Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik [1 ed.] 9783428516025, 9783428116027

Weltanschauliche Offenheit gehört zu den Zielen respektvoller Auseinandersetzung. Doch - wie offen müssen wir sein für U

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Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik [1 ed.]
 9783428516025, 9783428116027

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Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 94

Weltanschauliche Offenheit in der Bioethil{

Herausgegeben von

Eva Baumann Alexander Brink Arnd T. May Peter Schröder Corinna Iris Schutz eichel

Duncker & Humblot . Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten :g 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-1l602-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Geleitwort In der hier vorgelegten Publikation "Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik" dedizieren Schüler, Kollegen und Freunde Hans-Martin Sass eine Zusammenstellung von Aufsätzen, welche einen weiten Bogen von säkularen zu theologischen Fragestellungen und von interkulturellen Aspekten zu praktisch-ärztlichen Fragen in der westlichen Welt spannen. Sie ehren hiermit den Forscher, der seit langer Zeit den internationalen und interkulturellen Diskurs in der medizinischen Ethik sucht. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, die in einer Vielzahl von Publikationen ihren Niederschlag gefunden hat, ist ein besonderes Verdienst die gemeinsam mit Herbert Viethues vor zwanzig Jahren betriebene Gründung des Zentrums für Medizinische Ethik an der Ruhr-Universität Bochum. Die vielfältigen kommunikativen Aktivitäten des Zentrums, dessen Geschäftsruhrer Hans-Martin Sass ist, haben mit öffentlichen Veranstaltungen, der Publikationsreihe "Medizinethische Materialien", Arbeiten zum Betreuungsrecht, Einrichtung der Homepage www.medizinethik-bochum.de und anderen Initiativen dieser Institution einen bedeutenden Platz unter den entsprechenden Einrichtungen national wie international verschafft. - Es ist mir als Vorsitzender des Bochumer Zentrums rur Medizinische Ethik eine besondere Freude, HansMartin Sass und diesem Buch viele gute Wünsche auf den weiteren Weg zu geben.

BurkardMay

Vorwort Der vorliegende Sammelband Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik verweist auf zentrale Forderungen in der Philosophie von Professor Dr. phi!. Hans-Martin Sass: Toleranz und Selbstbestimmung. Diese Forderungen hat er uns, seinen ehemaligen Doktoranden, mit auf den Weg gegeben. Seit vielen Jahren ist er für uns Vertrauensperson und Mentor zugleich. In Dankbarkeit widmen wir diesen Sammelband unserem Doktorvater. Wir, die Herausgeber, haben uns im Jahr 1999 zum Bochumer Roundtable zur angewandten Ethik zusammengeschlossen. Als unabhängige und interdisziplinäre Gruppe befassen wir uns mit ethischen Themen, die sich aus unseren unterschiedlichen Arbeitsbereichen ergeben. Eines unserer gemeinsamen Projekte ist dieser Sammelband. Wir freuen uns, dass wir als Autorinnen und Autoren dieses Buches auch langjährige Weggefahrten von Hans-Martin Sass gewinnen konnten. Wir bedanken uns bei allen Autoren für ihre Teilnahme an diesem Projekt. Speziell danken wir ihnen für die Geduld auch mit uns, den Herausgebern. Fragen der Bioethik haben in den vergangenen Jahren sowohl in den Wissenschaften als auch in der Lebenspraxis an Bedeutung gewonnen. Unlängst lieferten exemplarisch Themen wie Embryonenforschung oder Sterbehilfe den Stoff für hitzige Debatten. Dabei fallt auf, dass die Meinungsvielfalt auch gesellschaftlich immer sichtbarer wird. Mit diesem Sammelband haben wir uns vorgenommen, für dieses Ziel werben: Dissense zuzulassen, Dissense auszuhalten und damit weltanschauliche Offenheit tatsächlich zu praktizieren. Der Band enthält deshalb sowohl "kompatible" als auch "aufeinander pralAnsichten. Die Verschiedenheit erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass bioethische Debatten im kulturellen Fundament wurzeln. Um dies zu demonstrieren, haben wir Brücken geschlagen zwischen Europa, speziell Deutschland, und den USA und China. lend~"

Dieser Sammelband möchte sich in die bioethische Diskussion einmischen. Er wäre ohne die Mithilfe engagierter Verbündeter nicht entstanden. Wir danken insbesondere Renate Sass, Professor Dr. med. Burkard May, Vorsitzender des Zentrums für Medizinische Ethik an der Ruhr-Universität Bochum, und Professor Dr. med. Michael Zenz, ehemaliger Vorsitzender des Zentrums für Medizinische Ethik, für ihre vielfaltige Unterstützung des Projektes.

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Vorwort

Darüber hinaus sind wir dem ehemaligen Vorsitzenden, Professor Dr. Burkard May, und Professor Dr. Michael Zenz als Vorsitzendem der EthikKommission der Ruhr-Universität Bochum für die finanzielle Unterstützung zu Dank verpflichtet. Schließlich bedanken wir uns bei Kristin Vorbohle und Jasmin Gider für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Durchsicht der Artikel. Wir wünschen unseren Lesern nun eine spannende und interessante Lektüre! Die Herausgeber mEssen, Bayreuth, Bochum, Bielefeld und Menden 1m März 2004 Eva Baumann, Alexander Brink, Arnd T. May, Peter Schräder und Corinna Iris Schutzeichel

Inhaltsverzeichnis Eva Baumann, Alexander Brink, Arnd T. May, Peter Schröder, Corinna Iris Schutzeichel Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik: Eine kurze Einführung .................... 1 I A. Weltanschauliche Offenheit in der Theorie I. Säkulare Perspektiven

Kurt Bayertz Dissens in Fragen von Leben und Tod: Können wir damit leben? ........................ 23 Robert M Veatch Common Morality and Human Finitude: A Foundation for Bioethics ................... 37 Dieter Birnbacher Das Dilemma des bioethischen Pluralismus .......................................................... 51 Walther Ch. Zimmerli Natur als technische Kultur: Veränderung der Ethik durch Gentechnik ................ 65 Carmen Kaminsky Kann man bio- und medizinethische Probleme lösen? .......................................... 81 Peter Kampits Offene Ethik angesichts des Lebensendes ............................................................. 95 11. Theologische Perspektiven

Peter Dabrock "Suchet der Stadt Bestes" (Jer 29,7) - Transpartikularisierung als Aufgabe einer theologischen Bioethik - entwickelt im Gespräch mit der Differentialethik von Hans-Martin Sass ........................................................ 115 Christo[er Frey Person oder empirisch verstandenes Faktum? Zum Bild vom Menschen in seinen Anfängen ............................................................................. 147 Ilhan Ilkilic Der moralische Status des Embryos im Islam und die wertplurale Gesellschaft ......................................................................................................... 163

Inhaltsverzeichnis

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B. Weltanschauliche Offenheit in der Praxis I. Herausforderungen im interkulturellen Kontext OIe Döring Was bedeutet "ethische Verständigung zwischen Kulturen"? Ein philosophischer Problemzugang am Beispiel der Auseinandersetzung mit der Forschung an menschlichen Embryonen in China ................................... 179 Heiner Roetz Muss der kulturelle Pluralismus einen substantiellen ethischen Konsens verhindern? Zur Bioethik im Zeitalter der Globalisierung .................... 213 Uwe Fahr, Stella Reiter-Theil, Beatrix P. Rubin Ethik, Weltanschauung, Wissenschaft. Zur Kontroverse um die Stammzellforschung ............................................................................................ 233 11. Herausforderungen der ärztlichen Praxis Erdmute Kunstmann, Ines Maas, Jörg T. Epplen Nicht-direktive Beratung im Rahmen prädiktiver Diagnostik bei genetischen Risiken rur Kinder? .......................................................................... 259 Rita Kielstein

Differenzierte Selbstbestimmung bei der Organspende - ethische und rechtliche Konsequenzen einer empirischen Umfrage ......................................... 271 Gerlinde Sponholz, Helmut Baitsch Der Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis und die Kluft zwischen Wissen und Handeln ................................................................... 291

Autorenverzeichnis ................................................................................................... 305

Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik: Eine kurze Einführung Eva Baumann, Alexander Brink, Arnd T. May, Peter Schröder, Corinna Iris Schutzeichel

A. Was bedeutet weltanschauliche Offenheit? Weltanschauliche Offenheit gehört zu den Zielen respektvoller Auseinandersetzung. Sie ist angesichts der Widersprüche zwischen Anschauungen ein Indikator für Toleranz - und das zentrale Anliegen der Philosophie von Hans-Martin Sass. Der Begriff "Weltanschauliche Offenheit" erklärt sich allerdings nicht von selbst, er bedarf der Interpretation. Einen ersten Hinweis liefert schon der Be griff selbst: Er deutet ein Spannungsfeld an. Denn da, wo es Offenheit gibt, existiert auch das Gegenteil: Geschlossenheit. Damit stellt sich die Frage der Grenzziehung: Wo endet die Offenheit? Oder anders gefragt: Wo sind wir offen für Widersprüche oder Dissense? Und wo brauchen wir das Gemeinsame, auch auf die Gefahr hin, dass wir Andersdenkende ausschließen? Bezogen auf bioethische Konflikte lauten die Fragen beispielsweise: Gehen die Entscheidungen - zu Stammzellen, zur Präimplantationsdiagnostik, zu Gentests, zum Klonen von Menschen oder zur Sterbehilfe - nur die Betroffenen etwas an? Oder sollen diese Fragen kollektiv entschieden werden? Müssen wir dabei eine einheitliche Lösung für alle anstreben? Oder dürfen verschiedene (Werte-)Gemeinschaften auch verschiedene Lösungen finden? Der Begriff der Weltanschauung hilft hier nur begrenzt weiter, denn in einem Punkt sind sich Begriffsgeschichtler einig: Der Begriff Weltanschauung enthält grundsätzlich die Relativität der Geltungen von Weltanschauungen - zumindest bei einer philosophischen Verwendung des Wortes. Weltanschauungen treten also im Plural auf. Die Betrachtung ihres Nebeneinanders erzeugt den Eindruck von Verschiedenheit. So kann die Suche nach dem, was sie möglicherweise verbindet, schwierig werden. Ganz allgemein versteht man unter Weltanschauung dies: Eine vorwissenschaftliche oder eine philosophische Gesamtauffassung der Welt und der Stellung des Menschen in dieser Welt. Diese Auffassung schließt zudem eine Bewertung ein, die den Menschen zur Handlungsorientierung dient.

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Klassische vorwissenschaftliehe Weltanschauungen sind Religionen wie Christentum, Buddhismus oder Islam - lebensweltlich betrachtet. Philosophisch zählen metaphysische Grundpositionen zu den Weltanschauungen wie Materialismus oder Idealismus sowie erkenntnistheoretische Ideale wie Positivismus oder Kritischer Rationalismus. Im Politischen gelten auch Liberalismus oder Marxismus als Weltanschauungen. Dabei erscheint die Grenze zur Ideologie fließend: Denn auch die Rassen-Ideologen des Nationalsozialismus bedienten sich des Begriffes Weltanschauung positiv in ihrem Sinne. Spätestens an dieser Stelle taucht der Wunsch auf, Weltanschauungen zu rechtfertigen, zu begründen, sie einer methodischen Revision zu unterwerfen. Vor allem: Es entsteht der Wunsch, sie im Bedarfsfall auch kritisieren zu können. Damit beginnt die Suche nach einer Position, von der aus das moralische Richtig und Falsch einer Weltanschauung erkennbar wird. Die Suche nach dem Bollwerk, das uns Grausamkeiten, die im Namen von Weltanschauungen begangen werden, als solche brandmarken lässt. Die Suche nach dem Überzeugungsgrund, den niemand mehr anzweifelt. Letztlich die Suche nach Einheit in verwirrender Vielfalt. Damit gerät ein Begriff ins Blickfeld, der Weltanschauungen von einer Metaebene aus beschreibt: der Pluralismus, Ausdruck der Vielgestaltigkeit von Weltanschauungen. Doch auch dieser Begriff hat verschiedene Inhalte. So können wir den Pluralismus der Weltanschauungen einerseits deskriptiv verstehen, als ein reines Herausschälen oder Beschreiben von Unterschieden. Andererseits kann Pluralismus normativ gelten, als positive Wertvorstellung, etwa als Kennzeichen eines herrschaftsfreien Diskurses oder einer funktionierenden Demokratie. Geht es beim deskriptiven Pluralismus vorrangig um die Kennzeichnung von Unterschieden, so fragt der normative Pluralismus auch nach Begründungen; speziell nach einem Abgrenzungskriterium zum Relativismus. Doch auch schon der deskriptive Pluralismus hat seine Tücken. Denn für moralische Dinge gilt genauso wie rür physische Dinge, dass wir uns in ihnen täuschen können: Auch die Wahrnehmung von Werten ist nicht eindeutig. Aus sprachanalytischer Sicht untersucht in diesem Buch Robert Veatch dieses Problem transkultureller Vergleiche. Genauso stellt Dieter Birnbacher die Frage nach der Wahrnehmung moralischer Urteile: Sind sie kulturspezifische Ideale oder Prinzipien mit Universalanspruch? Klassisches Beispiel unterschiedlicher Wahrnehmung und damit unterschiedlicher Beschreibung ist die Auseinandersetzung um den menschlichen Embryo: In rein biologischer Beschreibung handelt es sich um ein Konglomerat von Zellen. Aus religiöser Sicht ist der Embryo ein Ebenbild Gottes. Aus vernunftidealistischer Perspektive ist er eine Person.

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Christo/er Frey stellt dieses Problem so dar: Weder könnten naturwissenschaftlich zu erhebende Sachverhalte einfach normativ gewertet werden, noch gehe die schlichte Umdeklaration - wie die der Gametenverschmelzung - zur Menschwerdung als Person an.

Es wird erkennbar, wie Weltbeschreibungen und ihre Sprache die moralische Erkenntnis mitbestimmen. In einem transkulturellen Vergleich schlägt dieser Aspekt möglichen Missverstehens besonders zu Buche. Allerdings sind diese sprachlichen Unterschiede bis zu einem gewissen Grad aufzuklären. Ihre Grenze findet die Klärung dort, wo Begriffe nicht in allen Sprachen existieren: In einer naturwissenschaftlichen Sprache sind transzendentale Begriffe wie Seele nicht auszudrücken. So könnte ein Mensch mit einer materialistischen Weltanschauung Seele als eine Form von Bewusstsein verstehen, das letztlich durch neurophysiologische Vorgänge erzeugt wird. Der transzendentale Aspekt von Seele bliebe diesem Menschen verschlossen. Im normativen Pluralismus existieren diese Erkenntnisunterschiede selbstverständlich genauso. Hinzu tritt das Problem, einen gemeinsamen Kern aller Weltanschauungen zu finden: Dieser soll bei aller Verschiedenheit einerseits ein harmonisches Zusammenleben ermöglichen, andererseits aber den Maßstab liefern, Grausamkeiten als solche zu benennen. Es geht also um einen universalistischen Minimalkonsens, die gesuchte moralische Wahrheit zu begründen. Dieser wurde historisch in den verschiedensten Rechtfertigungen erkannt. Kognitivisten begründen Moral beispielsweise in einem gemeinsamen Vernunftverständnis. Bei Oie Döring so angesprochen in der klassischen Forderung nach einem "Gerichtshof der Vernunft". Kognitivistische Fundamente sind aber auch diese: ein gemeinsam zu befolgendes Naturideal oder eine rur alle ersichtliche - evidente - moralische Intuition. Nonkognitivistische Richtungen bestreiten, dass der Bereich des Sittlichen einer wahren, objektiven oder wissenschaftlichen Erkenntnis fähig sei. Für Emotivisten beispielsweise bedeutet dies: Menschen fällen moralische Urteile als Folge ihrer individuellen Geruhle oder Einstellungen. Den Verfechtern einer allgemeinen Vernunft fehlt da allerdings der allgemeinverbindliche Maßstab, solche Urteile als richtig oder falsch zu begründen. Robert Veatch bietet hier eine Lösung, indem er beide Richtungen zu versöhnen versucht: Er geht davon aus, dass es gemeinsame vortheoretische Einsichten gäbe (common pretheoretical insights), die von allen Menschen auf der Welt geteilt würden: "moral la ws, rules, feelings, intuitions, or perceptions of maxims". Die Existenz eines solchen Konsenses komme darin zum Ausdruck, dass Verhaltensweisen wie Töten, Verletzen oder Lügen überall rur falsch gehalten würden.

Wie auch immer ein solcher Konsens begründet wird, die meisten Diskutanten haben einen gemeinsamen Antipoden: den Relativismus. Er ist häufig Syn-

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onym für Beliebigkeit und Irrationalität. Doch auch der Begriff des Relativismus ist vielschichtig. Einerseits negiert der ethische Relativismus die kognitivistische Position, also die Annahme, Normen aufnaturrechtliche oder vernünftige Weise einheitlich begründen zu können. Andererseits unterstellt er die Vielfalt moralischer Prinzipien. Dabei tun sich die nächsten Fragen auf: Ist diese Vielfalt unreduzierbar, ist der Dissens unheilbar? Oder erscheint uns der Dissens nur unheilbar, etwa, weil wir Situationen nie vollständig beschreiben können? Dies ist noch einmal die sprachanalytische Frage. Geht es im Hinblick auf den Relativismus von Werten um Sieg oder Kapitulation der Philosophie? Heiner Roetz wendet sich beispielsweise gegen eine "vorschnelle Kapitulation der Philosophie vor dem Wertepluralismus", im Hinblick auf den Schutz aB derjeniger, die sich - wie der Embryo - nicht äußern können. Oder ist Dissens ein Zeichen für authentische, starke moralische Wertungen der Individuen, die nicht unter die Knute einer universalistischen Moral gezwungen werden dürfen? So gibt es aus der Sicht von Kurt Bayertz keinen "höheren" Wert als den der Autonomie der Individuen. Und wenn Dissense auflösbar wären, müssten wir dann in jedem Fall die Einheitlichkeit aller Regelungen anstreben? Oder könnte man sich zwei Bereiche vorstellen: Erstens einen unverfügbaren, geschützten Bereich und zweitens einen Bereich, in dem wir flexibel sind und Kompromisse schließen dürfen? Uwe Fahr. Stella Reiter-Theil und Beatrix P. Rubin schlagen vor, zwischen "dem beweglichen Material und den nicht zur Disposition stehenden normativen Voraussetzungen" zu unterscheiden. Einigkeit dürfte nur darin bestehen: Schnell wird die Beantwortung dieser anspruchsvollen Fragen nicht zu haben sein.

B. Weltanschauliche Offenheit bei Hans-Martin Sass So ist es das Besondere der Philosophie von Hans-Martin Sass, dass er in Kenntnis dieser Spannungen gelebter Moral sowohl das Verbindende sucht als auch die Verschiedenheit akzeptiert. Peler Kampits drückt es in diesem Buch so aus: Sass wolle die Polarität zwischen dogmatisch-ideologischen Positionen und einem achselzuckenden Laissez-Faire-Pluralismus überwinden. Sass selbst versteht seine Ethik als Gegenentwurf zum "totalitären Fundamentalismus" - für ihn eine Folge undifferenzierter Durchsetzung ethischer Normen. Differentialethik ist für Sass der Ausweg aus einem "generalisierenden Moralismus", der das Individuum entmündige. Man könnte Sass' Gegenposition deshalb auch eine individualisierende Ethik nennen.

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In dieser Ethik sind Letztbegründungen allein Privatsache. Angesichts ihrer Verschiedenartigkeit sucht er nach einem Weg, trotzdem gemeinsame Entscheidungen treffen zu können. Dabei heißt das Grundprinzip der Differentialethik: Wir müssen generelle und damit abstrakte Prinzipien differenzieren und konkretisieren, um sie auf den Einzelfall anwenden zu können. Zu den generellen Prinzipien rechnet Sass etwa Autonomie, Solidarität, Gerechtigkeit, Sicherheit und Menschenwürde. Ordnungsethische Kontroversen würden allerdings zeigen, dass völlig unterschiedliche Positionen hinter diesen Werten eingenommen werden könnten. I Die Abstraktheit dieser generellen Prinzipien verdeckt also einen weltanschaulichen Pluralismus. Hier empfiehlt Sass, Werte nach "situativen Szenarien" zu differenzieren. Zu diesem Zweck entwickelt er eine Wertehierarchie, die, wie in der Ökonomie, zwischen Rohstoffen, Halbfertigstoffen und Endprodukten unterscheidet. Die generellen ethischen Prinzipien sind in dieser Analogie die Rohstoffe, die kulturell und diskursiv, auch berufsspezifisch, zu Halbfertigprodukten ethischer Orientierung und Handlungsbegründung differenziert werden. Zu diesen Halbfertigprodukten zählt er aus der Sicht des Arztes beispielsweise das Schadensverbot (nil nocere), das Hilfs- und Heilgebot (bonum facere) sowie Forderungen nach Gleichbehandlung, Wahrhaftigkeit am Krankenbett, Schutz der Intimsphäre und Schweigepflicht. 2 Sowohl die generellen Prinzipien, wie die mittleren Prinzipien sind nach Sass noch nicht handlungsleitend im Einzelfall. Ethisches Endprodukt wäre beispielsweise erst die Verantwortung des Arztes fur den einzelnen Patienten in Fragen der Lebensverlängerung, der Lebensqualität oder der Schmerzbekämpfung. 3 Sass unterstreicht, dass alle Konkretisierungen der letzten Stufe aus den verschiedenen generellen Prinzipien Gerechtigkeit oder Solidarität oder Menschenwürde abgeleitet werden können. 4 Die Tatsache, dass wir uns im Einzelfall einigen können, ergäbe sich aus der Universalität der mittleren Prinzipien, also der "ethischen Halbfertigprodukte". Diese seien "mit Modifikationen" transkulturell und unabhängig von der Weltanschauung. 5 Peler Dabrock weist in diesem Band darauf hin, dass Sass damit ein bestimmtes Menschenbild voraussetze: I

V gI. Sass (1999), S. 3 I 7f.

2

VgI. Sass (1999), S. 318.

3

VgI. Sass (1991), S. 132.

4

VgI. Sass (1992), S. 196f.

5 Sass

(1999), S. 319.

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Der Mensch müsse bereits soviel Toleranz besitzen, dass er die im Vorhinein problematische Unterscheidung der Differenzierungs-Etagen schon treffen könne. Dafür sei nicht nur eigene Urteilsfindung, sondern auch Distanz gegenüber der eigenen Überzeugung nötig. Diese mittleren Prinzipien darf man bei Sass jedoch nicht mit einem ethischen Apriori verwechseln. Sass, der sich selbst als Kontraktualisten6 bezeichnet, sieht im Prozess der ethischen Differenzierung folglich keine eindeutige Handlung mit grundsätzlich optimalem Ergebnis. Die mittleren Prinzipien sind nicht absolut im Sinne eines methodischen, etwa deduktiven Anfangs für Ursachen- oder Begründungsketten. Sie sind auch nicht absolut im Sinne einer Diskriminierung von Erkenntnisquellen: Sass möchte neben die "Basistugend rationale Intelligenz" eine "Basistugend emotionale Intelligenz" stellen. Darunter versteht er im Bereich medizinischer Berufe Werte wie "menschliche Nähe, persönliche Zuwendung, ( ... ) In-der-Nähe-sein, Interesse für andere, für ihre Sorgen und Freuden, ihren Lebensraum,,7. Für Sass kommt moralisches Handeln also auch aus dem Gefühl. Ohne Absolutheitsanspruch fallt ethischen Prinzipien damit die Rolle von Handwerkszeugen zu, die in einer konkreten Situation mehr oder weniger - prima facie - zum Zuge kommen. Hilfe im Prozess des Abwägens von Prinzipien liefern Grundgerüste zur "Szenario-Entwicklung"s. Dies sind Checklisten, die Entscheidungsproblemen eine Struktur geben. Sie sammeln ethische und technische Aspekte, um zunächst eine möglichst vollständige Problembeschreibung zu erreichen. Weiter liefern sie Gliederungen zu Diskussion und Entwicklung verschiedener Szenarien, bis hin zur Vorwegnahme von Einwänden Dritter. Sinn dieser Listen ist die "notwendige Integration von Fakten und Normen". Sass verbindet und kontrastiert darin bewusst ethische und technische Parameter, schafft so die Grundlage für Güterabwägungen. Mit Hilfe der Schemata sollen Rechtfertigungen erarbeitet werden für die in dieser Situation optimale Entscheidung. Diese Optimierung muss allerdings nicht immer die ideale Lösung zur Folge haben. Der Hauptaspekt der Differentialethik liegt im Bewältigen von Zielkonflikten. Denn nach Sass kommt es im Alltag zu einem ethischen Dilemma, das der ethische Purist nicht wahr haben will. 9 Auf generalisierte Normen könnten wir (, Vgl. Sass (1991), S. 122. 7

Sass (1999), S. 317.

~ Vgl. Sass, (1992), S. 200. 9

Vgl. Sass (1991), S. 125.

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uns zwar alle einigen, nur würden wir Verschiedenes in ihnen erkennen. Gesellschaftliche Nonnanwendung funktioniert nach Sass aber nicht nach generalisierenden, sondern nach individualisierenden und konkretisierenden Gesichtspunkten. 1O In dieser Situation sollten der Staat und die Individuen nur Kontrakte schließen auf der Basis des Subsidiaritätsprinzips. Diese haben vor allem das Ziel, die Verantwortungskompetenz - das Gewissen - des Individuums zu stärken. So schreibt Sass auch im Hinblick auf ein "Ethikbinnenrecht" Europas: "Wann immer Theologen, Ethiker, Juristen und Politiker in einer pluralistischen Gesellschaft keinen breiten und von der öffentlichen Kultur getragenen inhaltlichen Konsens finden, dürfen die primär betroffenen und nächststehenden Individuen und natürlichen Kleingruppen nicht in ihrer Verantwortung eingeschränkt werden. Gesellschaftliche, weltanschauliche und religiöse Gruppen sollten im Gegenteil alles tun, um die individuelle Kompetenz zu Güterabwägung, Verantwortung und menschlicher Ethik zu stärken." 11

C. Die Artikel dieses Bandes Der vorliegende Band zeigt deutliche Unterschiede (bio-)ethischer Einschätzungen: Dabei kann er nicht den Anspruch auf vollständige Abbildung eines Meinungsspektrums erheben. Er ist aber Spiegel eines Wertepluralismus und einer Vielfalt, die - wenn man es denn will - für einheitliche Lösungen unter einen Hut gebracht werden müsste. Die Reihenfolge der hier abgedruckten Artikel folgt diesem Schema: Die unter A. erscheinenden Titel widmen sich eher theoretischen Anliegen. Darin enthalten die Sektion I. säkulare, die Sektion H. theologische Perspektiven. Die unter B. abgedruckten Artikel beschäftigen sich vor allem mit der Anwendungsebene. In der Sektion I. werden interkulturelle Probleme behandelt, in der Sektion H. einige Herausforderungen der ärztlichen Praxis. Die ersten ftinf Artikel der theoretischen Betrachtungen (A.I.) drehen sich um die Bedeutung und die "Heilbarkeit" von Dissensen. Für Kurt Bayertz war der ethische Dissens zu allen Zeiten existent. Konsense seien häufig nur Resultat von "Alternativlosigkeit und Zwang" gewesen. Doch von einer "babylonischen Moralverwirrung" könne keine Rede sein: Auch in der Moderne gebe es mehr Konsens als Dissens.

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Vgl. Sass (1991), S. 118.

11

Sass (2002), S. 17f.

2 Baumann u. a.

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Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Robert M Veatch aus einer sprachanalytischen Perspektive: Auch wenn verschiedene Aspekte moralischer Realitäten nicht auf einer Skala vergleichbar (incommensurable) seien, müsse das nicht bedeuten, dass sie miteinander unvereinbar (incompatible) seien: ,,( ... ) the common sense belief in a universally held set of pre-theoretical moral intuitions (... ) is more and more plausible after all". Für Dieter Birnbacher steht dagegen die "Inkonsistenz" des ethischen Pluralismus im Vordergrund. Sie werde hervorgerufen durch sich widersprechende moralische Normen, die universale Geltungsansprüche stellten. Eine, wenn auch nicht ideale, Lösung sei es, moralische Prinzipien auf den Status kulturspezifischer Ideale herabzustufen. Walther Ch. Zimmerli hält universale Geltungsansprüche - er spricht vom Ewigkeits-Missverständnis der Ethik - für nicht zeitgemäß. Ewige moralische Prinzipien könnten ihre Funktion der Selbstregulierung der Gesellschaft in veränderten Situationen nicht erfüllen. Wir seien auch nicht in der unabhängigen Beobachterposition, um diese Prinzipien aufzustellen. Denn wir seien immer schon Teil von Verstehensprozessen, etwa bei Gentechnik-Experimenten. Auch Carmen Kaminsky befasst sich mit dem Problem universaler Geltung: Sie sieht keine Möglichkeit, über allgemeinverbindliche Normenbegründungen - den "Königsweg" - medizinethische Probleme zu lösen. Für die politische Regelung fordert sie eine zusätzliche "situativ angemessene", "moralpragmatische" Argumentation. Peter Kampits beleuchtet den schon klassischen Dissens zum Thema Sterbehilfe. Unversöhnlich und emotional aufgeladen bekämpften sich die Lager: Die aus der Heiligkeit begründete Forderung nach Unverfügbarkeit des Lebens stehe der Forderung nach Autonomie des Lebens gegenüber. Kampits plädiert hier für die Wandlung des Obrigkeitsstaats zum Verantwortungsstaat. Die theologischen Perspektiven (A.II.) eröffnet Peter Dabrock. Er entwirft Bedingungen für eine "transpartikularisierungsfähige theologische Bioethik". Diese sieht sich verpflichtet, eigene Überzeugungen so zu formulieren, dass sie auch für Menschen nachvollziehbar ist, die die christliche Perspektive nicht teilen. Wie Sass zielt auch Dabrock auf Verständigungen ab, die sich auf einer mittleren Ebene abspielen. Christo/er Frey untersucht das Spannungsfeld zwischen "wesensmetaphysisch angelegter" und "antimetaphysisch angelegter, empiristischer" Ethik am Beispiel des menschlichen Embryos. Eine protestantische Ethik dürfe den "Ernst der Differenz" und den "Widerspruch im Wirklichen" nicht leugnen und könne deshalb nur als Konfliktethik begründet werden. Auch Ilhan Ilkilic bemüht sich um Klärung des "moralischen Status des Embryos", hier aus "innerislamischer" Sicht. Er betont, dass sowohl in der

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Frühzeit des Islam als auch in der Gegenwart die Diskussionen um den Stellenwert des Embryos stets von Pluralität gekennzeichnet waren. Den Anfang interkultureller Betrachtungen (B.I.) macht Oie Döring. Er formuliert Ziele einer kulturübergreifenden Bioethik. Am Beispiel Chinas und an Auseinandersetzungen zu seiner Forschung an menschlichen Embryonen demonstriert er Schwierigkeiten "ethischer Verständigung zwischen den Kulturen". Auch Heiner Roetz richtet den Blick nach China. Er betrachtet chinesische Kulturen, etwa Daoismus und Konfuzianismus, um schließlich festzustellen, dass es auch hier keine "chinesische oder auch nur konfuzianische Standardmeinung" gibt. Trotzdem fordert er allgemein verbindliche Normen, um einer entfesselten Biotechnologie auch global Einhalt zu gebieten. Uwe Fahr, Stella Reiter-Theil und Beatrix P. schiedliche Situationen zum Embryonenschutz in und der Schweiz. Nicht Kompromisse im Sinne anzustreben, sondern die Klärung dessen, was in sei beziehungsweise was unvertUgbar sei.

Rubin berichten über unterGroßbritannien, Deutschland eines Mittelwegs seien hier Kompromissen verhandelbar

Erdmute Kunstmann, Ines Maas und Jörg T Epplen berichten aus der Humangenetik (Herausforderungen der ärztlichen Praxis, B.II.) über die Berufsnorm der "nicht-direktiven" Beratung. Sie soll in einer Konfliktsituation nur wie ein Spiegel der zu Beratenden fungieren und diesen nicht die Werte der Berater oktroyieren. Die Autoren stellen die Frage, ob Nicht-Direktivität immer möglich und immer sinnvoll anzuwenden ist - dies vor allem bei Entscheidungen zu genetischen Risiken von Kindern. Rita Kielstein weist auf den Mangel an Spenderorganen hin, der ganz besonders in Deutschland besteht. Sie erklärt ihn durch die "erweiterte Zustimmungslösung" , die dazu führe, dass Ärzte - trotz vorliegenden Spenderausweises - die Meinung der Angehörigen einholten und so, im Falle der Ablehnung, eine Organentnahme verhinderten. Dadurch werde das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen nicht geachtet.

Im letzten Beitrag dieses Buches beklagen Gerlinde Sponholz und Helmut Baitsch die Kluft zwischen Theorie und Praxis in der ärztlichen Ausbildung. Denn medizinethische Handlungskompetenz gewinne man vor allem durch Lernen an und mit realen Problemen. Deren Komplexität dürfe nicht von vornherein reduziert werden. Der "Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis" sei ein geeignetes Mittel, das "learning by doing" in Gang zu setzen. Die in diesem Buch veröffentlichten Beiträge veranschaulichen eine breite Vielfalt ethischer Auffassungen. Sie sind ein Angebot tUr Leser, die sich orientieren möchten. Und die - ganz im Sinn von Hans-Martin Sass - in individueller Verantwortung ihre Wahl treffen wollen. 2*

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E. Baumann, A. Brink, A. May, P. Schröder, C. Schutzeichel

Verzeichnis ausgewählter Literatur Sass, H.-M.: Methoden ethischer Güterabwägung in der Biotechnologie, in: Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin. Hg. von Volkmar Braun, Diethmar Mieth, Klaus Steig leder, 1987, München, S. 89-110. Sass, H.-M.: Hirntod und Hirnleben, in: Medizin und Ethik. Hg. von H.-M. Sass, 1989, Stuttgart, S. 160-183. Sass, H.-M.: Ethische Expertise und Güterabwägung, in: Güterabwägung in der Medizin. Hg. von H.-M. Sass, H. Viefhues, 1991, Berlin, S. 116-136. Sass, H.-M.: Generalisierender Moralismus und Differentialethik, in: Politik und Kultur nach der Aufklärung, Festschrift Hermann Lübbe zum 65. Geburtstag. Hg. von K. Röttgers in Verbindung mit W. Lübbe und H.-M. Sass, 1992, Basel, S. 186-205. Sass, H.-M.: Die Würde des Gewissens und die Diskussion um Schwangerschaftsabbruch und Hirntodkriterien, Herausforderungen an Verantwortungsethik und Ordnungsethik, in: Medizinethische Materialien, Heft 89, 1994, Bochum. Sass, H.-M.: Materialien zur Erstellung von wertanamnestischen Betreuungsverfiigungen, in: Medizinethische Materialien, Heft 84, 1995, Bochum. Sass, H.-M.: Differentialethik, Über die notwendige Integration von Fakten und Normen in Medizin und Biowissenschaften, in: Angewandte Ethik / Applied Ethics. Hg. von P. Kampits, A. Weiberg, 1999, Wien, S. 315-332. Sass, H.-M.: Menschliche Ethik im Streit der Kulturen, in: Medizinethische Materialien, Heft 132, 2002, Bochum. Sass, H.-M.: Patienten- und Bürgeraufklärung über genetische Risikofaktoren, in: Patientenaufklärung bei genetischem Risiko. Hg. von H.-M. Sass, P. Schröder, 2003, Münster, S. 42-55. Sass, H.-M.: Common moral priorities and cultural diversities. Formosan Journal of Medical Humanities 4,2003, S. 6-21. Sass, H.-M.: Klinisch-ethische Epikrisen im medizinethischen Unterricht, in: Behandlungsgebot oder Behandlungsverzicht. Hg. von H.-M. Sass, A. May, 2004, Münster. Sass, H.-M.: Asian and Western Bioethics: Converging, Conflicting, Competing?, in: Eubios Journal of Asian and International Bioethics 14,2004, S. 13-22.

A. Weltanschauliche Offenheit in der Theorie I. Säkulare Perspektiven

Dissens in Fragen von Leben und Tod: Können wir damit leben? Kurt Bayertz

Über wenige Fragen ist in den vergangenen Jahrzehnten leidenschaftlicher und ausdauernder gestritten worden als über die nach der Legitimität der Abtreibung. Was für die einen nichts als eine Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung ist, erscheint den anderen als ein permanenter bethlehemischer Kindermord. Auch mehrfache Gesetzesänderungen und nachfolgende Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben diesen Streit nicht entschärfen, geschweige denn beilegen können. Und nichts deutet darauf hin, dass sich an dieser Situation in Zukunft etwas ändern könnte. Wir werden weiterhin damit leben müssen, dass dieselbe Handlung den einen als Mord, den anderen als Akt legitimer Selbstbestimmung gilt. Schon vor knapp zwei Jahrzehnten hat der Moralphilosoph Alasdair MacIntyre diese divergierende Bewertung der Abtreibung in einem viel diskutierten Buch als Indiz für eine tiefe moralische Krise der modernen Gesellschaft angeführt. Moralische Äußerungen dienen nach MacIntyres Beobachtung heute oft der Artikulation von Meinungsverschiedenheiten. Das Erstaunlichste an den damit verbundenen Debatten sieht er darin, dass sie endlos sind. "Endlos" nicht nur in dem Sinne, dass sie dauern und dauern, sondern dass sie offenbar zu keinem Ende geführt werden können: "In unserer Kultur scheint es keinen vernünftigen Weg zu geben, eine moralische Übereinstimmung zu erzielen.'" Tatsächlich ist es leicht, gerade im Bereich der Medizin weitere Beispiele für solche anhaltenden und augenscheinlich unlösbaren öffentlichen Debatten aufzuzählen. Es genügt, die Stichworte "Euthanasie", "Präimplantationsdiagnostik" oder "Hirntod" zu nennen. An diesen Beispielen wird zugleich deutlich, warum uns Meinungsverschiedenheiten im Bereich des medizinischen Handelns oft tiefer unter die Haut gehen als andere Kontroversen: Hier geht es um Leben und Tod. Das Engagement und die Leidenschaft, mit der die Auseinandersetzungen hier geführt werden, können daher kaum überraschen. Was könnte bestürzender sein als die Aussicht, dass ein Konsens über Fragen von Leben und Tod auch in Zukunft nicht erreichbar sein wird? Was, wenn nicht diese Situation, verdiente , Mac/ntyre (1987), S. 19.

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den Namen einer "moralischen Krise"? Und schließlich: Kann eine Gesellschaft überhaupt dauerhaft und friedlich existieren, die offenkundig unfahig ist, sich in derart grundlegenden und existenziell wichtigen Fragen zu einigen?

A. Eine babylonische Moralverwirrung? Dass mit diesen Fragen ein ernstes Problem angesprochen wird, ist schwerlich zu bestreiten. Das Zusammenleben von Menschen divergierender moralischer Überzeugungen ist nicht immer so einfach, wie man es sich wünschen mag. Zugleich aber sollte der dramatisierende Gestus dieser Fragen nicht über die simple Tatsache hinwegtäuschen, dass wir ohne Konsens über die genannten "Fragen von Leben und Tod" leben, und dies bereits seit geraumer Zeit. Offensichtlich haben die moralischen Kontroversen über die Abtreibung, über die Sterbehilfe oder den Hirntod bislang ebenso wenig ins gesellschaftliche Chaos geführt wie die zahllosen Kontroversen in der Sozial-, Energie- und Außenpolitik; sie haben das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft oft und nachhaltig strapaziert, aber nicht unmöglich gemacht. Auch kann von einem Zusammenbruch der moralischen Kommunikation nicht ernsthaft die Rede sein: Eine babylonische Moralverwirrung, die der Verständigung zwischen den divergierenden Positionen den Boden entzöge, ist nirgends zu beobachten. Wer einen solchen Zusammenbruch behauptet, dramatisiert die sich tatsächlich abspielenden Auseinandersetzungen und übersieht, dass auch die Artikulation von Differenzen eine (wenngleich nicht immer bequeme) Form der Kommunikation ist. Auch zeigt uns ein nüchterner Blick auf die Realität keineswegs das Bild einer durchgängigen und tiefen moralischen Zerklüftung. Alles in allem dürfte es in der modernen Gesellschaft weit mehr Konsens als Dissens geben. Dies gilt auch für den Bereich der Medizin und ihre ethische Dimension. Sofern man eine quantitative Betrachtung überhaupt anstellen kann, gibt es über 99 Prozent des medizinisch relevanten Handelns keine kontroversen öffentlichen Debatten. Der Eindruck einer Dominanz von Meinungsverschiedenheiten auf diesem Gebiet ist das Resultat einer Art optischer Täuschung. Da wir das medizinische Handeln nur ausschnittweise "direkt" wahrnehmen, da wir es überwiegend durch die Berichterstattung in den Medien, durch die parlamentarischen Debatten und durch die einschlägige Literatur vermittelt bekommen, wird unser Blick einseitig auf die Kontroversen und Auseinandersetzungen gelenkt. Denn "natürlicherweise" beschäftigen sich die Medienberichterstattung, das Parlament oder die Literatur bestenfalls am Rande mit dem, was unstrittig, normal und selbstverständlich ist; ihr Fokus liegt auf den problematischen und kontroversen Fragen. Dass Hausärzte Blutdruck messen und Medikamente verschreiben, dass Chirurgen Knochenfrakturen richten und Tumoren entfernen, wird in der Regel nicht zum Gegenstand von Fernsehsendungen, von parlamentarischen Debatten oder von Aufsätzen in Fachzeitschriften; wohl aber die erstmalige Zeugung

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eines "Retortenbabys", ein illegaler Fall von Sterbehilfe oder ein neues Gesetz zur Organtransplantation. Diese Konzentration auf die neuen, schwierigen und kontroversen Fragen ist nichts, das zu kritisieren oder zu beklagen wäre. Aber sie darf die wirklichen Proportionen zwischen Konsens und Dissens nicht verstellen. Hinzu kommt, dass nicht alle Kontroversen ihren Ursprung in moralischen Differenzen haben. In vielen Fällen gehen sie auf unterschiedliche Beurteilungen der empirischen Sachlage zurück. Differenzen in deren Beurteilung treten besonders leicht dort auf, wo die relevanten Fakten in der Zukunft liegen. Dies ist bei der Einführung neuer biomedizinischer Technologien der Fall, und es kann nicht verwundern, dass bei der Frage nach den Folgen dieser Einführung Meinungsverschiedenheiten auftreten. Selbst wenn alle Beteiligten sich darüber einig sind, dass das Eintreten einer bestimmten Folge schlecht und ein Grund für die Ablehnung der betreffenden Technologie wäre, können sie stark abweichende Einschätzungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Folge haben. Es besteht dann ein moralischer Konsens bei empirischem Dissens, der aber als moralischer Dissens wahrgenommen wird. In der bioethischen Diskussion treten Differenzen dieser Art oft im Zusammenhang mit dem "slippery-slope-Argument" auf. So wird in der Debatte über die Sterbehilfe oft die Befürchtung vertreten, dass eine Zulassung von aktiven Tötungshandlungen unweigerlich zu einem Verlust von Vertrauen in die ärztliche Profession, zu einer generellen Relativierung des Lebensschutzes und am Ende zu einer schrankenlosen Beseitigung von Kranken und Behinderten führen werde. Es liegt auf der Hand, dass dieses Argument zu einer strikten Ablehnung jeglicher Form von Sterbehilfe führen muss, wenn man es für empirisch zutreffend hält. Auch diejenigen, die eine Sterbehilfe in begrenzten und klar definierten Fällen für zulässig halten, würden die befürchtete Entgrenzung von Tötungshandlungen ablehnen; insoweit besteht daher kein Dissens zu den Gegnern jeglicher Sterbehilfe. Der Dissens besteht darin, dass sie die befürchtete Entgrenzung für nicht zwingend und (die Stabilität demokratischer Verhältnisse vorausgesetzt) nicht einmal für wahrscheinlich halten. Zur Begründung können sie auf Beispiele früherer Gesellschaften verweisen, in denen die Tötung kranker oder behinderter Neugeborener zulässig war, ohne dass diese - über Jahrhunderte hinweg geübte - Praxis schrittweise ins Uferlose ausgeweitet worden wäre. Wenn sich die beiden Parteien in der zentralen moralischen Frage aber einig sind (denn beide lehnen eine extensive Tötungspraxis ab), wenn sich ihr Dissens auf Beurteilung und Gewichtung der relevanten Tatsachen und historischen Erfahrungen bezieht, dann kann ihre Kontroverse nicht als Indiz für eine moralische Krise gewertet werden. Es bleibt also festzuhalten, dass wir erstens mit dem Dissens leben und dass von einem Zusammenbruch der moralischen Verständigung keine Rede sein kann; dass wir zweitens nicht unter den Bedingungen eines totalen moralischen Dissenses leben, dass der Konsens den Dissens bei weitem überwiegt; und dass

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drittens nicht aller Dissens moralischer Natur ist. Doch diese notwendige Relati vierung darf natürlich nicht bis zur Leugnung von Kontroversen und Auseinandersetzungen getrieben werden. Wenngleich die Vision einer babylonischen Moralverwirrung übertrieben ist, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass in modernen Gesellschaften in wichtigen Fragen - darunter auch in Fragen von Leben und Tod - kein Konsens besteht.

B. Kann die Bioethik helfen? Eine erste Möglichkeit der Reaktion auf diese Lage könnte in einer Strategie des "Aussitzens" bestehen. Wenn wir - seit Jahrzehnten - mit dem Dissens leben, dann besteht möglicherweise gar kein Grund für das Bemühen um seine Beseitigung. Kann man nicht darauf hoffen, dass die erregten Kontroversen mit der Zeit "von selbst" abklingen und schließlich ganz verschwinden? Tatsächlich kennt die Geschichte der Medizin und der Medizinethik eine Reihe von Beispielen für ein solches Verschwinden. Eher kurios mutet es heute an, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts schwere Bedenken gegen die Einführung der Anästhesie in der Geburtshilfe vorgebracht wurden: In der Bibel spreche der Herr zum Weib "Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären" (Gen. 3, 16); die Linderung oder Beseitigung der Geburtsschmerzen widerspreche daher der göttlichen Naturordnung. Jüngere Beispiele für ein solches Abklingen von moralischen Diskussionen über medizinische Innovationen bieten die Anti-Baby-Pille und die In-vitro-Befruchtung. Die Gründe für ein solches Abklingen sind vielfältig. Sie liegen zum einen in der Klärung von zunächst strittigen Sachfragen: Führt die Anwendung der "Pille" zu einer schrankenlosen Promiskuität? Führt die Invitro-Befruchtung zu einer umfassenden Technisierung der menschlichen Fortpflanzung? Bestätigt haben sich solche Befürchtungen nicht. Zum zweiten tritt ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Medizintechnische Innovationen berühren uns tiefer und nachhaltiger als andere Neuerungen, gerade wenn sie den Anfang oder das Ende des menschlichen Lebens betreffen. Sie tangieren unser biologisches und kulturelles Selbstverständnis und werden daher häufig als eine moralische Provokation wahrgenommen; erst nach einem längeren Prozess der Gewöhnung werden sie akzeptiert und assimiliert. Doch sollten solche Beispiele nicht zu der Illusion verleiten, dass sich mit der Zeit alle Dissense in Konsense verwandeln werden. Zum einen gibt es Gegenbeispiele; man denke an die Abtreibung. Zum anderen ist zu bedenken, dass wir auch in Zukunft mit biotechnologischen Innovationen konfrontiert sein werden, die starke Herausforderungen für unser moralisches Selbstverständnis darstellen werden (z. B. die Möglichkeit der Klonierung von Menschen). Selbst wenn ältere Kontroversen abklingen, werden daher stets neue hinzukommen. Und schließlich ist es auch keineswegs ausgeschlossen, dass gefundene Konsense angesichts neuer Erfahrungen wieder in Frage gestellt werden; die Kontroverse um das Hirntod-Kriterium nach dem "Erlanger Fall" hat dies gezeigt. Auf das

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Aussitzen oder die "Spontanheilung" von moralischen Kontroversen zu vertrauen, wäre daher keine gute Strategie. Wir können uns die aktive Bearbeitung von Dissensen nicht ersparen. Eine solche aktive Bearbeitung schließt das Bemühen ein, die in solchen Kontroversen verwandten Begriffe zu klären und zu definieren, die von den verschiedenen Parteien vorgebrachten Gründe zu analysieren und zu gewichten sowie die (oft impliziten) Voraussetzungen und (verborgenen) Implikationen divergierender Überzeugungen und Theorien offen zu legen. Man kann hoffen, durch Klärungen dieser Art Missverständnisse auszuräumen, falschen Argumenten den Boden zu entziehen und damit zur rationalen Beilegung von Kontroversen beizutragen. So ist es sicher nicht gleichgültig, ob ein Dissens auf divergierenden moralischen Überzeugungen beruht oder auf unterschiedlichen Einschätzungen der empirischen Sachlage; im einen Fall wird man andere Wege zur Lösung des Konflikts einschlagen müssen als im anderen. In anderen Fällen trägt die Mehrdeutigkeit von Begriffen zur Entstehung oder Verhärtung von moralischen Auseinandersetzungen bei, so dass die Einführung von Unterscheidungen und die Präzisierung der Tenninologie zur Voraussetzung für ihre Beilegung wird. Kurzum: Mehr Rationalität in der moralischen Auseinandersetzung ist ein Weg - und vielleicht sogar der Weg - zu mehr Konsens in Fragen des medizinischen Handeins. In jedem Fall war diese Überzeugung von Beginn an grundlegend für die Bioethik. Sie entstand in den siebziger Jahren als eine philosophische Reaktion auf die technische Revolutionierung des medizinischen HandeIns unter den Bedingungen eines tiefen Wertewandels. Die traditionelle ärztliche Ethik gab keine hinreichende Orientierung mehr; neue Ansätze waren notwendig geworden, um die neuen Probleme zu lösen. Die Bioethik bildet daher keine neue und einheitliche "Richtung" des ethischen Denkens, sondern muss als eine Vielfalt von Bemühungen begriffen werden, die in einem bestimmten Bereich des menschlichen Handeins auftretenden moralischen Probleme zu durchdenken und zu lösen. Sie kann als der systematisch betriebene Versuch angesehen werden, durch rationale Analyse die Basis für die Lösung von moralischen Kontroversen zu schaffen und durch Argumente zur Erzeugung von Konsens in Fragen des medizinischen HandeIns beizutragen. Dieser starke Bezug auf Konsensbildung kommt besonders in jenen Teilen der Bioethik zum Tragen, die man die "institutionalisierte Bioethik,,2 nennen kann. Damit sind jene Aktivitäten gemeint, die über den Rahmen der akademischen Lehre und Forschung hinausreichen und sich in Ethik-Kommissionen und Beratungsgremien verschiedenster Art vollziehen. Auftrag und Ziel solcher Kommissionen oder Gremien ist die Erarbeitung von Stellungnahmen zu kon-

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Bayertz (1999).

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kreten Problemen, von Empfehlungen fur die Gesetzgebung oder von Richtlinien fur die medizinische Praxis. Typischerweise sind in ihnen die Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, Weltanschauungen und Professionen vertreten; sie sollen ein Spiegelbild der entsprechenden gesellschaftlichen Kräfte bilden, so dass der (innere) Konsens, den solche Kommissionen und Gremien im Idealfall erreichen, als Basis und Vorwegnahme eines die ganze Gesellschaft umfassenden Konsenses verstanden werden kann. Auch die theoretischen Konzepte und methodischen Strategien, die von der eher "akademischphilosophischen Bioethik" entwickelt wurden, lassen sich als Verfahren der Konsensbildung deuten. Dies gilt etwa fur jenen sehr einflussreichen Ansatz, der den Prinzipien der Autonomie, der Nichtschädigung, der Wohlfahrt und der Gerechtigkeit eine tragende Rolle zuweist. Im Hinblick auf solche "Prinzipien mittleren Allgemeinheitsgrades" scheint man noch am ehesten annehmen zu können, dass sie auch für ansonsten divergierende ethische Positionen akzeptabel sind, dass sie den Kern einer gemeinsamen "Minimalmoral" bilden und damit als Basis der Verständigung dienen können. So weit das Programm. Doch wie steht es um den tatsächlichen Erfolg? Hat die Bioethik zur Konsensbildung beigetragen? Die Antwort fällt zwiespältig aus. Auf der einen Seite hat sie (vor allem in ihren institutionalisierten Teilen) sicher in vielen Einzelfragen zur Lösung von Differenzen und zur Bildung von Konsens beigetragen. Ebenso sicher ist jedoch auf der anderen Seite, dass die zentralen Streitfragen durch sie nicht geschlichtet wurden. Von einer generellen Konvergenz der Überzeugungen kann keine Rede sein, und alle Hoffnungen, durch rationale Argumentation das Problem der Abtreibung, der Sterbehilfe oder des Hirntodes lösen zu können, haben sich als naiv erwiesen. Die Bäume des Konsenses wachsen eben nicht in den Himmel, und daran vermag auch die Bioethik nichts zu ändern. Konsens und Dissens liegen bisweilen nahe beieinander, und was als eine Übereinstimmung in der einen Hinsicht angesehen werden kann, erweist sich In anderer Hinsicht als Quelle von Kontroversen. Ein Beispiel dafur bietet die "Bioethik-Konvention" des Europarates von 1997. Sie kann als ein Beleg dafür angeführt werden, dass Konsense über schwierige bioethische Fragen auf internationaler Ebene möglich sind, auch wenn dies nur durch Kompromisse und durch das Ausklammern strittiger Fragen möglich war. Dass ein solcher diplomatischer Konsens jedoch keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, zeigen die starken Vorbehalte, die vor allem in Deutschland von Seiten einiger Gruppen gegen diese Konvention artikuliert wurden und werden. Was einerseits als ein Konsenserfolg der (institutionalisierten) Bioethik auf der internationalen Ebene erscheint, kann auf der nationalen Ebene zu neuen Kontroversen fuhren. Die Konstruktion einer allgemein akzeptierten medizinischen "Minimalmoral" ist der Bioethik also bisher nicht gelungen; und man wird kaum erwarten können, dass ihr dies in der Zukunft gelingen wird. Kann schon deshalb nicht

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pauschal von einer "Konsensbildung durch Bioethik" gesprochen werden, so ist sie selbst zum Auslöser und Gegenstand einer heftigen Kontroverse geworden. Als der australische Philosoph Peter Singer in mehreren Publikationen die Auffassung vertrat, dass die Tötung schwerstbehinderter Neugeborener mit unheilbaren Leiden zulässig sei, führte dies zu einem Aufschrei der Empörung (allerdings fast nur in deutschsprachigen Ländern). Im Zusammenhang der "SingerAffare" ist von einigen Autoren die gesamte Bioethik mit einer bestimmten Position identifiziert und als "technokratisch" oder "inhuman" abqualifiziert worden. Dies ist zwar sachlich ungerechtfertigt, jedoch insofern nicht verwunderlich, als der für die Bioethik grundlegende Anspruch, alle relevanten Überzeugungen einer rationalen und vorurteilsfreien Prüfung zu unterziehen und theoretisch in Frage zu stellen, auch für Überzeugungen gilt, die von vielen als unhinterfragbar angesehen werden (z. B. die Idee der Heiligkeit des menschlichen Lebens). Die Bioethik kann daher jenes Missverständnis provozieren, dem nach Arthur Schopenhauer jede philosophische Untersuchung des Fundaments der Moral ausgesetzt ist, nämlich "daß sie leicht für ein Unterwühlen desselben, welches den Sturz des Gebäudes nach sich ziehen könnte, gehalten wird,,3.

C. Der Konsens als Maß aller Dinge? Ist die Bioethik darum sinn- und nutzlos? Ist sie möglicherweise sogar kontraproduktiv? Wenn der Konsens das Maß aller Dinge ist, dann scheint eine positive Antwort unausweichlich zu sein. Um zu zeigen, dass dieser Schluss voreilig wäre, sind einige Überlegungen zum Begriff "Konsens" notwendig. Bisher wurde ja (implizit) unterstellt, dass erstens klar sei, was unter diesem Begriff zu verstehen ist, und dass zweitens, Konsens in jedem Fall erstrebenswert und positiv sei. Der Begriff ,,Konsens" wird naheliegenderweise als die "Übereinstimmung aller" definiert. Geht man von dieser Bestimmung aus, so dürfte es allerdings schwer fallen, überhaupt irgendeine auch nur einigermaßen komplexe Einsicht anzugeben, über die ein Konsens "aller" besteht. Selbst über die Grundgesetze der Physik besteht so lange keine Einigkeit, wie einige Außenseiter an der Konstruktion des Perpetuum mobile und der Widerlegung der Relativitätstheorie arbeiten. De facto verlangen wir daher meist auch keine vollständige Einigkeit aller, sondern sprechen von "Konsens" dann, wenn es in einer Frage keinen energischen öffentlichen Widerspruch relevanter Gruppen der Gesellschaft gibt. Eine solche Gleichsetzung von "Konsens" mit "Abwesenheit öffentlicher Kontroversen" ist aber keine ethische, sondern eine politische Bestimmung. Dieser Punkt ist von erheblicher Bedeutung; er leitet unmittelbar über zu der zweiten angekündigten Überlegung. 3 Schopenhauer

(1840), S. 464.

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Stellen wir uns eine Situation vor, in der es zu einer bestimmten Frage keine öffentliche Kontroverse gibt, allerdings ist dieser "Konsens" nicht das Resultat einer intensiven Diskussion, sondern Ausdruck mangelnder Kenntnis und Aufmerksamkeit (das Hirntod-Kriterium vor dem "Erlanger Fall" wäre ein Beispiel dafür). Die Frage ist nun: Kann ein solcher "Konsens" als erstrebenswert angesehen werden? Oder allgemeiner: Ist jede Übereinstimmung als solche bereits moralisch wertvoll, unabhängig davon, wie sie zu Stande gekommen ist und auf welcher Grundlage sie beruht? Die Bedeutung der Frage beruht darauf, dass sie die Selbstverständlichkeit in Frage stellt, mit der wir geneigt sind, Konsens (an sich) für gut - und Dissens (an sich) für schlecht - zu halten; und dass sie uns zwingt, über die Gründe und Bedingungen nachzudenken, die einen Konsens wertvoll machen. Ohne dies an dieser Stelle näher ausführen zu können, lassen sich drei Bedingungen angeben, die erflillt sein müssen, um einem Konsens moralischen Wert zusprechen zu können: Er muss erstens von informierten Individuen, zweitens auf der Basis von Gründen und drittens zwanglos und frei eingegangen worden sein. Damit sind wir bei einer Schlüsselfrage angelangt. Wenn Konsense ihre moralische Autorität erst auf der Basis dieser Bedingungen erlangen, stellen sich Situationen moderner Gesellschaften in einem anderen Licht dar. Die Rede von einer "moralischen Krise der Gegenwart" lebt von der Kontrastierung der babylonischen Moralverwirrung unserer Zeit mit einer heilen Welt moralischer Einmütigkeit vergangener Jahrhunderte. Zu einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit besteht aber bei nüchterner Betrachtung kein Grund. Zum einen ist es höchst fragwürdig, ob in früheren Zeiten tatsächlich eine übergreifende Einhelligkeit in moralischen Fragen geherrscht hat. Das historische Schrifttum von der Antike bis in die Gegenwart zeigt bei genauerem Studium ein differenzierteres Bild; und die opferreichen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts sollten jegliche Illusion über die Einmütigkeit in weltanschaulichen und moralischen Fragen zerstören. Zum zweiten muss gefragt werden, wie die größere Einhelligkeit - so weit sie tatsächlich bestand - zu Stande gekommen ist. War sie das Ergebnis einer breiten und offenen Diskussion über die entsprechenden Probleme, waren die beteiligten Individuen gut informiert und konnten sie ohne Angst vor Repressalien zustimmen oder ablehnen? Man muss kein Historiker sein, um zu wissen, dass diese Bedingungen in der Regel nicht erfüllt waren. Sofern es überhaupt offene Diskussionen über entsprechende Fragen gab, waren es in der Regel winzige Eliten, die sich artikulieren konnten; die politischen Machtverhältnisse und religiöser Dogmatismus setzten dem, was diskutierbar war, enge Grenzen. Mit einem Wort: Die "Konsense" der Vergangenheit waren häufig das Resultat von Alternativlosigkeit und Zwang. Anders gesagt: In historischer Perspektive erweisen sich die Kontroversen und Dissense, mit denen wir heute leben (müssen), zunächst und in erster Linie als ein Ausdruck gewachsener Freiheit. Unsere Vorfahren haben in langen und

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harten Auseinandersetzungen für die Möglichkeit kämpfen müssen, über religiöse, politische und moralische Fragen offen debattieren und ohne Angst vor Repression von der Mehrheitsmeinung abweichen zu können. Und bis heute konnte diese Freiheit nur in einem Teil der Welt verwirklicht werden; in dem anderen (größeren) Teil der Welt, ist der Raum für Dissens und Kontroverse nach wie vor eng. Warum sollen wir diese Möglichkeit zum Dissens als eine "Krise" ansehen statt als eine Errungenschaft? Wer den religiösen Pluralismus angreift, gilt (zu Recht) als dogmatisch oder fundamentalistisch; wer den politischen Pluralismus angreift, gilt (zu Recht) als totalitär. Warum soll im Hinblick auf die Moral etwas anderes gelten? Warum soll der Pluralismus hier etwas sein, das überwunden werden muss, während wir ihn im Bereich von Religion und Politik so hochschätzen? Im zweiten Teil seines berühmten Buches Die Menschenrechte schrieb Thomas Paine über die Religion: "Ich glaube nicht, daß zwei Menschen über so genannte Glaubensfragen gleich denken, wenn sie überhaupt denken.,,4 Nur diejenigen, die nie gedacht haben, scheinen übereinzustimmen. Wahrscheinlich ist dieser Satz übertrieben. Denn warum soll man durch Denken nicht zu übereinstimmenden Resultaten - sei es in Fragen des Glaubens oder in Fragen der Moral - kommen können? Doch zumindest insoweit wird man Paine zustimmen können, dass Nachdenken keine Übereinstimmung garantiert. Die Existenz moralischer Differenzen muss daher auch nicht notwendigerweise als Ausdruck von Irrationalität angesehen werden: Innerhalb der Grenzen der Rationalität bleibt, ebenso wie innerhalb der Grenzen der Moral, Raum für Differenzen. Von den Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, möchte ich eine hervorheben. Wenn der Konsens nicht das Maß aller Dinge ist, kann das Unvermögen der Bioethik zur Herstellung umfassender und allgemeiner Konsense nicht als ein Einwand gegen sie akzeptiert werden. Zum einen weil der Konsens nicht mehr als Wert an sich vergöttert werden muss. Zum anderen weil nicht mehr nur die Lösung eines Dissenses als Erfolg der bioethischen Analyse gelten kann: Auch die Klärung und Offenlegung der Grundlagen eines solchen Dissenses sowie der Nachweis seiner Unüberwindbarkeit durch rationale Argumentation kann nun als ein Beitrag zur moralischen Kommunikation gewertet werden. Denn wenn wir gesehen haben, dass eine von der unseren abweichende Auffassung rational vertretbar ist, haben wir einen guten Grund, sie zu respektieren und zu achten.

D. Die Freiheit - und ihre Kosten Unter den Bedingungen des moralischen Pluralismus erweist sich die Individualisierung von Entscheidungen als die angemessene Art der Lösung von Auf4

Paine (1792), S. 390.

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fassungs- und Bewertungsdifferenzen. Mit ihr wird ein Urteil über die Richtigkeit konkurrierender Bewertungen vermieden, und es bleibt den jeweiligen Personen überlassen, die für sie richtige Option zu wählen. Dies ist der Weg, der beispielsweise im Hinblick auf die bis heute umstrittene Technik der medikamentösen Kontrazeption beschritten wurde. Ein Konsens zwischen denen, die die "Pille" moralisch ablehnen, und denen, die sie rur akzeptabel halten, hat sich nicht herstellen lassen. Die Individualisierung ermöglicht den Frauen, die dies wünschen, die "Pille" zu nehmen, ohne dass dadurch die anderen zu derselben Handlung gezwungen wären. Dasselbe gilt für viele andere Optionen, die uns die moderne Medizin eröffnet. Im Hinblick auf die moderne Reproduktionstechnologie fordert Engelhardt für die eine Seite die Freiheit, diese Optionen zu nutzen, für die andere Seite die Freiheit, jede solche Nutzung öffentlich zu verdammen: "In Ennangelung der Möglichkeit zu einem konkreten Konsens im Hinblick auf die moralische Bedeutung der Reproduktionstechnologien beim Menschen, sollte man die Freiheit haben, nach eigenem Gutdünken zur Hölle zu fahren und diejenigen zu verdammen, die auf dem Weg dorthin zu sein scheinen."s

Nun ist diese Lösung nicht in allen Fällen angemessen. Obwohl seit langem energisch gefordert, hat es der Gesetzgeber bisher abgelehnt, auch den Schwangerschaftsabbruch auf ähnliche Weise ins Belieben jeder Frau zu stellen wie die Einnahme der "Pille". Der sachliche Grund dafür besteht darin, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht nur die betreffende Frau unmittelbar betrifft, sondern auch den Fötus. Handlungen zu Lasten Dritter können nicht auf dieselbe Weise individualisiert werden wie Handlungen, die keine direkten Konsequenzen für andere haben. Die heute gültige gesetzliche Regelung beruht daher auf einer etwas anderen, aber nicht grundsätzlich verschiedenen Lösung: Ein Schwangerschaftsabbruch bleibt straffrei, wenn er im Rahmen eines bestimmten Verfahrens (vor allem: "Schwangerschaftskonfliktberatung") durchgeführt wird. Eine solche Prozeduralisierung ist auch als Lösungsstrategie für andere kontroverse Probleme vorstellbar, etwa für das Problem der Sterbehilfe. Schon heute lässt das in Deutschland geltende Recht eine Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen zu, sofern dabei bestimmte Kriterien beachtet und bestimmte Verfahrensvorschriften (die vor allem der Ermittlung des Willens des Sterbenden gelten) eingehalten werden. Der entscheidende Vorzug der Individualisierungs- und Prozeduralisierungsstrategie besteht offenkundig darin, dass sie den beteiligten Personen die Möglichkeit eröffnet, eine Entscheidung ihrer Wahl zu treffen. Übersehen werden darf dabei aber nicht, dass sie ihnen damit zugleich auch die Last der Ent-

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Engelhardt (1996), S. 57f.

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scheidung aufbürdet. Die triviale Lebensweisheit "Wer die Wahl hat, hat die Qual!" kann gerade auf dem Gebiet des medizinischen Handeins ihre höchst unwillkommene Bestätigung finden. Manches deutet darauf hin, dass es nicht wenigen Patienten schwer fällt, eine angemessene und kompetente Wahl zwischen den zur Verfügung stehenden medizinischen Optionen zu fällen. Und bisweilen wird schon die Existenz der Wahlmöglichkeit selbst als eine Belastung empfunden. Dies zeigen beispielsweise die Erfahrungen, die in den USA mit Patientenverfügungen gemacht wurden. Seit 1991 sind hier staatliche und staatlich geförderte Krankenhäuser verpflichtet, ihre Patienten bei der Aufnahme nach eventuell bestehenden schriftlichen Willensäußerungen zu fragen, in denen sie für oder gegen die Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen optieren können. Aus der relativ begrenzten Zahl von Patienten, die eine solche Verfügung schriftlich fixieren, kann geschlossen werden, dass viele es als eine Zumutung empfinden, auf diese Weise über die Umstände des eigenen Todes mitbestimmen zu können (und damit in gewissem Sinne: zu sollen). Zugleich scheinen auch viele Ärzte Schwierigkeiten mit den dafür notwendigen Gesprächen und Entscheidungen zu haben. 6 Hier deutet sich an, "dass wir, die sonst aus allen möglichen anderen Anlässen so selbstbestimmt auf die Durchsetzung unseres Willens pochen, auf die Festlegung von Wünschen und Erwartungen, die unsere menschliche Betreuung und medizinische Versorgung am Ende unseres Lebens leiten sollen, verzichten.,,7

Die größer werdenden individuellen Entscheidungsmöglichkeiten sind offenbar nicht nur und in jeder Hinsicht ein Segen. Der mit ihnen verbundene Freiheitsgewinn wird erkauft durch eine wachsende Belastung und Verantwortung. Wo man sich früher einem unbeeinflussbaren Schicksal ausgeliefert sah und/oder den vorgegebenen Gleisen einer verbindlichen Allgemeinmoral folgen musste, kann (und muss) jedes Individuum heute in zunehmendem Maße selbst wählen und damit Verantwortung übernehmen. Gerade im Bereich des medizinischen Handeins, wo es um Fragen von Leben und Tod geht, sind nicht alle darauf hinreichend vorbereitet: weder im Hinblick auf die dafür notwendigen Informationen noch im Hinblick auf die emotionale Kraft, die dies erfordert. Ein zweites Problem ergibt sich daraus, dass die Lösung moralischer Probleme durch Individualisierung und Prozeduralisierung darauf hinausläuft, die Entscheidung ins "Belieben" der Individuen zu stellen; damit werden Handlungen für moralisch akzeptabel erklärt, die in den Augen anderer eben nicht akzeptabel sind. Einmal mehr kann der Schwangerschaftsabbruch als drastisches 6

V gl. Silvermann/Lanken (1996).

7

Sass/Kielstein (200 I), S. 10.

3 Baumann u.

3.

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Beispiel dienen. Die gegenwärtige Regelung mutet es einem Teil der Bevölkerung zu, in einer Umgebung zu leben, die eine Art von "Massenmord" an Unschuldigen zulässt. Und sie mutet zugleich den ungewollt Schwangeren zu, sich einer Zwangsberatung zu unterziehen, die ihnen die Kompetenz abspricht, autonom über ihr Leben und ihren Körper zu entscheiden. Die Individualisierung überwindet den moralischen Dissens ja nicht, sondern bekräftigt ihn und fordert von den Individuen ein Maß an Toleranz, das nicht immer leicht aufzubringen ist. Es besteht kein Grund, das Leben in und mit moralischer Verschiedenheit zur Idylle zu verklären; es ist immer auch eine Zumutung. Damit ist ein drittes Problemfeld angesprochen. Je tiefer und vielfältiger der Dissens in der Gesellschaft wird und je schwerer es wird, die für das Zusammenleben notwendige Toleranz tatsächlich aufzubringen, desto stärker wird die fundamentalistische Versuchung. Nur zu viele Erfahrungen - aus Vergangenheit und Gegenwart - bestätigen die Befürchtung, dass der Anschein moralischer Beliebigkeit und das Schwinden von (vermeintlichen) moralischen Gewissheiten die Neigung zu dogmatischen Lösungen wachsen lässt. Die bioethische Diskussion macht hier keine Ausnahme; über die Grenzen der Toleranz auf diesem Gebiet wird besonders heftig gestritten. 8 An die Stelle der sorgsamen und alle involvierten Interessen abwägenden Prüfung einzelner Handlungsoptionen tritt nur allzu leicht die vorschnelle Postulierung "absoluter Grenzen" der Machbarkeit. In Deutschland segeln solche Positionen bisweilen unter der Flagge eines Menschenwürde-Begriffs, der den Eindruck erwecken soll, als stünde von vornherein und für alle Zeiten fest, was mit der Menschenwürde vereinbar ist und was nicht. Doch die begreifliche Sehnsucht nach moralischer Gewissheit darf nicht vergessen machen, dass diese in vielen Fällen nur noch als individuelle erreichbar sein wird; dass wir die moralische Gewissheit oft nur mit einer beschränkten Zahl Gleichgesinnter teilen können; und vor allem: dass uns die Sehnsucht nach ihr nicht dazu verleiten darf, unsere Gewissheit anderen aufzuzwingen.

E. Schlussbemerkungen Im Fazit der hier skizzierten Überlegungen wird die in der Überschrift gestellte Frage positiv beantwortet: Ja, wir können mit dem Dissens in bioethischen Fragen leben. Allerdings wird sich ein solches Fazit mit diesem Befund nicht zufrieden geben, sondern zugleich die Widersprüchlichkeit und Unübersichtlichkeit der heutigen Situation hervorhoben. Die folgenden vier Thesen sollen diese Ambivalenz andeuten:

8

V gl. die kontroversen Beiträge in Birnbacher (2000).

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1. Obwohl ein allumfassender moralischer Konsens im Hinblick auf das medizinische Handeln ebenso weit entfernt ist wie im Hinblick auf die meisten übrigen komplexen ethischen Probleme und obwohl alles dafur spricht, dass dies keine vorübergehende Erscheinung ist, kann von einer "babylonischen Moralverwirrung" keine Rede sein. Der Eindruck einer vollständigen Zerklüftung der moralischen Landschaft ist falsch; es gibt auch unter den Bedingungen der Modeme mehr Konsens als Dissens. 2. Die pauschale Rede von einer "moralischen Krise" ist verfehlt: Zum einen weil sie auf einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit beruht; zum anderen weil sie die individuellen Freiheitsgewinne unterschlägt, die die Modeme eröffnet hat. Die Möglichkeit des Dissenses ist daher in erster Linie als eine Errungenschaft zu bewerten. Freilich wird man auch hier die Ambivalenz nicht übersehen dürfen. Der Zuwachs an individueller Freiheit hat seinen Preis. Er bürdet den Individuen einen Zwang zur Entscheidung auf und belastet sie mit Toleranzanforderungen, die oft nur schwer zu erfullen sind. Der Rückzug auf den Fundamentalismus ist die Reaktion derer, die sich der Freiheit und ihren Lasten nicht gewachsen fuhlen. Der fundamentalistischen Versuchung entgegenzutreten, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Bioethik. 3. Mehr Konsens wäre daher in mancher Hinsicht wünschenswert: Nicht weil Konsens dem Dissens an sich und in jeder Hinsicht überlegen wäre, sondern weil ein Leben unter den Bedingungen moralischer Einmütigkeit oft einfacher und komfortabler ist. Doch es gibt offenbar keine Patentrezepte zur Erzeugung moralischer Harmonie. Auch die Bioethik bietet keinen Königsweg in den Konsens. Dies ist kein Mangel. Wenn man die Verschiedenheit von Lebenszielen anerkennt und die individuelle Selbstbestimmung fur einen Wert hält, dann sollte man es nicht fur eine Katastrophe halten, wenn die Individuen auch in "Fragen von Leben und Tod" zu unterschiedlichen Auffassungen gelangen. 4. Es gibt keinen Grund, in der Akzeptanz von moralischem Dissens eine Kapitulation der (Bio-)Ethik zu sehen oder einen Relativismus, der zur Beliebigkeit fuhrt. Diese Anerkennung muss vielmehr als Resultat einer starken moralischen Wertung begriffen werden: Es gibt keine "höheren" Werte als die Autonomie der Individuen.

Literaturverzeichnis Bayertz, Kurt: Moral als Konstruktion. Zur Selbstaufklärung der angewandten Ethik, in: Angewandte Ethik. Hg. von Peter Kampits/Anja Weiberg, 1999, Wien, S. 73-89. Birnbacher, Dieter (Hg.): Bioethik als Tabu? Toleranz und ihre Grenzen, 2000, Münster. .1*

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Kurt Bayertz

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Common Morality and Human Finitude: A Foundation for Bioethics Robert M Veatch Hans-Martin Sass has been my friend and colleague at the Kennedy Institute of Ethics for more than two decades. During that time I have learned a great deal from hirn about international comparative medical ethics, especially during the years that we collaborated with Rihito Kimura in a study of advance directives and surrogate decision-making. He has not only pioneered in the development of bioethics research in Germany, but been a leader in international scholarship in the field of applied ethics, especially on matters related to terminal illness decision-making I and the definition of death. 2 His innovative work with Rita Kielstein in the use of stories to assess patient desires about terminal care has been pioneering work in the ethics of death and dying from which people of many cultures have learned. 3 As a scholar working on international comparisons of advance directives, Professor Sass has shed light on both the similarities and differences across cultures of the patterns of patient and surrogate decisions about how to face the moments at the end-of-life. There is a universal inclination that life - at least human life - is good and is to be preserved. Some slogans of professional medical ethics have summarized that "the duty of the physician is to preserve life". Unless there is some good reason to act otherwise, we are naturally inclined and morally obliged to see that critically ill people's lives are preserved. At the same time from Professor Sass's research, particularly the Volkswagen project studying German, American, and Japanese approaches to involving patients and families in end-of-life decisions, it is clear that different people in different cultural settings have significantly different orientations. Their cultural values lead them to strive to protect patients from the psychological trauma of explicit discussion of bleak prognoses or militantly demand that the patient has the right to be in charge of his or her own medical care. The Volkswagen

I

Sass (1998), Sass et al. (1996).

2

Sass (1989).

3

Sass/Kielstein (1997), Kielstein/Sass (1993).

38

Robert M. Veatch

project on "Advance Directives and Surrogate Decision-Making in Transcultural Perspective" revealed dominant Japanese values that view the family and the health professional as part of a social network that interacts with the patient and protects the patient from overt and explicit discussion of terminal care. It could be said that it might even be perceived to be one's moral duty to protect the patient from explicit, overt discussion of his terminal illness. By contrast American cultural values have shifted from a physician paternalism of the midtwentieth century that bound the physician with a Hippocratic duty to protect the patient from bad news to a more patient's-rights-oriented milieu in which it is both legally and ethically wrong to fail to inform the patient of a terminal illness no matter how traumatic that may be. Professor Sass's work with his German colleagues on the uniqueness of the German culture's response to terminal illness makes clear that Germany, in some sense, presents an intermediate case more paternalistic and authoritarian than the American, but less willing to hide reality from the patient than the Japanese. Thus Professor Sass, in his own work, presents a dilemma that is becoming critical in international comparative medical ethics. Humans simultaneously affirm a belief in a universal foundation for morality - that there is a single moral standard for all people - and that there are obvious cultural differences on matters such as what to tell dying patients.

A. The Concept of a Common Morality Recent developments in medical ethics have revealed considerable interest in the concept of a "common morality".4 This work claims that there are common "pre-theoretical" insights - moraliaws, rules, feelings, intuitions, or perceptions of maxims - that are shared by peoples throughout the world. Evidence for this claim is gleaned from commonly shared judgments that certain behaviors such as killing, harming, and lying, are morally wrong. Others cite universally agreed upon rights that are "self-evident" or otherwise known to all (giving rise to a world-wide acceptance of a Universal Declaration of Human Rights). The insight currently being discussed in terms of a "common morality" (or something closely related to it) has in previous generations been referred to in other terms. In general, we are referring to a group of moral theories that have dominated ethics over the centuries. This group of theories is referred to as manifesting universalism. Universalists hold that there is a single source or foundation for morality. That grounding is knowable to all and applies to all. Thus any religiously grounded theory of ethics that presumes a monotheistic

4 Donagan (1977), pp. 6, 37, 60-65, and especially pp. 210-243; Beauchamp/ Chi/dress (1994), pp. 1, 3, 16-17; Gert et al. (1997), pp. 5-6, 100-102.

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39

religion is universalist. If there is one God and that God is the source or foundation of moral judgment, then an persons ought to share a single common morality.

B. Distinguishing Legalism from Universalism I.

UniversaIism

The claim is not that an people in an cultures must always act in the same way in order for their conduct to be ethical. We must immediately separate legalism from universalism. Universalism is the metaethical position that there is a single source or grounding of an ethical judgment. That is, in a particular case described with an its uniqueness and specificity with an its cultural, factual, and historical context, an observers ought to reach the same moral conclusion. They ought to do so because they an ought to be testing their moral intuitions against the same standard. For example, monotheists might hold that "X is right" means "X is approved by God" (or perhaps "X is in ac cord with God's will"). If someone is thinking about a specific case and concludes a particular behavior is morally required, he is, in effect, concluding that God would approve or the behavior ought to be seen as being in accord with God's will. Someone else thinking about exactly the same case (say, a particular physician's decision to lie to a particular patient in a particular city on a particular day), ought to reach the same conclusion because an people are trying (according to the monotheist) to state what God approves or will's. If a New Yorker says 01 a partieular decision in a partieular ease that the physician was wrong and a Muskovite says that this same physician in the same case was right, according to a universalist, one of them must be wrong. Even God cannot simultaneously approve and disapprove ofthis physician's action.

11. LegaIism By contrast legalism is a position related to the question of how rigidly rules or other norms can be applied across a group of cases. Legalism lives on the end of the continuum that applies rules rigidly. According to a legal ist, the rule "Iying is wrong" means Iying is always wrong in all circumstances. One may simultaneously be a universalist and militantly reject legalism. One may hold that all ought to agree that the particular physician's particular lie was wrong, while simultaneously holding that there can be no rigid rule against Iying in an circumstances. Some lies might be wrong, others right. The focus of this paper is on universalism, not legalism. Not all universalists ground their ethics religiously. Most secular moral theories have been universal ist as weil. Kantianism grounds moral judgment in reason. Insofar as the rules of reason are the same for everyone in all cultures, then Kantianism is universal. Likewise, Stoic natural law theory is universalist. As-

40

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suming the moral laws of nature are the same for everyone, those laws should lead to universal agreement on whether (a particular case of) birth control or euthanasia is moral. Many empiricist ethical systems are similarly universalist. The Scottish enlightenment's notion of moral sense was such that all looking at a particular situation ought to have sensory impressions that would lead them to the same judgment. Insofar as there is something (call it a "moral force") in the environment that causes us to perceive immorality, that force should produce the same impact on all who observe it (unless they have faulty sense perceptions). Thus, whether one is a religious monotheist or a secular moral philosopher with rationalist, naturallaw, or empiricist leanings, there is a common presumption of a universal foundation for moral judgment. III.ltelativis~

By contrast, relativism (when the term is used in the metaethical sense) holds that there is more than one source or foundation for moral judgments. That foundation may be one's culture ("X is right" means "X is approved by the speaker's culture") or one's personal preferences ("X is right" means "X is in accord with the speaker's personal preferences"). This is not the place to re-examine the conflict between universalist and relativist theories of ethics or medical ethics. Rather I want to assume that many of us, indeed most of us, have at least some sympathy with the universalist position. The real problem is that many of us who share universalist inclinations also recognize that there are conspicuous and radical differences in moral judgments from one culture to the next. I want to connect this problem to the "common morality" thesis.

C. Universalism and the Common Morality Thesis I. The

E~pirical Clai~

The first challenge to universalism in ethics generally and to the common morality specifically is an empirical one. That challenge is revealed in the empirical work done by Professor Sass and his team when they compared transculturally practices and values regarding advance directives and surrogate decisionmaking. The obvious fact in those studies was that different people in different cultures seemed to hold very different views about the role of patients, family, and health professionals in terminal illness decisions and what is morally appropriate behavior. While those empirical claims are sometimes seen as areal challenge to universalism, especially by anthropologists and other social scientists, whether they

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are sufficient to defeat the common morality thesis and related universalist metaethics requires much more work. 1. Assuring that Differing Cultural Judgments Refer to the Same Nonmoral Facts

In order for these empirical data to defeat the common morality claim one would first have to make sure that the commentators in different cultures are referring to the same moral scene. It is not sufficient to show that Japanese physicians favor withholding diagnoses from patients5 while American physicians (in the twenty-first century) gene rally favor telling. 6 It is sometimes very difficult to establish that apparent moral disagreements across culture are really moral disagreements rather than disagreements grounded in different perceptions of nonmoral facts. It could be that the factual situations envisioned by ob servers in the two cultures were significantly different. One may believe that the patient was suicidal and would commit suicide if told his diagnosis while the other may not hold those beliefs. Similarly, the cultural facts could be such that suicide was treated very differently in the two cultures - tolerated in one and leading to familial ostracism in the other. It is critical that the judges from the two cultures are referring to the same nonmoral facts. 2. Assuring that the Facts Are Understood Similarly

Even if they envision the same facts, it could be that their understanding of those facts was significantly different. One may believe that suicide is painful and would lead to a miserable afterlife while the other believed that it was neither painful nor guaranteed to lead to a bad future.

11. The Possibility of Real Moral Disagreement: Cross-culturally Most defenders of the common morality thesis and related universalist ethical theories do not deny that, even after work has been done to establish that the representatives of two cultures are working with the same nonmoral facts and interpret those facts similarly, there may nevertheless be moral disagreements about a specific case. The claim is not necessarily that people across cultures in fact agree on their moral judgments. At least among the more sophisticated defenders of the view, the claim is that they would agree if they reflected on their judgments, applied common norrns of logic, consistency, and noncontradiction, and got to what is called "considered moral judgments,,7.

5

Ohi (1998).

6

Lynn/Teno (1998).

7

Rawls (1971), pp. 47ff.

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D. The Refined Common Morality Thesis Any reasonable thesis defending the claim that there is a common morality will have to refine that claim to limit it to the claim that "reasonable people" share a set ofpre-theoretical moral insights - or would share them ifthey developed a set 0/ considered moral judgments.

I. The Reasonable People Limit The first qualification of the common morality thesis that it is all "reasonable people" who agree to a set of common moral insights. There can be no doubt that there are scoundrels in the world totally outside the pale of the common morality. Infamous political figures - Hitler, Stalin, or Bull Connor - come to mind. These can be deemed to be unreasonable deviants who do not share a set of common moral precepts. Likewise, any number of less famous social deviants do not share in the perception of a common morality. These can be written out ofthe consensus as being unreasonable deviants. But that, of course, raises a problem of circular reasoning. If every person who deviates from the consensus common morality is labeled "unreasonable", then it follows that all reasonable people agree to the common precepts. This risk of circularity means further work must be done. It is necessary to define what constitutes a "reasonable person". If "unreasonable" is defined without reference to whether someone shares in the common moral consensus, then it becomes an empirical quest ion whether all reasonable people agree or would agree. It seems more appropriate to say that "almost all reasonable people agree or would agree to the claim that there is a common morality". This claim becomes more plausible - but more difficult to confirm - if one claims that almost all reasonable people would agree if certain standard assessments were made to adjust and fine tune their naive moral insights so that they became considered moral judgments.

Reasonable people should exercise reason. That means they should conform to certain minimal standards for rationality: conform to the law of noncontradiction, strive to base judgments on well-formulated statements of the nonmoral facts, and the like.

11. The Ideal Observer Limit The empiricist tradition has used a somewhat different metaphor for conceptualizing basic moral knowledge. Since the eighteenth century, moral philosophers have held that the human possesses a "moral sense" that permits percep-

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tion in a manner analogous to the physical senses - sight, sound, smell, touch, and so forth. g Related to this Scottish empiricist tradition is a school of thought referred to as "common sense", which held that certain truths were self-evident and available to every person. 9 There is controversy over whether the twenty-first century "common morality" thesis has this Scottish "common sense" theory as its progenitoT. Regardless of the outcome of that historical debate, the empirieist tradition has often supported the conclusions of the defenders of the common morality thesis. Insofar as humans share a certain capacity to perceive moral oughtness, it seems plausible that they would, at least in principle, share a set of common moral insights. The empiricist tradition has, however, also recognized that human perception - moral or physical - is limited, fallible, and subject to easy error. For this reason, most sophisticated empirieist theories have taken into ac count the risk of such erroT. Humans using powers of observation have perceived the earth to be flat and members of certain racial groups to be inferior. Gestalt psychology has supported many careers of researchers studying the ways in which people systematically make errors in perception and generalizations based on inadequate knowledge. To take this into account, moral theorists contras ted limited, finite, normal human observers with what Roderick Firth has called an "ideal observer"lO. Others, inc1uding C. D. Broad ll , have made similar proposals to establish conditions for refining empirical observation as a method in moral epistemology. Firth's ideal ob server theory readily admits that normal fallible humans are capable of error, in fact, inevitably are doomed to some degree of error in observation. lust as modem philosophy of science acknowledges that human scientific ob servers are fallible, so Firth acknowledges similar observational fallibility in the moral sciences. He claims, however, that the limited fallible knowledge of normal human ob servers would, if we lived in the perfeet world of "ideal" ob servers, lead to the proper knowledge of morals. In more recent terminology, there would be a common pre-theoretical set of moral perceptions shared universally by all observers using the moral scene if only the observers met Firth's conditions for being idealobservers. Those conditions are that the ob server, according to Firth, would be ornniscient (would know all the relevant non-ethical facts), ornnipercipient (would visualize all the relevant conse-

8

For example, Hutcheson (1971 [1728]).

9

Reid (1764).

10

Firth (1952).

11

Broad (J 944-45).

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quences), disinterested, dispassionate, consistent, but, in other respects, be like a normal human. Firth holds that the closer we can come to possessing these characteristics the closer we would come to correctly perceiving moral obligation and that anyone who fully possessed these characteristics would fully perceive insights correctly.

E. The Problem of Human Fallibility The recognition that human fallibility influences the ability of a community to generate knowledge of a common morality poses a serious problem. If irrationality or flawed sense perception leaves all human observers with less than perfect knowledge in morality, the purely theoretical claim that all perfectly rational or ideally observing agents at any place in the world at any time in human history see the same moral imperatives would seem to carry very little weight. We could be reduced to what is sometimes called epistemological relativism, that is, the position that, regardless ofwhether there is a single, universal set of moral norms, it is impossible for real-life humans ever to know what that universal set ofnorms iso Unfortunately, this skepticism about moral knowledge has sometimes led to confusion. Sometimes people have drifted from a claim that one can never know with certainty what the universal norms are to the much different claim that there are not such norms. This, of course, is a serious mistake. It may weIl be that, even though we cannot rely on human observation to come to agreement on a single set of norms, we share a belief that there nevertheless is such a single, if not perfectly knowable, set of norms. The situation suggests a rather precise analogy with epistemology in the natural sciences. It is well-recognized and generally conceded that all human scientific observers are fallible. They are influenced by inadequate knowledge, inadequate imagination, and inadequate reasoning to describe what they see in a biased and distorted way. It is not that they intentionally express bias and distortion. That, of course, happens, but even in cases in which scientists have integrity and try to avoid bias, they will still inevitably make observational, descriptive, and theoretical mistakes. In the sciences, we have come to expect that any scientific account will be finite and subject substantial, inevitable error. Nevertheless, in traditional realist accounts, philosophers of science held that, even though any specific account will be fallible, there is nevertheless a shared belief that there is a "factually correct" account of, for example, the law of gravity. In the sciences a recognition of human fallibility has been seen as compatible with a belief that there is a single, definitively correct account of scientific phenomena toward which fallible, imperfect accounts strive.

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In morality, a similar compatibility might be presumed. lt might be that various cultural accounts of moral perceptions are recognized as fallible and imperfect, but that all those who formulate such ac counts share the belief that there is nevertheless a single answer to the question, "What are the moral norms?" That position is significantly different from the view that there is no definitive account because there is no such thing as a single, universal set of norms. This formulation leaves us with many culturally specific finite accounts of moral intuitions, each of which is finite. The holders of each such position, however, may share a common belief that, in principle, there is only one single moral system, one set of norms that is definitive for all people and all times (even though the application of these norms may be shaped by the unique facts of the time and place of the various cultures). The defenders of the common morality thesis may merely be claiming that all share a set of moral perceptions yielding moral norms imperfectly perceived and imperfectly described. This is compatible with the belief that, if agents were perfectly rational or were idealobservers, they would all reason to the same norms or see the same thing therefore giving a common account ofwhat they see. The situation in the sciences and in ethics is not dissimilar to the situation of Professor Sass's Protestant German culture: it combined a rigorous belief in a single, all-powerful deity with a profound sense of human finitude leaving the human community with great skepticism about religious authority while simultaneously aggressively affirming a single divine source of morality. A recognition of human finitude leaves one simultaneously affirming a single universal moral authority and a deep sense of human inability to know the content of that moral authority in a definitive way. The impact on cross-cultural ethics is critica!. We can simultaneously affirm a common morality and show respect of the differences in those cultures that do not share our own moral perception. Human finitude requires respect for the moral views of others without surrendering one's conviction that there is a single, universal foundation for morality. The result is a pluralism of ethics side-by-side with a conviction in a universal common morality.

F. Common Morality in the Post-Modern Era This is where universalists might find themselves at the end of the modem era in wh ich there is a widespread belief - in both science and ethics - that there is some factual basis for holding that there is a single definitively correct account (of a scientific theory or a set of moral perceptions as the case may be) while there are many sometimes conflicting, fallible accounts generated in many cultures that seem like they are different.

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lt is widely observed, however, that we are moving beyond the modem era to a "post-modem" or "contemporary" period in which realist accounts in science and ethics are being challenged. 12 This literature has been very influential in philosophy of science. 13 A central theme of this movement is that accounts of reality are "socially constructed,,14 and that language as well as the conceptual apparatus available in different cultures necessarily means that different accounts coming from ob servers in different cultures will be "incommensurable,,15.

The dominant interpretation of this post-modem philosophy of science with its theory of social construction and incommensurability has been relativist. Post-modem philosophers of science have rejected the modem view that, while each attempt at a scientific theory is fallible, older ac counts get replaced with newer, more sophisticated and complex accounts that are more inclusive and closer approximations of the true account of the real world. This evolutionary account of scientific progress is replaced with an account that has a pluralist, relativist tone. There are many different accounts coming from many different cultural periods, but the newer accounts that replace the older ones are not necessarily better or more true; they are merely different. This same movement when it turns to ethics has also had a relativ ist appearance. Ethical accounts, like scientific ones, coming from different cultures are inevitably different. They use different perceptions, different, concepts, and different language to describe different moral worlds. There are, to use the Kuhnian term, many Weltanschauungen, many world views, that simply provide different ac counts with no possibility of making them commensurable let alone determining which one is "more correct". This leaves moral realists and believers in a common morality in an awkward position. If there are many different accounts of the moral world and no possibility of making them commensurable, then the question of which one is the correct or true account becomes meaningless. This might appear to mean a defeat for the defenders of the common morality thesis.

12

Lyotard (1984) and (1997).

\3 Kuhn (1962); Laudan (1990); Gutting (1980); Feyerabend (1981); and Gray (1999); see also Veatch (1976). 14

Berger/Luckmann (1967).

15

Kuhn (2000), pp. 33-37; Hoyningen-Huene (1990); Brown (1983).

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G. Postmodernism and Value-Dependent Realism: A Reprieve for Scientific Universalism There is another possibility. Moral theorists can learn from philosophers of science. We have known for a long time that in philosophy of science, the existence of rnany different accounts of a scientific fact when created by fallible humans does not force us to deny a belief in a single underlying scientific reality. It is not only possible but usually considered very plausible that, when there are many different and incompatible accounts of a phenomenon, those giving the incompatible accounts are both striving to describe one and the same reality. The Newtonian and Einsteinian account of gravity are both attempts (even if imperfect) at describing the same phenomenon. If they were incompatible which they were at the margins - then at least one of them must be wrong. The postmodern breakthrough, however, was the realization that scientists in different cultures with different world views using different languages and concepts may give different accounts that are not necessarily incompatible, and therefore it is not necessary that at least one of them be wrong. Two different incommensurable ac counts may both be accurate if incomplete descriptions. Moreover, if the scientists giving the ac counts are using different languages that do not define terms in exactly the same ways, then it may be quite difficult, indeed impossible, to determine whether the two ac counts are incompatible. We are left with the possibility that we will have many different scientific accounts of a phenomenon such as gravity that are different, but not in conflict. Observers looking at the elephant from different cultural angles see different aspects of the reality and give radically different accounts without necessarily requiring that any of the differing accounts be wrong. Any full account would necessarily be extremely complex and lengthy, perhaps infinitely lengthy. Moreover, if the very same words me an different things to different speakers from different cultures or different time periods, then the two accounts may sound quite different, emphasize different features of the complex reality, and still not involve contradiction. It is not necessary to conclude that the two accounts are describing different realities; one could instead conclude they are merely describing different aspects of the same reality, selecting different elements, or choosing words with different meanings to describe the same elements. My colleague William Stempsey used the term "value-dependent realism" to describe this possibility.16 Scientific ac counts may be dependent on the values held by the analyst (and one might add on the analyst's concepts as weil) and still be realist accounts in which the speaker holds that he or she is making a good faith effort to describe areal external world. In fact, some other analyst

16

Slempsey (2000).

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who is dependent on different values and different concepts may provide a different description that is not necessarily incompatible. They may both be describing aspects of the same reality and thus offering universalist, realist accounts, even though they appear to be saying quite different things.

H. Postmodernism and Moral Realism: A Reprieve for the Common Morality Thesis Postmodern philosophy of science can thus provide a reprieve for scientific realism by recognizing that two different ac counts of a scientific phenomenon coming from two different cultures may be consistent even though incommensurable and appearing to use different concepts and terminology. They may both be accurate, if incomplete, attempts to describe some aspect of the real world working from some unique cultural perspective, some Weltanschauung. If that is the case, then a moral philosopher must consider the possibility that something similar is happening in moral theory. It could be that when two moral observers in different cultures using different concepts and different languages describe moral perceptions that appear incompatible, they are really merely using different terms to describe some commonly held perception. Or they may even be using the same terms, but using them in different ways with different meanings. For example, Roman Catholics believe that euthanasia is always morally wrong, but by that they draw on a rich, complex conceptual understanding of what euthanasia is - meaning directly intended killing of an innocent party (with each of these terms, in turn, taking on a specific, historically defined meaning). Someone else frorn some other linguistie tradition might say something that sounds like a eontradietion - that euthanasia is sometimes morally lieit. However, if they mean by that that allowing a terminally ill, suffering human being to die is something that is morally licit (what is sometimes ealled "passive euthanasia"), they have not really offered an aecount that confliets with anything Roman Catholics have long held. Words such as killing, murder, euthanasia, homicide, and allowing to die are complex terms that are defined differently by people in different religious and cultural groups even when they are all speaking English. When they are translating their formulations from another language, the conflict is even easier to envision. Before one can eonclude that two speakers are in moral eonfliet, one must first determine that they mean the same thing by their terms. Insofar as words are incommensurable among different linguistic and cultural groups, this can be extremely hard, even impossible to accomplish. Learning that a priest in Rome holds that direetly intended killing of the innocent is immoral does not necessarily conflict with the claim of the Chinese that euthanasia is sometimes moral. Whether the two speakers are in disagreement about their pereeption of the moral reality will take a great deal of

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work. Even if they are in disagreement, there is still the possibility that one or both of them are simply mi staken in their pereeptions. The common morality thesis holds that, at a pre-theoretical level, an human beings (or an rational human beings or an human beings who were ideal observers ) would have moral intuitions about a range of behaviors that are not ineompatible even if they are expressed in different languages and using different concepts. In a world of finite humans who are forced to use many different languages and to use languages that evolve over time, it is virtually impossible to show that perceptions of a common morality are inconsistent from one culture to another. Even if they are different accounts and they use words and coneepts differently, and even if they are necessarily incomplete accounts in which people in different cultural systems may emphasize different aspects of their description, it does not follow that they provide evidence disproving the common morality thesis. In fact, to the contrary, onee one realizes that postmodern moral philosophy finds it possible for there to be different accounts of the morality reality that are not incompatible even though they are incommensurable, one discovers that the common sense belief in a universally held set of pretheoretical moral intuitions that beeome the raw data for theory eonstruction is more and more plausible after all.

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Das Dilemma des bio ethischen Pluralismus Dieter Birnbacher

A. Einleitung: Die Frage nach dem Umgang mit abweichenden Moralauffassungen In Bioethik und Biopolitik sind wir mehr, als uns lieb ist, mit Situationen der folgenden Art konfrontiert: 1.

Eine Gemeinschaft G hält eine biomedizinische Praxis P für moralisch unzulässig, während sie eine andere, G', für moralisch zulässig hält.

2.

Eine Gemeinschaft G hält eine biomedizinische Praxis P für moralisch unzulässig, während sie eine andere, G', für moralisch geboten hält.

Ein Beispiel für die erste Art von Situation ist die Diskrepanz zwischen den deutschsprachigen Ländern und den meisten anderen Ländern Europas in der Beurteilung der Gewinnung von embryonalen Stammzellen. In den letzteren wird sie überwiegend für moralisch zulässig gehalten, in den deutschsprachigen Ländern nicht. Ein Beispiel für die zweite Art von Situation ist der Unterschied in den Auffassungen zur aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden und in Deutschland. Während sie in Deutschland - zumindest von der politischen und juristischen Elite - überwiegend für moralisch unzulässig gehalten wird, gilt sie in den Niederlanden - und zwar in Politik und Gesellschaft gleichermaßen überwiegend nicht nur als moralisch zulässig, sondern auch als moralisch geboten. Situationen der beschriebenen Art werfen eine Reihe von Fragen auf, unter anderen psychologische, politische, moralische und ethische. Eine wichtige psychologische Frage ist die nach den möglichen oder wahrscheinlichen Auswirkungen der Koexistenz gegensätzlicher Wertungen: Welche Auffassung wird welche wie stark beeinflussen? Werden sich die bioethischen "Inseln" innerhalb Europas (die Niederlande in puncto aktive Sterbehilfe, Deutschland, Österreich und die Schweiz in puncto Embryonenforschung) gegen den vom übrigen Europa ausgehenden Konformitätsdruck behaupten können? Eine wichtige politische Frage ist, ob und wenn ja, wie weit die bioethischen Diskrepanzen auf die außenpolitischen Beziehungen zwischen den beteiligten Ländern durchschlagen sollten: Sollte die Ablehnung der moralischen Wertun4'

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Dieter Bimbacher

gen des jeweils anderen zu wie immer verhaltenen, aber für die andere Seite spürbaren diplomatischen "Sanktionen" führen, etwa zum wiederholten Einbringen des Themas in bilaterale Gespräche oder gar das "Einfrieren" der Zusammenarbeit in der biomedizinischen Forschung? In moralischer Hinsicht stellt sich die Frage, wie sich jeder einzelne zu den Befürwortern der von ihm abgelehnten Praxis stellen und wie er mit ihnen umgehen soll. Wie soll man etwa mit niederländischen Freunden umgehen, die in den meisten Punkten dieselben "vernünftigen" Meinungen haben wie man selbst, sich aber mit großer Regelmäßigkeit als Befürworter der abgelehnten niederländischen Praxis der Sterbehilfe herausstellen? Sollte man ihre Position zu "verstehen" versuchen, oder sollte man sie in aller Härte mit Gegenargumenten konfrontieren? Sollte man über den moralisch "blinden Fleck" großzügig hinwegsehen oder sollte man ihnen mit derselben Reserve begegnen, mit der man etwa erklärten Befürwortern der Todesstrafe oder der Folter begegnen würde? Ähnliche Fragen stellen sich auf der Seite der Befurworter: Wie soll man sich zu einer Nation stellen, deren maßgebliche Kreise einer Praxis, die man möglicherweise nicht nur für moralisch zulässig, sondern für moralisch verdienstvoll hält, einen so schweren Vorwurf wie den der Menschenwürdewidrigkeit machen und sie damit auf eine Ebene mit Folter und der Verfolgung religiöser oder rassischer Minderheiten stellen? Man darf sich ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Nation, die dieselben Praktiken fur moralisch unvertretbar hält, die nahezu alle anderen billigen, sich bei diesen nicht nur Freunde macht. Auf einer Veranstaltung mit Studenten aus vielen verschiedenen Nationen, auf der ich die deutsche Position zu erläutern versuchte, wurde mir kürzlich von mehreren ausländischen Gesprächspartnern der Vorwurf der Überheblichkeit und der moralischen Selbstgerechtigkeit gemacht. Offensichtlich fühlten sich viele sensible Beobachter der internationalen Biopolitik durch die Tatsache irritiert, dass die Deutschen Verfahrensweisen wie die Gewinnung embryonaler Stammzellen als mit der Menschenwürde unvereinbar betrachten, dennoch aber an den Früchten des Verbotenen partizipieren wollen und mit dem Import von Stammzelllinien die "moralischen Kosten" der Gewinnung auf Nationen mit in diesem Punkt großzügigeren Regelungen abwälzen. Schließlich stellt sich die ethische Frage, wie man sich grundsätzlich zu moralischen Wertungen (und denen, die sie vertreten) stellen und verhalten sollte, die von den jeweils eigenen Wertungen signifikant abweichen: Kann man ihnen gegenüber indifferent bleiben? Kann oder muss man auch diejenigen Auffassungen "respektieren", die den eigenen Auffassungen diametral widersprechen? Gibt es eine Toleranz nicht nur gegenüber Menschen, sondern auch gegenüber Meinungen, und ist eine solche Toleranz ein erstrebenswertes Ideal? Oder erfordert es die Treue zu den eigenen Überzeugungen, dass man das, was nach diesen Überzeugungen moralisch falsch ist, auch dann ablehnt und womöglich bekämpft, wenn es von anderen oder in anderen kulturellen Kontexten moralisch neutral oder positiv bewertet wird?

Das Dilemma des bioethischen Pluralismus

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Mir geht es im Folgenden ausschließlich um diese letzte, ethische Frage, und auch hier genau genommen wiederum nur um eine Teilfrage: um die Frage nach dem richtigen Umgang mit abweichenden moralischen Auffassungen, nicht um die Frage nach dem richtigen Umgang mit den Vertretern dieser Auffassungen. Es geht nicht um Einstellungen und Verhaltensweisen gegen moralisch Andersdenkende wie Toleranz und Intoleranz, Verständnis und Befremden, Inklusion und Exklusion, Anerkennung und Diskriminierung, sondern um die Einstellungen, die man gegenüber diesen abweichenden moralischen Denkweisen selbst einnehmen kann. Insbesondere geht es um eine Einstellung, die sich in den letzten zwanzig Jahren in Ethik und Bioethik weltweit einer gewissen Popularität erfreut hat und weiter erfreut, nicht zuletzt, weil sie sich auf den ersten Blick durch ihre Offenheit und Toleranz zu empfehlen scheint, die Einstellung des ethischen Pluralismus.

B. Ethischer Pluralismus Der Ausdruck "Pluralismus" hat in der Alltags- und Wissenschaftssprache eine schwer zu überschauende Pluralität von Bedeutungen angenommen. I Mit dem Ausdruck "ethischer Pluralismus" soll hier eine Position bezeichnet werden, nach der die Vielfalt moralischer Überzeugungen nicht nur als gegebenes und unabänderliches Faktum nolens volens hinzunehmen, sondern in einem ganz allgemeinen Sinn positiv zu bewerten ist. Ein ethischer Pluralist, so verstanden, ist dadurch gekennzeichnet, dass er die Vielfalt der Moralen nicht nur als soziologisches Faktum anerkennt, sondern dass er diese Pluralität begrüßt dass er den moralischen Dissens dem moralischen Konsens und die Heterogenität der Moralen der Homogenität einer weltumspannenden Einheitsmoral vorzieht. Entsprechend dieser positiven Bewertung von Vielfalt wird der ethische Pluralist nichts tun, was diese Vielfalt mindern könnte. Weder wird er für seine eigenen moralischen Prinzipien missionieren, noch wird er die, die davon abweichende Prinzipien vertreten, von ihren Prinzipien abzubringen versuchen. Toleranz gegenüber anderen Auffassungen ist für ihn eine Selbstverständli