischen Resultate von Gödel, Church, Kleene, Rosser und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, Wien 1959, bes. S. 27). 18 Eine Übersicht der Quellentexte gibt: Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauß. Eine Urkundensammlung zur Vorgeschichte der nichteuklidischen Geometrie, in Gemeinschaft mit F. Engel hrsg. von P. Stäckel, Leipzig 1895. Einen Abriß zum Parallelen-Problem und zur Entstehung der axiomatischen Methode gibt: 1. Dieudonm!: Geschichte der Mathematik 1700-1900. Ein Abriß, Braunschweigl Wiesbaden 1985, S. 749 ff. (Kap. 13 (von M. Guillaume): Axiomatik und Logik).

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A. I. Die Krisis der europäischen Wissenschaften of Lobachewsky and Bolyai can be traced directly the current (1945) estimate of mathematics as an arbitrary creation of mathematicians. 19

Der Mathematiker wird zum eigenmächtigen Schöpfer seiner Gebilde. Die ersten Modelle widerspruchsfreier nichteuklidischer Geometrien, als deren Grenzfall sich die euklidische Geometrie erwies, haben unabhängig voneinander C. F. Gauß, J. Bolyai und N. I. Lobatschewski (Lobat'evskij) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Der Widerstand, auf den diese fremdartigen und äußerst abstrakten Geometrien anfänglich stießen, zeigt sich daran, daß Gauß sich wegen des "Geschreis der Böotier" 20 scheute, seine Ergebnisse zu veröffentlichen. Gerade in der Unmöglichkeit, apriori darüber entscheiden zu können, welche der widerspruchsfrei möglichen Geometrien in der Natur tatsächlich realisiert ist, liegt schon rur Gauß "der klarste Beweis, dass Kant Unrecht hatte zu behaupten, der Raum sei nur Form unserer Anschauung".21 An den Mathematiker und Astronomen F. W. Bessel schreibt er am 9. April 1830: Nach meiner innigsten Überzeugung hat die Raumlehre in unserm Wissen apriori eine ganz andere Stellung, wie die reine Grössenlehre; es geht unserer Kenntniss von jener durchaus diejenige vollständige Überzeugung von ihrer Nothwendigkeit (also auch von ihrer absoluten Wahrheit) ab, die der letztem eigen ist; wir müssen in Demuth zugeben, dass, wenn die Zahl blass unsers Geistes Product ist, der Raum auch ausser unserm Geiste eine Realität hat, der wir apriori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können. 22

19 E. T. Bell: The Development ofMathematics, New York/London 2 1945, S. 330 (Chapter 15: Contributions from Geometry). 20 C. F. Gauß: Werke, Bd VIlI, S. 200 (Briefwechsel: Gauß an F. W. Bessel, 27. Januar 1829). 21 C. F. Gauß: Werke, Bd VIlI, S. 224 (Gauß an W. von Bolyai, 6. März 1832), vgI. auch S. 187 (Gauß an F.A. Taurinus, 8. November 1824) und S. 247 (Gauß an H.Ch. Schumacher, 8. Februar 1846). - F. A. Taurinus bemühte sich als Anhänger Kants vergeblich darum, Widersprüche in den Axiomen der nichteuklidischen Geometrie aufzudecken (vgl. Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauß, hrsg. von P. Stäckel/F. Engel, S.237 ff.; ferner 0. Becker: Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, S. 183 fT.). Ein Beweis der Widerspruchsfreiheit der nichteuklidischen Geometrie ist erstmals F. Klein gelungen. Da sein Beweis im Sinne der projektiven Geometrie auf ein euklidisches Modell ftir die nichteuklidische Geomtrie hinausläuft, muß die Widerspruchsfreiheit der euklidischen Geometrie schon vorausgesetzt werden (zu Kleins Modell und Art des Beweises vgl. insbes. die "Vorläufige Mitteilung" (1871) zu den Aufsätzen "Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie", in: F. Klein: Gesammelte mathematische Abhandlungen, Bd I, hrsg. von R. Fricke und A. Ostrowski, Berlin 1921, S. 244-253 (Aufsätze: S. 254-350); vgl. hierzu auch H. Meschkawski: Problemgeschichte der Mathematik IlI, S. 32 ff.; K. Mainzer: Geschichte der Geometrie, S. 170 ff.). 22 C. F. Gauß: Werke, Bd VIlI, S. 201.

§ 4. Die Grundlagenkrisis der modernen Mathematik

31

Gauß kommt infolgedessen zu der Überzeugung, daß "man die Geometrie nicht mit der Arithmetik, die rein apriori steht, sondern etwa mit der Mechanik in gleichen Rang setzen" müßte. 23 Von seiner Begegnung mit D. Hilbert und dem "Geist der modemen Axiomatik" an der Universität Göttingen im Jahre 1904 berichtet noch H. Weyl in seinem "Lebensrückblick": Kants Bindung an die euklidische Geometrie erschien nun als naiv. Unter diesem überwältigenden Anstoß stürzte mir das Gebäude der Kantischen Philosophie, der ich mit gläubigem Herzen ergeben gewesen war, zusammen. 24

Die Entdeckung widerspruchsfreier nichteuklidischer Geometrien ruhrte zur Ablehnung von Kants transzendentalphilosophischer Raumlehre insgesamt. 25 An die Fachwissenschaften hat sich eine" ,mathematische' bzw. analytische Philosophie" angehängt, bei deren Vertretern "sich in immer steigendem Maße eine völlige Ablehnung aller Kantischen Philosophie bemerkbar macht".26 Die Frage nach dem Status des Parallelen-Postulates rur den Aufbau der Geometrie hat die Forscher seit der Antike irritiert. Von Geminos (um 75 v. ehr.) bis Proklos Diadochos (412 bis 485) gab es verschiedene vergebliche Versuche, das Parallelen-Postulat aus den übrigen Grundsätzen abzuleiten. Für das Wirken des Mathematikers Eukleides in Alexandria gibt es keine genauen historischen Anhaltspunkte. Sein Wirken flUIt vermutlich in die letzten Jahr23

C. F. Gauß: Werke, Bd VIII, S. 177 (Gauß an W. Olbers, 28. April 1817).

24 H. Wey/: Erkenntnis und Besinnung (Ein Lebensrückblick) (Vortrag an der

Universität Lausanne im Mai 1954), in: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 15 (Basel 1955), S. 153-171, hier S. 155; Wiederabdruck in: H. Wey/: Gesammelte Abhandlungen, Bd IV, S. 631-649, hier S. 633. Kants Bindung an den Anschauungsraum euklidischer Struktur zeigt sich besonders deutlich in der Bemerkung, daß der Raum nichts als Form sei, "ins unendliche zu vergrößern oder zu verkleinern" (Reflexionen zur Metaphysik 11, Nr 6420, in: Kants gesammelte Schriften, Berliner Akademie-Ausgabe, Bd XVIII, S. 711). Das von Kant angesprochene Wallissehe Ähnlichkeitsprinzip (vgl. Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauß, hrsg. von P. Stäckel / F. Engel, S. 15 ff.) verliert, wie schon Gauß in seinem Brief an H. Ch. Schumacher vom 12. Juli 1831 ausfUhrt (in: C. F. Gauß: Werke, Bd VIII, S. 215-218), in der nichteuklidischen Geometrie seine Gültigkeit. 25 Vgl. Z. B. F. Brentano: Philosophische Untersuchungen zu Raum, Zeit und Kontinuum, aus dem Nachlaß mit Anmerkungen von A. Kastil hrsg. von S. Körner und R. M. Chisholm, Hamburg 1976, S. 167 f. - Zu Husserls Auseinandersetzung mit Kant (und dem Neukantianismus) vgl. I. Kern: Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus, Den Haag 1964; ferner (insbesondere zum Raumproblem) die Einleitung von S. Rapic zu der in der Philosophischen Bibliothek des Meiner Verlags erschienenen Studienausgabe: E. Husserl: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Text nach Husserliana, Bd XVI, hrsg. von K.-H. Hahnengress und S. Rapic, Hamburg 1991, S. XI-LXXVIII, bes. S. L1X ff. 26 H. Lange: Über den Unterschied der Gegenden im Raume, in: Kant-Studien 50 (1958/59), S. 479-499, hier S. 479.

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A. I. Die Krisis der europäischen Wissenschaften

zehnte des vierten vorchristlichen Jahrhunderts. Das von Euklid im ersten Buch der "Elemente" (L'totXda) aufgestellte Parallelen-Postulat 27 lautet nach der Übersetzung von C. Thaer: 5. Und daß, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, daß innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche (E1t' U1tEtpOV) sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind. 28

Die Existenz und Eindeutigkeit der Parallelen ist erst eine ganz bestimmte Folgerung aus diesem Satz. 29 Das Charakteristische des Parallelen-Postulates besteht darin, daß die mit der Forderung der Notwendigkeit verbundene Existenz eines Schnittpunktes erst im Unendlichen erfolgt. Das vorangestellte 2. Postulat sichert lediglich die Möglichkeit, "daß man eine begrenzte gerade Linie zusammenhängend [immer wieder] gerade verlängern kann" 30. Es stellt sich jedoch die Frage, ob bei genauerer Betrachtung nicht auch die anderen Grundsätze und Definitionen 31, mit Husserl gesprochen, auf impliziten Idealisierungen beruhen. Die Kritik an den Idealisierungen der Geometer geht vor allem auf die Sophistik zurück. 32 Mit dem Euklid-Kommentar des Neuplatonikers Proklos Diadochos wird erstmals die (notwendige) Geltung des ParallelenPostulates selbst in Frage gestellt. Die von Euklid behauptete Existenz des Schnittpunkts ist fUr Proklos nur wahrscheinlich, aber nicht notwendig: " ... 1tO'tE m9avov, a'A'A' OUlC avaYlCai:ov,,33. Wie er weiter ausfUhrt, wäre es denkbar, daß sich konvergierende Geraden zwar asymptotisch einander unendlich 27 Euklids "Elemente" sind nicht eindeutig überliefert. Der (Existenz-)Satz über die Parallelen wird nach J. L. Heiberg als 5. Postulat den ahiH.u:na zugerechnet, die (gemäß der Aristotelischen Unterscheidung zwischen totat und KOlVa1. apxai) nur für spezifische Wissensgebiete gelten (vgl. hierzu K. von Fritz: Die apxai in der griechischen Mathematik, in: ders.: Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin/New York 1971, S. 335-429). 28 Euklid: Die Elemente, Buch I-XIII, nach Heibergs Text aus dem Griechischen übers. und hrsg. von C. Thaer, Dannstadt 7 1980, S. 3. 29 Vgl. H. Meschkowski: Problemgeschichte der Mathematik I, Mannheim/Wien/ Zürich 2 1984, S. 65 f. 30 Euklid: Die Elemente, S. 2.

31 Entsprechend tritt auch in den Definitionen (öpm) der Begriff des U1tEtpoV explizit nur in der Definition von "parallel" (23. Definition) auf (Euklid: Die Elemente, S.2). 32 Vgl. den Hinweis aufProtagoras unten S. 102, Anm. 299. 33 Procli Diadochi in primum Euclidis elementorum Iibrum commentarii, ex recognitione G. Friedlein, Leipzig 1873, S. 192 (Petitum V); deutsche Übersetzung: Proklus Diadochus: Kommentar zum ersten Buch von Euklids "Elementen", aus dem Griechischen von P. L. Schönberger, eingel. und in der Gesamtedition besorgt von M. Steck, hrsg. von E. Abderhalden, Halle (Saale) 1945, S. 301.

§ 5. Die Notwendigkeit einer philosophischen Besinnung

33

nähern, aber nie zusammenfallen - ein Gedanke, mit dem er, ohne sich dessen bewußt zu sein, an die Schwelle der nichteuklidischen (hyperbolischen) Geometrie weist. Mit Proklos tritt erstmals die Forderung nach einem Beweis des strittigen Postulates auf.

§ 5. Die Notwendigkeit einer philosophischen Besinnung auf die historischen Ursprünge unserer kritischen wissenschaftlichen und philosophischen Situation Husserls letztes großes Werk "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie,,34 hat eine längere Vorgeschichte als zuweilen angenommen wird. In einem Brief an seinen Jugendfreund G. Albrecht bezeichnet Husserl "dieses letzte Werk" als das "schwierigste in der Darstellung, aber auch in der letzten Zusammenfassung, Systematisierung, Harmonisierung" seiner "Lebensarbeit von fast 50 Jahren".35 Husserls letztes Werk ist keine grundsätzliche Abwendung von seinem bisherigen Denken, sondern steht in der Kontinuität mit den programmatischen Werken der transzendentalen Phänomenologie, die er selbst zuvor veröffentlicht hatte, beginnend mit dem Ersten Buch der "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie" von 1913, aber auch mit den letzten großen Vorlesungen, von denen die "Erste Philosophie" und die "Phänomenologische Psychologie" im Nachlaß erschienen sind 36. Nicht erst in Husserls Prager Abhandlung und Prager Brief an E. RadI 37, den Präsidenten des VIII. Internationalen Kongresses rur Philosophie (1934), treten Gedanken auf, die dann in der Krisis-Abhandlung zentral werden. Bereits in dem 1912 verfaßten, aber erst im Nachlaß erschienenen Dritten Buch der "Ideen" mit dem Titel "Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften" kritisiert Husserl, daß die Fortschritte der Wissenschaften "uns an Schätzen der Einsicht nicht bereichert" haben, und fordert, "dem unerträglich gewordenen Notstand der Vernunft ein Ende zu machen", und zwar "durch klärende, verdeutlichende, letzt-begründende Arbeit".38 Husserl kritisiert schon hier die bestenfalls "technische Rationalität" der bloß am Symbolischen hängenden "kunstmäßigen Erfindung des Denkens" im Großbetrieb der modemen Wissenschaft. 39 Sowohl das Krisis34 Mit Texten aus dem Nachlaß von W. Biemel 1954 als Band VI der Husserliana (Hua) herausgegeben; im folgenden zitiert als "Krisis" nach der 2. Auflage, [Den] Haag 1962. 35

36 37 38 39

E. Husserl: Briefwechsel, Bd IX, S. 128 (Brief vom 16. Dezember 1936). In den Bdn VII bis IX der Husserliana. In: Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Hua XXVII, S. 184-244. Ideen III, Hua V, S. 96 f. Ideen III, Hua V, S. 95.

3 Neumann

A. I. Die Krisis der europäischen Wissenschaften

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Motiv als auch die ethischen Implikationen sind schon im Umfeld der fUr die japanische Zeitschrift "The Kaizo" (d. h. Erneuerung) in den Jahren 1922 bis 1924 verfaßten Artikel vorbereitet. 4o Husserl wendet sich gegen den verbreiteten Glauben der sich zunehmend vereinzelnden und verselbständigenden Wissenschaften, von sich aus ihre Grundlegung leisten zu können. "Die Philosophie, die ihnen letzte Einheit zu geben berufen war, ist in Verachtung".41 Damit nähern wir uns dem Kern der Krisis-Thematik. Husserl sieht das Problem in einem Auseinanderfallen von positiver Wissenschaft auf der einen und Philosophie auf der anderen Seite. An G. Albrecht schreibt er am 3. Juni 1932: Alle Wissenschaften sind in einer Krisis der Fundamente und der zur Wissenschaftlichkeit gehörigen Selbstverständigung der Methode. Was wird jetzt geschwätzt über Preisgabe des Kausalgesetzes, über Umwälzung der Begriffe von Raumzeitlichkeit etc. [... ] Mit all dem hängt zusammen, daß strenge Wissenschaft, identifiziert mit positiver Wissenschaft der Neuzeit, auf der einen Seite und Philosophie auf einer anderen Seite stehen, daß Metaphysik (im Grunde nichts anderes als die Wissenschaft, die über Welt und Menschen letzte Aufklärung scham, ihren letzten, also absoluten Sinn zum Thema hat) als Feld vager Spekulation oder als Reich einer schwännerischen Mystik gilt. 42

Mit den fUr ihn ungeklärt gebliebenen Problemen der Raumzeitlichkeit und Kausalität spielt Husserl auf die damals neuesten Umwälzungen der Physik durch die Relativitätstheorie und Quantenmechanik an. Für Husserl kommt der philosophischen Forschung im echten Sinn einer Ersten Philosophie (1tPcl:l'tTl q>tAoO'()(pia) die Aufgabe der begründenden Grundlegung der Einzelwissenschaften zu. Schon im ersten Band der "Logischen Untersuchungen" fUhrt Husserl aus, daß die philosophische Forschung dem Spezialforscher und "ingeniösen Techniker" zwar "nicht ins Handwerk pfuschen" will, "sondern nur über Sinn und Wesen seiner Leistungen in Beziehung auf Methode und Sache zur Einsicht kommen" möchte. Der Philosoph muß al1ererst zur Klarheit bringen, "was das Wesen von ,Ding', ,Vorgang', ,Ursache', ,Wirkung', ,Raum', ,Zeit' u. dgl. ist".43

40 In: Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Hua XXVII, S. 3-124, bes. Beilage X, S. 1 \3-122.

41 AufsätzeundVorträge,HuaXXVII,S.117,vgI.S.115. E. Husserl: Briefwechsel, Bd IX, S. 83. - Auf die "Grundlagenkrisis" der einst wegen ihrer Exaktheit zum allbewunderten Vorbild gewordenen Mathematik kommt Husserl in seinem Brief an S. Coit vom 18. September 1927 zu sprechen (Briefwechsel, Bd VIII, S. 39 f.). 42

43 Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, § 71, S. 254 f. (zitiert nach der 2. Auflage von 1913).

§ 5. Die Notwendigkeit einer philosophischen Besinnung

35

Im § I der Krisis-Abhandlung knüpft Husserl an das verbreitete Wissenschaftsverständnis an. Er stellt die Frage, ob angesichts der ständigen Erfolge der positiven Wissenschaften, vor allem der Mathematik und der exakten Naturwissenschaften, aber auch der konkreten Naturwissenschaften und biophysischen Disziplinen und der konkreten Geisteswissenschaften mit der Psychologie als Grundwissenschaft, ernstlich von einer Krisis der Wissenschaften gesprochen werden kann. Auch die Einsicht in die prinzipielle Wandelbarkeit wissenschaftlicher Theoriebildung und Methodik, die mit der Ablösung der über Jahrhunderte bewährten klassischen Physik und dem noch fortdauernden Streit um die echte Aufbauform der reinen Mathematik deutlich ins Bewußtsein getreten ist, ändere nach allgemeiner Ansicht nichts daran, diese Wissenschaften "als Vorbilder strenger und höchst erfolgreicher Wissenschaftlichkeit zu bewundern" 44. Scheinbar treffe es nur für die Philosophie (und die Psychologie, soweit sie noch philosophische Ansprüche erhebt und nicht nur positive Wissenschaft sein will) zu, angesichts ihrer "Unwissenschaftlichkeit" 45 eine Krisis zu konstatieren. Die Philosophie droht "der Skepsis, dem Irrationalismus, dem Mystizismus zu erliegen".46 Husserls Kritik richtet sich gegen die philosophische Situation seiner Zeit. Unwissenschaftliche Weltanschauungsphilosophien fanden Verbreitung. 47 Husserls Kritik richtet sich aber auch gegen den philosophischen Anthropologismus in der Lebensphilosophie W. Diltheys und H. Bergsons und in der Existenzphilosophie K. Jaspers, in deren Umfeld er auch Heideggers Grundwerk "Sein und Zeit" einordnet. 48 Die Anklage der Skepsis richtet sich aber auch gegen ein Wissenschaftsverständnis, das die sinnstiftenden Aufgaben der Philosophie für die Wissenschaften überhaupt preisgibt 44 Krisis, Hua VI, S. 1. 45 Krisis, S. 2. 46 Krisis, S. 1, vgl. auch S.12 und Beilage XXVIII, S. 508 f.; zu weiteren TextsteIlen aus Husserls Manuskripten vgl. P. Janssen: Geschichte und Lebenswelt. Ein Beitrag zur Diskussion von Husserls Spätwerk, Den Haag 1970, S. 140 fT.

47 Als Beispiel können 0. Spenglers Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes", dessen zwei Bände 1918 und 1922 erschienen sind, und L. Klages Hauptwerk "Der Geist als Widersacher der Seele", dessen drei Bände 1929 bis 1932 erschienen sind, genannt werden. - Zur Kritik an Spengler vgl. Husserls ersten Artikel für die japanische Zeitschrift "The Kaizo" und den Text über "Shaw und die Lebenskraft des Abendlandes" (Beilage XI), in: Aufsätze und Vorträge, Hua XXVII, S. 4 und 122. 48 Vgl. Husserls "Nachwort" zu den Ideen I (1930), in: Ideen 111, Hua V, S. 138162, bes. S. 138, und den Vortrag "Phänomenologie und Anthropologie" (1931), in: Aufsätze und Vorträge, Hua XXVII, S. 164-181, bes. S. 164; zu Husserls expliziter Kritik an "Sein und Zeit" vgl. oben § 2. - Die existenziale Analytik des seinsverstehenden Daseins grenzt dagegen Heidegger in der im I. Trimester 1941 gehaltenen Freiburger Vorlesung "Die Metaphysik des deutschen Idealismus" (GA 49, § 11) rückblickend ausdrücklich von der Existenzphilosophie (S. Kierkegaard, K. Jaspers) und dem existenziellen ExistenzbegrifT ab. 3*

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A. I. Die Krisis der europäischen Wissenschaften

und über eine logische Analyse der Tatsachenwissenschaften nicht hinauskommt wie der Logische Empirismus oder Neopositivismus des Wiener Kreises. 49 In dem als Beilage XXVIII der Krisis-Abhandlung veröffentlichten Text bemerkt Husserl: "Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft - der Traum ist ausgeträumt." 50 Dieser oft zitierte Satz Husserls darf keinesfaHs aus dem Zusammenhang gerissen und als Husserls eigene Auffassung ausgelegt werden, sondern gibt gerade die von ihm bekämpfte zeitgenössische Meinung wieder. 51 Ebenso ist Husserls Aussage, daß "die Strenge der Wissenschaftlichkeit" aH dieser positiv-wissenschaftlichen Disziplinen, vor aHem der reinen Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft, "außer Frage" stehe 52, "nur in der Relativität der SteHe" 53 zu verstehen. Husserl möchte (im § 9) gerade zeigen, aus welchen Motiven die Wissenschaftlichkeit selbst der mathematischen Wissenschaften einer notwendigen Kritik zu unterwerfen ist. 54 In diesem Sinne schrieb er schon am 18. September 1927 an S. Coit, "daß die positiven Wissenschaften bei aH ihren 49 Vg!. z. B. R. Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit, Nachwort von G. Patzig, Frankfurt a. M. 1966 (I. Auflage: Berlin 1928); ders.: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Erkenntnis 2 (zug!. Annalen der Philosophie 10) (Leipzig 1931), S. 219-241 (wiederabgedruckt in dem Sammelband: Metaphysik, hrsg. von G. Jänoska und F. Kauz, Darmstadt 1977, S. 50-78); M. Schlick: Die Wende der Philosophie, in: Erkenntnis I (zug!. Annalen der Philosophie 9) (Leipzig 1930/31), S. 4-11. - Eine Übersicht gibt: V Kraft: Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus, Wien/New York 2 1968. - Die Scheinsätze der Metaphysik haben für Carnap, wie er am Schluß seines Aufsatzes "Überwindung der Metaphysik ... " ausführt, keinen theoretischen Gehalt und daher als "Ausdruck des Lebensgefühls" höchstens im Bereich der Dichtung ihre Berechtigung. 50 Krisis, S. 508.

51 Vg!. Husserls Brief an R. Ingarden vom 10. Juli 1935 und Ingardens Erläuterung, in: E. Husserl: Briefe an Roman Ingarden, mit Erläuterungen und Erinnerungen an Husserl hrsg. von R. Ingarden, Den Haag 1968, S. 92-95 und 181 f. (Husserls Brief auch in: E. Husserl: Briefwechsel, Bd IIl, S. 300-303); ferner H.-G. Gadamer: Die phänomenologische Bewegung (1963), in: ders: Kleine Schriften IIl, Tübingen 1972, S. 150-189, hier S. 172 f. (auch in: H.-G. Gadamer: Gesammelte Werke, Bd 3, Tübingen 1987, S. 105-146, hier S. 129); E. Tugendhat: Der WahrheitsbegritT bei Husser1 und Heidegger, Berlin 1967, S. 253, Anm. 11. 52 Krisis, S. 2. 53 Krisis, S. 60. 54 B. Rang hat gegenüber vielen anderen Untersuchungen erstmals ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich die von Husserl diagnostizierte Krisis der europäischen Wissenschaften nicht nur auf deren Lebensweltvergessenheit, sondern auch auf deren Wissenschaftlichkeit selbst bezieht (ders.: Die bodenlose Wissenschaft. Husserls Kritik von Objektivismus und Technizismus in Mathematik und Naturwissenschaft, in: Profile der Phänomenologie, hrsg. von E. W. Orth, Freiburg/München 1989 (= Phänomenologische Forschungen 22), S. 88- 136, bes. S. 105, Anm. 12).

§ 5. Die Notwendigkeit einer philosophischen Besinnung

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technischen Erfolgen der letzten und echten Wissenschaftlichkeit entbehren".55 Husserl, der sein letztes Werk gemäß dem Untertitel auch als "Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie" versteht 56, geht im § 1 - vor aller Kritik - zunächst von der zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophischen Situation aus. Unter einer geänderten Betrachtungsrichtung kommt im § 2 die Krisis der europäischen Kultur insgesamt und der Bezug der Wissenschaften zu ihr in den Blick. Die Krise erstreckt sich nicht nur auf die Wissenschaften als Wissenschaften, vielmehr ist sie eine "Krise des europäischen Daseins" selbst 57. Husserls Rede vom "Dasein" oder von der "gesamten ,Existenz' " (von Husserl in Anfiihrungszeichen gesetzt) ist insbesondere als eine Anspielung auf Heideggers erstes Hauptwerk "Sein und Zeit" anzusehen. Das menschliche Dasein, wie es Heidegger thematisiert, sieht Husserl als das Leben in der natürlichen Einstellung. Da es fiir ihn noch vor der phänomenologischen Zugangsmethode der transzendentalen Epoche und Reduktion steht, kann es nicht beanspruchen, philosophische Erkenntnis apodiktisch zu begründen. 58 Demgegenüber grenzt Heidegger im § 10 von "Sein und Zeit" die existenziale Analytik der seins verstehenden Existenz grundsätzlich gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie ab. Der Vorwurf des Anthropologismus wird von Heidegger zurückgewiesen, weil fiir ihn mit dem Leitfaden des existierenden Daseins die das bisherige Philosophieren (ausdrücklich oder unausdrücklich) leitende Wesensbestimmung des Menschen als vernünftiges Lebewesen (sipov 'A.oyov EXOV 59, animal rationale 60) grundsätzlich unterlaufen wird. Wenn das Dasein als In-der-Welt-sein existiert, dann soll damit nicht das menschliche Dasein anthropologisch definiert werden, sondern es handelt sich um das ganz andere Anliegen, das "Dasein im Menschen" ontologisch zu 55 E.

Husserl: Briefwechsel, Bd VIII, S. 40.

56 Vgl. auch Krisis, S. 17: "lch versuche zu fUhren, nicht zu belehren, nur aufzuweisen, zu beschreiben, was ich sehe."

57 Krisis, S. 347. - Vgl. auch Krisis, S. \0: "Demnach bedeutet die Krisis der Philosophie die Krisis aller neuzeitlichen Wissenschaften als Glieder der philosophischen Universalität, eine zunächst latente, dann aber immer mehr zutage tretende Krisis des europäischen Menschentums selbst in der gesamten Sinnhaftigkeit seines kulturellen Lebens, in seiner gesamten ,Existenz'." 58 Zur phänomenologischen Methode bei Husserl und Heidegger vgl. oben § 2 (Literaturhinweise hier S. 15 f., Anm. 3). 59 Vgl. Aristoteles: Politica, 1253a 9-11. 60 Vgl. L. Annaei Senecae ad Lucilium epistulae moral es, recognovit et adnotatione critica instruxit L. D. Reynolds, Tom. I, Oxford 1965, Ep. 41, 8. - Die Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale durch den römischen Philosophen Seneca ist aber mehr als eine bloße Übersetzung aus dem Griechischen (zur Bestimmung der ratio im späten Denken Heideggers vgl. unten S. 265).

A. I. Die Krisis der europäischen Wissenschaften

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bestimmen. 61 Die Seinsart des sinnlich empfindenden Lebewesens, s(!>ov, mit dem "J...oyoc, als höherer Ausstattung wird begriffen als bloßes Vorkommen, als Vorhandensein. Das Sein des Menschen wird ,selbstverständlich' im Sinne des Vorhandenseins der übrigen Dinge angesetzt ("ontologische Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung" 62). Auch Husserls Spätwerk bleibt dem überlieferten Leitfaden des vernünftigen Lebewesens, der von Heidegger als phänomenologisch unzureichend zurückgewiesen wird, verhaftet. 63 Damit ergibt sich fiir Heidegger aber auch, daß mögliche Apodiktizität nur dem Vorhandenen (im weitesten Sinne) zukommen kann. Zum Vorhandensein im weitesten Sinne gehören auch die Seinsweisen der formalen Gegenstände der Mathematik und Logik, Bestand und Geltung. Jede Seinsweise hat aber ihre eigene Art der Gewißheit. Für das existierende Dasein zeigt sich, daß es sich erst im Vorlaufen zu der eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Möglichkeit des Todes seines eigensten Seins in seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern kann. Hinsichtlich des Gewißseins des je eigenen Todes fiihrt Heidegger daher aus: Wenn das Gewißsein bezüglich des Todes nicht diesen Charakter [der apodiktischen Evidenz] hat, dann heißt das nicht, es sei von niedrigerem Grade als jene, sondern: es gehört überhaupt nicht in die Abstufungsordnung der Evidenzen über Vorhandenes. Das Für-wahr-halten des Todes - Tod ist je nur eigener - zeigt eine andere Art und ist ursprünglicher als jede Gewißheit bezüglich eines innerweltlich begegnenden Seienden oder der formalen Gegenstände; denn es ist des In-der-Welt-seins gewiß. 64

Heideggers Todesanalyse erfiihrt bei Husserl vom Standpunkt der fiir ihn einzig "echten", der in der transzendentalen Reduktion begründeten Phänomenologie "aus den absoluten Evidenzquellen" daher eine entschiedene Ablehnung. 65 Es geht Husserl nicht nur um eine Beschreibung der auch von vielen seiner Zeitgenossen konstatierten Krisis der europäischen Kultur, sondern um eine philosophische Besinnung auf deren Ursprünge. Da die Krisis das Ergebnis eines von weit herkommenden Geschehens ist, dessen Wurzeln in der Geschichte des abendländischen Denkens liegen, ist die Besinnung notwendig eine 61 M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, § 41; vgl. hierzu H.-G. Gadamer: Die phänomenologische Bewegung, in: ders.: Kleine Schriften 111, S. 165 (auch in: ders.: Gesammelte Werke, Bd 3, S. 121). 62 Sein und Zeit, EA S. 16/GA S. 22.

63 Im Wiener Vortrag (1935) führt Husserl aus: "Vernunft ist ein weiter Titel. Nach der guten alten Definition ist der Mensch das vernünftige Lebewesen [".]" (Krisis, Hua VI, S. 337, vgl. auch S. 13,275,385.) 64

Sein und Zeit, EA S. 265/GA S. 351.

65 Krisis, Erg.-Bd, Hua XXIX, Text Nr 28, S. 332; vgl. auch Krisis, Hua VI, S. 439; zum Problem des Todes vgl. auch unten S. 68 f.

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historische. Seit der lahrhundertwende ist hinsichtlich der positiven Wissenschaften eine Umwertung der allgemeinen Bewertung eingetreten: Die Umwendung der öffentlichen Bewertung war insbesondere nach dem Kriege unvermeidlich, und sie ist, wie wir wissen, in der jungen Generation nachgerade zu einer feindlichen Stimmung geworden. In unserer Lebensnot - so hören wir - hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen. 66 Die Umwertung der öffentlichen Bewertung hat M. Weber in seinem Vortrag "Wissenschaft als Beruf" zum Ausdruck gebracht, den er im Winter 1918/19 vor Studenten der Universität München gehalten hat. Zur Stellung der jungen Generation zu den Wissenschaften bemerkt er: Die Gedankengebilde der Wissenschaft sind ein hinterweltliches Reich von künstlichen Abstraktionen, die mit ihren dürren Händen Blut und Saft des wirklichen Lebens einzufangen trachten, ohne es doch je zu erhaschen. Hier im Leben aber, in dem, was für Platon das Schattenspiel an den Wänden der Höhle war, pulsiert die wirkliche Realität: das andere sind von ihr abgeleitete und leblose Gespenster und sonst nichts. 67 Die Wissenschaft hat, wie Husserl es ausdrückt, ihre "Lebensbedeutsamkeit" verloren. 68

66

Krisis, S. 4.

In: M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen 5 1982, S. 582-613, hier S. 595 f. - Auch Heidegger verweist in seiner Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925 auf Webers Vortrag. Er wendet sich wie Husserl dagegen, der wissenschaftlichen Arbeit wieder einen Sinn zu geben, "indem man darüber eine Weltanschauung baut" (Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 3). - Die Tendenz der modernen Wissenschaft, die gesamten Verhältnisse unserer Existenz aufzulösen, indem sie diese "gänzlich verformelt", wie die in Philosophie promovierte Dichterin I. Bachmann in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung vom 25. November 1959 sagt (I. Bachmann: Werke, hrsg. von Ch. Koschel, I. von Weidenbaum und C. Münster, Bd IV, München/Zürich 1978, S. 188), setzt sich bis in unsere Tage fort. 68 Krisis, § 2 (Titel). - Den Begriff der "Bedeutsamkeit des Lebens" hat zuvor insbesondere W. Dilthey geprägt (vgl. z. B.: W Dilthey: Fragmente zur Poetik (1907/08), in: ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, 11. Hälfte, Stuttgart und Göttingen 3 1958 (= Gesammelte Schriften, Bd VI), S. 313-321, hier S. 319). Eine systematische Auseinandersetzung zwischen Husserl und Dilthey gibt erstmals die bei Husserl angefertigte Dissertation "Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften (Analyse ihrer Grundbegriffe)" von L. Landgrebe, veröffentlicht in dem von Husserl herausgegebenen "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung" (Bd 9 (1928), S.237-366; auch als Sonderdruck: Halle a.d.S. 1928). Vgl. auch L. Landgrebe: Das Problem der Geschichtlichkeit des Lebens und die Phänomenologie Husserls (1932), in: ders.: Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh 1968, S. 11-33; ferner E. Sträker: Systematische Beziehungen der Husserlschen Philosophie zu Dilthey, in: dies.: Phänomenologische Studien, Frankfurt a. M. 1987, S. 160-186. 67

A. !. Die Krisis der europäischen Wissenschaften

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Im ersten Schritt seiner historischen und kritischen Rückbesinnung lenkt HusserI im § 2 den Blick auf die sich seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildende positivistische Einschränkung der Wissenschaftsidee. Die positiven Wissenschaften prägen und bestimmen die ganze Weltanschauung des modemen Menschen, womit die entscheidenden Fragen rur ein echtes, frei sich verantwortendes Menschentum preisgegeben sind: "die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins" 69. Da einerseits die Körperwissenschaften von allem Subjektiven abstrahieren, andererseits die Geisteswissenschaften sich aller wertenden Stellungnahmen enthalten sollen 70, ist wissenschaftliche, objektive Wahrheit ausschließlich Feststellung dessen, was und wie die physische und geistige Welt tatsächlich ist. Mit der positivistischen Reduktion der Idee der Wissenschaft auf bloße Tatsachenwissenschaft (und deren logische Analyse in der Wissenschaftstheorie) werden alle spezifischen Menschheitsfragen ausgeklammert. Der Begriff der Tatsache (französisch fait, englisch [matter of] fact) ist bei allen Unterschieden der Deutung ein Grundbegriff der positivistischen Philosophie. 71 Es darf aber nicht übersehen werden Krisis, S. 4. Für die Geschichtswissenschaft forderte schon L. von Ranke in der Vorrede zur ersten Auflage (\ 824) seiner "Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514" eine "strenge Darstellung der Thatsache" als "das oberste Gesetz" und folglich die strikte Enthaltung von jeder wertenden oder die Mitwelt "zum Nutzen zukünftiger Jahre" belehrenden Stellungnahme (zitiert nach der 3. Auflage, Leipzig 1885 (= Sämtliche Werke, 2. Gesamtausgabe, Bd 33/34), S. VII). - Auch die Sozialund Politikwissenschaften haben sich nach M. Weber streng an die empirische Feststellung der Tatsachen zu halten (vg!. M. Weber: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen 5 1982, S. 146-214). 71 Vg!. hierzu L. Grunicke: Der Begriff der Tatsache in der positivistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Halle (Saale) 1930 (zug!. Phi!. Diss., Univ. Halle-Wittenberg 1930 [Teildr.]). - Das deutsche Wort ,Tatsache' ist erst eine Schöpfung der Neuzeit. So schreibt Lessing um 1778 in einer grammatisch-kritischen Anmerkung "Ueber das Wörtlein Thatsache", daß er nicht weiß, "wie es gekommen seyn mag, daß dieses neue Wörtlein ganz wider das gewöhnliche Schicksal neuer Wörter in kurzer Zeit ein so gewaltiges Glück gemacht hat; noch, wodurch es eine so allgemeine Aufnahme verdient hat, daß man in gewissen Schriften kein Blatt umschlagen kann, ohne auf eine Thatsache zu stoßen" (Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann, 3., aufs neue durchges. u. verm. Aufl., besorgt durch F. Muncker, Bd XVI, Leipzig 1902, S. 77). - In Großbritannien forderte schon der schottische Philosoph D. Hume die Beschränkung auf abstraktes mathematisches (oder logisches) Denken und empirische Tatsachen. Im Schlußabsatz seiner 1748 erschienenen Schrift "An Enquiry conceming Human Understanding" heißt es: "If we take in our hand any volume; of divinity or school metaphysics, for instance; let us ask, Does it contain any abstract reasoning concerning quantity or number? No. Does it contain any experimental reasoning concerning matter of fact and existence? No. Commit it then to the f1ames: For it can contain nothing but sophistry and illusion." (The Philosophical Works of David Hume, ed. by T. H. Green and T. H. Grose, Bd IV: 69

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- auch im Hinblick auf Heideggers Auseinandersetzung mit seinem philosophischen Lehrer (das Überspringen der Seinsfrage und die Orientierung am Vorhandensein) -, daß die Entfaltung der Husserlschen Phänomenologie durchaus gewisse Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte mit dem frühen Positivismus (vor allem E. Mach und R. Avenarius) aufweist. 72 Von einer Krisis der europäischen Wissenschaften kann, wie sich zeigte, in zwiefacher Hinsicht gesprochen werden: Sie betrifft zum einen die Wissenschaften selbst hinsichtlich ihrer Wissenschaftlichkeit (Stichwort "Grundlagenkrisis") und zum anderen ihre "Lebensbedeutsamkeit". Die miteinander zusammenhängenden Probleme fUhren, wie Husserl vordeutend ausfUhrt, "auf das Rätsel der Subjektivität zurück" 73. Im nächsten Schritt seiner historischen Rückfrage nach den tieferen Motiven der positivistischen Reduktion der Idee der Wissenschaft im 19. Jahrhundert wendet sich Husserl im § 3 der Krisis-Abhandlung der Renaissance zu, die wiederum ihr bewundertes Vorbild im griechischen Menschentum hat. Dem Freiwerden von den mittelalterlichen Bindungen korrespondiert ein Freiwerden für ein Dasein, das nicht nur sich selbst, sondern die ganze menschliche Umwelt und das soziale und politische Miteinander der Menschen aus freier, selbstverantwortlicher Vernunft, aus den theoretischen Einsichten einer universalen Philosophie neu gestaltet. Descartes ist fUr Husserl der "urstiftende Genius der gesamten neuzeitlichen Philosophie".74 Nachdem Galilei kurz zuvor die Urstiftung der mathematischen Naturwissenschaft vollzogen hatte, war es Descartes, der die neue Idee der universalen Philosophie konzipierte und sogleich in einen systematische Gang brachte. Ein wesentlicher Kritikpunkt an Descartes' Neubegründung der Philosophie, den Husserl schon in den "Cartesianischen Meditationen" anfUhrt und in der Krisis-Abhandlung weiter vertieft, liegt darin, daß dessen "Meditationes", kritisch unerwogen, im voraus am mathematischen Wissenschafts- und Methodenideal Galileis orientiert bleiben. Es ist das dogmatisch Essays 11, London 1882, S. 135; deutsche Ausgabe: D. Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. von R. Richter, hrsg. von 1. Kulenkampff, Hamburg 11 1984, S. 193.) 72 Vgl. hierzu M. Sommer: Husserl und der frühe Positivismus, Frankfurt a. M. 1985; zur Entwicklung und Struktur des Positivismus vgl. auch H. Schnädelbach: Erfahrung, Begründung und Reflexion. Versuch über den Positivismus, Frankfurt a. M. 1971. 73 Krisis, S. 3. 74 Krisis, S. 75. - [n der Philosophiegeschichtsschreibung gilt Descartes seit Hege[s gewichtigem Votum als der Begründer des neuzeitlichen Denkens (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, neu editierte Ausgabe, Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel (Theorie-Werkausgabe), Bd 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 111, Frankfurt a. M. 1971, S. 123).

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übernommene "Wissenschafts ideal, das der Geometrie, bzw. der mathematischen Naturwissenschaft" 75, das Descartes dazu verleitet, das von ihm entdeckte transzendentale Motiv wieder zu verdecken. Die absolute Selbstgewißheit des ego cogito wird axiomatisches Fundament, und die Philosophie verwandelt sich in ein deduktives System ordine geometrico - "nur daß dieses axiomatische Fundament noch tiefer liegt als das der Geometrie und dazu berufen ist, auch an ihrer letzten Begründung mitzuwirken".76 Der Gedanke, daß Galilei der Prototyp des neuzeitlichen Naturwissenschaftlers sei, zieht sich seit dem Sommersemester 1909 durch Husserls Manuskripte und Werke. 77 Husserl richtet sich (wie auch Heidegger 78) gegen Auffassungen, die den maßgeblichen Unterschied zwischen der alten und der neuen Naturwissenschaft darin sehen, daß letztere experimentiert und ihre Ergebnisse experimentell beweist. Philosophie hat rur Descartes noch den von den Alten übernommenen Sinn "der einen allbefassenden Wissenschaft, der Wissenschaft von der Totalität des Seienden".79 Wissenschaften (im Plural) "sind nur unselbständige Zweige der Einen Philosophie" 80. Husserl greift mit seiner Formulierung Descartes' berühmtes Bild von der Einheit der Philosophie als Baum mit der Metaphysik als dessen Wurzel auf. 8I Das Streben nach Universalität kennzeichnet in einem gewissen Sinn auch noch den positivistischen Wissenschaftsbegriff. Das Programm der Einheitswissenschaft gehörte zur Entstehungszeit der Krisis-Abhandlung zu den Grundannahmen des Logischen Empirismus. 82 Aber der positivistisch redu75 Cartesianische Meditationen, Hua I, § 3, S. 48. 76 Cartesianische Meditationen, Hua I, S. 49. 77 Vgl. die Einleitung des Herausgebers (R. N. Smid) zum Krisis-Ergänzungsband, Hua XXIX, S. L f. 78 Vgl. unten S. 204, 240, 242 f., 266; vgl. dazu im Husserl-Teil S. 61, 106, 109.

79 Krisis, S. 6. 80 Krisis, S. 6. Vgl. Descartes' Schreiben an den Übersetzer der "Principia Philosophiae", Abbe Picot, das der französischen Ausgabe von 1647 als Vorwort beigegeben wurde, in: CEuvres de Descartes, ed. Ch. Adam!P. Tannery, Bd IX, S. 14 (Teil 2: Principes Preface); deutsch: R. Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, übers. von A. Buchenau, Hamburg 8 1992, S. XLII. - Heidegger greift Descartes' Bild in der Einleitung zur 5. Auflage (1949) der Einzelausgabe von "Was ist Metaphysik?" (in: Wegmarken, GA 9, S. 365-383) auf und steHt die Frage: "In welchem Boden finden die Wurzeln des Baumes der Philosophie ihren Halt?" (GA 9, S. 365.) Die Einleitung (eigentlich ein Postskriptum) ist schon rückblickend aus der Blickbahn des ereignisgeschichtlichen Denkens geschrieben. Weil die Metaphysik nur das Seiende als das Seiende befragt, bleibt sie für Heidegger immer nur bei der Seiendheit und kehrt sich nicht an das Sein selbst und dessen Wahrheit. 82 Vgl. R. Hegselmann: Das Programm des Logischen Empirismus, in: O. Neurath [Sammlung]: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, hrsg. von R. Hegselmann, Frankfurt a. M. 1979, S. 9-18, bes. S. 17 f.; 81

c.

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zierte Einheitssinn einer universalen Tatsachenwissenschaft ist, wie Husserl in einem Text aus dem Jahr 1934 ausfuhrt, eine wesentliche Verengung der ursprünglichen Idee universaler Wissenschaft. 83 Gegenüber der einst lebendigen Idee der Einheit einer Universalwissenschaft, in der alle den Menschen als Vernunftwesen prinzipiell betreffenden Fragen beschlossen blieben, ist der positivistische Begriff der Wissenschaft ,,- historisch betrachtet - ein Restbegriff" 84. Indem Husserl die Einheit der Philosophie auch mit einem Organismus vergleicht, "enthauptet" der Positivismus sozusagen die Philosophie 85. Die Sinnverwandlung, die die Wissenschaftsidee mit der positivistischen Einschränkung auf objektiv feststellbare Tatsachen und damit Eliminierung des Subjekts aus dem Bereich des Forschens erfahren hat, ist aber - wie Husserl in der Krisis-Abhandlung zu zeigen versucht - im Grunde selbst "mit einer ,metaphysischen' Substruktion behaftet" 86. In diesem Sinne bemerkt F. Kaulbach zur Metaphysikkritik des Positivismus: Aber indem der Positivist den Maßstab der Wissenschaftlichkeit etwa in der Form seines "Sinnkriteriums" aufzustellen beansprucht und von ihm aus die metaphysischen Aussagen als "Scheinsätze" entlarvt, setzt er sich selbst auf den Thron, von dem er die Metaphysik verjagt hatte. 87

Wie Husserl in den §§ 4 und 5 weiter ausfuhrt, geriet der Glaube an das zu Beginn der Neuzeit scheinbar wohlgelingende Ideal einer universalen Wissenschaft und an die Tragweite der neuen Methode ins Wanken, und zwar aus ungeklärten Motiven. Die universale Philosophie nahm die Gestalt eindrucksvoller, aber sich nicht einigender, sondern einander ablösender Systemphilosophien an. Obwohl sich die neuzeitliche Philosophie in allen ihren Entwicklungslinien, z. B. der des Rationalismus oder der des Empirismus, ursprünglich aus dem Ideal einer universalen Philosophie verstand, konnte sich dieses Ideal nicht in der Tat durchsetzen und erfuhr schließlich seine innere Auflösung in der "Versplitterung" in eine "kaum mehr zu übersehende Vielfältigkeit der Philosophien"88. In der Vielfalt der philosophischen Richtungen und Strömungen, etwa in der Romantik, ist jede ernstliche Zusammenarbeit in Kritik und Gegenkritik ferner 0. Neurath: Physikalismus (1931), in: ders.: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, hrsg. von R. Haller und H. Rutte, Bd I, Wien 1981, S. 417421. 83 Aufsätze und Vorträge, Hua XXVII, Beilage XIV, S. 221 f. 84 Krisis, S. 6.

85 Krisis, S. 7. 86 E. Husserl: Manuskript A VII 11: Probleme der Weltanschauung, Möglichkeit einer Ontologie ... (1932), S. 120 (BI. 60b). 87 F. Kau/bach: Einführung in die Metaphysik, Darmstadt 3 1982, S. 12. 88 Krisis, S. 199.

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hinfällig geworden. Eine der Folgen war auch ein "einreißender PhilosophieHaß" , von dem ein Brief Schillers berichtet. 89 Schärfer als die meisten seiner Zeitgenossen sah Husserl die Gefährdung der europäischen Kultur wesentlich bedingt durch eine "Krisis der Philosophie" 90. Da sich die modeme Kultur als Wissenschaftskultur versteht, folgt zwangsläufig, daß die ursprünglich auf die Idee der Einheit der Vernunft gegründete Kultur in die Krise gerät, wenn sich die Idee der Universalphilosophie aufzulösen beginnt und damit auch rückwirkend die Einzelwissenschaften bezüglich ihrer Voraussetzung. Demnach bedeutet die Krisis der Philosophie (als Haupt des Organismus) zugleich "die Krisis aller neuzeitlichen Wissenschaften als Glieder der philosophischen Universalität".91 Was fiir Husserl als Krisis in Sicht tritt, ist letztlich der Zerfall der Einheit von Philosophie, Wissenschaft und wahrhaft humaner, weil durch vernünftige Einsicht bestimmter Lebensform des Menschen. 92 Die Restitution dieser ursprünglichen Idee der Philosophie kann jedoch nicht durch einen Beschluß zu einem radikalen Neuanfang geleistet werden, der die gegenwärtige Krise einfach beiseite läßt. 93 Vielmehr kommt Husserl zu der Ansicht, daß "die Krise des europäischen Daseins" verständlich und durchschaubar gemacht werden muß "auf dem Hintergrund der philosophisch aufdeckbaren Teleologie der europäischen Geschichte".94 Europa bezeichnet dabei 89 Brief an Ch. von Schimmelmann vom 23. November 1800, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begr. von J. Petersen, fortgef. von L. BlumenthaI, B. von Wiese, S. Seidel, hrsg. von N. Oellers, Bd XXX, Weimar 1961, S. 214 f. 90 Krisis, S. 10. 91 Krisis, S. 10. 92 V gI. E. Sträker: Edmund Husserls Phänomenologie: Philosophia Perennis in der Krise der europäischen Kultur, in: Profile der Phänomenologie, hrsg. von E. W. Orth, Freiburg/München 1989 (= Phänomenologische Forschungen 22), S. 11-38, bes. S. 26.

93 Vgl. den Text, mit dem Husserl den im Band I der Belgrader Zeitschrift "Philosophia" (1936) erschienenen I. und 11. Teil der Krisis-Abhandlung einleitet: "Die Schrift [ ... ] macht den Versuch, auf dem Wege einer teleologisch-historischen Besinnung auf die Ursprünge unserer kritischen wissenschaftlichen und philosophischen Situation die unausweichliche Notwendigkeit einer transzendental-phänomenologischen Umwendung der Philosophie zu begründen. Sonach wird sie zu einer eigenständigen Einleitung in die transzendentale Phänomenologie." (Zitiert nach: Krisis, Hua VI, S. XIV, Anm. 3.) 94 Krisis, S. 347. - Zum Teleologie-Begriff Husserls vgl. G. Hoyos: Zum Teleologiebegriff in der Phänomenologie Husserls, in: Perspektiven transzendentalphänomenologischer Forschung, hrsg. von U. Claesges und K. Held, Den Haag 1972, S.61-84; P. Janssen: Geschichte und Lebenswelt, Den Haag 1970, § 12 ff.; S. Strasser: Monadologie und Teleologie in der Philosophie Edmund Husserls, in: Profile der Phänomenologie, hrsg. von E. W. Orth, Freiburg/München 1989 (= Phänomenologische Forschungen 22), S. 217-235.

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rur Husserl keinen geographisch abgrenzbaren Kontinent. Europa ist vielmehr eine "geistige Gestalt", eine nationale Differenzen übergreifende "Einheit eines geistigen Lebens".95 Mit der Geburt der griechischen Philosophie kam rur ihn zum ersten Mal das der Menschheit überhaupt eingeborene Telos, "ein Menschentum aus philosophischer Vernunft sein zu wollen", zum Durchbruch. 96 Es bedarf daher eingehender historischer und kritischer - d. h. scheidender - Rückbesinnungen, "um vor allen Entscheidungen rur ein radikales Selbstverständnis zu sorgen: durch Rückfrage nach dem, was ursprünglich und je als Philosophie gewollt und durch alle historisch miteinander kommunizierenden Philosophen und Philosophien hindurch fortgewollt war".97 Was je durch alle Philosophien hindurch fortgewollt war, ist die Verwirklichung der Idee universaler Wissenschaft, wie sie in der griechischen Urstiftung erstmals hervortrat. Husserl hat bis zuletzt in unerschütterlichem Glauben daran festgehalten, daß die Verwirklichung dieser Einheit und damit die Überwindung der gegenwärtigen Not des europäischen Menschentums nur durch eine methodisch radikal erneuerte Philosophie, und zwar durch die "Endstiftung" 98 in Gestalt der transzendentalen Phänomenologie, erzielt werden kann. Hieraus resultiert die oftmals beschwörende Eindringlichkeit der im Umfeld der Krisis-Abhandlung entstandenen Texte. Husserl stellt in seinem letzten Werk die transzendentale Phänomenologie entschieden in die Tradition der abendländischen Philosophie. Gerade auf dem Weg kritischer historischer Rückbesinnungen muß sich offenbaren, "daß auf diesen neuen Sinn von Philosophie die ganze Philosophie der Vergangenheit, obschon ihr selbst unbewußt, innerl ich ausgerichtet war" 99. Die gegenwärtigen Philosophen sind "nach der Zielsetzung, die das Wort ,Philosophie' anzeigt, nach Begriffen, Problemen, nach Methoden, Erben der Vergangenheit".100 Husserls Zuwendung zur Geschichte kann auch als eine Auseinandersetzung mit Heidegger angesehen werden, der am Leitfaden des Daseins und der existenzialen Zeitlichkeit in "Sein und Zeit" eine neue Sichtweise des Problems der Geschichtlichkeit und Geschichte auf den Weg gebracht hat. 101 Der Begriff des "Erbes" (wie der Begriff der "Wiederholung" 102) erinnert an die Vorgehensweise Heideggers. Vergleichbar mit Heidegger, stellt Husserl nunmehr auch sein eigenes Philosophieren in die abendländische Über95 Krisis, S. 318 f. 96 Krisis, S. 13. 97 Krisis, S. 16. 98 Krisis, S. 73 f. 99 Krisis, S. 17. 100 Krisis, S. 16. 101 Vgl. auch den Literaturhinweis unten S. 70 f., Anm. 125. 102 Krisis, S. 12.

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A. I. Die Krisis der europäischen Wissenschaften

lieferung, wobei er insbesondere an den sich erstmals bei Descartes meldenden transzendentalen Subjektivismus der neuzeitlichen Philosophie anknüpft, dessen Ansatz er radikalisiert. Für Heideggers ontologische Fragestellung nach dem Sinn von Sein überhaupt ist dagegen das neuzeitliche Denken gegenüber dem griechischen Anfang eher ein Verlust. 103 Wie er im § I von "Sein und Zeit" mit der Überschrift "Die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wiederholung der Frage nach dem Sein" ausfuhrt, muß die Frage nach dem Sein an den platonisch-aristotelischen Stand wiederanknüpfen, weil das Seinsproblem nicht über den hier gewonnenen Stand hinausgekommen ist. Die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wieder-holung der Seinsfrage bedeutet aber, sie radikaler (ursprünglicher) zu stellen. Die Seinsfrage ist wesensmäßig durch die Geschichtlichkeit des die Seinsfrage stellenden Daseins bestimmt, und zwar in zwiefacher Hinsicht: Die Seinsfrage wird nicht dann erst eine geschichtliche, wenn sie im zweiten Teil von "Sein und Zeit" 104 nach ihrer eigenen Geschichte fragt. Sie ist eine "ererbte Möglichkeit" 105 des philosophierenden Daseins und wurde als solche mit dem Einsatz des ersten Teils der Abhandlung schon ergriffen. Für Husserl, dessen Philosophieren von der Idee apodiktischer, letztbegrundender Erkenntnis getragen ist, kann es nur eine "endgültige" 106 Gestalt der Philosophie geben, nämlich auf dem Boden eines radikal verstandenen transzendentalen Subjektivismus. Obwohl schon Descartes glaubte, alle bisherigen Naivitäten und somit alle Skepsis überwunden zu haben, blieb sein Philosophieren fur Husserl doch "unvermerkt mit eigenen Naivitäten behaftet".107 Beruht demnach nicht jede Philosophie - auch die transzendentale Phänomenologie Husserls - auf unbefragt gebliebenen Voraussetzungen? Heideggers kritische Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls ist von der Intention geleitet, die auch in dessen denkerischem Ansatz unbefragt gebliebenen Voraussetzungen thematisch zu machen. Heidegger war sich auch der Grenzen seines und damit jeden Denkens bewußt: "Philosophie wird ihre ,Voraussetzungen' nie abstreiten wollen, aber auch nicht bloß zugeben dürfen." 108 In diesem Sinne hat auch der späte Heidegger (im Seminar in Le Thor 1968) in bezug auf Hegel einmal gesagt: "Erst wenn man die Grenzen sieht, sieht man den großen Denker." Und, indem er sich zu den Anwesenden wandte, fugte er hinzu: 103 Vgl. schon Heideggers frühe Freiburger Vorlesung (Sommersemester 1923): Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), GA 63, S. 76. 104 Vgl. den im § 8 von "Sein und Zeit" gegebenen "Aufriß der Abhandlung". Der zweite Teil ist (in dieser Form) nicht zur Ausführung gekommen (vgl. auch unten S. 247 f.). 105 Sein und Zeit, § 74, EA S. 385/GA S. 509. 106 Krisis, S. 12. 107 Krisis, S. 12. 108 Sein und Zeit, EA S. 31O/GA S. 411.

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"Wenn Sie meine Grenzen sehen, haben Sie mich verstanden. Ich kann sie nicht sehen." 109 Mit dem immanenten Wandel von der fundamentalontologischen zur ereignisgeschichtlichen Blick- und Fragebahn wurden auch in Heideggers Denken geschichtliche Voraussetzungen ausdrücklich, die bislang unbefragt geblieben sind.

109 Heideggers Worte, die nicht in die Seminarprotokolle der "Vier Seminare" (in: Seminare, GA 15, S. 286 ff.) aufgenommen wurden, sind überliefert von J. Beaufret (Vorwort: Brief an Martin Heidegger zu seinem 80. Geburtstag am 26. September 1969, in: 1. Beaufret: Wege zu Heidegger, Frankfurt a. M. 1976, S. 7-19, hier S. 17).

11. Kapitel: Galileis Urstiftung der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft auf dem Boden der Euklidischen Geometrie Die im ersten Teil der Krisis-Abhandlung angekündigte historische und kritische Rückbesinnung beschränkt Husserl im zweiten Teil weitgehend auf den Gang der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie. In der transzendentalen Phänomenologie wird Husserls Intention nach das sich erstmals bei Descartes meldende transzendentale Motiv radikal zu Ende gedacht. Die Ursprungsklärung vollzieht sich, wie es im Titel heißt, als die "Ursprungsklärung des neuzeitlichen Gegensatzes zwischen physikalistischem Objektivismus und transzendentalem Subjektivismus". Beide Ideen, die zunächst bei Descartes gleichzeitig vorhanden sind, können sich aber nicht in befriedigender Weise miteinander verbinden, sondern bilden einen Gegensatz, der im Geschichtsgang der Neuzeit ausgetragen wird. Im Titel vom § 8, mit dem der zweite Teil der Abhandlung beginnt, verweist Husserl auf den "Ursprung der neuen Idee der Universalität der Wissenschaft in der Umgestaltung der Mathematik". Husserl spricht hier bewußt von der Universalität der Wissenschaft und nicht der Philosophie. Der Grund rur diese differenzierende Betrachtungsweise ist, daß die Universalität zunächst durch Sinnverwandlung der antiken Mathematik in der von GaIilei urgestifteten mathematischen Naturwissenschaft ansetzt und erst dann sich die Idee der universalen, alle Wissenschaften umfassenden Philosophie im Sinne Descartes' die Bahn bricht. I

§ 6. Das endlich geschlossene Apriori der vorneuzeitlichen Wissenschaften Die vorneuzeitliche Mathematik und die vorneuzeitlichen Wissenschaften überhaupt kennen rur Husserl "nur endliche Aufgaben, ein endlich geschlossenes Apriori,,2. Ebenso sieht Husserl aber die außerwissenschaftliche, von den Wissenschaften noch nicht berührte Kultur als Aufgabe und Leistung des Menschen in der Endlichkeit an: "Da gibt es keine unendlichen Aufgaben, keine idealen Erwerbe [ ... ],,3 Was haben demnach die vorneuzeitIichen WissenVgl. oben § 5, S. 41 ff. 2

Krisis, S. 19. Krisis, S. 324, vgl. auch S. 340.

§ 6. Das endlich geschlossene Apriori der vorneuzeitlichen Wissenschaften

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schaften hinsichtlich der Endlichkeit ihrer Aufgaben noch mit dem vor- und außerwissenschaftlichen Leben gemeinsam? Mit der Geschlossenheit, der geschlossen einheitlichen System form einer wissenschaftlichen Theorie im strengen Sinne, die auch die neuzeitlichen Wissenschaften kennzeichnet 4, hat Husserl - wie sein Hinweis auf die Aristotelische Syllogistik als "ein allem anderen übergeordnetes Apriori" verdeutlicht - das Ideal einer beweisenden Wissenschaft (a.1tOOetKnKTJ emcrnll.1TJ) vor Augen: das Ideal einer "systematisch einheitlichen deduktiven Theorie [ ... ], beruhend auf [einem endlichen System von] ,axiomatischen' Grundbegriffen und Grundsätzen, in apodiktischen Schlußfolgerungen fortschreitend".5 Die grundlegenden Begriffe und Sätze einer Wissenschaft legen im voraus fest, grenzen ein, was in ihrem Gebiet an Bestimmungen überhaupt auftreten kann. Allerdings bewegte sich die Euklidische Geometrie noch nicht in einer "anschauungsfemen Symbolik,,6 und erfullte nicht das Ideal der modemen mathematischen Axiomatik, deren Deduktionen auf rein formal-logische Weise erfolgen. Diese Einschränkung stellt den streng methodischen Aufbau der Euklidischen Geometrie keineswegs in Frage. Der Begriff der Konstruierbarkeit blieb fur die antike Geometrie in gewisser Weise noch an die ursprünglich handwerklichen Wurzeln im Sinne eines geregelten Umgangs mit bestimmten technischen Konstruktionsmitteln gebunden. Dementsprechend war es fur die antike Geometrie selbstverständlich (und wurde nicht eigens als Satz formuliert), daß ihre Gebilde in endlich vielen Konstruktionsschritten nach bestimmten Operationsregeln erreichbar sein sollten. Erst die modeme mathematische Grundlagenforschung sah sich durch Paradoxien genötigt, finite Verfahrensweisen ausdrücklich zu postulieren. 7 Der Ursprung der europäischen Wissenschaft und Philosophie in der griechischen Antike verdankt sich, wie Husserl in seinem Wien er Vortrag vom Mai 1935 ausfuhrt, dem Absprung von religiös-mythischen Welterfahrungen zu einer rationalen, theoretischen Welterkenntnis. 8 Mit der Erfahrung, daß jedes Volk seinen eigenen Mythos hat, bricht fur Husserl der (intentionale) "Unterschied von Weltvorstellung und wirklicher Welt auf und entspringt die neue Frage nach der Wahrheit".9 Die Entdeckung der Natur (q>ucrtC;) in der ionischen Naturphilosophie versteht Husserl als Abbau der religiös-mythischen Weltapperzeption im Rückgang auf die allen Menschen gemeinsame Sinnen-

4

Vgl. unten § 7.

Krisis, S. 18 (; vgl. auch Formale und transzendentale Logik, Hua XVII, S. 99 (im folgenden zitiert als "Logik"); Erste Philosophie I, Hua VII, S. 34 f. 6 Krisis, S. 2 I. 7 Vgl. oben § 5, S. 27 f. 8 Vgl. Krisis, S. 328 ff. 9 Krisis, S. 332. 5

4 Neumann

A. 11. Galileis Urstiftung der mathematischen Naturwissenschaft

50

weIt. 1O Der dadurch eröffnete Bereich eines unmittelbar Erscheinenden ('ra OOEt) auf das Weltzentrum, die Erde, zu; ist er dagegen leicht, dann bewegt er sich nach oben. 51 Die Ortsarten und Ortsunterschiede aber heißen oben und unten, vorne und hinten, links und rechts; und das nicht nur in bezug (relativ) auf uns und der Anordnung nach, sondern als in dem (Welt-)Ganzen selbst (absolut) gegebene Unterschiede: "Kat 'tau'ta ou Jlovov 1tpCx; 1lJlU 0 stets einen Index no so angeben kann, daß die Ungleichung [an-al < & (ausführlich: a-& < an < a+&) für alle Glieder an der Folge mit n ~ no erfüllt ist. Der Index no, von dem ab [an-al < & erfüllt ist, hängt in den meisten Fällen von & ab, d. h. no = no (G). In der Forderung, daß sich eine unendlich iterierbare Zahlenfolge einem Grenzwert beliebig annähert, ist implizit die "Grundform des ,Und so weiter' " beschlossen, die ihr subjektives Korrelat im "man kann immer wieder" hat 170. Mit der Forderung, daß man zu jeder beliebigen, noch so kleinen Zahl & immer wieder ein zugehöriges no (E:) angeben kann, wird unserer Vermöglichkeit, mit den angesetzten Zeichen zu operieren, ein idealer Sinn verliehen. Es handelt sich um eine offenbare Idealisierung, um eine idealisierende Überschreitung unserer vermöglichen Endlichkeit, "da de facta niemand immer wieder kann" 171. Die Antinomien der Cantorschen transfiniten Mengenlehre haben zu Beginn dieses Jahrhunderts die Diskussion über das mathematisch Unendliche neu belebt. 172 Husserls Kritik an den idealisierenden Voraussetzungen der Wissenschaften geht aber weit über das Problem der mathematischen Unendlichkeit hinaus. Im dritten Kapitel des zweiten Abschnitts der "Formalen und transzendentalen Logik" bringt er eine Reihe von idealisierenden Voraussetzungen der analytischen Logik zum Bewußtsein, mit denen die exakten Wissenschaften wie mit Selbstverständlichkeiten operieren. Es soll hier nur kurz auf die im Satz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) implizierten Idealisierungen eingegangen werden, da dieser Satz bei transfiniten Mengen 173 und dann vor allem in der modemen Quantenphysik 174 nicht mehr als uneingeschränkt gültig angesehen wird. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten besagt in subjektiver Hinsicht, daß jedes Urteil prinzipiell entweder zu positiver oder zu negativer 170

Logik, Hua XVII, § 74, S. 196.

Logik, Hua XVII, S. 196; vgl. auch Krisis, S. 360 f. - Zu Husserls Kritik der idealisierenden Voraussetzungen in der Mathematik (und Logik) vgl. D. Lohmar: Phänomenologie der Mathematik. Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der mathematischen Erkenntnis nach Husserl, Dordrecht/Boston/London 1989, S. 133 ff. 172 Vgl. oben § 4, S. 27 f. 171

173 Vgl. die Literaturhinweise zum mathematischen Intuitionismus, oben S. 28, Anm.15. 174 Die (prinzipielle) Unbestimmtheit der quantenphysikalischen Meßgrößen (Observablen) ist zunächst bei der älteren Physikergeneration, z. B. A. Einstein, auf entschiedene Ablehnung gestoßen und hat bis heute zu sehr unterschiedlichen Interpretationen Anlaß gegeben. Vgl. hierzu die Diskussion in: Wieviele Leben hat Schrödingers Katze? Zur Physik und Philosophie der Quantenmechanik, hrsg. von 1. Audretsch und K. Mainzer, Mannheim/Wien/Zürich 1990.

80

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Adäquation gebracht werden kann. Schlechthin jedes Urteil ist eines von beiden: wahr oder falsch, und zwar ein für allemal. 175 Husserls Intention ist es nicht, die Probleme der Quantenphysik zu erörtern. Er zeigt vielmehr, daß es sich um eine idealisierende Voraussetzung handelt, die in der wirklichen Erfahrungswelt gar nicht erfüllt ist. In der Abhandlung "Realitätswissenschaft und Idealisierung. - Die Mathematisierung der Natur" sagt Husserl ausdrücklich: "In der empirischen Sphäre gilt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht." 176 Er verdeutlicht diese Einsicht am Beispiel räumlicher Gestalten. Nur exakte Gestaltideen sind absolut unterschieden, während die Zuordnung empirischer Raumgestalten zu den verschiedenen morphologischen Typen situativ bedingt und fließend ist.

In der Krisis-Abhandlung möchte Husserl zeigen, daß - über die offensichtlicheren Idealitäten der Mathematik hinaus - die insbesondere von der neuzeitlichen Naturwissenschaft geforderte Objektivität der Erkenntnis ebenso auf unbemerkten Idealisierungen beruht, die in einer phänomenologischen Analyse allererst aufzudecken sind. 177 Die Idealisierungen der mathematischen Physik sind zwar "ein großartiges Instrument der Erkenntnis der Natur" 178, aber die ursprünglichen Sinngebungen der theoretischen Situation, die ihre Idealisierungen und Hypothesen leitet, sind zunehmend in Vergessenheit geraten. Anders als die phänomenologisch unausgewiesenen Begriffe des aktual oder potential Unendlichen sind die Idealisierungen (idealisierenden Leistungen) durch eine transzendental-phänomenologische Konstitutionsanalyse der Aktgefüge aufzuklären. Die Setzung von Idealitäten ist auf ihre Rechtmäßigkeit zu befragen. Einen Ansatzpunkt für die Frage nach der Rechtmäßigkeit derartiger Setzungen gibt Husserl in dem Hinweis, daß sich jede Setzung daraufhin befragen läßt, ob sie "nicht bloß überhaupt, sondern ,vernünftig motiviert' " ist 179. Husserl hat eine solche Befragung für das Problem der idealisierenden Setzungen nicht explizit unternommen. Es müssen, wie D. Lohmar zeigt, grundsätzlich zwei Bedingungen erfiilIt sein, damit eine idealisierende Setzung als vernünftig motiviert angesehen werden kann: I) Eine Handlung oder Operation der jeweiligen Art muß überhaupt vollziehbar sein. 175

Logik, Hua XVII, § 77.

176

In: Krisis, Hua VI, S. 279-293, hier S. 292.

177 Vgl. Krisis, S. 131 f.: "Das Objektive ist eben als es selbst nie erfahrbar [ ... ] Mit der Erfahrbarkeit eines Objektiven steht es nicht anders als mit derjenigen unendlich ferner geometrischer Gebilde, und so überhaupt mit derjenigen aller unendlichen ,Ideen', z. B. auch mit der Erfahrbarkeit der Unendlichkeit der Anzahlenreihe." 178 Krisis, Beilage IV, S. 390. 179 Ideen I, Hua III/I, § 136, S. 316, vgl. auch §§ 140-143. - D. Lohmar, auf den hier Bezug genommen wird, unternimmt eine solche Analyse für die operativen Idealisierungen der Mathematik in seiner Monographie "Phänomenologie der Mathematik" (1989), S. 141 fT.

§ 8. Die Rückfrage nach dem Ursprung der ,reinen Geometrie'

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2) Die evidente Einsicht in die wesensmäßige Unmöglichkeit einer ,Grenze' dieser aufeinanderfolgenden Handlungen oder Operationen muß gegeben sein. 180 Die Frage, ob eine idealisierende Setzung vernünftig motiviert ist, läßt sich nur in der reflexiven Einstellung auf das leistende Subjekt beantworten. Die Wesenseinsicht in die Unmöglichkeit einer Grenze stellt sich, wie oben erläutert, durch freie (phantasiemäßige) Variation ein. In jedem erdenklichen Schritt der betrachteten Handlungsfolge muß wesensmäßig ein Vorverweis auf die Möglichkeit der nächsten Handlung impliziert sein. Die Idealisierung der raumzeitlichen Gestalten hat als ins Unendliche fortgedachte Iteration somit ihren Sinnesursprung in der offen endlosen Horizonthaftigkeit der konkret anschaulichen Lebenswelt. 181 Für die Idee einer Unendlichkeit gilt in allgemeiner Weise, was Husserl in den "Ideen I" (im Hinblick auf die adäquate Dinggegebenheit) folgendermaßen formuliert: Die Idee einer wesensmäßig motivierten Unendlichkeit ist nicht selbst eine Unendlichkeit; die Einsicht, daß diese Unendlichkeit prinzipiel1 nicht gegeben sein kann, schließt nicht aus, sondern fordert vielmehr die einsichtige Gegebenheit der Idee dieser Unendlichkeit. 182 Indem Husserl die Idee einer Unendlichkeit auch als "Idee im Kantischen Sinne" charakterisiert, möchte er auf deren regulativen Charakter hinweisen. 183 Eine "regulative Idee" ist für Kant dadurch bestimmt, daß sie dem Verstand als "lediglich nur projektierte Einheit" durch "heuristische Fiktionen" sein Feld bereitet. 184 Die Idee einer Unendlichkeit ist für Husserl dann einsichtig gegeben, wenn die "gesetzmäßige Regel" 185 angegeben werden kann, die den idealisierenden Übergang zum Limes bzw. Vollkommenheitsidealleitet. Zu den Begriffsbildungen der "exakten Wissenschaften", z. B. der Geometrie, bemerkt Husserl im § 74 der "Ideen I": "Exakte Begriffe haben ihre Korrelate in Wesen, die den Charakter von .Ideen' im Kantischen Sinne haben." 186 Idealisierungen treten für Husserl aber nicht erst und ausschließlich mit den exakten Begriffen der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft auf. Bereits die adäquate Dinggegebenheit (wie die adäquate Gegebenheit aller tranVgl. D. Lohmar: Phänomenologie der Mathematik, S. 139 ff. 181 Vgl. Krisis, S. 324, 340, 357 f., 499 f. 182 Ideen I, Hua III/I, § 143, S. 331. 183 Ideen I, Hua III/I, S. 155, 331; Logik, Hua XVII, S. 66 f., Anm. I, und S. 297 f.; vgl auch Cartesianische Meditationen, Hua I, § 22, S. 90 f. 184 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 647/B 675 und A 771 /B 799, vgl. auch A 644/B 672, A 674/B 702, A 684/B 712. 185 Ideen I, Hua III/I, § 142, S. 330. 186 HualII/I,S.155. 180

6 Neumann

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szendenten ,Realitäten', die der Titel Natur oder Welt umspannt) ist für Husserl eine unendliche Idee im Kantischen Sinne: Aber als" Idee" (im Kantischen Sinn) ist gleichwohl die vollkommene Gegebenheit vorgezeichnet - als ein in seinem Wesenstypus absolut bestimmtes System endloser Prozesse kontinuierlichen Erscheinens, [ ... ] durchherrscht von fester Wesensgesetzlichkeit. 187 Die Idee der vollkommenen Gegebenheit transzendenter Gegenstände setzt prinzipiell die Vermöglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung voraus, indem sie auf der "prinzipiellen Anschaubarkeit" 188 aller überhaupt möglichen Aspekterscheinungen eines räumlichen Gegenstands beruht, und ist daher grundsätzlich von den geometrischen Idealitäten zu unterscheiden, bei denen das Ideal das Exakte in Abgrenzung vom Vagen bedeutet. 189 "Die geometrische Reinheit schließt das Typische der sinnlich anschaulichen Gegebenheiten aus" 190 - und ebenso gilt das Umgekehrte: Die phänomenologische Besinnung zeigt, daß kein phantasiemäßiges Umfingieren der anschaulichen Raumgestalten zu den exakten Gestalten der Geometrie führt, sondern nur eine Methode der Idealisierung des anschaulich Gegebenen. 191 Die Methode der Idealisierung, auf der die geometrischen Idealbegriffe beruhen, bezeichnet Husserl in den "Ideen I" auch als "Ideation". Aber diese Ideation ist "etwas grundwesentIich anderes" als die genuin phänomenologische Methode der Ideation im Sinne von Wesenserfassung, Wesensschau. 192 Dem idealisierenden Übergang zu den exakten raumzeitlichen Gestalten kommt aber nur dann ein intersubjektiv tradierbarer Sinn zu, wenn er von einer vorgängigen Ideation als Wesensschau geleitet wird: Nur soweit als der apodiktisch allgemeine, der in aller erdenklichen Variation invariante Gehalt der raumzeitlichen Gestaltensphäre bei der Idealisierung in Betracht gezogen wird, kann ein ideales Gebilde erwachsen, das für alle Zukunft und für alle 187 188

Ideen I, Hua 1II/1, § 143, S. 331, vgl. auch § 142. Krisis, § 34 d (Titel).

189 Der Terminus ,vage' darf für Husserl keinesfalls in einem abwertenden Sinne verstanden werden (vgl. Ideen I, Hua IIlIl, § 74; ferner bereits Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, § 21, S.72). 190 Ideen III, Hua V, Beilage IV, S. 132. 191 Erfahrung und Urteil, S. 42; vgl. auch Krisis, S. 22, 49. 192 Ideen I, Hua IIlIl, § 74, S. 155, vgl. auch § 75. - Die phänomenologischreflexive (Behandlungs-)Methode der Ideation als Wesenserfassung behandelt Husserl an vielen Stellen seines Werkes: z. B. Ideen I, Hua IIl/I, §§ 3-8; Ideen IIl, Hua V, § 7; Phänomenologische Psychologie, Hua IX, § 9; Logik, Hua XVII, § 98; Erfahrung und Urteil, §§ 86-93. Vgl. hierzu E. Fink: Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls, in: ders.: Studien zur Phänomenologie 1930-1939, Den Haag 1966, S. 179223, bes. S. 213 ff.

§ 8. Die Rückfrage nach dem Ursprung der ,reinen Geometrie'

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Menschengenerationen nachverstehbar und so tradierbar ist, nacherzeugbar mit identischem intersubjektiven Sinn. Diese Bedingung gilt weit über die Geometrie hinaus rur alle geistigen Gebilde, die unbedingt allgemein tradierbar sein sollen. 193

Der idealisierende Übergang zu den geometrischen Limes-Gestalten wird dadurch ermöglicht, daß die Variationsmannigfaltigkeit in der Sphäre der anschaulichen (nicht idealen) Gestalten eine offen endlose iSt. 194 Die "Allgültigkeit" 195 des geometrischen Apriori setzt also das vorgeometrische Apriori als das allgemeine (invariante) Wesen der anschaulichen Lebenswelt schon voraus. Das lebensweltliche Apriori ist Sinnes- und Geltungsfundament jedes objektivlogischen Apriori. 196 Husserl wirft Kant daher im dritten Teil der KrisisAbhandlung vor, daß die Fragestellung der Vemunftkritik auf unausgesprochenen Voraussetzungen fußt, nämlich der "selbstverständlich geltenden Lebensumwelt" 197. Die alltägliche Lebensumwelt ist in Kants transzendentaler Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung immer schon übersprungen. Kant fragt zwar nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, also nicht nur der wissenschaftlichen Erkenntnis, aber seine Erkenntnisintention ist primär an den exakten Wissenschaften orientiert, vor allem an der Mathematik und der Newtonsehen Physik. Husserl weist in diesem Zusammenhang auf die veränderte Problemsituation in der Epoche Kants hin: "Für Kant und den Rationalismus seines Jahrhunderts war die mathematische Naturwissenschaft lange schon als die allein echte Wissenschaft von der Natur anerkannt." 198 Mit dem Siegeszug der klassischen Mechanik hatte die mathematische Physik in der Erforschung der rur sie allein wahren Struktur der körperlichen Natur längst den Charakter der Unbezweifelbarkeit angenommen. 199 Der mit der Geometrie verbundene Anspruch auf unbedingte ,Objektivität' ihrer Wahrheitsgehalte muß rur Husserl in gewisser Weise schon in der vor193

Krisis, Beilage 111, S. 385, vgl. Beilage 11, S. 363.

194 Im § 9 der "Phänomenologischen Psychologie", der die "Wesensschau als genuine Methode der Erfassung des Apriori" zum Inhalt hat, schreibt Husserl: "Also zu jeder Variationsmannigfaltigkeit gehört wesentlich das merkwürdige und so überaus wichtige Bewußtsein des ,und so weiter nach Belieben'. Dadurch allein ist das, was wir eine ,offen unendliche' Mannigfaltigkeit nennen, gegeben [ ... ]" (Hua IX, S. 77; fast wörtlich übernommen in: Erfahrung und Urteil, § 87, S. 413.) 195 Krisis, S. 113. 196 Vgl. Krisis, S. 143: "Eine gewisse idealisierende Leistung ist es, weIche die höherstufige Sinnbildung und Seinsgeltung des mathematischen und jedes objektiven Apriori zustande bringt, aufgrund des lebensweltlichen Apriori." 197 Krisis, § 28 (Titel). 198

Krisis, Beilage X, S. 424.

Wie sehr noch Galilei die von ihm urgestiftete mathematische Physik gegen seine peripatetischen Kontrahenten verteidigen mußte, wird im § 9 a der vorliegenden Arbeit dargelegt. 199

6*

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wissenschaftlichen Lebenswelt angelegt sein. Die intersubjektive und praktisch eindeutige Bestimmbarkeit und Mitteilbarkeit raumzeitlicher Gegebenheiten wurde durch die Ausbildung und Vervollkommnung der Meßkunst erreicht. In ihrer "empirisch-praktisch objektivierenden Funktion" 200 wurde die empirische Meßkunst zur Wegbereiterin der Geometrie. "Messen gehört zu jeder Kultur, nur in Stufen von primitiven zu höheren Vollkommenheiten.,,201 Auch in der Meßkunst schiebt sich das technische Vermögen der Vervollkommnung immer weiter hinaus. Grundgebilde der Raummessung ist der empirisch-starre Körper: Die Meßkunst entdeckt praktisch die Möglichkeit, gewisse empirische Grundgestalten, an faktisch allgemein verfügbaren empirisch-starren Körpern konkret festgelegt, als Maße auszuwählen und mittels der zwischen ihne!1 und anderen KörperGestalten bestehenden (bzw. zu entdeckenden) Beziehungen diese anderen Gestalten intersubjektiv und praktisch eindeutig zu bestimmen - zuerst in engeren Sphären (z. B. in der Feldmeßkunst), eben sodann für neue Gestaltsphären. 202 Je nach den praktischen Erfordernissen gibt es einen praktisch vollkommenen Größenvergleich, eine praktisch vollkommene Gleichheit. "Das Genau, Exakt ist im praktischen Leben durch den Zweck bestimmt, das ,Gleich' ist gleich-gültig rur diesen Zweck, rur den es irrelevante Differenzen geben kann, die nicht mitzählen." 203 Im Gefolge des wach gewordenen philosophischen Strebens nach einer ,wahren', das objektive Sein der Welt bestimmenden Erkenntnis wurde die empirische Meßkunst unter Umstellung des praktischen in ein rein theoretisches Interesse idealisiert und das rein geometrische Denkverfahren ge schaf fen. 204 Das Ideal der absoluten Gleichheit (der Größe, Gestalt) ist der nie zu erreichende Pol einer ins Unendliche fortgedachten Approximation. Das idealgeometrische Verfahren ermöglicht es nun (darin liegt die eigentliche Entdekkung, die die Geometrie schuf), gewisse ausgezeichnete Idealgestalten (z. B. gerade Linie und Kreis in der Geometrie Euklids) absolut eindeutig zu bestimmen und nach allgemein mit ihnen zu vollruhrenden Operationen andere Idealgestalten aus schon vorgegebenen zu konstruieren, die vermöge der erzeugenden Methode intersubjektiv eindeutig bestimmt sind. Die Methodik der analytischen Geometrie ermöglicht es schließlich, alle überhaupt erdenklichen in den 200 Krisis, § 9 a, S. 25. 201 Krisis, Beilage III, S. 384. 202 Krisis, S. 25. - Eine gute Übersicht zur Geschichte der Raummessung gibt 1. 0. Fleckenstein: Die Erweiterung des kosmischen RaumbegrifTs in der Geschichte der Raummessung, in: Studium Generale. Zeitschrift für die Einheit der Wissenschaften 11 (Berlin [usw.] 1958), S. 29-34. Wie Fleckenstein zu Beginn seiner Ausführungen bemerkt, dürfte der prähistorische Mensch die Längen- und Raummaße ursprünglich dem eigenen Körper entnommen haben. Körpermaße wie Elle und Fuß werden ja noch heute im bürgerlichen Maßstab mitgeschleppt. 203 Krisis, S. 289 f. 204 VgI. Krisis, S. 25.

§ 8. Die Rückfrage nach dem Ursprung der ,reinen Geometrie'

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Raum einzuzeichnenden (idealen) Gestalten in einer apriorischen, allumfassenden systematischen Methode konstruktiv eindeutig zu erzeugen.

c) Die Sinnentleerung der Geometrie in der Technisierung und die notwendige Rückbesinnung auf ihren Ursprungssinn Die schon angedeutete Frage nach dem vergessenen Ursprungssinn der Geometrie ruhrt auf das Problem der Sinnverschiebung, das mit der Konzeption neuer mathematischer Disziplinen einhergeht. Es soll erst dieser Weg kurz verfolgt werden, bevor die Frage nach dem Ursprungssinn wieder aufgegriffen wird. Ein rur die Geometrie entscheidender Bedeutungswandel vollzog sich in der Neuzeit mit deren Arithmetisierung in der Konzeption der analytischen Geometrie. Mit der Arithmetisierung der Geometrie durch Einruhrung eines räumlichen Koordinatensystems eröffnete sich als weiterer Schritt sogleich die Möglichkeit der Anwendung algebraischer Bezeichnungsweisen. Algebraische Bezeichnungen und Denkweisen verbreiteten sich vor allem durch F. Viete (lat. Vieta) schon vor der Entwicklung der analytischen Geometrie durch Descartes 205. Quantitäten werden anstelle der bestimmten Zahlen in allgemeinen Sätzen (algebraischen ,Formeln') über funktionale Abhängigkeiten ausgedrückt. Die Auswirkung der algebraischen Verfahren ist rur Husserl in einer gewissen Richtung segensreich, in anderer verhängnisvoll. Die kunstmäßige Ausbildung der algebraischen Verfahren bedeutet zunächst eine ungeheure Erweiterung des in primitiven Formen überlieferten arithmetischen Denkens. Andererseits eröffnen die algebraischen Bezeichnungen erstmals die Möglichkeit eines "von aller anschaulichen Wirklichkeit völlig losgelösten apriorischen Denkens über Zahlen überhaupt, Zahlverhältnisse, Zahlgesetze".206 Mit der Anwendung algebraischer Verfahren in der Konzeption der analytischen Geometrie treten algebraische Gebilde an die Stelle der idealen Geraden, Kreise, Dreiecke, Lageverhältnisse usw. Entscheidend ist rur Husserl, daß die analytische ,Fassung' der Geometrie zugleich eine Bedeutungsmodifikation des Geometrischen insgesamt herbeiruhrt: Man läßt im algebraischen Rechnen von selbst die geometrische Bedeutung zurücktreten, ja ganz fallen; man rechnet, sich erst am Schluß erinnernd, daß die Zahlen Größen bedeuten sollten. Man rechnet allerdings nicht wie im gewöhnlichen Zahlenrechnen "mechanisch", man denkt, man erfindet, man macht ev. große Entdeckungen - aber mit einem unvermerkt verschobenen, "symbolischen" Sinn. 207 205 Unabhängig von ihm entdeckte auch P. de Fermat die Grundlagen der analytischen Geometrie. 206 Krisis, § 9 f, S. 43. 207 Krisis, S. 44.

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Die alte Geometrie, auf der noch die Physik Galileis weitgehend beruhte, bewegte sich noch nicht in einer "anschauungs fernen Symbolik" 208. Der Fortgang von der alten synthetischen Geometrie zur neuzeitlichen analytischen Geometrie läßt sich, aktphänomenologisch gesehen, als "Ablösung der bildlichsymbolischen Anschauung durch eine signitive Symbolisierung" kennzeichnen. 209 Die bildlich-symbolische Darstellung nimmt eine gewisse MittelsteIlung zwischen der signitiv-symbolischen Darstellung und der intuitiven Selbstdarstellung ein, indem sie den gemeinten Sachverhalt zwar nicht selbst unmittelbar ,vor Augen' stellt, aber dennoch eine Vordeutung in ungeflihrer Analogie möglich macht. 2Io "Das anschauliche Verfahren der Geometrie ist", wie es schon in einer Studie Husserls aus dem Jahr 1894 heißt, "in Wahrheit ein symbolisches. Ihre Symbole sind die Figuren" . 211 Das Zeichensymbol ist' dagegen rein arbiträr und gewöhnlich durch Konvention festgelegt. Räumliche Anschauung ist rur die alte Geometrie konstitutiv. Den idealen Gebilden und Figuren lassen sich zu ihrer Darstellung gewisse sinnlichanschauliche Elemente zuordnen. Wie wir bei der Erörterung der geometrischen Idealisierung gesehen haben, sind die idealen (und in anderer Weise auch die ideativ allgemeinen) Gebilde der Geometrie zwar in schlichten sinnlichen Anschauungen fundiert, erschöpfen darin aber noch nicht ihren Sinn. 212 Ist aber die Geometrie erst zur analytischen Geometrie geworden, dann gilt beispielsweise nicht länger der pythagoreische Satz über Streckenverhältnisse in rechtwinkligen Dreiecken, sondern allein der algebraische Sachverhalt, daß hier eine ,rein quadratische Form' vorliegt. Führend ist die Zahl, die Gleichung und die ,Form', die keine sinnlich gestalthafte, sondern eine rein algebraische ist. 208

Krisis, S. 21.

209 E. Sträker: Philosophische Untersuchungen zum Raum (2 1977), S. 230, vgl. auch S. 222 fT.

2\0 Vgl. Logische Untersuchungen II12, Hua XIX/2, S. 586 ff. (§ 14 a der VI. Untersuchung nach der 2. Auflage von 1921); ferner Ideen I, Hua III/I, § 43. 211 Studien zur Arithmetik und Geometrie, Hua XXI, Teil 11, Text Nr 7, S. 294, vgl. auch Text Nr 4, S. 271 f. 212 Insofern ist es nur bedingt gerechtfertigt, die wechselseitige Zuordnung zwischen dem ideal-geometrischen Gebilde (als Erzeugnis einer idealisierenden Grenzbetrachtung) und dem anschaulichen ,Modell', z. B. einer gezeichneten Figur, mit der bildlichen Symbolik, wie sie Husserl in den "Logischen Untersuchungen" einfUhrt, zu identifizieren. Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß ein Gemälde (so Husserls Beispiel fUr das Bildbewußtsein in der wichtigen Beilage zu den §§ 11 und 20 der V. Untersuchung der Logischen Untersuchungen, Bd II11, Hua XIXII, S. 437) auf die prinzipielle, wenn auch möglicherweise faktisch nicht realisierbare Wahrnehmbarkeit der vergegenwärtigten Sache selbst verweist, während die Figur im geometrischen Sinn eine "ideale Grenze" ist, "die in concreto überhaupt nicht anschaulich aufweisbar ist" (§ 41 der VI. Untersuchung der Logischen Untersuchungen, Bd Il/2, Hua XIX/2, S.662).

§ 8. Die Rückfrage nach dem Ursprung der ,reinen Geometrie'

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Der geometrische Sachverhalt erscheint nur mehr als eine mögliche Interpretation algebraischer Bezeichnungen. Ebenso entflillt die Bindung an den dreidimensionalen Anschauungsraum, wird der ,Raum' zur n-dimensionalen Mannigfaltigkeit. Indem der symbolische Sinn ("Formelsinn") sich mehr und mehr verselbständigt, führt die Arithmetisierung der Geometrie "wie von selbst in gewisser Weise zur Entleerung ihres Sinnes".213 Die Sinnentleerung kann nur dann vermieden werden, wenn die in der Konzeption der analytischen Geometrie liegende signitive Symbolisierung als val/bewußte Methode verstanden bzw. reaktiviert wird. Der wesentliche Schritt, der zur Sinnentleerung der Geometrie führt, ist durch den Wandel des Symbolcharakters nur vorbereitet. Entscheidend ist, daß die ursprüngliche semantische Dimension der Zeichen als ,Zeichen-für', d. h. die Zeichenrelation, nicht nur während der Operation mit den Zeichen (die ihren eigenen, symbolischen Sinn hat) vorübergehend ausgeschaltet ist, sondern fiir die Sinngebung der Methode schlechthin keine Rolle mehr spielt. Diese letzte Konsequenz wird erst in der modemen Mathematik vollzogen. 214 Aber schon die sich mit der Arithmetisierung der Geometrie ergebende Sinnverschiebung führt dazu, daß die ursprüngliche geometrische Bedeutung der Zeichen (als räumliche Maßeinheiten, Maßgrößen usw.) in den Hintergrund tritt und schließlich verlorengeht. Wir werden durch die Verwendung sinnlicher Zeichen dazu "verfiihrt,,215, den immanenten Formelsinn als die Sache selbst zu fassen. In Anlehnung an eine Studie Husserls "Zur Logik der Zeichen (Semiotik)" 216 aus dem Jahr 1890 könnte man diesen Vorgang als "Surrogierung" der gemeinten Sache durch bloße Zeichen vorstellungen bezeichnen. Husserl fUhrt in seiner Studie zur Semiotik die Surrogatvorstellungen als Teilklasse der uneigentlichen Vorstellungen ein, die er von den eigentlichen Vorstellungen abgrenzt, da in ihnen die gemeinte Sache nicht wirklich intuitiv, sondern nur mittels stellvertretender Zeichen vorgestellt wird. Surrogatvorstellungen im engsten Sinn des Wortes sind Vorstellungen, bei denen die Symbolrelation ganz weggefallen iSt. 217 Es ist möglich, daß die semantische Dimension nur vorübergehend während der Ausfiihrung gewisser Operationen keine Rolle spielt und nach deren 213 Krisis, S. 44. - Vgl. auch Krisis, S. 48: "Zum Wesen aller Methode gehört die Tendenz, sich in eins mit der Technisierung zu veräußerlichen." 214 Siehe unten S. 88 f. 215

Krisis, S. 43.

In: Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S. 340-373, hier S. 357; vgl. auch Husserls Entwürfe zu seiner Schröder-Rezension, abgedruckt als Beilage I in: Aufsätze und Rezensionen (1890-1910), Hua XXII, S. 381-399. 216

217 Vgl. hierzu E. Holenstein: Eine Maschine im Geist. Husserls Begründung und Begrenzung künstlicher Intelligenz, in: Sprache, Wirklichkeit, Bewußtsein. Studien zum Sprachproblem in der Phänomenologie, hrsg. von E. W. Orth, Freiburg/München 1988 (= Phänomenologische Forschungen 21), S. 82-113.

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Beendigung wieder restituiert werden kann. "Man darf nämlich nicht verwechseln die Tatsache der Verwendung von Surrogatvorstellungen mit dem Wissen um diese Verwendung."218 In der Arithmetik ist, wie noch näher erläutert wird, die vorübergehende Verwendung "symbolischer Surrogate rur die Zahlen an sich" 219 etwas durchaus Rechtmäßiges, ja sogar Notwendiges. Die ,Geltung' oder ,Bedeutung' eines sinnlichen Bildes als Bild (oder eines Zeichens als Zeichen) verdankt sich erst der apperzeptiven Leistung eines "bildkonstituierenden Bewußtseins" und ist, wie Husserl sagt, "kein reales Prädikat" (wie etwa die Farbe eines Gegenstands).22o Entscheidend rur die von Husserl thematisierte "Sinnentleerung" 221 oder "Sinnesveräußerlichung" 222 mathematischer Disziplinen ist, daß die semantische Beziehung überhaupt weggefallen oder gegenüber ihrem ursprünglichen und eigentlichen Sinn gefährlich verschoben ist. Die Zeichen sind nicht mehr als "Stellvertreter" 223 für etwas von ihnen Verschiedenes bewußt und können daher ihre Regelung nur noch aus sich selbst finden. "Die Zeichenrelation ist verlorengegangen." 224 Aus der unbemerkten Bedeutungsverschiebung im Zusammenhang mit der analytischen Konzeption der Geometrie wird später eine "vollbewußte methodische Verschiebung" 225 im Sinne der nun als eigene mathematische Disziplin etablierten formalen Analysis, deren Ergebnisse rückwirkend wiederum auf die Geometrie angewandt werden. Die äußerste Konsequenz stellt das erstmals von D. Hilbert formulierte formalistische Programm dar. 226 Gegenstand der mathematischen Forschung sind die Zeichen selbst, aus denen sich die formalen Systeme konstituieren. Die Deutung der Zeichen in Hilberts "Grundlagen der Geometrie" von 1899 ist völlig unverbindlich. In einer Diskussion mit Kollegen über die Axiomatik der Geometrie gab Hilbert einmal seiner Auffassung das ihm eigentümliche, scharfe Gepräge durch das bekannte Bonmot: "Man muß jederzeit an Stelle von ,Punkte, Geraden, Ebenen' ,Tische, Stühle, Bierseidel' sagen können." 227 Der 218 Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S. 357. 219 Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S. 260. 220 Logische Unt~rsuchungen 11/1, Hua XIX/I, S. 437 f. (Beilage zu den §§ 11 und 20 der V. Untersuchung). 221 Krisis, § 9 g (Titel). 222 Krisis, S. 43. 223 Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S. 351. 224 Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S. 357. 225 Krisis, S. 44. 226 Vgl. oben § 4, S. 26, 28. 227 Zitiert nach der "Lebensgeschichte" Hilberts von O. Blumenthai, in: D. Hilbert: Gesammelte Abhandlungen, Bd 3, Berlin 1935, S. 388-429, hier S. 403. - Eine ähnliche Formulierung ("das System: Liebe, Gesetz, Schornsteinfeger ... ") prägt Hilbert in seinem Brief an G. Frege vom 29. Dezember 1899 (in: G. Frege: Wissenschaftlicher

§ 8. Die Rückfrage nach dem Ursprung der ,reinen Geometrie'

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,Sinn' der Zeichen ist nicht mehr ein repräsentativer, sondern erschöpft sich darin, ein rein operativer zu sein. Gemäß Husserls Unterscheidung zwischen "Ursprungssinn" 228 und "Methodensinn" 229 liegt die Sinnverschiebung darin, daß sich mit dem "Fortgang von sachhaltiger Mathematik zu ihrer formalen Logifizierung" 230 der Methodensinn von der ursprünglichen Sinngebung der Methode gelöst und verselbständigt hat. Die Rechtmäßigkeit, ja Notwendigkeit mechanisch-rechnerischer Methoden wird von Husserl auch in der Krisis-Abhandlung nicht bestritlen. 231 Husserl hat sich diesen Problemen seit seinen frühesten Untersuchungen in der 1891 erschienenen "Philosophie der Arithmetik" zugewandt. 232 Die mathematischen Wissenschaften sind, soweit sie überhaupt über ihre Anflinge hinauskommen wollen, schon immer auf die Verwendung rechnerischer Methoden angewiesen. Die Konstruktion mathematischer Zeichensysteme und Operationsregeln fiir ihre Verwendung, mithin ein "sich zeitweise ganz Verlieren in ein bloß technisches Denken" 233, ist für die Mathematik nicht nur unter dem Aspekt der Denkökonomie 234 konstitutiv. Schon unser Vermögen eigentlicher, d. h. nicht-symbolischer Zahlvorstellungen ist höchst begrenzt. In der "Philosophie der Arithmetik" schreibt Husserl: "Demgemäß ist auch die Zwölf (oder eine ihr nahestehende niedrigere Zahl) die letzte Grenze für die Konzeption der eigentlichen Zahlbegritfe."235 Aufgrund der "Unvollkommenheiten unseres Intellekts" 236 ist die Arithmetik darauf anBriefwechsel, hrsg. von G. Gabriel [u. a.], Hamburg 1976 (= Nachgelassene Schriften und Wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. von H. Hermes [u. a.], Bd 11), S. 67, 69). 228 Krisis, S. 42, 57. 229 Krisis, S. 53. - Als Synonyma fIlr "Methodensinn" verwendet Husserl auch die Termini "symbolischer Sinn" (Krisis, S. 44) und "Iogischer Sinn" (Krisis, Beilage III, S. 376 f.).

230 Krisis, S. 46. 231 Vgl. Krisis, S. 46. 232 Vgl. hierzu die ausfllhrliche Erörterung in: B. Rang: Die bodenlose Wissenschaft (1989), S. 108 ff.; vgl. ferner D. Lohmar: Phänomenologie der Mathematik (1989), S. 70 ff. und 116 ff. 233 Krisis, S. 46. 234 Das erstmals von E. Mach und R. Avenarius formulierte Prinzip der Denkökonomie erörtert Husserl im neunten Kapitel des ersten Bandes der "Logischen Untersuchungen" (Hua XVIII, S. 196-213). 235 Hua XII, S. 192. - Die Bedeutung dieser Einsicht fIlr Husserl läßt sich daran ermessen, daß er sie als fIlnfte von insgesamt acht Disputationsthesen aufnahm, die er anläßlich seiner Habilitation im Jahre 1887 an der Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg verteidigte. Die These lautet: "Im eigentlichen Sinne kann man kaum über drei hinaus zählen." (Zitiert nach: Edmund Husserl und die phänomenologische Bewegung. Zeugnisse in Text und Bild, hrsg. von H. R. Sepp, Freiburg/München 1988, S. 169.) 236 Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S. 192.

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A. 11. Galileis Urstiftung der mathematischen Naturwissenschaft

gewiesen, durch symbolisch vennittelte Methoden, mithin einer rixvT] sich überhaupt als Wissenschaft (bttO"TIH..lll) zu konstituieren. In einer deutlichen Akzentverschiebung gegenüber dem Frühwerk wird in der Krisis-Abhandlung nun aber fast ausschließlich die Gefahr betont, die davon ausgeht, daß man die kunstmäßigen Mittel rur den erkennenden Umgang mit der Sache selbst hält. Husserls exemplarische Analysen zur "Philosophie der Arithmetik" haben weit über den Bereich der Zahlen hinaus Geltung. Der "Begriff des Rechnens" wird nämlich nicht auf die Arithmetik begrenzt, sondern umfaßt "jede geregelte Art der Herleitung von Zeichen aus Zeichen innerhalb irgendeines algorithmisehen Zeichensystems".237 Ebenso wird der Begriff des Algorithmus von Husserl sehr weit gefaßt. Als Beispiele rur algorithmische Methoden ausbildende Disziplinen nennt Husserl in den Entwürfen zu seiner Schröder-Rezension neben der Arithmetik und analytischen Geometrie auch die Methode der Logikkalküle, wie sie E. Schröder im Anschluß an G. Boole, A. De Morgan und eh. S. Peirce damals gerade entwickelt hat. 238 Bei all diesen algorithmisch verfahrenden Disziplinen findet eigentlich gar kein logisches Denken statt, sondern wird ersetzt durch einen "blinden Mechanismus von sinnlichen Zeichen".239 Wenn die "Methode der sinnlichen Zeichen" 240 in der Arithmetik (und anderen mathematischen Disziplinen) das eigentliche, inhaltliche Denken rur Husserl zum einen entlasten, zum anderen erweitern soll, dann darf die Methode somit kein durch "bloße Rechenkonventionen" erfolgendes "Spiel der Symbole" 241 sein, sondern hat den Sinn, das eigentliche Denken nur vorübergehend zu ersetzen. Die Methode der sinnlichen Zeichen kann das einsichtige Denken der gemeinten Sache selbst nur dann ersetzen, wenn ausdrücklich sichergestellt ist, daß die rein rechnerisch abgeleiteten Resultate am Ende wirklich "mit der Wahrheit zusammentreffen" 242 - nämlich der Wahrheit, die man durch ein ursprüngliches, nicht symbolisch vennitteltes Denken folgerichtig wirklich erzielt hätte. Dieser Beweis kann aber nur durch ein inhaltliches Denken - und nicht durch ein wiederum fonnalisiertes Beweisverfahren erbracht werden. 243 Erst wenn das Zusammentreffen mit der Wahrheit allgemein 237 Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S. 258. 238 Aufsätze und Rezensionen (1890-1910), Hua XXII, S. 381-399, hier S. 394; vgl. auch Husserls im gleichen Band, S. 3-43, abgedruckte "Besprechung von E. Schröder, Vorlesungen über die Algebra der Logik (Exakte Logik), I. Band, Leipzig 1890". 239 Aufsätze und Rezensionen (1890-1910), Hua XXII, S. 394. 240 Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S. 257. 241 Logik, Hua XVII, § 40, S.115, vgI. auch § 33. 242 Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, § 54, S. 205. 243 Die durch K. Gödel in den dreißiger Jahren ausgelöste Diskussion über "formal unentscheidbare Sätze" hat in der mathematischen Grundlagenforschung die prinzipiel-

§ 8. Die Rückfrage nach dem Ursprung der ,reinen Geometrie'

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gesichert ist, "dann können diese Methoden in jedem gegebenen Einzelfall uneinsichtig, sozusagen mechanisch befolgt werden".244 Das Verhältnis von formaler Symboloperation (Rechnen im weiten Sinne) und inhaltlichem Denken ist nach Husserl durch drei methodisch aufeinanderfolgende Schritte bestimmt: "Umsetzung der Ausgangsgedanken in Zeichen - Rechnung -, Umsetzung der resultierenden Zeichen in Gedanken." 245 Auf die gefiihrlichen Konsequenzen, zu denen die Fortbildung der Arithmetisierung "zu einer völlig universalen ,Formalisierung' " als "rein formale ,Analysis', ,Mannigfaltigkeitslehre' , ,Logistik'" 246 und deren Anwendung in der Physik gefiihrt haben, macht Husserl im § 9 g der Krisis-Abhandlung mit dem Titel "Die Sinnentleerung der mathematischen Naturwissenschaft in der ,Technisierung' " aufinerksam: Sie [die Mathematik] wird dabei, wie schon die Arithmetik, ihre Methodik kunstmäßig ausbildend, von selbst in eine Verwandlung hineingezogen, durch die sie geradezu zu einer Kunst wird; nämlich zu einer bloßen Kunst, durch eine rechnerische Technik nach technischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen [... ] Man operiert mit Buchstaben, Verbindungs- und Beziehungszeichen (+, x, = usw.) und nach Spielregeln ihrer Zusammensetzung, in der Tat im wesentlichen nicht anders wie im Karten- oder Schachspiel. 247 Das "ursprüngliche Denken", das den "eigentlichen wissenschaftlichen Sinn" der technischen Verfahren ausmacht, ist hier ausgeschaltet. Was unter dem geforderten ursprünglichen Denken zu verstehen ist, spricht Husserl in diesem Zusammenhang deutlich aus: Es ist ein Denken, das diesen technischen Verfahren "eigentlich Sinn und den regelrechten Ergebnissen Wahrheit gibt". Der "wirkliche Wahrheitssinn" der Methoden ist "nur in einem an den Themen selbst und wirklich geübten sachlich-einsichtigen Denken zu gewinnen".248 Insofern erst durch Rückgang auf eine sachliche (inhaltliche) Evidenz die Gültigkeit der regelrechten, d. h. symbolisch gewonnenen Ergebnisse erwiesen len Grenzen des fonnalistischen Programms aufgezeigt (vgl. oben S. 28 f.). Gödels Überlegungen machen daneben offenbar, daß inhaltliches Denken nicht vollständig formalisiert werden kann. Schon der Beweis der Widerspruchsfreiheit eines fonnalen Axiomensystems macht für den dabei durchzuführenden meta-mathematischen Gedankengang Schlußweisen erforderlich, die in dem betrachteten System nicht in fonnalisierter Gestalt enthalten sind, sondern einen Rückgang auf eine inhaltliche, nichtsymbolische Evidenz notwendig machen (vgl. hierzu W. Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, BerlinlHeidelberg/New York 21969, S. 303 f.). 244 Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, S. 202. 245 Philosophie der Arithmetik, Hua XII, S. 258. 246 Krisis, S. 44. 247 Krisis, S. 46. 248 Krisis, S. 46.

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A. 11. Galileis Urstiftung der mathematischen Naturwissenschaft

werden kann 249 , ist das von Husserl geforderte ursprüngliche Denken sowohl Sinnes- als auch Ge/tungsfundament der formal-mathematischen Verfahren. Es ist bei der fortschreitenden Formalisierung der Mathematik und ihrer Anwendung in der mathematischen Naturwissenschaft darauf zu achten, daß der Ursprungssinn der Methodisierung wirklich bewahrt bleibt, indem er von aller unbefragten Traditionalität befreit und jede Verstellung durch einen sich verselbständigenden Methodensinn (symbolischen Sinn) vermieden wird. Hierzu heißt es im § 9 g der Krisis-Abhandlung: Das ist es aber nur, wenn dafür Sorge getragen ist, daß hierbei gellihrliche Sinnverschiebungen vermieden bleiben, und zwar dadurch, daß die ursprüngliche Sinngebung der Methode, aus welcher sie den Sinn einer Leistung für die Welterkenntnis hat, immerfort aktuell verfügbar bleibt [... ] 250 Husserls zuvor genannter Vergleich der modemen formalistischen Strukturmathematik mit dem Karten- oder Schachspiel verdeutlicht, worin die Sinnverschiebung der Mathematik liegt. Die Spielkarten oder Spielsteine dieser Art von Spielen sind lediglich Merkzeichen rein ,syntaktisch' zu befolgender Spielregeln und semantisch völlig uninterpretiert. Husserls Kritik richtet sich somit gegen die Selbstbezüglichkeit formalisierter mathematischer Theorien, deren Erkenntnisinteresse nur mehr auf sich selbst gerichtet iSt. 251 Des weiteren entleert sich unter dem Einfluß der "Technisierung der formal-mathematischen Denkarbeit" auch "das rein geometrische Denken sowie, in dessen Anwendung auf die faktische Natur, auch das naturwissenschaftliche Denken".2 52 Die nur noch kalkulatorisch ausgebildete Mathematik der "bloßen Spielregeln,,253 hat sich gegenüber ihrem Ursprungssinn verselbständigt. Worin aber der Ursprungssinn der Mathematik 254 besteht, spricht Hussserl an der oben zitierten TextsteIle deutlich aus: Die Ausbildung algorithmischer und anderer Methoden in der Mathematik hat "den Sinn einer Leistung für die We/terkenntnis". In diesem Sinne fordert Husserl schon in der "Formalen und transzendentalen Logik", daß die Mathematik "Erkenntnisdienst" zu leisten hat. 255 Eine "sich 249 Die Forschungen K. Gödeis haben diese Einsicht bestätigt (vgl. oben S. 90 f., Anm.243). 250 Krisis, S. 46 f. 251 Der Symbolismus ist in der modemen Mathematik sogar noch gesteigert: "Selbst im Spiel urteilt man, kolligiert und zählt man wirklich, zieht man wirkliche Schlüsse usw." (Logik, Hua XVII, § 33, S. 104.) 252 Krisis, S. 48. 253 Logik, Hua XVII, S. 104. 254 Vgl. B. Rang: Die bodenlose Wissenschaft (1989), S. 121 ff. - Rang zeigt hier, daß es - entgegen Husserls eigenem Vorgehen - unerläßlich ist, die Frage nach dem Ursprungssinn der Wissenschaft für die Mathematik und die Physik getrennt zu stellen. 255 Logik, Hua XVII, § 40, S. 114.

§ 8. Die Rückfrage nach dem Ursprung der ,reinen Geometrie'

93

spezialwissenschaftlich wie ein Selbstzweck ausbildende Mathematik", die sich von der "Idee möglicher Anwendung" losreißt und zu einem geistreichen "Spiel der Symbole" wird 256, kann wohl noch Erkenntnis sein - wie beispielsweise die Theorie der Schachendspiele auch zu gesicherten und bleibenden Erkenntniszusammenhängen fUhrt -, aber eben nicht Welt erkenntnis. Als formale Wissenschaft ist die Mathematik aber an keine bestimmte Erkenntnismaterie gebunden. Sie ist fUr Husserl nur dann vollbewußte logische Methode, wenn die Beziehung auf offen unbestimmte. ideal mögliche Anwendung zu ihrem eigenen formal-logischen Sinne gehört, und zwar so, daß dabei der Umfang dieser Anwendung durch keine "Erkenntnismaterie" gebunden, also ein formaler ist. 257

In jedem Falle tatsächlicher Anwendung auf eine konkret sachhaltige Sphäre, z. B. in der Geometrie oder Physik, wird die Mathematik zu einer bestimmten Erkenntnis der Welt. Dieser Horizont möglicher Anwendung gehört mit zu ihrem ursprünglichen wissenschaftlichen Sinn. Die Physik zielt dagegen auf eine sachhaltige Erkenntnis, nämlich die Erforschung der Natur. Hierher gehört auch die reine Geometrie, solange sie als materiale Wissenschaft wirklich auf die Schicht der reinen Räumlichkeit bezogen ist. 258 Was ist also fUr Husserl der Ursprungssinn der Physik? Eine explizite 256

Logik, Hua XVII, S. 114 f.

257

Logik, Hua XVll, S. 114, vgl. auch S. 53, 84, 89.

Im § 23 b der "Formalen und transzendentalen Logik" grenzt Husserl die reine Geometrie ausdrücklich von der Mathematik (als formaler Wissenschaft) ab: "Disziplinen wie die reine Geometrie, die reine Mechanik, auch die ,analytische' Geometrie und Mechanik sind also ausgeschlossen, solange sie sich wirklich auf Raum und Kräfte beziehen." (Hua XVII, S. 79, Anm. I; vgl. schon Husserls Brief an P. Natorp vom 14.115. März 1897, in: E. Husserl: Briefwechsel (Husserliana-Dokumente 111), Bd V, S. 51-56, bes. S. 53; ferner die Einleitung der Herausgeberin (I. Strohmeyer) zum Bd XXI der Husserliana, Studien zur Arithmetik und Geometrie, S. LIX f.) Die Geometrie hat im Unterschied zur Arithmetik ihre Fundamente nicht in einer formalen, sondern in einer materialen Ontologie (eidetischen oder Wesenswissenschaft). In der 4. Vorlesung zur "Ersten Philosophie" erläutert Husserl: "Was also im historischen Bewußtsein der wissenschaftlichen Menschheit auseinanderlag unter den Titeln Logik und Arithmetik [ ... ], das gehörte eigentlich ganz eng zusammen [ ... ] Andererseits, was im historischen Bewußtsein innig eins war, wie Arithmetik und Geometrie, das mußte getrennt werden. Die Geometrie bedarf der räumlichen Anschauung, ihre Begriffe müssen auf eine sachhaltige Sphäre, auf die der Räumlichkeit zurückgehen. In der Arithmetik hingegen sind es Begriffe, die Modalitäten des Etwas überhaupt ausdrücken, wie Menge und Anzahl, und prinzipiell ist die Evidenz, die hier erforderlich ist, von derselben Art wie die, welche die logisch-apophantischen Begriffe der Urteilskonsequenz gewinnen läßt." (Hua VII, S. 29.) Im Unterschied zu einer formalistisch-empiristischen Auffassung der Geometrie (vgl. oben S. 26) ordnet auch P. Lorenzen, der Mitbegründer der Erlanger Schule (vgl. unten S. 104 0, im Anschluß an Husserls zeitweiligen Schüler H. Dingler die Geometrie als material-apriorische Wissenschaft (mit der Chronometrie) nicht der (formalen) Mathe258

94

A.

11. Galileis Urstiftung der mathematischen Naturwissenschaft

Antwort wird in Husserls Spätwerk nicht gegeben. Vergegenwärtigt man sich jedoch Husserls Deutung der ionischen Naturphilosophie im Wiener Vortrag vom Mai 1935 259 , dann liegt die Antwort auf der Hand. Der ursprüngliche Sinn der Physik ist Erforschung der rmigen raumzeitlichen Bewegungszusammenhangs von Massenpunkten, in den eingerugt und verspannt die Naturkörper allein als Naturkörper begegnen können. Der Entwurf regelt in seinem Grundriß die Zugangsweise, die allein den axiomatisch vorbestimmten Gegenständen angemessen ist. Wie und als was sich die Naturdinge zeigen, ist durch den Entwurfvorbestimmt. Er bestimmt deshalb auch die Weise des Hinnehmens und der Erkundung des sich Zeigenden, die Erfahrung, das experiri. Das naturwissenschaftliche Experiment hält sich je schon in dem durch den Entwurf vorgezeichneten Bezirk. Nur das, was an der Natur quantitativ bestimmbar und berechenbar ist, ist an ihr im eigentlichen Sinne erkennbar. Die Zurückruhrung der Bestimmungen des körperlichen Seins, die man im englischen Empirismus als die sekundären Sinnesqualitäten bezeichnete, auf die primären Bestimmungen der extensio ist eine notwendige Folge des mathematischen Entwurfs der Natur. 48 Der mathematische Entwurf der Natur, der "seinem Sinne nach eine Gleichmäßigkeit aller Körper nach Raum und Zeit und Bewegungsbeziehungen ansetzt", ermöglicht und fordert zugleich "als wesentliche Bestimmungsart der Dinge das durchgängig gleiche Maß, d. h. die zahlenmäßige Messung".49 Die Art des mathematischen Entwurfs der Natur seit Galilei und Newton ruhrte erst zur Ausbildung einer bestimmten Mathematik im engeren Sinne. Daß die analytische Geometrie, die Differentialrechnung und andere mathematische Disziplinen ins Spiel kommen konnten und mußten, ist eine Folge des mathematischen Entwurfs, nicht dessen Bedingung. Descartes und (unabhängig von ihm) P. de Fermat gelten als Begründer der analytischen Geometrie, Newton und Leibniz als Begründer der Differentialrechnung. Dem widerspricht nicht, daß sich die Mathematik bald als berufsmäßige Wissenschaft verselbständigte und einer physikalischen Anwendung oft weit vorauseilte. 5o Zum vollen existenzialen 48 Vgl. Sein und Zeit, EA S. 98 f./GA S. 132; Prolegomena ... , GA 20, S. 245,249. 49 Die Frage nach dem Ding, GA 41, S. 94. 50 So bemerkt beispielsweise der Physiker A. Sommerfeld in seinem Nachruf "Zum 25. Todestag von Felix Klein" (in: Physikalische Blätter 6 (1950), S. 273), daß das "Erlanger Programm" dieses großen Mathematikers "nicht nur der Geometrie neue Bahnen wies, sondern in nuce eigentlich schon die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie enthielt". 16*

B/I. III. Zeitlichkeit und Räumlichkeit

244

Begriff der Wissenschaft gehört tUr Heidegger auch die Weise, wie sich die Forschung organisiert und spezialisiert. Mathematische Erkenntnis hat den "Charakter der ,Exaktheit', die mit der Strenge nicht zusammenfiillt".51 Keine Wissenschaft und Behandlungsart der Gegenstände überragt die andere. Die Geisteswissenschaften und sogar alle Wissenschaften vom Lebendigen müssen tUr Heidegger notwendig inexakt sein, um streng bleiben zu können. Die mathematische Naturwissenschaft ist nicht deshalb exakt, weil sie mit Hilfe von Messung und Zahl genau rechnet, sondern sie muß so rechnen, weil die im mathematischen Entwurf eröffnete Bindung an den Gegenstandsbezirk den Charakter der Exaktheit hat. Die an die mathematische Erkenntnis gestellte Forderung der Exaktheit erfolgt.notwendig unter Einschluß der Logik. Die Logik wird zur mathematischen Logik (Logistik). Dadurch wird erklärlich, daß die Grundlagenkrisen von Mathematik und Logik auf gemeinsame oder verwandte Probleme lenkten. Heidegger macht im § 69 b von "Sein und Zeit" deutlich, daß nicht bereits die "ontische Vergegenständlichung" 52 des untersuchten Seienden, sondern erst das Ganze des wissenschaftlichen Entwurfs die ausdrückliche ontologische Grundlegung einer spezifischen Wissenschaft schafft. Das Ganze des wissenschaftlichen Entwurfs nennt Heidegger die Thematisierung: Das Ganze dieses Entwerfens, zu dem die Artikulation des Seinsverständnisses, die von ihm geleitete Umgrenzung des Sachgebietes und die Vorzeichnung der dem Seienden angemessenen Begrifflichkeit gehören, nennen wir die Thematisie-

rung. 53

Die wissenschaftliche Thematisierung modifiziert und artikuliert das Seinsverständnis. "Sie ,setzt' nicht erst das Seiende, sondern gibt es so frei, daß es ,objektiv' befragbar und bestimmbar wird." 54 Mit dem Begriff der Thematisierung knüpft Heidegger terminologisch, nicht aber sachlich an Husserl an 55, worauf die im Originaltext gesetzten AntUhrungszeichen - "setzt" - hinweisen sollen. Die Thematisierung artikuliert das Seinsverständnis und bezeichnet daher ein ontologisches Geschehen, in der das pure Entdecken des thematischen Seienden gründet.

51 Was ist Metaphysik? (Freiburger Antrittsvorlesung vom 24. Juli 1929), in: Wegmarken, GA 9, S. 103-122, hier S. 104; vgl. auch Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, GA 5, S. 79.

52 Phänomenologische Interpretation ... , GA 25, S. 36; vgl. oben § 15, S. 168. 53

Sein und Zeit, EA S. 363/GA S. 480.

54 Sein und Zeit, EA S. 363/GA S. 480. 55 Vgl. Ideen I, Hua III/l, § 122 (Titel: Vollzugsmodi der artikulierten Synthesen. "Thema").

§ 23. Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit

245

Der dem positiv-wissenschaftlichen Seinsstand eigene Neuentwurf der Welt eröffnet ein systematisch zu erforschendes Reich von Vorhandenem. Der wissenschaftliche Entwurf richtet das theoretisch erst zu begreifende Seiende vorgängig ein und ist so leitend rur die eigentlichen forschend-erkennenden Verhaltungen. Die durch die Erschließung des Apriori geleistete Thematisierung zielt auf eine Freigabe des innerweltlich begegnenden Seienden dergestalt, daß es sich einem puren Entdecken "entgegenwerfen", das heißt Objekt [einer Wissenschaft] werden kann. Die Thematisierung objektiviert. 56

Diese Charakterisierung zeigt bereits an, in weIcher Richtung die Frage nach dem ekstatisch-zeitlichen Sinn des Umschlags vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken zu beantworten ist. Als die theoretische Sicht auf Vorhandenes bleibt das erkennende Entdecken, da es weiterhin wesenhaft als besorgendes Sein-bei verfaßt ist, seinem Charakter nach eine, wenn auch ausgezeichnete gewärtigend-behaltende Gegenwärtigung. Das objektivierende Sein-bei unterscheidet sich von der Gegenwart der Umsicht vor allem dadurch, daß das Entdecken der Wissenschaft einzig der Entdecktheit des Vorhandenen gewärtig ist. Die Gewärtigung der Entdecktheit gründet selbst in der ursprünglichen Zeitlichkeit des Verstehens. Dem primären Seinssinn nach, woraufhin sich das erkennende Entdecken zu-künftig entwirft, hat die Gewärtigung ihre ontologische Herkunft aber nicht mehr aus erschlossenen Verweisungen, worumwillen das Dasein existiert, sondern gibt das begegnende Seiende einzig auf die neu eingerichtete Dimension der reinen Entdecktheit hin frei. In eins damit modifiziert sich das auf sich zurückkommende Behalten der umsichtigen Auslegung zum rein "verwahrenden Behalten des Erkannten" als "Besitz" 57.

§ 23. Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit In der Analyse der Räumlichkeit des Daseins im ersten Abschnitt (des ersten Teils) von "Sein und Zeit" mit dem Titel "Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins" wurde das Problem der Zeitlichkeit zunächst methodisch ausgeblendet. "Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit" ist das Thema vom § 70 im zweiten Abschnitt der Abhandlung. Ziel des Paragraphen ist es, den Vorrang der Zeitlichkeit gegenüber der daseinsmäßigen Räumlichkeit im Sinne einer existenzialen Fundierung aufzuweisen. Räumlichkeit ist eine Bestimmung des Seins des Daseins als Sorge. Der Seinssinn der Sorge ist die Zeitlichkeit. Wenn die Verfassung des Daseins und seine Weisen zu sein ontologisch nur möglich sind auf dem Grunde der Zeitlichkeit, dann muß auch 56

Sein und Zeit, EA S. 363/GA S. 480 (Hervh. v. Vf.).

57

Prolegomena ... , GA 20, S. 220.

246

B/1. IlI. Zeitlichkeit und Räumlichkeit

die spezifische Räumlichkeit des Daseins in der Zeitlichkeit gründen. Das geworfen-entwerfende Raumerschließen und das darin fundierte ausrichtende Ent-fernen (Nähern) sind ontologisch nicht gleichrangig mit den entsprechenden Zeitigungsweisen der Zeitlichkeit, sondern werden von ihnen umgriffen. 58 Der Raum wird nicht aus der Zeit deduziert oder in bloße Zeit aufgelöst, sondern die beiden Phänomene stehen in einem existenzial-ontologischen Fundierungsverhältnis: Wenn die Räumlichkeit des Daseins von der Zeitlichkeit im Sinne der existenzialen Fundierung "umgriffen" wird, dann ist dieser im folgenden zu klärende Zusammenhang auch verschieden von dem Vorrang der Zeit gegenüber dem Raum im Sinne Kants. 59 Der Vorrang der Zeit gegenüber dem Raum darf aber nicht wie noch bei Kant und Husserl 60 im Sinne der vulgären Interpretation der Zeit als Jetzt-Folge verstanden werden. Im § 70 von "Sein und Zeit" analysiert Heidegger nur die existenziale Fundierung des ent-femend-ausrichtenden Entdeckens von Zeug in der Zeitlichkeit des umsichtigen Besorgens, dem gewärtigend-behaltenden Gegenwärtigen. In allem Handhaben, Um- und Wegräumen ist schon so etwas wie Gegend als das Wohin der möglichen Hingehörigkeit des umweltlich zuhandenen, plazierbaren Zeugs entdeckt. Zur Einräumung des Daseins gehört das sichausrichtende Entdecken von Gegend. Die plazierbare Hingehörigkeit von Zeug hat wesenhaften Bezug zu Bewandtnis, wie umgekehrt der Bewandtnisganzheit gegendhafte Raumbewandtnis zugehört. Das je auf Bewandtnis hin ausgerichtete sichausrichtende Entdecken von Gegend gründet in einem ekstatisch behaltenden Gewärtigen des möglichen Dorthin und Hierher. Das Sicheinräumen des Daseins 58 Heidegger bemerkt an einer späteren TextsteIle ausdrücklich, daß "die Zeitlichkeit des faktischen In-der-Welt-seins ursprünglich die Raumerschließung ermöglicht" (Sein und Zeit, EA S. 4 I 7/ GA S. 551), analysiert im § 70 aber nur die Zeitlichkeit des ent-fernend-ausrichtenden Entdeckens des zuhandenen Seienden. 59 Sein und Zeit, EA S. 367/GA S. 486. - Auf Hegel, Bergson und Husserl geht Heidegger an anderer Stelle ein (vgl. Sein und Zeit, § 82 a; Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, §§ 19-21; Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, S. 262 ff.). Heideggers Interpretation von Kants "Kritik der reinen Vernunft" wird im folgenden noch näher erörtert. 60 Erst Husserls Schüler L. Landgrebe hat die Frage aufgeworfen, wie die passiven Synthesen des inneren Zeitbewußtseins (lebendige Gegenwart) und die raumkonstituierenden Synthesen des kinästhetischen Bewußtseins, die Husserl getrennt behandelte, ursprünglich zusammengebracht werden können. Zur Diskussion dieser äußerst schwierigen Thematik, auf die hier nicht eingegangen werden kann, vgl. U. Claesges: Zeit und kinästhetisches Bewußtsein. Bemerkungen zu einer These Ludwig Landgrebes, in: Zeit und Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger, hrsg. von E. W. Orth, Freiburg/München 1983 (= Phänomenologische Forschungen 14), S. 138-151.

§ 23. Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit

247

ist als schon ausgerichtetes (behaltendes) Gewärtigen von Gegend gleichursprünglich ein Ent-fernen von Zuhandenern. Aus der vorentdeckten Gegend kommt das Besorgen ent-fernend auf das gegenwärtig nächste Zuhandene zurück. Die besorgend-vertraute Ent-fernung (Näherung) des zunächst Zuhandenen und desgleichen die Schätzung oder Messung der Abstände des innerweltlich Vorhandenen gründen in einem Gegenwärtigen, das zur Einheit der Zeitlichkeit gehört, in der auch Ausrichtung möglich wird. Die Zeitlichkeit des umsichtigen Besorgens wurde an den defizienten Modi verdeutlicht, wobei aber die schon mitthematische Zeitlichkeit der Räumlichkeit noch nicht eigens abgehoben wurde. 61 Auch rur die Räumlichkeit bekundet sich die Defizienz am schärfsten im Vermissen eines Zeugs innerhalb eines gegendhaften Zeugzusammenhangs. Wäre das Dasein nicht der Hingehörigkeit eines Zeugs an seinen Platz gewärtig und zeitigte sich dieses Gewärtigen nicht in der ekstatisch-horizontalen Einheit der Zeitlichkeit, dann könnte es nie finden, daß etwas fehlt. 62 Die Zeitlichkeit des geworfen-entwerfenden Raumerschließens wird im § 70 nicht näher analysiert. Im vorhergehenden § 69 c mit dem Titel "Das zeitliche Problem der Transzendenz der Welt" analysierte Heidegger zwar die existenzial-ontologische Fundierung der erschlossenen Welt in der ekstatisch-horizontalen Einheit der ursprünglichen Zeitlichkeit, ohne aber explizit auf die Miterschlossenheit des Raumes einzugehen: Die horizontale Einheit der Schemata der Ekstasen ermöglicht den ursprünglichen Zusammenhang der Um-zu-Bezüge mit dem Um-willen. Darin liegt: auf dem Grunde der horizontalen Verfassung der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gehört zum Seienden, das je sein Da ist [das Da-sein], so etwas wie erschlossene Welt. 63

Hier zeigt sich, wie die ursprüngliche Wahrheit, die Erschlossenheit des In-derWelt-seins, ihre zeithaJte Verfassung empfängt von der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit. Insofern aber zum daseinsmäßigen In-der-Welt-sein wesenhaft das Im-Raum-sein gehört, muß auch die Miterschlossenheit des Raumes in der ekstatisch-horizontalen Einheit der ursprünglichen Zeitlichkeit gründen. Die Frage, inwiefern der Raum in der ursprünglichen Zeit gründet, greift Heidegger jedoch in seinem Buch "Kant und das Problem der Metaphysik" auf. Im Vorwort zur ersten Auflage von 1929 schreibt er: Die Auslegung der "Kritik der reinen Vernunft" erwuchs im Zusammenhang einer ersten Ausarbeitung des zweiten Teils von "Sein und Zeit". [ ... ] Zugleich verdeut61

Vgl. oben § 22, S. 233, 235 f.

62

Vgl. Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, S. 440 ff. Sein und Zeit, EA S. 365/GA S. 483.

63

248

B/I. III. Zeitlichkeit und Räumlichkeit

licht sie im Sinne einer "geschichtlichen" Einleitung die in "Sein und Zeit" I. Hälfte behandelte Problematik. 64

Für den geplanten zweiten Teil von "Sein und Zeit" war nach dem im § 8 gegebenen "Aufriß der Abhandlung" folgender Titel vorgesehen: "Grundzüge einer phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität".65 Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit sollte als Vorstufe einer Problematik der Temporalität interpretiert werden. Den von Heidegger angesprochenen Vorrang der Zeit gegenüber dem Raum vertritt Kant vor allem in der "Transzendentalen Ästhetik" der "Kritik der reinen Vernunft". Die ,Verortung' der Zeit in der Innerlichkeit des Erlebens fuhrt dazu, der Zeit einen Vorrang gegenüber dem Raum zuzuweisen. Kant ordnet die reine Anschauungsform des Raumes dem äußeren Sinn und die reine Anschauungsform der Zeit dem inneren Sinn zu. "Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig wie der Raum, als etwas in uns." 66 An späterer Stelle heißt es weiter: "Die Zeit ist nichts anderes, als die Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes.,,67 Der Raum ist als Bedingung apriori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt. Die Zeit hat als Anschauungsform des inneren Sinnes einen Vorrang gegenüber dem Raum, weil sie alle Vorstellungen überhaupt umfaßt: Dagegen, weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande haben, oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts, zum inneren Zustande gehören, dieser innere Zustand aber, unter der formalen Bedingung der inneren Anschauung, mithin der Zeit gehört, so ist die Zeit eine Bedingung apriori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußeren Erscheinungen. 68

Im weiteren Verlauf der Abhandlung, insbesondere in den beiden Hauptstücken "Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" und "System aller Grundsätze des reinen Verstandes", tritt aber immer deutlicher eine Verklammerung von Zeit und Raum hervor, und zwar vor allem im Hinblick auf die Beharrlichkeit der Raummaterie. 69 Das "Schema der Substanz" ist nach Kant 64 Zitiert nach Band 3 der Gesamtausgabe, S. XVI, der das "Kantbuch", wie Heidegger das Werk selbst bezeichnet, beinhaltet.

65 Sein und Zeit, EA S. 39/GA S. 53, vgl. auch EA S. 23 f./GA S. 31 f. 66 Kritik der reinen Vernunft, A 23/B 37. (Kants Hauptwerk wird im folgenden nach der in der Philosophischen Bibliothek des Meiner Verlag erschienen Ausgabe zitiert: I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten [A] und zweiten [B] Original-Ausgabe neu hrsg. von R. Schmidt, durchgesehener Nachdruck, Hamburg 1976.) 67 Kritik der reinen Vernunft, A 33/B 49. 68

Kritik der reinen Vernunft, A 34/B 50.

69 Vgl. hierzu die ausfUhrliehe Erörterung von F.-w. von Herrmann: Bewußtsein, Zeit und Weltverständnis, Frankfurt a. M. 1971, § 9.

§ 23. Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit

249

"die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit".70 Die volle Aufhellung dieses Schemas erfordert jedoch die Beiziehung der "Ersten Analogie" der Erfahrung, des "Grundsatzes der Beharrlichkeit der Substanz". Die angesprochene Verklammerung von Zeit und Raum erörtert Heidegger im dritten Abschnitt "Die Grundlegung der Metaphysik in ihrer Ursprünglichkeit" seines "Kantbuchs" von 1929. 71 Entgegen Kants Ansatz von zwei Grundquellen des Gemüts, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, betrachtet Heidegger die transzendentale Einbildungskraft nicht nur als ursprünglich einigende Mitte, sondern diese Mitte als gemeinsame Wurzel der beiden Stämme. Damit eröffnet sich auch der Weg zum ursprünglichen Quellgrund der beiden Grundquellen. Heidegger schreibt: Die Auslegung der transzendentalen Einbildungskraft als Wurzel, d. h. die Aufhellung dessen, wie die reine Synthesis die bei den Stämme aus sich entwachsen läßt und sie hält, führte von selbst in die Verwurzelung dieser Wurzel zurück: zur ursprünglichen Zeit. Erst diese, als das ursprüngliche, dreifach-einigende Bilden von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart überhaupt, ermöglicht das "Vermögen" der reinen Synthesis, d. h. das, was sie vermag, nämlich die Einigung der drei Elemente der ontologischen Erkenntnis, in deren Einheit sich die Transzendenz bildet. [ ... ] Diese Verwurzelung in der Zeit ist es allein, kraft deren die transzendentale Einbildungskraft überhaupt die Wurzel der Transzendenz sein kann. Die ursprüngliche Zeit ermöglicht die transzendentale Einbildungskraft, die in sich wesenhaft spontane Rezeptivität und rezeptive Spontaneität ist. 72 In der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" von 1787 hat Kant eine "Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze" eingefUgt. Hier heißt es: Noch merkwürdiger aber ist, daß wir, um die Möglichkeit der Dinge, zufolge der Kategorien, zu verstehen, und also die objektive Realität der letzteren darzutun, nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere Anschauungen bedürfen. 73 Wir bedürfen, fUhrt Kant weiter aus, "eine[r] Anschauung im Raume (der Materie)", "um dem Begriffe der Substanz korrespondierend etwas Beharrliches in der Anschauung zu geben". Der Raum geht mit in den Schematismus ein, gleichwohl ist das Schematismus-Kapitel der zweiten Auflage keineswegs in diesem Sinne geändert. Heideggers Auseinandersetzung mit Kant im § 35 70 Kritik der reinen Vernunft, A 144/B 183. 71 Auf Heideggers Kant-Interpretation insgesamt kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu eh. H. Seibert: On Being and Space in Heidegger's Thinking, Ph. D. Dissertation, De Paul University Chicago, IlIinois 1972, Chapter 111. 72 Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, § 35, S. 196. 73 Kritik der reinen Vernunft, B 291.

250

BIl. 111. Zeitlichkeit und Räumlichkeit

seines Kantbuchs gibt einen deutlichen Hinweis auf die ontologische Verwurzelung der Raumphänomene in der ursprünglichen Zeit als der Einheit von ekstatischer Zeitlichkeit und horizontaler Zeit. Heidegger wirft Kant vor, daß er bei der Darstellung des transzendentalen Schematismus keine ausgearbeitete Interpretation des ursprünglichen Wesens der Zeit bereit hatte und somit Zeit im Sinne der philosophischen Tradition als das reine Nacheinander der Jetztfolge verstand. Die sich bei Kant andeutende Gleichstellung von Zeit und Raum ergibt sich aber nur, wenn man die Zeit als reine Jetztfolge interpretiert. Nur mit der so verstandenen Zeit steht der Raum immer und notwendig in gewissem Sinne gleich. 74 Der Vorrang der ursprünglichen Zeit gegenüber dem Raum wird von Heidegger jedoch ausdrücklich hervorgehoben: Aber nicht als dieses Gebilde [als das reine Nacheinander der Jetztfolge] ist die Zeit ursprünglicher Grund der Transzendenz, sondern als reine Selbstaffektion. Als solche ist sie auch die Bedingung der Möglichkeit des vorstellenden Bildens, d. h. Offenbarrnachens, des reinen Raumes. Aus der Einsicht in die transzendentale Funktion des reinen Raumes folgt keineswegs die Zurückweisung des Vorranges der Zeit. Es erwächst vielmehr nur die positive Aufgabe zu zeigen, daß in gewisser Weise entsprechend wie die Zeit auch der Raum zum Selbst als einem endlichen gehört und daß dieses, freilich auf dem Grunde der ursprünglichen Zeit, seinem Wesen nach "räumlich" ist. 75

Zeit und Raum werden von Heidegger im Hinblick auf die Frage nach der ontologischen Ermöglichung der Transzendenz erörtert. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sich die Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Raum mit dem immanenten Wandel der transzendental-horizontalen Ausarbeitung der Seinsfrage zur seinsgeschichtlichen Ausarbeitung in neuer Weise stellt. 76 Im 241. Abschnitt "Raum und Zeit - der Zeit-Raum" der "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)", des Grundwerks des seinsgeschichtlichen Denkens, betont Heidegger die Zusammengehörigkeit und Gleichursprünglichkeit von Zeit und Raum, ohne aber die Grundverschiedenheit des Eigenwesens bei der einebnen zu wollen:

74 Vgl. auch Sein und Zeit, § 80, EA S. 417 f.I GA S. 551 f. - Die Nachbarschaft von Zeit und Raum hat Hegel, wie Heidegger in seiner Freiburger Vorlesung über "Hegels Phänomenologie des Geistes" vom Wintersemester 1930/31 näher ausfUhrt, sogar noch verschärft: "Hegel hat nicht nur, seiner ganzen Auffassung der Zeit gemäß, diese in der Nachbarschaft des Raumes abgehandelt - wie die ganze Tradition vor ihm seit Aristoteles -, sondern er hat diese Nachbarschaft noch verschärft, indem er das Wesen der Zeit wesentlich mit dem des Raumes verknüpft hat, so daß Zeit nur als Raum ist und umgekehrt." (GA 32, S. 210, vgl. S. 208.) 75 Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, S. 200. 76 Vgl. unten § 24, bes. S. 254 f.

§ 23. Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit

251

Es besteht kein Grund, ihn [den Raum selbst] auf die "Zeit" zurückzufilhren, weil die Vor-stellung des Raumes eine Zeitigung ist. Vielmehr sind beide [ ... ] von Grund aus eigensten Wesens, und nur kraft dieser äußersten Verschiedenheit weisen sie zurück in ihren Ursprung, den Zeit-Raum. Je reiner das Eigenwesen bei der gewahrt ist und je tiefer der Ursprung gelegt wird, um so eher glückt das Fassen ihres Wesens als Zeit-Raum, zugehörig dem Wesen der Wahrheit als lichtendem Grund filr die Verbergung. 77

Der Zeit-Raum meint nicht die vor-stellende Verkoppelung von Zeit und Raum in dem oben beschriebenen Sinne. Er meint erst recht nicht die rechnende Verkoppelung und Nivellierung von Zeit und Raum in dem Sinne, daß die Zeit durch Geometrisierung zum vierten Parameter gemacht wird und damit der vierdimensionale ,Raum' der Physik angesetzt ist. 78 Am Parametercharakter von Zeit und Raum haben auch die Theorien der modemen Physik nichts geändert. 79 An der Gleichursprünglichkeit von Zeit und Raum hat Heidegger bis zuletzt festgehalten. Am Schluß seines am 31. Januar 1962 an der Universität Freiburg i. Br. gehaltenen Vortrags "Zeit und Sein" bemerkt er rückblickend: Der Versuch in "Sein und Zeit" § 70, die Räumlichkeit des Daseins auf die Zeitlichkeit zurückzufilhren, läßt sich nicht halten. 80

77 Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 377, vgl. S. 192. - Der 241. Abschnitt gehört zur Sektion d "Der Zeit-Raum als der Ab-grund" der vierten Fügung des Ereignisses, der Gründung (vgl. unten § 24, S. 254, Anm. 14 und S. 258 f.). - Die Argumentation in eh. H. Seiberts Dissertation "On Being and Space in Heidegger's Thinking" (1972), ist (in dieser Form) nicht haltbar. Bezug nehmend auf Heideggers Vortrag "Zeit und Sein" (1962), schreibt er: "No longer is there a distinction between space and time. And there can be no order ofpriority between that which is not distinguished." (Ebd., S. 262.) 78 Vgl. Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 377. 79 In Heideggers Freiburger Vortragstrilogie "Das Wesen der Sprache" (1957/58) (in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, S. 147-204, hier S. 198) heißt es: "Am Parametercharakter von Raum und Zeit haben auch die neuen Theorien, d. h. Methoden der Raumund Zeitmessung, Relativitäts- und Quantentheorie und Kernphysik nichts geändert." 80 In: M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 1-25, hier S. 24 (als Bd 14 der Gesamtausgabe vorgesehen). - Die räumliche Metaphorik in Heideggers Spätwerk darf aber keinesfalls zu der Deutung verleiten, nun umgekehrt - wie z. B. der japanische Heidegger-Forscher E. Kawahara (nach E. Kettering: NÄHE, Pfullingen 1987, S. 303) - die Zeit im Raum gründen zu lassen. Die Gleichgewichtigkeit und Gleichursprünglichkeit von Zeit und Raum betonen dagegen 0. Pöggeler und F. Hogemann in ihrem Aufsatz "Martin Heidegger: Zeit und Sein" (in: Grundprobleme der großen Philosophen, hrsg. von 1. Speck, Bd: Philosophie der Gegenwart V, Göttingen 1982, S. 48-86, bes. S. 78, 83).

Zweiter Abschnitt Die Frage nach dem Raum im ereignisgeschichtlichen Denken I § 24. Von" Sein und Zeit" zum" Ereignis" 2 Die henneneutische Phänomenologie vollzieht sich als ein Auf- und Ausweisen der sich zeigenden Sache des Denkens. Wenn sich nun die Sache des Denkens, die Wahrheit (Lichtung, Erschlossenheit) des Seins, in einer gewandelten Weise zeigt, muß sich zugleich die Vollzugsweise dieses Denkens mitwandeln. Mit der Überwindung von Horizont und Transzendenz 3 bedeutet das Henneneutische des ereignisgeschichtlichen Denkens "nicht erst das Auslegen, sondern vordem schon das Bringen von Botschaft und Kunde": "EPIlTJveUetv ist jenes Darlegen, das Kunde bringt, insofern es auf eine Botschaft zu hören vennag.,,4 Der wesentliche Unterschied zwischen der fundamentalontologisch und der ereignisgeschichtlich entfalteten henneneutischen Phänomenologie besteht darin, daß sich im ereignisgeschichtlichen Denken das Sein, in dessen I In der seinsgeschichtlichen Ausarbeitung der Seinsfrage wird das Sein (Seyn), wie im folgenden dargelegt wird, aus der Bezugsstruktur des Ereignisses gedacht. Die prägnante Bezeichnung dieses Denkens als "ereignisgeschichtliches" verdankt der Verfasser einem Hinweis F.-W. von Herrmanns im Wintersemester 1996/97. Heidegger verwendet diesen Terminus selbst in den "Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)" (GA 65, S. 495). 2 Der Titel ist dem 42. Abschnitt der "Beiträge zur Philosophie" entnommen. Vgl. hierzu F.-W von Herrmann: Von "Sein und Zeit" zum "Ereignis", in: Von Heidegger her. Wirkungen in Philosophie - Kunst - Medizin. Meßkircher Vorträge 1989, hrsg. von H.-H. Gander, Frankfurt a. M. 1991 (Martin-Heidegger-Gesellschaft - Schriftenreihe, Bd I), S. 29-49; auch in: F.-W von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers "Beiträgen zur Philosophie", Frankfurt a. M. 1994, S. 5-26. 3 In einer wichtigen Randbemerkung aus Heideggers Handexemplar von "Sein und Zeit" heißt es: "Die transzendenzhafte Differenz. 1 Die Überwindung des Horizonts als solchen. 1 Die Umkehr in die Herkunft. 1 Das Anwesen aus dieser Herkunft." (EA S. 440 (Randbemerkung b zu S. 39)/GA S. 53.) Mit der "Überwindung des Horizonts als solchen" durch "Umkehr in die Herkunft" des ereigneten Entwurfs aus dem ereignenden Zuwurf im Gegenschwung der Ereignung geht notwendig auch die Überwindung der "transzendenzhaften Differenz" von Sein und Seiendem einher. 4 M. Heidegger: Aus einem Gespräch von der Sprache (1953/54), in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, S. 79-146, hier S. 115; vgl. hierzu F.-W von Herrmann: Weg und Methode. Zur hermeneutischen Phänomenologie des seinsgeschichtlichen Denkens, Frankfurt a. M. 1990.

§ 24. Von "Sein und Zeit" zum "Ereignis"

253

Lichtung der Mensch faktisch existiert, nicht mehr transzendental-horizontal zeigt, sondern in der Einheit des er-eignenden Bezuges der sich zuwerfenden Wahrheit des Seins (Seyns) zum Da-sein des Menschen und des er-eigneten Bezuges des Menschen in seinem entwerfend-enthüllenden Da-sein zur geschichtlich (oder besser: geschick-lieh) sich wandelnden Wahrheit des Seins (Seyns). In Heideggers zweitem Hauptwerk und Grundwerk des ereignisgeschichtlichen Denkens, den in den Jahren 1936 bis 1938 entstandenen, aber erst zum 100. Geburtstag des Philosophen veröffentlichten "Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)", gibt es eine Schlüsselstelle, die besagt, daß der Werfer des Entwurfs [das Da-sein] als geworfener sich erfährt, d. h. er-eignet durch das Seyn. Die Eröffnung durch den Entwurf ist nur solche, wenn sie als Erfahrung der Geworfenheit und damit der Zugehörigkeit zum Seyn geschieht. Das ist der wesentliche Unterschied gegenüber aller nur transzendentalen Erkenntnisart hinsichtlich der Bedingungen der Möglichkeit. 5

Was im ereignisgeschichtlichen Denken Zuwurf, Zuruf, Zuspruch, Anspruch und das schon angefiihrte Kunde-bringen genannt wird, ist als Bezugsstruktur des in sich gegenschwingenden Ereignisses dasselbe, was im "Brief über den Humanismus,,6, den Heidegger im Herbst 1946 an J. Beaufret schrieb und 1947 erstmals veröffentlichte, als "Wurf des Seins" gekennzeichnet wird, von dem gesagt wird, daß ihm "die Geworfenheit des Daseins entstammt". Überlieferte Begriffe wie Horizont, Transzendenz, Bedingung der Möglichkeit und Apriori sind meta-physische Begriffe, insofern sie der Leitfrage der Metaphysik nach der Seiendheit des Seienden entsprungen sind, der Frage: Was ist das Seiende (-ci "to öv)? Das Apriori ("to -ci ~v ElVat) der Metaphysik meint die Vorgängigkeit der Seiendheit ("to öv Ti öv) vor dem Seienden. Die Schreibweise von "Sein jetzt als ,Seyn' " "soll anzeigen, daß das Sein hier nicht mehr metaphysisch gedacht wird".7 In knappster Form läßt sich sagen: "Das Seyn west als

das Ereignis. " 8

5 Beiträge, GA 65, 122. Abschnitt, S. 239. - Eine ähnliche Formulierung findet sich auch im 182. Abschnitt: "Der Werfer selbst, das Da-sein, ist geworfen, er-eignet durch das Seyn." (GA 65, S. 304.)

6

In: Wegmarken, GA 9, S. 313-364, hier S. 327 und 342.

Beiträge, GA 65, S. 436. - An der Schreibweise von Sein als "Seyn" hält Heidegger, vor allem in den von ihm selbst veröffentlichten Texten, nicht fest. Dennoch müssen seine Vorträge und Abhandlungen nach der Ausarbeitung der "Beiträge" aus dem Er-eignis gedacht werden. Wenn er vom Ereignis, Ereignen und dergleichen spricht, ist das stets in einem streng terminologischen Sinne gemeint. In einer Randbemerkung (a) aus Heideggers Handexemplar der I. Auflage der Einzelschrift (des Briefes) "Über den Humanismus" von 1949 heißt es: "Denn ,Ereignis' seit 1936 das Leitwort meines Denkens." (Wegmarken, GA 9, S. 316.) 7

8

Beiträge, GA 65, S. 30, 260, vgl. S. 470.

254

BI2. Die Frage nach dem Raum im ereignisgeschichtlichen Denken

Die fundamentalontologische (daseinsontologische) Transzendenz ist aber schon als Übergang und notwendiger Durchgang zum anderen Anfang des Er-eignisses zu verstehen: "In ,Sein und Zeit' ist dieser Bezug gesehen, aber hintergründlich und nicht bewältigt." 9 Fiir den Einsprung in das Ereignis gilt es, nicht das Seiende zu übersteigen (Transzendenz), sondern diesen Unterschied und damit die Transzendenz zu überspringen und anfiinglich vom Seyn her und der Wahrheit zu fragen.!O

Wenn Heidegger nun die" ,Gleichzeitigkeit' von Seyn und Seiendem" II herausstellt, ist das nicht in einem (inner-)zeitlichen Sinne zu verstehen, sondern meint die Zurückweisung des Apriori: Das Seyn aber ist nicht ein "Früheres" - für sich, an sich bestehend -, sondern das Ereignis ist die zeiträumliche Gleichzeitigkeit für das Seyn und das Seiende (vgl. Das Zuspiel, 112. Das "Apriori,,).12

Die Gleichzeitigkeit ist "zeit-räumliche", insofern auch der transzendenzhafte Vorrang der Zeit gegenüber dem Raum in "die Gleichzeitigkeit des Zeit-Raumes mit dem Wahren als dem Seienden" 13 zurückgegründet wird, wobei unter Zeit-Raum "das so gegründete Entrückungs-Berückungsgefiige" 14 des in sich gegenschwingenden Ereignisses zu verstehen ist. Beiträge, GA 65, S. 308, vgl. auch S. 217, 273, 467 f. 10 Beiträge, GA 65, 132. Abschnitt, S. 250 f. II Beiträge, GA 65, S. 349. 12 Beiträge, GA 65, S. 13. 13 Beiträge, GA 65, S. 223.

9

14 Beiträge, GA 65, S. 371, vgl. S. 384 ff. - In der Sektion d "Der Zeit-Raum als der Ab-grund" der vierten Fügung, der Gründung, steht die geschichtliche Wesung des Zeit-Raumes als Ab-grund im Vordergrund. Der Ab-grund ist die erstwesentliche lichtende Wesung des Grundes, wenngleich dieser sich als eigentlich gründender Grund noch versagt (verbirgt). "Der Ab-grund ist Ab-grund." (Beiträge, GA 65, S. 379; vgl. hierzu F.-W von Herrmann: Wahrheit - Zeit - Raum, in: Die Frage nach der Wahrheit, hrsg. von E. Richter, Frankfurt a. M. 1997, S. 243-256, hier S. 249 tI) - Wie D. Neu ausführlich darlegt, werden die knappen Ausführungen der "Beiträge" in Heideggers Vortrag "Zeit und Sein" (1962) zum einen weiter entfaltet, zum anderen liegen dem Vortrag die in den "Beiträgen" ausgewiesenen Zusammenhänge (das Gefüge des Ereignisses) unausdrücklich zugrunde (D. Neu: Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion. Zur Gründung in Heideggers "Beiträgen zur Philosophie" unter Hinzuziehung der Derridaschen Dekonstruktion, Berlin 1997, § 12). - P. Heidrich verweist in seinem Artikel zum Begriff "Abgrund" auf die Bedeutung des Wortes in der mystisch-theologischen Tradition (in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd I, Darmstadt 1971, Sp. 5). (Pseudo-)Dionysios Areopagites spricht vom, ßa&x;', um die Heimlichkeit und Verborgenheit Gottes auszudrücken. Für Meister Eckhart steht ,abgrunt' für die Tiefe Gottes, die nur in unserem Seelengrund erfahrbar ist (zum Verhältnis von Heidegger und Meister Eckhart vgl. die Literaturhinweise unten S. 295 f., Anm. 214).

§ 24. Von "Sein und Zeit" zum "Ereignis"

255

Mit der "Entrückung" greift Heidegger ein Grundwort aus der Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit im zweiten Abschnitt von "Sein und Zeit" auf. Was sich auf dem transzendental-horizontalen Ausarbeitungsweg gezeigt hatte als Zeit-Horizont filr die transzendierende Zeitlichkeit, hat sich auf dem ereignisgeschichtIichen Weg gewandelt in das zeitigende Entrücken des Da-seins im Gegenschwung zum sich-zeitigenden Entrücktsein. Das Wort "Berückung" ist in Entsprechung zur Entrückung filr die Räumung des ursprünglichen Raumes gewählt. Als Berücken ist der ereignende Zuwurf ein Räumen, so wie das ereignete Entwerfen als Berücktsein ein eröffnendes Raumnehmen ist. Auch hier hat sich der Raum-Horizont im gelichteten Welthorizont filr die transzendierende Räumlichkeit gewandelt in das (ein-)räumende oder raumgebende Berücken des Da-seins im Gegenschwung zum raumnehmenden Berücktsein. Mit dem daseinsmäßigen Entwerfen wird auch das daseinsmäßige Entbergen (Entdecken) des Seienden als ein ereignetes erfahren aus dem entrückend-berückenden Zuwurf. Ohne ein zureichendes Verständnis der ersten Gründung der hermeneutischen Phänomenologie in der Fundamentalontologie bleibt indessen der Weg in die gewandelte Sichtweise des ereignisgeschichtlichen Denkens verhüllt. Der erste Ausarbeitungsweg der Seinsfrage in der Fundamentalontologie von "Sein und Zeit" bleibt "auch heute noch ein notwendiger, wenn die Frage nach dem Sein unser Dasein bewegen SOll".15 "Diese Kehre", schreibt. Heidegger im "Brief über den Humanismus", "ist nicht eine Änderung des Standpunktes von ,Sein und Zeit', sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Dimension, aus der ,Sein und Zeit' erfahren ist".16 Was Heidegger hier als "Kehre" anspricht, "ist in erster Linie nicht ein Vorgang im fragenden Denken", sondern die "im Sachverhalt selbst" spielende Kehre 17, womit primär die "ursprüngliche Kehre im Ereignis" 18 als der "Gegenschwung" 19 von ereignendem Zuwurf oder Zuruf und ereignetem Entwurf gemeint ist, die zum Wandel im Denken des Seins von der transzendental-horizontalen zur ereignisgeschichtlichen Ansetzung und Ausarbeitung der Seinsfrage filhrte. 2o 15 Sein und Zeit, Vorbemerkung zur 7. Auflage (der Einzelausgabe), Tübingen 1953 (auch in allen folgenden Auflagen und im Bd 2 der Gesamtausgabe abgedruckt). 16 Wegmarken, GA 9, S. 328. 17 M. Heidegger: Ein Vorwort. Briefan P. William J. Richardson (1962), in: Philosophisches Jahrbuch (der Görres-Gesellschaft) 72 (1964/65), S. 397-402, hier S. 400; auch in: W. 1. Richardson: Heidegger. Through Phenomenology to Thought, The Hague 1963, S. VIII-XXIII, hier S. XIX. 18 Beiträge, GA 65, 255. Abschnitt, S. 407. 19 Beiträge, GA 65, S. 251, 261 f., 351. 20 Eine Erörterung der "Kehre im Ereignis" und kritische Sichtung der umfangreichen Sekundärliteratur gibt s.-H. Shin: Wahrheitsfrage und Kehre bei Martin Heidegger, Würzburg 1993, bes. § 9.

256

B/2. Die Frage nach dem Raum im ereignisgeschichtlichen Denken

Schon bei der Erörterung des Titels im "Vorblick" der "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)" erfahren wir, daß dieses Werk die "Frage nach der Wahrheit des Seyns" als "seynsgeschichtliches Denken" vollzieht. 21 "Seynsgeschichtlieh" besagt, daß "das Wesen des Seyns ,geschichtlich' begriffen wird".22 Die Fragebahn der "Beiträge" versteht Heidegger aber erst als Übergang vom erstanfänglichen Denken der abendländischen Metaphysik zum anderen Anfang der geschichtlichen Wesung der Wahrheit des Seyns als Er-eignis. 23 Gleichwohl entbehren die "Beiträge" nicht der Strenge ihres eigenen Gefiiges. Im "Vorblick" hebt Heidegger die Fuge als den Gefiigecharakter des Ereignis-Denkens gegen das System als das Gefiige des neuzeitlichen Vemunftdenkens ab. 24 Die innere Ordnung der Fuge, die sich aus der geschichtlichen Wesung der Wahrheit des Seyns als Ereignis ergibt, ist eine grundwesentlich andere als die der "mathematischen Vemunftsysteme" der neuzeitlichen Philosophie. 25 Den sechs fach gefiigte Aufriß der "Beiträge" bezeichnet Heidegger als "die erste Durchgestaltung" "der Fuge des antanglichen Denkens".26 Die in den "Beiträgen" entfalteten sechs Fügungen sind: "Der Anklang", "Das Zuspiel", "Der Sprung", "Die Gründung", "Die Zu-künftigen", "Der letzte Gott". Die sechs Fügungen sind sechs unterschiedliche, aber zusammengehörige Wesungsbereiche des Ereignisses, in denen in je eigener Weise die Wahrheit des Seyns als Ereignis fiir das Denken und im Denken des Seyns geschieht. Die wesentliche Einheit der sechs Fügungen, die als je eigene Wesungsweisen der Wahrheit des Seyns aus der Grundstruktur des Ereignisses zu denken sind, verdeutlicht eine SchlüsselsteIle im "Vorblick": Die sechs Fügungen der Fuge stehen je flir sich, aber nur, um die wesentliche Einheit eindringlicher zu machen. In jeder der sechs Fügungen wird über das SeIbe je das SeIbe zu sagen versucht, aber jeweils aus einem anderen Wesensbereich dessen, was das Ereignis nennt. 27 Der Gang des Denkens durch die sechs Fügungen der Fuge soll in einer knappen Übersicht umrissen werden. 28 21 Beiträge, GA 65, S. 3. 22 Beiträge, GA 65, S. 32. 23 Beiträge, GA 65, S. 4. 24 Beiträge, GA 65, S. 65, 81. 25 Vgl. Heideggers Freiburger Vorlesung (Sommersemester 1936): Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), GA 42, § 3 c, bes. S. 51 f., 57 (erstmals 1971 in Tübingen als Einzelausgabe erschienen). 26 Beiträge, GA 65, S. 59, vgl. S. 9, 82. 27 Beiträge, GA 65,39. Abschnitt, S. 81 f. 28 Vgl. hierzu F.-w. von Herrmann: Die Fuge des Ereignisses, in: ders.: Wege ins Ereignis, Frankfurt a. M. 1994, S. 27-41.

§ 24. Von "Sein und Zeit" zum "Ereignis"

257

Der Anklang

Der Gang durch die sechs Fügungen nimmt seinen Ausgang bei jenem Denken, in dem die Seinsverlassenheit des Seienden und (korrelativ) die Seinsvergessenheit des Menschen als Not erfahren werden. In der Erfahrung der Seinsverlassenheit als solcher klingt erstmals die Wahrheit des Seyns an, aber in der Wesungsweise der Verweigerung. In der Wesungsweise der Verweigerung hat der ereignende Zuwurf den Charakter des Ausbleibs. Das Schwingungsganze vom Ausbleib des Zurufs als dem ent-eignenden Zuwurf und von der Seinsvergessenheit und Seinsverlassenheit als dem ent-eigneten Entwurf läßt sich terminologisch als das Ent-eignis fassen. 29 In der Fügung "Der Anklang" ist die spätere Wesensbestimmung der neuzeitlichen Wissenschaft und modemen Technik als das Ge-stell vorgedacht in dem, was Heidegger die "Machenschaftseinrichtung" 30 nennt. Die Machenschaft und das Riesenhafte bestimmen als Grundzüge die Seinsverlassenheit der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik. 3 ! Der Terminus "Machenschaft" benennt nicht eine bestimmte Handlungsweise des Menschen, "sondern eine Art der Wesung des Seins" 32, dergemäß die Seiendheit des Seienden im Horizont des Machens (1toiTlcrtOOt~ (das von sich her Aufgehende und Waltende) von der 'tEXVTJ her überlagert und entmachtet wird, verhüllt sich noch die Machenschaft in der metaphysischen Bestimmung der Seiendheit als der beständigen Anwesenheit (bei Platon die i8EU, bei Aristoteles die EV'tEAEXEtU). Die verborgene machenschaftliehe Auslegung der Seiendheit erfahrt innerhalb des anfänglichen griechischen Denkens ihre höchste Zuspitzung in der EV'tEAEXEtU. Für Aristoteles ist sie die im Stoff (ü"-TJ) sich verwirklichende Wesensform. Die Schrankenlosigkeit der Machenschaft im Zeitalter der modemen Technik bedenkt Heidegger als das "Riesenhafte". In ihm erweist sich das Quantitative als Qualität, gemeint als Grundcharakter des quale, des Was, des Wesens des Seins selbst. Das Riesenhafte ist jener Grundzug in der Wesung der Wahrheit des Seyns als Enteignis, in der die Seinsverlassenheit ins Äußerste geht. Nicht erst die Wahrheit des Seyns, sondern schon die Seiendheit des Seienden entzieht sich, "verb laßt zu einer ,logischen Form' ".36 Weil die im ersten Wesungsbereich des Ereignisses erfahrene Seinsverlassenheit in die Geschichte der machenschaftlichen Wesung des Seins zurückverweist, ergibt sich von hier aus der Übergang zum zweiten Wesungsbereich des Ereignisses, dem Zuspiel.

Das Zuspiel Im Zuspiel spielt sich im Horizont der als Verweigerung anklingenden Wahrheit des Seyns die bisherige Geschichte des Denkens, die Geschichte der Metaphysik, als die Geschichte des ersten Anfangs zu, aber dergestalt, daß dadurch die Wesung des anderen Anfangs sich zuspielt. In das Zuspiel gehören "alle Vorlesungen über ,Geschichte' der Philosophie".37

Der Sprung Aus dem wechselweisen Zuspiel des ersten und des möglichen anderen Anfangs erfahrt das Denken die Weisung zum Sprung in die Wahrheit des Seyns. In diesem Sprung erspringt es erstmals die Wahrheit des Seyns als die Kehre zwischen dem ereignenden Zuwurf und dem ereigneten Entwurf.

Die Gründung Was das Denken als Sprung vorbereitend eröffnet hat, die Wesung des Seyns als in sich gegenschwingendes (kehriges) Ereignis, das weist nun seinerseits das 35 Beiträge, GA 65, S. 126. 36 Beiträge, GA 65, S. 111. 37 Beiträge, GA 65, 81. Abschnitt, S. 169, vgl. auch S. 167, Anm. *.

§ 24. Von "Sein und Zeit" zum "Ereignis"

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Denken in die Gründung der Wahrheit des Seyns. Das Denken gründet, wenn es die Wesung der Wahrheit als Grund wesen läßt und auf diesen Grund baut. 38 Der gründende als der bauende Entwurf ist der bergende Entwurf, der die zugeworfen-entworfene Wahrheit des Seyns in die Entbergung und Entborgenheit des Seienden als "Ding - Zeug - Werk" 39 birgt. Das Ding bezeichnet in erster Linie das herstellungsunbedürftige Naturding (Stein, Pflanze, Tier), das Zeug hingegen das herstellungsbedürftige Gebrauchsding. Das Werk kann als dichterisches Sprachwerk, als Kunstwerk und als denkerisches Werk begriffen werden. Als Wesenlassen des Grundes und gründendes Bauen geht es dem Denken in der vierten Fügung vor allem um die Bergung der Wahrheit des Seyns im Seienden. Die Zu-künftigen

In der fiinften Fügung wird das künftige Wesen des Denkens und des Menschen als Da-sein in seiner Inständigkeit in der Wesung der Wahrheit des Seyns entfaltet. Die Zu-künftigen sind "die langsamen und langhörenden Gründer" des Wesens der Wahrheit als der Wahrheit des Seyns.40 Sie sind diejenigen, die den ereignenden Zuruf erfahren und "die durch den Zuruf erweckte Zugehörigkeit in das Ereignis und seine Kehre" wissentlich übernehmen und im Seienden verwahren. 41 Sie sind aber auch jene Künftigen, auf die "der Wink und Anfall der Fernung und Nahung des letzten Gottes zu kommt".42 Der letzte Gott 43

Der letzte Gott ist der "äußerste Gott" 44, der sich aus der Wahrheit des Seyns zeigt. Er "ist nicht das Ereignis selbst" 4\ aber er ist des Ereignisses bedürftig, dem das Da-sein des Menschen zugehört.

Vgl. Beiträge, GA 65, 187. Abschnitt, S. 307. Beiträge, GA 65, S. 389. - Die an anderen Stellen noch genannten Weisen der Bergung, "Tat" und "Opfer", verdeutlichen die ontologische Weite dessen, was von Heidegger als bergender Entwurf gefaßt wird (vgl. Beiträge, GA 65, S. 70 f., 256, 391, 413). Die "Tat" beispielsweise kennzeichnet bei Heidegger in erster Linie die politische, die "staatsbildende Tat" (GA 65, S. 71). 40 Beiträge, GA 65, S. 395. 41 Beiträge, GA 65, S. 82. 42 Beiträge, GA 65, S. 395. 38 39

43

Vgl. die aus dem Gefüge-Charakter der "Beiträge" entfaltete Untersuchung von

P.-L. Coriando: Der letzte Gott als Anfang. Zur ab-grundigen Zeit-Räumlichkeit des

Übergangs in Heideggers "Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)", München 1998. 44 Beiträge, GA 65, S. 408. 45 Beiträge, GA 65, S. 409, vgl. auch S. 26. 17'

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B/2. Die Frage nach dem Raum im ereignisgeschichtlichen Denken

§ 25. Die ereignisgeschichtliche Frage nach dem Wesen der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft und modernen Technik Der grundlegende Text für die ereignisgeschichtliche Frage nach dem Wesen der modemen Technik, zu der auch die Frage nach dem Wesenszusammenhang mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft gehört, ist Heideggers am 18. November 1953 an der Technischen Hochschule (heute: Technische Universität) München gehaltener Vortrag "Die Frage nach der Technik" 46 in Verbindung mit der voraufgegangenen Bremer Vortragstetralogie "Einblick in das was ist" 47. Da zu Heideggers Technik-Vortrag bereits ausführliche Interpretationen vorliegen 48, richtet die vorliegende Untersuchung ihr Augenmerk vor allem auf die Frage nach dem Wesenszusammenhang von neuzeitlicher Naturwissenschaft und moderner Technik. Innerhalb der sechs Fügungen der Fuge hat die Frage nach dem Wesen der modemen Technik ihren ,Ort' vor allem im "Anklang". Das Fragen nach dem Wesen der modemen Technik geht aus von einer Vergegenwärtigung der instrumental-anthropologischen Selbstbestimmung der Technik, die zur überlieferten Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale gehört, um von dieser aus in das noch verhüllte Wesen der Technik schrittweise enthüllend zurückzufragen. Nicht das animal rationale, sondern das Da-sein bildet die Blickbahn für das zu erfragende Wesen der modemen Technik. Das Fragen solle, wie es einleitend heißt, "unser Dasein dem Wesen der Technik" öffuen. 49 46 In: M. Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 6 1990 (1 1954), S. 9-40 (als Bd 7 der Gesamtausgabe vorgesehen); der Text ist in Druckseiten-Konkordanz übernommen in: M. Heidegger: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 5-36 (Seitenangaben im folgenden nach dieser Ausgabe). 47 Die vollständige Veröffentlichung der erstmals am 1. Dezember 1949 im Club zu Bremen gehaltenen Vorträge "Das Ding", "Das Ge-Stell", "Die Gefahr" und "Die Kehre" erfolgte erst 1994 im Band 79 der Gesamtausgabe mit dem Titel "Bremer und Freiburger Vorträge". 48 Aus der umfangreichen Sekundärliteratur seien genannt (weitere Literaturhinweise in den genannten Arbeiten): G. Guest: Technik und Wahrheit. Zur Erörterung der Gefahr, in: Große Themen Martin Heideggers. Eine Einführung in sein Denken, hrsg. von E. Spaude, Freiburg i. Br. 1990, S. 104-133; F.-w. von Herrmann: Kunst und Technik, in: Heidegger Studies I (1985), S. 25-62; ders.: Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont, in: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, hrsg. von W. Biemel und F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1989, S. 25-46 (beide Aufsätze auch in: F.-w. von Herrmann: Wege ins Ereignis, Frankfurt a. M. 1994, S. 108-171); A. Rosales(-)Rodrlguez: Die Technikdeutung Martin Heideggers in ihrer systematischen Entwicklung und philosophischen Aufnahme, Dortmund 1994; G. Seubold: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg/ München 1986. 49 M. Heidegger: Die Frage nach der Technik, in: ders.: Die Technik und die Kehre, S.5.

§ 25. Das Wesen der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Technik

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Das Da-sein als Wesensbereich des Menschen ist aber nicht mehr fundamentalontologisch gedacht, sondern als der "Bezug des Seins zum Wesen des Menschen" und als "das Wesensverhältnis des Menschen zur Offenheit (,Da') des Seins als solchen".50 Der erste Frageschritt der "Frage nach der Technik" zeigt, daß die instrumental-anthropologische Bestimmung in den Bereich der vier Ursachen (causa materialis, causa formalis, causa finalis, causa efficiens) und deren Ursächlichkeit gehört. Daß die von der scholastisch-thomanischen Philosophie gedachten vier causae ihre Herkunft aus den vier utnu des Aristoteles als den vier Weisen des Verschuldens haben, zeigt der zweite Frageschritt. Der dritte Frageschritt läßt sehen, daß die vier zusammengehörigen Weisen des Verschuldens als Weisen des Vor-kommen-lassens des noch nicht Anwesenden in sein Anwesen in einem Her-vor-bringen, in der 1toillcrt